Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht 9783787336623, 9783787336548

Wer sich mit den Theorien oder Positionen von Philosophinnen und Philosophen auseinandersetzen will, kommt nicht umhin,

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Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht
 9783787336623, 9783787336548

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TEXTARBEIT IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT – METHODEN IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT – Herausgegeben von Martina und Jörg Peters

Band 5

Die Reihe Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht ist auf zwölf Themenbände angelegt, die bis 2025 erscheinen werden: 1

Philosophieren mit Filmen im Unterricht

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Philosophieren mit Gedankenexperimenten

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Philosophieren mit Dilemmata

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Philosophieren mit Bildern und Comics

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Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht

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Der Einsatz von Spielen im Philosophie- und Ethikunterricht

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Literatur und Jugendliteratur im Philosophie- und Ethikunterricht

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Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht

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Theatrales Philosophieren, Musik und Videoclips im Philosophie- und Ethikunterricht

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Philosophieren mit Bildern und Fotos

11

Digitale Medien im Philosophie- und Ethikunterricht

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Hörbücher, Hörspiele und Hördokumentationen im Philosophie- und Ethikunterricht



Ausführliche Informationen unter: www.philosophie-didaktik.de

Martina und Jörg Peters

Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3654-8 ISBN eBook: 978-3-7873-3662-3 www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: 3W+P GmbH, Rimpar. Druck und Bindung: Multiprint Ltd., Kostinbrod. Printed in Bulgaria.

INHALT Einführung: Die Bedeutung des Textes für den Philosophie- und Ethikunterricht . . . . . . . . . . . .

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Martina Peters, Jörg Peters

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Texte im Philosophie- und Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Lesen Sie den Text!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hubertus Stelzer

Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vanessa Albus, Leif Marvin Jost

Lob des »Nach-Textes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Patrick Baum

Lesen erleichtern: Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht . . . . . .

31

Klaus Blesenkemper

Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Klaus Langebeck

Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Helmut Engels

Verfahren der Texterschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Barbara Brüning

Methoden der Interpretation im Philosophieunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lothar Ridder

Textarbeit im philosophischen Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Volker Haase, Donat Schmidt

Arbeit am Logos – Textrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Volker Pfeifer

2

Beispiele aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 »So kann man nicht philosophieren! Irgendwelche Zitate raussuchen!« . . . . . . . . 131 Antje Knopf

Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Anita Rösch

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Inhaltsaffine Texterschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Klaus Goergen

Philosophisch puzzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Steffen Goldbeck

Zehn Arten, einen Text zu lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Johannes Rohbeck

»Nein, nicht schon wieder ein Text.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Alexander Chucholowski

Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Tobias Saum

Resonanztheorie und Bonbonmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Rolf Sistermann

Wie kann man philosophischen Unterricht digital unterstützen? . . . . . . . . . . . . . . . 255 Klaus Blesenkemper

Methoden der Textarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Michael Wittschier

Methoden der Textarbeit im Philosophieunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Roland Henke, Matthias Schulze

Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

EINFÜHRUNG

Die Bedeutung des Textes für den Philosophieund Ethikunterricht Martina Peters, Jörg Peters

W

er sich wissenschaftlich mit von Philosophinnen und Philosophen aufgestellten Theorien oder von ihnen vertretenen Positionen auseinandersetzen will, kommt nicht umhin, ihre Texte entweder als Ganzschrift oder zumindest in (essentiellen) Auszügen zu lesen, sie zu analysieren, zu interpretieren und Stellung zu ihnen zu beziehen. Ähnlich verhält es sich in der Schule: Wer Philosophie- oder Ethikunterricht durchführen will, kann nicht darauf verzichten, Texte einzusetzen, bilden diese doch die wichtigste Grundlage, um philosophische bzw. ethische Inhalte näherzubringen. Wer dagegen glaubt, man könne im Philosophie- bzw. Ethikunterricht auf Textarbeit gänzlich verzichten und sich bei der Vermittlung philosophischer Ideen ausschließlich auf andere Methoden, wie etwa das textfreie Unterrichtsgespräch, konzentrieren, irrt. Wie wichtig Textarbeit generell für das Philosophieren an Schulen ist, zeigen schon allein die umfangreiche fachdidaktische Auseinandersetzung mit diesem Thema und die damit verbundenen, zahlreich diskutierten Aspekte. Drei von ihnen sollen im Folgenden genauer in den Blick genommen werden: 1. Die Frage, ob ausschließlich Originaltexte gelesen werden sollen oder ob es auch eine unterrichtliche Legitimation für Nach-Texte gibt; 2. die Frage, ob es sinnvoll wäre, im Unterricht neben Textauszügen auch Ganzschriften einzusetzen und 3. die Frage, welche Methoden sich für die Besprechung von Texten besonders eignen.

 Originaltext und Nach-Text Um es direkt zu sagen: Wo immer es möglich ist, sollten Schülerinnen und Schüler mit Eintritt in die Sekundarstufe II im Philosophie- oder Ethikunterricht eigentlich nur noch Originaltexte lesen. Die fachdidaktische Diskussion um den Stellenwert von Originaltexten eröffnete Volker Steenblock 1999, als er sich in einem kurzen Beitrag für die Zeitschrift Ethik & Unterricht populären Präsentationsformen philosophischer Texte zuwandte. Dabei ging es ihm unter anderem darum, mögliche Gründe aufzuzeigen,

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Martina Peters, Jörg Peters

warum auch Nach-Texte ihren Platz im Philosophieunterricht verdienen.1 Steenblock sprach damals noch davon, dass man Texte um-schreiben oder um-schreiben könne. Das Um-schreiben von Texten bestehe vor allen Dingen in einer »Vereinfachung der Sprachgestalt«, während beim Um-schreiben der Kerngedanke eines philosophischen Textes in einen neuen Kontext gesetzt werde, wozu z. B. »die Veränderung der Textsorte, etwa durch Dialogisierung« zähle.2 Den Begriff ›Nach-Text‹ benutzte Steenblock das erste Mal im Jahr 2008 und erläuterte, dass darunter Texte zu verstehen seien, in denen z. B. die Lehre einer Philosophin oder eines Philosophen nach ihr bzw. ihm dargestellt werde, also beispielsweise ›nach Aristoteles‹ 3. Während Primärliteratur leicht als ein geschriebenes Werk bestimmt werden kann, das entweder den Ausgangspunkt oder den Gegenstand für eine wissenschaftlichen Untersuchung darstellt, ist es deutlich schwieriger, eine Kurzdefinition von Nach-Texten vorzunehmen. Dies zeigen unter anderem die Ausführungen von Klaus Blesenkemper, der Nach-Texte in die Kategorien ›Nach-‹, ›Mit-‹ und ›In-Texte‹ unterteilt, wobei er unter ›In-Texten‹ »Originalbeiträge von Schulbuchautoren« versteht, »in die […] philosophische Positionen eingebettet sind« 4, unter ›Mit-Texten‹ »Gespräche mit Philosophen zu Texten und Positionen« 5 und unter ›Nach-Texten‹ solche Texte, die »im engeren Sinne als Nacherzählungen philosophischer Texte (ggf. in leichter Sprache)« 6 angesehen werden können. Wie für Steenblock stellen auch für Blesenkemper NachTexte eine Option dar, vor allem im Unterricht der Sekundarstufe I, unter Umständen aber auch im Oberstufenunterricht, eingesetzt zu werden. Einen solchen Umstand sieht er dann gegeben, wenn beispielsweise in einem Oberstufenschulbuch für das Fach Philosophie zunächst der Originaltext abgedruckt ist und dieser durch einen Nach-Text so ergänzt wird, dass innerhalb einer Lerngruppe – sofern nötig – eine Differenzierung erfolgen kann.7 Blesenkemper weist ferner explizit darauf hin, dass der Einsatz von Nach-Texten dann gerechtfertigt sei und diese Lernprozesse unterstützen könnte, wenn die Lehrenden bei der Auswahl dieser Methode zur Vermittlung von philoso-

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Vgl. Steenblock, Volker: »Plaudern, ›Umschreiben‹, Faszinationsinszenierung«, in: Ethik & Unterricht 10, 1999, Heft 3: Rechte und Pflichten, S. 43. Ibid. Vgl. Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung neuerer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Thurnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 9, Thelem, Dresden 2008, S. 47– 63: S. 56. Blesenkemper, Klaus: »Lesen erleichtern. Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 22 – 31: S. 31. Ibid., wobei Blesenkemper hier noch eine Unterteilung der Mit-Texte in a) fiktionale Interviews mit authentischen Textausschnitten, die die gestellten Fragen beantworten sollen, b) fiktive Gespräche mit bzw. zwischen Philosophen über ihre Lehre und c) Gespräche mit fiktionalen Experten über die Lehre von Philosophinnen und Philosophen vornimmt. Ibid. Vgl. Blesenkemper, Klaus: »Ein Ziel auf drei guten Wegen? Exemplarisch-empirische Analyse von Schulbüchern für den Philosophieunterricht nach dem neuen Kernlehrplan für den Oberstufenunterricht in NRW«, in: Martens, Ekkehard (Hrsg.): Empirie und Erfahrung im Philosophieunterricht, Siebert Verlag, Hannover 2017, S. 134 – 162: S. 156 – 157.

Die Bedeutung des Textes für den Philosophie- und Ethikunterricht

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phischen bzw. ethischen Inhalten immer die Art und Weise, die Adressaten und den unterrichtlichen Kontext berücksichtigen würden.8 Dass in Nach-Texten Fehler auftauchen können und daher grundsätzlich die Gefahr gegeben ist, unabsichtlich Unrichtiges oder gar Falsches zu vermitteln, ist nicht von der Hand zu weisen und wird von Klaus Blesenkemper ebenso wie von Patrick Baum oder Vanessa Albus und Leif Marvin Jost hervorgehoben. Die beiden Letzteren lehnen NachTexte aber nicht nur aus diesem Grund ab, sondern auch, weil sie »nur Interpretation und Deutungen sind, deren Plausibilität die Lernenden als Anfänger in Philosophie nicht überprüfen können« und man sie im schlimmsten Fall »als Instrument zur weltanschaulichen oder politischen Manipulation« 9 einsetzen könne. Die Fälle, die Albus und Jost hinsichtlich des Manipulationsvorwurfs vortragen – einmal Nach-Texte zu den Theorien von Karl Marx, die in der ehemaligen DDR durch die SED-Leitung so bearbeitet wurden, dass sie immer auf Parteikurs lagen, und einmal Nach-Texte aus christlichmissionierendem Philosophieunterricht der Nachkriegszeit, die das Scheitern Kants an der Kritik der philosophischen Gottesbeweise belegen sollen –, werden in einer aufgeklärten pluralistischen Gesellschaft in dieser Form nur schwerlich vorkommen. Der derzeitig gültige Kernlehrplan Nordrhein-Westfalens von 2014 weist weder Namen von Philosophinnen oder Philosophen noch spezifische Werke aus, die im Philosophieunterricht zu lesen und zu besprechen wären. Somit hat jede Lehrkraft die Freiheit zu entscheiden, welche Texte – also auch Nachtexte – sie in ihrem Unterricht einsetzen möchte. Macht sie einen Nach-Text zum Unterrichtsgegenstand, so ist es ihre Pflicht zu kontrollieren, ob der gewählte Nach-Text die Intention des Primärtextes, etwa die Darstellung einer Theorie, tatsächlich wiedergibt.10 Dazu ist Expertise notwendig, die Oberstufenlehrerinnen und -lehrer der Fächer Philosophie bzw. Ethik aufgrund ihres universitären Studiums eines der beiden Fächer sowie der praktischen Ausbildung im Referendariat besitzen sollten. Baum wendet gegen das von Albus und Jost angeführte Argument, es handele sich bei Nach-Texten nur um »Interpretation und Deutung«, ein, dass auch bekannte Philosophen – vor allen Dingen dann, wenn sie eine Position als falsch erachten – zunächst einmal das zusammenfassen, wogegen sie sich wenden wollen. Diese Zusammenfassungen, so Baum, dürften nach den von Albus und Jost aufgestellten Kriterien auch als nichts anderes als Deutung oder Interpretation eines Sachverhalts betrachtet werden. Als Beispiel führt er das Werk Versuch über den menschlichen Verstand (An Essay Concerning Humane Understanding, 1690) von John Locke an, in dem der englische Philosoph zunächst umfassend Descartes’ Gedanken zu den ideae innatae darstellt, um sich anschließend gegen diese Vorstellung auszusprechen und zu zeigen, warum sie nicht haltbar sei.11 8

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Blesenkemper, Klaus: »Lesen erleichtern. Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht«, a.a.O., S. 31. Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! Kant-Texte im sprachsensiblen Philosophieunterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 9 – 10: S. 10. Vgl. Baum, Patrick: »Lob des ›Nach-Textes‹. Vielfältige Lektüren für den Unterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 12 – 13: S. 13. Ibid.

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Martina Peters, Jörg Peters

Die angeführten Argumente machen evident, dass die von Albus und Jost in Bezug auf Nach-Texte vertretene Auffassung nur bedingt nachvollziehbar ist, zumal beispielsweise Peters und Rolf unmissverständlich darauf hingewiesen haben, dass Nach-Texte keinen Ersatz für Primärtexte darstellen sollen und können und Baum explizit betont, dass Nach-Texte nicht den Zugang zu Primärtexten verstellen dürfen.12 Trotz aller Kritik ist das Ansinnen von Albus und Jost als Ideal gerechtfertigt und dürfte insofern breite Zustimmung erfahren. Allerdings lehrt die Realität, dass aufgrund der Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler nicht in allen Philosophie- oder Ethikkursen ausschließlich mit Primärtexten gearbeitet werden kann. Aus diesem Grund wäre es eventuell sinnvoller, sich dafür auszusprechen, dass im Philosophie- oder Ethikunterricht der Sekundarstufe II immer dann, wenn es möglich ist, auf Primärtexte zurückgegriffen werden soll. Anders als in der Sekundarstufe II ist allerdings der Umgang mit Nach-Texten in der Sekundarstufe I zu bewerten. Je nach Alter der Schülerinnen und Schüler können diese komplexe philosophische Ideen kognitiv noch gar nicht erfassen, so dass bei der Textarbeit auf andere Textformen und/oder -arten zurückgegriffen werden muss. Hier mögen sich, je nach Thema und Jahrgangsstufe, unter anderem auch Nach-Texte – unter der Voraussetzung, dass der Sachgehalt richtig dargestellt ist – anbieten, weil sie in kindlicher oder jugendlicher Diktion die Lehren von philosophischen Größen darstellen und somit für Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar sind.

 Textausschnitte und Ganzschriften Der Appell von Steffen Goldbeck, sich im Philosophie- bzw. Ethikunterricht der Sekundarstufe II wieder der Erarbeitung von philosophischen Ganzschriften zuzuwenden13, ist nicht nur legitim, sondern scheint in einer Zeit, die insbesondere durch Schnelllebigkeit geprägt ist, nahezu geboten. Goldbeck macht darauf aufmerksam, dass der nordrhein-westfälische Kernlehrplan von 2014 zwar die Behandlung von Ganzschriften nicht explizit ausschließt, sie aber auch nicht – wie die Richtlinien für das Fach Philosophie von 1999 – ausdrücklich einfordert.14 So heißt es wörtlich im alten Lehrplan: »Verpflichtend ist, dass im Verlauf des Philosophieunterrichts von 11/I bis 13/II mindestens einmal eine philosophische Ganzschrift im Unterricht behandelt wird.« 15 Eine erneute unterrichtliche Verpflichtung der Auseinandersetzung mit einer Ganzschrift 12

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Vgl. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: »Vorwort«, in: Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen, Arbeitstexte für den Unterricht, RUB 15062, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 5 und vgl. Baum, Patrick: »Lob des ›Nach-Textes‹. Vielfältige Lektüren für den Unterricht«, a.a.O., S. 13. Vgl. Goldbeck, Steffen: »Philosophisch puzzeln. Philosophische Ganzschriften mit der Textpuzzlemethode erschließen«, S. 173 – 197 in diesem Band. Vgl. ibid., S. 174. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie, Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 4716, Ritterbach Verlag, Frechen 1999, S. 17.

Die Bedeutung des Textes für den Philosophie- und Ethikunterricht

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wäre schon deshalb angebracht, um Schülerinnen und Schülern die Chance zu ermöglichen, sich über einen längeren Zeitraum hinweg intensiv mit einer philosophischen Theorie zu beschäftigen. Diese Art der Textarbeit wieder zu etablieren, wäre darüber hinaus auch aus wissenschaftspropädeutischen Gründen sinnvoll, weil sie dazu beiträgt, die Lernenden auf das Studium an Universitäten oder Hochschulen vorzubereiten. Schließlich wären Schülerinnen und Schüler auch noch gefordert, sich eine Weile gegen einen Zeitgeist zu stellen, der sie nie zur Ruhe kommen lässt, der sie permanent mit Neuem überhäuft und der von ihnen mehr oder weniger verlangt, Sensationsnachrichten am laufenden Band zu konsumieren, um über Oberflächlichkeiten mitreden zu können. Mit der Bearbeitung von Ganzschriften würde der Philosophie- bzw. Ethikunterricht folglich dazu beitragen, dass sich Schülerinnen und Schüler wieder bewusst auf einen Gegenstand konzentrieren, sich auf ihn besinnen und ihn mit Ruhe angehen. Dieses Ansinnen unterstreicht der Schweizer Pädagoge Carl Bossard aus allgemeinpädagogischer Sicht, wenn er sagt: »Die Schule hat einen wunderschönen Namen. Er stammt aus dem Altgriechischen. Aristoteles’ geschliffener Begriff müsste [eigentlich] Programm sein: scholé, was so viel wie Muße heisst. […] Die Schule, die scholé, wäre jener Ort, an dem sie noch möglich sein müsste, eine gewisse Muße. Ein Ort, an dem man füreinander Zeit hat und einander zuhört, zueinander findet und sich aneinander reibt, miteinander lernt und gemeinsam zu Neuem unterwegs ist. Das ist der tiefe Sinn von Schule. Bildung basiert auf scholé. Lernen kann man nicht beschleunigen. Lernen kennt keine Autobahnen, keine Schnellstrassen und keine abgekürzten Routen oder gar Überholspuren. Da gelten Feldwege und da gehören Bergpfade dazu. Manchmal auch Unterholz und Dickicht. Und natürlich Umwege. Darum braucht Lernen Zeit. Eben: scholé!« 16 Die Auseinandersetzung mit einer Ganzschrift bedarf der Zeit, der Muße, der Kontemplation. Auf diese Weise kann sich der Philosophie- oder Ethikunterricht als Gegenkraft zu einem lauten Zeitgeist erheben. Bereits 1807 plädierte Jean Paul in seiner Schrift Levana oder Erziehungslehre dafür, Kinder gegen den Zeitgeist zu erziehen. Der Zeitgeist, so Jean Paul, würde genug Wirkung entfalten, während Schule und Elternhaus für eine kompensatorische Balance sorgen müssten.17 Auf den Philosophie- bzw. Ethikunterricht übertragen bedeutet die Beschäftigung mit Ganzschriften, sich einerseits gegen die Schnelllebigkeit des Zeitgeists zu stellen und – damit verbunden – zugleich Entschleunigung und Abstand von der Hektik des Alltags zu erfahren. In ähnlicher Form äußert sich auch Julian Nida-Rümelin, wenn er rät, Schülerinnen und Schülern mehr Zeit zu geben, damit sie sich nicht nur mit einer philosophischen bzw. ethischen Frage oder einem philosophischen oder ethischen Problem intensiv auseinandersetzen, sondern durch die längerfristige Beschäftigung mit einem Gegen-

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Bossard, Carl: Bildung braucht ›scholé‹, Beitrag auf der Seite Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. vom 03. November 2018, veröffentlicht am 08. Februar 2019, auf: https://bildung-wissen.eu/fachbei traege/bildung-braucht-schole.html (Stand: 19.10.2022). Vgl. Paul. Jean: »Levana oder Erziehungslehre«, in: Paul, Jean: Sämtliche Werke, Bd. 36, Achte Lieferung, Erster Band, Verlag Georg Reimer, Berlin 1827, §35, S. 54 – 55.

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Martina Peters, Jörg Peters

stand auch zu einem abgewogenen Urteil gelangen können: »Wichtiger denn je ist das zentrale humanistische Bildungsideal, das sich in zwei Begriffe fassen lässt: Es geht um Persönlichkeitsbildung und Urteilskraft. Junge Menschen müssen in die Lage versetzt werden, sich selbst ein verlässliches Urteil zu bilden. Angesichts eines immensen Angebots an Informationen, Meinungen und Ideologien müssen Schüler und Studenten unterscheiden lernen. Sie müssen Zeit haben, Argumente abzuwägen. Das ist es letztlich, was die Schule vor allem braucht: Zeit, um zu vertiefen.« 18 Der Münchener Philosoph umreißt hier nicht nur die Aufgaben von Schule und Universität im Allgemeinen, sondern des Philosophieunterrichts im Besonderen. Etwas zu vertiefen bedarf der Kontemplation und nicht der Hektik, wie auch der Neurobiologe Gerhard Roth konstatiert19. Tatsächlich erfahren wir unsere Epoche »als dynamisches Gebilde. Tempo und Rasanz sind ihre Merkmale« 20, die sich in Phänomenen wie TikTok, kurzen Schnittfolgen in Filmen oder blitzschnell nacheinander geposteten Sensationsnachrichten äußern. Das angesprochene Tempo lässt sich auch in Schulbüchern nachweisen. Selbst in Unterrichtswerken für die Sekundarstufe II sind kaum noch längere oder gar lange Texte zu finden, wie dies in Schulbüchern der 1970er und 1980er Jahre noch üblich war. Vielmehr sind heutige Schulbücher primär durch kürzere, schnell zu rezipierende Texte gekennzeichnet, mit denen meist auf Doppelseiten einzelne Problemfelder erschlossen werden sollen. Es scheint, als würden Autorinnen und Autoren von Philosophie- oder Ethik-Schulbüchern für die Sekundarstufe II dazu neigen, nur noch die Kerngedanken von Theorien anzubieten. Dies liegt vor allen Dingen darin begründet, dass Schulbuchautorinnen und -autoren dem Zwang unterliegen, die Vorgaben von Schul- oder Kultusministerien, die in Richtlinien, Lehr- oder Bildungsplänen ihren Niederschlag finden, so umzusetzen, dass Schülerinnen und Schüler möglichst gut auf das Abitur vorbereitet werden (können). Dies führt dazu, dass, um alle geforderten Inhaltsfelder mit ihren Schwerpunktthemen abzudecken, in der Regel nur noch zentrale Aspekte von Theorien in Schulbücher aufgenommen werden können. Die Vorgaben der nordrhein-westfälischen Richtlinien von 1999 sahen also vor, eine Ganzschrift im Unterricht zu behandeln. Was aber genau ist eigentlich eine Ganzschrift? In den Richtlinien wird sie folgendermaßen definiert: »Unter ›Ganzschrift‹ ist nicht ein umfangreiches Werk zu verstehen, sondern ein zusammenhängender Text, der kontinuierlich besprochen wird, und zwar in einem Zeitraum von einem Quartal oder einem ganzen Kurshalbjahr.« 21 Es ist bemerkenswert, dass unter einer Ganzschrift nicht unbedingt ein »umfangreiches Werk« einer Philosophin oder eines Philosophen zu verstehen ist. Diese Bestimmung ist insofern essentiell, als es selbst unter günstigsten Umständen kaum möglich wäre, Schriften wie Platons Politeia, Martin Heideggers Sein 18

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Nida-Rümelin, Julian: »Digitalisierung: Silicons Valleys aufgeblähte Utopie«, in: Luzerner Zeitung, Ausgabe vom 26. September 2018, S. 15. Vgl. Roth, Gerhard: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt, Klett-Cotta, Stuttgart 2011. Bossard; Carl: Bildung braucht ›scholé‹, a.a.O. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie, a.a.O., S. 17.

Die Bedeutung des Textes für den Philosophie- und Ethikunterricht

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und Zeit oder Hannah Arendts Vita Activa in Gänze im Philosophie- oder Ethikunterricht zu besprechen. Legt man – wie in den Richtlinien von 1999 unter anderem vorgeschlagen – als Unterrichtszeit ein Quartal zugrunde, so entspricht dies im Idealfall einem Zeitkontingent von 30 Unterrichtsstunden à 45 Minuten (= zehn Wochen), also ungefähr genau so viel Lehr- und Lernzeit, wie für ein Seminar in einem Semester an Universitäten zu Verfügung steht. Selbst dort können nur bestimmte Aspekte oder Kapitel eines Werkes und nur selten eine ganze Schrift behandelt werden. Vielleicht wäre es sogar ratsam, den Terminus ›Ganzschrift‹ durch den Begriff ›Langtext‹ zu ersetzen, weil unter ihm sowohl ungekürzte als auch gekürzte Texte subsumiert werden können. Unter einem Langtext wäre dann zu verstehen: 1. eine nicht zu umfangreiche Ganzschrift wie etwa Thomas Nagels Was bedeutet das alles? (Einführung in die Philosophie), 2. ein Aufsatz wie etwa Judith Jarvis Thomsons Eine Verteidigung der Abtreibung (Recht auf Abtreibung), 3. ein Kapitel aus einem Buch wie etwa das 5. Kapitel aus Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung (Arbeit als Quelle von Eigentum), 4. ein längerer Textauszug aus einer Ganzschrift ohne Auslassung wie etwa die erste und der Beginn der zweiten Meditation aus Descartes’ Meditationen (Herleitung des cogito), 5. ein längerer Textauszug mit Auslassungen, der dennoch einen in sich geschlossenen Gedankengang aufzeigt, wie sich dies z. B. für Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten anbietet (Entwicklung des kategorischen Imperativs). Ganzschriften bzw. Langtexte können dazu beitragen, die Sach-, Methoden- und Urteilskompetenz von Schülerinnen und Schülern zu fördern. Daher sollte man, so Goldbeck, »die Erarbeitung einer Ganzschrift […] im Philosophieunterricht ernsthaft in Erwägung ziehen« 22. Aus den vielen komprimiert dargestellten Vorteilen, die ein solches Vorgehen mit sich brächte, erwächst zwangsläufig der Vorschlag, die Besprechung von Ganzschriften bzw. Langtexten wieder in Lehrplänen zu verankern. Ob dies allerdings geschehen wird, bleibt abzuwarten.

 Methoden Helmut Engels hat bereits 1980 darauf hingewiesen, dass die »bevorzugte Methode« im Philosophie- bzw. Ethikunterricht die Arbeit mit Texten sei, weil Schülerinnen und Schüler auf diese Weise besonders effektiv sowohl mit der Philosophie als auch mit dem Philosophieren vertraut gemacht werden können. Er betont in diesem Zusammenhang, dass philosophische Texte sich in der Regel nicht von selbst verstehen, sondern der Auslegung bedürfen: »Ziel der Interpretation ist der von einer Autorin bzw. einem 22

Vgl. Goldbeck, Steffen: »Philosophisch puzzeln. Philosophische Ganzschriften mit der Textpuzzlemethode erschließen«, a.a.O., S. 175 in diesem Band.

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Martina Peters, Jörg Peters

Autor intendierte Sinn, das, was die Autorin bzw. der Autor in [ihrem bzw.] seinem Text ausdrücken will. Mag es noch so schwierig sein, herauszufinden, was die Autorin bzw. der Autor wirklich gemeint hat, so ist als Regulativ dieses Ziel unverzichtbar, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht den Eindruck erhalten sollen, es komme bei der Interpretation nur darauf an, sich etwas Gescheites zu denken, ansonsten sei es in das subjektive Belieben des Einzelnen gestellt, was einer aus dem Text herausholt.« 23 Ein Text kann aber, so Engels weiter, »erst als verstanden gelten, wenn die häufig unausgesprochene Frage benannt ist, als deren Antwort der Text aufzufassen ist, bzw. wenn das unausgesprochene Problem erfasst ist, das der Text lösen soll.« 24 Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es zahlreiche Verfahren, die entweder durch eine enge Unterrichtssteuerung, durch eigenständig handhabbare Verfahren oder durch selbstständige Arbeit25 gekennzeichnet sind. Da mittlerweile zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I je nach Bundesland entweder Philosophie, Praktische Philosophie, Philosophieren mit Kindern, Ethik, L-E-R oder Werte und Normen belegt haben, sie aber mit sprachlich sehr unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen am Philosophie- bzw. Ethikunterricht teilnehmen, geht ein Trend derzeit dahin, die Textarbeit durch geschlossene oder halboffene Aufgabenformate so zu lenken, dass alle Schülerinnen und Schüler das Ziel der Stunde erreichen können.26 Dadurch, dass jeglicher Unterricht mittlerweile sprachsensibel gestaltet werden muss, lässt sich ein weiterer Trend beobachten. Er besteht darin, dass Lehrerinnen und Lehrer auch im Philosophie- bzw. Ethikunterricht mehr und mehr textlich differenzieren (müssen), da doch oft Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Sprachniveaus in einem Kurs zusammensitzen. Während die einen die sprachlichen Anforderungen mit Leichtigkeit meistern und sich gerne mit Originaltexten auseinandersetzen, gibt es auch etliche Schülerinnen und Schüler, die Texte nur in vereinfachter Form verstehen können, weil sie Defizite sowohl im sprachlichen Ausdruck als auch im Verstehen aufweisen (sei es, dass sie aus sogenannten bildungsfernen Haushalten stammen, sei es, dass sie Deutsch als Zweit- oder Drittsprache gerade erst erlernen).27 Schließlich müssen auch Förderschülerinnen und-schüler berücksichtigt werden, für die selbst NachTexte oft noch zu schwierig sind, so dass diese weiter vereinfacht werden müssen, will man als Lehrkraft sicherstellen, dass auch sie dem Unterricht folgen können. Die Methodenangebote, wie mit Texten im Philosophie- bzw. Ethikunterricht verfahren werden kann bzw. soll, sind mittlerweile nahezu unüberschaubar. So lassen sich aus unterschiedlichen Denkrichtungen verschiedene Unterrichtsmethoden ableiten: 23

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Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2: Methodenfragen, S. 16 – 24: S. 16. Ibid. Vgl. Langebeck, Klaus: Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 3 – 11: S. 7– 10, Vgl. Chucholowski, Alexander: Texte verstehen im Philosophie und Ethikunterricht, S. 213 – 222: S. 222 in diesem Band. Vgl. Saum, Tobias: »Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht. Strategien und Methoden zur Unterstützung der Schüler«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 76 –86: S. 76 – 77.

Die Bedeutung des Textes für den Philosophie- und Ethikunterricht

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Der Analytischen Philosophie etwa geht es darum, den Argumentationsgang einer philosophischen Theorie nachzuvollziehen und deren Plausibilität zu prüfen; die Dialektik fokussiert das Aufdecken von Widersprüchen, die Darstellung von Schwachstellen sowie die Kritik an der vorgestellten Theorie; und die Dekonstruktion konzentriert sich auf die Analyse von Sprache bzw. Texten, oder genauer: auf die Auslegung von Zeichen, Sinn und Bedeutung, wobei diese Begriffe wiederum infrage gestellt werden.28 In Bezug auf Textsorten macht Christa Runtenberg beispielsweise anhand von Fabeln, philosophischen Essays, philosophischen Aphorismen, theatralen Formen des Philosophierens und der klassischen Textinterpretation deutlich, dass nicht nur philosophische bzw. ethische Texte, sondern auch literarische Texte im Oberstufenunterricht Philosophie bzw. Ethik eine Rolle spielen können, da es einerseits keine wirkliche Demarkationslinie zwischen Philosophie und Literatur gebe und zum anderen die literarische Form philosophische Lernprozesse fördere.29 Schon Mitte der 1980er Jahre wies Wulf D. Rehfus darauf hin, dass verschiedene Textsorten im Philosophie- bzw. Ethikunterricht genutzt werden könnten. Die vier von ihm unterschiedenen Textsorten (1. Texte, die eine Position argumentativ begründen oder herleiten, 2. Texte, die ein philosophisches Denkmodell konstruieren, 3. Texte, die bildhaft eine Auffassung deutlich machen, und 4. Texte, die eine Theorie rekonstruieren)30 haben Henke und Schulze aufgegriffen, um zu zeigen, dass Texte im Philosophieund Ethikunterricht als Diskussionspartner dienen und dass es für Lehrkräfte bei der Vorbereitung der Textarbeit wichtig ist, sich unter anderem zu fragen, auf welches Problem der zu behandelnde Text überhaupt eine Antwort gibt, welche zentralen Einsichten Schülerinnen und Schüler durch ihn erhalten (sollen), welche Methode sich für den ausgewählten Text (besonders) eignet und welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler durch die Erschließung des Textes erwerben werden.31 Legt man die im Vorfeld zu beachtenden Fragen, die unterschiedlichen Textsorten und gegebenenfalls auch noch eine zu berücksichtigende Denkrichtung zugrunde, dann lässt sich unschwer erkennen, dass nicht jede Methode zu jedem Text passt32. Darüber hinaus wäre bei der Methodenwahl noch zu beachten, welche Fähigkeiten ein Philosophie- oder Ethikkurs mitbringt und wie man als Lehrkraft zu den zum ausgesuchten Text möglichen Methoden steht. Um erfolgreich zu unterrichten, sollte die angedachte Methode also sowohl zu Text, Schülerinnen und Schüler als auch zur Lehrkraft passen. 28

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Vgl. dazu Rohbeck, Johannes: »Didaktische Potenziale philosophischer Denkrichtungen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 82 – 93 und vgl. Ridder, Lothar: »Methoden der Interpretation im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes: Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2001, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 116 – 143: S. 117, der sich zu diesem Themenkomplex ausführlich äußert. Vgl. Runtenberg, Christa: »Die Schatzkiste – Das Deuten von Texten«, in: Runtenberg, Christa: Philosophiedidaktik. Lehren und Lernen, Basiswissen Philosophie, UTB 4653, Wilhelm Fink, Paderborn 2016, S. 77– 93: S. 82 – 93. Vgl. Rehfus, Wulff D.: Der Philosophieunterricht. Kritik der Kommunikationsdidaktik und unterrichtspraktischer Leitfaden, problemata, Bd. 109, frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstadt 1986, S. 121– 125. Vgl. Henke, Roland; Schulze, Matthias: Methoden der Textarbeit, S. 293 – 312: S. 294 in diesem Band. Vgl. ibid.

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Martina Peters, Jörg Peters

 Zum Aufbau des Buches Im diskursiven Bereich der Methoden für den Philosophie- und Ethikunterricht ist es die Textarbeit, die so viele Publikationen hervorgebracht hat, wie sonst keine andere. So liegen nicht nur zahlreiche Aufsätze zu diesem Thema vor, sondern auch vielfältige Darstellungen in philosophiedidaktischen Abhandlungen. Die Auswahl für den vorliegenden Band war insofern schwieriger als für andere Methoden, weil aktuell diskutierte Themen aufgegriffen, (angehenden) Lehrerinnen und Lehrern sowie anderen Interessierten viele Unterrichtsbeispiele vorgestellt und mannigfaltige Möglichkeiten zum methodischen Umgang mit Texten im Philosophie- bzw. Ethikunterricht in beiden Sekundarstufen präsentiert werden sollen. Wie alle Bücher dieser Reihe ist auch der vorliegende Band in einen Theorie-, einen Praxis- und einen Methodenteil gegliedert. Im Theorieteil wird zunächst der Diskussion Aufmerksamkeit geschenkt, ob ausschließlich Originaltexte oder auch Nach-Texte ihren Platz im Unterricht der Sekundarstufen I und II finden sollten. Danach wird gezeigt, warum Texte als zentraler Bestandteil für den Philosophie-bzw. Ethikunterricht angesehen werden müssen, und schließlich werden die von Textrezeption, Texterschließung und Textinterpretation verfolgten Ziele besprochen. Der anschließende Praxisteil macht dann an einer großen Anzahl von Beispielen deutlich, welche Chancen Texte im Unterricht bieten und wie sie konkret eingesetzt werden können. Der umfangreiche Materialteil enthält mehrere Methodensammlungen. Innerhalb der Sammlungen wird entweder erläutert, welche Methode sich warum auf welchen Text anwenden lässt, oder es wird an Beispielen deutlich gemacht, wie Texte so aufbereitet werden können, dass Schülerinnen und Schüler sich gerne mit ihnen auseinandersetzen. Wie üblich schließt auch dieser Band mit einer umfänglichen Auswahlbibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen, die sich dieses Mal auf den Umgang mit Texten an Schulen konzentriert.

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TEXTE IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT

»Lesen Sie den Text!« Hubertus Stelzer

Nichts erklärt Lesen und Studieren besser als Essen und Verdauen. Der philosophische eigentliche Leser häuft nicht bloß in seinem Gedächtnis an wie der Fresser im Magen, da hingegen der Gedächtniskopf mehr einen vollen Magen als einen starken und gesunden Körper bekömmt; bei jenem wird alles, was er liest und brauchbar findet, dem System und dem inneren Körper, wenn ich so sagen darf, zugeführt, dieses hierhin und das andere dorthin, und das Ganze bekommt Stärke. Georg Christoph Lichtenberg1

Einen Diskussionsbeitrag zu leisten, der sich dem Lesen philosophischer Texte im Unterricht widmet, der also zum Widerspruch reizt und anspornt, Gegenpositionen zu formulieren, scheint zunächst und auf einen ersten Blick eine unergiebige, ja eher angestrengte Angelegenheit zu sein. Wer würde als Philosophielehrer2 das Lesen von Texten aus der Tradition schriftlich fixierter Philosophie grundsätzlich in Frage stellen? Wer könnte sich vorstellen, den Philosophieunterricht in einzelnen methodischen Schritten ohne Textarbeit zu gestalten? Hat sich doch gezeigt, dass auch die sogenannte Martens-Rehfus-Debatte nicht über die Tatsache hinwegsehen kann, dass beide das Lesen von Texten grundsätzlich als sinn- und bedeutungsvoll für die methodische Umsetzung ihres jeweiligen fachdidaktischen Ansatzes ansehen.3 Vermutet der erste Blick auf das Lesen im Philosophieunterricht also zunächst eine (durchaus beachtenswerte) Übereinstimmung in fachdidaktischer und unterrichtspraktischer Hinsicht, so erhält der zweite Blick, der ein wenig genauer auf das hinblickt, was als 1

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Lichtenberg, Georg Christoph: »Einfälle und Bemerkungen«, in: Lichtenberg, Georg Christoph: Werke in einem Band, Bibliothek Deutscher Klassiker, hrsg. von der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Aufbau-Verlag, Weimar/Berlin 41982, Heft F (202), S. 93. Mit dem im Text verwendeten generischen Maskulinum sind stets alle anderen Geschlechter mitgemeint. Tiedemann, Markus: »Problemorientierte Philosophiedidaktik«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 35, 2013, Heft 1: Außerschulische Lernorte, S. 85 – 96.

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Hubertus Stelzer

Lesen im Unterricht geschieht, eine überraschende Wendung und erschrickt über den Riss, der sich dem aufmerksamen und gegenüber einem allzu offensichtlichen Konsens skeptischen Beobachter bereits im Vorfeld andeutet und der mitten durch die ursprüngliche Einheit eines lese- und somit textorientierten Unterrichtsmodells klafft.

 Die klaffende Wunde Unter der klassisch dekorierten Tagesdecke des lesenden Bildungsideals an den weiterführenden Schulen brodelt es gewaltig. Klagen über Textmüdigkeit und Textverdrossenheit4, wie sie Martens in der eigenen Unterrichtspraxis bereits 1983 wahrnimmt, teilen viele Lehrer landauf, landab bis heute und nehmen sie resignierend zur Kenntnis. Was dabei in der Sekundarstufe II an der Oberfläche des Unterrichtsgeschehens mehr oder minder stark zum Ausdruck kommt (›Schülerinnen und Schüler lesen nicht(s) mehr, verstehen Texte nicht mehr, können schriftlich fixierte Argumentationen nicht mehr nachvollziehen, schon gleich gar nicht als solche erkennen, etc.‹), durchläuft einen jahrelangen Prozess persönlicher Lesebiographien, die zumindest zu Beginn der Lesegeschichte eine positive Entwicklung zu versprechen scheinen. Dieser Prozess vollzieht sich nicht dramatisch und damit nicht so, dass man ihn zu einem Zeitpunkt erkennt und ihn sich bewusstmacht, so dass er eine didaktisch fundierte Intervention zuließe, sondern schleichend, sich über die verschiedenen Unterrichtsfächer ausbreitend, in denen Schülerinnen und Schüler lesen und mit und an Texten arbeiten. Gerade dieser schleichende, in der Unterrichtspraxis selten gemeinsam von Lernenden und Lehrenden reflektierte und deshalb auch nicht expressis verbis artikulierte Prozess der Entfremdung vom Lesen bewirkt bei den Schülerinnen und Schülern im Lauf der schulischen Auseinandersetzung mit Texten nachhaltige Folgen, die sich in Form von Langeweile, Frustration, Desinteresse und schließlich Gleichgültigkeit äußern. Natürlich unterliegt dieser Befund in seiner Pointierung durchaus der Gefahr der Pauschalierung, und mancher kann ihn vermutlich durch gegenteilige (Lese-)Erfahrungen von und mit Schülerinnen und Schülern entkräften, allerdings werden die meisten Kolleginnen und Kollegen, die aufmerksam und sensibel die Schülerreaktionen im Unterrichtsgeschehen beobachten, bestätigen, dass sich ein Energiesparmodus im Klassenzimmer ausbreitet, sobald sich eine Phase der Textarbeit andeutet. Zwar wird an weiterführenden Schulen viel gelesen und textorientiert gearbeitet, aber gleichzeitig scheint diese Arbeitsweise und Methode der textgebundenen Auseinandersetzung mit Welt und Mensch bei jungen Menschen – zumindest im Unterricht – zunehmend als spannungsarm und erfahrungsfern zu gelten. Wenn aber genau dies im Bildungsprozess passiert – dass Spannung nachlässt und Erfahrung in die Ferne rücken –, droht im Unterrichtsgeschehen ein Kollaps, der in Resignation auf allen Seiten umschlägt. 4

Martens, Ekkehard: Einführung in die Didaktik der Philosophie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1983, S. 104.

