Religions- und Ethikunterricht im Kulturstaat [1 ed.] 9783428509102, 9783428109104

Der Autor stellt in seiner Arbeit die staatsrechtliche Annäherung an ein politisches Problem dar: Es geht um die Wahrung

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Religions- und Ethikunterricht im Kulturstaat [1 ed.]
 9783428509102, 9783428109104

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PETER GULLO

Religions- und Ethikunterricht im Kulturstaat

Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Herausgegeben von Otto Depenheuer · Alexander Hollerbach · Josef Isensee Joseph Listl · Wolfgang Loschelder · Hans Maier · Paul Mikat Stefan Muckel · Wolfgang Rüfner · Christian Starck

Band 39

Religions- und Ethikunterricht im Kulturstaat

Von Peter Gullo

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Jahre 2001/2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7247 ISBN 3-428-10910-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ®

Meiner Mutter

Vorwort Diese Arbeit lag der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg im Wintersemester 2001 / 2002 als Dissertation vor. Den glücklichen Abschluß des Promotionsverfahrens verdanke ich vor allem meinem Doktorvater, Herrn Bundes Verfassungsrichter Prof. Dr. Udo Steiner, der mir bei der Abfassung dieser Schrift das volle Maß akademischer Freiheit beließ, zugleich aber der geduldige Adressat für all die kleinen und großen mit dem Projekt einhergehenden Sorgen war. Auf seine zuverlässige, effektive und nicht selten in Anspruch genommene Unterstützung konnte ich jederzeit bauen. Herrn Professor Dr. Rainer Arnold bin ich für seine Förderung des Projekts sowie für die prompte Erstellung des Zweitgutachtens verbunden. Frau Dr. Duda-Witzeck, die mir in meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universitätsbibliothek eine außergewöhnliche Chefin und geschätzte Gesprächspartnerin war, danke ich für den bereichernden Austausch und das entgegengebrachte Verständnis. Danken möchte ich auch hochwürdigstem Herrn Prälaten Wilhelm Schätzler, der das Projekt durch seine unterschiedlichen Phasen hindurch mit Interesse begleitet und mir manche Tür geöffnet hat. Der Hanns-Seidel-Stiftung danke ich für ihre finanzielle Förderung sowie für die im Kreise der Konstipendiaten verbrachten Mußestunden. Schließlich danke ich dem Herausgebergremium der „Staatskirchenrechtlichen Abhandlungen" für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Berlin, im Dezember 2002

Dr. Peter Gullo

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17

Erster Teil Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werteweitergabe I. Zum Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates

24 24

1. Der Begriff als Kampfmittel

24

2. Der staatstheoretische Ansatz: Neutralität als Nichtidentifikation (.Herbert Krüger)

26

3. Identität von Grundrechtsgeltung und Neutralität?

29

4. Weltanschauliche Neutralität als Verfassungsprinzip

31

5. Weltanschauliche Neutralität ist nur ein Prinzip im System der Verfassung

33

II. Systembildung durch Zuordnung von Verfassungsprinzipien

35

1. Die Pluralität eigenständiger Prinzipien in der Verfassung

35

2. Wege der Zuordnung

37

a) Interpretatorischer Ansatz: Zuordnung von Formelementen der Verfassung durch Auslegung von Einzelnormen? aa) Die hermeneutische Methode

37 38

bb) Normbereichsanalyse

39

cc) Grundrechtsimmanente Schranken

41

b) Der im Einzelfall abwägende Ansatz: Konstituierung des Verfassungssystems durch das Zusammenspiel von Formelementen

42

aa) Allgemeine Beschreibung der Charakteristik des Ansatzes

42

bb) Die Bedeutung der Abwägung im Einzelfall und das Funktionieren des Ansatzes

44

III. Weltanschauliche Neutralität als unvermischtes Prinzip und seine Zuordnung zu anderen Formelementen der Verfassung

51

nsverzeichnis IV. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Voraussetzung von Neutralität

53

1. Doktrinäre Gründe gegen die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft (Die Staatsformentscheidung „Demokratie")

54

2. Praktische Gründe gegen die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft (Der reale Daseinsvorsorge- bzw. Sozialstaat)

65

3. Doktrinäre Gründe für die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft (Liberalität)

70

4. Folgerungen

72

V. Kulturstaatlichkeit

73

1. Ernst Rudolf Huber Inkurs: Kulturbegriff I 2. Peter Häberle

76 77 86

Inkurs: Zivilisationsbegriff

96

3. Systematische Behandlung

102

a) „Identität"

106

b) „Pluralismus"

107

c) Folgerungen aus der Wertebetrachtung

110

d) Pluralismus als Gesellschafts- und Bildungskonzept in politischer Absicht ...

110

e) Kritik des Pluralismus

116

f) Folgerung: Identitätsstiftung als Forderung an den Staat

117

aa) Als Antwort auf den dekonstruktivistischen Pluralismus

117

bb) Als Notwendigkeit einer Entscheidung des Staates

121

cc) Als Forderung der Menschenwürde

125

dd) Als Forderung der Freiheitlichkeit der Gesellschaft

127

ee) Als Forderung der demokratischen Teilhaberechte

129

g) Kulturbegriff II (funktionaler Kulturbegriff)

130

h) Die christliche Identität Deutschlands und Europas

131

i) Der identitätsstiftende Staat als Kulturstaat

137

j) Beleg: Gewinnung von Werten als Aufspüren von Voraussetzungen: Das BVerfG 145 aa) Die Menschenbildrechtsprechung

145

bb) Die Rechtsprechung zur objektiven Werteordnung im Grundgesetz

145

nsverzeichnis

11

4. Kulturstaatlichkeit als Verfassungsprinzip

150

a) Aus dem Sozialstaats- und dem Daseinsvorsorgeprinzip

150

b) Das Kulturstaatsprinzip als Verobjektivierung des Grundrechts auf kulturelle Identität 152 c) Theorie der mitnormierten Voraussetzungen der Grundrechte

155

d) Das Kulturstaatsprinzip als staatstheoretische Forderung mit verfassungsrechtlicher Abstiitzung

156

5. Existierende kulturstaatliche Bestimmungen in deutschen Verfassungen

164

a) Artikel 7 III GG und 7 V GG

165

b) Artikel 7 I GG

167

c) Landes verfassungsrechtliche Verankerungen des Ethikunterrichts

168

d) Die Bildungs- und Erziehungsziele in den Verfassungen der deutschen Länder 168 e) Die verfassungsrechtliche Anerkennung der Religionsgemeinschaften als Bildungsträger 168 f) Der christliche Charakter der Gemeinschaftsschule

169

g) Rolle der Kirchen im Ganzen

170

h) Sonn-und Feiertagsbestimmungen

173

i) Präambeln

174

j) Kultur- und Kulturstaatsklauseln, verwandte Bestimmungen

176

k) Kulturstaatliche Gehalte in der Rechtsprechung oberster Bundesgerichte

179

6. Die sog. pädagogische Freiheit des Lehrers als Schranke von Kulturstaatlichkeit?

180

7. Folgerungen für den Religions-und Ethikunterricht

183

VI. Die Rechtslage hinsichtlich der Teilnahmepflicht

am Ethikunterricht

183

Zweiter Teil Die Verfassungsmäßigkeit der Verpflichtung zur Teilnahme an einem Komplementärunterricht zum Religionsunterricht

191

I. Das Bestimmungsrecht über die Teilnahme am Religionsunterricht gem. Art. 7 II GG bzw. 41 GG als Grundrecht des positiven Status 191 II. Die Ableitung des Bestimmungsrechts über die Teilnahme am Religionsunterricht aus Art. 7 II GG bzw. 41 GG III. Verhältnis von Art. 7 II und 4 I, II GG

192 196

nsverzeichnis IV. Die Bestimmungsrechte der Art. 7 II und 4 GG als Abwehrrechte

198

1. Grundrechte als Institutionen

198

2. Freiheit als gemeinsames Schutzgut aller Grundrechte

200

3. Die Bedeutung der Entscheidung über die Teilnahme am Religionsunterricht

201

a) Der geschützte Endzustand

201

b) Der Kreis der Berechtigten

204

c) Ergebnis der Inhaltsbestimmung

205

V. Eingriffsdogmatik

206

1. Struktur des Abwehrrechtes

208

2. Der Eingriff

209

a) Die Funktion des Abwehrrechts

210

b) Folgerungen aus dem kombinierten Rechtszweck der Abwehrrechte: Das Kompensationsprinzip 212 c) Die Zurechnung eines Beeinträchtigungserfolgs

216

aa) Die Bewußtheit der Erfolgsverwirklichung

216

bb) Negativ (Schutzzweck der Norm I)

220

cc) Schutzzweck der Norm II

221

dd) Prinzip der Eigenverantwortlichkeit/Grundrechtsverzicht

222

ee) Sozialadäquanz - systemwidriger Sammelbegriff

225

ff) Unmittelbarkeit?

228

gg) Beherrschbarkeit des Störungskausal Verlaufs hh) Objektivierter Erkennbarkeitsmaßstab ii) Die Schwere der Beeinträchtigung als Zurechnungskriterium? d) Besonderheiten des durch psychische Kausalität bewirkten Eingriffs

229 229 233 233

aa) Einstimmung

233

bb) Zur Sache

241

cc) Konkretion

246

e) Zusammenfassung aa) Allgemeine Formel bb) Kein Bagatellvorbehalt (1) Allgemeine Definition der relevanten Beeinträchtigung

248 248 250 250

(2) Definition der relevanten Beeinträchtigung in Fällen psychischer Kausalität 254 (3) Überzeugungsvorbehalt? f) Absicherung der Ergebnisse

255 256

nsverzeichnis VI. Eingriffsdiskussion 1. Die Länder süd- und westdeutscher Verfassungstradition Baden-Württemberg

13 265 268 268

Bayern

270

Hessen

271

Nordrhein-Westfalen

272

Rheinland-Pfalz

273

Saarland

276

2. Folgerungen

277

3. Die Länder nord- und mitteldeutscher Verfassungstraditionen

282

Berlin

283

Bremen

283

Hamburg

284

Mecklenburg-Vorpommern

284

Niedersachsen

285

Sachsen

286

Sachsen-Anhalt

287

Schleswig-Holstein

288

Thüringen

288

4. Folgerungen

289

5. Eingriff in die Abwahlfreiheit wegen der organisatorischen Schlechterstellung des Ethikunterrichts

289

6. Eingriffe in den allgemeinen Gehalt der Religionsfreiheit

295

7. Verletzungen des Gleichheitssatzes

297

Thesenartige Zusammenfassung der Arbeit

301

Literaturverzeichnis

309

Namensregister

323

Sachregister

325

Abkürzungsverzeichnis Α.

Auflage

a.A.

anderer Ansicht

a. a. Ο.

am angegeben Ort

Abschn.

Abschnitt

allg.

allgemein

Art.

Artikel

Artt.

Artikel (Plural)

Az.

Aktenzeichen

Β ay EUG

Bayerisches Erziehungs- und Unterrichtsgesetz

Bd.

Band

berl. SchulG

Berliner Schulgesetz

berl. Verf.

Verfassung von Berlin

Beschl.

Beschluß

brand. Verf.

Verfassung des Landes Brandenburg

BremSchulG

Bremisches Schulgesetz

brem. Verf.

Verfassung der Freien und Hansestadt Bremen

BV

Verfassung des Freistaates Bayern

bzw.

beziehungsweise

CDU

Christlich Demokratische Union

ders.

derselbe

d. h.

das heißt

Ε

Entscheidung

ehem.

ehemals

EKD

Evangelische Kirche in Deutschland

f.

und folgende Seite

ff.

und folgende Seiten

HdbStKirchR

Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland

HdbStR

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland

hess. Verf.

Verfassung des Landes Hessen

HmbSG

Hamburgisches Schulgesetz

HSchG

Hessisches Schulgesetz

i.E.

im Ergebnis

Abkürzungsverzeichnis i.e.S.

im engeren Sinne

insbes.

insbesondere

i.V.

in Verbindung

i.V.m.

in Verbindung mit

Komm.