»Lesen Sie den Text!«

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 Das identifikatorische Defizit Auch die literaturwissenschaftliche Leseforschung der Germanistik, die sich mit empirischen Methoden dem angesprochenen Problem annähert, erkennt dieselbe Tendenz. Namentlich der textbezogene Deutschunterricht in der Sekundarstufe II muss sich in diesem Zusammenhang mit harscher Kritik von Seiten der lesenden Schülerinnen und Schüler auseinandersetzen. »Ständiger Tenor in der Abwehr der schulischen ›Pflicht‹Lektüre ist die Klage über die geforderte Art der Behandlung, das Analysieren und kontrollierte Interpretieren, das identifikatorisches Lesen unmöglich macht[e].« 5 Mit diesem Beitrag aus der Perspektive des Deutschunterrichts lässt sich die Fragestellung nach der Bedeutung des Lesens im Philosophieunterricht um eine wesentliche Dimension anreichern, die die Frage nach dem Lesen zum Kern führt: Die Pflicht zum Lesen und zur Textarbeit beschreiben Jugendliche – wohl nicht nur im Deutschunterricht – als Ursache eines defizitären Lesens, das nicht mehr in unmittelbarer Beziehung zur Persönlichkeit des Lesers steht. Dieses Defizit als Entzug der Relevanz und Bedeutung des Gelesenen für den Leser verursacht der schulische Lesemodus. Solches Lesen heißt im Gegensatz zum freiwilligen Lesen Pflichtlesen. Nun will ich nicht den Eindruck erwecken, als würden Schülerinnen und Schüler jede Verpflichtung zum Lesen als fremdbestimmten Zwang erfahren, gleichwohl zeigt sich, dass sie ein verpflichtendes Lesen, das die Relevanz des Gelesenen für den Leser zu thematisieren, zu bedenken und zu würdigen vergisst oder in den Hintergrund rücken lässt, als defizitär erfahren, das damit auf Ablehnung oder auf Gleichgültigkeit stößt. Beide Formen – Ablehnung in ihrer kritischen Dimension für den Unterricht als Anstoß zu einem gemeinsamen Dialog, Gleichgültigkeit hingegen als kaum zu bewältigende Endphase der Auseinandersetzung, in der Argumente nicht mehr greifen und das Engagement der Lehrkraft ins Leere läuft – wirken sich nachhaltig auf das Unterrichtsgeschehen aus und verfestigen sich als Vorurteil gegenüber jeglicher Art des Lesens oder gegenüber den (Nicht-)Lesern. Somit also ist dort anzusetzen, wo die Kritik am Lesen ihren Anfang nimmt: am Modus des Pflichtlesens. Der Begriff des Pflichtlesens selbst ist dabei nicht unproblematisch. Haben wir doch bereits gesehen, dass nicht die Pflicht als Verpflichtung der Schülerin bzw. des Schülers auf das Lesen eines Textes, sondern das identifikatorische Defizit, insofern und immer dann, wenn die Pflicht zu lesen im Vordergrund zu erhellen vergisst, wohin sie zielt und mit welcher Absicht sie diese Verpflichtung erteilt, als wesentliches Problem dieses Lesemodus zu gelten hat. Da fehlt dann eben noch etwas: das, was die Bedeutung des Lesens für den Leser ausmacht und ohne die das Lesen von Texten in den Dienst der funktionalen Informationsbeschaffung überwechselt. Christian Gefert formuliert dies so:

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Schön, Erich: Zur aktuellen Situation des Lesens und zur biographischen Entwicklung des Lesens bei Kindern und Jugendlichen, Vorträge – Reden – Berichte, Bibliotheksgesellschaft, Bd. 19, Bibliotheks- und Informationssystem der Univ. Oldenburg, Oldenburg 1996, S. 37und vgl. Graf, Werner: Der Sinn des Lesens. Modi der literarischen Rezeptionskompetenz, Leseforschung, Bd. 1, LIT Verlag, Münster 2004, S. 21.

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Hubertus Stelzer

»Sollten […] abstrakte Aussagen in philosophischen Texten einen Rezipienten zum Philosophieren animieren, müssen sie seine konkreten Deutungen der ›Wirklichkeit‹ berühren und ihm Impulse zur Weiterentwicklung seines eigenen Deutungsvermögens vermitteln. […] Nur wenn der Rezipient in der Auseinandersetzung mit einem philosophischen Text feststellt, dass sich seine gewohnte und verhärtete Deutungsperspektive auf die ›Wirklichkeit‹ […] durch die Begriffe, Thesen und Argumente in einem philosophischen Text ›verflüssigt‹, d. h. dass er die Möglichkeit entdeckt, »begrifflichen Prägungen« in der Deutungsperspektive des Textes weiter nachzugehen, als er es bisher getan hat [ … ], gewinnt der philosophische Text für ihn eine Bedeutung als Impuls zum eigenständigen Philosophieren, d. h. zum Weiterdenken.« 6 Im extremen Fall – und man darf vermuten, dass dieser in der Unterrichtspraxis nicht eintritt, ich unterstelle ihn also und wähle ihn bewusst als Folie, um das aufleuchten zu lassen, was als Lesen im Philosophieunterricht geschehen kann –, im extremen Fall also wählt man einen philosophischen Text für die Unterrichtsgestaltung, weil er zu diesem Thema im entsprechenden Absatz des Lehrplans oder im Inhaltsverzeichnis des entsprechenden Kapitels des Lehrbuchs aufgeführt ist. Die Arbeitsanweisung für die Schülerinnen und Schüler lautet dann: »Lesen Sie den Text!«. Gemeinsam arbeiten sie anschließend, anhand markierter und notierter Zentralbegriffe aus dem Text, den Fragenkatalog zum Text aus dem Lehrbuch ab. Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer erfüllen ihre Pflicht. Nicht die Erfüllung der Pflicht in diesem einen Fall bewirkt die Konsequenzen für das Leseverhalten, die wir bereits beschrieben haben, die Katastrophe bahnt sich vielmehr dann – und eben: schleichend! – an, wenn über Jahre hinweg, sozusagen in fächerübergreifender Zusammenarbeit, Schülerinnen und Schüler ständig und ausschließlich mit diesem Lesemodus konfrontiert werden, ihn somit als den für die Schule typischen und spezifischen Lese- und Arbeitsmodus erkennen, einüben und schließlich automatisiert anwenden. Darin liegt das Problem. Punktuelle Ansätze methodischer Leseförderung greifen dem gegenüber nicht und bleiben meist auf die Primar- und Sekundarstufe I konzentriert. Danach kann man lesen, pflichtlesen eben. Die ersten Wunden brechen auf. Und dies umso mehr, je tiefer die Schülerinnen und Schüler im Laufe der Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit den Mangel eines verpflichtenden Lesens wahrnehmen, das sie nicht in Zusammenhang mit sich und in Bezug zu ihrem eigenen Selbst bringen können. Sie können anwenden, was sie als Lesemodus erlernt haben, die Relevanz des Gelesenen für ihre Lebenswelt erschließt sich ihnen jedoch nicht.

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Gefert, Christian: Didaktik theatralen Philosophierens. Untersuchungen zum Zusammenspiel argumentativdiskursiver und theatral-präsentativer Verfahren bei der Texteröffnung in philosophischen Bildungsprozessen, Dresdner Hefte für Philosophie, Bd. 8, Thelem, Dresden 2002. S. 50. Geferts Ansatz theatralen Philosophierens versteht sich »als didaktisches Verfahren zur Texteröffnung in philosophischen Bildungsprozessen. Als ein solches Verfahren grenzt es sich von ›konventionellen‹ Verfahren der ,Texterschließung’ ab, die den philosophiedidaktischen Diskurs prägen, und betont den in der philosophiedidaktischen Diskussion wichtigen Aspekt einer Handlungs- und Produktionsorientierung innerhalb philosophischer Bildungsprozesse« (ibid., S. 121).

»Lesen Sie den Text!«

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 Stärkung durch Lesen Lichtenberg sieht ebenfalls die Gefahr von Defiziten beim Lesen, Defizite, die sich bei ihm so darstellen, dass Lesen seiner wesentlichen Bedeutung und Relevanz für den Leser verlustig geht, wenn es nicht in erster Linie dazu dient, das eigene System zu stärken. Um Stärkung zu erlangen, liest, nach Lichtenberg, der philosophische eigentliche Leser, und er gewinnt diese Stärke, indem er das Gelesene sichtet und anschließend schichtet, um es in den »inneren Körper« einzugliedern, so dass dieser nach dem Lesen ein anderer geworden ist, aufgebaut durch den Gewinn an Stärke.7 Auch Gefert spricht ja davon, dass ein philosophischer Text für die Leserin bzw. den Leser an Bedeutung gewinnt, wenn seine Aussagen dessen Wirklichkeitsdeutungen berühren8 – und dieses Berühren führt dazu, dass der Leser im Gelesenen etwas sieht, was auf ihn deutet und insofern für ihn bedeutend wird. Solches Lesen können wir als sehendes Lesen bezeichnen, sehend, wie es in der griechischen Antike verstanden wurde9 – der Leser erkennt sich selbst und seine Welt (seine Lebenswelt) in den Zeichen der Schrift wieder. Er sieht, was und indem er liest. Und das, was er sieht, ist bedeutend für ihn und sein Leben. Seine Tätigkeit als Leser erhält Relevanz dadurch, dass er liest, dass seine Begegnung mit dem Text für dessen Verständnis relevant ist und dass die lesende Erstbegegnung, seine persönliche Leseerfahrung darüber entscheidet, ob er den Text in Bezug zu sich selbst bringen kann, zur eigenen Lebenswelt und zu seinen sich daraus ergebenden praktischen Interessen. So erfahren sich die Schülerin bzw. der Schüler nicht nur als methodische Interpreten eines Textes, sondern auch als lesende Subjekte, die sich in die Interpretation und in das Verständnis mit seinen ihren eigenen Leseerfahrungen einbringen.

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Goethe versieht in einem Brief an Schiller seine Anmerkungen zur Lektüre Kants mit einem interessanten Nachsatz: » … Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« (Staiger, Emil (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, revidierte Neuausgabe von Dewitz, Hans-Georg, it 3125, Insel Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2005, S. 719). Was Lichtenberg als Stärkung bezeichnet, taucht bei Goethe als Belebung auf, Lesen wird also in einer Dimension verstanden, die mit aktiver Bereicherung zu tun hat. Vgl. Schön, Erich: Zur aktuellen Situation des Lesens und zur biographischen Entwicklung des Lesens bei Kindern und Jugendlichen, a.a.O., S. 37 und vgl. Graf, Werner: Der Sinn des Lesens. Modi der literarischen Rezeptionskompetenz, a.a.O., S. 21. Es handelt sich bei άναγιγνωσκειν um den Akt des Lesens, in dem der Leser die Wirklichkeit wiedererkennt (identifiziert), die sich ihm in den Zeichen der Schrift meldet. Vgl. Liddell, Henry George; Scott, Robert: A Greek-English Lexicon, revised and augmented throughout by Jones, Sir Henry Stuart with assistance of McKenzi, Roderick, Clarendon Press, Oxford 1940, S. 12 und vgl. Pape, Wilhelm: GriechischDeutsch Handwörterbuch, 3 Bde., Bd. 1: A-K, bearbeitet von Sengebusch, Maximilian, Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig 31880. S. 18ff.

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Hubertus Stelzer

 Sehendes Lesen als Ergänzung Wir müssen davon ausgehen, dass innerhalb des schulischen Unterrichts solch sehendes Lesen, gelinde gesagt, einen eher untergeordneten Rang einnimmt. Wenn unsere Beschreibung schulischen Lesens mit den Verhältnissen in der Praxis übereinstimmt, dann überwiegt Pflichtlesen derart, dass sehendes Lesen, das sich dem identifikatorischen Defizit stellt, zwar immer wieder gewollt, aber eher selten als eigener Lesemodus vorgestellt und eingeübt wird. So stelle ich zum Schluss noch einen Versuch vor, wie es im Rahmen des Philosophieunterrichts möglich werden kann, im Laufe eines Schuljahres sehendes Lesen einzuführen und anzuwenden. Um die Besonderheit des sehenden Lesemodus herauszustellen, bietet es sich an, für die Einübung in sehendes Lesen ein philosophisches Tagebuch zu führen. Darin können die Schülerinnen und Schüler ihre persönlichen Notizen eintragen, die zum einen dazu dienen, eigene Leseerfahrungen begrifflich zu fixieren, und zum anderen Grundlage für den Dialog über ihre Leseerfahrungen bieten. Zuerst wird es darum gehen, das, was ich sehe, wenn ich den Text lese, kleinschrittig einzuüben. Die Aufmerksamkeit für die eigenen Wahrnehmungen am Text muss man beständig üben, wird aber bei regelmäßiger Übung und Wiederholung intensiviert und erweitert. Dabei gilt es, diese Wahrnehmungen am Text von bloßen Stimmungen und Befindlichkeiten zu unterscheiden, sie auf ihre Begründbarkeit hin, von der her sie klarer und dichter werden, zu überprüfen. Es wird zu Beginn vermutlich auch darum gehen, die Artikulation dieser begründeten Wahrnehmungen zu erlernen, welche Möglichkeiten der adäquaten Formulierung vorhanden sind. Im Gespräch darüber finden Schülerinnen und Schüler Maßstäbe für die Begründung von persönlichen Wahrnehmungen und reflektieren sie zugleich von der konkreten Anwendung her. Ansatzpunkte für die Eintragungen ins Tagebuch gibt es viele: Erwartungen vor dem Lesen des Textes, Beobachtungen eigener Erfahrungen mit dem Lesen unmittelbar nach dem Leseakt, verzögerndes Lesen, das bewusst Pausen einlegt, die der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Gelesenen gewidmet sind, Vergleich der Leseerfahrung nach mehrmaligem Lesen, z. B. vor und nach einer methodischen Interpretationseinheit usw. Methodisch ist es notwendig, die einzelnen Übungen aufeinander aufzubauen, regelmäßig anzuwenden und immer wieder ins gemeinsame Gespräch zu überführen. Und damit wären die Wunden dann geheilt? Das wäre vermutlich zu viel erwartet. Allerdings wäre wahrscheinlich ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet, dass Schülerinnen und Schüler die Aufforderung »Lesen Sie den Text!« nicht automatisch mit Langeweile, Müdigkeit und Verdrossenheit verbinden. Quelle: Stelzer, Hubertus: »›Lesen Sie den Text!‹«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 38, 2016, Heft 1: Jugendliteratur, S. 15 – 19.

Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! Kant-Texte im sprachsensiblen Philosophieunterricht* Vanessa Albus, Leif Marvin Jost

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er didaktische Imperativ »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen.« fordert dazu auf, eine Auseinandersetzung mit der »schwierigen Sprache« der Philosophen im Philosophieunterricht nicht etwa mittels Textaskese oder durch Nutzung von »Nach-Texten« zu umgehen, sondern die Schülerinnen und Schüler zu einem selbständigen und routinierten Umgang mit den fachsprachlichen Anforderungen zu befähigen. Die »schwierige Sprache« der Philosophen erscheint vielen Lehrerinnen und Lehrern als unüberwindbares Hindernis im Unterricht aller Altersklassen.1 Vor dem Hintergrund dieser Anforderung an die Unterrichtspraxis haben sich drei philosophiedidaktische Reaktionen ergeben, die hier vorgestellt werden.

 Wie umgehen mit schwierigen Texten im Unterricht? Verzicht auf Primärquellen Zunächst stellt die komplette Kapitulation vor den sprachlichen Ansprüchen philosophischer Texte eine mögliche Konsequenz dar. Im Philosophieunterricht der ersten Art wird auf das Medium Text radikal verzichtet. Zahlreiche philosophische Methoden wie etwa das neosokratische Gespräch oder das Gedankenexperiment ermöglichen Denkschulung auch ohne Textarbeit. Der Schwerpunkt des textfreien Philosophieunterrichts liegt folglich auf der Vermittlung von philosophischen Denkmethoden, die im Einzelfall auch dazu führen können, dass sich Schülerinnen und Schüler die Inhalte von klassischen philosophischen Texten ohne Textlektüre eigenständig erdenken.2 Wie unverzichtbar die textfreie Vermittlung von Denkmethoden im Philosophieunterricht auch sein mag, so lässt sich gegen einen gründlichen Verzicht auf Texte im Philoso*

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Gekürzte Fassung von Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, in: Albus, Vanessa; Frank, Magnus; Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, Philosophie und Bildung, Bd. 18, LIT Verlag, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2017, S. 219 – 232. Vgl. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen über ihre Theorien, Texte und Materialien für den Unterricht, RUB 15062, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 5. Siekmann, Andreas: »›Die Schrift versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht‹ (Platon). Möglichkeiten des textfreien Unterrichts«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Methoden des Philosophierens, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2000, Bd. 1, Thelem, Dresden 2000, S. 108 – 126.

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Vanessa Albus, Leif Marvin Jost

phieunterricht doch einwenden, dass die systematische Ausblendung der ideengeschichtlichen Perspektive zentrale Elemente der philosophischen Bildung unberücksichtigt lässt. Komplette Textaskese ist also mit dem philosophischen Bildungsanspruch, wie er in der Philosophiedidaktik formuliert ist und in Zeiten des Zentralabiturs auch bildungspolitisch eingefordert wird, unvereinbar.

Sprachlich vereinfachte Texte lesen Ein zweiter Ausweg aus der misslichen Situation scheint darin zu bestehen, die Texte der philosophischen Tradition sprachlich und inhaltlich für die Schülerinnen und Schüler zu vereinfachen. Es entstehen die sogenannten »Nach-Texte« 3, in denen Philosophiedidaktiker, Lehrerinnen oder gar Laien versuchen, Gedanken klassischer Philosophen für Schülerinnen und Schüler mundgerecht wiederzugeben. In den inzwischen in vielen einschlägigen Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern eingestreuten »Nach-Texten« erläutern historische Größen der Philosophie als fiktive Gestalten zum Beispiel in modernen Talkshows oder am Telefon ihre Lehren in kindlicher oder jugendlicher Diktion.4 Dabei wird übersehen, dass »Nach-Texte« auch nur Interpretation und Deutungen sind, deren Plausibilität die Lernenden als Anfänger im Philosophieren nicht prüfen können. Das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler in die Fachautorität ihrer Lehrerinnen und Lehrer kann also missbraucht werden. Im schlimmsten Fall werden »NachTexte« als Instrument zur weltanschaulichen oder politischen Manipulation im Schulunterricht gezielt studiert. Aus der Geschichte des Philosophieunterrichts lassen sich erschreckend viele Beispiele hierfür anführen. In der ehemaligen DDR waren zum Beispiel die »Nach-Texte« zu Marx immer so gestaltet, dass sie sich der aktuellen SEDLinie anpassten. Um den Glauben der Schülerinnen und Schüler zu festigen, informierten schließlich »Nach-Texte« im christlich-missionarischen Philosophieunterricht der Nachkriegsära völlig inadäquat über das vermeintliche Scheitern Kants an der Kritik der philosophischen Gottesbeweise.5 Sachliche Fehler werden auf diesem Weg entweder billigend in Kauf genommen oder unterlaufen, in eher harmlosen Fällen nicht zu Manipulationszwecken, sondern bestenfalls aus fachlicher Unkenntnis. Das Umschreiben von philosophischen Texten

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Vgl. Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung von Elementen neuer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Turnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 9, Thelem, Dresden 2008, S. 47– 64 und vgl. Steenblock, Volker: »Plaudern, Umschreiben, Faszinationsinszenierung – Populäre Transformationen philosophischer Texte«, in: Ethik & Unterricht 10, 1999 Heft 3: Rechte und Pflichten, S. 43. Vgl. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen über ihre Theorien, a.a.O. und vgl. Rolf, Bernd: »Wozu braucht man eigentlich einen Staat? Eine Fernsehdiskussion zwischen Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 20, 1998, Heft 4: Praktische Philosophie, S. 240 – 245. Vgl. Albus, Vanessa: Kanonbildung im Philosophieunterricht. Lösungsmöglichkeiten und Aporien, Thelem, Dresden 2013, S. 471ff. und S. 464ff.

Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen!

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für Kinder erweist sich häufig als Gratwanderung zwischen ertragbarer Simplifizierung und sachlicher Unangemessenheit. So ist etwa die materielle Darstellung Leibnizens immaterieller Monaden in einem Kinderbuch ebenso fragwürdig wie der Versuch eines Journalisten der Rheinischen Post, Kants kategorischen Imperativ kindgerecht mit folgenden Worten wiederzugeben: »[Kant] wurde vor allem dadurch berühmt, dass er sich ein Gesetz ausgedacht hat, wie man sich am besten verhalten soll. Seine Idee: Das, was Du dir herausnimmst, dürfen alle anderen auch. Also: Vorsicht!« 6 Nicht zuletzt ignorieren die Vertreter einer Didaktik der »Nach-Texte« sprachphilosophische Methoden und Erkenntnisse. Denn spätestens seit dem linguistic turn ist die reine Vernunft als sprachliche Vernunft entlarvt, so dass Untersuchungen zur Sprache von Philosophen nicht allein zum Aufgabengebiet der Philologen und Linguisten gehören, sondern integraler Bestandteil philosophischer Selbstreflexionen sind.7 Was bliebe, wenn man im Prozess des didaktischen Umschreibens einem Herder oder Nietzsche die Metaphern und einem Heidegger die Neologismen nähme? Aus all diesen Bedenken ergibt sich klar, dass »Nach-Texte« nur in geringen Dosen am Anfang philosophischer Bildungsprozesse eine gewisse Berechtigung haben, wenn sie fachphilosophisch autorisiert sind. Keinesfalls können sie authentische Quellen ersetzen. Der Vorschlag, »Nach-Texte« bis zur Allgemeinen Hochschulreife zu studieren8, erweist sich als unhaltbar.

 »Philosophensprache« als Zieldimension philosophischer Bildung Der dritte Weg besteht schließlich darin, das Problem der anspruchsvollen Philosophensprache als Zieldimension philosophischer Bildung zu begreifen und didaktische Lösungsansätze zu entwickeln, die dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler lernen, sich philosophische Primärquellen eigenständig zu erschließen. Nur dies führt sie langfristig aus der deutungskanonischen Unmündigkeit heraus und befähigt zum eigenen Urteil. Mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler zu einem routinierten Umgang mit philosophischer Primärliteratur zu befähigen, sind potenzielle Hürden bereits in der Stundenplanung in Form einer Bedarfsermittlung aus fachsprachlicher Sicht sowie einer (antizipierten) Ermittlung des Lern- und Sprachstandes der Schülerinnen und Schüler auf den Ebenen Text, Satz und Wort zu berücksichtigen. In der sich anschließenden unterrichtlichen Interaktion bietet es sich an, ausgehend von den sprachlichen Problemen der 6

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Kinderseite der Rheinischen Post, zitiert nach Engels, Helmut: »Sprachanalyse in den Fächern Philosophie, Ethik, Praktische Philosophie und Philosophieren mit Kindern. Eine perennierende Aufgabe«, in: Runtenberg, Christa; Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Angewandte Philosophie, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 12, Thelem, Dresden 2011, S. 147– 182: S. 149. Zu Leibniz siehe: Antoine, Annette; von Boetticher, Annette: Leibniz für Kinder, Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 2008. Vgl. Albus, Vanessa: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, Königshausen & Neumann, Würzburg 2001. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen über ihre Theorien, a.a.O., S. 5.

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Vanessa Albus, Leif Marvin Jost

Schülerinnen und Schüler zum Beispiel gattungsspezifische Sinnerschließungsstrategien – etwa in Hinsicht auf das Fehlen des Vorweg- sowie des Nachstehenden – offen zu diskutieren, um an das Vorwissen der Lernenden über die Textsorte anknüpfen zu können (Textebene), besonders lange und verschachtelte Sätze gemeinsam an der Tafel zu untersuchen, damit zum Beispiel die Hypotaxe segmentiert und attributive Relativsätze zugeordnet werden können (Satzebene), sowie unbekannte, nicht nur fachsprachliche Ausdrücke und Wortverbindungen mittels Begriffsanalysen zu klären (Wortebene).

 Sapere Aude! Diese didaktischen Lösungsansätze reagieren auf die »schwierige Sprache« von Kant und verhelfen den Schülerinnen und Schülern nicht nur dazu, den singulären Textauszug zu verstehen, sondern darüber hinaus auch andere authentische Literaturauszüge des Philosophieunterrichts leichter zu erschließen. Denn die Schülerinnen und Schüler erwerben neben dem rein inhaltlichen Wissen vor allem sprachsensible sowie textadäquate Techniken, mit denen sie philosophische Primärliteratur eigenständig erarbeiten können. Die »Furcht« etwa vor komplexen und mehrzeiligen Bandwurmsätzen, Fachbegriffen und überhaupt vor Auszügen aus Originaltexten der großen Philosophen wird dann gebannt, wenn sie lernen, sich den sprachlichen Schwierigkeiten zu stellen und mit diesen routiniert umzugehen – das heißt wenn sie lernen, selbständig zum Beispiel Satzgefüge auszudifferenzieren und zu hierarchisieren, sprachliche Register zu identifizieren, syntaktische Verbindungen aufzudecken oder Substantive sowie Adjektive zu klären. Sie müssen demnach angeleitet werden, selbst tätig zu sein, was durchaus im Sinne Kants zu verstehen ist, denn der Schüler soll »nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, daß er in Zukunft von sich selber zu gehen geschickt sein soll«9. Der didaktische Imperativ »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen« fordert Lehrerinnen und Lehrer dazu auf, eine Auseinandersetzung mit der »schwierigen Sprache« der Philosophen nicht etwa mittels Textaskese oder der Nutzung von »Nach-Texten« zu umgehen, sondern die Schülerinnen und Schüler zu einem selbständigen und routinierten Umgang mit den fachsprachlichen Anforderungen zu befähigen. Quelle: Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! Kant-Texte im sprachsensiblen Philosophieunterricht«, in: Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, hrsg. von Vanessa Albus, Magnus Frank, Thomas Geier. Münster: LIT, S. 219 – 232. Teilabdruck auch in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 9 – 10.

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Kant, Immanuel: »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765 – 1766«, in: Meyer, Kirsten (Hrsg.): Texte zur Didaktik der Philosophie, RUB 18723, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2010, S. 71– 74: S. 73.

Lob des »Nach-Textes« Vielfältige Lektüren für den Unterricht Patrick Baum

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exte der Philosophiegeschichte haben mitunter den Nachteil, dass sie nicht nur argumentativ komplex, sondern zudem häufig sprachlich sehr intrikat sind. Für die Behandlung im Unterricht bedeutet dies, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur inhaltliche Verständnisbarrieren überwinden müssen, sondern auch auf beachtliche sprachliche Hürden treffen. Diesen Schwierigkeiten begegnen Didaktiker unter anderem dadurch, dass sie – zum Beispiel für Schulbücher – Texte verfassen, die die Gedanken der Philosophen in einfacherer Sprache wiedergeben und so zugänglicher machen sollen. Volker Steenblock hat für Texte dieser Art den launigen Begriff des »Nach-Textes« geprägt (»Darstellung nach Aristoteles« etc.).1 Vanessa Albus und Leif Marvin Jost wenden sich gegen den Einsatz solcher Nach-Texte im Unterricht2 ; der entscheidende Nachteil dieser Textgattung liegt für sie darin, dass es sich stets um »Interpretationen und Deutungen« handle, »deren Plausibilität die Lernenden als Anfänger im Philosophieren nicht prüfen können« 3. Die Rezeptionssteuerung durch Nach-Texte könne im schlimmsten Fall der ideologischen Manipulation Tür und Tor öffnen. Vor diesem Hintergrund stellen Albus und Jost fest, dass solche Nach-Texte »nur in geringen Dosen am Anfang philosophischer Bildungsprozesse eine gewisse Berechtigung haben« und keinesfalls »authentische Quellen« 4 ersetzen können. Wenn ich auch den grundsätzlichen Impetus von Albus und Jost, den Schülerinnen und Schülern einen Weg zum Original zu bahnen, absolut richtig und unterstützenswert finde, denke ich doch, dass diese recht grundsätzliche Ächtung von NachTexten aus mindestens zwei Gründen über das Ziel hinausschießt: Zum einen greift die scharfe Trennung zwischen »authentischer Quelle« und parasitärem »Nach-Text« im Hinblick auf die im Philosophieunterricht verwendeten Texte ein wenig kurz, zum anderen erschöpft sich die unterrichtliche Verwendung von Texten nicht in der blinden, 1

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Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung von Elementen neuerer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Turnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 9, Thelem, Dresden 2008, S. 47– 63, hier S. 56 – 57. Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, in: Albus, Vanessa; Frank, Magnus; Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, Philosophie und Bildung, Bd. 18, LIT Verlag, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2017, S. 219 – 232. Ibid., S. 220. Ibid., S. 221.

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Patrick Baum

textimmanenten Exegese, die Albus und Jost zu unterstellen scheinen, wenn sie es ablehnen, Nach-Texte »bis zur Allgemeinem Hochschulreife zu studieren«5.

 Die Unvermeidlichkeit paratextueller Rezeptionssteuerung Betrachtet man die Texte, die im Philosophieunterricht gelesen werden – ›authentische‹ Textauszüge und Nach-Texte –, mit der Lupe der strukturalistischen Literaturtheorie, nämlich mit dem von Gérard Genette geprägten Begriff des Paratextes6, rücken sie näher aneinander, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint: Genette versteht unter Paratext »eine vielgestaltige Menge von Praktiken und Diskursen«, die den Text begleiten und ihn so in bestimmte Bedeutungszusammenhänge stellen: »Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.« 7 Dieses Beiwerk umfasst nicht nur Texte im eigentlichen Sinne, sondern auch Bilder (in Form von Illustrationen), typographische Entscheidungen (›materieller Paratext‹) sowie Fakten, die die Rezeption des Textes beeinflussen (›faktischer Paratext‹). Ferner unterscheidet Genette zwischen Paratexten, die den Text unmittelbar begleiten, und solchen, die zumindest anfänglich separat publiziert werden; erstere nennt er ›Peritexte‹, letztere ›Epitexte‹. Zu den Peritexten zählen zum Beispiel der Umschlag, der Waschzettel, die Publikation in einer Schriftenreihe, der Name des Autors, Titel, Unter- und Zwischentitel, Vor- und Nachworte, Motti, Widmungen und Anmerkungen. Epitexte sind etwa die Verlagswerbung, Interviews und Gespräche mit dem Autor, andere Äußerungen des Autors, Rezensionen, Kolloquien, literaturkritische und -wissenschaftliche Debatten. Die Rezeption eines Textes erfolgt zwingend immer auch über seine Paratexte. Den unverstellten Blick auf die »authentische Quelle« kann es insofern gar nicht geben, immer schon werden Interpretationen und Deutungen durch die den Text begleitenden Paratexte beeinflusst: Lese ich im Unterricht Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als Ganzschrift auf der Basis der Erstausgabe von 1785, so lege ich den Text den Schülern mit seinen damaligen Paratexten (Frakturschrift, Orthographie der damaligen Zeit) vor und steuere dadurch implizit die Rezeption; nehme ich eine aktuelle Studienausgabe als Ganzschrift, so verändere ich die Paratexte (modernisierte Orthographie, Vor- oder Nachworte der Herausgeber, Anmerkungsapparat etc.) und steuere dadurch die Rezeption. Welche Ausgabe ist nun die authentische? (Oder wäre gar nur eine Handschrift Kants, vor jedem redaktionellen oder verlegerischen Eingriff, genuin authentisch?)

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Ibid., S. 222. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. von Hornig, Dieter, stw 1510, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 10 – 13. Ibid., S. 10.

Lob des »Nach-Textes«

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 Nach-Texte als pragmatische Abkürzungen Nicht anders verfahre ich, wenn ich Textauszüge und Nach-Texte einsetze; beide Textsorten sind im Sinne Genettes bereits Paratexte und gehören zur Rezeptionsgeschichte des (ursprünglichen) Textes. Jede Didaktisierung (Kürzung, Annotation, Konstellation mit anderen Positionen zum Beispiel im Rahmen der Problemorientierung) ist bereits unvermeidlich eine paratextuelle Steuerung der Rezeption. Beim Nach-Text mag dies evidenter sein, aber auch beim Textauszug greifen Mechanismen der Rezeptionssteuerung. Vor diesem Hintergrund scheint mir die scharfe Trennung zwischen (nur vermeintlich) authentischem Textauszug und potenziell irreführendem Nach-Text allein wenig zielführend; es muss in jedem Fall von der fachlich kompetenten Lehrerin bzw. dem Lehrer geprüft werden, ob ein für den Unterricht ausgewählter Textauszug oder Nach-Text die in Frage stehende philosophische Position unverfälscht wiedergibt. Ist dies der Fall, so gibt es kein prinzipielles Argument gegen den Einsatz von NachTexten als pragmatischen Abkürzungen. Allerdings sollten Textauszug wie Nach-Text dabei, und hier stimme ich Albus und Jost ausdrücklich zu, so ausgewählt sein, dass sie Schülern längerfristig den Zugang zum Original bahnen oder zumindest nicht verstellen. (Mancher heute als Originaltext geschätzter Beitrag aus der Philosophiegeschichte ließe sich als fragwürdiger Nach-Text, nämlich als verfälschende Deutung, auslegen – etwa Lockes Auseinandersetzung mit Descartes in seinem Essay on Human Understanding.)

 Nach-Texte in Transfer- und Übungsphasen Auch in anderer Hinsicht können Nach-Texte den Unterricht aus meiner Sicht bereichern, nämlich dann, wenn sie nicht als Ersatz für den Originaltext dienen, sondern in Transfer- und Übungsphasen zum Einsatz kommen. Spätestens an dieser Stelle hätte dann auch der oben erwähnte Locke-Text, wenn er nicht ohnehin kanonisiert wäre, seinen legitimen Platz im Unterricht. In einer Transferstunde (vgl. Guntermann) können die Schülerinnen und Schüler beispielsweise ihr Verständnis einer philosophischen Position dadurch ausweisen, dass sie sich auch mit fragwürdigen Deutungen auseinandersetzen und die Unzulänglichkeit anhand ihrer eigenen Kenntnisse des Originals belegen. Exemplarisch sei hier etwa auf das Kapitel »Kants Ethik und der Nationalsozialismus« im recht weit verbreiteten Schulbuch Zugänge zur Philosophie: Qualifikationsphase8 verwiesen, das einen Auszug aus dem Eichmann-Protokoll anbietet, in dem Adolf Eichmann, Hauptorganisator der Transporte in die Vernichtungslager, seine ganz eigene Deutung von Kants Ethik vorträgt. Der Auszug aus dem Verhör Eichmanns ist, mit Genette gesprochen, ein Epitext zu Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten; als 8

Aßmann, Lothar; Henke, Roland W.; Schulze, Matthias; Sewing, Eva: Zugänge zur Philosophie. Qualifikationsphase, Cornelsen Schulbuchverlage; Berlin 2015, S. 192.

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Patrick Baum

solcher fordert er die Schülerinnen und Schüler auf, ihr Verständnis der Ethik Kants zu überprüfen. Didaktisch reduzierte Originaltexte und Nach-Texte haben beide ihren Platz im Unterricht – sofern sie dazu beitragen, zu philosophischer Problemreflexion anzuleiten und sie insgesamt und auf lange Sicht zu befähigen, philosophische Texte auch im Original zu lesen.

Quelle: Baum, Patrick: »Lob des ›Nach-Textes‹. Vielfältige Lektüren für den Unterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 12 – 13.

Lesen erleichtern: Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht* Klaus Blesenkemper

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eil Texte erst durch ihre Leser vollendet werden, vor allem jüngere Schülerinnen und Schüler damit aber bei philosophischen Originaltexten häufig überfordert sind, hält der Autor vereinfachende Nach-Texte für sinnvoll. Um die konkreten didaktischen Möglichkeiten und Gefahren ihres Einsatzes zu erkennen, muss jedoch zwischen verschiedenen Arten von Nach-Texten unterschieden werden.

 Einleitung und Überblick: Texte als Halbfabrikate Bevor ich Nach-, Mit- und In-Texte vorstelle und diskutiere, hier zunächst die vorgelagerte Frage: Was ist ein Text? – Vilém Flusser (1920 – 1991) beantwortet sie in einem Essay zur Zukunft der Schriftkultur anschaulich und pointiert:

»Etymologisch bedeutet das Wort ›Text‹ ein Gewebe und das Wort ›Linie‹ einen Leinenfaden. Texte aber sind unfertige Gewebe: Sie bestehen aus Linien (der ›Kette‹) und werden nicht, wie fertige Gewebe, von vertikalen Fäden (dem ›Schuss‹) zusammengehalten. Die Literatur (das Universum der Texte) ist ein Halbfabrikat. Es verlangt nach Vollendung. Die Literatur richtet sich an einen Empfänger, von dem sie verlangt, dass er sie vollende. Der Schreibende webt Fäden, die vom Empfänger aufgelesen sein wollen, um durchwoben zu werden. Erst dadurch gewinnt der Text Bedeutung. So viele Leser ein Text hat, so viele Bedeutungen besitzt er. […] Das Schicksal, das der Text ›ist‹ (die Botschaft, die er ist), vollendet sich im Empfänger.« 1 Das Bild vom Text als unfertigem Gewebe betont die konstitutive Rolle des (Auf-)Lesers für dessen »Botschaft«. Nun sind die Texte, um die es im Philosophieunterricht geht, in vielfacher Weise ›vollendet‹; sie haben sich in vielen, manchmal über Jahrhunderte währenden Vollendungsprozessen bereits bewährt.

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Dies ist die aktualisierte Ausarbeitung eines Vortrags, den ich im Rahmen der 11. Münsterschen philosophiedidaktischen Tagung zum Thema Sprache und Gespräch. Dimensionen der Sprachsensibilisierung im Philosophieunterricht am 10.11.2018 an der Uni Münster gehalten habe. Flusser, Vilém: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Fischer Wissenschaft 10906, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1992, S. 36.

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Klaus Blesenkemper

Für Lehrpersonen ist es ein allzu bekanntes Problem, dass »eine philosophische Lektürekompetenz z. B. in der Sek. I nicht vorausgesetzt werden«.2 Vor allem vielen jüngeren Schülerinnen und Schülern erscheint ein vor ihnen liegender Text als ein ungeordnetes Fadengewirr. Zur Vermeidung solcher Verstehensstörungen kann man in zwei Richtungen vorgehen: A. Man kann versuchen, die Kommunikation zwischen Schülerinnen und Schülern und Texten primär vonseiten der Verstehenssubjekte her anzugehen.3 Darauf gehe ich hier nicht näher ein. B. Man kann aber auch am ›Halbfabrikat‹ selbst ansetzen und es für die Schülerinnen und Schüler soweit vorfabrizieren, dass ihnen ihre webende Weiterarbeit leichter fällt. Zwei scheinbar kontradiktorisch entgegengesetzte Verfahrensweisen sind erkennbar: 1. Philosophische Originaltexte werden zugeschnitten oder/und mit erläuternden Fußnoten versehen, aber ansonsten nicht verändert. 2. Philosophische Originaltexte werden verändert und so zu »für Lernzusammenhänge konstruierte[n] Texte[n]«.4 Für diese Art von Text hat sich in der Philosophiedidaktik die Bezeichnung »Nach-Texte« eingebürgert.5 Der Gegensatz von 1. und 2. ist nur konträr mit fließendem Übergang: Manche zugeschnittenen Originaltexte nähern sich Nach-Texten an, und manche Nach-Texte sind fast Originaltexte. Einsehbar ist dies nur nach entsprechenden Differenzierungen. Im nun folgenden Abschnitt werde ich die Originalität von Originaltexten unter die Lupe nehmen. Dann werde ich, durch eine entsprechende Überblicksgrafik veran-

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Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung neuerer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, in: Johannes Rohbeck; Urs Thurnherr; Volker Steenblock (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik. Rohbeck, Johannes; Turnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 9, Thelem, Dresden 2008, S. 47– 63: S. 51. Der Beitrag ist leicht verändert wieder abgedruckt in: Steenblock, Volker: Philosophie und Lebenswelt. Beiträge zur Didaktik der Philosophie und Ethik, Siebert Verlag, Hannover 2012, S. 213 – 222. Vgl. Schröder, Annette: »Über eine phänomenologische Brücke zu hermeneutischen Verstehensvollzügen. Ein Unterrichtsbeispiel zum ›ontologischen Gottesbeweis‹ des Anselm von Canterbury«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 65 – 76. Dies.: Textverstehen als Erlebnis. Ein phänomenologisch-hermeneutisches Strukturmodell des Textverstehens und seine philosophiedidaktischen Konsequenzen, LIT Verlag, Münster 2023 [im Erscheinen] Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung neuerer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, a.a.O., S. 54. Steenblock hat offensichtlich 2008 diesen Begriff als erster verwendet (ibid.). Albus greift ihn auf: Vgl. Albus, Vanessa: Kanonbildung im Philosophieunterricht. Lösungsmöglichkeiten und Aporien, Thelem, Dresden 2013, S. 549 – 550. Ausführlich thematisiert in: Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen!«, in: Albus, Vanessa; Frank, Magnus; Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, Philosophie und Bildung, Bd. 18, LIT Verlag, Berlin/Münster/Wien/Zürich/ London 2017, S. 219 – 232. Dieser Beitrag liegt auch in gekürzter Form vor: Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! Kant-Texte im sprachsensiblen Philosophieunterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 9 – 10.