Kommentar

m.a.W.

mit anderen Worten

m.N.

mit Nachweisen

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

n.a.A.

nach anderer Auffassung

nds. Verf.

Verfassung des Landes Niedersachsen

Nr.

Nummer

Nrn.

Nummern

NSchG

Niedersächsisches Schulgesetz

Hrg.

Herausgeber

hrg.

herausgegeben

pr. Verf.

Preußische Verfassung

Rn.

Randnummer

S.

Seite/Satz

saarl. Verf.

Verfassung des Saarlandes

sächs. SchulG

Sächsisches Schulgesetz

sächs. Verf.

Verfassung des Freistaates Sachsen

SchG BW

Baden-württembergisches Schulgesetz

SchG S-A

Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt

SchulG S-H

Schleswig-holsteinisches Schulgesetz

SchOG

(saarländisches) Schulordnungsgesetz

SchulG M-V

Schulgesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern

s.o.

siehe oben

sog.

sogenannt

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

s.u.

siehe unten

ThürSchulG

Thüringisches Schulgesetz

thür. Verf.

Verfassung des Freistaates Thüringen

u.

und

u. a.

unter anderem

Urt.

Urteil

u.s.w.

und so weiter

u.U.

unter Umständen

V.

von

15

Abkürzungsverzeichnis

16 VerfB-W

Verfassung des Landes Baden-Württemberg

VerfN-W

Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen

VerfM-V

Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern

VerfR-P

Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz

VerfS-A

Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt

VerfS-H

Verfassung des Landes Schleswig-Holstein

vergl.

vergleiche

Im übrigen richtet sich der Gebrauch von Abkürzungen nach Kirchner, zungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Auflage, Berlin 1993.

Hildebert,

Abkür-

Einleitung Seit im Oktober 2000 der Oppositionsführer der Union im Deutschen Bundestag, Friedrich Merz, den Begriff der „Leitkultur 4 ' in die politische Debatte um eine Neuordnung des Zuwanderungswesens geworfen hat, steht, soweit ersichtlich erstmals in der Nachkriegszeit, der Kulturbegriff im Zentrum einer breiten politischen Auseinandersetzung. Die Verwendung des Begriffs darf dabei als der Versuch aufgefaßt werden, einem Gesichtspunkt erneut Geltung zu verschaffen, der in der Staatslehre herkömmlich unter den Begriff des Staates als „politischer Einheit" gezogen wird. Nun sind es unterschiedliche Wirkzusammenhänge, die ein Volk zur politischen Einheit verbinden und es so zu einem staatsbegründenden Volk, zum Staatsvolk machen können. In Deutschland entspricht es, beruhend auf der über Jahrhunderte hinweg gemachten Erfahrung staatlicher Zersplitterung, verfassungsgeschichtlicher Tradition, diese Funktion den kulturellen Gemeinsamkeiten zuzuschreiben. Lange bevor es einen deutschen Nationalstaat gab, definierte sich das deutsche Volk als Kulturnation. Die gemeinsame Kultur, gemeinsame Sprache also, Religion, Sitte, Kunst, Philosophie und Wissenschaft war es, die die Deutschen über die regionalen Besonderheiten hinweg zur Nation integrierten. Insofern wird es denjenigen, der in geschichtlichen Kategorien zu denken gewohnt ist, nicht überraschen, wenn angesichts der sich heute schon abzeichnenden Notwendigkeit künftiger Integrationsprozesse 1 als deren Grundlage kulturelle Gegebenheiten in den Blick genommen werden. Zugleich aber deutet die Heftigkeit zahlreicher ablehnender Reaktionen auf die nach wie vor bestehende, als Folge der nationalsozialistischen Herrschaft eingetretene Unfähigkeit, sich mit dem zu identifizieren, was für Deutschland charakteristisch und eigen ist. Besonders in den Reihen der politischen Linken, und damit vor allem auch im intellektuellen publizistischen Establishment, scheint die Vorstellung verbreitet zu sein, daß das „postfaschistische" Deutschland das Recht auf seine kulturelle Identität gleichsam verwirkt habe oder daß zumindest aus der Gegebenheit seiner kulturellen Prägung normative Aussagen nicht abgeleitet werden dürften. Mit Eibl-Eibesfeldt ist in diesem Zusammenhang zutreffend von „Tugendexzessen" zu sprechen.2 In der politischen Debatte macht sich diese weithin anzutreffende Geistesverfassung erneut durch die Sinnentleerung des Kulturbegriffs bemerkbar. In der Re1

Integrationsprozesse werden zur Notwendigkeit, nicht nur wegen der sich in Zukunft wohl verstärkenden Zuwanderung, sondern auch der negativen Folgen wegen, die das schleichende Auseinanderfallen der Gesellschaft heute schon zeitigt. 2 Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, S. 960. Teilweise spricht er auch von „Tugendsucht", ders., Der Mensch - das riskierte Wesen, S. 177 ff. 2 Gullo

18

Einleitung

aktion auf die massiven Angriffe des politischen Gegners bemühte sich Merz, den Bedeutungsgehalt der Wortschöpfung abzuschwächen. Kennzeichnend für die Leitkultur in Deutschland seien vor allem die Grundrechte, die Stellung der Frau in der Gesellschaft, generell die hier gültigen „Regeln des Zusammenlebens".3 Erneut also wird der Begriff mit begriffsfremden Gehalten gefüllt, die sich zutreffender durch die hierfür eigens entwickelte verfassungsrechtliche Terminologie ausdrücken ließen. Statt von „Leitkultur" wäre vor dem Hintergrund dieser Definition von der „objektiven Wertordnung des Grundgesetzes" oder, im Anschluß an die Debatte der 70er Jahre, von „Grundwerten" zu sprechen.4 Verfassungsrechtlich knüpft dies mehr an das Rechtsstaats-, als an ein ggf. anzunehmendes Kulturstaatsprinzip an. Ein dem so definierten Leitkulturbegriff korrespondierender Kulturstaat erschöpfte sich bereits im Rechtsstaatsprädikat, einem so verstandenen Kulturstaatsprinzip käme keine Eigenständigkeit zu. Und doch erscheint es, die „Zeichen der Zeit" deutend, geboten, nach jahrzehntelanger Abstinenz dem Kulturstaatsgedanken erneut Geltung zu verschaffen und den Begriff bei dieser Gelegenheit endgültig einer unseligen, politisch motivierten Vereinnahmung zu entreißen.5 Die Zuwanderungskommission der CDU ließ sich in ihrem Grundsatzpapier zu Eckpunkten der Zuwanderungspolitik immerhin dazu herbei, den Begriff der „Leitkultur" wie folgt zu umschreiben: „Unser Ziel muß eine Kultur der Toleranz und des Miteinander sein - auf dem Boden unserer Verfassungswerte und dem Bewußtsein der eigenen Identität. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die Beachtung dieser Werte als Leitkultur in Deutschland bezeichnet wird." 6 Durch die Formel vom „Bewußtsein der eigenen Identität" wird wenigstens ein Fenster geöffnet, hin zu den materiellen Merkmalen deutscher Kultur. Nun sind zwar Recht und Staat selbst schon Kulturprodukte, doch kann sich die Bedeutung des Kulturstaatsprinzips hierin nicht erschöpfen, da sonst letztlich jeder Staat, sofern er existiert und eine Rechtsordnung errichtet oder garantiert, Kulturstaat wäre. Deswegen wird man davon ausgehen müssen, daß zwar die Verwirklichung von Rechtsstaatlichkeit ein Merkmal der Kulturstaaten im weiteren Sinne des Begriffes bildet,7 daß aber mit Kulturstaatlichkeit im engeren Sinne der Verweis auf eine materielle Wirklichkeit jenseits des Rechtsraumes gemeint ist, die in diesen hineinwirkt und konkreter Staatlichkeit eine bestimmte Färbung vermittelt. Die Anerkennung eines Kulturstaatsprinzips hieße dann so viel wie die Anerkennung einer kulturellen Wirklichkeit in ihrer Relevanz für die Kon3 Merz in: Die Welt vom 25. Oktober 2000. In diesem Sinne bereits Gerber, Die weltanschaulichen Grundlagen des Staates (Antrittsvorlesung 1930). 5 Zur Verkehrung des Kulturbegriffs zum Kampfbegriff durch die Nationalliberalen im Kulturkampf Morsey, Der Kulturkampf in: Essener Gespräche 34 (2000), S. 5 ff. 6 Kursiv nicht im Original. 7 Man vergleiche hierzu nur die Rechtsprechung der Bundesgerichte zum Ordre-publicVorbehalt im internationalen Recht: BVerfGE 16, 27; Ε 18, 112; Ε 31, 275; B GHZ 86, 240255; BGHSt 41, 317-347. 4

Einleitung

19

kretion des Staates auch über das Maß des im einzelnen rechtlich Positivierbaren hinaus. Der Versuch der Auffüllung des Kulturbegriffs durch verfassungspositive Rechtsgehalte (vor allem durch Grundrechte) ist Ausdruck eines Bestrebens, sich an der Benennung dessen, was unverkennbar zum geschichtlich gewordenen Acquis eines Kulturraums und seiner Bevölkerung gehört, vorbeizulavieren. Aus der Verkennung oder bewußten Ausblendung objektiver Wirklichkeit werden angemessene Problemlösungen jedoch schwerlich erwachsen. Dies mit dem Hinweis darauf beiseite schieben zu wollen, daß zwischen der Verfassung als Normenwerk und der Wirklichkeit immer ein SpannungsVerhältnis8 bestehe und um der normativen Kraft der Verfassung willen auch bestehen müsse, wäre wenig hilfreich. Denn gerade weil es Kennzeichen aller Kultur ist, einen Primat des Geistes über die Materie herstellen zu wollen, geht es darum, dem normativen Willen die Richtung zu geben. Nicht, ob es Normativität geben muß, ist die Frage, sondern worauf sie gerichtet zu sein hat. Demnach kann es bei der Herstellung eines kulturellen Wirklichkeitsbezugs nicht um das ungefilterte Hereinholen einer vordergründigen „Realität" in den Rechtsraum gehen, sondern nur um ein Anknüpfen an kultureller Wirklichkeit, deren Wesen an sich schon durch Normativität gekennzeichnet ist und die sog. Realität ihrerseits mehr oder weniger stark oder offensichtlich prägt, gleichwohl aber in ihr verwurzelt ist. Der kulturelle Bereich scheint gegenwärtig das letzte verbleibende Politikfeld zu sein, auf dem man mitunter seitens politisch Verantwortlicher meint, die natürlichen Vorgaben, mit denen ein Gemeinwesen es zu tun hat, ignorieren zu dürfen, auf dem m.a.W. der Wirklichkeitsbezug des als Gemeinwesen aufgefaßten Staates mißachtet werden darf. Kultur ist, wie Reuhl festgestellt hat, „immer noch eine Sonderwelt, die vom Theater über die Schulen bis zum geistigen Kultus reicht, und kein zentrales Existenzprinzip von Staat und Gesellschaft, das gegenseitige Verantwortung schafft." 9 Während heute die von wirtschaftlicher Eigengesetzlichkeit ausgehenden Forderungen auch von denen gehört und beherzigt werden, die in der Vergangenheit aus doktrinären Gründen wenig Neigung hierzu gezeigt haben, erscheinen Kultur- und Gesellschaftspolitik nach wie vor als Versuchsfelder vor allem auch ideologisch inspirierter Experimentierfreude. Dies geschieht auf Kosten der Wahrnehmung und Berücksichtigung anthropologischer 10 und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse. Unter den Bedingungen eines spezifischen, in irrationaler Weise von der Vergangenheit überschatteten politischen Klimas besteht eine besondere Funktion des 8

Vergl. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 5; Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit in: Friedrich (Hrg.), Verfassung, S. 232. 9 Reuhl, Demokratie und Kulturgesellschaft, JZ 1983, S. 537. 10 Dabei dürften weniger die „Ergebnisse" philosophischer Anthropologie, als vielmehr die der vergleichenden Verhaltensforschung, wie sie von Irnäus Eibl-Eibesfeldt angestellt wird, maßgeblich sein. Entgegengesetzter Ansicht Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, S. 179.

2*

20

Einleitung

Staatsrechts darin, auch solche grundlegenden und legitimen politischen Gesichtspunkte zu verobjektivieren, die ideologisch motiviert an den Rand gedrängt und tabuisiert werden. Der Verfassungurkunde kommt im Verfassungsstaat dabei eine herausgehobene Rolle zu. Problematisch ist insofern die Unvollständigkeit, die jeder Verfassung eigen ist und der in kulturverfassungsrechtlicher Hinsicht darüber hinausgehende fragmentarische Charakter des Grundgesetzes im besonderen. Mit der Explikation auch tragender Voraussetzungen postnationalsozialistischer Staatlichkeit ist das Grundgesetz, anders als viele Landesverfassungen, sehr zurückhaltend. Die durch Art. 1 I und Art. 20 GG gesetzten Marksteine stecken ein immer noch weites Feld ab. Gleichwohl ist es möglich, Voraussetzungen als solche aufund ihre Niederschläge im Verfassungstext nachzuweisen. Auf diese Weise läßt sich der Verfassung eine ganze Reihe von Prinzipien entnehmen, die in der gegenwärtigen politischen Diskussion nicht wahrgenommen werden und deren wissenschaftliche Erschließung versachlichend auf die politische Diskussion zurückwirken kann. Man sollte insofern keine übertriebenen Bedenken wegen womöglich zu einseitiger Forderungen hegen, die sich von „neuartigen Prinzipien" herleiten könnten. Die hochentwickelte Verfassungsrechtsdogmatik verfügt heute Dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, jedoch Dank auch ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung, namentlich durch Alexy, über das erforderliche Instrumentarium der Einrahmung einzelner Prinzipien durch die Herstellung von Konkordanz. Ausgangspunkt dieser Arbeit sind Überlegungen darüber, unter welchen Umständen die von den Schulgesetzen fast aller Länder für den Fall der Nichtteilnahme eines Schülers am Religionsunterricht statuierte Verpflichtung zur Teilnahme an einem Ethikunterricht mit dem Grundrecht auf die freie Bestimmung über die Teilnahme am Religionsunterricht (Art. 7 II bzw. 4 GG) vereinbar ist: „Wer nicht am Religionsunterricht teilnimmt, ist statt dessen zur Teilnahme am Unterricht Werte und Normen verpflichtet..

heißt es prägnant und der Sache nach repräsentativ in § 128 I S. 1 des niedersächsischen Schulgesetzes. Für die streitbaren Verfechter der Etablierung eines laizistischen Verhältnisses von Staat und Kirche verläuft hier eine Frontlinie. Wie kann es sein, so fragen sie sehr grundsätzlich, daß im weltanschaulich und religiös neutralen Staat, in dem die Erteilung eines konfessionellen Religionsunterrichts als staatlicher Unterricht an öffentlichen Schulen doch schwerlich etwas anderes sein kann, als eine systemwidrige und sobald als möglich zu kippende Ausnahme, an die grundrechtlich verbürgte Nichtteilnahme an diesem Unterricht eine alternative Teilnahmepflicht geknüpft wird. Wer zum Ausdruck gebracht habe, mit dem Themenkreis religiöse Erziehung nicht behelligt werden zu wollen, dem sei eine korrespondierende Lückenbüßerveranstaltung mit verwandten Inhalten nicht zuzumuten. Religion habe an öffentlichen Schulen, außer vielleicht noch als Gegenstand kritischer Sektion, grundsätzlich kein Thema zu sein. Dieser Standpunkt findet seine schlagwortartige Zusammenfassung in dem Slogan: „Keine Ersatz-

Einleitung

pflicht für Religionsunterrichts Verweigerer". 11 Der Besuch des Religionsunterrichts sei freigestellt - wo m.a.W. keine Primärpflicht, da auch keine Sekundärverpflichtung. Der kurze Blick auf die Grundlinie der zu behandelnden Argumentation zeigt bereits, daß es sich dabei um einen Standpunkt handelt, der nicht nur weltanschaulich geprägte staatstheoretischen Implikationen aufweist, sondern eine in diesem Sinne ganz eindeutige Stoßrichtung. Es wird auf die Forcierung eines einseitigen Neutralitätsverständnisses gesetzt, welches die deutsche verfassungsrechtliche Tradition schlicht ignoriert. Damit will sich die folgende Untersuchung auseinandersetzen. In einem ersten Abschnitt ist daher auf den Begriff und die Rechtsnatur der Neutralität des Staates einzugehen. Der hierbei verfolgte Ansatz unterscheidet sich von der immer noch maßgeblichen Behandlung dieses Themas durch Schiaich mehr methodisch als inhaltlich, obwohl es auch insofern zu einer Nuancenverschiebung kommt. Schiaich verfolgt einen Weg der Integration des Begriffes: Er hält ihn für einen normgeprägten Rechtsbegriff, erstrebt seine Konturierung durch tatbestandliche Modellierung. Seine Grenzen, die Notwendigkeit seiner Einrahmung, seiner Einfügung in ein System praktischer Konkordanz - in grundrechtlicher Terminologie: seine Schranken - werden dem Begriff implementiert, so daß er den Raum juristischer Anwendung als präformierter Tatbestand erreicht. Schiaichs Methode ähnelt insofern dem Vorgehen Häberles im Hinblick auf die Grundrechte. Der hier verfolgte Ansatz schließt sich an das herkömmliche, von Häberle sogenannte „Eingriffs- und Schrankendenken" in seiner Überformung durch die Alexyscht Prinzipientheorie der Grundrechte an und überträgt sie auf das als solches behandelte Neutralitäts/?n>zz//? und seine Begrenzung durch andere Verfassungsprinzipien. In einem ersten Schritt ist es ihm daher darum zu tun, den Bedeutungskern der als Verfassungsprinzip durchaus anerkannten Neutralitätspflicht kontrastreich und in allgemeinsprachlicher Nähe herauszuarbeiten. Dem damit in engem Zusammenhang stehenden Problem der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist der sich anschließende Abschnitt gewidmet. Der darauffolgende Abschnitt hat dasjenige Verfassungsprinzip zum Gegenstand, das nach dem hier vertretenen Ansatz das Hauptgegengewicht zum Neutralitätsprinzip bildet, das Kulturstaatsprinzip. Die hier aufgestellte zentrale These lautet, daß Staat und Gemeinwesen eine positive, kulturell zu definierende Substanz aufweisen, von der zu abstrahieren im politischen und staatswissenschaftlichen Geschäft nur begrenzt möglich ist. Politik und Staatswissenschaft können sich ihre Republik nicht frei erfinden. Insofern wird vertreten, daß nicht das Neutralitätsprinzip das primär geforderte und von einem Kulturstaatsprinzip zu relativierendes Prinzip ist, sondern gerade umgekehrt, daß zunächst immer, geschichtlich wie logisch, ein Positivum da sein muß, das Datum kultureller Prägung, und daß ein solches durch ein negatives Prinzip wie das Neutralitätsprinzip nur relativiert 11

Renck, Verfassungsprobleme des Ethikunterrichts, BayVBl 1992, S. 521; Czermak, Das Pflicht-Ersatzfach als Problem der Religionsfreiheit, NVwZ 1996, S. 452.

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Einleitung

werden kann. Mit den Kräften der Verneinung allein läßt sich m.a.W. „kein Staat machen". Dieses Verständnis wird auf das rechtliche Verhältnis von Religionsunterricht und freier Entscheidung über die Teilnahme an ihm angewandt. Es weist, anders als radikale Laizisten es wollen, dem Religionsunterricht innerhalb des Bildungskonzepts eines Staates, der sich sowohl als kulturgebunden als auch als freiheitlich versteht, eine zentrale Rolle zu. Der Ethikunterricht findet seine verfassungsrechtliche Rolle innerhalb des so entstehenden Kraftfeldes. Für die tatbestandliche Durchformung des aus Art. 7 II und Art. 4 GG ableitbaren Bestimmungsgrundrechts ist demgegenüber der verfassungsrechtliche Status des Religionsunterrichts von entscheidender Bedeutung. Der zweite Teil der Arbeit betrachtet das Problem der alternativen Verpflichtung zur Teilnahme an einem Ethikunterricht von der abwehrrechtlichen Seite her. Die hier zu beantwortende Frage lautet, ob und, wenn grundsätzlich ja, unter welchen Voraussetzungen die aufgrund Gesetzes für den Fall der Nichtteilnahme am Religionsunterricht eintretende Verpflichtung zur Teilnahme an einem Ethikunterricht einen Eingriff darstellt, und unter welchen Umständen ein solcher Eingriff zu rechtfertigen wäre? Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht insofern das Grundrecht auf die freie Bestimmung über die Teilnahme am Religionsunterricht (Art. 7 II bzw. 4 II und III GG), weil sich im Hinblick auf dieses Grundrecht die interessanteren dogmatischen Schwierigkeiten stellen. Es sind zwei Problemkreise, die hier im Vordergrund stehen: Den einen bildet der Umstand, daß, zumindest objektiv, die Verpflichtung zur Teilnahme am Ethikunterricht keine Schmälerung des Bestimmungsrechtes, sondern ein positives Ziel, eben die Teilnahme bestimmter Schüler an einem bestimmten Unterricht verfolgt. Das in Rede stehende Grundrecht wird daher nur reflexartig berührt. Der erste in diesem Zusammenhang zu bearbeitende Problemkreis ist demnach der sogenannter faktischer Eingriffe} 2 Es wird versucht, angelehnt an die seit Mitte der achtziger Jahre stark vorangeschrittene Forschung, namentlich auch an die maßstabsetzende Arbeit von Wolfgang Roth, eine einheitliche Theorie der Zurechnung faktischer Eingriffe zu formulieren. Der zweite Problemkreis wird durch die Tatsache markiert, daß darüber hinaus in unserem Zusammenhang eine äußerlich sichtbare Beeinträchtigung des Betroffenen nicht ohne dessen Willensakt eintreten kann. Denn ob die Verpflichtung zur Teilnahme an einem anderen Unterricht diesen von der Abwahl des Religionsunterrichts abhält, hängt nicht zuletzt von ihm selbst ab. Der Eingriff bestünde demnach in der Setzung eines Motivationsfaktors, die Änderung der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit geschähe durch zivilrechtlich sogenannte psychische Kausalität. Es muß also zusätzlich angegeben werden, unter welchen Voraussetzungen die Setzung psychisch wirksamer Kausalfaktoren einen Eingriff darstellen kann. 12 Damit soll an dieser Stelle nicht die Behauptung aufgestellt werden, daß alle reflexartig bewirkten Eingriffe als faktische zu bezeichnen seien. Zwar stellt die Reflexartigkeit der Verursachung ein typisches Merkmal faktischer Eingriffe dar, fraglich ist aber, ob es sich zugleich auch um ein konstitutives handelt. Auf die terminologische Abgrenzung wird es weniger ankommen, als auf die Sache selbst.