Lesen erleichtern: Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht

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schaulicht, Nach-Texte (im weiteren Sinne) differenzieren in Nach-Texte (im engeren Sinne), Mit-Texte, und zwar in drei Varianten, und In-Texte. Dabei werde ich auch im Hinblick auf unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten auf die jeweiligen Chancen und Gefahren eingehen.

 Originaltexte versus Nach-Texte? Ein authentischer Text von Kant wäre etwa seine Schrift Zum ewigen Frieden. Hat eine solche Schrift in ihrer Gänze die Chance, in der Schule zur Geltung zu kommen? Noch aus dem Jahre 1999 stammen Philosophierichtlinien für die gymnasiale Oberstufe in NRW, die einmal die Lektüre einer philosophischen »Ganzschrift« im Laufe eines Quartals oder eines Halbjahres für verpflichtend erklärten.6 Begründung: »Die Auseinandersetzung mit einer Ganzschrift intensiviert das fachliche Lernen […]. Die Analyse eines längeren systematisch geordneten Zusammenhangs vermag die Konzentration der Schülerinnen und Schüler zu steigern, sie fördert zugleich die Methodenreflexion.« 7 Der neuere kompetenzorientierte Philosophiekernlehrplan für NRW aus dem Jahre 20138 sieht eine Philosophie-Ganzschrift-Analysekompetenz nicht vor. Schülerinnen und Schüler in NRW haben nur noch eine sehr kleine Chance, in der Schule philosophische Ganzschriften zu diskutieren, nämlich in entsprechend organisierten »Projektkursen« für G8 in NRW.9 Für den NRW-Kernlehrplan ist »die argumentativ-dialogische Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen […], die sich im konkreten Gegenüber sowie in besonderem Maße in Werken der philosophischen Tradition finden,« 10 von zentraler Bedeutung. Diese »Werke« sind im Unterricht in aller Regel aber nicht als Ganz-, sondern nur als Teilschriften präsent, häufig gar als Kurzausschnitte, die zusätzlich durch zahlreiche Auslassungen à la »[…]« zu Häppchen verknappt sind und so einem Schweizer Käse ähneln, im Folgenden »Käse-Texte« genannt. Die damit verbundene Kritik habe ich selbst erfahren: In den Nullerjahren stellte ich in einem Seminar meine Schulbuchversion eins Textes zum Schamgefühl aus Sartres

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Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstuf II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie. Ritterbach Verlag, Frechen 1999, S. 17. Ibid. Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSW-NRW) (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium / Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Philosophie, Schule in NRW Nr. 4716, Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2014. Vgl. Blesenkemper, Klaus: »Projektkurse als neue Möglichkeit anwendungsorientierten Philosophierens in NRW«, in: Runtenberg, Christa; Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Angewandte Philosophie, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 12, Thelem, Dresden 2011, S. 119 – 127: S. 122. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSW-NRW) (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium / Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Philosophie, a.a.O., S. 11.

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Klaus Blesenkemper

Das Sein und das Nichts vor.11 Mein 32 Zeilen umfassender Text mit neun Auslassungen sind Auszüge aus ca. 90 Seiten des Originals, in deutscher Übersetzung.12 Dabei habe ich sogar die Textchronologie verletzt – ein Käse-Text. Eine Studentin, ich habe immer noch ihre vor Empörung bebende Stimme im Ohr, reagierte mit den Worten: »Damit werden Sie doch Sartre nicht gerecht!!!« – Meine Antwort: »Na und? Ich will ja auch nicht Sartre gerecht werden, sondern den Schülerinnen und Schülern.« – Damals fand ich meine Antwort cool – und die Studentin verstummte. Meine Textauswahl würde ich heute nach wie vor verteidigen, nicht aber meine damalige Reaktion. Denn Texte der philosophischen Tradition sollen die Funktion haben können, den Lernenden bei der Lösung philosophischer Probleme zu helfen, indem diese gemäß der vierten Phase des »Bonbon-Modells«, der Phase der »angeleitet-kontrollierten Problemlösung«, ihre eigenen zuvor intuitiv gewonnenen, vorläufigen Lösungen mit denen der Tradition vergleichen und so Eigenes und Fremdes gleichsam in einen Dialog bringen.13 Ein solches Vorgehen entspricht der zweiten didaktischen Maxime Kants, »[s]ich (in der [Gemeinschaft] Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes anderen zu denken.« 14 Ein dialogischer Austausch ist aber nur dann fruchtbar, wenn der Text bzw. der Autor als eigenund ggf. widerständiger Gesprächspartner erfahren werden kann. Auch mit einem Käse-Text von Sartre kann ich also nur dadurch den Schülerinnen und Schülern gerecht werden, indem ich auch dem Autor gerecht werde. Wenn Käse-Texte auch noch durch Erläuterungen des Textherausgebers in eckigen Klammern im Text oder in Fußnoten unter dem Text garniert werden, leidet die Lesbarkeit. Die Originalität eines solchen Textes verblasst oder verschwindet ganz hinter solchen Kürzungs- und Ergänzungs-Maßnahmen.

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Blesenkemper, Klaus; Engels, Helmut; Philipp, Brigitte; Steenblock, Volker; Tesak, Gerhild: Sich orientieren, 9/10. Ethik – Praktische Philosophie, Bayerischer Schulbuch Verlag, München 2002, S. 23. Zur Textauswahl vgl. ibid., S. 254. Streng genommen ist jede Verwendung einer Übersetzung eine Verletzung des Originalitäts- bzw. Authentizitätsprinzips. Die damit verbundenen Probleme werden vor allem spürbar bei Texten in kaum noch verstandenem Altgriechisch. Vgl. Sistermann, Rolf: »Der Sinn des Lebens. Eine problemorientierte Unterrichtsreihe mach dem »Bonbon-Modell«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 34, 2012, S. 296 – 306 und den Beitrag von Sistermann, Rolf: »Resonanztheorie und Bonbonmodell. Lesestrategien nach dem Bonbonmodell des Philosophieunterrichts aus resonanztheoretischer Sicht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 32 – 42. Kant, Immanuel: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1789), in: Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, Bd. 10, hrsg. von Weischedel, Wilhelm, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975, S. 395 – 690: S. 549 (= BA, S. 167). Zur Interpretation kantischer Maximen als didaktische Maximen vgl. Blesenkemper, Klaus: »Kants Denkmaximen und ihre Anwendung als Maximen der Philosophiedidaktik«, in: Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift / Applied Philosophy. An International Journal 4, 2017, Heft/Volume 1, S. 9 – 28.

Lesen erleichtern: Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht

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 Differenzierung von Nach-Texten im weiteren Sinne Bisher hat man weitgehend darauf verzichtet, die Textsorte Nach-Texte didaktisch differenzierter zu betrachten. Vanessa Albus und Leif Marvin Jost blicken zunächst allgemein auf das Verfahren, »die Texte der philosophischen Tradition sprachlich und inhaltlich für die Schülerinnen und Schüler zu vereinfachen.« 15 Dies fasse ich als übergreifende Bestimmung von Nach-Texten – und zwar als Nach-Texte im weiteren Sinne, da ich diese noch von Nach-Texten im engeren Sinne abgrenzen werde. Was die beiden Autoren unter Nach-Texten konkret verstehen, veranschaulichen sie wie folgt: »In den inzwischen in vielen einschlägigen Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern eingestreuten ›Nach-Texten‹ erläutern historische Größen der Philosophie als fiktive Gestalten z. B. in modernen Talkshows oder am Telefon in kindlicher oder jugendlicher Diktion.« 16 Diese Art von Nach-Texten, auf die ich noch eingehen werde, steht aber keineswegs für alle Vereinfachungstexte im Sinne von Nach-Texten im weiteren Sinne. Patrick Baum sieht die Möglichkeit, Nach-Texte für sichernde oder transferierende Aufgaben im Philosophieunterricht einzusetzen, und bezeichnet solche Texte als »paraphrasierende Texte«.17 Diese nähere Bestimmung trifft auf das erste von ihm vorgestellte Beispiel, Hans-Peter Gensichens Kant IN heutigem Deutsch (2016)18, zu, aber nicht auf Salomo Friedländers (1871 – 1946) Kant für Kinder, Fragelehrbuch zum sittlichen Unterricht (1924/2004), und zwar wegen dessen »Form eines (katechetischen) Lehrgesprächs«. Baums Bestimmung kann also ebenfalls keine allgemeine Geltung beanspruchen. Sie verfehlt etwa die angedeuteten Beispiele von Albus / Jost, auf die er sich in einem anderen Beitrag derselben Zeitschrift bezieht.19 Eine hier angemahnte Differenzierung hatte Volker Steenblock bereits 1999 in seiner kursorischen Darstellung von »[p]opulären Präsentationsformen philosophischer Texte« vorgenommen. Er sieht zwei Varianten: »Um-schreiben und Um-schreiben« 20. ›Um-schriften‹ seien noch »eng am [Original-]Text« 21 ; es sind Paraphrasierungen, die einen Originaltext zu übersetzen versuchen. Daneben setzt Steenblock Textsorten, in denen Primärtexte umgeschrieben werden, ein Verfahren, »das Kerngedanken aufzunehmen und in einen neuen Kontext zu versetzen sucht. Hierzu zählt die Veränderung der Textsorte, etwa durch Dialogisierung […]«.22

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Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen!«, a.a.O., S. 220. Ibid. Baum, Patrick: »Kant ad usum delphini. Mit Nach-Texten Transferaufgaben gestalten«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 34 – 37, S. 34. Ibid., S. 34 – 36. Vgl. Baum, Patrick: »Lob des ›Nach-Textes‹. Vielfältige Lektüren für den Unterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 12 – 13. Steenblock, Volker: »Plaudern, ›Umschreiben‹, Faszinationsinszenierung«, in: Ethik & Unterricht 10, 1999, Heft 3: Rechte und Pflichten, S. 43. Ibid. Ibid.

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Klaus Blesenkemper

Die bereits genannten Varianten zu Nach-Texten im weiteren Sinne greife ich auf und werde noch weitere hinzufügen. Dazu nutze ich nach dem Vorbild von »Nach«-Texten naheliegende Präpositionen, nämlich neben »nach« auch »mit« und »in«.

Zu 1.) Nach-Texte im engeren Sinne

Nach-Texte im engeren Sinne suchen den jeweils vorliegenden Gedankengang aus der Haltung des Autors heraus möglichst genau nachzuzeichnen, dabei aber mit Blick auf die Lernenden im Ausdruck klarer und verständlicher verfahrend. Solche ›Um-schriften‹ (Steenblock) oder »paraphrasierende Texte« (Baum) können den Gedankengang auch komprimieren, systematisieren und adressatenbezogen erläutern. Die größere Klarheit im Satzbau und in der Wortwahl soll vor allem jüngeren Schülerinnen und Schülern das Lesen philosophischer Texte erleichtern.23 Für sie entsteht

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Für besonders junge Kinder oder solche, die als Migrantinnen und Migranten noch erhebliche Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben, empfiehlt es sich, philosophische Texte nach den Regeln der »Leichten Sprache« umzuschreiben. Das Regelwerk ist übersichtlich. Vgl.: Netzwerk Leichte

Lesen erleichtern: Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht

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dann jedoch sehr leicht die Illusion, sie würden einen Text, der nach einem Autor x verfasst wurde, als Text von dem Autor x selbst lesen. Ich stelle hier beispielhaft einen Kant-Text aus seiner Pädagogik und den entsprechenden Nach-Text aus einem Schulbuch für die 7. und 8. Klasse gegenüber. Der NachText ist leider als solcher nicht erkennbar. Der falsche Eindruck von Originalität wird durch ein Bild von Kant und dessen Namen noch verstärkt. Im Verzeichnis der Textnachweise wird aber der wahre Autor genannt: Bernd Rolf, der diesen Text »nach Kant, Immanuel« verfasst hat:

»Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß. Unter Erziehung nämlich verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst der Bildung. Dem zufolge ist der Mensch Säugling, – Zögling, – und Lehrling. Die Tiere gebrauchen ihre Kräfte, sobald sie deren nur welche haben, regelmäßig, d. h. in der Art, daß sie ihnen selbst nicht schädlich werden. […] Tiere brauchen daher keine Wartung, höchstens Futter, Erwärmung und Anführung, oder einen gewissen Schutz. Ernährung brauchen wohl die meisten Tiere, aber keine Wartung. Unter Wartung nämlich versteht man die Vorsorge der Eltern, daß die Kinder keinen schlechten Gebrauch von ihren Kräften machen. […]« 24 »Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss. Ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt. Der Mensch muss sich selbst einen Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht von Anfang an imstande ist, dies zu tun, sondern roh und unfertig auf die Welt kommt, bedarf er der Erziehung. Bei dieser unterscheidet man Wartung, Zucht und Bildung. Als Säugling ist der Mensch darauf angewiesen, dass die Eltern ihn verpflegen und dafür sorgen, dass er seine Kräfte nicht zu eigenen und zum Schaden anderer einsetzt. Ich nenne das Wartung. […]« 25 Der Nach-Text-Autor erfasst die Kerngedanken des Original-Autors, bringt sie aber in eine überschaubarere Ordnung, in eine verständlichere Syntax ohne unterbrechende Klammern und beugt möglichen Missverständnissen in der Wortwahl (»Wartung«) vor. Albus und Jost begründen ihre Distanz gegenüber dem Einsatz von Nach-Texten im weiteren Sinne u. a. mit der Gefahr, dass auch dann, wenn man keine ideologisch bedingte Manipulation unterstellen müsste, »[s]achliche Fehler« unterlaufen könnten, und zwar aus »fachlicher Unkenntnis«.26 Das folgende Nach-Text-Beispiel im engeren Sinne scheint mir diese Gefahr zu belegen. Unter der Überschrift »Was ist eine gute

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Sprache: Die Regeln für Leichte Sprache, 2013, auf: https://www.leichte-sprache.org/wp-content/ uploads/2017/11/Regeln_Leichte_Sprache.pdf (Stand: 10.03.2022). Kant, Immanuel: »Über Pädagogik« (1803), in: Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, Bd. 10, a.a.O., S. 691– 761: S. 697 (= A 1f). Peters, Jörg; Rolf, Bernd: philo praktisch 2 A. Unterrichtswerk für Praktische Philosophie in NordrheinWestfalen, C.C. Buchner Verlag, Bamberg 2011, S. 123. Die Quellenangabe des zugrunde liegenden Originaltextes und des Nach-Textes: findet sich auf S. 211. Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen!«, a.a.O., S. 221.

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Klaus Blesenkemper

Handlung?« werden in einem Schulbuch für Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klasse vier kurze Nach-Texte im engeren Sinne präsentiert. Davor steht eine Einleitung, in der der Begriff Maxime erläutert wird: »Diejenigen [Handlungsregeln, K.B.], die sich nur auf eine konkrete Handlungssituation beziehen, heißen Maximen. Ein Beispiel für eine Maxime ist die folgende Regel: ›Man sollte versuchen, immer pünktlich zu einem Termin kommen‹«.27 Der vierte Nach-Text zu Kants Ethik beginnt wie folgt:

»Es gibt nur eins, das als absolut gut gelten kann: der gute Wille. Alle anderen Dinge wie Reichtümer oder Talente sind nur relativ gut. Sie sind gut für dies oder das. Für sich allein gut ist nur der gute Wille. Wir müssen also prüfen, ob ein guter Wille das Motiv für unsere Handlung ist. Der gute Wille ist nicht durch Wünsche oder Neigungen, sondern allein durch die vernünftige Einsicht in das moralisch Notwendige geprägt. Die Vernunft des Menschen vermag eine Prüffrage zu formulieren, mit der sich kontrollieren lässt, ob die Motive (Maximen) hinter einer Handlung auch wirklich einem guten Willen entsprechen. Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit allgemeines Gesetz werden könnte. […]« 28 Hier sehe ich zwei Probleme: 1. Das in der Einleitung genannte Beispiel für eine Maxime dient nicht der Erläuterung des Begriffs im Sinne Kants. Denn er versteht darunter subjektspezifische Prinzipien und formuliert sie daher in der Ich-Form. Für einen den Selbstmord Erwägenden gelte etwa: »Seine Maxime aber ist: ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen«.29 Bei der Anwendung der »Prüffrage« geht es darum zu klären, ob dieses subjektive Prinzip verallgemeinerbar ist, ob das »Ich« zum »Man« werden kann. Das »Man« in der Beispielmaxime ist also irreführend. 2. Zwar enthält jede Maxime nach Kant ein Motivationselement, nämlich eine subjektive Triebfeder wie die »Selbstliebe« oder die Achtung vor dem Gesetz, das berechtigt aber nicht dazu, ›Motiv‹ und ›Maxime‹ gleichzusetzen, indem das eine durch das andere in Klammern erläutert wird. Andernfalls müsste man den kategorischen Imperativ auch so nach-texten können: ›Handle so, dass das Motiv deines Handelns jederzeit allgemeines Gesetz werden könnte.‹ Davor hat der unbekannte Autor offensichtlich zurückgeschreckt.

27

28

29

Sistermann, Rolf (Hrsg.): weiterdenken. Band B. Ethik / Praktische Philosophie, Schroedel, Braunschweig 2009, S. 92. Ibid. Weder auf dieser Seite noch im Verzeichnis der Textnachweise ist der Autor des Nach-Textes genannt. Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785), in: Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, hrsg. von Weischedel, Wilhelm, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975, S. 7– 102: S. 52 (= BA 54).

Lesen erleichtern: Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht

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Zu 2.) Mit-Texte Hat der junge Leser von Nach-Texten im engeren Sinne den Eindruck, durch den philosophischen Text, der nach den Worten eines Philosophen gestaltet ist, spreche dieser Philosoph direkt zu ihm, wird er bei der zweiten Gruppe von Nach-Texten im weiteren Sinne Zeuge eines Dialogs, bei dem ein Gesprächspartner mit einem Philosophen zu sprechen scheint. Die konkrete Ausgestaltung dieser kommunikativen Konstellation führt zu drei Untergruppen:

Zu 2.a) Mit-Texte: fiktive Interviewfragen, eingebettet in authentische Texte Die erste Variante ist, soweit ich sehe, selten, aber höchst interessant. Zunächst ein Beispiel: »Herr Kant, Sie haben sich, wie alle Philosophen, ausführlich mit dem Guten beschäftigt. Worin sehen Sie das wirklich Gute? Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Das ist eine verblüffende Behauptung. Fast hätte ich gesagt: Das ist aber ein Hammer. Gibt es denn nichts anderes Gutes als den guten Willen? Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Hinsicht gut und wünschenswert … Aha, nicht nur der gute Wille ist gut! … in mancher Absicht gut und wünschenswert, aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden […]. Mäßigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Teil vom inneren Werte der Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Ihre Begründung? Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden […]«.30

30

Sistermann, Rolf (Hrsg.): weiterdenken. Band C. Philosophie / Ethik. Oberstufe, Schroedel, Braunschweig 2012, S. 213.

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Unter dem Text findet sich der klärende Hinweis: »Kants Antworten geben den ersten Abschnitt [nach der Vorrede, K.B.] der ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹ wörtlich wieder«.31 Dieser Text ist also keine reine Fiktion, sondern er fingiert einen Dialog mit fiktionalen und authentischen Elementen. Fiktional sind nur die kursiv gedruckten Einwürfe des Interviewers. In ihnen sollen sich die Lernenden mit ihren Fragen und Einwänden in ihrer Sprache wiederfinden. Die auflockernden Ergänzungen erleichtern dadurch die Auseinandersetzung mit dem Original. Eine weitere Erleichterung besteht in einer Vergrößerung der Argumentationstransparenz. Zwar leitet schon Kant den zuletzt zitierten Satz mit »Denn« ein, aber die Frage »Ihre Begründung?« macht den folgenden Argumentationsschritt noch deutlicher. Diese Art von Nach-Texten im weiteren Sinne ist also gleichsam ›minimal invasiv‹; sie lässt das Original unberührt. Auf diese Weise bleibt auch dann, wenn sich in den Einwürfen Fehler einschleichen sollten, das richtige ›Weiterweben‹ des Originals immer möglich.

Zu 2.b) Mit-Texte: fiktive Gespräche mit und zwischen Philosophen Für die zweite Variante von Mit-Texten ist hier die Präsentation von Beispielen nicht erforderlich. Es handelt sich neben Nach-Texten im engeren Sinne um die bekannteste Form von Nach-Texten im weiteren Sinne. Steenblock erwähnt schon 1999 1. »ein fiktives Interview mit Herrn Kant« und 2. »ein Fernsehgespräch von Hobbes, Rousseau und Locke« 32. Im 1. Fall werden dem auf Fragen Antwortenden Worte eines fiktiven Kant – als freundlich, bereitwillig, geduldig erklärender, weiser Mann dargestellt – in den Mund gelegt. Zwei solcher Interviews mit ihm enthält die diesbezüglich bekannteste Textsammlung von Jörg Peters und Bernd Rolf.33 – Im 2. Fall wird das Format einer FernsehTalkshow genutzt, um etwa drei Staats-Philosophen mit- und gegeneinander argumentieren zu lassen.34 Bei den Lernenden kann hier nicht die Illusion entstehen, die Philosophen sprächen durch den Text selbst zu ihnen. Die Inszenierung eines Telefongesprächs mit einem Philosophen des letzten Jahrhunderts durchschauen sie als Spiel sofort. Welche Funktion solche Mit-Texte in Lehr-Lern-Kontexten erfüllen können, erklären die Autoren der Sammlung selbst: »Sie [die Gespräche, K.B.] können im Unterricht ergänzend zu den Ausschnitten aus den originalen Quellen und als Hilfsmittel zu deren 31 32 33

34

Ibid., S. 214. Steenblock, Volker: »Plaudern, ›Umschreiben‹, Faszinationsinszenierung«, a.a.O., S. 43. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche über Philosophen und ihre Theorien, Texte und Materialien für den Unterricht, RUB 15062, Stuttgart: Philipp Reclam jun, Stuttgart 2009. Neben Kant werden 17 weitere Philosophen in Einzel- oder Gruppeninterviews vorgestellt. Rolf, Bernd: »Wozu braucht man eigentlich einen Staat? Eine Fernsehdiskussion zwischen Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jaques Rousseau«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 20, 1998, Heft 4: Praktische Philosophie, S. 240–245. Wieder abgedruckt in: Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche über Philosophen und ihre Theorien, S. 52–62.

Lesen erleichtern: Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht

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Verständnis eingesetzt werden.« 35 Ein Ersatz für die Auseinandersetzung mit authentischen Texten, und seien es nur Käse-Texte, können, wollen und sollen solche Mit-Texte insbesondere für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe nicht sein.

Zu 2.c) Mit-Texte: fiktive Gespräche mit philosophischen Experten Die dritte Mit-Text-Konstellation unterscheidet sich von der zweiten dadurch, dass der Antwortende nicht ein Original-Philosoph ist, sondern einer, der dessen Theorie gut kennt. Im folgenden Beispiel nimmt ein Schulbuchautor als »philo« zunächst die Position der wissen wollenden Schülerinnen und Schüler ein und beantwortet dann als »Experte« die »philo«-Fragen – hier zur Herleitung des kategorischen Imperativs: »PHILO : Kants kategorischer Imperativ ist nicht einfach zu verstehen. Können Sie als Experte einmal mit einfachen Worten erklären, was es damit auf sich hat? EXPERTE : Gerne, womit sollen wir anfangen? PHILO : Also, ein Problem ist doch schon der Begriff ›kategorischer Imperativ‹ selbst. EXPERTE : Ein Imperativ – das kennen Sie doch aus dem Grammatikunterricht – ist ein Befehl. Nun gibt es hypothetische und kategorische Imperative. Unter einem hypothetischen Imperativ versteht man […]«.36 Solche Mit-Texte kann man auch als dialogisierte Nach-Texte im engeren Sinne bezeichnen. Gegenüber paraphrasierenden Nach-Texten haben sie den Vorteil, die Fragen der Lernenden zu antizipieren. Ansonsten muss man auch hier vor den mit NachTexten verbundenen Gefahren warnen. Die didaktische Qualität des zitierten Beispieltextes ist nur in seinem Kontext zu beurteilen: Unmittelbar vor diesem Experteninterview steht der entsprechende Originaltext von Kant – als Käse-Text. Die Kombination beider Texte eröffnet mehrere Möglichkeiten des unterrichtlichen Einsatzes in heterogenen Lerngruppen.37

35 36

37

Ibid., S. 6. Rolf, Bernd; Peters, Jörg (Hrsg.): philo. Qualifikationsphase. Erarbeitet von Draken, Klaus; Gilissen, Matthias; Peters, Jörg; Peters, Martina und Rolf, Bernd. C.C. Buchner Verlag, Bamberg: 2015, S. 143. Der Autor dieses Mit-Textes ist Bernd Rolf (vgl. S. 418). Näheres dazu in: Blesenkemper, Klaus: »Ein Ziel auf drei guten Wegen? Exemplarisch-empirische Analyse von Schulbüchern für den Philosophieunterricht nach dem neuen Kernlehrplan für den Oberstufenunterricht in NRW«, in: Martens, Ekkehard (Hrsg.): Empirie und Erfahrung im Philosophieunterricht, Siebert Verlag, Hannover 2017, S. 134 – 162: S. 156 – 157.

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Zu 3.) In-Texte: Originalbeiträge von Schulbuchautoren, in die philosophische Positionen eingebettet sind Diese dritte Variante von Nach-Texten im weiteren Sinne ist – da weit weg von OriginalAutoren – die gewagteste. Sie kommt nur für ganz junge Schülerinnen und Schüler in Frage. Sie sind an der Beantwortung philosophischer Fragen interessiert, weniger daran zu wissen, von wem sie stammen. Bezüglich der Frage, aus welchen Motiven heraus (Anthropozentrismus vs. Physiozentrismus) man die Natur schützen soll, habe ich für eine Lerngruppe der Klasse 5/6 einen »Onkel Jens« gestaltet, der einen philosophischen Streit zwischen Tina und Paul schlichten soll. Paul will sich mit der denkbaren Antwort, die Natur als ein Mitgeschöpf zu achten, sei Gottes Gebot, nicht zufrieden geben:

»›Und wenn man sich da mit Gott nicht so sicher ist?‹, fragt Paul vorsichtig an. ›Dann – dann gibt es noch eine Möglichkeit. Der Mensch ist Teil der Natur, aber mit besonderen Fähigkeiten. Er kann sich denkend in die Lage anderer versetzen und sprechen. So kann er auch Fürsprecher der Natur sein.‹ – ›?‹ – Paul, ein Baum kann nicht sprechen. Aber du kannst es. Versetze dich mal in seine Lage und sprich für ihn. Nun, Paul: Würdest du lieber von Menschen geschützt werden, weil du den Menschen nützt oder weil die Menschen in dir einen Wert sehen, unabhängig von ihnen?« 38 Dass ich mit dieser Antwort die naturphilosophische Position von Klaus-Michael MeyerAbich in den Text eingebettet habe, wird im Schulbuch selbst nicht deutlich, wohl aber im entsprechenden Lehrerband.39 Auf diese Weise haben Lehrpersonen die Chance, den In-Text zu kontrollieren und die beanspruchte Position vertiefend zu erschließen. Als abschließende Bemerkung ist festzuhalten: Man darf nicht alle Nach-Texte im weiteren Sinne über einen Leisten schlagen; man muss sie vielmehr nach Art, Adressat und unterrichtlichem Kontext differenzieren. Dann können sie für Lernprozesse sehr hilfreich sein. Quelle: Blesenkemper, Klaus: Lesen erleichtern. Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, Heft 3: Lesestrategien, S. 22 – 31 (vom Autor für diesen Band überarbeitet).

38

39

Blesenkemper, Klaus; Dannecker, Susanne; Vering, Axel: Leben leben 1. Klett Verlag, Stuttgart/Leipzig 2010. S. 131. Bei diesem Beispiel ist der Übergang zur Nach-Text-Sorte 2.c) fließend; in beiden Fällen fungiert ein ›Experte‹ als Antwortgeber. Blesenkemper, Klaus; Dannecker, Susanne; Vering, Axel (Hrsg.): Leben leben 1. Lehrerband mit Kopiervorlagen auf CD-ROM, Klett Verlag, Stuttgart: 2011, S. 71.

Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht Klaus Langebeck

N

achdenken über Methoden und Verfahren des Unterrichts darf nicht abgelöst werden von dem Nachdenken über die Ziele des Unterrichts. Damit soll verhindert werden, dass die direkten oder indirekten Wirkungen der verwandten Methoden den Zielen des Unterrichts zuwiderlaufen. Im Folgenden soll daher nach einem kurzen Hinweis auf die (1.) mögliche Zielsetzung des Philosophieunterrichts die (2.) Leistung von Texten thematisiert werden, um auf dieser Grundlage einige (3.) textdidaktische und unterrichtsmethodische Konsequenzen des Texteinsatzes zu benennen; daran schließt sich eine (4.) kurze Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen einiger Verfahren der Texterarbeitung an.

 1. Die mögliche Zielsetzung des Philosophieunterrichts Die gegenwärtige philosophiedidaktische Diskussion ist hinsichtlich der Zielsetzung des Philosophieunterrichts noch zu keinem einheitlichen Ergebnis gekommen. Als kleinsten gemeinsamen Nenner wird man mit Kant darauf zurückgreifen können, dass der Schüler »nicht Gedanken sondern denken lernen«1 soll.2 Dieses Denken kann als Selbstdenken unterschieden werden vom Nachdenken: Kant spricht vom »wahren Philosophen«, der »keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft« mache, sondern »einen freien und selbsteigenen«.3 Der Akzent liegt also auf der Selbsttätigkeit; die Resultate des philosophischen Nachdenkens anderer haben ihre Bedeutung »als Objekte der Übung seines philosophischen Talents«.4 Im Vordergrund des Philosophieunterrichts sollte daher nicht die nachahmende Aneignung von Denkresultaten stehen, sondern die Einübung in den Prozess des eigenen Denkens. Wenn man nicht bei einer nur formalen Bestimmung der Zielsetzung des Philosophieunterrichts als Entwicklung von Denkstrukturen stehenbleiben will, dann sollte man Fragenbereiche angeben, die in der Schule bevorzugt Gegenstand des Unterrichts sein sollten: Es wird auf prinzipieller Ebene über Zwecke und Absichten, über Bedeu1

2

3

4

Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, Bd. 2, hrsg. von Weischedel, Wilhelm, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1968, S. 909. Küsters, Gerd-Walter: »Die Bedenklichkeit der Texte«, in: Information Philosophie 12, 1984, Heft 4, S. 43 – 46. Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, Bd. 5, hrsg. von Weischedel, Wilhelm, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1968, S. 449. Ibid.

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tung und Sinn, über Wahrheit und Erkenntnis nachgedacht. Begreift man mit Kant Philosophie als »Vernunfterkenntnis aus Begriffen« 5, ist zu fragen, wie in ein Philosophieren eingeführt werden kann, das sich als Einüben ins Selbstdenken und als Gewinnen diskursiver Erkenntnis über die genannten Problembereiche versteht.

 2. Die Leitung philosophischer Texte Philosophieren geschieht im Gespräch, weil ein Denken über die skizzierten Probleme nicht einsam betrieben werden kann, sondern Erfahrungen und Einsichten anderer berücksichtigen muss. Dabei ist es für die argumentative Debatte über die Sache zunächst unerheblich, ob dieses Gespräch mit einem gegenwärtigen oder einem historischen Gesprächspartner (Text) geführt wird.6 Für das philosophierende Subjekt wird die Bedeutung des Gesprächspartners vor allem in zwei Funktionen wirksam, und zwar kann der Partner als Helfer oder als Förderer erfahren werden. In der Rolle als Helfer unterstützt der Partner die Klärung schon erkannter Probleme, z. B. durch begrifflich präzise Fassung von Unterscheidungen. Er verhilft dazu, einen Sachverhalt »auf den Begriff zu bringen«, den das Subjekt bisher so klar terminologisch strukturiert noch nicht gesehen hat. Als Helfer hat der Partner schon vorgedacht, und die bzw. der Philosophierende ist aufgefordert, eigenständig diese Resultate zu prüfen und als geprüfte zu übernehmen. In der Rolle des Förderers eröffnet der Partner neue Problemhorizonte und regt dazu an, den eigenen Denkhorizont um bisher nicht gesehene Problemstellungen zu erweitern. Der Gesprächspartner wird dann nicht als jemand erfahren, mit dem man schon Bekanntes mit systematischem Anspruch aufarbeitet, sondern als jemand, der Impulse, Anstöße und neue Problemperspektiven vermittelt. Diese Eröffnung neuer Problemhorizonte fordert auf begrifflicher Ebene, Unterscheidungen neu zu fassen und zu strukturieren, so dass damit auch Konsequenzen für ein neues Selbstverständnis des philosophierenden Subjekts eingeleitet werden können. Die Frage nach der Rolle von Texten im Philosophieunterricht kann an dieser Stelle auf der Grundlage des oben nur Skizzierten kurz umrissen werden. Texte als historische Gesprächspartner haben über die angesprochenen Problembereiche nachgedacht und Argumente zu systematischen Problemstellungen beigetragen. Daher stehen wir vor einem umfangreichen Bestand an Ergebnissen von philosophischen Reflexionsbemühungen. Zur Erweiterung der Problemperspektiven und des Argumentationsbestandes gilt es, die Tradition problemorientiert fruchtbar zu machen, und zwar sowohl in der Rolle des Helfers als auch der des Förderers. Die Argumente des historischen Gesprächspartners können dazu verhelfen, Kriterien in die Debatte einzubringen, die die zufällige Zusammensetzung der gegenwärtigen Gesprächsteilnehmer überschreiten.

5 6

Ibid., S. 446. Martens, Ekkehard: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik, Hermann Schroedel Verlag KG, Hannover 1979, S. 144 – 145.

Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht

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Aber nicht nur, weil »die Philosophie ihren Gegenstand nur durch Vermittlung von Texten ,hat‹« 7, kann nicht auf Texte verzichtet werden, sondern auch weil Texte in ausgezeichneter Weise zu einer »Vernunfterkenntnis aus Begriffen«, also zu diskursiver Erkenntnis anregen8, hat der Text als Medium im Philosophieunterricht eine besondere Bedeutung. Zwar können auch andere Medien (z. B. Film, Bild, Grafik) Anlass geben, die Spontaneität der eigenen Vernunft zu entfalten, aber die Forderung nach der »Multimedialität«9 darf nicht übersehen lassen, dass Texte im Philosophieunterricht insofern grundsätzlich mehr leisten als andere Medien, weil sie über Sprache vermittelt stärker den begrifflichen Erkenntnisgewinn einüben als ein Bild oder eine Grafik. Daraus folgt jedoch nicht, dass derartige Medien aus dem Philosophieunterricht verbannt werden sollten; es gilt ihren Stellenwert im Alltag und im Philosophieunterricht angemessen zu verbinden. Begreift man Texte in der dargestellten Weise als historische Gesprächspartner, können Texte »als Verbündete im Geschäft des Selbstdenkens erfahren« werden, so dass »ein dialogisches Verhältnis zur Tradition« 10 verwirklicht werden kann. Das Verständnis des Textes als Gesprächspartner findet seine Grenze darin, dass der Text nicht in gleicher Weise als Subjekt gesehen werden kann wie ein gegenwärtiger Gesprächspartner. Der Text antwortet nur auf an ihn gestellte Fragen, und diese können beim philosophierenden Subjekt Bildungsprozesse initiieren, es kann aber nicht in eine wechselseitige Beziehung eingetreten werden. Daraus folgt auch, dass der Text sich nicht gegen Missverständnisse wehren kann. Während im aktuellen Dialog Rückfragen jederzeit möglich sind, erfordert der meist größere zeitliche Abstand zum Text eine gezielte Erschließung. Die Fähigkeit zu dieser Erschließung muss die Schule mit Hilfe von Verfahren einüben, die zur sachgerechten Interpretation anleiten. Denn erst der erschlossene Text kann in seiner Rolle als Gesprächspartner, an dem man sich »abarbeitet«, erlebt werden. Versteht man den Text als Gesprächspartner, so muss auf zwei Fehlformen hinsichtlich des Texteinsatzes hingewiesen werden: (l) Der Text als Gesprächspartner darf nicht in der Weise missverstanden werden, dass er dem Leser das Selbstdenken abnimmt. Damit wäre die grundsätzliche Gleichrangigkeit der Partner aufgehoben, und der Leser wird nicht mehr als eigenverantwortliches Subjekt gesehen, das durch die Beschäftigung mit Philosophie den »Vollzug des Denkens selber« 11 lernen soll. Ziel wäre dann die ungeprüfte Übernahme von Denkresultaten, das, was Kant einen »nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft« machen nennt.

7

8 9

10

11

Schnädelbach, Herbert: »Morbus hermeneuticus – Thesen über eine philosophische Krankheit«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 3, 1981, Heft 1: Medien im Philosophieunterricht, S. 3 – 6: S.5. Vgl. Kant. Lorenzen, Arnold K. D.: »Schulbücher für den Philosophieunterricht«, in: Information Philosophie 11, 1983, Heft 5, S. 32 – 34: S. 34. Schnädelbach, Herbert: »Morbus hermeneuticus – Thesen über eine philosophische Krankheit«, a.a.O., S. 5. Malter, Rudolf: »Philosophieunterricht nach zetetischer Methode. Gedanken zur Didaktik der Philosophie im Ausgang von Kant«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 3, 1981, Heft 2: Kant, S. 63 – 78: S. 65.

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(II) Dem Text darf nicht die Rolle als Gesprächspartner abgesprochen werden, er darf nicht als Gegenstand instrumentalisiert werden. Wird der Text in dieser Weise zum Gegenstand, tritt man nicht mehr in ein Gespräch ein, um sich als Subjekt über seine Orientierung in der Welt klar zu werden, vielmehr löst man den Bezug auf das Subjekt und Ziel wird die vom Subjekt getrennte Kenntnis der ›Sache’, z. B. in Prüfungen. (III) Sieht man von der über den Inhalt vermittelten Leistung der Texte ab, kann unter textdidaktischen und unterrichtsstrukturierenden Momenten auf weitere Funktionen des Textes hingewiesen werden. Wird während einer Unterrichtsphase ein Text in den Mittelpunkt des Unterrichts gerückt, zentriert das Sich-Einlassen auf den Text die Reflexionsbemühungen aller Teilnehmer auf wenige überschaubare Aspekte (z. B. Begriffe) und schafft damit ein für alle einsichtiges Kriterium, um zu entscheiden, welcher Beitrag in der Sache weiterhilft und welcher nicht. Der Maßstab liegt in der durch den Text und durch das Ausgangsproblem festgelegten Aspektierung12, und jeder Gesprächsbeitrag kann darauf hin befragt werden, ob er sich klärend innerhalb des Denkraumes bewegt, der durch die im Text enthaltenen Begriffe aufgespannt wird. Der Text ist damit der Fokus der Gedanken aller Teilnehmer. Dies muss im Kontext des Unterrichtsganges gesehen werden. Der Bezug auf einen Text bietet den Schülerinnen und Schülern weiterhin die Möglichkeit, auch gegen die Lehrerin bzw. den Lehrer und gegen die Mehrzahl der Lerngruppe eine Position argumentativ abzusichern: Der Text fungiert als argumentative Stützung und Ausweitung (als Helfer und auch als Förderer). Mit dem Text als Gesprächspartner kann ein zusätzlicher und umfangreicherer Maßstab vernünftigen Philosophierens gegeben sein, der die Zufälligkeit der Lerngruppenzusammensetzung überschreitet. Dagegen kann mit Recht eingewendet werden, dass es »sehr bequem« ist, »sich als Philosoph hinter Texte[n] zu verstecken: [D]er Text wird es schon machen«.13 Für den Bereich der Schule wird man aber fragen dürfen, ob es der Text nicht manchmal wirklich besser mache, ob nicht das aufklärerisch-vernünftige Potential eines Textes mitunter höher einzuschätzen ist als aktuelle Gesprächsbeiträge, zumal auch (schwächere) Schülerinnen und Schüler es als hilfreich empfinden, wenn ein Text Sachverhalte knapp und präzise auf den Begriff bringt. Versteht man den »Gesprächspartner Text« aber als Vordenker, der dem Leser das selbstverantwortliche Denken abnimmt, liegt allerdings eine Fehlform vor, und das Verstecken hinter dem Text bedeutet eine Suspendierung vom eigenverantwortlichen Denken. Es hieße daher von falschen Gegenüberstellungen auszugehen, stellte man die Alternative textfreier oder textgebundener Unterricht auf. Die Schülerinnen und Schüler können sowohl aktuelle mündliche Äußerungen als auch die Texte »als Verbündete im Geschäft des Selbstdenkens« 14 erfahren. Textarbeit kann immer nur ein Moment in der Unterrichtsbewegung sein. Das Ausspielen von Textarbeit gegen textfreies Arbeiten 12 13

14

Rehfus, Wulff D.: Didaktik der Philosophie, Schwann Verlag, Düsseldorf, S. 187. Schnädelbach, Herbert: »Morbus hermeneuticus – Thesen über eine philosophische Krankheit«, a.a.O., S. 4. Ibid., S. 5.

Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht

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beachtet nicht hinreichend die Einheit der Unterrichtsphasen.15 Textfreier und textgebundener Unterricht ergänzen einander, da diese Arbeitsformen in verschiedenen Phasen des Unterrichts dominieren. Derbolav arbeitet die Bedeutung der Textarbeit heraus, wenn er ausführt, dass die Schülerinnen und Schüler einen Anspruch darauf haben, dass das »philosophische Fragen und Suchen […] nicht in unverbindlicher Schwebe belassen wird«, dass aber gleichberechtigt daneben der Anspruch stehe, »dass es irgendwie doch auch Halt und Antwort findet«; und er fährt fort: »Dieser Anspruch wird erfüllt durch die Lektüre philosophischer Texte.« 16 Textarbeit und Selbstdenken halten nach Derbolav die Schüler und Schülerinnen auf der Ebene philosophischer Aporetik. (IV) Bevor die Schülerinnen und Schüler mit einem Text konfrontiert werden, muss sichergestellt sein, dass ihr Fragehorizont eine Erschließung der Begriffsstrukturen des Textes zulässt. Der Schwierigkeitsgrad eines Textes bemisst sich aber nicht nur an dem explizit entfalteten Problem, sondern ebenfalls am Voraussetzungsbestand eines Textes, also z. B. an dem, was eine Autorin oder ein Autor in ihrer bzw. seiner historischen (Dialog-)Situation als bekannt voraussetzen konnte. Je größer der Voraussetzungsbestand ist, desto umfangreicher werden die methodischen Einhilfen und Vorarbeiten sein müssen, um die im Text entfaltete Problematik in den Verstehenshorizont der Schülerinnen und Schüler zu rücken. Für die Ziele der Textinterpretation sei auf die Literatur verwiesen; für die weiteren Überlegungen schließe ich mich Engels an: »Mag es auch noch so schwierig sein, herauszufinden, was der Autor wirklich gemeint hat, so ist als Regulativ dieses Ziel unverzichtbar.« 17 Nicht vertieft werden soll auch die Problematik einer Unterscheidung philosophischer und nichtphilosophischer Texte.18 Im Folgenden soll der Schwerpunkt auf Verfahren der Texterschließung gelegt werden. Verfahren können als schematische Handlungsanweisungen verstanden werden; ähnlich versteht Rehfus den Sachverhalt, wenn er von »technischer Vorgehensweise bei der Textarbeit« 19 und von »Verfahren« 20 spricht. Es sei darauf hingewiesen, dass »Verfahren« für eine Lehrerin oder einen Lehrer einen größeren Begriffsumfang hat als für die Schülerinnen und Schüler. Die Vorlage eines Textes ohne jeden Impuls mag für Lehrende ein Verfahren sein, für die Schülerinnen und Schüler wird das so nicht gelten. Dagegen ist das Verfahren der Überschriftenbildung für Lehrende und Lernende gleichermaßen als Verfahren erkennbar;

15 16

17

18

19 20

Vgl. Martens, Ekkehard: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik, a.a.O., S. 140. Derbolav, Josef: »Selbstverständnis und Bildungssinn der Philosophie«, in: Derbolav, Josef (Hrsg.): Die Philosophie im Rahmen der Bildungsaufgabe des Gymnasiums, Quelle & Meyer, Heidelberg 1964, S. 7– 40: S. 31. Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2, S. 16 – 24: S. 16. Vgl. dazu auch Rehfus, Wulff D.: Didaktik der Philosophie, a.a.O., S. 187. Hengelbrock, Jürgen: »Methodenfragen des Philosophieunterrichts«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2, S. 2 – 15, S. 16. Rehfus, Wulff D.: Didaktik der Philosophie, a.a.O., S. 185. Ibid., S. 187.

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die Schülerinnen und Schüler lernen das Verfahren als Lerngegenstand. Die Beherrschung der unten in den Gruppen 1. und 2. zusammengefassten Verfahren ist daher sowohl Lerngegenstand als auch Lernziel. Allerdings ist die Beherrschung von Verfahren kein Selbstzweck. Textarbeit darf im Philosophieunterricht nicht reduziert werden auf eine »Technik des Lernens aus Texten« 21 ; sicher muss dies auch vermittelt werden, aber nicht nur. In der Schule darf sich das Einüben der Verfahren und deren Anwendung nicht zu einer rein schematischen Handlungsweise verselbstständigen, dies widerspräche den Zielen des Philosophieunterrichts. Freilich heißt dies nicht, dass diese Seite vollständig unterschlagen werden darf; wer gezielt ins Selbstdenken eingeübt wird, sollte die dazu notwendigen Verfahren an Gegenständen (z. B. Texten) lernen, die potentiell Bildungsprozesse zu initiieren vermögen. Die Anwendung der Verfahren muss immer mit Blick auf die Ziele des Philosophieunterrichts gesehen werden [vgl. (1.)]: Der Einsatz der Verfahren muss dem Erreichen der Ziele förderlich sein. Die Textauswahl selbst soll sicherstellen, dass nicht allein durch die unterschiedlichen methodischen Inszenierungen der Lehrenden Sachverhalte erschlossen werden, vielmehr muss der Textinhalt selbst ein emanzipatives Potential enthalten22, um damit das Ziel des Unterrichts zu stützen, die Schülerinnen und Schüler von der Anleitung der Lehrerin bzw. des Lehrers zu befreien. Im Folgenden sollen die Verfahren der Texterschließung genauer beleuchtet werden. Um die Verfahren in Anlehnung an die Ziele des Philosophieunterrichts zu gliedern, sei grob zwischen drei Arten von Verfahren der Texterschließung unterschieden:

2.1 Verfahren mit enger Lehrersteuerung Dies sind Verfahren, die eine Texterschließung unter klarer Anleitung des Lehrenden vorsehen und die mit Hilfe eng am Text orientierter Sachfragen die Probleme erschließen; sie rücken damit die Sachverhalte gleich in eine Frageperspektive, die nicht die der Schülerinnen und Schüler sein muss. Derartige Verfahren tendieren zur Stofferarbeitung, die Schülerinnen und Schüler bleiben weitgehend unselbstständig rezeptiv, die Lehrerin oder der Lehrer kennt die »richtige« Antwort und kann z. B. ein Tafelbild vorbereiten.

2.2 Eigenständig handhabbare Verfahren Darunter sind Verfahren zu verstehen, die zum Arbeiten mit vorgegebenen Handlungsschemata anleiten. Diese schematischen Verfahren konfrontieren die Schülerinnen und Schüler nicht mit einem konkreten Arbeitsauftrag für einen bestimmten Text, 21

22

Aebli, Hans: Zwölf Grundformen des Lehrens: Eine Allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage, Klett-Cotta, Stuttgart 1983, S. 115. Vgl. Kreft, Jürgen: Grundprobleme der Literaturdidaktik. UTB 714, Quelle & Meyer, Heidelberg 1977, S. 322.

Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht

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sondern wollen eine methodische Hilfe zur selbständigen Erarbeitung von Texten im Allgemeinen bieten. Demnach sind eigenständig handhabbare Verfahren zwar technische Verfahren, aber mit der Tendenz zur Einübung von Selbständigkeit im Umgang mit Texten. Die Ergebnisse können nicht in gleicher Weise inhaltlich von der Lehrerin bzw. vom Lehrer antizipiert werden wie beim Verfahren mit enger Lehrersteuerung, es ist nur eine Antizipation der strukturellen Grundmuster möglich.

2.3 Selbstständiges Arbeiten Unter diesem Stichwort werden Verfahren zusammengefasst, die an allen Lernorten anwendbar sind; Texterschließung wird dabei verstanden als Übersetzung und Rekonstruktion des Argumentationsganges. Im Rahmen der Schule sollte als methodisches Verfahren das schriftliche Arbeiten dominieren. Damit werden den Lernenden eigenständige Erschließungsmöglichkeiten belassen, so dass diese Schwerpunkte ihrer Rezeption selbst setzen und begründen müssen. Dieses Verfahren ist nicht mehr bloß textorientiert oder an der Vermittlung schematisch-technischer Verfahren ausgerichtet, sondern fordert zur aktiven Aneignung auf und tendiert damit stärker zur Einleitung von Selbstdenken und Selbstreflexion als die oben genannten Verfahren. Diese Möglichkeit der Texterschließung ist nur aus der Sicht der Lehrenden ein Verfahren, aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler liegt kein Verfahren im Sinne einer schematischen Handlungsanweisung vor, weil ihnen der methodische Zugang zum Text nicht vorgegeben ist. Die nachstehende Zuordnung von Verfahren stellt den Versuch dar, die Ziele des Philosophieunterrichts und die Arbeit mit den Texterschließungsverfahren derart zu verbinden, dass das Einüben von Verfahren auch eine methodisch gezielte Eröffnung ständig größerer Freiräume des Denkens ermöglichen und befördern soll. Folgende Reihenfolge mit steigender Tendenz zur Selbständigkeit ist denkbar: Verfahren mit enger Lehrersteuerung 1. Satz-für-Satz-Lektüre 2. Leitfragen 3. Arbeitsblätter Eigenständig handhabbare Verfahren 1. Erkennen von Hauptbegriffen 2. Überschriftenbildung 3. Kennzeichen der Sprechakte (Unterstreichungsverfahren) 4. Strukturskizzen/Schaubilder 5. Analyseschemata zur Bestimmung des Argumentationsganges Selbständiges Arbeiten 1. Exzerpt/Konzept 2. Inhaltsangabe als Rekonstruktion

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 3. Verfahren mit enger Lehrersteuerung 3.1 Satz-für-Satz-Lektüre Diese Art der Textaneignung fordert eine genaue Lektüre und ein präzises Nachdenken jedes einzelnen Argumentationsschrittes, das einige Zeit in Anspruch nimmt. Bei der aus dem (alt)sprachlichen Unterricht übernommenen Methode ergibt sich das Problem, wie übergreifende Zusammenhänge erarbeitet werden können, denn die Schülerinnen und Schüler prüfen in der Regel nur die Einzelschritte, ohne aus der Distanz eine Beurteilung aus einer anderen Perspektive zu versuchen. Dabei besteht die Gefahr, dass nur noch die Lehrerin oder der Lehrer die Kraft aufbringt, die erarbeiteten Einzelstrukturen der Sätze in eine Gesamtstruktur des Textes zu integrieren und dabei den Stellenwert der einzelnen Aussagen zu gewichten. Dem Selbstdenken der Schülerinnen und Schüler muss innerhalb dieses Verfahrens gezielt Raum geschaffen werden. Punktuell ist der Einsatz dieser Methode wohl unerlässlich, um zu zeigen, welcher Grad an denkerischer Klarheit erreicht werden kann. Ein vorbereitetes interpretierendes Vorlesen durch eine Schülerin oder einen Schüler oder die Lehrerin bzw. den Lehrer kann eine gute Hilfe sein, das Verständnis von Texten indirekt zu erschließen.

3.2 Leitfragen Die von der Lehrerin oder vom Lehrer gestellte Leitfrage gibt den Schülerinnen und Schülern im Gegensatz zum Impuls eine klare Denkrichtung vor. Leitfragen fordern weniger dazu auf, eigene Strukturen zu aktivieren, sondern sind aus Lehrersicht eine Hilfe, eine begrenzte Anzahl von Sachverhalten schnell aus einem Text zu erarbeiten. Andere im Text enthaltene Probleme werden bei der durch Leitfragen erzielten Aspektierung bewusst ausgeklammert. Bei der durch dieses Verfahren erzielten didaktischen Reduzierung gerät zunächst weniger in den Blick, ob auch die Schülerinnen und Schüler die durch die Leitfragen akzentuierten Probleme für die wichtigsten im Text angesprochenen halten. Die durch Leitfragen erarbeiteten Klärungsvorschläge können sinnvoll und ökonomisch weitere Unterrichtsphasen beleben, insofern Leitfragen zentrieren und das Feld der Debatte klar umreißen. Dies ist auch deshalb notwendig, weil erst die Begriffsbildung und die auf ihr aufbauende Problemstellung geklärt sein muss23, bevor man die Lösungsvorschläge einer Autorin oder eines Autors bedenkt.

23

Hengelbrock, »Methodenfragen des Philosophieunterrichts«, a.a.O., S. 10.

Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht

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3.3 Arbeitsblätter Arbeitsblätter knüpfen in ihrer Intention an die didaktische Grundfigur der Leitfrage an; sie verbinden von der Lehrerin bzw. vom Lehrer formulierte, z. B. protokollartige Zusammenfassungen, Leitfragen, Schemata (z. B. Begriffsbäume), Tabellen usw. mit Aufforderungen, ein Problem in einem vorgegebenen Abschnitt mit eigenen Worten in einem Satz zu formulieren und Erarbeitetes untereinander in Beziehung zu setzen. Das Konzept, das die Schüler praktisch auf eine Denk-»Schiene« setzt, ist zielorientiert (im Sinne der Texterarbeitung), allerdings auch frei von überraschenden Denkinitiativen der Schüler. Eine Überwindung der reinen Stoffaneignung und Einleitung von Selbstdenken sollte angestrebt werden.

 4. Eigenständig handhabbare Verfahren 4.1 Erkennen von Hauptbegriffen Die Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler wird erhöht, wenn man z. B. nicht durch eine Kette von Leitfragen einen Text erschließt, sondern die Hauptbegriffe benennen lässt.24 Dabei gewinnen die Schülerinnen und Schüler innerhalb der Grenzen des Textbestandes einen Freiraum, eigene Akzente zu setzen. Ein Vergleich der unterschiedlichen Lösungsvorschläge kann in eine lebhafte Debatte münden, wenn man die in der Regel abweichenden Vorschläge an der Tafel notiert und anschließend die Begründungen für die Entscheidungen erörtert. Dann geht es nämlich um eigene Denkschemata.25

4.2 Überschriftenbildung Einen Text in größere Sinnabschnitte zu gliedern und dazu Überschriften zu formulieren, verlangt ein weitgehend selbständigeres Arbeiten als die bisher angesprochenen Verfahren. Rehfus trägt gegen diese Art der Aufgabenstellung ein plausibel klingendes Argument vor: »Solches Vorgehen setzt voraus, dass der Schüler das, was er lernen soll, schon gelernt hat: weil nur dann Überschriften gebildet werden können, wenn der Inhalt schon verstanden ist.« 26 Er benennt dann Art und Ebene seines Einwandes, indem er fortfährt: »Nun mag der Zirkel zwar ein hermeneutischer sein. Nur: [D]ie Aufgabenstellung der Überschriftenbildung ist eine Vertuschung (und kein methodischer Schritt) der eigentlichen Aufgabe.« Es fragt sich, ob dieser methodologische Hinweis in der Schule die Bedeutung erlangen darf, die Rehfus ihm beimisst. 24 25

26

Vgl. Rehfus, Wulff D.: Didaktik der Philosophie, a.a.O., S. 187: »wichtige Begriffe«. Vgl. Dahms, Günter: Nachdenken im Unterricht. Fragemethode und Anleitung zum argumentierenden Gespräch, Scriptor Ratgeber Schule, Scriptor Verlag, Königstein/Taunus 1979, S. 98. Rehfus, Wulff D.: Didaktik der Philosophie, a.a.O., S. 187.

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In der Schule geht es weniger um die methodische Reinheit des hermeneutischen Zirkels, sondern auf unterrichtspraktisch-motivationaler Ebene zunächst darum, über die Aufgabenstellung die Schülerinnen und Schüler in ein Gespräch mit dem Text zu verstricken und ihnen eine Zugangsmöglichkeit zu verschaffen. Nicht die Sachlogik dominiert im Unterrichtsgespräch wie Rehfus selbst erkennt, sondern die Fragelogik der Schülerinnen und Schüler. Bestimmte nämlich die Sachlogik die Fragelogik, so bestünde gleich zu Beginn die Gefahr, dass nicht mehr die Schülerinnen und Schüler Zielpunkt der Handlungen sind, sondern der zu erarbeitende Text. Auf dieser Ebene ist gegen den methodologischen Einwand Rehfus’mit Dahms auf » die didaktische Chance der Falschantwort« 27 hinzuweisen. Ein Schüler, »der sich damit abrackert« 28, Überschriften zu formulieren, macht nämlich genau das, was angestrebt wird: Er formuliert Behauptungen über den Text und prüft die Tragfähigkeit seiner Begründungen.29 Wird der Schüler von anderen auf Widersprüche hingewiesen, hat er ein Interesse daran, seine Thesen zu verteidigen, und er wird im Text nach weiteren Hilfen suchen. So kann ihm in der praktischen Argumentation die Bedeutung der Hermeneutik verdeutlicht werden. Der Akzent liegt weniger auf der »Sache« als auf den kognitiven Schemata30 der Schülersubjekte, und es gilt, mit den Heranwachsenden in eine argumentative Debatte um diese Schemata einzutreten. Insofern heißt der Ausgang von Schülerinnen und Schülern nicht, dass die Sache verfälscht wird und dass damit eine »didaktische Rücksichtnahme« 31 vorliegt, sondern es werden bewusst auch Irrwege akzeptiert, um den Schülerinnen und Schülern die Chance zu lassen, aus ihren Irrtümern lernen zu können.

4.3 Kennzeichnen der Sprechakte Dieses Verfahren kann an dieser Stelle nicht in ganzer Breite erörtert werden, dazu sei auf den aufschlussreichen Aufsatz von Engels verwiesen.32 Grundsätzlich geht es darum, dass erst auf der Basis einer Analyse der Sprechakte (also z. B. Behauptungen, Aufforderungen, Fragen) eine angemessene und überprüfbare Interpretation entworfen werden kann.

27

28 29

30 31

32

Dahms, Günter: Nachdenken im Unterricht. Fragemethode und Anleitung zum argumentierenden Gespräch, a.a.O., S. 69. Rehfus, Wulff D.: Didaktik der Philosophie, a.a.O., S. 187. Dahms, Günter: Nachdenken im Unterricht. Fragemethode und Anleitung zum argumentierenden Gespräch, a.a.O., S. 98. Vgl. Joerger, Konrad: Lernprozesse bei Schülern, Klett Verlag, Stuttgart 1975, S. 30. Kambartel, Friedrich: »Thesen zur ›didaktischen Rücksichtnahme‹«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 1, 1979, Heft 1: Philosophie in Schule und Hochschule, S. 15 – 17. Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht«, a.a.O., besonders S. 17– 19.

Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht

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4.4 Strukturskizzen/Schaubilder Zur Begriffsbestimmung und Unterscheidung von Strukturskizze und Schaubild sei auf den Beitrag Krauses verwiesen. Er versteht die Strukturskizze als »Mittel der Texterarbeitung« 33 ; sie verdeutlicht die durch die Begriffe des Textes entfalteten Strukturen des Gedankenganges. Das Schaubild überschreitet nach Krauses Vorschlag die Ebene des einzelnen Textes und »gibt durch seine Veranschaulichung das Ergebnis größerer philosophischer Zusammenhänge wieder, ohne sich auf bestimmte philosophische Texte zu beziehen«.34 Die Arbeit mit diesem Hilfsmittel dominiert in einer Reihe von Büchern.35 Klar herausgestellt wird dieses Verfahren auch in den von Ossner, Rumpf und Vahland herausgegebenen Bänden Materialien für den Philosophieunterricht in der Sekundarstufe II.36 Eine knappe Begründung für die Arbeit mit von den Herausgebern »Strukturbilder« genannten Skizzen findet sich schon im ersten Lehrerband zu Philosophiekurs Ethik.37 Paradigmatisch für die Kritik an diesen Verfahren ist eine Rezension der Reihe durch Liesmann, der darauf hinweist, dass diese Verfahren zwar »den Unterrichtserfordernissen, d. h. den Bedürfnissen der beteiligten Schüler (und Lehrer)« entgegenkommen, es widerspreche »jedoch dem Prinzip der Philosophie selbst, das den Gedanken als etwa Lebendiges erfasst, das sich seinem Begriffe nach jeder Schematisierung entzieht«.38 Maßstab für die didaktische Entscheidung ist aber nicht »das Prinzip der Philosophie« (Gefahr der Instrumentalisierung)39, sondern die »Bedürfnisse der Schüler« (Texte als Helfer und Förderer)40, wenn auch nicht deren diffus aktuelle Vorstellungen41, sondern deren authentisches Bedürfnis nach Subjektentwicklung. Der Gegenstand in der Schule muss so gewählt werden, dass die noch nicht hinreichend ins Selbstdenken eingeübten Schülerinnen und Schüler mit Hilfe von Verfahren Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, gleichzeitig aber auch dem Selbstdenken Raum gegeben wird, und zwar dann durchaus in der Weise, dass dem »Prinzip der Philosophie« entsprechend gehandelt wird. Diese Chance, möglichst viele Schüler anzusprechen, bietet die Arbeit mit Strukturskizzen: Ob als Hausaufgabe oder im Unterricht – jede Schülerin und jeder Schüler kann eine Skizze anfertigen. Die Lehrerin oder der Lehrer lässt zwei divergierende Vorschläge an der Tafel festhalten, so dass das Tafelbild allein ohne jede Leitfrage 33

34 35

36

37

38

39 40 41

Krause, Joachim: »Anschaulichkeit und Motivation mit Unterrichtsbeispielen zu Kant und Hegel«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 3, 1981, Heft 1: Medien im Philosophieunterricht, S. 37– 45: S. 38. Ibid., S. 41. Vgl. Schulte, Günter: Das Auge der Urania. Bilder und Gedanken zur Einführung in die Erkenntnistheorie, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1975. Ossner, Jakob; Rumpf, Michael; Vahland, Joachim: Philosophiekurs Ethik. Materialien für den Philosophieunterricht in der Sekundarstufe II, Quelle & Meyer, Heidelberg/Wiesbaden 1980. Ossner, Jakob; Rumpf, Michael; Vahland, Joachim: Philosophiekurs Ethik. Materialien für den Philosophieunterricht in der Sekundarstufe II. Lehrerband, Quelle & Meyer, Heidelberg – Wiesbaden 1980, S. 10. Liessmann, Konrad: »Zu Ossner/Rumpf/Vahland.«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 3, 1981, Heft 3: Ethik II, S. 181– 182: S. 181. Vgl. Martens, Ekkehard: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik, a.a.O., S. 114. Ibid., S. 121. Ibid., S. 128.

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einen »kognitiven Konflikt« 42 darstellt, der Impuls genug ist, um die Schülerinnen und Schüler für eine argumentative Debatte zu stimulieren.

4.5 Analyseschemata zur Bestimmung des Argumentationsganges Dieses Verfahren variiert und vertieft im Prinzip nur das Kennzeichen der Sprechakte. Es enthält ein Raster, das bestimmte Aspekte eines Textes hervorhebt43 und erfordert daher wenig eigenes Methodenbewusstsein: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Zu welchem Thema (Problem) wird innerhalb welchen Verfahrens (Methode), das mit welchen Argumenten begründet wird, welche Frage gestellt – und – wie wird das Aufwerfen der Frage begründet/ bestritten, welche Frage wird stattdessen mit Gründen zugelassen, welche Thesen werden als Antwort auf die Fragen diskutiert und mit welchen Argumenten wird die Gültigkeit einer Antwort bestritten/bestätigt?

In der Unterrichtspraxis zeigt sich häufig, dass das Schema nicht so einfach umgesetzt werden kann. Denn schon hinsichtlich des Themas ist es für Schülerinnen und Schüler nicht immer möglich, Ausdifferenzierungen, Rückgriffe oder selbst formulierte Einwände des Autors zu erkennen und dann richtig in den Gesamtzusammenhang einzuordnen. Schwierig ist auch die Frage nach den verwendeten Methoden. Werden die Schüler langsam an dieses Verfahren herangeführt und erleben angesichts der Komplexität nicht nur Fehlschläge, kann es angebracht sein, einen größeren Textabschnitt in einem ersten Zugriff zu strukturieren und bei einem Vergleich mit anderen Texten eine begründete Einordnung zu ermöglichen.

 5. Selbständiges Arbeiten Der Begriff »Inhaltsangabe« erinnert an den Deutschunterricht. Übertragen auf den Philosophieunterricht kann als Ziel der Inhaltsangabe eine schriftliche Rekonstruktion der Argumentation des Textes verstanden werden. Zur Verdeutlichung mag es hilfreich sein, bei der Deutschdidaktik nachzufragen. Dahms hält sie mit Storz für eine »Übung im Denken« 44 und Frommer betont die »Leistung des Ordnens« und »Zuordnens« 45. 42 43

44

45

Joerger, Konrad: Lernprozesse bei Schülern, a.a.O., S. 46. vgl. auch Martens, Ekkehard: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik, a.a.O., S. 146f.; umfangreicher bei Rehfus, Wulff D.: Didaktik der Philosophie, a.a.O., S.188ff. Dahms, Günter: »Von der Nacherzählung zur Inhaltsangabe«, in: Die Pädagogische Provinz 21, 1967, S. 513 – 528: S. 520. Frommer, Harald: »Die Fesseln des Odysseus. Anmerkungen zu den Stilnormen der Inhaltsangabe«, in: Der Deutschunterricht 36, 1984, S. 37– 45: S. 40.

Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht

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Das ist nur möglich, wenn der Textbestand gesichtet und verfügbar gemacht wird. Damit sind die Ziele benannt; es bleibt die Frage, wie dies geschehen soll. Die Antwort lautet: Schreibend sollen die Schülerinnen und Schüler den Gedankengang des Textes mit eigenen Worten nachzeichnen, und diese schreibende Darstellung ist als Aneignung und Verwandlung fremder Gedanken nicht ohne Selbstdenken möglich. Es ist in diesem Zusammenhang nicht leistbar, Ausführliches über die kognitive Leistung des Schreibens darzulegen, dazu sei auf das Buch von Fritzsche verwiesen: Wichtig für den Komplex von Texterarbeitung, Selbstdenken und Interpretation ist sein Verständnis von Schreiben in der Funktion des Lernmediums.46 Schreiben in der Funktion des Lernmediums verfolgt nicht das Ziel, die Schülerinnen und Schüler um des Produktes willen schreiben zu lassen. Schreiben dient in dieser Funktion nicht nur der Aneignung eines speziellen Textes, sondern es geht darüber hinaus »um Akzentuierung und Nutzung der Möglichkeiten des Schreibens zur Entwicklung des Bewusstseins. Dabei ist Schreiben normativ zu verstehen, d. h., es ist auf Entwicklung von Bewusstsein hin angelegt.« 47 Die dadurch erzielte »Horizonteröffnung« 48 als erfolgreiche Verknüpfung eigener und fremder Denkstrukturen kann nur durch eigenes Denken geleistet werden. Das Schreibprodukt spiegelt dann den Prozess und das Resultat des Denkvorganges.

 Schlussbemerkungen In der Literatur zeigen sich die oben aufgeführten Punkte in unterschiedlicher Akzentuierung. Der umfangreiche Aufsatz Gatzmeiers soll nur kurz angesprochen werden. Er schlägt vor, Textinterpretation als Übersetzungsbemühung zu verstehen; dabei werden Sinneinheiten von einer fremden Sprache in die des Interpreten übersetzt. Diese »Übersetzungshandlungen« 49 können als »Behauptungen über das Verstehen des Textes einerseits und die Prüfung des Textes andererseits unterschieden werden«.50 Das Verfahren endet in einer »rationalen« oder in einer »systematisch-kritischen Rekonstruktion«.51 Der Vorschlag Gatzemeiers ist in ganzer Breite nicht im Lernort Schule durchzuführen, das gilt besonders für die »systematisch-kritische Rekonstruktion«. Dem Versuch Bremerichs, einen ähnlichen methodischen Ansatz gezielt auf die Schule zu übertragen, muss meines Erachtens mit Vorbehalten begegnet werden. Bremerich überlegt, wie in der Schule ein »systematisches Ver46

47 48 49

50 51

Fritzsche, Joachim: Aufsatzdidaktik. Kritische und systematische Untersuchungen zu den Funktionen schriftlicher Texte von Schülern, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1980, S. 22 und besonders S. 100 – 101. Ibid., S. 108. Ibid., S. 101. Gatzemeier, Matthias: »Methodische Schritte einer Textinterpretation in philosophischer Absicht«, in: Kambartel, Friedrich; Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1973. S. 281– 317: S. 301. Ibid. Ibid., S. 310.

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ständnis« des Textes gesichert werden kann, und stellt fest: »Wer einen Text in systematischer Absicht liest, verfolgt den Zweck, für das eigene Denken, das eigene Begriffssystem etwas zu lernen, was für sein zukünftiges Handeln wissenswert ist«.52 Zu fragen ist, was Bremerich unter »systematisch« versteht und ob ein Schüler in »systematischer Absicht« liest und nicht vielmehr zufällig tastende Versuche unternimmt, sich in der Welt zu orientieren. Gewiss kann man Schülerinnen und Schülern nicht grundsätzlich unterstellen, sie läsen nicht in systematischer Absicht – dies tun sie auch –, aber eben nicht schwerpunktmäßig. Bremerich verlagert bei seiner Betrachtungsweise das Hauptaugenmerk von der Orientierung des Subjekts (Text als Helfer und Förderer) hin zur systematischen Erforschung der Sache. Die Bedenken dagegen wurden oben formuliert. Hingewiesen sei noch auf Rodis Unterscheidung zwischen Exzerpt und Konzept53, wobei das Exzerpt darauf abzielt, den Text zu erfassen, und das Konzept darauf, ein Referat über den erfassten Text vorzubereiten. Der Aufsatz Rodis enthält dazu gute Hinweise. Die schriftliche Inhaltsangabe verbindet die Rekonstruktion eines Textes mit dem Anknüpfen an eigene Denkstrukturen und verbindet damit gleichberechtigt Rezeption und Produktion.54 Diese Aufgabe fördert somit das Einüben in das Denken. Hilfreich ist es, die Schülerinnen und Schüler ihre Hefte austauschen zu lassen, um eine Stellungnahme zur Inhaltsangabe einer Mitschülerin bzw. eines Mitschülers zu verfassen. Dieses schriftliche Austauschverfahren verhilft Seiten dazu, sich ihre Auffassung eingehender als in einer monologischen Auseinandersetzung zu verdeutlichen, und kann ein Gespräch eröffnen, das die schriftlich fixierten Behauptungen vertieft und erweitert. Beim Schreiben ihrer Interpretation kennen die Schülerinnen und Schüler zwar nicht den konkreten Adressaten, wissen aber genau, dass eine Mitschülerin oder ein Mitschüler ihren Text lesen wird, und können deren bzw. dessen Vorkenntnisse einschätzen. Sie werden daher motiviert sein, klar und präzise zu argumentieren. Ein ähnlicher Vorteil ergibt sich beim Schreiben der Stellungnahme. Jede Schülerin bzw. jeder Schüler hat schon einiges zur Problematik ausformuliert und hat sich damit ihre bzw. seine Position verdeutlicht. Während mündliche Beiträge nicht in gleicher Weise wie schriftliche Bestand haben55, kann die Aufgabe, eine schriftliche Stellungnahme abzugeben, auf eine schon strukturierte Ausgangsbasis zurückgreifen. Diese Basis kann durch den Text der Mitschülerin oder des Mitschülers in 52

53

54

55

Bremerich, Albert: »Kritische Hermeneutik und Philosophiedidaktik«, in: Aufgaben und Wege des Philosophieunterrichts, N.F., Heft 12, 1979. S. 48 – 64: S. 52 – 53. Rodi, Frithjof: »Übungen zum gedanklichen Umsetzen von Texten«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2, S. 25 – 41: S. 25 – 28. Vgl. dagegen mit anderer Akzentuierung Loeck, Gisela: »Bemerkungen zur Didaktik der Barfußphilosophie«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 5, 1983, Heft 1: Philosophiedidaktische Kontroversen, S. 16 – 24. Vgl. Fritzsche, Joachim: Aufsatzdidaktik. Kritische und systematische Untersuchungen zu den Funktionen schriftlicher Texte von Schülern, a.a.O., S. 104.

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vielfältiger Weise ergänzt, bestritten usw. werden, so dass die Differenzen zur eigenen Position in eine argumentative Debatte münden und damit zum Selbstdenken anregen. Quelle: Langebeck, Klaus: Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 3 – 11.

Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht Helmut Engels

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ie im Philosophieunterricht bevorzugte Methode ist die Arbeit mit Texten. Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Schülerinnen und Schüler so am besten mit der Philosophie und dem Philosophieren vertraut gemacht werden. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit – möglich wäre es ja auch, dass die Lehrerin bzw. der Lehrer lediglich doziert oder dass im Unterricht nur diskutiert wird –, ferner die Konzentration auf die Sache, um die es in den Texten geht, lassen leicht übersehen, was die Schülerinnen und Schüler alles neben den wechselnden Inhalten in einem textbezogenen Unterricht lernen und welchen Punkten der Lehrende dabei besondere Aufmerksamkeit widmen sollte. Im Folgenden werden mehr thesenhaft als argumentativ die Voraussetzungen, Fragen, Kenntnisse, Verfahrensweisen und Einstellungen dargestellt, die für einen philosophischen Umgang mit Texten unerlässlich sind. Die Überlegungen sind bezogen auf die Praxis des Philosophieunterrichts.

 Philosophische Texte verstehen sich meist nicht von selbst, sie bedürfen der Auslegung Ziel der Interpretation ist der von einer Autorin bzw. einem Autor intendierte Sinn, das, was die Autorin bzw. der Autor in seinem Text ausdrücken will. Mag es noch so schwierig sein herauszufinden, was die Autorin bzw. der Autor wirklich gemeint hat, so ist als Regulativ dieses Ziel unverzichtbar, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht den Eindruck erhalten sollen, es komme bei der Interpretation nur darauf an, sich etwas Gescheites zu denken, ansonsten sei es in das subjektive Belieben des Einzelnen gestellt, was einer aus dem Text herausholt. Nur gelegentlich kann es angebracht sein, einen Textauszug in den Unterricht einzubringen, der zur Diskussion anregen soll, aber nicht im strengen Sinne interpretiert wird. Es sollen hier keineswegs andere Auffassungen vom Ziel der Interpretation ausgeschlossen werden, etwa die, dass es darauf ankommt, im Rahmen einer geschichtsphilosophischen Theorie eine über den Horizont der Autorin bzw. des Autors hinausgehende Bedeutung eines Textes zu erfassen, wie z. B. bei Hegel, Marx und Heidegger. Das durchaus anspruchsvolle Unterfangen, das Gemeinte herauszuarbeiten, hat jedoch als Elementarübung und als der Versuch, sich bei der Arbeit am Text von bestimmten philosophischen Theorien freizuhalten, Vorrang vor anderen Ansätzen, die die Interpretation im genannten Sinne letztlich voraussetzen.

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 Zu einer adäquaten Interpretation, die das vom Autor Gemeinte erfassen will, gehören Kenntnis und Anwendung des philologischen und des historischen hermeneutischen Zirkels Das Ganze ist von den Teilen und das Einzelne, die Teile, ist vom Ganzen her zu erschließen. Die Schülerinnen und Schüler lernen so zu erkennen, ob und an welcher Stelle eine Autorin oder ein Autor Begriffe in einer ungewöhnlichen Weise verwendet, sie lernen die Begriffe, Metaphern und Bilder vom Kontext her zu bestimmen sowie den Sinn zunächst unverständlicher Sätze und die Funktion einzelner Abschnitte vom Zusammenhang her zu deuten. Wenn die Schülerinnen und Schüler noch nicht so weit sind, dass ihnen das Lesen eines ganzen Textes aufgetragen werden kann, und der Text daher abschnittweise interpretiert wird, dann müsste erst recht darauf hingewiesen werden, dass eigentlich die Kenntnis des Ganzen bei der Interpretation vorauszusetzen ist. Lehrende können in einem solchen Fall – um diese Notwendigkeit zu unterstreichen – Vorinformationen geben, die zur Klärung einer Textstelle beitragen, oder sie machen deutlich, dass bei dem entsprechenden Stand der Lektüre die eine oder andere Frage noch nicht beantwortet werden kann. Eine adäquate Interpretation setzt weiter voraus, dass sich eine Interpretin oder ein Interpret des eigenen Vorverständnisses hinsichtlich der Sache, um die es im Text geht, und hinsichtlich der Begrifflichkeit, die für den Text kennzeichnend ist, bewusst ist. Dies mag vorschnelle Entscheidungen verhindern, obwohl es keine Garantie dafür bietet, dass der Horizont, aus dem der Text entstanden ist, erreicht wird.

 Neben der Klärung des Inhalts eines Textes ist die Bestimmung der mit den sprachlichen Äußerungen vollzogenen Sprechakte eine wichtige Interpretationsleistung Um einen Text zu verstehen, genügt es nicht, zu erfassen, was geäußert wird, es muss auch erkannt werden, welche Rolle das Geäußerte spielt oder was der Sprechende tut, indem er etwas äußert. Der Satz »Es ist für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit zu befreien.« ist zunächst einmal eine sprachliche Äußerung mit dem Inhalt, dass es für jeden einzelnen Menschen schwer ist, sich zu befreien. Zugleich kann diese Äußerung auch als eine Schlussfolgerung angesehen werden oder als Behauptung, als These, als Klage, als Aufforderung, als Erklärung, als Beispiel, als Entschuldigung, als Warnung usw. Die Handlung, die vollzogen wird, indem etwas geäußert wird, die im Sprechen verwirklicht wird, wird bezeichnet als illokutionärer Sprechakt oder kurz als Illokution. Welche illokutionäre Rolle eine Äußerung spielt oder welcher illokutionäre Sprechakt vorliegt, kann an Indikatoren erkannt werden. Solche Verwendungsindikatoren sind z. B. die Wortordnung, der Modus des Verbs, bestimmte Adverbien und Konjunktionen. Häufig lässt sich die Illokution nur vom Kontext her bestimmen, wie dies bei dem zitierten Satz der Fall ist, dessen Rolle unbestimmbar bleibt, solange nicht der Kontext bekannt ist. In den wenigsten Fällen wird ausdrücklich durch bestimmte Verben oder Verbalsubstantive deutlich gemacht, wie

Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht

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eine Äußerung zu verstehen ist, zum Beispiel: »Ich vermute, dass … ; ich behaupte, dass … ; die Folgerung lautet … ; die Frage ist, ob … .« Die Bestimmung der illokutionären Sprechakte ist aus mehreren Gründen für das Verstehen eines Textes unerlässlich. Sie macht deutlich, wie die Autorin bzw. der Autor zu dem Geäußerten steht, in welchem Sinne sie bzw. er es verwendet, kurz: wie er oder sie es meint. Außerdem lässt sich anhand der Reihenfolge und der Beziehung der Illokutionen untereinander der Aufbau eines Textes, seine Struktur und seine Gedankenbewegung ablesen. Deutlich wird, was alles in philosophischen Texten »geschieht«: Es wird argumentiert, es wird phänomenologisch beschrieben, es werden Begriffe und Begriffssysteme entfaltet, es werden Sachverhalte analysiert, es wird gefordert und gemahnt. Möglich ist es, dass Texte unterschiedlichen Inhalts die gleiche Sprechstruktur aufweisen, so etwa bei Texten der Scholastik, die einem vorgegebenen Schema folgen. Neben der Struktur wird auch die Qualität des Textes sichtbar, da die Bevorzugung bzw. Vernachlässigung bestimmter Sprechakte über den Charakter eines Textes Auskunft gibt. So könnte man einen Text, in dem überwiegend argumentiert wird, höher einschätzen als einen solchen, in dem zwar Behauptungen aufgestellt werden, diese aber nicht argumentativ eingelöst werden. Obwohl gewöhnlich – auch in der einschlägigen Literatur – nur einzelne Sätze hinsichtlich ihrer Illokution befragt werden, ist es durchaus konsequent, auch Satzgruppen, Textabschnitte, ja ganze Kapitel auf ihre illokutionäre Bedeutung hin zu untersuchen. Es dürfte kaum zu empfehlen sein, bei einem umfangreichen Text Satz für Satz zu bestimmen, vielmehr wird es darauf ankommen, die wesentlichen, vor allem die satzübergreifenden Sprechakte zu benennen. Damit die Schülerinnen und Schüler lernen, die jeweiligen Sprechakte zu bestimmen, empfiehlt es sich, ihnen als »Sehhilfe« eine Zusammenstellung der wichtigsten, für philosophische Texte in Frage kommenden Verben zu geben, die die Illokutionen benennen. Da ist zunächst die Gruppe der Verben, die für eine Gesprächssituation kennzeichnend sind: – sagen, behaupten, feststellen, eine These aufstellen, fragen, hinterfragen, antworten, entgegnen, widersprechen, einwenden, verneinen, widerlegen, bestreiten, bezweifeln, ablehnen, bejahen, zustimmen, zugeben usw. Die zweite Gruppe, die sich nur unscharf von der ersten trennen lässt, enthält Verben, die Beziehungen innerhalb eines Textes oder zu anderen Texten bezeichnen: – zitieren, wiedergeben, belegen, verweisen, referieren, paraphrasieren, erläutern, erklären, interpretieren, wiederholen, zusammenfassen, präzisieren usw. Die dritte Gruppe benennt Operationen, die typisch für wissenschaftliche Texte sind: – definieren, bezeichnen, benennen, neben-, unter-, überordnen, spezifizieren, abstrahieren, generalisieren, konkretisieren, exemplifizieren, vergleichen, analysieren, schließen, folgern, ableiten, begründen, beweisen, rechtfertigen, argumentieren, beurteilen, verifizieren. falsifizieren usw. Eine Bestimmung von Sprechakten kann im Unterricht auch ohne die Entfaltung einer bestimmten Sprechakttheorie durchgeführt werden, es genügt, wenn den Schülerin-

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nen und Schülern am Phänomen selbst, also am Text, Bedeutung und Vielfalt sprachlichen Handelns vor Augen geführt wird.