Einleitung

Wohl nicht zuletzt auch wegen dieser Zurechnungsprobleme hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1999 eine Vorlage des VG Hannover als unzulässig verworfen. 13 Der Schüler eines niedersächsischen Gymnasiums, der nicht am Religionsunterricht teilnahm, hatte vor dem Verwaltungsgericht auf Verpflichtung des Schulträgers geklagt, von der Teilnahmepflicht am Ethikunterricht freigestellt zu werden, da er durch diese Verpflichtung in seinen Grundrechten verletzt werde. Das Verwaltungsgericht hatte sich der Auffassung des Klägers angeschlossen, daß der oben genannte § 128 I NSchG, der die Verpflichtung zur Teilnahme am Ethikunterricht statuiert, mit Art. 7 II GG unvereinbar sei. 14 Einer diesbezüglichen Stellungnahme entzog sich das Bundesverfassungsgericht jedoch dadurch, daß es das Fehlen einer nachvollziehbaren Darlegung der für das Verwaltungsgericht maßgebenden Erwägungen monierte: Das Gericht habe seine Überzeugung, daß die Verfassungsmäßigkeit von § 128 I NSchG auf einem Verstoß gegen Art. 7 II GG beruhe, nicht hinreichend deutlich gemacht.15 Kurz zuvor war vor dem Bundesverwaltungsgericht die Klage in einem parallel gelagerten Fall erfolglos geblieben.16 Das Bundesverwaltungsgericht vermochte in der Sache, allein aufgrund der abstrakten gesetzlichen Verpflichtung zur Teilnahme an einem Ersatzunterricht, keinen Eingriff in Grundrechte, insbesondere nicht in Art. 7 II GG, festzustellen. Darüberhinaus aber lenkte es den Blick auf die Möglichkeit eines Grundrechtseingriffs auf der Ebene des Gesetzesvollzugs. Die Freiwilligkeit der Teilnahme am Religionsunterricht gem. Art. 7 II GG könne in relevanter Art und Weise beeinträchtigt sein, wenn im untergesetzlichen Vollzug Ethik- und Religionsunterricht nicht als gleichwertige Fächer ausgestaltet seien, wenn also derjenige, der sich gegen die Teilnahme am Religionsunterricht entscheide, gegenüber dessen Teilnehmern erhebliche Nachteile in Kauf zu nehmen habe.17 Dementsprechend verläuft auch hier die Eingriffsdiskussion zweistufig: Auf der ersten Stufe wird die Möglichkeit eines Eingriffs in Grundrechte abstrakt, aufgrund der „nackten" Gesetzeslage untersucht. Auf der zweiten Stufe wird die Möglichkeit verfassungsinkonformer Ausführung der Gesetze behandelt.

13 BVerfG, Beschl. v. 17. 2. 1999 - Az. 1 BvL 26/97. 14 VG Hannover, Beschl. v. 20. 8. 1997 - Az. 6 A 8016/94, S. 10. Vergl. auch BVerfG, a. a. O., S. 3. 15 BVerfG, a. a. O., S. 4. Hart kritisiert von Czermak, der die Entscheidung als „bürgerfeindlichen unfreundlichen Akt" bezeichnet, Zur Ethikunterricht-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, DÖV 1998, S. 726. 16 BVerwGE 108,75. IV BVerwGE 108, 75, 84 f.

Erster Teil

Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werteweitergabe I. Zum Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates 1. Der Begriff als Kampfmittel Der Begriff der Neutralität des Staates stellt einen der geläufigsten Argumentationstopoi staatsrechtlicher Diskurse dar und hat in beeindruckender Weise Karriere gemacht. Sein Erfolg beruht nicht zuletzt auf der ihm prima facie anhaftenden Plausibilität. Muß nicht jeder Staat, der dem Ideal der Gerechtigkeit, der Gleichheit seiner Bürger, der Unparteilichkeit verpflichtet sein will in gewissem Sinne „neutraler Staat" sein? Obwohl der Begriff der Neutralität im Grundgesetz mit keinem Wort erwähnt wird, ist er nicht nur als staatswissenschaftlicher, sondern gerade auch als verfassungsrechtlicher Begriff anerkannt.1 Der Anteil, den verfassungsgeschichtliche Data, im Gewand allerdings einer bestimmten Geschichtsdeutung, an der Konstituierung dieser Bewußtseinslage haben, dürfte, wie im Folgenden ausgeführt wird, nicht zu unterschätzen sein. Für das gegenwärtige Bewußtsein ist sein Ursprung in den Glaubenskämpfen zu suchen, die, in die Tiefe des Mittelalters zurückreichend, zu Anfang des 16. Jahrhunderts, von Deutschland ausgehend, in das Zerbrechen der religiösen Einheit des abendländischen Europas münden.2 Das Mittelalter kennt nur persönliche Autorität. Die weltliche Autorität wird daher nicht durch ein abstraktes Gebilde, „den Staat", verkörpert, sondern tritt den Menschen in der Gestalt ihrer Fürsten, Könige und Kaiser, sowie deren Bevollmächtigten und Gesandten entgegen. Daß der Herrscher keinen Glauben habe, gilt als undenkbar, nicht nur, weil er trotz aller Herausgehobenheit Mensch und als solcher der conditio humana unterworfen ist wie jeder Sterbliche, sondern auch deswegen, weil seine Herrschaft durch niemanden sonst als durch Gott selbst legitimiert angesehen wird. Die Klammer zwischen dem Herrscher und seinem Volk ist daher der gemeinsame Glaube. Nun die Folgerung: Durch das Zerbrechen der 1

Steiner, Der Grundrechtsschutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit, JuS 1982, S. 165. Vergl. etwa Schmitt Glaeser, Verfassungsstaat, Grundkonsens, Christentum, Politische Studien, Sonderheft 2/95, S. 8; Schiaich, Konfessionalität - Säkularität - Offenheit in: ders., Gesammelte Aufsätze, S. 438. 2

I. Zum Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates

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Glaubenseinheit im Volk, so die Vorstellung, werde der Person des Herrschers, soweit er herrscherliche Funktionen ausübt, die Identifikation mit einem bestimmten Glauben unmöglich, da andernfalls die Legitimation seiner Herrschaft im Hinblick auf den andersgläubigen Teil seines Volkes zusammenzubrechen droht. Das tatsächliche Zusammenbrechen seiner Legitimation werde durch den Ausbruch glaubensbedingter Bürgerkriege belegt. Im Verlust der natürlichen Einheit von Person und Funktion im Herrscher entstehe der moderne Staat als notwendig neutraler Staat. Dieser abstrahiere von den Eigenschaften des ihn tragenden personellen Substrats. Die historische Realität scheint nicht unerheblich von solchen holzschnittartigen Vereinfachungen abzuweichen. Denn die religiöse Einheit von Volk und Monarchen hat auch hierzulande die Reformation noch lange überdauert und wurde, wie der Kulturkampf zeigt3, zur Gänze erst 1918, mit der Beseitigung der Monarchie ihrerseits beseitigt. Und auch danach zeigt der sogenannte Weimarer Kirchenkompromiß, daß man sich die völlige Trennung von Staat und Kirche auch zu diesem Zeitpunkt, jedenfalls mehrheitlich, weder vorstellen konnte noch vorstellen wollte. 4 Auch in Deutschland war nach der Reformation das Bestreben vorherrschend, die Einheit des Staates im Glauben aufrechtzuerhalten, nur daß dieses Ziel, anders als in den europäischen Nationalstaaten, eben nicht auf Ebene der Gesamtnation, sondern auf Ebene der kleineren Territorien verfolgt wurde. Die Gründe für den jahrhundertewährenden Mangel politischer Einheit liegen keineswegs allein in der Tatsache der konfessionellen Zerrissenheit der Nation. Ihr letztendliches Gelingen ist umgekehrt nicht gleichbedeutend mit der Notwendigkeit totaler Neutralität. Die religionsgeschichtlichen Ereignisse waren bei abstrakter Betrachtung der Ausbildung eines Neutralitätsdenkens zwar günstig, mußten ein solches aber nicht mit Notwendigkeit nach sich ziehen. Wie bei aller teleologischen Geschichtsbetrachtung handelt es sich auch im Falle des Neutralitätsdenkens um eine nachträglich an die geschichtlichen Ereignisse herangetragene Konzeption, die dann möglicherweise ihrerseits Geschichte macht, so daß es zum Schluß so aussieht, als habe alles „so kommen müssen". Hierin zeigt sich einmal mehr die Geschichtsmacht öffentlicher Bewußtseinslagen.5 Verbreitet wird von staatlicher Neutralität im Sinne einer Norm gesprochen. Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf die Begriffsschöpfung wie auf ein geschriebenes Verfassungsprinzip. So bezeichnet es weltanschauliche Neutraltät 3

Der Kulturkampf zeigt, daß sich das kleindeutsche Reich von 1871 von seiner Spitze her als vorwiegend protestantisches Reich verstand. Der Hofprediger Adolf Stoecker nannte es das „heilige evangelische Reich deutscher Nation", Morsey, Der Kulturkampf in: Essener Gespräche 34 (2000), S: 7. 4 So wurde 1919 eine gegen die Zurücksetzung des Religionsunterrichts gerichtete Petition von sieben Millionen Bürgern unterschrieben, Christentum und politische Kultur, EKD Texte 63 (1997), S. 13. 5 Als vom Entelechie-Gedanken durchdrungen gibt sich etwa Herbert Krüger zu erkennen, hierzu unten.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werteweitergbe

sowohl in der Lumpensammler- wie auch der Gesundbeterentscheidung wortgleich als verbindliches Gebot (Normativität hier sogar in der Doppelung) und folgert hieraus bestimmte Aussagen.6 Im Kruzifixbeschluß spricht es vom Grundsatz der Neutralität. 7 Auch eine unüberschaubare Vielzahl von Autoren folgt - ohne hierüber viele Worte zu verlieren - einem präskriptiven Neutralitätsbegriff. Als verfassungsrechtliche Niederschläge des Prinzips der weltanschaulichen Neutralität des Staates im Grundgesetz werden Art. 3 III, 4 I, 33 III GG sowie Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I, IV, 137 I WRV identifiziert. 8 Von seinen verfassungsrechtlichen Niederschlägen her wird auf den Verfassungsrang des Neutralitätsprinzips selbst zurückgeschlossen.9 Tatsächlich dürfte sich das Neutralitätsprinzip aus einem bestimmten Verständnis von Gleichheit herleiten lassen und insofern seinen Sitz im Bereich der Gleichheitsrechte haben, wobei zumeist eine Verbindung mit Art. 4 GG hergestellt wird. 10 In besonderer Weise wird das Augenmerk auf die Differenzierungsverbote zu lenken sein, die für ihren Anwendungsbereich die Flexibilität der Ausgangsnorm des Art. 3 I GG erheblich zu vermindern in der Lage sind. Bevor dies geschehen kann, gilt es jedoch, sich dem Ansatz des bekanntesten Theoretikers staatlicher Neutralität zuzuwenden.

2. Der staatstheoretische Ansatz: Neutralität als Nichtidentifikation (Herbert Krüger) Als unabgeschwächtes Prinzip ist Neutralität gleichbedeutend mit völliger Nichtidentifikation. Völlige Nichtidentifikation bringt den Staat als (vorgeblich) eigenschaftsloses Gemeinwesen hervor, wie es Herbert Krüger als Ideal vorgeschwebt, und welches er als in der „Entelechie des modernen Staates" liegend begriffen hat. 11 „Identifikation auf Seiten des Staates erweist sich als gleichbedeutend mit Unfreiheit auf Seiten des Bürgers." 12 Nur der eigenschaftslose Staat 6 BVerfGE, 24, 236, 246; Ε 32, 98, 106. Außerdem Ε 12, 1, 4; Ε 19, 206, 216; Ε 18, 385, 386; Ε 33, 23, 28; Ε 93, 1, 16. 7 BVerfGE 93, 1, 16 (Kruzifixbeschluß). 8 Herzog in: Maunz/Dürig (Hrg.) GG, Art. 4, Rn. 19. Halfmann, Der Streit um die Lehrerin mit Kopftuch, NVwZ 2000, S. 864. BVerfGE 19, 206, 216; Ε 93, 1, 17. Dieselbe induktive Methode hat das BVerfG in Ε 4, 7, 15 f. und erneut in seinem Abhörurteil Ε 30, 1, 20 zur Gewinnung des Menschenbildes des Grundgesetzes angewandt. 9 Dagegen: Isensee, Religionsfreiheit vor dem Kreuz in: Politische Studien, Sonderheft 2/ 95, S. 22: „Theorem oder ethisches Gebot". 10 Diesen Aspekt hervorhebend Steiner, Der Grundrechtsschutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit, JuS 1982, S. 165: „objektivrechtliche Ausformung" von Art. 4 GG. Schiaich, Konfessionalität - Säkularität - Offenheit in: ders., Gesammelte Aufsätze, S. 431. Vergl. auch BVerfGE 93, 1, 16 (Kruzifix). 11 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 178 f. 12 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 181.