 Eine Interpretation umfasst mehr als nur die Klärung des Inhalts des Textes und der Rolle, die die Äußerungen spielen Der Text kann erst als verstanden gelten, wenn die häufig unausgesprochene Frage benannt ist, als deren Antwort der Text aufzufassen ist, bzw. wenn das unausgesprochene Problem erfasst ist, das der Text lösen soll. Da hier umfassende Kenntnisse, vor allem der Vorgeschichte des Textes nötig sind, können die Lernenden nur versuchsweise Antwort darauf geben, welche Frage- oder Problemstellung dem Text vorausgeht. Wenn es darauf ankommt, eine richtige Interpretation anzufertigen – hier eine solche, die den von einer Autorin bzw. von einem Autor beabsichtigten Textsinn erfasst –, und wenn die Richtigkeit eine begründete Richtigkeit sein soll, dann ist der Entwurf einer Interpretation einschließlich alternativer Auslegungsmöglichkeiten zu unterscheiden von der Überprüfung der Richtigkeit des Entwurfs. Diese Unterscheidung bedeutet nur bedingt ein Nacheinander. Denn in der Regel ist es keineswegs so, dass zuerst der Gesamtentwurf einer Textinterpretation hergestellt wird, der dann auf seine Gültigkeit überprüft wird; vielmehr ist die fortschreitende Interpretation so mit der Frage nach der Richtigkeit verbunden, dass sich die Interpretation aus einem ständigen Hin und Her zwischen Vermutung und Überprüfung entwickelt. Damit den Schülerinnen und Schülern deutlich wird, dass eine Interpretation nicht etwas Willkürliches, eine Sache bloßen Meinens ist, muss mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, ein möglichst umfangreiches Beweis- oder, milder ausgedrückt, Belegmaterial einzubeziehen, um ein begründetes Urteil über die Gültigkeit einer Interpretation fällen zu können. Zum textinternen Belegmaterial gehören Thema, Aufbau, Argumentationsweise, Gedankenführung, Vokabular, Stil usw. Oft genügt die immanente Betrachtung nicht, und man muss über den Text hinausgehen. Zu bedenken sind dann die Biographie des Autors, sein Bildungsgang, andere Werke der Autorin bzw. des Autors, Werke anderer Autorinnen und Autoren derselben Zeit zum selben oder zu einem verwandten Thema, Problemgeschichte, Wirkungsgeschichte, kultureller, politischer, wirtschaftlicher Hintergrund usw. Das Belegmaterial dient vor allem dazu, einen Vergleich zwischen dem zu interpretierenden Gegenstand – sei es ein Begriff, eine Metapher, ein Bild, ein Textabschnitt – und ähnlichen, schon bekannten Gegenständen zu ermöglichen. Denn das Unbekannte kann nur über Bekanntes und schon Erkanntes erschlossen werden. Im Zweifelsfall wird man der Interpretation den Vorzug geben, die die meisten Gesichtspunkte des Textes in ihrer Bedeutung für das Ganze erklärt, d. h., man wird das Kriterium der Stimmigkeit und Umfassendheit anwenden. Die Tatsache, dass bei der Bewertung der Gültigkeit einer Interpretation nur ein Urteil mit Wahrscheinlichkeitscharakter möglich ist, ohne abschließende Gewissheit, darf nicht dazu verführen, sich mit einer nur irgendwie plausiblen Interpretation zu

Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht

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begnügen. Ziel ist vielmehr die Interpretation, für die mehr spricht als für andere alternative Auslegungen. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit beinhaltet nicht, dass eine gültige Interpretation ausgeschlossen ist. Der Satz »Es gibt keine richtige Interpretation.« ist genauso dogmatisch wie die Behauptung, eine bestimmte Interpretation sei die schlechthin gültige. Eine Interpretin bzw. ein Interpret, also auch eine Schülerin oder ein Schüler, muss sich trotz möglicher Richtigkeit seiner Auslegung dessen bewusst sein, dass bei neuen Informationen die bisher wahrscheinlichste Interpretation hinfällig werden kann.

 Das Verstehen von Texten ist nur ein untergeordnetes Ziel des Philosophieunterrichts Das, was verstanden ist, soll erörtert und diskutiert werden und muss daher mündlich oder schriftlich formuliert werden. Die Formulierung richtet sich nach dem Verwendungszweck und nach der Adressatin oder dem Adressaten, also danach, ob der interpretierte Text lediglich als Gegenposition und Folie zu einem anderen Text dient oder ob er im Mittelpunkt einer Unterrichtsreihe steht, und sie richtet sich danach, welchen Kenntnisstand die Zuhörerinnen und Zuhörer bzw. Leserinnen und Leser haben. Es gibt hier eine Skala von Möglichkeiten: das Thesenpapier, die knappe Zusammenfassung als Precis, der fortlaufende Kommentar zum Text, die von den Prämissen ausgehende Rekonstruktion des Textes, die die Argumentationsstruktur verdeutlicht, die Paraphrase einschließlich der Bestimmung der Sprechakte, die Verdeutlichung anhand neuer Beispiele oder durch Hinweis auf das, was die Autorin bzw. der Autor nicht gemeint hat. Wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler sich einerseits der präzisen und knappen Fachsprache bedienen können, dass sie andererseits aber auch fähig sind, sich allgemeinverständlich – und damit umständlicher – auszudrücken. Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die sich intensiv mit einem Text befasst hat, muss sich der Erläuterungssprache bedienen, wenn sie die Resultate der Textarbeit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern vorträgt.

 Das von einem Philosophen Gemeinte nur zur Kenntnis nehmen, genügt nicht, die Interpretation ist nicht Selbstzweck Die Texte, die im Unterricht interpretiert werden, sind als Partner eines vernünftigen Gesprächs anzusehen, das geführt wird, weil es Fragen und Probleme gibt, seien sie nun erkenntnistheoretischer, ethischer oder metaphysischer Natur. Wenn Texte als Gesprächspartner aufgefasst werden, so beinhaltet dies ein Doppeltes: Sie sind weder eine Art Autorität, der man sich bedenkenlos anvertrauen kann – ›Weil es der Plato, der Kant, der Marx gesagt hat, wird es wohl stimmen!‹ –, noch werden sie betrachtet als nur ausgedachte Produkte, denen keine Verbindlichkeit zukommen kann. Sie werden vielmehr ernstgenommen in der Erwartung, dass sie Wichtiges zu sagen haben. Gerade

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dies schließt Kritik ein, die, auf Erkenntnis gerichtet, das Wahre vom Falschen, das Gültige vom Ungültigen trennt. Eine in diesem Sinne kritische Frage wird noch nicht erreicht, wenn nach den gesellschaftlichen und historischen Bedingungen eines Textes gefragt wird. Bei der Beantwortung einer solchen Frage mögen wichtige Beiträge für das Verständnis des Textes geleistet werden, aber die Genese eines Textes allein besagt noch nichts über seinen Wahrheitsgehalt. Ebenso wenig kann die ansonsten aufschlussreiche Frage nach der gesellschaftlichen Funktion und der Wirkung eines Textes die schlichte Frage ersetzen: »Stimmt das eigentlich, was da gesagt wird?« Diese Frage sollte bei keiner Philosophin und keinem Philosophen ausgeschlossen werden, und es ist nicht einzusehen, weshalb die Wahrheitsfrage bei zeitgenössischen Autorinnen und Autoren zugelassen, ansonsten aber verpönt sein sollte. Die Auffassung, Probleme und Fragen der Antike und des Mittelalters seien nicht mehr unsere Fragen, und es sei daher nicht sinnvoll, nach der Qualität der Antworten zu fragen, überzeugt nicht. Denn der Umgang mit tradierten Texten kann bei Leserinnen und Lesern Fragen wecken, die über das gerade Aktuelle hinausführen. Die Möglichkeit auszuschließen, dass die Frage, die eine Autorin ihren bzw. einen Autor seinen Text verfassen ließ, auch die Frage einer Leserin oder eines Lesers wird, bedeutet eine unzulässige Einengung. Wenn im Deutschunterricht philosophische Texte behandelt werden, so werden Aufbau, Gedankenführung, Wortschatz, Ausdrucksweise, Adressatenbezug und ähnliches untersucht. Im Geschichtsunterricht werden philosophische Texte im Rahmen einer Wirkungsgeschichte betrachtet. In beiden Fällen ist die Frage nach der Wahrheit nicht erforderlich. Notwendig ist die Wahrheitsfrage aber, wenn philosophische Texte genommen werden als das, was sie sind, nämlich Texte mit Aussagecharakter, Texte mit Geltungsanspruch. Sie werden in diesem Sinne nicht ernstgenommen, wenn sie nur als Spiegel einer Epoche oder als Glied einer Wirkungsgeschichte aufgefasst werden.

 Die kritische Frage nach der Wahrheit lässt sich differenzieren Abkürzend kann man die »innere« und die »äußere« Wahrheit unterscheiden. Wer nach der »inneren Wahrheit« fragt, untersucht, ob der Text in sich stimmt, ob er widerspruchsfrei und kohärent ist oder ob er Lücken und Fehler in der Argumentation enthält. Unzulässige Verallgemeinerung, Zirkelschluss, unvollständige Disjunktion, unbemerkte Äquivokation, petitio principii, metabasis eis allo genos, quaternio terminorum sind einige Fehler, die es aufzudecken gilt. Ohne ein solides logisches Instrumentarium, das vor oder während der Lektüre erarbeitet wird, lässt sich hier nur wenig ausrichten. Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der »äußeren Wahrheit«: Gefragt wird, ob die dargestellten Sachverhalte Tatsachen sind oder nicht, ob es das, was behauptet wird, irgendwie auch außerhalb des Textes gibt. Die Wahrheit einer philosophischen Theorie festzustellen ist angesichts der Eigenart der Gegenstände, von denen in der Philosophie gesprochen wird, und der Sachverhalte, über die Aussagen gemacht werden, schwieriger als in anderen Wissenschaften. »Einheit der transzendentalen Apperzeption«, »absoluter Geist«, »existenzial-ontologische Struktur

Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht

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des Todes«: Gibt es so etwas überhaupt? Wenn ja, wie existiert es, und ist das, was darüber gesagt wird, richtig? Welche Kriterien gibt es für die Überprüfung des Wahrheitsanspruchs einer philosophischen Theorie, außer dass man wieder auf andere Texte zurückgreift, deren Geltungsanspruch ebenfalls zu untersuchen wäre? Trotz der Schwierigkeiten muss die Frage nach der Wahrheit im Unterricht gestellt werden, soll den Schülerinnen und Schülern Philosophie nicht als bloße Begriffsdichtung oder als geistreiches Glasperlenspiel erscheinen. Sie sollen fragen dürfen: »Gibt es die Ideen so, wie Plato sie beschrieben hat?«, »Ist Kants kategorischer Imperativ wirklich allgemeingültig?«, »Ist die klassenlose Gesellschaft das objektive Ziel der Geschichte?« Werden solche Fragen als irrelevant oder als grundsätzlich nicht beantwortbar von Lehrenden beiseitegeschoben, verliert Philosophie jede Verbindlichkeit. Es kann freilich nicht darum gehen, fertige Antworten zu geben. Der Versuch einer Antwort kann nur verbunden sein mit der Erörterung von Wahrheitstheorien, die die Möglichkeiten und Grenzen der Überprüfung des Geltungsanspruchs einer Theorie verdeutlichen. In der Praxis begnügt man sich meist damit, zu zeigen, aufgrund welcher Prämissen einer Theorie Wahrheitsgehalt zukommt, man lässt dann jedoch die Frage, ob die Prämissen ihrerseits wahr sind, offen. Die Phase der Kritik erfordert für den Unterricht zwei Grundsätze: 1. Man sollte sich vergewissern, ob man den Text wirklich verstanden hat, bevor man ihn kritisiert. 2. Man sollte vor einer endgültigen Beurteilung möglichst viele Argumente ausfindig machen, die für die Thesen des Autors sprechen. Der erste Grundsatz ist trivial; dass dennoch der ständige Hinweis auf ihn nötig ist, weiß jeder, der Schülerinnen und Schüler unterrichtet, die zu einer vorschnellen Kritik neigen. Kritik mag noch so scharfsinnig sein, sie läuft ins Leere, wenn sie sich auf eine Sache richtet, die noch nicht verstanden ist. Der Grundsatz birgt jedoch eine Gefahr für den Unterricht: Falls Schülerinnen und Schüler erst dann Kritik üben dürfen, wenn ein Text ganz gelesen und interpretiert ist, kann sich der kritische Impuls auflösen, und sie lassen es bei einem bloßen Verstehen bewenden und reagieren kaum noch, wenn ihnen die Erlaubnis zur Kritik gegeben wird. Die Lehrerin bzw. der Lehrer wird sich also nach dem Verhalten der Schülerinnen und Schüler richten: Zur Kritik und zum Vertrauen in die eigene Kritikfähigkeit werden jene Schülerinnen und Schüler ermuntert, die zu einem gläubigen Hinnehmen des von einer Philosophin oder einem Philosophen Geäußerten tendieren; die aber, die kritisieren wollen, bevor sie überhaupt verstanden haben, worum es geht, werden zur Geduld ermahnt. Der zweite Grundsatz verlangt die gutwillige Leserin bzw. den gutwilligen Leser. Eine Autorin oder ein Autor kann sich nicht selbst verteidigen, und so ist es gleichsam eine Sache der Fairness, ihre bzw. seine Thesen durch weitere Argumente zu stützen. Vorausgesetzt wird, dass eine philosophische Theorie richtig sein kann, auch wenn es Lücken oder sogar Fehler in der Argumentation gibt. Da das Ziel der Kritik nicht Ablehnung und Verwerfung, sondern Zuwachs an Erkenntnis ist, entspricht der genannte Grundsatz genau ihrer Intention.

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 Zur kritischen Beurteilung eines Textes gehört auch die Frage, welche Bedeutung er für gegenwärtiges und zukünftiges Erkennen, Werten und Handeln hat Jetzt wird nicht mehr die Frage nach der Wahrheit und Gültigkeit gestellt, sondern die nach der Relevanz des Gesagten, und es soll das Belanglose von dem unterschieden werden, was wesentlich ist. Wer so fragt, nimmt den Text ernst in der Erwartung, dass er Wichtiges zu sagen habe, er weiß aber auch, dass Erkenntnisse eine recht unterschiedliche Relevanz für den Einzelnen und die Gesellschaft haben, bis hin zur Belanglosigkeit. Kriterien für eine solche Unterscheidung müssten erarbeitet werden; sie dürften damit zu tun haben, ob der Leser bzw. die Leserin durch den Text urteilsfähiger und entscheidungsfähiger wird. Die Frage nach der Relevanz sollte zwar gestellt werden, aber im Unterrichtsgeschehen nicht im Vordergrund stehen. Denn die Fähigkeit, sich auf eine Sache zeitweise einzulassen und sich von ihr fesseln zu lassen, dient der Ermittlung der Wahrheit und der Bereicherung durch neue Erkenntnisse mehr als der ständige Blick auf Anwendbarkeit. Die Hauptarbeit mit Texten besteht in der Interpretation und der kritischen Beurteilung. Dies bedeutet nicht, dass sie als isolierte Gebilde behandelt werden dürften. Sie stehen in einem systematischen Zusammenhang, insofern sie einer oder mehreren philosophischen Disziplinen und einer übergeordneten Fragestellung zuzuordnen sind, und sie stehen in einem historischen Zusammenhang, insofern sie geschichtlichgesellschaftlich bedingt sind und eine geschichtliche Wirkung zeigen, die nicht nur eine Sache der philosophischen Rezeption ist, sondern in einem erheblichen Maße auch politische Veränderungen mit einschließt. All dies gehört zur Wirklichkeit philosophischer Texte und damit zu ihrer unverkürzten Behandlung im Philosophieunterricht. Quelle: Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2: Methodenfragen, S. 16 – 24 (vom Autor für diesen Band überarbeitet und gekürzt).

Verfahren der Texterschließung Barbara Brüning

D

er folgende Textauszug aus der Nikomachischen Ethik von Aristoteles dient als exemplarisches Beispiel zur didaktischen Verdeutlichung, wie die Methoden der Texterschließung konkret im Ethik- und Philosophieunterricht angewendet werden können.

Sittliche Einsicht (phronesis) hat als Bereich die menschlichen Dinge und das, was ein Mit-sich-zu-Rate-Gehen zulässt. Denn dies bezeichnen wir vor allem als die Leistung des Einsichtsvollen, dass er klug mit sich zu Rate geht, niemand aber geht mit sich zu Rate über das, was keine Veränderung zulässt und des echten Ziels entbehrt: Endziel aber bedeutet hier einen Wert, der durch unser Handeln erreicht werden kann. Das Prädikat des klug Mit-sich-zu-Rate-Gehens aber gebührt ohne Einschränkung dem, der wesenhaft nach dem obersten menschlichen Ziel strebt1, das durch Handeln erreicht werden kann, indem er sich eben durch die erwägende Reflexion leiten lässt. Die sittliche Einsicht ist aber auch nicht lediglich auf das Allgemeine gerichtet, sie muss vielmehr auch in den Einzelfällen klar sehen. Denn ihr Wesen ist Handeln, das Handeln aber hat es mit Einzelfällen zu tun. Daher kommt es vor, dass manche, obwohl sie über eine theoretische Fundierung ihres Könnens nicht verfügen, geschickter im Handeln sind als solche, die darüber verfügen – auch auf anderen Gebieten übrigens: Es sind das die Leute mit praktischer Erfahrung. Wenn jemand nämlich (ganz allgemein) wüsste, dass Fleisch, wenn es leicht ist, gut verdaulich und somit gesundheitsfördernd ist, jedoch nicht wüsste, welches Fleisch leicht ist, so könnte er keinen Heilerfolg erzielen. Wer dagegen weiß, dass Geflügelfleisch leicht und gesund ist, kann eher zu einem Heilerfolg kommen. Das Wesen der sittlichen Einsicht ist Handeln. Man muss also beide Formen haben ( die auf das Allgemeine und die auf das Besondere gerichtete Einsicht) oder die letztere in höherem Grade als die erstere. […] Nun, als Merkmal des Menschen mit sittlicher Einsicht gilt, dass er fähig ist, Wert oder Nutzen für seine Person richtig abzuwägen, und zwar nicht im speziellen Sinn, z. B. Mittel und Wege zu Gesundheit oder zu Kraft, sondern in dem umfassenden Sinn: Mittel und Wege zum guten und glücklichen Leben. […] So bleibt denn als Ergebnis, dass […] [sittliche Einsicht] eine mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit des Handelns ist, des Handelns im Bereiche dessen, was für den Menschen wertvoll oder nicht wertvoll ist. […] Aus diesem Grunde glauben wir, dass Perikles und

1

Damit meint Aristoteles ein glückliches Leben.

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Barbara Brüning

Männer seiner Art sittliche Einsicht haben, weil sie nämlich einen Blick dafür besitzen, was für sie selbst und für den Menschen wertvoll ist.2 In dem Text von Aristoteles steht der philosophische Begriff der sittlichen Einsicht, die phronesis, im Vordergrund. Wer sich mit der Erschließung dieses Textes beschäftigt, kann im Wesentlichen drei Verfahren anwenden3 : das Verfahren der Texterschließung mit Anleitung, d. h. eine Lehrerin bzw. ein Lehrer gibt Hilfestellung bei der Interpretation. Bei der eigenständigen Texterschließung mit Anleitung werden die individuellen Reflexionsbemühungen verstärkt, indem die Rezipientinnen und Rezipienten den Text mit Hilfe von Arbeitsaufgaben selbstständig in Sinneinheiten gliedern, während sie bei dem selbständigen Texterschließen eigenständig Reflexionsschwerpunkte setzen.

 Texterschließung mit Anleitung Dieses Interpretationsverfahren wird bei philosophischen Texten angewendet, in denen viele schwierige philosophische Begriffe zu finden sind, komplizierte Argumentationsverfahren verwendet oder komplexe philosophische Probleme in langen Sätzen zur Diskussion gestellt werden. Hierzu gehören beispielsweise Texte von Immanuel Kant aus der Kritik der reinen Vernunft oder Reflexionen von Martin Heidegger aus Sein und Zeit. Bei dieser Art von Texten lässt sich als Methode der Texterschließung das Satz-fürSatz-Verfahren anwenden, das beispielsweise im altsprachlichen Unterricht gängige Praxis ist. Der vorliegende Text von Aristoteles eignet sich nicht für diese Methode, weil er nur einen einzigen Begriff, nämlich die phronesis, in den Mittelpunkt stellt und von seiner Sinnstruktur her leicht verständlich ist, d. h., es gibt keine Komplexität philosophischer Probleme, die sich überlappen. Bei der Satz-für-Satz-Methode werden durch lautes Vorlesen der einzelnen Sätze Sinneinheiten analysiert oder schwierige Begriffe geklärt. Vor allem in der Schule sollte nach der Lektüre einzelner Textpassagen der Gebrauch der semantisch analysierten Begriffe überprüft werden, was die eigenen Aktivitäten der Rezipientinnen und Rezipienten erhöht. Pieter Mostert und Karel van der Leeuw schlagen dafür das Verfahren der Begriffsevaluation4 vor, d. h., die im Text erschlossenen Begriffe sollen in philosophische Zusammenhänge gebracht werden, indem die Philosophierenden mit ihnen selbstständig Sinneinheiten formulieren. Darüber hinaus können diese Begriffe – in 2

3

4

Aristoteles: »Nikomachische Ethik«, in: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, (bislang) 20 Bde., Bd. 6., übers. und kommentiert von Dirlmeier, Franz, hrsg. von Flashar, Hellmut, Akademie Verlag, Berlin 1999, N.E. VI 1141 b 8 – 20 (S. 130), N.E. VI 1140 a 25 – 28 (S. 126) , N.E. VI 1140 b 4 – 7 (S. 126) und N. E. VI 1140 b 8 – 9 (S. 127). Die Strukturierung dieser drei Verfahren folgt: Langebeck, Klaus: »Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 3 – 11. Vgl. hierzu: Leeuw, Karel van der; Mostert, Pieter: Philosophieren lehren. Ein Modell für Planung und Analyse und Erforschung des einführenden Philosophieunterrichts, Eburon, Delft 1988, S. 80 –81.

Verfahren der Texterschließung

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unserem Beispiel der Begriff phronesis – auf Alltagsprobleme übertragen werden, indem man überlegt, in welchen Bereichen der eigenen lebensweltlichen Zusammenhänge sie eine Rolle spielen. Dafür lassen sich verschiedene Beispiele anführen. Deduktive Leitern werden im vorliegenden Text nicht erklärt. Ein weiteres Verfahren mit enger Anleitung sind Leitfragen zum Text, die man in schriftlicher Form auch als Arbeitsblätter anwenden kann. Sie geben den Philosophierenden eine gewisse Denkrichtung vor, weil sie bestimmte Sinneinheiten des philosophischen Textes in den Vordergrund stellen und andere vernachlässigen. Solche Leitfragen haben folgende allgemeine Form:

 Was versteht die Autorin bzw. der Autor unter … phronesis?  Warum verwendet sie bzw. er diesen Begriff? Könnte sie bzw. er nicht auch den Begriff … Vernunft verwenden? Gibt es Begriffe, die mit … phronesis verwandt sind? Findet Modellfälle oder entgegengesetzte Fälle.  Welche Bereiche … menschlichen Handelns umfasst … die phronesis?  Wie begründet die Autorin bzw. der Autor seine These, dass … das Wesen der phronesis Handeln ist?  In welchem Zusammenhang stehen die Begriffe … phronesis und Vernunft?  Gibt es einen Widerspruch zwischen … der phronesis, die auf das Allgemeine gerichtet ist, und der phronesis, die auf das Besondere gerichtet ist?  In welchen Bereichen eures Lebens spielt der Begriff … phronesis eine wichtige Rolle?  Könntet ihr euch vorstellen, dass … es ein Leben ohne … phronesis geben könnte?

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Verfahren der Texterschließung mit Anleitung unterliegen der Gefahr, dass sie die Philosophierenden zur Passivität drängen, weil die Anleiterin bzw. der Anleiter die Interpretation des Textes führt und in eine bestimmte Denkrichtung lenken kann. Deshalb ist es wichtig, diese Methode auch bei schwierigen Texten nicht als einziges didaktisches Instrumentarium zu verwenden, sondern sie mit kreativen Schreibaufgaben zu kombinieren.

 Eigenständiges Texterschließen mit Anleitung Bei dieser Methode der Textinterpretation tritt die Anleitung in den Hintergrund, sie wirkt sozusagen unterstützend für das eigene Nachdenken über den Text. Die Philosophierenden gliedern ihn selbstständig in verschiedene Sinneinheiten und setzten dadurch eigene Reflexionsschwerpunkte, d. h., sie entscheiden ohne Anleitung darüber, welche Begriffe, Argumente oder Ideen ihnen wichtig sind. Ein erstes Verfahren dieser Methode ist das Herausfinden von Schlüsselbegriffen aus dem Text. Hier können die Philosophierenden eigenständig Akzente setzen und müssen dann auch begründen, warum sie gerade diese Begriffe und keine anderen gewählt haben. In unserem Text wäre beispielsweise neben dem Begriff der sittlichen Einsicht (phronesis) auch der Begriff des Mit-sich-zu-Rate-Gehens interessant. Bei philosophischen Texten, in denen mehrere komplexe Begriffe auftreten, kann auch ein Cluster (visuelles Begriffsschema) angefertigt werden, also ein Schema der wichtigsten Begriffe und ihres Zusammenhangs. Eine Unterkategorie dieses Verfahrens ist die eigenständige Gliederung des Textes in Sinneinheiten, die mit einer Überschrift versehen werden. In unserem Fall ließen sich – die ersten beiden Abschnitte des Textes mit der Überschrift »Phronesis als abwägende Reflexion« charakterisieren; – der dritte Abschnitt könnte die Überschrift »Phronesis als Handeln in Einzelfällen« erhalten – und für die letzten beiden Abschnitte wäre die Überschrift »Sittliche Einsicht als Wert für sich und andere« eine mögliche Variante. Zum Schluss könnten philosophische Texte generell mit einer neuen Haupt-Überschrift versehen werden, durch die Philosophierende zum Ausdruck bringen, welcher Gedanke im Text für sie am wichtigsten ist. Ein Vorschlag für den Aristoteles-Text wäre: Kein glückliches Leben ohne phronesis. Ein zweites Verfahren dieser Methode ist das selbstständige Herausfinden von Argumentationsfiguren aus dem Text. Hierzu müssen allerdings Hilfestellungen in Form von Fragen oder Arbeitsaufträgen gegeben werden, wie z. B.  Welche Hauptthese vertritt die Autorin bzw. der Autor? (Z. B. phronesis ist Mittel und Weg, ein glückliches Leben zu führen.)

Verfahren der Texterschließung

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 Wie begründet sie bzw. er diese These? (Zu einem glücklichen Leben gehört praktisches Handeln, und ohne abwägende Reflexion ist praktisches Handeln nicht möglich.)  Welche warrants und backings werden formuliert? (Aufgrund von richtigem Planen und Beurteilen weiß der Mensch, was in praktischen Dingen für ihn wertvoll ist.)  Handelt es sich um eine analytische oder eine substantielle Argumentation?  Rechtfertigt das vom Autor formulierte warrant den angeführten Grund? Wenn nein, warum nicht?  Welche weiteren Gründe zur Stützung der Hauptthese gibt es?  Fertigt ein Argumentationsschema an.

 Selbstständiges Texterschließen Aus dem Deutschunterricht ist die Methode der Inhaltsangabe bekannt, die darauf abzielt, dass der Gedankengang des Textes mit eigenen Worten wiedergegeben wird oder die wesentlichen Gedanken in kurzer und knapper Form dargelegt werden. Oftmals entsteht dabei besonders bei Schülerinnen und Schülern das Problem, fremde Gedanken und eigene Bewertungen nicht auseinander halten zu können. Dafür lassen sich beispielsweise Formulierungen finden wie »Nach Aristoteles« oder »Aristoteles vertritt die Meinung, dass … «oder »Nach Ansicht von Aristoteles …« bzw. innerhalb einer Satzverbindung »so der Autor«. In philosophischen Texten wird jedoch mehr als in literarischen Texten analysiert und expliziert, argumentiert und gerechtfertigt, bezweifelt und in Frage gestellt, oder widerlegt und neuformuliert oder bekräftigt und erweitert. Um diese speziellen philosophischen Denkschritte adäquat zu erfassen, schlägt Helmut Engels vor, bei der Inhaltsangabe von philosophischen Texten vor allem die Sprechakte zu erfassen.5 Sprechakte enthalten performative Verben, mit deren Hilfe etwas von der Autorin bzw. vom Autor gesagt wird, d. h., es wird »eine im Sprechen oder Denken vollzogene Handlung, eine so genannte Illokation« benannt.6 Performative Verben umfassen beispielsweise Verben wie sagen, erzählen, berichten, behaupten oder zustimmen. Im Bereich der Philosophie beziehen sich Philosophinnen und Philosophen auf Denkbemühungen aus anderen Epochen, d. h., sie vergleichen, verweisen oder erläutern in besonders intensiver Form. Zur Rekonstruktion dieses speziellen Geflechts an Sprechakten ist es wichtig, dass sie in einer Inhaltswiedergabe auch benannt werden, und zwar als zusammengesetzte Formulierungen:

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6

Vgl. Engels, Helmut: »›Geben Sie den Inhalt des Textes wieder und …!‹ Anmerkungen zu einem Alltagsproblem des Philosophieunterrichts«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 12, 1990, Heft 1: Mündlich/Schriftlich I, S. 22 – 26. Ibid., S. 23.

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– In dem folgenden Text gibt die Autorin bzw. der Autor ihre bzw. seine Überlegungen zum Problem der … wieder; – sie bzw. er geht davon aus, dass …; – sie bzw. er behauptet, dass …; – sie bzw. er formuliert als Hauptthese, dass …; – sie bzw. er führt als Rechtfertigung dieser These die folgenden Gründe an: …; – sie bzw. er verdeutlicht seine These an einem Beispiel …; – sie bzw. er abstrahiert vom Einzelfall, indem sie bzw. er… folgende Schlussfolgerung zieht: …; – als Einwand gegen … führt sie bzw. er an … Sprechakte zwingen dazu, bei der Wiedergabe des Textes auch die Denkschritte zu berücksichtigen, die eine Autorin bzw. ein Autor vollzogen hat. Helmut Engels hebt für den Ethik- und Philosophieunterricht hervor, dass Sprechakte in einer Inhaltsangabe nicht um ihrer selbst willen benannt werden sollten7, in dem Sinne, dass jemand schreibt: »Aristoteles geht von der sittlichen Einsicht aus, die er an einem Beispiel erläutert, von der theoretischen Einsicht abgrenzt und schließlich dann als Grundhaltung des Menschen bewertet.« In dieser Inhaltsangabe fehlen die konkreten Inhalte, die im Vordergrund stehen und mit Hilfe von Sprechakten differenziert werden sollen. Darüber hinaus ist es wichtig, Sprechakte von mentalen Akten abzugrenzen. Bei einer Inhaltsangabe wird nicht referiert, was ein Philosoph oder eine Philosophin gedacht, geglaubt oder vermutet hat, sondern wie er oder sie seine bzw. ihre Gedanken (als Resultat des Reflektierens, Hoffens und Glaubens) formuliert hat. Helmut Engels weist noch daraufhin, dass bei einer Inhaltsangabe auch nicht alle Sprechakte benannt werden müssen, sondern nur die wesentlichen.8 Für den Aristoteles-Text lässt sich folgende Zusammenfassung mit Sprechakten geben:

In dem Text »Sittliche Einsicht« formuliert Aristoteles einige Überlegungen zum Begriff der phronesis, die für ihn erwägende Reflexion im Sinne eines Mit-sich-zu-Rate-Gehens bedeutet. Der Autor vertritt als Hauptthese, dass die phronesis die Grundlage eines glücklichen Lebens darstellt. Sie ist nicht (wie die Vernunft) nur auf das Allgemeine gerichtet, sondern vor allem auf das Besondere, den Einzelfall. Aristoteles verdeutlicht dies an einem Beispiel: Wenn jemand allgemein weiß, dass Fleisch gut verdaulich ist, jedoch nicht weiß, welche Art von Fleisch besonders bekömmlich ist, so wird er keinen Heilerfolg erzielen können. Daraus zieht der Philosoph die Schlussfolgerung, dass die erwägende Reflexion für den Erfolg im praktischen Handeln einen Vorteil darstellt.

7 8

Ibid. Ibid.

Verfahren der Texterschließung

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 Didaktische Anregungen zur Texterschließung Wie eingangs erwähnt, dienen philosophische Texte als Gesprächspartner, als Anregung zum eigenen Philosophieren. Deshalb ist es wichtig, dass nach der Interpretation eine eigene Stellungnahme erfolgt, indem die Position des Autors oder der Autorin bewertet wird. Dabei lässt sich der Positionsvergleich von der eigenen Stellungnahme unterscheiden. Beim Vergleich der Position eines Autors mit einem anderen vergleicht man zwei oder mehrere philosophische Positionen zum gleichen Thema miteinander, um dann zu entscheiden, welche Position mehr überzeugt oder wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten liegen, z. B.: Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es zwischen dem Begriff der phronesis von Aristoteles und Kants Begriff der praktischen Vernunft? Möglich ist natürlich auch der Rückgriff auf vorangegangene philosophische Positionen: Inwieweit differenziert Aristoteles den in der griechischen Philosophie verwendeten Begriff des logos (Vernunft)? Im Unterschied zum Vergleich findet bei der eigenen Stellungnahme eine Bewertung statt. Die Rezipientin bzw. der Rezipient beurteilt, inwieweit die im Text vertretene philosophische Position von ihrer Darstellung und Argumentation her überzeugend ist. Anregungen für die eigene Stellungnahme  Die Autorin bzw. der Autor überzeugt mich, weil sie bzw. er …  Nicht überzeugend erscheint mir jedoch der Gedanke, die Idee, die Argumentation, das Gedankenexperiment etc., mit dessen Hilfe begründet wird, dass …  (Nicht) gut begründet wurde in dem Text der Gedanke …  Die These von der … steht im Widerspruch zu der These von der …  Im Vergleich mit der Position von … erscheint mir die Position von … überzeugender, weil sie …  Bezogen auf meine eigenen Überlegungen/Erfahrungen kann ich der Autorin bzw. dem Autor (nicht) zustimmen, weil …  Den Gedanken von der … möchte ich wie folgt erweitern/umformulieren/neu denken: …  Angenommen, … hätte Recht, dann wäre … Die drei genannten Verfahren der Texterschließung ermöglichen Schülerinnen und Schülern im Ethik- und Philosophieunterricht Gedanken aus der philosophischen Tradition zu verstehen und sie als Grundlage für die eigene und dialogische Reflexion im Unterricht zu nutzen. Quelle: Brüning, Barbara: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 1, Beltz Verlag, Weinheim/Basel/Berlin 2003, S. 82 – 89 (von der Autorin für diesen Band überarbeitet).

Methoden der Interpretation im Philosophieunterricht Lothar Ridder

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nterrichtsmethoden im Schulfach Philosophie sollen die Schülerinnen und Schüler an die Philosophie bzw. das Philosophieren heranführen. Dabei lassen sich für den Philosophieunterricht grundsätzlich zwei Verfahren unterscheiden: der textgebundene Unterricht sowie die freie Problem- und Sacherörterung. Geht es im textgebundenen Unterricht vorrangig um die Interpretation philosophischer Texte, so zielt die freie Problem- und Sacherörterung im Idealfall auf ein argumentatives philosophisches Gespräch. Beide Methoden ergänzen einander, und sie können zu weiteren schriftlichen und mündlichen Arbeitsformen führen wie beispielsweise den philosophischen Essay, die literarische, bildhafte oder auch theatrale Darstellung philosophischer Probleme und die philosophische Disputation.1 Geht es darum, philosophische Positionen der Vergangenheit und Gegenwart kennenzulernen, philosophische Argumentationen nachzuvollziehen oder einzuüben, so ist und bleibt der philosophische Text das entscheidende Medium des Philosophieunterrichts.2 Hier nun erheben sich u. a. Fragen nach dem Umgang mit philosophischen Texten und damit auch nach den Methoden unterrichtlicher Textarbeit: Zielt der textgebundene Philosophieunterricht primär auf die Interpretation philosophischer Texte oder sind auch andere Formen des Umgangs mit philosophischen Texten denkbar und geeignet? Was hat man unter der Interpretation eines philosophischen Textes zu verstehen? Was sind die Ziele einer Textinterpretation? Gibt es verschiedene Tätigkeiten, die sich als ›Interpretieren‹ bezeichnen lassen, und wenn ja, wodurch unterscheiden sie sich bzw. welche Gemeinsamkeiten weisen sie auf? Welche methodologischen Anforderungen sind mit verschiedenen Interpretationstätigkeiten verbunden? Und hat man sich im Philosophieunterricht auf eine bestimmte Weise der Interpretation von Texten zu beschränken?

1

2

Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie, Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 4716, Ritterbach Verlag, Frechen 1999, S. 33 – 38. Die Richtlinien Philosophie zeichnen sich insgesamt durch eine stärkere Methodenorientierung aus. Dies zeigt sich etwa an den curricularen Vorgaben für die »Einführung in die Philosophie« in der Jahrgangsstufe 11/1 der gymnasialen Oberstufe, in der keine inhaltlich bestimmten sachlichen Schwerpunkte festgelegt, sondern vor allem formale und methodische Anforderungen verpflichtend sind (vgl. ibid., S. 17), und weiter an der Akzentuierung von Arbeitsformen im Philosophieunterricht wie der Facharbeit, dem Essay, der philosophischen Disputation und dem fachübergreifenden und fächerverbindenden Lernen (vgl. ibid.). Vgl. ibid., S. 28 – 29.

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Systematische Untersuchungen zu den Methoden des Philosophieunterrichts, besonders auch zur unterrichtlichen Interpretation von Texten, finden sich in der philosophiedidaktischen Literatur höchst selten. Einen ersten beachtenswerten Versuch in diese Richtung macht das Heft 2 (2000) der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik. Die leitende Idee dieses Heftes besteht darin, Denkrichtungen der Philosophie wie die Analytische Philosophie, den Konstruktivismus, die Phänomenologie, die Dialektik, die Hermeneutik oder die Dekonstruktion in Methoden des Philosophieunterrichts zu transformieren.3 So lassen sich aus der Perspektive der verschiedenen Denkströmungen unterschiedliche Unterrichtsmethoden gewinnen, die im unterrichtlichen Gespräch, bei der Lektüre und Produktion von Texten eingesetzt werden können. Bezüglich der Interpretation von Texten geht es aus beispielsweise analytischer Sicht um den Nachvollzug des Argumentationsgangs eines philosophischen Textes, um begriffliche Genauigkeit und um die Prüfung logischer Folgerichtigkeit, aus konstruktivistischer Perspektive um die Rekonstruktion implizit gebliebener Voraussetzungen, in dialektischer Hinsicht um die Aufdeckung und Kritik von Widersprüchen und Defiziten in philosophischen Texten, hermeneutisch um die Klärung von Vorverständnis und Hilfestellung zum Weltverständnis, und dekonstruktivistisch um die Infragestellung von Texten im Hinblick auf ihre Brüche, Lücken, Ränder und verborgene Aussagen.4 Die genannten Interpretationstätigkeiten sind, wie die Beispiele zeigen, nicht unabhängig voneinander, sondern sie betreffen spezielle Aspekte und Schritte, die bei einer umfassenden Interpretation philosophischer Texte zum Tragen kommen können und wohl auch müssen. Und offensichtlich stehen deshalb die Methoden der Philosophie, deren Ziel es ist, ein philosophisches Problem zu erschließen, zu analysieren und unter Umständen auch einer Lösung zuzuführen, nicht beziehungslos zu Methoden der Texterschließung. Trivialerweise trifft dies natürlich auf die Hermeneutik als Disziplin zu. Wie ich jedoch glaube, lässt sich die Vielfalt von Tätigkeiten, die bei der Interpretation von philosophischen Texten oder allgemeiner von sprachlichen philosophischen Äußerungen eine Rolle spielen können, allein durch Rückgriff auf die zuvor genannten Denkrichtungen der Philosophie und ihre Methoden nicht erfassen. So erscheint es über die didaktischen Potenziale der philosophischen Denkrichtungen hinaus philosophiedidaktisch von Interesse, die vielfachen Aktivitäten, die als ›Interpretieren‹ bezeichnet werden, systematisch aufzuarbeiten und für die Textinterpretation im Philosophieunterricht nutzbar zu machen. Damit wird dann deutlich, dass der Vorgang der Interpretation von Texten nicht mit nur einer bestimmten Methode in Verbindung gebracht werden kann, sondern heterogene Tätigkeiten umfasst, die je nach Zielsetzung im Philosophieunterricht fruchtbar eingesetzt werden können. Auf diese Weise lässt sich die philosophische Textarbeit im Philosophieunterricht nicht nur abwechslungsreicher und damit auch anregender gestalten, sondern der Philosophie-

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Vgl. dazu Rohbeck, Johannes: »Didaktische Potenziale philosophischer Denkrichtungen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 82 – 93. Vgl. ibid., S. 86 die Übersicht »Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht«.

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unterricht gewinnt insgesamt an methodischer Vielfalt und – im Idealfall – auch an philosophischer Kompetenz der Schüler.5 Ich möchte deshalb im Folgenden auf eine jüngst von Axel Bühler6 vorgelegte Studie zurückgreifen, die in einer Klassifikation von Interpretationsarten versucht, der Vielfalt dessen gerecht zu werden, was in den Geistes- und Sozialwissenschaften als ›Interpretation‹ bezeichnet wird. Die verschiedenen Interpretationsarten sollen zunächst unter Rückgriff auf die ihnen zugrundeliegenden systematischen Gesichtspunkte dargestellt werden, wobei A. Bühlers Resultate teilweise modifiziert und ergänzt werden (Abschnitt 2). Die einzelnen Interpretationsarten werden dann daraufhin untersucht, welche methodologischen Anforderungen an sie zu stellen sind (Abschnitt 3), welche Voraussetzungsbeziehungen zwischen ihnen bestehen (Abschnitt 4) und ob ihre Auflistung vollständig ist (Abschnitt 5). Abschließend möchte ich darauf eingehen, welche der verschiedenen Interpretationsmethoden in welchem Ausmaß im Philosophieunterricht eingesetzt werden können bzw. sollten (Abschnitt 6). Dabei werde ich mich für einen variablen Umgang mit interpretativen Methoden im Philosophieunterricht aussprechen.