I. Zum Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates

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könne (um es mit den Worten der vom Bundesverfassungsgericht gebrauchten Wendung zu sagen) „Heimstatt aller Bürger' 4 sein. Daß es sich bei der Krügerschcn Konzeption des absolut neutralen Staates um reine Abstraktion, gewonnen auf der Grundlage einer bestimmten Geschichtsdeutung, handelt, keinesfalls aber um die Wiedergabe des geltenden Verfassungsrechts, ist eine wichtige These dieser Arbeit. Auch das mehrheitlich in der Literatur zum Ausdruck gebrachte Neutralitätsverständnis hebt sich von der Rigidität Krügers deutlich ab. 13 Das ganze durch die Staatsrechtslehre hervorgebrachte und vom Bundesverfassungsgericht seit seinen frühesten Entscheidungen aufgegriffene und ausgebaute Wertedenken steht ihr entgegen.14 Der Gedanke der wehrhaften, diese Werte verteidigenden Demokratie erwiese sich auf Grundlage Krügerscher Neutralität letztlich als unhaltbar. Auf einen logischen Kern zurückgeführt wird man wohl sagen müssen, daß ein Gemeinwesen, das den Hochverrat unter Strafe stellt und darunter die Beseitigung seiner verfassungsmäßigen, wertgeprägten Ordnung versteht, kaum eigenschaftslos genannt werden kann, insofern es nämlich seine Grundlagen zu schützen versucht und sie hierdurch zu Werten erhebt (zu diesem Gesichtspunkt aber noch später unter V.3.j). 15 Der eigenschaftslose Staat scheitert (unter staatstheoretischem Gesichtspunkt) m.a.W. daran, daß er nicht ausschließlich gewährender Grundrechtestaat sein kann. Eigenartigerweise fiele gerade dies dem monarchisch oder aristokratisch verfaßten Staat leichter als der Demokratie. Demokratie bedeutet rechtlich Legitimation der Herrschaft durch das Volk. Politisch bedeutet sie vor allem Aufeinanderbezogensein von Herrschenden und Beherrschten, von Staat und Gesellschaft. Tritt Führungsschwäche auf, so besteht schlichte Abhängigkeit der „Herrschenden" von den „Beherrschten" und die „Herrschenden" werden zu den in Wahrheit „Beherrschten". Dies führt dazu, daß demokratische Systeme weniger geneigt sein werden, sich neutral zu verhalten - auch dann nicht, wenn, wie es für die deutsche Gegenwartslage kennzeichnend ist, das Staatsvolk in seinem Wertedenken ganz inhomogen erscheint. Sofern nicht die Kräfteverhältnisse es einer Interessengruppe erlauben, die anderen zu majorisieren, wird es eher noch zur Herausbildung eines plural-identifrkatorischen Proporzstaates 16 kommen (in dem es immer noch genügend Minderheiten geben wird, die keine Berücksichtigung finden), als zu wirklicher Neutralität 17. So unerfreulich diese Folgen in mancherlei Hinsicht sein mögen, so gewiß sind sie mit dem demokratischen Prinzip verbunden 13 Allgemein wird betont, daß nach deutschem Verfassungsverständnis Neutralität nicht gleichbedeutend mit radikalem Laizismus sei. Grundlegend Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 244 ff.; Janz/Rademacher, Islam und Religionsfreiheit, NVwZ 1999, S. 711; Heckmann, Verfassungsmäßigkeit des Ethikunterrichts, JuS 1999, S. 230. 14

Heckmann, a. a. O. 15 §81 f. StGB. 16

Kritisch zu entsprechenden Entwicklungen im Bildungsrecht Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 301 ff. 17 Eine Konzeption von Neutralität durch Pluralität vertritt hingegen Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 83 ff. und insbes. 244 ff. Auch: Heckmann, Verfassungsmäßigkeit des Ethikunterrichts, JuS 1999, S. 230.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werteweitergbe

und bedürfen der Moderierung durch weitere Prinzipien (hierzu im Folgenden unter 5.). Schließlich sind es Vielzahl und Umfang seiner Aufgaben, die es dem „Staat der Industriegesellschaft" nicht mehr gestattet, im altliberalen Sinne „neutral" zu sein: Notwendigerweise ist dieser Staat „Interventionsstaat" und zur Verwirklichung reiner Neutralität im Sinne von Nichteinmischung nicht mehr in der Lage. Neutralität kann er nur durch paritätische Teilhabe verwirklichen. 18 Um aber die Relativierungsbedürftigkeit des Neutralitätspostulats auch unter einem positivem Aspekt zu beleuchten, sei darin erinnert, daß der demokratische Staat, will er sich behaupten, auf Dauer die Identifikation seiner Bürger mit sich bitter nötig hat und daß er insofern gezwungen sein wird, identifikatorische Anhaltspunkte zu liefern. Dabei kann man unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob hierzu die von Smend gern hervorgehobenen, in erster Linie äußerlich integrierende Faktoren, wie bunte Fahnen, Orden und Staatszeremonien einzusetzen seien,19 oder ob man meint, auf intergrierende Inhalte doch nicht verzichten zu können. Führt man indes die Neutralitätspflicht des Staates auf ihren grundrechtlichen Kern zurück, so wird auch unter diesem Gesichtspunkt deutlich, daß mit totaler Neutralität nicht gerechnet werden kann: Denn ebensowenig, wie der grundsätzlich erwünschten Betätigung der Freiheitsrechte immer Raum geschaffen, bzw. umgekehrt ausgedrückt, die entsprechende Einschränkung nicht immer abgewehrt werden kann, ebensowenig kann und muß auch der Staat immer die Neutralität wahren. So ist zwar richtig, daß etwa die in der Förderung einer gesellschaftlichen Gruppe gelegene Benachteiligung einer anderen Gruppe nach moderner Grundrechtsdogmatik durchaus einen Eingriff darstellen kann. Ebenso richtig bleibt aber die Feststellung, daß grundsätzlich jeder Eingriff durch die Verfolgung legitimer Ziele und Interessen gerechtfertigt sein kann. Wenn also das Bundesverfassungsgericht von Nichtidentifikation spricht, 20 so meint es damit schwerlich „Eigenschaftslosigkeit" des Staates nach Krüger. Doch greifen die hier angestellten, neutralitätskritischen Erwägungen der systematischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand vor. Es sollten lediglich naheliegende Einwände gegen den Krügerschen Absolutheitsanspruch vorgetragen werden.

18 Carl Schmitt, Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 41 ff. 19 Auch auf dem Felde der „sachlichen Integration", also der Integration durch Werte, setzt Smend auf Staatssymbole. Dies habe entlastende Wirkung, weil mit einem Symbol jeder seine Wertevorstellungen verbinde und so das Fehlen eines eigentlichen Wertekonsenses wohltuend verdeckt werde. Eigentlicher „Wert" im Staat sei der Staat selber. Siehe Verfassung und Verfassungsrecht in: Verfassungsrechtliche Abhandlungen, S. 160 ff. 20 BVerfGE 30, 415, 422; Ε 35, 366, 375; Ε 41, 29, 52; Ε 52, 223, 237; Ε 93, 1, 17.

I. Zum Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates

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3. Identität von Grundrechtsgeltung und Neutralität? Nachdem von einer grundrechtlichen Wurzel des Neutralitätsgedankens ausgegangen wird, stellt sich die Frage, ob der Begriff der staatlichen Neutralität sich darin erschöpft, die Forderung grundrechtskonformer Verhältnisse neu zu umschreiben, oder ob ihm darüberhinaus auch eigenständiger Gehalt zukommt. Zunächst erscheint es naheliegend, das durch die Verfassung aufgerichtete System der Grundrechte als ein umfassendes, d. h. alle Lebensbereiche der Wirklichkeit durchdringendes System der gleichen Freiheit und gleichen Rechte aller zu begreifen. Wo nicht die Freiheitsrechte selbst diesen Aspekt ansprechen („alle Deutschen haben das Recht ...") kommt er im Zusammenspiel mit dem allgemeinen Gleichheitssatz zum Tragen. Der Grundgedanke ist demnach ein einfacher: Ist ein Staat von Verfassungs wegen gehalten, ein System der gleichen Freiheit und gleichen Rechte aller zu etablieren und zu garantieren, so muß ihm die wie auch immer geartete Parteinahme zugunsten einzelner Grundrechtsberechtigter versagt sein. Staatsneutralität und Grundrechtsgeltung fallen so gesehen in eins. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß unsere schneidige These von der Identität beider Phänomene problembehaftet ist. Das ergibt sich bereits aus der Verfassung selbst vorgenommenen Differenzierung nach Deutschen- und Jedermannsrechten, durch die belegt wird, daß dem Grundgesetz der Gedanke einer an die Merkmale eines bestimmten Personenkreises anknüpfenden Stufung grundrechtlicher Schutzintensität nicht fremd ist. Weitere Unsicherheiten birgt der Begriff der Gleichheit bzw. der Gleichbehandlung selbst, der sowohl einer eher schematischen oder auch einer wertenden Deutung zugänglich ist. Mit seiner in den fünfziger Jahren entwickelten Formel vom Gebot der Gleichbehandlung des Gleichen und der Ungleichbehandlung des Ungleichen hat sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Auslegung des Art. 3 I GG im Sinne einer Wertungsgesichtspunkte berücksichtigenden Deutung ausgesprochen. Im Sinne dieser Rechtsprechung bedeutete Neutralität im Falle ihrer Identität mit der allgemeinen Grundrechtsgeltung also das Bestreben, der Vielgestalt und Differenziertheit der Wirklichkeit „nachzuspüren" und ihr in (nach Möglichkeit) maßgeschneidertem staatlichen Reagieren gerecht zu werden. Daß eine derartige Neutralitätsauffassung etwa der Kriigerschen entgegengesetzt ist, sticht ins Auge, zeichnet sich diese doch gerade durch das Nichtreagieren des Staates auf bestimmte Eigenschaften und Merkmale seiner Bürger aus. Die landläufige Vorstellung von perfekter Neutralität besteht eben darin anzunehmen, daß sie in der Distanz zu ihren Gegenständen, in der Unangepaßtheit an sie und in der nicht-differenzierenden, einheitlichen Reaktion auf sie bestehe. Dieses Verständnis referiert zugleich das Gleichheitsmodell der sogenannten Differenzierungsverböte. Ihre Existenz in Gestalt von Spezialnormen der Verfassung stützt die wertende Deutung, die der Grundtatbestand des Gleicheitssatzes (Art. 3 I GG) durch das Bundesverfassungsgericht erfahren hat, durch ein Argument systematischer Auslegung: Wenn schematische Gleichbehand-