 Eine Klassifikation von Interpretationsarten Unter dem Begriff der ›Interpretation‹ möchte ich im Folgenden ganz allgemein jegliche auf Erkenntnisgewinn zielende kognitive Auseinandersetzung mit sprachlichen Äußerungen, besonders solchen in Texten, verstehen.7 Die mit einer derart verstandenen Interpretation verbundenen Tätigkeiten zielen auf Feststellungen, Erklärungen und Beurteilungen verschiedenster Art bezüglich der zur Untersuchung anstehenden sprachlichen Äußerungen bzw. Texte und ihrer Urheber: Sie versuchen Eigenschaften und Wirkungen von Texten sowie die autoriellen Absichten und Eigentümlichkeiten zu erfassen und erklären und im Lichte moderner rationaler Standards zu beurteilen. Es liegt deshalb nahe, eine Systematik von Interpretationsarten entlang der Zielsetzungen zu entwickeln, die mit den verschiedenen Interpretationstätigkeiten angestrebt werden.8 Diese Zielsetzungen betreffen, wie schon angedeutet, (I) bestimmte Aspekte der Texterzeugung, (II) Eigenschaften und (III) Wirkungen fertiggestellter Texte und (IV) die 5

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Vgl. ibid., S. 91– 92. Rohbeck plädiert für eine plurale unterrichtliche Nutzung philosophischer Methoden. Bühler, Axel: »Die Vielfalt des Interpretierens«, in: Analyse & Kritik 21, 1999, S. 117– 137. Ich danke Axel Bühler für die kritische und konstruktive Kommentierung einer früheren Version dieses Aufsatzes. Ausgeschlossen sind damit unter anderem folgende Verwendungsweisen des Begriffs der ›Interpretation‹: (1) als Deutung von empirischen Daten nicht-sprachlicher Art, (2) als Deutung kausaler Zusammenhänge in der Geschichtswissenschaft, (3) als mathematische Interpretation formaler Sprachen, (4) als Aufführung eines Kunstwerkes, (5) für den Prozess der Wahrnehmung oder die Rede von der Beobachtung als Interprerauon von Tatsachen im Lichte von Theorien und (6) für die Auslegung von Seinsverständnis im Sinne Heideggers (vgl. ibid., S. 120). Vgl. ibid., S. 121. Bühler weist zu Recht darauf hin, dass die Diskussion über die bei einer Interpretationsart anzuwendende Methode erst dann fruchtbar sein kann, wenn zuvor eine Klärung der Zielsetzungen stattgefunden hat, die mit einer Interpretationsart einhergehen.

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Beurteilung von Texten in verschiedensten Hinsichten. Die von Bühler vorgelegte Klassifikation von Interpretationsarten differenziert die Zielsetzungen, die beim ›Interpretieren‹ verfolgt werden können, entlang den Kriterien I bis IV. Die Interpretationsarten, die sich diesen Kriterien zuordnen lassen, gewinnt Bühler nicht aus einer definitorischen Normierung der Verwendung der Ausdrücke ›Interpretation‹ bzw. ›Interpretieren‹, sondern »aus der Betrachtung von Tätigkeiten […], die viele von uns als Tätigkeiten des Interpretierens einstufen würden, Tätigkeiten, die in vielen Bereichen bereits des Alltags, vor allem aber der Geistes- und Sozialwissenschaften tatsächlich ausgeübt werden.« 9 Ich komme zunächst zu den von A. Bühler aufgeführten Arten der Interpretation, die Aspekte der Texthervorbringung betreffen10 : (1) Interpretation als Herausfinden kommunikativer Absichten: Welche Wirkung will ein Autor vermittels seiner mündlichen oder schriftlichen Äußerungen auf den Zuhörer oder Leser ausüben? Möchte er den Rezipienten über etwas informieren, von etwas überzeugen oder auch vor etwas warnen? Texte und Reden als kommunikative Handlungen basieren auf Absichten, die darauf zielen, dass Personen bestimmte Verhaltensänderungen aufgrund gemachter Äußerungen oder abgefasster Texte zeigen. Solche Absichten lassen sich deshalb auch als kommunikative Absichten bezeichnen. Eine Weise der Interpretation von Texten kann deshalb darauf gerichtet sein, die kommunikativen Absichten eines Autors herauszufinden. (2) Interpretation als Feststellen explizit geäußerter propositionaler Einstellungen: Häufig sind wir weniger daran interessiert, was ein Autor mit seiner Äußerung oder seinem Text beabsichtigt, sondern wir möchten vorrangig wissen, was er denkt, welche Überzeugungen er hat, was er wünscht, hofft, glaubt etc. Eine Interpretation kann so darauf aus sein, die mit den kommunikativen Absichten eines Autors einhergehenden propositionalen Einstellungen (Gedanken, Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen etc.) festzustellen. Da Gedanken durch Sätze, möglicherweise auch durch Satzverbindungen, zum Ausdruck kommen, ist diese Art der Interpretation auf die Bedeutung ganzer Sätze ausgerichtet. Und insoweit die Satzbedeutung von sprachlichen Ausdrücken unterhalb der Satzebene abhängt, wird es dann natürlich auch erforderlich sein, die vom Autor gemeinte Bedeutung dieser Ausdrücke herauszufinden. (3) Interpretation als Erschließen nicht explizit geäußerter propositionaler Einstellungen: Über das hinaus, was ein Autor in seinem Text explizit an propositionalen Einstellungen zum Ausdruck bringt, versuchen wir manchmal auch, weitere Überzeugungen, Wünsche etc. eines Autors herauszubekommen oder zu rekonstruieren, die im Text nicht unmittelbar zum Ausdruck kommen. Ein solches Erschließen nicht explizit geäußerter Gedanken findet beispielsweise statt, wenn wir eine unvollständige Autorargumentation durch fehlende Prämissen ergänzen. (4) Interpretation als Herausfinden von Absichten der sprachlichen Gestaltung: Der Autor eines Textes wählt bestimmte Ausdrücke und sprachliche Formen, um seine kommunikativen Absichten zu verwirklichen. Interpretieren kann deshalb darauf abzielen, die autoriellen Absichten der sprachlichen Gestaltung herauszufinden. Dieses Interpretati9 10

Ibid., S. 121– 122. Vgl. ibid., S. 122 – 125. Bühler nennt diesbezüglich sieben Interpretationsarten.

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onsziel kann etwa von Bedeutung sein, wenn es darum geht, die ästhetische Wirkung von Texten zu untersuchen. (5) Interpretation als psychologische Erklärung kommunikativer Absichten: Fragen wir nach den Motiven, die hinter den kommunikativen Absichten eines Autors stehen, so suchen wir zu erklären, was den Autor zu seiner kommunikativen Handlung veranlasst hat. Eine solche Erklärung könnte beispielsweise der Verweis auf eine bestimmte Charaktereigenschaft oder Überzeugung des Autors sein, aber auch der Hinweis auf seine soziale Herkunft oder sein soziales Umfeld. (6) Interpretation als psychologische Erklärung propositionaler Einstellungen: Will man wissen, warum ein Autor z. B. zu einer bestimmten Überzeugung gelangt ist, so sucht man nach Faktoren, die diese Überzeugung hervorriefen. Solche Faktoren könnten sich beispielsweise in der Person des Autors finden lassen, seiner intellektuellen Umwelt oder auch in der spezifischen Art und Weise, wie der Autor zur Lösung eines Problems gekommen ist. (7) Interpretation als Herausfinden dessen, was ein Text exemplifizieren bzw. ausdrücken soll: Texte können bestimmte Geisteshaltungen, Gefühle oder Stimmungen zum Ausdruck bringen. In diesem Falle kann man mit Nelson Goodman11 davon sprechen, dass der Text eine bestimmte Sache exemplifiziert. So mag ein bestimmtes Gedicht Melancholie, ein bestimmter Roman eine revolutionäre Geisteshaltung exemplifizieren. Interpretieren kann in diesem Sinne darauf zielen, dasjenige herauszufinden, was ein Text exemplifizieren bzw. ausdrücken soll. Bühler beschreibt vier Interpretationsarten, die das Herausfinden bestimmter Eigenschaften fertiggestellter Texte betreffen. Davon sind in unserem Zusammenhang die Eruierung der konventionellen Bedeutung sprachlicher Textelemente (8), die Identifikation konventioneller Darstellungsmittel (9) und die Herausarbeitung struktureller Texteigenschaften und daraus resultierender Textinhalte (10) von Interesse.12 (8) Herausfinden der konventionellen Bedeutung sprachlicher Textelemente: Die Bedeutungen, die ein Autor mit gewissen von ihm verwendeten Ausdrücken verbindet, müssen nicht mit den durch Sprachkonventionen festgelegten Bedeutungen von Ausdrücken übereinstimmen. Um die vom Autor gemeinte Bedeutung sprachlicher Textelemente zu erschließen, müssen deshalb die konventionellen Bedeutungen von im Text verwendeten Ausdrücken oder Kombinationen sprachlicher Ausdrücke festgestellt und von den Bedeutungen abgegrenzt werden, die der Autor eines Textes abweichend davon verwendet. Dazu ist es häufig hilfreich, andere Texte desselben Autors oder Texte von anderen Autoren derselben Zeit heranzuziehen. (9) Identifikation. konventioneller Darstellungsmittel: Die Identifikation der Art und Weise, derer sich ein Autor bei der Abfassung eines Textes bediente, ist ein wichtiges Ziel 11

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Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Bobbs-Merrill, Indianapolis, IN, 1968, Chapter 2. Vgl. Bühler, Axel: »Die Vielfalt des Interpretierens«, a.a.O., S. 126. Bühler erwähnt und erläutert außerdem noch die »Interpretation als Zuweisung von Sachbedeutungen«. – Diese sehr spezielle Auslegungsmethode findet in den Interpretationsarten (2) und (8) hinreichend Berücksichtigung, bei denen es unter anderem darum geht, die adäquaten, vom Autor gemeinten Bedeutungen von Ausdrücken herauszufinden und von gegebenenfalls konventionellen Bedeutungen abzugrenzen.

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in der Praxis der Interpretation. Bei dieser Art der Interpretation stehen folgende Fragen im Vordergrund: Um was für eine Textgattung handelt es sich bei einem vorgelegten Text? Haben wie es mit einem Essay, einem Traktat, einem argumentativen Sachtext, einem Gleichnis oder etwa mit der literarischen Form des Romans oder der Novelle zu tun? Welcher rhetorischer Stilmittel bedient sich der Autor? Welche konventionellen Darstellungsmuster verwendet der Autor? Auf welche Argumentationsmuster greift er insbesondere zurück? usw. (10) Herausarbeiten struktureller Texteigenschaften und daraus resultierender Textinhalte: Texte lassen sich auf Strukturen hin untersuchen, die sie in phonetischer, syntaktischer und semantischer Hinsicht aufweisen. Dabei können die kommunikativen Absichten und propositionalen Einstellungen des Autors in den Hintergrund treten. Strukturbestimmende Textanalysen bestimmen zum Beispiel die Häufigkeiten, mit denen bestimmte Wörter im Text auftreten oder sie erarbeiten die lautlichen Muster, die Texte aufweisen. Insbesondere versuchen solche Untersuchungen auch, vom Autor nicht beabsichtigte Gedanken und Bedeutungen, die in Texten zum Ausdruck kommen, aus Textstrukturen herzuleiten. Die von A. Bühler abschließend angeführten Interpretationsarten subsumiert er alle in einem sehr weiten Sinne unter den Aspekt der Beurteilung von Texten. Insbesondere zählt er hierzu auch die Wirkungen, die von Texten ausgehen.13 In beurteilender Hinsicht erwähnt Bühler deshalb nicht nur die Interpretation als Beurteilen der Richtigkeit eines Textinhaltes, als Beurteilen der Gültigkeit von in Texten enthaltenen Argumentationen, als rationale Rekonstruktion, sondern auch die Interpretation als Beschreibung der Wirkungen eines Textes, als freie Assoziation anhand eines Textes und als Anwendung von Textinhalten. (11) Herausfinden/Beschreiben der Wirkungen eines Textes: Zum besseren Verständnis eines Textes kann es dienlich sein, die Wirkungen herauszufinden, die ein Text auf seine Leser ausübt bzw. ausgeübt hat. Das ist besonders dann der Fall, wenn es sich um einen Text handelt, der aus einem uns fremden historischen Kontext stammt. Von den Wirkungen, die hier in Frage stehen, können wir solche unterscheiden, die vom Autor gewollt sind, und solche, die es nicht sind. Innerhalb dieser Unterscheidung können uns dann diejenigen Wirkungen interessieren, die sich auf die Rezipienten eines Textes, insbesondere auch andere Autoren, beziehen, und solche, die die den Autor umgebende Kultur, aber auch nachfolgende Kulturen betreffen. Diese Art des Interpretierens, die die Wirkungen eines Textes untersucht, ist oft auch mit einer ästhetischen Bewertung von Texten verbunden.14 (12) Beurteilen der Richtigkeit/Wahrheit eines Textinhaltes: Für eine angemessene Beurteilung von Texten ist es unerlässlich zu wissen, ob die Äußerungen eines Autors, die sich zum Beispiel auf gewisse Sachverhalte seiner Zeit oder die Wiedergabe von Auffassungen anderer Personen beziehen, wahr sind oder nicht. Ein Beispiel hierfür aus der Philosophiegeschichte wäre die Frage, inwieweit Platons Wiedergabe und auch Ausle13 14

Ibid., S. 122. Vgl. hierzu Strube, Werner: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Definition, Klassifikation. Interpretation, Bewertung, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1993, Kapitel 8.

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gung des Homo-mensura-Satzes von Protagoras, dessen Original uns nicht mehr erhalten ist, zuverlässig sind oder nicht. Um zu erfahren, ob ein Bericht oder ein Quellenverweis oder -bezug eines Autors tatsächlich zutrifft, lässt sich eine textimmanente Prüfung vornehmen, die beispielsweise die Art und Weise der im Text gebotenen Darstellung und Auseinandersetzung mit einer (eventuell gegnerischen) Position untersucht. Dies wird aber zur Beurteilung der Authentizität eines Autors nur selten ausreichen. Nach Möglichkeit ziehen wir deshalb andere Zeugnisse schriftlicher oder auch nicht-schriftlicher Art heran, um sie mit den Inhalten eines gegebenen Textes zu vergleichen. (13) Beurteilen der Gültigkeit und Beweiskraft von in Texten enthaltenen Argumentationen: Häufig beschäftigen wir uns mit Texten, in denen Argumentationen eine wesentliche Rolle spielen. Solche Texte finden sich gerade auch in der Philosophie, wenn es darum geht, Gründe für eine Überzeugung vorzubringen. Bei der Beurteilung von Argumentationen geht es nicht um Wahrheit, sondern um Gültigkeit und Beweiskraft. So fragen wir etwa, ob ein vorgelegtes Argument15 eine allgemein gültige Form hat, d. h., wir fragen, ob immer dann, wenn die Prämissen wahr sind, auch die Konklusion als wahr akzeptiert werden muss. Die Kritik eines Arguments, das sich als gültig erwiesen hat, muss deshalb bei den Prämissen ansetzen. Sind diese alle wahr, dann ist das Argument beweiskräftig, d. h., dass die Wahrheit der Konklusion gesichelt ist. Ist nur eine der Prämissen falsch, dann muss die Konklusion zwar nicht falsch sein, jedoch lässt sich ihre Wahrheit nicht mehr zwingend aus den Prämissen herleiten. (14) Rationale Rekonstruktion eines Argumentationsganges: Erweisen sich die Argumentationen in einem Text als mangelhaft, beispielsweise aufgrund logisch-begrifflicher Unstimmigkeiten bzw. Ungenauigkeiten oder weil die Argumentation in der dargestellten Weise nicht gültig ist, so versucht man nicht selten eine rationale Rekonstruktion des Argumentationsgangs des Autors.16 Die Rekonstruktion des Argumentationsganges umfasst verschiedene Tätigkeiten: So geht es zunächst darum, das Gedankengebäude des Autors systematisch zu entwickeln und zu strukturieren. Auf der Grundlage dieser erarbeiteten logischen Textstruktur kann eine Vervollständigung oder auch Korrektur des Argumentationsganges des Autors vorgenommen werden, beispielsweise durch Ergänzung von Voraussetzungen, die dem Text implizit entnommen werden können und/oder die für eine lückenlose Argumentation erforderlich sind, möglicherweise aber auch durch Korrektur von im Text zu findenden terminologischen Festlegungen. Dabei können Methoden und Rationalitätsstandards ins Spiel gebracht werden, die dem Textautor in seiner Zeit nicht bekannt gewesen sind oder auch wegen ihrer historisch späteren Entwicklung nicht bekannt sein konnten. 15

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Unter einem Argument verstehe ich im Folgenden eine Aufzählung von Aussagen, wobei von einer dieser Aussagen, der sogenannten Konklusion, der Anspruch erhoben wird, dass sie aus den anderen Aussagen, den sogenannten Prämissen, logisch folgt. Eine Folge von Argumenten, die aufeinander aufbauen, nenne ich eine Argumentation. Zum Begriff der ›rationalen Rekonstruktion‹ vgl. Stegmüller, Wolfgang: »Gedanken über eine mögliche rationale Rekonstruktion von Kants Metaphysik der Erfahrung«, in: Ratio 9, 1967, S. 1– 30, insbesondere S. 1– 5 und vgl. Poser, Hans: »Philosophiegeschichte und rationale Rekonstruktion. Wert und Grenze einer Methode«, in: Studia Leibnitiana 3, 1971, S. 67– 76.

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Interpretieren als rationale Rekonstruktion des Gedankengangs eines Autors weist über das hinaus, was ein Autor tatsächlich gedacht und beabsichtigt hat. In derselben Weise tut dies eine andere Tätigkeit, die ich als kritisch-konstruktive Reflexion bezeichnen möchte, die A. Bühler nicht eigens erwähnt, die aber auch als Interpretieren verstanden wird und auf die Beurteilung von Texten zielt. (15) Kritisch-konstruktive Reflexion: Gesichtspunkte, die eine erfolgversprechende kritische Prüfung des Textes einbeziehen sollte, betreffen nicht nur Fragen nach der Richtigkeit von Textinhalten, nach der Gültigkeit von Argumentationen und gegebenenfalls nach den Möglichkeiten der rationalen Rekonstruktion eines Argumentationsganges. Dazu gehört neben der Prüfung von Thesen auf ihre externe Kohärenz mit unserem Wissen über die Welt beispielsweise auch die Beurteilung der Auswirkungen, die eine Autormeinung auf unser gegenwärtiges und zukünftiges Handeln hat. Im Einzelfall kann es für eine kritische Prüfung der Autormeinung und Autorabsichten von Vorteil sein, die Interessen, denen ein Text in der Intention des Autors dient bzw. widerspricht, zu erkennen, einzuschätzen und zu hinterfragen. Darüber hinaus umfasst eine vollständige textbezogene Reflexion nicht nur eine beurteilende, sondern auch eine konstruktive Komponente, die zu einem Ausbau von im Text vorgelegten Problemlösungen führen kann.17 Bei den bisher angeführten Arten der Interpretation von Texten stehen die autoriellen Absichten und Gedanken im Vordergrund. Das gilt auch für die Interpretationsarten (14) und (15) in dem Sinne, dass die Intentionen des Autors zum Ausgangspunkt von Interpretationsbemühungen gemacht werden, die dem Ziel eines besseren Verständnisses des Autors dienen (können).18 Den nun folgenden Interpretationsarten ist gemeinsam, dass das Anliegen des Autors in den Hintergrund tritt. Bei Bühler finden sich diesbezüglich nur die Interpretationstätigkeiten der freien Assoziation und der Anwendung. Meines Erachtens kann in diesem Zusammenhang als eine weitere Interpretationsart auch die Dekonstruktion von Texten angesehen werden. Vorrang bei allen diesen Arten der Interpretation gewinnen die Erfahrungen, Einstellungen, Perspekti-

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Vgl. Gatzemeier, Matthias: »Methodische Schritte einer Textinterpretation in philosophischer Absicht«, in: Kambartel, Friedrich; Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Wissenschaftliche Paperbacks, Grundlagenforschung, Bd. 1, Athenäum Verlag, Frankfurt 1973, S. 281– 317 unterscheidet bei einer Textinterpretation methodisch die rationale Rekonstruktion von einer systematisch-kritischen und systematisch-konstruktiven Rekonstruktion. Überprüft und beurteilt die systematisch-kritische Rekonstruktion den gegebenenfalls schon rational rekonstruierten Argumentationsgang, so beinhaltet der systematisch-konstruktive Interpretationsschritt eine Fortführung der im Text vorgeschlagenen Problemlösungen. Sowohl das systematisch-kritische als auch konstruktive Interpretationsanliegen lässt sich unter die kritisch-beurteilende Auseinandersetzung mit einem Text subsumieren. Auf die Frage, inwieweit es mit einer intentionalistischen Konzeption der Interpretation von Texten zu vereinbaren ist, die logischen Zusammenhänge und Konsequenzen der Gedanken eines Textes zu ermitteln sowie den Argumentationsgang eines Autors rational zu rekonstruieren, möchte ich hier nicht eingehen. Vgl. dazu Ridder, Lothar: »Hermeneutischer Intentionalismus und Textinterpretation im Philosophieunterricht«, in: Hubig, Christoph (Hrsg.), Cognitio huniana – Dynamik des Wissens und der Werte, XVII. Deutscher Kongress für Philosophie, 23.–27. September 1996 in Leipzig, Workshop-Beiträge, 2 Bde., Bd. 2, Akademie Verlag, Berlin 1997, S. 1230 – 1237, insbesondere S. 1232 – 1235.

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ven und subjektiven Befindlichkeiten des Interpreten. Auch diese Interpretationsarten können jedoch dem besseren Verständnis eines Textes dienen.19 (16) Interpretation als freie Assoziation anhand eines Textes: Bei dieser Form der Interpretation werden mit Wörtern oder Inhalten des Textes andere Wörter oder Inhalte in beliebiger Weise als Bedeutungen in Verbindung gebracht. So lässt sich beispielsweise aus einem Text ein beliebiges Wort herausgreifen und mit einem anderen Wort, das einem gerade in den Sinn kommt, assoziieren, um letzteres dann im Kontext des Textverständnisses als Bedeutung jenes Wortes zu wählen. Diese Tätigkeit der Interpretation stellt nicht in Abrede, dass ein Text sinnvoll interpretiert werden kann, bestritten wird jedoch, dass es einen ein für allemal fixierten Textsinn gibt. Ein Text kann prinzipiell auf verschiedene Weisen und nie abschließend verstanden werden und diese Verständnismöglichkeiten werden durch die Struktur des Textes offengehalten. Die freie Assoziation gelangt zu ihren Interpretationsergebnissen nicht durch eine Analyse der Gedanken des Autors oder durch eine etymologisch-lexikalische Untersuchung, sondern allein durch die spontane Herstellung von Bedeutungsverbindungen mit Wörtern, die in einem Text vorkommen. (17) Interpretation als Anwendung: Interpretieren als Anwendung von Textinhalten kann, bedingt durch die Verschiedenheit der Textinhalte und der Situationen, auf die die Anwendung stattfindet, sehr unterschiedlich verstanden werden. In der philosophischen Hermeneutik20 versteht man im Rückgriff auf Hans-Georg Gadamer21 unter der Interpretation eines Textes eine Tätigkeit, bei der die Textinhalte auf die Situation des Interpreten angewandt werden. Das Ergebnis dieser Interpretationstätigkeit wird wesentlich bestimmt durch die subjektiven Erfahrungen und Schwerpunktsetzungen des Interpreten. Der Sinn eines Textes konstituiert sich danach erst in der Auseinandersetzung der spezifischen Biographie des Interpreten mit dem vorgelegten Text. Vor diesem Hintergrund zielt die Interpretation vorrangig darauf, den Text mit Problemen in Verbindung zu bringen, die den Interpreten etwas angehen und beschäftigen, und sich dabei eigener Vorverständnisse bewusst zu werden. – Von diesem Begriff der Interpretation als Anwendung lassen sich weitere Arten der Anwendung von Textinhalten abgrenzen wie beispielsweise die Anwendung von Bibeltexten, die Anwendung von Gesetzestexten und Willenserklärungen oder die Anwendung literarischer

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Die Richtlinien und Lehrpläne Philosophie für die gymnasiale Oberstufe in NRW von 1999 unterscheiden die strenge Textanalyse und Textinterpretation von produktiven Formen des Umgangs mit Texten. So könne beispielsweise ein vorliegender Text verkürzt oder erweitert werden, die Perspektive könne verändert werden, der Text könne umgeschrieben werden oder es könne auch die Lebenswirklichkeit einbezogen werden. Alle diese Tätigkeiten sollten sich jedoch nicht verselbstständigen, sondern dem Textverständnis dienen (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie, a.a.O., S. 32). Zum Begriff der ›Philosophischen Hermeneutik‹ vgl. Bühler, Axel: »Hermeneutischer Intentionalismus und die Interpretation philosophischer Texte«, in: Logos N.F. 2, 1995, Heft 1, S. 1– 18, insbesondere S. 1– 2. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke, 10 Bde., Bd. 1: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 61990.

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Texte.22 So wird es bei der Anwendung von Texten aus der Heiligen Schrift darum gehen, dass der Leser einen persönlichen Bezug zu Jesus Christus entwickelt, die Anwendung von Gesetzestexten und Willenserklärungen besteht in ihrer Verwendung für die Gestaltung einer konkreten politischen oder sozialen Situation23 und die Anwendung eines literarischen Textes, beispielsweise eines Romans, könnte auf die Übernahme gewisser Verhaltensweisen oder Einstellungen zielen. (18) Interpretation als Dekonstruktion von Texten24 : Dekonstruktivistische Verfahren oder Strategien der Textinterpretation gehen von der Voraussetzung aus, dass sich Texte auf verschiedene Weise sinnvoll verstehen lassen, unabhängig davon, was der Autor eines Textes mitzuteilen beabsichtigte. Diese Interpretationsart akzentuiert – wie auch schon die Interpretation als freie Assoziation und gewisse Formen der Interpretation als Anwendung – einen offenen und produktiven Umgang mit Texten ohne die Annahme einer fixierten Textbedeutung. So sollen Texte eher so gelesen werden, dass sie dem Leser Spielräume eröffnen. Dies geschieht in der Weise, dass Texte gezielt im Hinblick auf ihre Brüche, Lücken und verborgenen Aussagen hin gelesen werden, neue Perspektiven an den Text herangetragen, neue Zentren konstruiert, Kontexte verändert und Varianten zu im Text vorkommenden Begriffen, Argumenten, Metaphern und Denkfiguren produziert werden. Unklar bleibt die ich gebe im Folgenden eine zusammenfassende Übersicht über die verschiedenen Interpretationsarten. Leitender Gesichtspunkt sind die unterschiedlichen Zielsetzungen, die mit dem Interpretationsvorgang unterteilt, die sie betreffen. Dazu zählen die schon erwähnten und auch bei A. Bühler angeführten Gesichtspunkte der Texthen1orbringung (1 – 7), der Texteigenschaften, (8 – 10) und der Textbeurteilung und Textwirkung (11 – 15). Darüber hinaus fasse ich unter der Rubrik der Text(de-)konstruktion diejenigen Interpretationsarten (16 – 18) zusammen, die autorielle Intentionen und Gedanken weitestgehend unberücksichtigt lassen und Textinhalte und Bedeutungen von Wörtern in betonter Abhängigkeit von der interpretierenden Person konstruieren.

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Vgl. hierzu A. Bühler, »Die Vielfalt des Interpretierens«, a.a.O., S. 128 – 129 und vgl. Bühler, Axel: »Hermeneutik«, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, 3 Bde., Bd.1, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999, S. 547– 551, insbesondere S. 549. Vgl. Bühler, Axel: »Die Vielfalt des Interpretierens«, a.a.O., S. 129. Bühler weist zu Recht darauf hin, dass bei der Anwendung von Gesetzestexten die anwendende Person, d.h. der Interpret, in der Regel nicht involviert ist. Vgl. hierzu Gefert, Christian: »Text und Schrift. Dekonstruktivistische Verfahren«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 133 – 139.

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 Schema der Interpretationsarten Texthervorbringung

Texteigenschaften

Textbeurteilung/ Textwirkung

(1) Herausfinden kommunikativer Absichten

(8) Herausfinden der konventionellen Bedeutung sprachlicher Textelemente

(11) Herausfinden/ (16) Freie AssoBeschreiben der ziation anhand Wirkung eines eines Texte Textes

(2) Feststellung explizit geäußerter propositioneller Einstellungen

(9) Identifikation konventioneller Darstellungsmittel

(12) Richtigkeit/ Wahrheit von Textinhalten

(3) Erschließen nicht explizit geäußerter propositionaler Einstellungen

(10) Beschreiben struktureller Texteigenschaften und daraus resultierender Textinhalte

(13) Gültigkeit und (18) DekonBeweiskraft von struktion von Argumentationen Texten

(4) Herausfinden von Absichten der sprachlichen Gestaltung

(14) Rationale Rekonstruktion eines Gedankengangs

(5) Psychologische Erklärung kommunikativer Absichten

(15) Kritisch-konstruktive Reflexion von Textinhalten

Text(de-)konstruktion

(17) Anwendung von Textinhalten

(6) Psychologische Erklärung propositionaler Einstellungen (7) Herausfinden dessen, was ein Text exemplifizieren bzw. ausdrücken soll

 Methodische Implikationen der Interpretationsarten Offensichtlich zielen die Interpretationsarten (1) bis (15) auf die Gewinnung von Erkenntnissen. So geht es um die Feststellung von Sachverhalten und/oder Erklärungen, die die Hervorbringung eines Textes, seine Eigenschaften und seine Wirkungen betreffen, und um die Beurteilung von Texten im Lichte rationaler Standards. Diese Ziele spielen bei den verbleibenden Interpretationsarten (16) bis (18), die einen (de-)konstruktiven Umgang mit Texten akzentuieren, offenbar keine entscheidende Rolle. Die Gedanken, Absichten und Motive des Autors sind bei diesen Interpretationsarten nicht oder allenfalls von untergeordnetem Interesse, so dass diesbezügliche Feststellungen, Erklärungen oder Bewertungen nicht in Frage kommen. So kommt Bühler denn zu dem Ergebnis, dass mit der freien Assoziation und der Interpretation als Anwendung von Texten auf die eigene Situation keine kognitiven Zielsetzungen verbunden sind.25 Dieses Verdikt würde er sicherlich auf die hier ergänzte Interpretationsart der Dekon25

Vgl. Bühler, Axel: »Die Vielfalt des Interpretierens«, a.a.O., S. 129, S. 130 u. S. 131.

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struktion von Texten ausdehnen. Doch sind nicht neben der Feststellung von Sachverhalten, Erklärungen und Beurteilungen auch andere Ziele denkbar, die der Erkenntnisgewinnung dienen und in Zusammenhang mit den Interpretationsarten der freien Assoziation, der Anwendung auf die eigene Situation und der Dekonstruktion gebracht werden können? Ich glaube ja, wie ich im Folgenden darlegen werde. Bleiben wir zunächst noch bei den Interpretationsarten (1) bis (15). Soweit es sich um die Feststellung von Sachverhalten handelt, zielt Interpretieren auf das Aufstellen von Behauptungen oder Hypothesen, sogenannten Interpretationshypothesen, die vorläufig (!) als wahr bestätigt bzw. als falsch widerlegt werden können. Im Gegensatz zu den Interpretationshypothesen lassen sich Erklärungen, die in Interpretationen auftreten, sogenannte interpretative Erklärungen, auf Gültigkeit bzw. Ungültigkeit hin beurteilen. Dazu ist es erforderlich zu überprüfen, ob die erklärende Interpretation insgesamt wissenschaftstheoretischen Ansprüchen genügt, die an Erklärungen zu stellen sind.26 Bei der rationalen Rekonstruktion geht es um die Herstellung einer gültigen Argumentation. Diese wird dann daraufhin betrachtet, inwieweit sie noch mit den Gedankengängen und Intentionen eines Autors im Einklang steht oder nicht. Je nach dem Ergebnis dieser Untersuchung lässt sich die rekonstruierte Argumentation dann als adäquat bzw. inadäquat beurteilen. Demgegenüber zielen die Interpretationsarten (16) bis (18) nicht auf Resultate, die im Lichte von Wahrheit und Falschheit, Gültigkeit und Ungültigkeit, Angemessenheit und Unangemessenheit zu beurteilen sind. Sowohl bei der freien Assoziation, der Anwendung auf die eigene Situation als auch der Dekonstruktion wird der Text als Medium benutzt, an dem sich subjektive Befindlichkeiten, persönliche Erfahrungen, Interessen und Probleme abarbeiten können. Die Auseinandersetzung mit dem Text hat so die Funktion, Bewusstseinsprozesse in Gang zu setzen, die die persönliche Situation des Lesers bzw. der Leserin betreffen und ihm oder ihr im günstigsten Fall Hilfestellung für seine bzw. ihre Lebensführung und sein bzw. ihr Weltverständnis geben. Als Ziel assoziativer, anwendender und dekonstruktiver Interpretationsverfahren könnte deshalb die Erkenntnis der eigenen Person, ein Bewusstwerden und daraus vielleicht auch resultierendes Hinterfragen ihres Vor- und Selbstverständnisses und ihrer Lebensführung deklariert werden. Ob ein Text dies zu leisten imstande ist, hängt im Wesentlichen davon ab, was der jeweilige Leser oder die jeweilige Rezipientin für seine bzw. ihre persönliche Situation aus dem Text herauszufiltern vermag, unabhängig davon, was der Autor mit seinem Text an Überzeugungen, Wünschen, Hoffnungen etc. herüberbringen wollte. Kriterium für eine im Sinne dekonstruktiver Methoden »erfolgreiche« Interpretation bleibt die subjektive Einschätzung des Textes durch den

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Zur Logik der Erklärung vergleiche zu einem ersten Überblick den Beitrag von Lenk, Hans: »Erklären, Erklärung«, in: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972, 12 Bde., Bd. 2: D-F, Sp. 693 – 701. Eine sehr ausführliche, auch jüngere Entwicklungen berücksichtigende Darstellung und Kommentierung der Erklärungsproblematik findet sich in Curd, Martin; Cover, Jan A. (Eds.), Philosophy of Science. The Central Issues, W.W. Norton & Co. New York, NY, London 1998, Kap. VI: »Models of Explanation«.

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Rezipienten bzw. die Rezipientin, die sich daran misst, was ihm oder ihr ein vorgelegter Text persönlich »gebracht« hat.

 Voraussetzungsbeziehungen der Interpretationsarten Viele der angeführten Interpretationsruten sind nicht unabhängig voneinander. Um die kommunikativen Absichten und propositionalen Einstellungen eines Autors bzw. einer Autorin erklären zu können, müssen diese erst einmal identifiziert worden sein. Ebenso setzen die beurteilenden Interpretationsarten, die Textinhalte hinsichtlich ihrer Wahrheit überprüfen, Argumentationen auf Gültigkeit und Beweiskraft hin untersuchen, einen Gedankengang rational rekonstruieren und Textinhalte kritisch-konstruktiv reflektieren, sachlich voraus, dass die Gedanken und Intentionen des Autors oder der Autorin korrekt bestimmt und erfasst wurden. Eine Textinterpretation mit intentionalistischer Zielrichtung, die die kommunikativen Absichten und propositionalen Einstellungen des Autors bzw. der Autorin in ihren Mittelpunkt stellt, umfasst deshalb die folgenden beiden methodischen Schritte, die von der Sache her aufeinander aufbauen und denen sich jeweils gewisse Interpretationsarten des angegebenen Klassifikationsschemas zuordnen lassen27 : Problembestimmung und Erfassung des Textinhaltes: Dieser erste Schritt zielt darauf, das Problem, mit dem sich der Textautor oder die -autorin auseinandersetzt, zu erkennen und zu formulieren. Darauf bauend kann dann die Problementfaltung, gegebenenfalls auch Problemlösung der Autorin oder des Autors reproduziert werden. Bei der Problembestimmung und Erfassung des Textinhaltes geht es vorrangig um eine inhaltliche Erarbeitung dessen, was der Autor bzw. die Autorin mit seinem bzw. ihrem Text beabsichtigt, welche Problemkreise er bzw. sie anspricht und wie er bzw. sie sich mit diesen auseinandersetzt. Um dies zu leisten, gilt es beispielsweise begriffliche Klärungen vorzunehmen, die illokutionäre Rolle wesentlicher Textäußerungen zu erkennen28 und den Textaufbau und Gedankengang des Autors bzw. der Autorin nachzuzeichnen. Je nach Voraussetzungsbestand des Textes29 müssen in dieser Phase Informationen über den historisch-kulturellen, insbesondere auch den wissenschaftlichen Hintergrund des Autors / der Autorin eingeholt werden, muss auf andere Werke desselben Autors bzw. derselben Autorin Bezug genommen werden oder müssen

27

28

29

Zu den methodischen Schritten einer Textinterpretation in intentionalistischer Absicht vgl. z.B. Ridder, Lothar: »Textarbeit im Philosophieunterricht aus hermeneutisch-intentionalistischer Sicht am Beispiel des Homo-mensura-Satzes von Protagoras«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 124 – 132 und vgl. Ridder, Lothar: »Hermeneutischer Intentionalismus und Textinterpretation im Philosophieunterricht«, a.a.O., S. 1235 – 1237. Zur Bestimmung der mit sprachlichen Äußerungen einhergehenden Sprechakte vgl. z.B. Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2: Methodenfragen, S. 16 – 24. Unter »Voraussetzungsbestand« eines Textes verstehe ich dasjenige, was der Autor in seiner historischen Situation als bekannt voraussetzen konnte.

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begriffliche Einflüsse andere Autoren untersucht werden. Bei diesem Interpretationsschritt sind diejenigen Interpretationsarten von Bedeutung, die Aspekte der Texthervorbringung, der Texteigenschaften und der Textwirkungen zum Gegenstand haben. Beurteilung/Kritik der Textinhalte: Die Textbeurteilung umfasst zum einen die Erarbeitung und Analyse der Argumentationsstruktur des Textes, um so die logischen Zusammenhänge und Konsequenzen der Gedanken eines Autors oder einer Autorin deutlich zu machen, den Beweisgang des Textes prüfen und eventuelle Beweislücken aufdecken zu können. Diese Interpretationsbemühungen, die in den Interpretationsarten (12) bis (14) Berücksichtigung finden, schaffen die wesentlichen und unerlässlichen Voraussetzungen dafür, sich auf sachliche und faire Weise mit den Gedanken eines Autors oder Autorin kritisch auseinanderzusetzen. Über die Fragen nach der Wahrheit von Textinhalten, nach der Gültigkeit und Beweiskraft von Argumentationen und nach der Rekonstruierbarkeit eines Gedankenganges hinaus sollte eine umfassende kritische Prüfung des Textes zum anderen diejenigen Gesichtspunkte einbeziehen, die eine kritisch-konstruktive Reflexion von Textinhalten im vorher schon erläuterten Sinne der Interpretationsart (15) betreffen. Hierzu gehört beispielsweise auch das Herausfinden und Beurteilen der Wirkungen, die eine Autormeinung auf den Leser ausübt bzw. ausüben soll, so wie es die Interpretationsart (11) zum Ziele hat. Entsprechende Abhängigkeitsbeziehungen scheinen zwischen den Interpretationsarten (16) bis (18) untereinander bzw. diesen und den Interpretationsarten (1) bis (15) nicht zu bestehen. So setzt die Durchführung einer der Interpretationsarten der freien Assoziation, der Anwendung auf die eigene Situation oder der Dekonstruktion von Textinhalten keine der anderen in irgendeiner Weise voraus, und es bedarf zu ihrer Praktizierung auch nicht einer vorherigen korrekten Identifikation oder Erklärung von Autorabsichten oder Autorgedanken, der Herausarbeitung struktureller Texteigenschaften, der Beschreibung der Wirkungen eines Textes oder einer Textbeurteilung im Sinne der Interpretationsarten (1) bis (15). Umgekehrt stellen die text(de-)konstruktiven Methoden (16) bis (18) offenbar auch keine von der Sache her gegebene notwendige Bedingung für das Erreichen eines der Interpretationsziele (1) bis (15) dar. Insgesamt erlauben deshalb die Interpretationsarten (16) bis (18) eine untereinander und von den anderen angefühlten Interpretationsarten unabhängige Praktizierung.