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werteweitergbe

lung für bestimmte Fälle eigens abgeordnet werden muß, so scheint sie nicht schon grundsätzlich intendiert zu sein. Damit gibt das Grundgesetz Anhaltspunkte für beide der eingangs aufgezeigten Gleichheitsmodelle. Bei einem unterstellten Gleichlauf von Gleichheit und Neutralität erschlössen sich demnach auch zwei mögliche Neutralitätsmodelle. Aber auch diese Erkenntnis stößt noch nicht zum eigentlichen Kern des Problems durch. Nimmt man die Krügersche Neutralitätskonzeption als die gängigste zum Ausgang der Betrachtung, dann sind - unter Zugrundelegung der Identitätsthese - Sitz des Neutralitätsgrundsatzes die Differenzierungsverbote. Wie wir jedoch wissen, betreffen diese Verbote lediglich bestimmte, nämlich die in ihnen aufgezählten Segmente der Wirklichkeit. Demnach könnte die Geltung des Neutralitätsgrundsatzes nicht für den gesamten Raum grundrechtlicher Wirkungen angenommen werden, da ein weiter Teil dieses Raumes nach wie vor dem Regime des Differenzierungsgebotes des Art. 3 I GG unterfiele. Da Art. 3 I GG den Grundtatbestand des Gleichheitssatzes darstellt, während die Differenzierungsverbote legis specialis sind, bildete die Staatsneutralität innerhalb des Systems der Grundrechte ebenfalls einen Grundsatz mit von vornherein beschränkter Wirkung. Seine Verwirklichung würde zusätzlich dadurch eingeschränkt, daß auch die Differenzierungsgebote für den Bereich ihrer grundsätzlichen tatbestandlichen Anwendbarkeit der Beschränkung durch gleichrangige kollidierende Verfassungsnormen unterliegen oder durch diese sogar im Wege der Spezialität völlig verdrängt würden. Als Beispiel hierfür mag die Anordnung des Art. 137 V S. 1 WRV dienen, wonach diejenigen „Religionsgesellschaften" den Körperschaftsstatus behalten, die ihn bereits während des Kaiserreichs innehatten. Ohne diese Regelung, allein unter dem Regime des Art. 3 II GG, wäre die Privilegierung der „geborenen Körperschaften" ausgeschlossen. Art. 137 V S. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG stellt indes gegenüber Art. 3 II GG die speziellere Norm dar - normtheoretisch wäre von einer Regel zu sprechen, wohingegen es sich bei Art. 3 II GG nur um ein einschränkbares Prinzip handelt - so daß sie den Vorrang genießt. Auch unter der allgemeinen Geltung verfassungsmäßig verbürgter Grundrechte ist m.a.W. eine gewisse Parteinahme des Staates zugunsten bestimmter Gruppen oder Anschauungen denkbar, sofern nur diese verfassungsunmittelbar angeordnet oder legitimiert wäre. Denn auch die Grundrechte stellen grundsätzlich nur „einfaches Verfassungsrecht", nicht etwa Verfassungsrecht höherer Dignität dar. Daß sich Neutralität im Hinblick auf die Religionsgemeinschaften nicht aufgrund allgemeiner Grundrechtswirkungen automatisch einstellen kann, bestätigt mittelbar Art. 137 V S. 2 WRV, die Gleichstellungsklausel zugunsten der übrigen „Gesellschaften". Weil sich Art. 137 V S. 1 WRV gegen den neutralitätsverbürgenden Art. 3 II GG ohne weiteres durchsetzen würde, muß ein relativierender Ausgleichsmechanismus eigens installiert werden, will man dem Neutralitätsgedanken auch hinsichtlich des Körperschaftsstatus wenigstens zu beschränkter Geltung verhelfen. 21 Doch sollte man sich klar machen, daß Art. 137 V S. 2 i.V.m.

I. Zum Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates

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Art. 140 GG die privilegierende Wirkung des Art. 137 V S. 1 W R V zwar mindert, nicht aber aufhebt. Zweck der angestellten Betrachtung war der Aufweis dessen, daß die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die grundrechteverbürgende Staatsform des Grundgesetzes nicht bereits die strikt verstandene Neutralität des Staates in religiösen Belangen bedingt, sondern, sofern sie verwirklicht werden soll, eigens angeordnet werden muß, wie dies etwa in Art. 137 V S. 2 W R V i.V.m. Art. 140 GG geschieht. Bestimmte Formen des Staatskirchentums wären mit einem dem des Grundgesetzes vergleichbaren Grundrechteregime durchaus vereinbar, ebenso wie etwa auch die monarchische Staatsform mit ihm vereinbar ist oder umgekehrt die Systementscheidung für eine demokratisch Staatsform auch ohne die umfassende Garantie von Rechtsstaatlichkeit denkbar wäre.

4. Weltanschauliche Neutralität als Verfassungsprinzip Die Bewegung von der Gewinnung eines übergeordneten Prinzips der Verfassung hin zu dessen weiterer Anwendung, kann- wie i m Falle der Gewinnung des Prinzips der Staatsneutralität aus den grundgesetzlichen Differenzierungsverboten - als eine Art Aufstieg von den Einzelphänomenen zur Idee und von dort wiederum als Abstieg zu neuen Konkretisierungen dieser Idee charakterisiert werden. Gegen ein solches Vorgehen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil: Die Gewinnung der konkreten positiven Rechtsnormen zugrundeliegenden Prinzipien beschreibt Kohler als die eigentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft im Zeitalter der Kodifikationen. 22 Kohler betont den Charakter der Gesetzesproduktion als schöpferischen Akt, bei dem es um die Lösung zwar genereller, gleichzeitig aber konkreter Rechtsfragen gehe. Seine Regeln implizieren gedankliche Voraussetzungen, die aus Gründen der Praktikabilität weder ausgesprochen, noch vollständig ins Bewußtsein gehoben werden können. Diese Arbeit zu leisten, also die dem Gesetz innewohnenden Prinzipien ans Tageslicht zu fördern, ist Aufgabe des wissenschaftlichen Interpreten, der gerade aufgrund seiner vorherigen Nichtbefaßtheit und Unvoreingenommenheit hierzu besser gerüstet ist. Er geht, wie die auch heute herrschende, wenn auch, soweit ersichtlich, kaum reflektierte Meinung, ganz selbstverständlich davon aus, daß auch die aus dem Gesetz herauspräparierten „principiellen Rechtssätze" normative Kraft besäßen, eben „Rechtssätze" seien.23 Diese Auffassung beruht wohl auf dem hier unausgesprochenen, gleichwohl aber seit Hume anerkannten Theorem, nach welchem ein normativer Satz im engeren Sinne nur aus einem anderen normativen Satz abgeleitet werden kann. 24 21

Bayer, Das Grundrecht der Religions- und Gewissensfreiheit, S. 95, nennt die Gleichstellungsklausel eine „Dreingabe" und betont damit die Freiwilligkeit dieser Leistung des Verfassungsgebers. 22 Kohler, Über die Interpretation von Gesetzen, Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht, Bd. 13 (1886), S. Iff. 23 Kohlen a. a. O., S. 8. 24

V. Kutschera, Grundlagen der Ethik, S. 29 m.N.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werteweitergbe

Jedoch müssen zugleich auch die Gefahren, die von solch verallgemeinerndem Vorgehen im Raum einer Verfassung ausgehen, beachtet werden. Prinzipien 25 oder auch Grundsätze 26 sind Normen, 21 wenn auch auf einem sehr hohem Niveau von Abstraktheit und Allgemeinheit. Zwar weisen sie in Problemsituationen sehr wohl den Weg zu einem Ergebnis, sie tun dies aber in eher pauschaler und undifferenzierter Weise. Ihrer enormen Breitenwirkung entspricht ein geringes Maß an Spezifität. Diese Breitenwirkung verdanken sie dem Fehlen eines eigentlichen Normtatbestandes. Nicht selten läßt sich ein Prinzip ja in einem einzigen Wort ausdrücken - „Demokratieprinzip" etwa. Es besteht zwar ein gewisses Einverständnis darüber, bei welcher Art von Fragestellungen dem Demokratieprinzp Relevanz zukommen soll, der Mühe aber, einen Generaltatbestand oder mehr oder weniger erschöpfend enummerierte Einzeltatbestände zu formulieren, hat sich noch niemand unterzogen. Ein Generaltatbestand wäre entweder zu eng oder so weit, daß er nichtssagend würde. Eine Enummeration der Anwendungsfälle müßte doch immer wieder erweitert werden. So bleibt es letztlich in jedem Fall dabei, das über das Vorliegen des Anwendungsfalls eines Prinzips gestritten werden kann. Gegen die nicht offensichtlich abwegige Anwendung wird sich in der Regel wenig ausrichten lassen. Auch auf der Rechtsfolgenseite zeichnet sich das Prinzip durch Unbestimmtheit aus, auch darüber, welche konkrete Regelung die dem Wesen des Prinzips entsprechende ist, wird sich im Einzelfall streiten lassen. Der Wirkweise eines Prinzips haften also offenkundige Unwägbarkeiten an, jedenfalls solange man dieser Wirkung Raum für Wildwuchs und Wucherung läßt. Dem kann nur durch Überwindung methodischer Naivität begegnet werden. Bevor hierzu ein Versuch unternommen wird, soll dem Prinzip noch sein Gegenstück an die Seite gestellt werden. Dem nicht subsumtionsfähigen Prinzip steht die subsumtionsfähige Regel gegenüber. Esser bezeichnet nur Regeln als Normen. Demgegenüber wird hier im Anschluß an Alexy unter einer Norm - ganz formal jeder Begriff oder Satz verstanden, der ein Sollen zum Ausdruck bringt. 28 Es fallen demnach sowohl Regeln als auch Prinzipien unter den Normbegriff. 29 Regeln sind 25

So der Sprachgebrauch bei Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen und Alexy, Theorie der Grundrechte. 26 Bei Esser ist der Grundsatz das, was Alexy ein Prinzip nennen würde, Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 72. 27 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 72. 28 Sog. semantischer Normbegriff, Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 42 ff. Auf die Gestalt des Normsatzes kommt es nicht an, solange dem Sinn nach ein Verbot oder Gebot ausgesprochen oder sonstwie ausgesagt wird, was der Fall sein soll (S. 46). Ein Satz ist ein Normsatz, wenn er in einen deontischen Satz umgegossen werden kann, also in einen solchen, in dem Wörter wie verboten, sollen, darf nicht, muß usw. vorkommen. 29 Nach der Einteilung Alexys genaugenommen unter den Begriff der deontologischen Norm - im Gegensatz zu den axiologischen Normen, bei denen es sich um Bewertungsregeln und Bewertungskriterien, letztere von Alexy auch Werte genannt, handelt, also um Bewertungsmaßstäbe. Den Regeln entsprechen dabei die Bewertungsregeln und den Prinzipien die Bewertungskriterien / Werte, Theorie der Grundrechte, S. 131 f.

I. Zum Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates

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Normsätze, deren Aussage sich - grob gesagt - in die Form eines Wenn-dann-Satzes bringen läßt. Sie haben einen mehr oder weniger weiten, mehr oder weniger eindeutigen Tatbestand, sie ordnen eine mehr oder weniger eindeutige Rechtsfolge an. Demgegenüber deutet das Prinzip nur auf einen anzustrebenden Endzustand, nennt aber weder den Weg dort hin, noch die zu seiner Erreichung einzusetzenden Mittel. Das Grundgesetz als Normengefüge beinhaltet Regeln wie Prinzipien. Nach Alexy ist besonders der Grundrechtsteil durch Prinzipien geprägt. Aber auch die sogenannten Staatszielbestimmungen des Art. 20 I GG wären als Prinzipien anzusprechen, diese sogar in ganz besonders pointierter Weise, worauf noch zurückzukommen sein wird. Regeln enthält das Grundgesetz vor allem im staatsorganisatorischen Teil.

5. Weltanschauliche Neutralität ist nur ein Prinzip im System der Verfassung Es wurde von den Gefahren gesprochen, die von der naiven Bezugnahme auf ein Verfassungsprinzip für das Verfassungsganze ausgehen können. Dies soll hier noch etwas konkreter gefaßt werden. Hierzu muß die Wirkweise eines Prinzips erläutert werden. Während man von einer Regel sagen kann, sie werde befolgt, muß man im Hinblick auf ein Prinzip vielmehr davon sprechen, daß es Berücksichtigung finde. 30 Prinzipien sind im Gegensatz zu Regeln unabgewogene Normen. Sofern es gilt, einen konkreten oder auch standardisierten Sachverhalt zu regeln, d. h. das Ordnungsproblem, das er darstellt, einer sachgemäßen und situationsbezogen angemessenen Lösung zuzuführen, werden hierzu unterschiedliche Prinzipien - Ordnungsprinzipien, Gerechtigkeitsprinzipien - einen Beitrag leisten können. Nur in selteneren Fällen - nicht bei komplexen Sachverhalten - wird die so entstehende Regel oder Regelung Ausdruck bloß eines Prinzips sein. Alexy charakterisiert Prinzipien deswegen als Optimierungsgebote.31 Hieraus sind folgende Erkenntnisse zu ziehen: Regeln sind aufgrund ihrer Abgewogenheit spezifischere, also sachnähere Normen als Prinzipien es sein können. Idealtypischerweise werden sie zu ihrer Funktion der Problembewältigung dadurch tauglich, daß in ihnen das relevante Prinzipienmaterial verarbeitet und insofern ein Ausgleich hergestellt ist. Regeln haben deswegen die Vermutung für sich, eine für ihren Anwendungsbereich abschließende Regelung darzustellen. Soweit ein Problem geregelt ist, ist der Rückgriff auf ein Prinzip zunächst abgeschnitten (Grundsatz der Subsidiarität von Prinzipien). Demgegenüber muß man für Prinzipien umgekehrt geradezu von der Vermutung sprechen, daß sie für sich noch keine sachgemäße Lösung komplexer Probleme bereithalten. Sie stellen lediglich Material für eine solche Lösung dar und bedürfen dringend der Begrenzung durch andere Prinzipien, sollen sie in 30

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87 ff., umschreibt diesen Umstand mit dem Begriff des Prima-facie-Charakters von Prinzipien. 31 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 127. 3 Gullo

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werte weitergäbe

einem auf Abstimmung und Balance angelegten Ganzen nicht Schaden anrichten. 32 In hervorstechender Weise stellt die Verfassung - jedenfalls im Ergebnis ein System aufeinander zu beziehender und in Einklang zu bringender Systementscheidungen dar. Die Konsistenz des hierdurch konstituierten, überwölbenden Gesamtsystems wird gefährdet, wenn ein durch ein Verfassungsprinzip repräsentierter Teilaspekt der die Verfassung darstellenden Gesamtentscheidung überbetont oder gar verabsolutiert wird. Nicht mehr nur Ansätze hierzu sind in der juristischen Diskussion zum Stichwort weltanschauliche Neutralität des Staates zu beobachten. Bereits 1968 sah Martin Heckel Anlaß, vor den Gefahren eines „doktrinär verselbständigten Neutralitätsbegriffs" zu warnen. 33 Zuvor hatte Häberle ebenfalls vor der Gefahr eines unter der Flagge der „Neutralität" segelnden, nachabsolutistischen und zugleich etatistischen Trennungsdenkens gewarnt. 34 Folgendes sei hierzu angemerkt: Das deutsche staatskirchenrechtliche System und mit ihm das gegenwärtige Gesamtsystem der Verfassung gerät - durch seinen Voraussetzungsreichtum hierzu nachgerade prädestiniert - derzeit von zwei Seiten unter Druck. Aus dem System heraus, indem Angehörige der Gruppe derer, denen die Pflege des Systems übertragen ist - Juristen - systemwidrige Interpretationen und Ansätze liefern. Von außen, aus dem politischen Raum der Gesellschaft heraus, indem die Akzeptanz des Systems und vor allem der Institution, auf das es sich bezieht - die Kirche, schwindet und eine Stimmung entsteht, die auf seine Revision zielt. Bei der ersten Art von Infragestellung handelt es sich um ein juristisches Problem, dem mit juristischen Mitteln zu begegnen ist, mag auch nicht zu übersehen sein, daß die Motivation systemwidriger Ansätze teilweise politischer Natur ist. Im übrigen handelt es sich um mangelndes Verständnis der Zusammenhänge. Mit beiden Aspekten des Problems wird sich diese Arbeit auseinandersetzen, und zwar unter der Maßgabe der Persistenz des gegenwärtigen Systems. Mit dem starren Festhalten an den „zufällig" heute noch geltenden verfassungspositiven Data (Hecket „Die juristische Realität des hic et nunc geltenden Verfassungsrechts" statt „kulturund kirchenpolitischer Programme und Postulate"35) ist es angesichts des gesellschaftlichen Großklimas nicht mehr getan.

32

Alexy behandelt diesen Themenkomplex unter dem Stichwort unterschiedlicher prima facie-Charaktere von Regeln und Prinzipien. Siehe Theorie der Grundrechte S. 87 ff. 33 M. Heckel, Staat Kirche Kunst, S. 209. 3 4 Häberle, Anmerkung zum Beschl. des BVerfG v. 4. 10. 65 in: DVB1. 1966, S. 218. 35

M. Heckel, Staatskirchenrecht und Kulturverfassung, S. 6.

II. Systembildung durch Zuordnung von Verfassungsprinzipien

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II. Systembildung durch Zuordnung von Verfassungsprinzipien 1. Die Pluralität eigenständiger Prinzipien in der Verfassung Im Anschluß an Alexy läßt sich das System des Grundgesetzes zu einem ganz wesentlichen Teil als Prinzipienmodell verstehen. Das Bundesverfassungsgericht und die herrschende Staatsrechtslehre tun dies der Sache nach, wie noch zu zeigen sein wird. Die Konzeption des Prinzipienmodells geht von der einfachen Grundannahme aus, daß wir es bei der Verfassung nicht mit einem monistischen, sondern mit einem pluralistischen Normengebäude zu tun haben. Das Grundgesetz führt nicht lediglich ein Fundamentalprinzip durch, es ist nicht Ausdruck nur eines, die ganze Verfassung allein beherrschenden Gedankens, sondern es verschafft einer ganzen Reihe von Prinzipien, teilweise sehr unterschiedlichen, Raum. Diese Prinzipien stellt es zunächst mehr oder weniger unverbunden nebeneinander. Das Demokratieprinzip steht neben dem Rechtsstaatsprinzip, dieses wiederum neben dem Sozialstaatsprinzip, usw. Um die Frage der Verträglichkeit dieser Prinzipien kümmert es sich zunächst kaum oder doch nur sehr begrenzt, 36 hinterläßt sie vielmehr der staatsrechtlichen Praxis als Aufgabe. Zwischen allen das Grundgesetz so zahlreich bevölkernden Prinzipien - und zu ihnen zählen auch die Grundrechte ist ein Ausgleich, ist Konkordanz herzustellen. Die Aufgabe ist anspruchsvoll, nachdem der Verfassungsgeber sich über Gleich- oder Gegenläufigkeit der Wirkweise dieser Prinzipien wenig Kopfzerbrechen gemacht hat. Bereits hieraus folgt, das keines der in der Verfassung anzutreffenden Prinzipien in Reinkultur verwirklicht sein kann. Die Staatsform Deutschlands unter dem Grundgesetz ist eine gemischte,37 keine sie prägende Grundentscheidung bleibt ohne Abschwächung. Das gilt, wie Böckenförde darlegt, selbst, ja gerade, 38 für eine die Szenerie so beherrschende Fundamentalnorm wie das Demokratieprinzip: „Die Demokratie ist insofern formal und inhaltsoffen; an Inhalten steckt in demokratischer Herrschaft jeweils das, was von den (freien) Bürgern oder deren Repräsentanten in sie hineingegeben und von fortdauerndem Konsens getragen wird. Dem steht die Auffassung entgegen, die grundgesetzliche Demokratie sei auch eine mit materiellen Inhalten erfüllte Wertvorstellung und könne daher nicht lediglich formal bestimmt werden. Das mag so sein, trifft jedoch nicht den entscheidenden Punkt. Sicher unterliegt die Demokratie des Grundgesetzes, wie sie von ihm näher ausgestaltet worden ist, inhaltlichen Bindungen und Begrenzungen, wie sie etwa in Art. 1 I, den Grundrechten, Art. 20 III und Art. 79 III GG festgelegt sind. Sie ist dadurch eine auf die Achtung der Menschenwürde verpflichtete, 36 Hinsichtlich der Grundrechte hat es entschärfende Vorkehrungen zum Teil durch die Gesetzesvorbehalte getroffen, doch ist man allgemein der Ansicht, daß hierdurch auch für den Bereich der Grundrechte das Problem nicht gelöst worden ist, wie ein Blick auf die vorbehaltlos gewährten und dennoch der Begrenzung bedürftigen Grundrechte zeigt. 37 Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 200: „Die Verfassung des modernen bürgerlichen Rechtsstaates ist immer eine gemischte Verfassung." 3 « Vergl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 201.

3*

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werteweitergbe rechtsstaatlich und sozialstaatlich gebundene Demokratie. Die Frage ist nur, ob dies bereits Inhalt des demokratischen Prinzips ist, das Art. 20 II als ein Formelement der grundgesetzlichen Verfassungsordnung festgelegt hat, oder ob es sich gerade erst aus dem Zusammenwirken verschiedener Formprinzipien ergibt, die miteinander verbunden werden und sich balancieren." 39

Es mag daher den Kern der Sache nicht wirklich treffen, wenn vom System des Grundgesetzes in einem Sinne die Rede ist, als würde hier die Verfassung ein solches fertig hinstellen. Das kann auch nicht Aufgabe des Verfassungsgebers oder eines Gesetzgebers überhaupt sein. 40 Zum System wird die Verfassung, indem ihre Elemente nach den Regeln der juristischen Kunst zu einander in Verhältnis gesetzt werden. Insofern ist im Verfassungstext ein System möglicherweise unbewußt schon angelegt, jedoch noch keinesfalls verwirklicht. 41 Hesse bringt dies in axiologischer Weise zum Ausdruck, indem er fordert, die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter müßten in der Problemlösung einander so zugeordnet werden, daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt, dies im Sinne einer Optimierung aller dieser Güter. 42 Er versteht das zur Verwirklichung aufgegebene System als ein System von Werten und verbindet diese Sichtweise mit dem Postulat eines übergeordneten Prinzips der Optimierung. Alexy hingegen interpretiert seinem deontologischen Ansatz gemäß die Formelemente der Verfassung gleich als Optimierungsgebote,43 so daß sie ein normatives Element der nur verhältnismäßigen Verwirklichung bereits in sich tragen. Letztlich meinen beide dasselbe, weil axiologischer und deontologischer Ansatz dasselbe Phänomen nur unter zwei unterschiedlichen Aspekten würdigen, der erste unter dem Aspekt des Wertes, also der im Ergebnis besten, der stimmigen Systembildung, der zweite unter dem Aspekt des Gesollten, also der richtigen, weil gesollten Systementscheidung auf dem Wege zur Systembildung. Beides fällt letztlich in eins. 44 39

Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip in: HdbStR Bd. I, § 22, Rn. 38. Kohler, Über die Interpretation von Gesetzen in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht, Bd. 13 (1886), S. 1 ff. 41 Ansätze zu einer Systembildung in der Verfassung sind allerdings vorhanden. Insoweit ist auf die Gesetzesvorbehalte zu verweisen, die eine gewisse Abstufung der Begrenzungsmöglichkeiten von Grundrechten einführen. Alexy bezeichnet sein Modell der Verfassungsinterpretation deswegen auch nicht als reines Prinzipienmodell, sondern als Regel-/Prinzipienmodell (Theorie der Grundrechte, S. 117 ff.). Gegen den im Einzelfall abwägenden Ansatz, der ein Prinzipienmodell widerspiegelt, wird denn auch immer wieder eingewandt, er ebne die Stufung der Gesetzesvorbehalte ein und nehme daher das Verfassungsgesetz in seiner Positivität nicht hinreichend ernst. Siehe F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 15; Forsthoff, Verfassungsauslegung, S. 34. 40

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Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 133 f. 44 Alexy, a. a. O. Hesses Polemik gegen „vorschnelle Güterabwägung" (Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72) trennt ihn in diesem Punkt nicht wirklich von Alexy. Sie beruht auf dem dahinterliegenden Vorwurf des Dezisionismus, den er mit Güterabwägung gleichsetzt. Alexy vertritt aber gerade kein dezisionistisches Modell von Abwägung, sondern ein Begründungsmodell, Theorie der Grundrechte, S. 144. 43