 Zur Vollständigkeit des Schemas der Interpretationsarten Beinhaltet unser Schema der Interpretationsarten alle möglichen Zielsetzungen, die mit einer Interpretation von Texten verbunden werden können? Wurden vielleicht bestimmte auf Texte bezogene interpretative Tätigkeiten, die in den Wissenschaften praktiziert oder in der wissenschaftlichen Literatur angeführt werden, übersehen? Betrachten wir dazu zunächst die von Johannes Rohbeck im Rückgriff auf verschiedene philosophische Denkrichtungen gewonnenen Methoden, die er nach den Medien Sprechen, Lesen und Schreiben differenziert. Beschränken wir uns hier auf das Lesen

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eines Textes. Rohbeck kommt diesbezüglich zu folgenden Ergebnissen30 : Gemäß der Analytischen Philosophie ist der Argumentationsgang eines philosophischen Textes nachzuvollziehen und auf begriffliche Genauigkeit, logische Folgerichtigkeit und Plausibilität zu prüfen. Unter konstruktivistischer Perspektive geht es darum, die implizit gebliebenen Voraussetzungen philosophischer Aussagen zu rekonstruieren, die Phänomenologie überprüft und beurteilt Textinhalte anhand eigener Erfahrungen und die Dialektik zielt auf die Aufdeckung und Kritik von Widersprüchen und Defiziten in philosophischen Texten. Alle diese Tätigkeiten finden sich in unserem Schema unter dem Aspekt der Textbeurteilung in den Interpretationsarten (12) bis (15) wieder. Und die hermeneutische Klärung von Vorverständnissen beim Interpretieren von Texten sowie das dekonstruktive lnfragestellen von Texten im Hinblick auf Brüche, Lücken, Ränder und verborgene Aussagen entsprechen den Interpretationsarten (17) bzw. (16) und (18) unserer Liste. Nach Matthias Gatzemeier sollte eine philosophische Textinterpretation vier Rekonstruktionen umfassen31 : die synonyme, immanente, systematisch-kritische und systematisch-konstruktive Rekonstruktion. Die ersten beiden Schritte tragen dazu bei, sich möglichst weitgehend den Standpunkt des Autors bzw. der Autorin zu eigen zu machen. Die synonyme Rekonstruktion bemüht sich um ein Verständnis des Argumentationsgangs, der gegebenenfalls bei der immanenten Rekonstruktion im Einklang mit den Intentionen des Autors zu erweitern und zu ergänzen ist. Dazu können andere Schriften und Äußerungen des Textautors, seine Biographie etc. herangezogen werden. Der dritte Schritt beurteilt den synonym und immanent rekonstruierten Argumentationsgang in systematischer und kritischer Weise, d. h. lehnt ihn beispielsweise aus praktischen oder methodischen Erwägungen heraus ab. Und die so geprüften Problemlösungsvorschläge eines Autors oder einer Autorin werden im vierten und letzten Schritt fortgeführt. Die von Gatzemeier zur Interpretation philosophischer Texte angeführten Interpretationsarten finden sich auch in der hier vorgelegten Klassifikation wieder. Die synonyme und immanente Textrekonstruktion lässt sich durch all jene Interpretationsarten beschreiben, die den Text im Sinne des Autors bzw. der Autorin verstehen wollen, im Wesentlichen durch die Interpretationsarten (1) bis (9) und (14). Dabei lässt sich die immanente Rekonstruktion durch all jene Interpretationsarten charakterisieren, die es ermöglichen, über die unmittelbar am Text zu identifizierenden Absichten und Gedanken des Autors bzw. der Autorin hinauszugehen, insbesondere etwa die Interpretationsarten (1), (3), (5), (6) und (14). Und mit den Interpretationsarten (11) bis (13) erhalten wir Gatzemeiers systematisch-kritische Rekonstruktion, mit der Interpretationsart (15) die systematisch-konstruktive Rekonstruktion. Reinhardt Brandt32 unterscheidet eine bestimmende Interpretation, die die Meinung und Absicht des Autors bzw. der Autorin in wohlwollender Weise untersucht und

30 31

32

Vgl. Rohbeck, Johannes: »Didaktische Potenziale philosophischer Denkrichtungen«, a.a.O., S. 86. Vgl. Gatzemeier, Matthias: »Methodische Schritte einer Textinterpretation in philosophischer Absicht«, a.a.O., S. 311– 312 und vgl. die Erläuterungen in Fußnote 17. Vgl. Brandt, Reinhard: »Zur Interpretation philosophischer Texte«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1, 1976, Heft 3, S. 46 – 62 und vgl. Brandt, Reinhard: »Die Interpretation philosophischer Werke«,

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kritisiert, von einer reflektierenden Interpretation, die die Sphäre der ursprünglichen Autorintention überschreitet und den objektiven Bedeutungsgehalt eines Textes zum Gegenstand hat. Die bestimmende Interpretation lässt sich in der gewohnten Weise wieder mit den Interpretationsarten unseres Schemas in Zusammenhang bringen, die die Auslegung und Kritik eines Textes am Autor bzw. an der Autorin orientieren. Die reflektierende Interpretation, die davon ausgeht, dass ein Text mehr aussagen kann als der Autor oder die Autorin gemeint hat, hat hingegen – wie Interpretationsart (10) – die Herausarbeitung und Beschreibung objektiver Textstrukturen und -bedeutungen zum Ziel. Ähnlich wie in den Beispielen der von Gatzemeier und Brandt erwähnten Interpretationsmethoden lassen sich viele andere in der Literatur zu findenden Interpretationsarten in unserem Klassifikationsschema entweder direkt finden oder durch Kombination verschiedener Interpretationsruten erhalten. Bühler erwähnt etwa noch die stillbestimmende und literaturhistorische Interpretation.33 So verbindet die stilbestimmende Interpretation, die die Stilzüge eines Textes beschreibt und diese als Resultat eines Stilprinzips deutet, die Beschreibung struktureller Texteigenschaften (10) mit der psychologischen Erklärung der Absichten (5) und der Gedanken eines Autors bzw. einer Autorin (6). Und die literaturhistorische Interpretation, die einen Text als Produkt seiner Zeit erweist und ihn so einer bestimmten Epoche zuordnet, zielt vor allem auf die Identifikation konventioneller Darstellungsmittel (9).

 Didaktisch-methodische Anmerkungen Die einzelnen Interpretationsarten verweisen auf eine Vielzahl von Zielsetzungen, deren Umsetzung mit verschiedenen Kompetenzen des Interpreten von sehr unterschiedlichem Anforderungsniveau in Verbindung gebracht werden kann. Für die Praxis des Philosophieunterrichts ergeben sich hieraus unmittelbar folgende Fragen, auf die ich in diesem Abschnitt eingehen möchte: Welche unterrichtlichen Tätigkeiten lassen sich welchen Interpretationsarten zuordnen? Lassen sich alle mit den verschiedenen Interpretationsarten verbundenen Kompetenzen im Philosophieunterricht gleichermaßen vermitteln? Gibt es vielleicht gewisse Interpretationsarten, die im Philosophieunterricht nicht praktiziert werden können? Sollten gewisse Interpretationsarten nur unter bestimmten Einschränkungen oder überhaupt nicht im Philosophieunterricht vermittelt werden? Sind bei der Interpretation von Texten bestimmte Interpretationsarten eine conditio sine qua non für andere Interpretationsarten? Müssen bei jedem Text alle Interpretationsarten zur Anwendung kommen oder sind manche verzichtbar,

33

in: Rehfus, Wulf D.; Becker, Horst: Handbuch des Philosophie-Unterrichts, Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel, Düsseldorf 1986, S. 229 – 241. Vgl. Bühler, Axel: »Die Vielfalt des Interpretierens, a.a.O., S. 132. Bühler verweist bezüglich dieser beiden Interpretationsarten auf Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Definition, Klassifikation. Interpretation, Bewertung, Kap. 5.2 und 5.4.

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manche unverzichtbar? Wer oder was entscheidet über die Anwendung welcher Interpretationsart(en)? In der vorgelegten Klassifikation der Interpretationsarten finden sich die maßgebenden theoretischen Konzeptionen der Gegenwart bezüglich der möglichen Ziele einer Textinterpretation wieder, und zwar der Hermeneutische Intentionalismus in den Interpretationsarten (1) bis (9) und (11) bis (15), die Philosophische Hermeneutik in der Interpretationsart (17), der Strukturalismus in der Interpretationsart (10) und der Dekonstruktivismus in den Interpretationsarten (16) und (18), eventuell auch noch in (17). Die Frage danach, welche Interpretationskompetenzen im Philosophieunterricht anzustreben sind, lässt sich deshalb auch so formulieren, ob alle theoretischen Positionen von den Zielen einer Textinterpretation im Philosophieunterricht berücksichtigt werden sollten. Nun scheint in der philosophiedidaktischen Literatur die intentionalistische Auffassung von den Zielen der Textinterpretation vorherrschend zu sein.34 Ebenfalls gehen die neuen (ab dem Schuljahr 1999/2000 gültigen) wie auch schon die alten Richtlinien für das Fach Philosophie in der gymnasialen Oberstufe NRW davon aus, dass ein philosophischer Text um einer philosophischen Problemstellung und -lösung willen verfasst wurde und dass es im textgebundenen Unterricht darum gehe, den Gedankengang des Autors zu rekonstruieren. Ziel der Interpretation sei eine angemessene, den Werkkontext berücksichtigende Würdigung des Autors.35 Sollten deshalb die strukturalistischen, philosophisch-hermeneutischen und dekonstruktivistischen Interpretationsverfahren vom Philosophieunterricht ausgeschlossen werden?36 Ich glaube 34

35

36

Vgl. z.B. Gatzemeier, Matthias: »Methodische Schritte einer Textinterpretation in philosophischer Absicht«, a.a.O., S. 312, vgl. auch Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht«, a.a.O., S. 16, vgl. ferner Rehfus, Wulf D.: Didaktik der Philosophie, Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel, Düsseldorf 1980, S. 187, vgl. ebenfalls Rohbeck, Johannes: »Begriff, Beispiel, Modell«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 26 – 42: S. 26; vgl. darüber hinaus Langebeck, Klaus: Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: ibid., S. 3 – 11, S. 5 und vgl. van der Leeuw, Karel; Mostert, Pieter: »Der Dschungel und der Kompass. Textverstehen im Philosophieunterricht«, in: ibid., S. 42 – 48: S. 42. – Zu den Möglichkeiten und Grenzen hermeneutisch-intentionalistischer Interpretationsmethoden im Philosophieunterricht vergleiche meine Interpretation und Kritik des Homo-mensura-Satzes in: Ridder, Lothar: »Textarbeit im Philosophieunterricht aus hermeneutisch-intentionalistischer Siehe am Beispiel des Homo-mensura-Satzes«, a.a.O., insbesondere S. 128 – 132. Vgl. Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Richtlinien Philosophie für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen, Heft 4716, Köln 1981, S. 82ff. und vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie, a.a.O., S. 30 – 32. Beispiele für die Anwendung dekonstruktivistischer und strukturalistischer Interpretationsmethoden im Philosophieunterricht finden sich bei Gefert, Christian: »Text und Schrift. Dekonstruktivistische Verfahren«, a.a.O., vgl. auch Gefert, Christian: »Philosophieren als theatraler Akt – Plädoyer für eine Öffnung des Wahrheitsbegriffs im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 20, 1998, Heft 1: Mittelalter, S. 74 – 76 und vgl. Hiß, Torsten: »Vom Lesen zum Schreiben – vom Schreiben zum Lesen. Strukuralistische und dekonstruktivistische Profile für den Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik. der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 140 – 148. Eine Vielzahl auch praktischer Anregungen zum produktiven Umgang mit philosophischen Texten enthält das Buch von Steenblock, Volker: Philosophische Bildung. Einführung in die Philosphiedidaktik und Handbuch Praktische Philosophie, LIT Verlag,

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nicht! Auch die Produktion und Auseinandersetzung alternativer Textlesarten kann vor dem Hintergrund der Intentionen und Gedanken des Textautors dazu dienen, das Textverständnis zu erleichtern und zu überprüfen. Zudem ist es vorstellbar, einen Text völlig unabhängig von dem und vielleicht auch entgegensetzt zu dem, was sein Autor bzw. seine Autorin damit bezweckte, für unterrichtliche Zielsetzungen zu verwenden. Die Wahl philosophischer (Interpretations-)Methoden im Philosophieunterricht sollte grundsätzlich dadurch bestimmt sein, welche Kompetenzen sich mit ihnen vermitteln lassen. Neben einer streng am Autor ausgerichteten Textanalyse und Textbeurteilung sind auch andere, mehr am Leser orientierte Formen des Umgangs mit Texten im Philosophieunterricht denkbar und wünschenswert. Die Vermittlung von Kompetenzen zur Erfassung von Textinhalten, die Entwicklung von Fähigkeiten zur rationalen Rekonstruktion und zur Kritik von Gedankengängen eines Autors bzw. einer Autorin sind eine Sache. Hier geht es darum, Probleme zu formulieren und im Text angebotene Problemlösungen zu entfalten, Schlüsselbegriffe zu erläutern und Begriffszusammenhänge zu erkennen und in Schaubildern deutlich zu machen, Prämissen und Implikationen zu identifizieren, die Gültigkeit und Beweiskraft von Argumenten zu überprüfen usw. Eine andere Sache ist ein Umgang mit Texten, der die vom Autor oder der Autorin bewusst vergebenen Bahnen verlässt oder zumindest in den Hintergrund treten lässt. Der Text funktioniert nun als Inspirationsvorlage, vorgegebene Wortbedeutungen und Perspektiven können verändert, Texte umgeschrieben werden usw. Dieser produktive Umgang mit Texten fördert die Kreativität und eröffnet den Schülerinnen und Schülern Freiheitsspielräume, die ihnen das phantasievolle Einbringen ihrer Gedankenwelten und ihrer Lebenswirklichkeiten in besonderem Maße erlauben. Trotz der konstatierten Voraussetzungsbeziehungen, denen viele der Interpretationsarten unterliegen37, haben diese nicht zur Folge, dass in der Praxis der Textinterpretation diese sachlogische Abfolge stets einzuhalten wäre. Die Anwendung des hermeneutischen Grundsatzes, dass wir das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne nur aus dem Ganzen verstehen können, zeigt vielmehr, dass sich ein adäquates Textverständnis als ein Prozess von Hypothesenkorrekturen darstellt, die sich aus der wechselweisen Betrachtung größerer Texteinheiten und ihrer Teile ergeben.38 Deshalb

37 38

Münster 2000, Kap. 3: Philosophieren ›können‹ – Methoden des Philosophierens und des Philosophieunterrichts, S. 89 – 125. Vgl. in diesem Aufsatz Unterkapitel 4: Voraussetzungsbeziehungen der Interpretationsarten. Die gängige Rede von einem ›Zirkel‹ des Verstehens sollte vermieden werden, da damit fälschlicherweise der Eindruck entstehen könnte, der Verstehensprozess sei mit einer unaufhebbaren vitiösen Zirkelhaftigkeit belastet. Gegen eine solche Auffassung lässt sich zeigen, dass bestimmte mit der Wendung ›hermeneutischer Zirkel‹ gemeinte Schwierigkeiten der Interpretation von Texten vom Grundsatz her lösbar sind. (Vgl. dazu Stegmüller, Wolfgang: »Walther von der Vogelweides Lied von der Traumliebe und Quasar 3 C 273. Betrachtungen zum sogenannten Zirkel des Verstehens und zur sogenannten Theorienbeladenheit der Beobachtungen«, in: Stegmüller, Wolfgang: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, RUB 9938, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1986 S. 27–86). Die These von der wesentlichen Zirkelhaftigkeit des Verstehens wurde ausdrücklich wohl zuerst von dem Altphilologen Friedrich Ast (1778 – 1841) vertreten (vgl. Bühler, Axel: »Hermeneutik«, a.a.O., S. 550). In der kritischen Hermeneutik wird der Terminus ›hermeneutischer Zirkel‹ durch die Metapher der ›hermeneutischen Spirale‹ ersetzt (vgl. z.B. Bremerich, Albert: »Kritische Hermeneutik und Phi-

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kann es nicht verwundern, dass beim Vorgang der Texterschließung verschiedene Interpretationsschritte verzahnend ineinandergreifen. Eine strikte Trennung von Reproduktion und Rekonstruktion auf der einen Seite und Verständnis und Beurteilung auf der anderen Seite wird sich praktisch nicht durchgängig einhalten lassen. Nichtsdestoweniger erscheint ein aus der Problembestimmung und Erfassung des Textinhaltes resultierendes Textverständnis unerlässlich für eine abschließende kritischkonstruktive Reflexion der Autorabsichten und des Gedankengangs eines Textes. Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Textinterpretation, die allen Interpretationsschritten in vollem Umfang gerecht wird, kann in der Unterrichtspraxis nur als Idealfall angesehen werden. Bei einer in intentionalistischer Absicht erfolgenden Interpretation philosophischer Texte geht es wesentlich darum, die kommunikativen Absichten und Gedanken des Autors zu identifizieren und beschreiben. Schwierigkeiten bei der Erfüllung dieser Aufgabe ergeben sich umso wahrscheinlicher, je größer der historische und kulturelle Abstand zwischen Autor und Interpreten ist. Um Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden, gilt es deshalb, Abstände der angezeigten Art im Blickpunkt zu haben und sie nach Möglichkeit zu überbrücken. Überbrückungsweisen können unter anderem darin bestehen, die Biographie eines Autors bzw. einer Autorin miteinzubeziehen, seinen bzw. ihren kulturellen, politischen und sozialen Hintergrund zu beachten und bei der Erschließung von Textbedeutungen die geistigen Strömungen seiner bzw. ihrer Zeit, insbesondere auch Einflüsse anderer Autoren hinsichtlich der Begriffsbildung zu berücksichtigen. Es ist unmittelbar einsichtig, dass dem Lehrer bzw. der Lehrerin in dieser Hinsicht bei der Auswahl unterrichtlicher Texte eine besondere Verantwortung obliegt. Je größer der kulturelle Abstand zwischen Interpreten, hier Schüler, und Textautor, umso schwieriger und anspruchsvoller gestaltet sich die Aufgabe der Lehrenden, eine zeitliche Brücke im Sinne einer adäquaten Textinterpretation zu schlagen. Zugleich damit wird auch deutlich, dass der Interpretationsvorgang je nach den sozio-kulturellen Voraussetzungen und Vorverständnissen der Interpreten, hier der Schülerinnen und Schüler, eine Modifikation erfahren wird und muss, die zur Erstellung immer neuer Interpretationen führen kann und wird. Inwieweit und ob die Schülerinnen und Schüler beispielsweise die Untersuchung der Gültigkeit und der Beweiskraft von Argumentationen und die rationale Rekonstruktion eines Gedankengangs überhaupt leisten können, wird in starkem Maße von der fachlichen Qualifikation und dem didaktisch-methodischen Geschick des Lehrers bzw. der Lehrerin abhängen. Dabei spielt nicht nur die Textauswahl eine entscheidende Rolle, sondern gerade auch die Einübung und Hinterfragung argumentativer Strategien im Philosophieunterricht. Hieraus erwächst die nicht einfache Aufgabe für den Philosophieunterricht, den Schülerinnen und Schülern Grundkenntnisse des logischen Schließens und Techniken rationaler Argumentation zu vermitteln. Die in der Philosophiedidaktik jenseits von Richtungskämpfen zu verzeichnende Methodenorientierung, die auf die Vermittlung pluraler fachlicher Formen selbständilosophiedidaktik. Sprachphilosophische Reflexionen«, in: Aufgaben und Wege des Philosophieunterrichts N.F. 12, 1979, S. 48 – 64, insbesondere S. 54).

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gen Philosophierens zielt, kann nur begrüßt werden. Der philosophische Diskurs, die Interpretation von Texten und das eigenständige Verfassen philosophischer Texte stehen als gleichberechtigte Methoden nebeneinander. Wie die vorangegangenen Überlegungen zeigen sollten, eröffnet der textgebundene Philosophieunterricht mit der Interpretation von Texten eine Vielzahl von Zielsetzungen und damit verbundenen Methoden. Auch hier sollte es nicht darum gehen, einzelne Interpretationsmethoden aus dem Philosophieunterricht zu verbannen. Vielmehr sollten die verschiedenen interpretativen Verfahren eingedenk ihrer besonderen Leistungsfähigkeit zur Vermittlung philosophischer Methodenkompetenz im Philosophieunterricht gezielt, transparent und sachlich adäquat eingesetzt werden. Quelle: Ridder, Lothar: »Methoden der Interpretation im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes: Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2001, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 116 – 143.

Textarbeit im philosophischen Unterricht Volker Haase, Donat Schmidt

E

ine wichtige didaktische Standpunktklärung betrifft die Rolle von Texten im philosophischen Unterricht. Ausgehend von den Paradigmen des Lebensweltbezuges, der Schülerzentrierung und der Dialogizität kann es nicht seine Aufgabe sein, selbstzweckhaft Theoreme der Philosophiegeschichte zu tradieren. Andererseits erfordert jedes Philosophieren eine Abstraktion vom Nahbereich des eigenen Erlebens und eine kritische Überprüfung von Vorurteilsstrukturen mit Hilfe fremder Perspektiven.1 Zudem gelingen Diskussionen, und zwar insbesondere im Bereich der sogenannten angewandten Ethiken, nur auf der Basis eines sicher verfügbaren Sachwissens. Zur Herstellung einer geeigneten Reflexionsdistanz haben sich Texte ebenso bewährt wie als Informationsquelle. Ihr Status als Leitmedium der philosophischen Fächergruppe ist in der Konsequenz unbestritten. Dabei darf es allerdings nicht darum gehen, im philosophischen Text nach einer einzig möglichen, vom Autor unmissverständlich angelegten Interpretation zu forschen. Ein solches Verständnis von Textarbeit als Exegese entspräche auch nicht dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Textwissenschaften. Benötigt wird im Sinne einer angstfreien Heranführung an philosophische Originaltexte vielmehr eine Unterrichtsmethodik, die auch schon ein erstes »naives« Textverständnis der Lernenden würdigt und nicht als defizitär abwertet. Die darüber hinausgehende, mehr oder weniger gegebene Fremdheit des Textes sollte im weiteren Unterrichtsgang aber auch als Provokation erlebbar gemacht werden und eine aktive Neupositionierung der Schülerinnen und Schüler einfordern. Der Text ist damit insgesamt als ein wichtiger »Gesprächspartner« der Lerngruppe in lebensweltlich relevanten philosophischen Fragen zu verstehen.2 Die Unterrichtspraxis spiegelt überwiegend diese zentrale Bedeutung der Textarbeit für den philosophischen Erkenntnisgewinn wider. Ebenso weit verbreitet sind jedoch typische Probleme: Die Lernenden tun sich oftmals bereits mit dem Verständnis von vergleichsweise einfach strukturierten Texten schwer. Zudem sind sie nur selten intrinsisch dazu motiviert, sich mit genuin philosophischen Texten auseinanderzusetzen. Beide Schwierigkeiten bedingen sich wechselseitig. Neben der schon markierten Notwendigkeit, le1

2

Vgl. Münnix, Gabriele: »Fremdheit als Grenze des Verstehens. Zum Problem von Multiperspektivität und Hermeneutik«, in: Hogrebe, Wolfram (Hrsg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen, XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, Bonn, 23.–27. September 2002, Vorträge und Kolloquien, Sinclair Press, Bonn 2002, S. 1173 – 1180. Vgl. Langebeck, Klaus: Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 3 – 11 und vgl. Gefert, Christian: »Die Arbeit am Text – Das Schweigen der Schrift und Strategien der Texteröffnung« , in: Rohbeck, Johannes: Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2001, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 144 – 164.

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Volker Haase, Donat Schmidt

bensweltliche Zugänge zum Text anzubieten, kommt es daher auch darauf an, den Schülerinnen und Schülern ein explizites, zunehmend selbstständig anwendbares Methodenwissens an die Hand zu geben. Denn wer weiß, wie er Texte für sich erschließen kann, ist auch eher gewillt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Entsprechend liegt der Fokus dieses Artikels darauf, rezeptionsorientierte Verfahren der Textarbeit vorzustellen und zu diskutieren. Gemeint sind hierbei Verfahren, die systematisch auf die Herstellung eines Verständnisses von Texten abzielen, indem einzelne Elemente in ihnen fokussiert, nach bestimmten Kriterien geordnet oder in ihren Beziehungen zueinander bzw. zu weiteren Quellen oder zum Vorwissen des Lesers untersucht werden. Ziel solcher Operationen ist neben der Beschreibung auch die Kritik von Aussagen, Absichten und Funktionsweisen der Texte. Für dieses Spektrum von Tätigkeiten ist der recht verbreitete Alternativbegriff der ›Textanalyse‹ kein geeignetes Synonym. Er ermöglicht zwar einerseits eine sinnvolle Abgrenzung von den sogenannten »produktionsorientierten« bzw. »kreativ-dekonstruktiven« Verfahren der Textarbeit, und zwar insbesondere in den Bereichen des theatralen Philosophierens und des kreativen Schreibens. Andererseits suggeriert er aber eine Beschränkung auf Methoden der analytischen Philosophie, während de facto insbesondere auch Verfahren der hermeneutischen und dialektischen Tradition (Transformationsdidaktik) eine Rolle spielen. Die nachfolgenden Ausführungen bemühen sich um einen systematischen Überblick über besonders bewährte Verfahren rezeptionsorientierter Textarbeit.

 Typische Unterrichtsphasen rezeptionsorientierter Textarbeit Rezeptionsorientierte Textarbeit, die den Qualitätsmerkmalen schülerinnen- und schülerzentrierten und problemorientierten Unterrichts folgt, befähigt die Lernenden zunehmend dazu, sich selbstständig mit dem Gesprächspartner Text auseinanderzusetzen. Der idealtypische Verlauf einer Textarbeit umfasst daher mehr als nur eine »Texterschließung« im engeren Sinne. Vielmehr ist in Anknüpfung an Volker Pfeifer3 so oft wie möglich ein vierstufiges projektartiges Vorgehen zweckmäßig, das den Lernenden als solches auch transparent gemacht werden sollte. Mit Abstrichen im ersten und vierten Schritt ist diese Anleitung jedoch auch für die Planung von Stunden mit stärkerer Lehrerzentrierung, in denen Textarbeit im Mittelpunkt steht, instruktiv: 1. In der Vorbereitungsphase geht es zunächst darum, Vorwissen, Erwartungen und Einstellungen zum Thema des Textes zu explizieren. Außerdem kommt es im Sinne einer inhaltlichen Planung der Textarbeit zur Formulierung einer Problemfrage bzw. eines konkreten Erkenntniszieles. Ferner ist festzulegen, auf welcher Textgrundlage, in welcher konkreten Sozialform und mit welcher speziellen Methode der Textarbeit der weitere Unterrichtsverlauf ausgestaltet werden soll. 2. Hieran schließt sich eine Phase der Textbegegnung und der Erarbeitung eines Konsenses im Textverständnis an. Für den ersten Zugriff auf den Text empfiehlt sich zunächst 3

Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen?, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2003, S. 119.

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die Verwendung einer oder mehrerer der im Folgenden angeführten Methoden der Texterschließung. Es folgt eine dezidiert noch im Vorläufigen verbleibende Textdeutung und die gemeinsame Formulierung weiterführender Verständnisfragen an den Text. Diese bieten eine Orientierung für die sich anschließende genauere Untersuchung auf der Basis einer konkreten Methode aus dem Repertoire der analytischen und hermeneutischen Verfahren (vgl. hierzu die folgenden Abschnitte). Die Ergebnisse dieser Erarbeitung münden in eine erneute, tiefer fundierte Deutung des Textes. 3. Hieran knüpft die Phase der Textkritik und Reflexion an. Die herausgearbeiteten Aussagen sind nun einer argumentativen Überprüfung durch die Lernenden zu unterziehen. Ziel ist die Erarbeitung eines eigenen Standpunktes unter Verwendung dialektischer Verfahren (vgl. Abschnitt Dialektische Verfahren), wobei auch individuelle Positionen innerhalb der Lerngruppe nebeneinander stehenbleiben können, sofern sie schlüssig auf den Text bezogen bleiben. Diese Phase endet mit einem Rückbezug auf den eigenen Erfahrungshorizont der Schülerinnen und Schüler. Gefragt werden kann z. B. nach der Bedeutung des Kennengelernten für das Verständnis bzw. für die Bewältigung philosophisch relevanter Probleme in der Alltagswirklichkeit. 4. In der abschließenden Auswertungsphase ist zu beurteilen, ob die am Anfang des Unterrichtsganges aufgeworfene Problemfrage geklärt ist. Die Formulierung neuer Fragestellungen ist darüber hinaus ebenso möglich wie die Auswahl weiterer Texte zum Thema. Neben der Bilanzierung des Erkenntnisgewinns aus der Arbeit mit dem Text kommt es in dieser Phase auch darauf an, die gewählte Methode der Textarbeit hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen zu reflektieren und konkrete Defizite zu benennen, die bei einer nochmaligen Anwendung vermieden werden können. Im wünschenswerten Fall werden die Lernenden zu einer selbstständigen Auseinandersetzung mit Texten nach diesem Muster bereits bis zum Abschluss der Sekundarstufe I hingeführt. Wichtig ist hierbei vor allem der systematische Aufbau eines breiteren Repertoires an geeigneten Methoden. Die nachfolgende Auswahl stützt sich auf die oben bereits erwähnte Einteilung im Sinne der Transformationsdidaktik. Vorangestellt werden kleinere Methoden, die die tiefere Arbeit am Text vorbereiten können.

 Typisierung methodischer Zugänge Basale Formen der Texterschließung Bei der gemeinsamen Satz-für-Satz-Lektüre (Close Reading) tragen die Schülerinnen und Schüler der Reihe nach jeweils einen Satz vor, wobei sie auf eine sinnerschließende Betonung der wichtigsten inhaltlichen Akzente achten. Fortgesetzt wird die Lektüre immer erst dann, wenn unklare Begriffe von der Lerngruppe definiert worden sind. Eine weiterführende Möglichkeit zur Überprüfung des Textverständnisses besteht in der Aufgabe, den gelesenen Satz oder Abschnitt jeweils knapp in eigenen Worten zusammenzufassen. Zu dieser Technik des ›Verzögerten Lesens‹ gehört es zugleich, an geeigneten Stellen Spekulationen zum inhaltlichen Fortgang des Textes zu äußern. Weil

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hier eine starke Lenkung durch die Lehrkraft erkennbar ist, handelt es sich nach Klaus Langebeck4 bzw. nach Barbara Brüning5 in beiden Fällen um Verfahren der Texterschließung mit Anleitung. Dasselbe gilt, in schriftlicher Form, für vorgegebene Leitfragen, die von den Lernenden bei der ersten Lektüre des Textes beantwortet werden sollen. Ebenfalls in diese Kategorie fallen z. B. Thesen-Kataloge (Multiple-Choice-Aufgaben), bei denen die Richtigkeit von vorgegebenen Paraphrasen schwieriger Textsequenzen zu überprüfen ist, und vorstrukturierte Arbeitsblätter, auf denen an den entsprechenden Stellen Informationen aus dem Text einzutragen sind. Von solchen Verfahren unterscheiden die genannten Autoren Methoden der eigenständigen Texterschließung mit Anleitung. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie »unterstützend für das eigene Nachdenken über den Text« wirken. Beispiele in dieser Kategorie sind das Gliedern des Textes in Sinnabschnitte, das Formulieren von Zwischenüberschriften für jeden Abschnitt sowie das verschiedenfarbige Markieren von Informationen zu unterschiedlichen inhaltlichen Aspekten des Textes. Die Ergebnisse der individuellen Erarbeitungen können jeweils sehr leicht in einer gemeinsamen Ergebnissicherung, etwa im Tafelbild, zusammengeführt werden. Besonderer Beliebtheit erfreut sich in diesem Bereich auch die sogenannte Västeras-Methode.6 Die Schülerinnen und Schüler halten am Textrand durch die Verwendung der Zeichen »?«, »!« und »X« (und gegebenenfalls durch weiterführende Kommentare) individuell fest, wo sie Verständnisprobleme haben, eine Meinung des Verfassers besonders einleuchtend finden bzw. Kritik üben möchten. Das nachfolgende Unterrichtsgespräch wird durch diese Kategorien bereits vorstrukturiert: An die Klärung der Fragezeichen und die Sicherung eines gemeinsamen Textverständnisses schließt sich eine Diskussion des Für und Wider aller anderen markierten Stellen an. Eine dritte Rubrik bilden Methoden der selbstständigen Texterschließung. Hierbei handelt es sich zumeist um aufwendigere Verfahren der Reduktion und schriftlichen Reorganisation des Textes, namentlich um die Anfertigung von »Spickzetteln« oder Exzerpten, die Kürzung der Vorlage (z. B. auf ein Drittel) und das Verfassen vollständiger, ausformulierter Inhaltsangaben. Weil diese Methoden ein bereits gesichertes Textverständnis voraussetzen, ist es auch möglich, sie als abschließende Ergebnissicherung zu nutzen, die an die nachfolgend zu betrachtenden Verfahren einer genaueren Textuntersuchung anknüpft.

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5

6

Vgl. Langebeck, Klaus: Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 3 – 11. Vgl. Brüning, Barbara: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien, Beltz Verlag, Weinheim – Basel – Berlin 2003, S. 84 –88. Vgl. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 32013 (überarbeitete und erweiterte Auflage), S. 150 – 178: S. 148.

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Analytische Verfahren Die analytische Philosophie zerlegt komplexe und problematische Sachverhalte in ihre Bestandteile, um sie genauer zu untersuchen. Analytische Verfahren der Arbeit am Text befassen sich demzufolge mit den Bestandteilen des Textes. Konkret geht es hierbei darum, in welcher Weise bestimmte Begriffe und andere sprachliche Elemente verwendet werden, welche zusammenhängenden Strukturen sich aus ihrer inhaltlichen Organisation ergeben und mit welchen formalen Mustern der Text darüber hinaus argumentiert. Für die sprachliche, die strukturelle und die argumentative Ebene des Textes eignen sich jeweils spezifische Methoden der Textarbeit. Im Bereich der Begriffsbestimmung sollten den Schülerinnen und Schülern zumindest die folgenden fünf Verfahren, die in fachdidaktischen Praxisratgebern und Lehrwerken am häufigsten anzutreffen sind, verfügbar gemacht werden7 : 1. Mithilfe der intensionalen Definition wird für einen zentralen Begriff (definiendum) des Textes eine bestimmte Bedeutung (definiens) festgelegt. Konkret erfolgt dies durch die Angabe eines nächst höheren Oberbegriffs (genus proximum) und eines Merkmales, das diesen Begriff von den anderen Begriffen unterscheidet, die unter denselben Oberbegriff fallen (differentia specifica). Beispiel: Ein ›Junggeselle‹ (definiendum) ist ein ›Mann‹ (genus proximum), der ›unverheiratet‹ ist (differentia specifica). 2. Ebenso kann ein im Text enthaltener Terminus genauer bestimmt werden, indem typische Beispiele, Gegenbeispiele oder Grenzfälle zu diesem Begriff aufgeführt werden. Beispiel: ›Moralische Werte‹ sind ›Ehrlichkeit‹ und ›Freundlichkeit‹. Keine sind dagegen ›Cleverness‹ oder ›Arroganz‹. Als Grenzfälle können womöglich ›Enthaltsamkeit‹ oder ›Gehorsam‹ gelten. 3. Insbesondere lohnt es sich auch, Relationsbegriffe, wie etwa den Terminus der ›Gleichheit‹, hinsichtlich der Beziehungen zu befragen, die sie zwischen verschiedenen Dingen konstruieren. Beispiel: Woran erkennt man die ›Gleichheit‹, die der Autor für alle Menschen als erstrebenswertes politisches Ziel propagiert? In welchen Hinsichten sind für ihn tatsächlich alle Menschen ›gleich‹? In welchen hingegen nicht? 4. Mit Hilfe der Begriffsunterscheidung können zudem auch feinere Nuancen nebengeordneter bzw. bedeutungsnaher Begriffe herausgearbeitet werden. Beispiel: Was unterscheidet ›Angst‹ von ›Furcht‹? Worin besteht die Differenz zwischen ›Gesetz‹ und ›Recht‹? 5. Darüber hinaus ist es unter Umständen angezeigt, emotive Bedeutungen zu analysieren, die an bestimmte Schlagwörter des Textes geknüpft sind und die die Gefühle des Lesers positiv oder negativ beeinflussen können. Beispiele: Der Begriff der ›Freiheit‹ ist überwiegend positiv konnotiert. Die Titulierung von etwas als ›Herausforderung‹ entschärft die negative Wirkung der alternativen Bezeichnung als ›Problem‹. Zu 7

Vgl. Engels, H.: »Sprachanalytische Methoden im Philosophieunterricht: Mittel der Kritik, Hilfe beim Verstehen und Erkennen, Schutz vor Fallstricken der Sprache«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 44 –80.

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einer genaueren Bewusstmachung solcher psychologischen Wirkungen von Sprache, die oftmals auch einen manipulativen Charakter haben können, schlägt Volker Pfeifer8 unter anderem den Rückgriff auf das Instrumentarium der Sprechaktanalyse vor. Die vier zuerst genannten Verfahren können in unterschiedlicher Weise bei der Arbeit am konkreten Text zur Anwendung kommen: Zum einen können sie dazu verwendet werden, diejenigen Informationen, die für ein adäquates Verständnis des jeweiligen Begriffes notwendig sind, gezielt aus dem Text zu entnehmen. Zum anderen können sie aber auch innerhalb der Lerngruppe als Grundlage für die Verständigung über Begriffe dienen, die der Text selbst gar nicht näher charakterisiert, sondern, und zwar oft zu Unrecht, als unmissverständlich voraussetzt. Auf der Grundlage solcher Begriffsbestimmungen kann insbesondere für längere Lektüren (z. B. für Auszüge aus der Nikomachische Ethik des Aristoteles) auch ein Register bzw. ein Lexikon erstellt werden. Ebenso lohnenswert ist auf der begrifflichen Ebene aber auch eine Metaphern-Analyse. In philosophischen Texten finden sich häufig Metaphern, und aufgrund der ihr eigenen Deutungsoffenheit fördern diese Sprachbilder zuweilen interessante weitere Aspekte eines Sachverhalts im Sinne einer heuristischen Funktion zutage. Andererseits verdecken sie unter Umständen auch problematische Äußerungen. Empfohlen werden können in Anlehnung an Steffen Kurpierz folgende Schritte zum Umgang mit Metaphern9 : 1. Identifizieren: Die Metapher ist als solche überhaupt erst einmal aufzufinden und zu benennen. 2. Assoziieren: Es werden Vermutungen über ihre Bedeutung angestellt, wobei auch spontane persönliche Vorstellungen und gefühlsmäßige Wertungen hilfreich sein können. 3. Charakterisieren: Das Konzept der Metapher wird genauer untersucht. Diesem Schritt dient es insbesondere, Eigenschaften des verwendeten Bildes und des gemeinten Sachverhaltes tabellarisch gegenüberzustellen, das sogenannte tertium comparationis anzugeben und Attribute zu benennen, in denen Bild und Sache nicht übereinstimmen. Beispiel: Wenn Moral für Nietzsche ein Narkotikum ist, stellt sich die Frage nach den Merkmalen solcher Arzneien und danach, was Moral von einem Narkotikum vielleicht doch unterscheidet. 4. Kritisieren: Die Metapher wird weitergedacht bzw. auf andere Bereiche ausgeweitet, um ihr weiterführendes Erkenntnispotenzial zu überprüfen. Beispiel: Falls Moral ein Narkotikum ist, welche Operation steht dann an? Welche Krankheit liegt vor? Wer ist der Anästhesist? Welche Nebenfolgen werden in Kauf genommen? Die strukturale Textanalyse ist ein spezielles Verfahren zur Reduktion und Reorganisation des Textes hinsichtlich seiner wesentlichen Aussagen, wobei analysiert wird, wie sich dieser aus seinen begrifflichen Elementen, aber auch aus den inhaltlichen Rela8

9

Vgl. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 151– 155. Vgl. Kurpierz, S.: »Mit Metaphern auf Reisen«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Didaktische Transformationen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 4, Thelem, Dresden 2003, S. 110 – 138.

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tionen zwischen diesen zusammensetzt. Das entsprechende Modell des Textes wird in vier Arbeitsschritten erstellt10 : 1. Segmentieren: Wesentliche Begriffe werden aus dem Text herausgefiltert, relevante Begriffe werden dabei beispielsweise auf Karteikarten notiert. 2. Vergleichen: Es wird ein erster Überblick über die herausgefilterten Begriffe gewonnen. Die zueinander in Beziehung stehenden Begriffe werden zusammengerückt. 3. Klassifizieren: Zum tieferen Verständnis werden kurze Erläuterungen, Definitionen, Oberbegriffe und Unterbegriffe auf die Karteikarten notiert. 4. Relationieren: Ein Strukturmodell zum Text wird erstellt. Dies kann z. B. in einer Gruppenarbeit auf Plakaten erfolgen. Alternativ dazu kann im Plenum auch jede bzw. jeder Lernende eine Karteikarte an die Tafel heften und seinen bzw. ihren Begriff zu mindestens zwei anderen Begriffen grafisch mit geeigneten Verbindungselementen in Beziehungen setzen. Schwieriger als die Abbildung zentraler Aussagen des Textes mit Hilfe seiner wichtigsten Begriffe und der Relationen zwischen diesen ist zweifelsohne das Erfassen seiner logischen Funktionsweise. Auch bei solchen Argumentationsanalysen können grafische Darstellungen am Ende des Erarbeitungsprozesses stehen.11 Leichter als die exakte Reorganisation des Textes in Form eines solchen Argumentationsschemas fällt es Schülerinnen und Schülern jedoch, klassische Argumentationsmuster an den Text heranzutragen.12 Dies gilt beispielsweise für den Fünfsatz.13 Hierbei handelt es sich um eine Figur, die – titelgebend – aus fünf Sätzen bzw. Sinnabschnitten besteht. Vor allem die sogenannte Standpunkt-Formel des Fünfsatzes ist dazu geeignet, die Argumentationsstruktur eines Textes (und seine argumentativen Leerstellen) zu rekonstruieren. Als nützlich für die Lernenden haben sich zugleich die nachfolgenden Formulierungshilfen herausgestellt: 1. Standpunkt: ›Im Text wird behauptet, dass …‹; Begründung des Standpunktes: ›Denn …‹ 2. Nähere Erläuterung: ›Da beispielsweise …‹ 3. Zusammenfassung: ›Daraus folgt …‹ 4. Appell: ›Daher sollte …‹ Selbstredend kann die These des Textes auch mehrfach begründet sein. Das lässt sich nachbilden, indem die Abschnitte 2 und 3 mehrfach aufgeführt und dann im Abschnitt 4 10

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12

13

Vgl. Schmidt, Donat: »Strukturale Textanalyse im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Denkstile der Philosophie, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2002, Bd. 3, Thelem, Dresden 2002, S. 157– 178. Vgl. Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, a.a.O., S. 151. Vgl. Wilkes, Verena: »,Was für ein Hut? Einer zum Aufsetzen‹. Logiktraining und Argumentationsanalyse anhand von Texten der Philosophiegeschichte«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 4: Philosophiegeschichte, S. 284 – 290. Vgl. Geißner. Helmut: »Zum Fünfsatz«, in: Dyck, Joachim (Hrsg.): Rhetorik in der Schule, Scriptor Taschenbücher, Bd. 39, Scriptor Verlag, Kronenberg im Taunus 1974, S. 32 – 48.