II. Systembildung durch Zuordnung von Verfassungsprinzipien

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2. Wege der Zuordnung Wurde somit herausgestellt, daß die Formelemente der Verfassung der Zuordnung bedürfen, so ist nun die Frage zu klären, wie dies zu geschehen habe. Einigkeit besteht darüber, das es hierzu eines rationalen Verfahrens bedarf. 45 Jenseits dieses Minimalkonsenses lassen sich im breiten Strom der verfassungsrechtlichen Debatte über die Jahrzehnte hinweg beständig zwei Hauptströmungen unterscheiden, deren eine einem eher dogmatisch geprägten, am Begriff arbeitenden interpretatorischen Ansatz folgt, während die andere als im Einzelfall argumentativ abwägend charakterisiert werden kann. Verfassungsinterpretation findet bei beiden Ansätzen statt, der erste nähert sich dem Normanwendungsproblem jedoch eher klassisch begriffsinterpretatorisch, während der zweite Interpretation eher als normübergreifende Systembildung betreibt und hierin eher geneigt ist, sich vom immer auch als historisch bedingt aufgefaßten Wortlaut zu lösen. Bei dieser Einteilung ist jedoch zu bedenken, daß man die stringente und exklusive Durchführung beider Ansätze selbst bei ihren theoretisierenden Vorreitern nicht antreffen wird, vielmehr ein Gemisch derselben, in welchem man von einem dominierenden Gesichtspunkt wird sprechen dürfen. Für die sachgerechte Bewältigung von Verfassungsfragen wird man richtigerweise auch auf keinen der durch den jeweiligen Ansatz eingebrachten Aspekte verzichten können. Wenn im folgenden von einem interpretatorischen Ansatz die Rede ist, so ist damit der herkömmlich begriffsinterpretatorische gemeint.

a) Interpretatorischer Ansatz: Zuordnung von Formelementen der Verfassung durch Auslegung von Einzelnormen? Anliegen des interpretatorischen Ansatzes ist es, die Anwendungsbereiche von Verfassungsnormen so gegeneinander abzugrenzen, daß es - mangels Berührung untereinander - zu möglichst wenigen Konflikten zwischen ihnen kommen kann. Bereits die Individualauslegung einer Verfassungsnorm soll deren harmonischer Einfügung in das Gesamt der Verfassung Rechnung tragen. Das System der Verfassung wird als weitgehend vorgegeben und maßgeblich betrachtet. Kollisionsvermeidung soll hierbei durch restriktive Norminterpretation erreicht, für die Einhaltung eines gewissen Sicherheitsabstandes unter den beteiligten Normen soll gesorgt werden. 46 Im Bereich der Grundrechte arbeitet dieses dort auch als systematische Interpretation 47 apostrophierte Verfahren demnach mit der Verengung 45 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 144; F. Müller, S. 49; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72. 46

Die Positivität der Grundrechte,

Eine höchst kritische Analyse dieses Ansatzes findet sich bei Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 5 ff. 47 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 318.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werteweitergbe

von Schutzbereichen. Für diesen Teilbereich der Verfassung formulieren Pieroth/ Schlink das Programm dieses Ansatzes wie folgt: „In systematischer Interpretation läßt sich u.U. zeigen, daß die Reichweite des Schutzbereiches den kollidierenden wildwüchsigen Freiheitsgebrauch nicht deckt. Was derart gar nicht erst in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, muß auch nicht durch einen Eingriff in das Grundrecht daran gehindert werden, mit anderen Interessen, mit anderen Grundrechten und Verfassungsgütern zu kollidieren." 48 Operiert der interpretatorische Ansatz also mit einer Limitierung der Anwendungsbereiche von Verfassungsnormen, Hesse spricht hier kurz vom Normbereich, 49 so tun sich wiederum drei Wege der Erreichung dieses Ziels auf.

aa) Die hermeneutische Methode Einer eher traditionellen Methode bedienen sich die Ansätze, die eine Konturierung von Tatbeständen und Schutzbereichen durch begriffliches Arbeiten an Tatbeständen und Schutzbereichen zu erreichen suchen. Sie zeichnen sich durch das Bemühen aus, die Herangehensweise an die Verfassungsnorm letztlich der Herangehensweise an eine durchschnittliche Norm positiven Gesetzesrechts anzugleichen. Dem Wortlaut der Verfassungsnorm kommt dabei gesteigerte Bedeutung zu. Problem dieses Ansatzes ist, daß er ungenügend auf sein methodologisches Vorverständnis von der Verfassungsnorm reflektiert. Mehr oder weniger unausgesprochen wird hier die Verfassungsnorm nämlich als Regel aufgefaßt, unter die man nur zu subsummieren brauche. Wo Subsumtion an der Unbestimmtheit des Normtatbestands scheitert (Art. 5 III GG: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei." Tatbestand der Kunstfreiheit ist das Wort „Kunst"!), behilft man sich mit sinngemäßen Ergänzungen, deren Reichweite letztlich von der Liberalität des Interpreten abhängt. Die dauernd anzutreffende „Ergänzungsbedürftigkeit" von Verfassungsnormen wird nicht als das erkannt, was sie ist, nämlich Anhaltspunkt für ein unangemessenes Normvorverständnis. 50 So vermag die am Wortlaut haftende Interpretation der Grundrechte deren Mehrdimensionalität nicht zu erklären, die Stand der Grundrechtslehre ist. Denn entweder ist das Grundrecht als institutionelle Garantie formuliert, dann wundert man sich über die subjektivrechtliche Dimension oder es ist subjektivrechtlich formuliert, dann ist man über die objektivrechtliche erstaunt. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man das Grundrecht als bewußte Wertentscheidung des Verfassungsgebers versteht, aus der verschiedene Folgerungen und Gebote fließen, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinen bahnbrechenden frühen Entscheidungen tut. Dies leitet über zu dem bereits angesprochenen Verständnis der Grundrechte als Grundsätze, bzw. Prinzipien, denen eine 48 Pieroth/Schlink, 49

Grundrechte, Rn. 318, 320.

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 310. 50 Ähnlich die Kritik Böckenfördes, Die Methode der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, S. 2090 f.

II. Systembildung durch Zuordnung von Verfassungsprinzipien

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andere Interpretationsmethode angemessen ist. Dazu allerdings später, nun zu einem weiteren Weg interpretatorischen Vorgehens.

bb) Normbereichsanalyse Ein weiterer Weg heißt Normbereichsanalyse und hierauf fußend Normbereichsdogmatik. Er wurde vor allem i m Hinblick auf die Grundrechte erprobt, ließe sich nach Auffassung seiner Verfechter jedoch auch auf andere Normen übertragen. 51 Ihn beschreiten ausdrücklich Hesse 52 und Friedrich Müller. 53, 5 4 Als Grundgedanken der Normbereichsanalyse wird man die Auffassung bezeichnen dürfen, daß gewisse notwendige Begrenzungen in der Reichweite einer Norm sich bereits aus der Natur des Regelungsgegenstandes ergeben. Intensiv hat sich Friedrich Müller mit dem Ansatz beschäftigt. Er will die notwendige Begrenzung der Grundrechte durch die Unterscheidung von sachspezifischer und unsachspezifischer Grundrechtsbetätigung erreichen. Nur sachspezifische Grundrechtsbetätigung kann sich zu Recht auf grundrechtlichen Schutz berufen. So schütze Art. 5 III GG zwar das Malen als spezifischer Betätigung der Kunstfreiheit, nicht aber das Malen auf der belebten Straßenkreuzung. Die Modalität auf der Straßenkreuzung hat nach Müller als unspezifisch zu gelten und wird nicht vom Schutzbereich der Kunstfreiheitsgarantie umfaßt. 55 Durch den polizeilichen Verweis von der Kreuzung wird das Grundrecht aus Art. 5 III GG gar nicht betroffen, weil es dem Maler ja freisteht, seine auf Verwirklichung der Kunstfreiheit gerichtete Betätigung andernorts fortzusetzen. Solange ihm also nicht das Malen schlechthin verboten wird, sei der Maler in seiner Kunstfreiheit nicht berührt. Der Konflikt mit dem Interesse der Allgemeinheit am ungestörten Verkehrsfluß entpuppt sich als Scheinkonflikt, da der Rekurs auf Art. 5 III GG schon im Ansatz als verfehlt anzusehen ist. Interpretatorisch ist dieser Ansatz deswegen, weil Müller meint, daß bereits die sachgemäße Interpretation des Einzelgrundrechts dazu führen muß, unsachgemäßen Bezugnahmen auf das Grundrecht ihre Berechtigung abzusprechen. Abgesehen davon, daß Müllers Theorie im Einzelfall zu höchst merkwürdigen Ergebnissen führt, ist seine Theorie schon deswegen problematisch, weil sie das Postulat lückenlosen Grundrechtsschutzes nicht zu integrieren vermag. Denn spätestens im Hinblick auf Art. 2 I GG - in der Deutung, die er durch die EZ/^-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfahren hat 56 - müßte Müller von seinem Modell der Bereichsdogmatik abrücken, wollte er nicht hinter die Verbürgung umfassender Freiheit des Individuums im freiheitlichen Staat zurück-

51

Vergl. F. Müller, Juristische Methodik. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 310. 53 F. Müller in seinen Schriften „Die Positivität der Grundrechte" und „Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik". 54 Andere sind mehr praktische Verfechter des interpretatorisehen Ansatzes, so A. v. Campenhausen, Religionsfreiheit in: HdbStR Bd. VI, § 136, Rn. 86, der die Notwendigkeit betont, Grundrechte aus sich heraus gemäß ihres historisch-verfassungsrechtlichen Sinngehalts zu interpretieren. 55 F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 73, Freiheit der Kunst, S. 59, 124. 56 BVerfGE 6, 32, 36 ff. 52

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen staatlicher Werteweitergbe fallen. 57 Beim Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit läßt sich gerade keine Bereichsspezifik ausmachen, es handelt sich um das unspezifische Grundrecht schlechthin. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 I GG der Sache nach Spezialgrundrechte herauspräpariert, insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht mit seinen verschiedenen Ausformungen, es hat mit der Schaffung dieser sekundären Grundrechtsebene den primären universellen Gehalt aber gerade nicht angetatstet. Diesbezüglich geht es um nichts weniger, als um die Frage, ob weiterhin grundsätzlich alles erlaubt bleiben soll, was nicht aufgrund überwiegender Notwendigkeit eigens verboten ist. Müllers Ansatz zu Ende gedacht führt zur Aufgabe des Anspruchs lückenlosen Grundrechtsschutzes, letztlich zu einer ganz gravierenden Minderung des erreichten Grundrechtsstandards. 58

Es ist überaus fraglich, und läßt sich auf Grundlage der einschlägigen Schriften auch nicht abschließend klären, ob nach Auffassung ihrer Urheber die Normbereichsanalyse allein geeignet sein soll, das Konkordanzproblem der Verfassung zu lösen. Pieroth/Schlink referieren jedenfalls eine Hesse-Deutung, die dies annimmt. Sie schreiben: „Die systematische Interpretation soll nach verbreiteter Auffassung sogar bewirken, daß die Schutzbereiche der vorbehaltlosen Grundrechte stets nur soweit reichen, wie es ein i.S. praktischer Konkordanz 59 erfolgender Ausgleich mit kollidierenden anderen Grundrechten oder Verfassungsgütern jeweils erlaubt." 60 Demgegenüber muß betont werden, daß Hesse die verhältnismäßige Zuordnung von Grundrechten etc. erstrebt, was nur bedeuten kann, daß diese Zuordnung gerade nicht durch Normbereichsanalyse erfolgen soll. „Verhältnisbestimmung", so schreibt er, „darf niemals in einer Weise vorgenommen werden, die eine grundrechtliche Gewährleistung mehr als notwendig oder gar gänzlich ihrer Wirksamkeit im Gemeinwesen beraubt" und führt aus, daß die Zuordnung durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit seiner Stufung von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu geschehen habe.61 Damit scheint Hesse zugleich auch den oben angesprochenen dritten Weg einer interpretatorisehen Vorgehensweise zu beschreiten, der im folgenden zu betrachten sein wird. 62 57

Hesse nimmt hierzu unverständlich Stellung, lehnt die Elfes- Rechtsprechung aber ab, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 428. Vergl. demgegenüber besonders BVerfGE 80, 137, 154 - Reiten im Walde, in der jedem Versuch zu einer am Schutzbereich ansetzenden restriktiven Interpretation von Art. 2 I GG, die eine Abkehr von der £//