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noch einmal knapp gebündelt werden. Weitere argumentationsanalytische Verfahren wären z. B. Rekonstruktionen der Argumentationsstruktur eines Textes durch das Toulmin-Schema14 sowie die Umformung des Textes in Syllogismen (Argumentationsschulung).

Hermeneutische Verfahren Während die Textanalyse einzelne Bestandteile innerhalb des Textes fokussiert, nehmen hermeneutische Verfahren ihn verstärkt in seiner kulturellen Einbettung ins Visier. Neben der Beleuchtung seiner konkreten Produktionsbedingungen kann hier auch ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte aufschlussreich sein, um zu erfahren, dass Bedeutungen in Texten nichts Feststehendes darstellen, sondern historischen Wandlungen ausgesetzt sind. Dass sie sich darüber hinaus auch ein ganzes Stück weit als Wechselwirkung zwischen dem Geschriebenen und der Subjektivität des Lesers mit seinen jeweils eigenen Erfahrungen, Einstellungen und Vorverständnissen ergeben, ist ebenfalls eine Grundannahme der Hermeneutik. Gängige hermeneutische Zugriffe15 auf den Text sind in der Praxis des Philosophie- und Ethikunterrichtes vor allem die folgenden: 1. Ausgang der Lektüre von persönlichen Assoziationen zum Titel des Textes. Beispiel: »Formulieren Sie vor der eigentlichen Lektüre, ausgehend von der Überschrift, Erwartungen an den Inhalt des Textes.« 2. Klärung des persönlichen Vorverständnisses zu dem im Text behandelten Problem. Beispiel: »In Peter Singers Text geht es um die Rechte von Tieren. Verfassen Sie vor der Lektüre selbst einen kurzen Text zu diesem Thema, in dem Sie folgende Fragen aufgreifen: Inwiefern haben Tiere Ihrer Meinung nach überhaupt Rechte und womit könnte man diese begründen? Wären die Rechte von Tieren denen der Menschen gleich- oder unterzuordnen? Vergleichen Sie ihre eigenen Ansichten daraufhin mit denen des Autors.« 3. Antizipation von Argumenten für die zentrale These des Textes. Beispiel: »Erörtern Sie, welche Gründe Sokrates dazu bewegt haben könnten, sich der Todesstrafe zu stellen, und welche Überlegungen für eine Flucht gesprochen haben könnten.« 4. Bezug auf ein sinnerschließendes Sprachbild des Textes vor seiner Lektüre. Beispiel: »Stellen Sie Vermutungen darüber an, wie La Mettrie darauf kommt, den Menschen mit einer Maschine zu vergleichen.« 5. Vorausgriff auf nachfolgende Abschnitte des Textes. Beispiel: »Platon erörtert im ›Höhlengleichnis‹ auch die Frage, was mit dem entfesselten Menschen geschehen würde, wenn er nach der Erkenntnis der Wahrheit zu seinen Höhlengenossen zurück-

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15

Vgl. Toulmin, Stephen: Der Gebrauch von Argumenten, übers. von Berk, Ulrich, Wissenschaftstheorie und Grundlagenforschung, Bd. 1, Scriptor Verlag, Kronenberg im Taunus 1975, S. 86 – 130. Vgl. Rohbeck, Johannes: »Zehn Arten, einen Text zu lesen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 23, 2001, Heft 4: Hermeneutik, S. 286 – 292

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käme, um sie über das Gesehene aufzuklären. Verfassen Sie selbst einen möglichen Schlussteil des Gleichnisses!« 6. Zeitgeschichtliche Ausweitung des Textverständnisses. Beispiel: »Recherchieren Sie Informationen zur Lebenszeit und zur konkreten Biografie des Autors Thomas Hobbes. Stellen Sie im Anschluss daran möglichst viele Bezüge zwischen diesen Hintergrundinformationen und den philosophischen Ansichten im Leviathan heraus. Beantworten Sie auf dieser Grundlage die Frage, inwiefern die persönlichen Lebenserfahrungen des Autors sein Schreiben beeinflussten.« 7. Philosophiegeschichtliche Einordnung des Textes. Beispiel: »Obwohl Sigmund Freuds Instanzen-Lehre vielen seiner Zeitgenossen als etwas ganz Neues erschien, hat sie schon in der antiken philosophischen Tradition prominente Vorbilder: Recherchieren Sie, wie sich die beiden griechischen Autoren Platon und Aristoteles den Aufbau der Seele vorstellten. Benennen Sie jeweils Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Modell Freuds. Bestimmen Sie hiervon ausgehend noch einmal genauer, worin das eigentlich Provokante bei ihm besteht.« 8. Kulturgeschichtliche Einordnung des Textes. Beispiel: »Charles Darwins Evolutionslehre hat nicht nur die philosophische Anthropologie revolutioniert. Auch das Schaffen zahlreicher Künstler wäre ohne seine Theorie nicht denkbar. Recherchieren Sie z. B. nach Einflüssen Darwins auf konkrete Werke von Arnold Böcklin, Gabriel von Max oder Max Ernst. Beschreiben Sie, wie die von Ihnen aufgefundenen Bilder Leitgedanken Darwins jeweils verarbeiten. Formulieren Sie eine weiterführende Erkenntnis über die Evolutionstheorie, zu der Sie bei der Betrachtung der Bilder gelangt sind.« 9. Gattungstheoretische Betrachtung. Beispiel: »Schopenhauers Text von den ›Stachelschweinen‹ ist eine Fabel. Weisen Sie charakteristische Merkmale nach. Stellen Sie, ausgehend von der Frage, warum sich der Autor gerade für ein Schreiben in dieser Textsorte entschieden hat, Vermutungen über mögliche Intentionen an.«

Dialektische Verfahren Während analytische und hermeneutische Verfahren den Lernenden verschiedene vertiefende Zugänge zu den Texten verschaffen, machen wohl erst dialektische Verfahren den Text zum Dialogpartner im eigentlichen Sinn. Analyse und Hermeneutik sind folglich eher Vorarbeiten, die innerhalb der Lerngruppe ein gemeinsames Textverständnis, einen Konsens hinsichtlich der Textbedeutung schaffen, während die nachfolgende, kritische Auseinandersetzung mit dem Text deutlicher in der Tradition der Dialektik steht. Fachdidaktisch war diese in einem solchen Verständnis allerdings erst einmal zu rehabilitieren.16 Widerspruch wird hier zur treibenden Kraft des Denkens, der kritischen Auseinandersetzung mit dem Text und der Urteilsbildung. Entsprechende Verfahren ermöglichen dem Lesenden einerseits einen Zugewinn an Reflexionsdistanz zum Text, indem sie zur Infragestellung oder Negation seiner Kernaussagen 16

Vgl. Rohbeck, Johannes: »Verkehrte Welt. Dialektik als Methode der Kritik«, in: Rohbeck, Johannes: Didaktik der Philosophie und Ethik, Thelem, Dresden, S. 119 – 143.

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anleiten. Sie laden aber andererseits auch zu einem Perspektivenwechsel ein, indem sie uns prüfen lassen, welche Positionen und Intentionen des philosophischen Textes eine Würdigung als anerkennenswertes Argument, bleibendes Kulturgut, zeitgemäße Provokation, persönliche Entdeckung etc. verdienen. Zumindest einzelne Passagen des Textes können so im eigenen Denken »aufgehoben« werden, und zwar in einem gleich dreifachen Wortsinn: im Sinne einer »Bewahrung« von Textinhalten, als »Negation« von Textaussagen und als »Heben auf eine höhere Stufe«, indem neue Erkenntnisse eine Vermittlung von Thesen des Textes und ihrer Negation ermöglichen. Vom dialektischen Denken sind die folgenden, unterrichtspraktisch besonders bewährten Aufgabenstellungen geprägt, wobei z. T. Übergänge zum kreativen Schreiben vorhanden sind:  »Sammeln Sie in einer Mindmap möglichst viele Argumente gegen die These. Sammeln Sie zudem Argumente für geeignete Gegenthesen.«  »Verfassen Sie eine Standpunktrede zu Thesen des Textes. Schreiben Sie hierbei aus Ihrer eigenen Perspektive oder aus der Sicht eines Kritikers. Verwenden Sie den Fünfsatz oder ein anderes Ihnen bekanntes Argumentationsmuster.«  »Schreiben Sie einen Gegentext. Orientieren Sie sich dabei wahlweise am Stil eines Flugblattes, einer Streitschrift, eines Thesenpapiers oder eines Leserbriefes.«  »Stellen Sie sich vor, dass der Autor des vorliegenden Textes mit einem anderen, von Ihnen bereits zur Kenntnis genommenen Philosophen zusammentrifft und dessen Thesen vor dem Hintergrund der eigenen Theorie hinterfragt. Verfassen Sie hierzu ein fiktives Interview oder einen Dialog.«  »Formulieren Sie die zentrale These des vorliegenden Textes (Beispiel: »Die Technik beherrscht den Menschen.«). Formulieren Sie daraufhin eine gegenteilige These (BeispielLösung: »Der Mensch beherrscht die Technik.«). Erörtern Sie am Beispiel des Smartphones das Für und Wider beider Thesen. Diskutieren Sie schließlich, auf welche Weise beide Thesen miteinander vereinbar sein könnten (Beispiel-Lösung: »Der Mensch beherrscht sich durch seine Technik.« oder: »Die Technik schafft Freiheiten, die ohne sie weder gedacht werden könnten noch gewollt werden würden.«). Für eine tiefergehende Kritik, die vor allem auch die Stärken des Textes würdigt, empfiehlt es sich allerdings oft, systematischer an Ergebnisse der vorangegangenen Texterschließung anzuknüpfen. Die nachfolgenden Leitfragen geben einige Anhaltspunkte für entsprechende Untersuchungen, die gegebenenfalls auch arbeitsteilig von der Lerngruppe durchgeführt werden können: – Begriffliche Kritik: Werden Kernbegriffe definiert und einheitlich verwendet? Mit welchen Absichten werden Metaphern im Text verwendet? Kommen Bild- und Sachebene der Metapher hinreichend überein? – Argumentative Kritik: Werden die im Text aufgestellten Hypothesen hinreichend gestützt? Werden Prämissen und Konklusionen explizit im Text aufgeführt? Ist ihre Verknüpfung logisch korrekt und plausibel? Basieren die Prämissen auf nachweislichen Fakten? Werden Gegenargumente sachlich dargestellt und redlich geprüft?

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– Kritik der Theoreme: Werden die dem Text zugrundeliegenden Theorien reflektiert und gerechtfertigt? Werden zur Stützung Theoreme einbezogen, die allgemeinen wissenschaftlichen Standards genügen? – Erfahrungsbasierte Kritik: Decken sich die Behauptungen des Textes mit eigenen Erfahrungen? Lassen sich Gegenbeispiele oder weitere Beispiele finden? Es liegt auf der Hand, dass die in diesem Abschnitt vorgestellten Methoden unterschiedliche Schwierigkeitsgrade aufweisen. Aufgrund der erforderlichen Abstraktheit des Denkens zeigt sich dies insbesondere dort, wo im Leseprozess involvierte Teilfähigkeiten dem Bereich des logischen Argumentierens zuzuordnen sind.17 Für die übrigen Methoden gilt erfahrungsgemäß, dass sie, zumindest innerhalb der gymnasialen Mittelstufe, mehrheitlich nicht an bestimmte Altersgruppen gebunden sein müssen, wenn die Lehrkraft bei der Textauswahl umso bewusster auf die jeweilige Leistungsfähigkeit der Lernenden eingeht. Entsprechende Hinweise finden sich vor allem bei Rösch und Schmidt.18 Quelle: Haase, Volker; Schmidt, Donat: »Rezeptionsorientierte Textarbeit«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 206 – 213 (von den Autoren für diesen Band überarbeitet).

17

18

Vgl. Rösch, Anita: Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER, LIT Verlag GmbH & Co. KG, Berlin – Münster – Wien – Zürich 2009, S. 245 – 257. Vgl. Rösch, Anita: Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER, a.a.O., S. 209 – 219 und vgl. Schmidt, Donat: »Reading literacy mit philosophischen Texten. Zur Konzeption einer empirischen Studie über die Messbarkeit von Reflexions- und Verstehensprozessen im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Turnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2008, Bd. 9, Thelem, Dresden 2009, S. 65 –81.

Arbeit am Logos – Textrezeption Volker Pfeifer

I

n einem an der Leitdisziplin Philosophie ausgerichteten Ethikunterricht werden auch philosophische Texte gelesen und interpretiert. Die in traditionellen Texten anzutreffenden philosophisch-ethischen Ideen und Positionen sind unverzichtbare »Gesprächspartner« für uns, wenn wir versuchen, gegenwärtige Probleme zu lösen. Um jene Stimmen in ihrer je eigenen Art und ihrer Relevanz für unsere Gegenwart verstehen und einschätzen zu können, brauchen wir zuverlässiges methodisches Rüstzeug. Dieses wird uns von einer philosophischen Denkrichtung angeboten, die sich traditionell mit dem Verstehen und Auslegen von Texten beschäftigt hat: der philosophischen Hermeneutik. Dem Götterboten Hermes fiel die Aufgabe zu, die Botschaften der Götter den Menschen dadurch nahe zu bringen, dass er sie ihnen verständlich machte. Allgemein versucht die moderne philosophische Hermeneutik jene bisweilen recht verschlungenen Zusammenhänge, die zwischen einem Textrezipienten und den im Text gelagerten Inhalten auszumachen sind, aufzuhellen. Zentrales Anliegen einer Kritik der hermeneutischen Vernunft ist das Infragestellen eines objektivistischen Verständnisses von sprachlichem Sinn. Dieser existiert nicht wie andere Objekte, sondern hat einen eigenen Status. Er ist wohl auch nicht als fertiges Gefüge, das es nur noch aufzunehmen und zu übernehmen gälte, zu begreifen. Der Interpret, seine Wahrnehmungen und Zugriffsweisen scheinen – folgt man den Vertretern der modernen Sprachphilosophie von Gadamer, über Habermas bis Derrida – eine konstitutive Rolle zu spielen. Sprachlicher Sinn in verfassten Texten scheint viel weniger aufgedeckt als vom Interpreten konstruiert zu werden.1

1

Vgl. Wellmer, Albrecht: »Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft«, in: Demmerling, Christoph; Gabriel, Gottfried; Rentsch, Thomas (Hrsg.): Vernunft und Lebenspraxis Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Für Friedrich Kambartel, stw 1206, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1995, S. 123 – 156, vgl. auch Steenblock, Volker: »Hermes und die Eule der Minerva. Zur Rolle der Hermeneutik in Bildungsprozessen«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 81– 116 und vgl. Jung, Matthias: Hermeneutik zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg 2001.

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 Vorstruktur und Vorurteil Es gibt kein voraussetzungsloses Verstehen. Jedes Verstehen ist auf ein Vorverständnis angewiesen:

»Wer verstehen will, wird sich der Zufälligkeit der eigenen Vormeinung von vornherein nicht überlassen, um an der Meinung des Textes so konsequent und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören – bis etwa diese unüberhörbar wird und das vermeintliche Verständnis umstößt. Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche »Neutralität« noch gar Selbstauflösung voraus, sondern schließt die abhebbare Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit inne zu sein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und derart in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen.« 2 Gadamer unterscheidet zwischen »wahren«, produktiven Vorurteilen, auf die wir beim Verstehen angewiesen sind, und »falschen«, durch die wir konsequenterweise missverstehen. Diese Vorurteile und Vormeinungen, die der Interpret bzw. die Interpretin mitbringt, kann er oder sie nicht einfach abstreifen, sich ihrer so entledigen. Sie stehen – so betont Gadamer wiederholt – nicht zur freien Verfügung. Der Interpret oder die Interpretin ist auch nicht in der Lage, von sich aus vorneweg die produktiven von den das Verstehen blockierenden, negativen Vorurteilen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist erst im Akt des jeweiligen Verstehens möglich. Menschliches Verstehen ist daher grundsätzlich zirkulär. Die Einsicht von der Zirkelstruktur allen Verstehens stammt aus der antiken Rhetorik. Sie ist durch die neuzeitliche Hermeneutik auf den Verstehensprozess übertragen worden. Alle Auslegung, 2

Gadamer, Hans-Georg: »Vom Zirkel des Verstehens«, in: ders.: Gesammelte Werke, 10 Bde., Bd. 2: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 2 1993, S. 57– 66: S. 57. Vgl. dazu auch die einschlägigen Passagen in Gadamer, Hans-Georg: »Wahrheit und Methode«, in: ders.: Gesammelte Werke, 10 Bde., Bd. 1: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 61990, S. 282 – 283: »Das erste, womit das Verstehen beginnt, ist […], dass etwas uns anspricht. Das ist die oberste aller hermeneutischen Bedingungen. Wir wissen jetzt, was damit gefordert ist: eine grundsätzliche Suspension der eigenen Vorurteile. Alle Suspension von Urteilen aber, mithin und erst recht die von Vorurteilen, hat, logisch gesehen, die Struktur der Frage. Das Wesen der Frage ist das Offenlegen und Offenhalten von Möglichkeiten. Wird ein Vorurteil fraglich […], so heißt dies mithin nicht, daß es einfach beiseite gesetzt wird und der Andere oder das Andere sich an seiner Stelle unmittelbar zur Geltung bringt. Das ist vielmehr die Naivität des historischen Objektivismus, ein solches Absehen von sich selbst anzunehmen. In Wahrheit wird das eigene Vorurteil dadurch recht eigentlich ins Spiel gebracht, dass es selber auf dem Spiele steht. Nur indem es sich ausspielt, vermag es den Wahrheitsanspruch des Anderen überhaupt zu erfahren und ermöglicht ihm, dass er sich auch ausspielen kann.«

Arbeit am Logos – Textrezeption

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der es um Verständnis geht, muss – was zunächst reichlich paradox klingt – das Auszulegende schon verstanden haben.

»Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich ständig von dem revidiert wird, was sich beim weiteren Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.« 3 Dieser Verstehens-Zirkel (hermeneutischer Zirkel) ist keine lineare Deduktion, sondern ein dynamisches Weiterschreiten von Entwurf zu Entwurf. Vorverständnisse und Erwartungen klären bzw. modifizieren sich ständig fort, bis zu einem Punkt, wo der Horizont des auslegenden Subjekts mit dem Horizont des fremden Objekts verschmilzt, die hermeneutische Differenz also zumindest für den Augenblick aufgehoben ist. Die dabei vollzogene Kreis- oder Zirkelbewegung hat allerdings nichts mit dem Circulus vitiosus der formalen Logik zu tun. In ihm wird weder das zu Beweisende im Beweis schon vorausgesetzt, noch kommt der zu definierende Begriff im Definiens seiner eigenen Definition vor. Es geht also ganz wesentlich darum, nicht aus diesem Zirkel heraus, sondern richtig in ihn hineinzukommen. Dies geschieht allerdings erst dann,

»wenn die Auslegung verstanden hat, dass ihre erste und ständige Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern« 4. 3 4

Ibid., S. 271. Ibid., S. 268.

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An dieser Stelle wird ganz deutlich, dass Gadamer trotz einer deutlich vollzogenen Rehabilitierung des Vor-urteils dem interpretierenden Subjekt einen untergeordneten Status einräumt. Der Interpret hat sich in den Gesamtzusammenhang der Tradition einzuordnen. »Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens.« 5 Die hermeneutische Diskreditierung des Individuums und einen prononcierten Traditionalismus haben Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel unter dem Titel Hermeneutik und Ideologiekritik6 kritisiert. Gerade vor dem Hintergrund heutiger Hermeneutik scheint eine stärkere Berücksichtigung und höhere Einschätzung der Kompetenzen des interpretierenden Subjekts im Verstehensprozess plausibel.

»Der Interpret wird bei der Auslegung eines Textes nolens volens – wenn er den Text überhaupt ernst nimmt – in die Sprache und in die Sachprobleme des Textes verwickelt werden, und zwar aus dem Horizont seiner eigenen Sprache und seines eigenen Vorverständnisses. Wie beim produktiven Dialog werden bei solcher Auslegung der Horizont, die Sprache, die Begriffe und Vorurteile des Interpreten in Bewegung versetzt, nicht um im Horizont des Textes zu verschwinden, sondern um das im Text Gesagte in die eigene Sprache aufzunehmen und Wahres und Falsches, Erhellendes und Fragwürdiges des Textes im eigenen Horizont zur Aussage zu bringen. Es gibt kein Verständnis von Texten ohne solche Trennung des Wahren vom Falschen, des Erhellenden vom Fragwürdigen, des Stringenten vom Brüchigen.« 7 Das Verstehen von Texten, analog zum Verstehen von fremden Kulturen, kann grundsätzlich in zwei Richtungen verlaufen und prozessiert werden. Auf der einen Seite geht es um eine textimmanente, möglichst objektive Annäherung an den Text; auf der anderen Seite liegt der Akzent auf der Gegenwart, der Jetztzeit, auf die hin und von der aus der Text wahrgenommen und interpretiert wird. Holzschnittartig lassen sich die beiden Zugriffe (approaches) wie folgt beschreiben8 : 5 6

7 8

Ibid., S. 261. Vgl. Apel, Karl-Otto (Hrsg.): Theorie-Diskussion. Hermeneutik und Ideologiekritik, Suhrkamp Theorie, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1971 und vgl. auch Tietz, Udo: Hans-Georg Gadamer zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg 1999, S. 137– 141. Wellmer, Albrecht: »Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft«, a.a.O., S. 139. Vgl. ibid., S. 143 – 144. Zum Verhältnis zwischen internem und externem Textverstehen schreibt Wellmer: »,Internes‹ und ›externes‹ Verstehen verweisen aufeinander; gleichwohl stehen sie in einem grundsätzlich nicht auflösbaren Spannungsverhältnis zueinander. Wenn nun aber die Wahrheit nicht am Ursprung der Überlieferung oder in den großen Texten der Tradition sicher verankert ist, dann muß allein schon das Bewußtsein jenes Spannungsverhältnisses die Gewichte zugunsten des konstruktiven Moments im Verstehen verschieben. Der Wahrheitsbezug des Verstehens erhält gewissermaßen die Priorität gegenüber dem Desiderat hermeneutischer Gerechtigkeit. Hierin könnte man eine »posthermeneutische« Wende der hermeneutischen Reflexion sehen. In ihr stößt die hermeneutische Reflexion auf die konstruktiven und innovativen Bedingungen des Verstehens – man könnte sagen: auf die Einsicht, dass wir nur durch einen kritischen, produktiven, erfin-

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Beim internen, immanenten Textverstehen geht es vor allem um – – – – –

eine philologisch getreue Nach-Konstruktion des Textes, ein Herstellen eines synonymen Textes, das ›Verschmelzen‹ des Horizonts des Interpreten mit dem des Textes, die Annahme der Sprache des Textes als unsere eigene Sprache, ein Sich-Einlassen auf die Sprache des Textes, seine Sicht der Probleme, seinen Wahrheitsanspruch, – ein Aufs-Spiel-Setzen der eigenen Perspektive und der eigenen Vorverständnisse, – ›Gerechtigkeit‹ gegenüber dem Text und – objektives Sinnverstehen.

Beim externen, produktiven Textverstehen geht es um – – – – – – – – –

eine produktiv-kritische Neulektüre von Texten, die verfremdend und kritisch ist, die Aufhebung des Horizonts des Textes im Horizont des Interpreten, das Benutzen der eigenen Sprache, um eigene Problemverständnisse zu artikulieren, Deutungen erfolgen aus eigener Gegenwart heraus, die Betonung von »Eigensinn«, ein Überschreiten der Tradition, ein Ausbrechen aus der Immanenz des »bloßen Verstehens«, eine Neukonstruktion der »Wahrheit« und darum, dass die »Jetztzeit« der Ort ist, an dem sich die Wahrheitsfragen entscheiden lassen.

Diese Unterscheidung von zwei grundsätzlichen methodischen Zugriffen hat analytischen Charakter. Die Trennung zeigt schon recht bald, dass sie irgendwie zusammengehören und nicht unvermittelt nebeneinander, quasi antithetisch stehen bleiben müssen. Zunächst scheint offenkundig, dass man einen Text genau gelesen und aufgenommen haben muss, um über ihn hinausgehen zu können. Das immanente Verstehen kommt auch einer Forderung nach Gerechtigkeit gegenüber Autor und Text nach. Hier wird die Parallele zum Verstehen fremder Kulturen ganz deutlich. Sie haben ein Recht darauf, in ihren je eigenen Prägungen verstanden und nicht von vorneherein auf die Projektionsfläche unserer eigenen Kategorien gespannt zu werden. Offenbar scheint es hier einen Mittelweg zu geben zwischen dem vollkommenen Versinken in der Welt des Fremden – der Verstehende hat eine zum Objekt des Verstehens unverzichtbare

derischen und distanzierenden Umgang mit der Tradition deren Wahrheitsgehalte für das geschichtliche Jetzt unserer Gegenwart zu retten vermögen. Wenn man den Begriff der »Applikation« in diesem Sinne neu ausbuchstabiert, so wäre Applikation immer Transformation und Kritik in einem. Es verhält sich hier ähnlich wie in der Kunst: Nur durch das Überschreiten der Tradition können wir diese lebendig halten. Im Falle der Philosophie ist es gerade der Wahrheitsbezug des Verstehens, der uns immer wieder nötigt, aus der Immanenz des ,bloßen Verstehens‹ auszubrechen und die Wahrheit neu zu konstruieren.« (ibid., S. 152).

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Distanz aufgegeben und sich ganz mit ihm identifiziert – und einem Verfehlen der Eigenart des Fremden aufgrund einer Perspektive, die sich nicht von eigenen Maßstäben distanzieren kann und sie daher absolut setzt. »Richtiges« Verstehen hält sich in der Mitte; die Spannung zwischen immanenten und externen Elementen bleibt erhalten. Es geht um ein Hin- und Hergehen – analog zur hermeneutischen Spiralbewegung – vom internen zum externen Standort und umgekehrt. Erst diese Dynamik schafft die Bedingungen für ein dichtes, kohärentes Verstehen. Die Bereitschaft zum Infragestellen der eigenen Vorurteile, der eigenen Sprache und Begrifflichkeit steht so dem kontrollierten Recht auf Übersetzung des Fremden in die eigene Sprache gegenüber. Internes und externes Verstehen verweisen aufeinander. Das erste ist die notwendige Vorstufe des zweiten, und noch wichtiger: Nicht selten vermag erst ein Blick von außen den Zugang ins Innere des Textes zu öffnen. Erst eine konsequente und kreative Verfremdung alter Texte vermag deren Potentiale freizulegen. Die von Wellmer skizzierte Position scheint ein geeigneter Ausgangspunkt für einen didaktischen Transfer zu liefern. Für einen didaktisch reflektierten Umgang mit Texten im Philosophie- und Ethikunterricht können folgende knapp zusammengefasste Aspekte orientierend sein: – Das jeweilige Vor-verständnis eines Interpreten oder einer Interpretin steht unvermeidbar am Anfang jeder hermeneutischen Verstehenshandlung. – Es bezieht sich einerseits auf den Interpreten oder die Interpretin selbst, auf sein bzw. ihr je eigenes Situations-, Sinn- und Selbstverständnis, andererseits auf den Interpretationsgegenstand, an den der Interpret bzw. die Interpretin immer schon Vormeinungen und Vorkenntnisse, wie vage und unbewusst sie auch sein mögen, heranträgt. – Diese beiden Formen von Vorverständnis sind ihrerseits bedingt durch je eigene Erfahrungen, Erkenntnisse, Informationen, Sprachgewohnheiten, Wissen um Traditionen, Normen und Werte. – Nur wenn der Interpret bzw. die Interpretin in seinen bzw. ihren Verstehenserwartungen enttäuscht oder gestört wird, wenn ihm bzw. ihr insofern etwas als bedeutsam auffällt, wird er bzw. sie sich veranlasst sehen, weiter zu fragen. – Voraussetzung für eine Änderung der Vorverständnisse ist deren explikative Bewusstmachung. Dazu gehört auch, den bislang unreflektierten eigenen Sprachgebrauch zu hinterfragen. – Hermeneutisches Arbeiten (Arbeit am Logos) impliziert also auch eine elementare Form von Selbstreflexion.9

9

Vgl. Gatzemeier, Matthias: »Methodische Schritte einer Textinterpretation in philosophischer Absicht«, in: Kambartel, Friedrich; Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Wissenschaftliche Paperbacks, Grundlagenforschung, Bd. 1, Athenäum Verlag, Frankfurt 1973, S. 281– 317.

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Wie lässt sich das Vorverständnis explizieren? Grundsätzlich gilt es, Anschluss zu finden an den Horizont der Schülerinnen und Schüler, ihre spezifischen Erfahrungen, ihre Sprache und Begrifflichkeit, ihr Wertempfinden bzw. ihre Werthaltungen. Nur dann besteht die Möglichkeit, sie dazu zu motivieren, sich dieser in der Regel diffusen Gemengelage von kognitiven und affektiven Elementen bewusst zu werden. Dieses Bewusstmachen (Explizieren) durch und mit den Schülerinnen und Schülern kann geschehen a) anhand von Sekundärmedien: z. B. – visuelle Impulse (Bilder), – Aphorismen, – Werbezitate, Schlagworte der öffentlichen Meinung, – (Kurz-)Geschichten, b) anhand eines freien Problemgesprächs (Lehrer-Schüler-Gespräch): Sachgebiet

z.B. Reflexion über

- Aristoteles (Nikomachische Ethik)

»Was heißt handeln?«

- Stoa

»Was ist Gelassenheit?«

- Utilitarismus

»Was heißt Glück?«

- Kant (Ethik)

den »Gesetzes-« oder »Pflicht- Begriff«

- Schopenhauer (Ethik)

den Begriff des »Mitleids«

Die Explikation der Vorverständnisse bereitet den Boden für den weiteren Unterricht. Sie ist ein notwendiger und insofern unverzichtbarer Schritt der didaktischen Elementarisierung. Ohne sie ist es kaum möglich, ein Lernfeld sinnvoll aufzubauen. Alle weiteren Differenzierungen bzw. Problematisierungen im Zusammenhang mit Normen und Werten fußen auf einer vorgängigen Reflexion individueller Wertempfindungen und Werthaltungen. Grundsätzlich sollten sich Textmaterialien organisch daran anschließen.

 Verfahren der Texterschließung Grundsätzlich lassen sich folgende exemplarische Verfahren unterscheiden, gegliedert nach dem Grad der Steuerung durch die Lehrperson: 1. Verfahren mit enger Lehrersteuerung a) Satz-für-Satz- Lektüre (close reading) b) Leitfragen c) Arbeitsblätter

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2. Eigenständig handhabbare Verfahren a) Textstrukturierung (Finden von Überschriften) b) Erkennen von zentralen Begriffen c) Kennzeichnung der Sprechakte d) Erarbeiten von Strukturskizzen e) Rekonstruktion von Argumentationsschemata 3. Selbständiges, produktionsorientiertes Arbeiten a) Finden eigener Fragen zu Textabschnitten (Interviewfragen) b) Textpuzzle/Textfortsetzungen c) Text-Inszenierungen d) Erstellen von Hypertexten e) kreatives Schreiben (philosophische Essays u. ä.) Die unter 1. a-c genannten Verfahren zielen auf eine möglichst präzise text-immanente Rekonstruktion. Diese umfasst verschiedene, klar zu unterscheidende hermeneutische Dimensionen. – Die »objektive Hermeneutik«: Ihr geht es vor allem um den Textinhalt, mit der sattsam bekannten Operationalisierung: »Geben Sie den Inhalt des Textes wieder.« Eine Skizze der Probleme, Schlüsselbegriffe und Argumente kann sich hier anschließen. – Die intentionalistische Hermeneutik: Sie erfragt die Schreibabsichten des Autors: »Erschließen Sie die Absichten, die der Autor mit seinem Text verfolgt.« – Die kulturhistorische Hermeneutik: Sie fokussiert den relevanten kultur- und sozialgeschichtlichen Hintergrund, vor dem der Text zu lesen ist. – Die rezeptionsästhetische Hermeneutik: Sie untersucht die Bedingungen und Voraussetzungen der Rezeption von Texten durch ein Publikum, etwa mittels der Frage: »Formulieren Sie spontan ihre ersten Leseeindrücke und konfrontieren Sie diese mit Ihrem anschließenden Textverständnis.« 10

10

Vgl. Ridder, Lothar: »Methoden der Interpretation im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes: Philosophische Denkrichtungen, a.a.O., S. 116 –143. Vgl. auch allgemein: Siekmann, Andreas: Unterrichtsideen – Das freie Problemgespräch im Philosophieunterricht, Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung, Stuttgart/ Dresden 1992 (mit Materialband), vgl. auch Diesenberg, Norbert: Unterrichtsideen – Textarbeit im Philosophieunterricht der Sekundarstufe II, Ernst Klett Verlag, Stuttgart/ München/Düsseldorf/Leipzig 1996 (Kommentare mit Materialien), vgl. ferner Kähler, Jutta; Krah-Schulte, Monika: Wahrnehmen – Staunen – Begreifen, Arbeitstexte für den Unterricht, für die Sekundarstufe I, RUB 15045, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999, vgl. darüber hinaus Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, Illustrationen von Pey, Alexander, Beltz Quadriga, Beltz Verlag, Weinheim/Berlin 21996, vgl. weiterhin Meyer, Hilbert: Unterrichtsmethoden I. Theorieband, Cornelsen Verlag Scriptor, Frankfurt 61994 sowie Meyer, Hilbert: Unterrichtsmethoden II. Praxisband, Cornelsen Verlag Scriptor, Frankfurt 71995, vgl. ebenfalls Grzesik, Jürgen: Textverstehen lernen und lehren. Geistige Operationen im Prozeß des Textverstehens und typische Methoden für die Schulung zum kompetenten Leser, Grundlagentexte Schulpädagogik, Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung, Stuttgart 1990 und vgl. Gatzemeier, Matthias: »Methodische Schritte einer Textinterpretation in philosophischer Absicht«, a.a.O.

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Ein Großteil der Arbeit am Text besteht in der nicht selten mühseligen, hinreichend adäquaten Erfassung des Textinhaltes. Satzweise wird der Textsinn durch Markieren und Unterstreichen erschlossen. Leitfragen fokussieren die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler in eine ganz bestimmte Richtung. Sofern sie präzise genug gestellt sind, garantieren sie eine zeitökonomische und problemorientierte Textinterpretation. Die Aktivität der Schüler und Schülerinnen kann dadurch erhöht werden, dass sie mit der Formulierung von Leitfragen beauftragt oder selbige mit ihnen erarbeitet werden.

Die Västeras-Methode Dieses Verfahren, das nach seinem Entstehungsort, einer Stadt in Mittelschweden, benannt ist, besteht darin, dass ein Rundgespräch über einen Text durch eine gründliche Lektüre vorbereitet wird, wobei jeder Teilnehmer bzw. jede Teilnehmerin drei Zeichen an den Textrand setzt: Die Teilnehmer lesen den Text langsam durch und setzen hinter die Stellen, die sie nicht verstanden haben oder zu denen sie eine Frage stellen möchten, ein Fragezeichen. An Stellen, wo ihnen eine wichtige Einsicht aufging, setzen sie ein Ausrufezeichen. An Stellen, die ihnen für sich persönlich bedeutsam erscheinen, zeichnen sie einen Pfeil. Diese Aufgabe kann auch schon zu Hause durchgeführt werden. Beim Rundgespräch – auch ein Gespräch in Kleingruppen ist denkbar – fragt die Lehrperson Abschnitt für Abschnitt, wer ein Fragezeichen gesetzt hat, und lässt die Fragen nach Möglichkeit von jenen beantworten, die kein Fragezeichen angebracht haben. – Zu Äußerungen über die mit einem Pfeil ( = persönliche Betroffenheit) bezeichneten Stellen sollte man nicht drängen, wenn sich das Gespräch darüber nicht von selbst ergibt. Diese Methode kann bereits in Sekundarstufe I sehr variabel eingesetzt werden. Sie impliziert ein hohes Maß an Schüleraktivität und führt auf induktivem Weg zu den im Text angelegten Problemaspekten.

Strukturskizzen Abstraktionsvermögen und begriffsorientiertes Arbeiten wird in der zweiten Gruppe der texterschließenden Verfahren vorausgesetzt bzw. gefördert. Ein besonderer didaktischer Stellenwert kommt dabei den Strukturskizzen zu. Sie sollen in erster Linie die begrifflich organisierte Struktur des im Text entfalteten Gedankenganges visualisieren und bieten in der Regel eine effiziente Möglichkeit, den zentralen Textproblemen auf die Spur zu kommen. »Struktur« meint hier also die Beziehung, die Verknüpfung und den inneren Zusammenhang der einzelnen Teile einer Beweisführung. Eine Visualisierung von genuin philosophischen Problemen ist freilich nicht ganz unproblematisch. Beispiele von fragwürdigen Visualisierungsversuchen finden sich in

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nicht geringer Zahl im dtv-Atlas zur Philosophie.11 Eine zu pedantisch betriebene Veranschaulichung von vergleichsweise differenzierten Sachverhalten und Gedankengängen vereinfacht dann zu stark, »schematisiert« die tatsächlichen Probleme weg, deckt sie einfach zu und läuft Gefahr, didaktisch auf eine Art »Fast-Food-Philosophie« reduziert zu werden. Der Schülerin bzw. dem Schüler – daran hängt sehr viel – muss, wenn sie bzw. er abstrakte Sachverhalte durch Pfeile, Linien oder andere geometrische Formen symbolisiert, bewusst bleiben, dass durch diese Zeichen das Original verzerrt oder verfälscht werden kann. Wenn dieses Problembewusstsein erhalten bleibt, können Strukturskizzen ein hervorragendes Medium zur Klärung abstrakter Zusammenhänge sein. Empfehlenswert ist, Strukturskizzen in Kleingruppen anfertigen und die unterschiedlichen Lösungen präsentieren, analysieren und miteinander vergleichen zu lassen. Ein Beispiel12 :

11

12

Kunzmann, Peter; Burkard, Franz-Peter; Wiedmann, Franz: dtv-Atlas zur Philosophie, dtv 3229, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1981: vgl. exemplarisch S. 36 (»Die sokratische Elenktik«), S. 142 (»Zur Analytik in der Kritik der praktischen Vernunft« [Kant]), oder S. 224 (»Zum Prinzip Hoffnung«). Der dazugehörige Text stammt aus Weischedel, Wilhelm: »Die Antinomie von Notwendigkeit und Freiheit bei Kant«, in: Weischedel, Wilhelm: Skeptische Ethik, stw 635, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 152 – 153.

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Das Anfertigen solcher Strukturskizzen in Kleingruppen und die anschließende vergleichende Analyse führen zu einer vergleichsweise hohen Schüleraktivierung und ermöglichen eine einprägsame, problemorientierte Rekonstruktion des Textes.

Argumentationsschemata Etwas anspruchsvoller ist das Erstellen eines Argumentationsschemas.13 Hier soll die Schülerin bzw. der Schüler den im Text erkennbaren Argumentationsgang nachzeichnen. Dazu müssen zunächst die zentralen Argumente identifiziert, typisiert und qualifiziert werden. Es gilt also zu fragen: In welchen Aussagen stecken Argumente? Welcher Art sind diese Argumente und welches Gewicht kommt ihnen zu? Bei der weiteren Prüfung der Argumentation kommt es auf deren Zusammenhang und Vernetzung an. Gibt es Lücken oder Sprünge in der Argumentation? Werden Begriffe einheitlich verwandt (eindeutig/univok) oder wechseln deren Bedeutungen (vieldeutig/äquivok), wenn auch nur in Nuancen, im Laufe der Entwicklung eines Gedankenganges? Werden die den einzelnen Argumenten zugrundeliegenden Prämissen genannt oder stillschweigend vorausgesetzt? Oder ganz grundsätzlich: Wird überhaupt argumentiert oder werden bloß in dezisionistischer Manier mehr oder minder aus der Luft gegriffene, willkürliche Behauptungen und Geltungsansprüche aufgestellt? Allgemein können einer Qualifizierung des Argumentationsganges drei Kriterien zugrunde gelegt werden: a) Stringenz: – Besteht ein erkennbarer Zusammenhang zwischen Behauptung und Begründung? – Wie gewichtig, wie zugkräftig sind die einzelnen Gründe bzw. Argumente? b) Konsistenz: – Ist der Gebrauch der den Argumenten zugrunde liegenden Begriffe univok oder äquivok? – Kommt es bei der Begründung der Behauptungen zu Kategorienfehlern (z. B. Vertauschen von Ursache und Wirkung)? c) Kohärenz: – Wie differenziert wird argumentiert? – Wie dicht ist das Netzwerk der unterschiedlichen Argumente?

13

Zur Definition des Argumentationsbegriffs: »Argumentation, eine Rede mit dem Ziel, die Zustimmung oder den Widerspruch wirklicher oder fiktiver Gesprächspartner zu einer Aussage oder Norm (für / gegen deren Wahrheit / Gültigkeit) durch den schrittweisen und lückenlosen Rückgang auf bereits gemeinsam anerkannte Aussagen bzw. Normen zu erreichen« (Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 3 Bde., Bd. 1: A-G, unter ständiger Mitarbeit von Blasche, Siegfried, in Verbindung mit Wolters, Gereon, Bibliographisches Institut – Wissenschaftsverlag, Mannheim 1980, S. 161.

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Texte, die sich zum Erarbeiten von Argumentationsschemata im Unterricht gut eignen: – Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch I, 1094a ff: exemplarisch für ein »teleologisches« Argumentationsschema – Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Abschnitt, BA 1 – 23: exemplarisch für ein deontologisches Argumentationsschema – Hobbes: Leviathan, Kapitel 14 und 17; exemplarisch für ein kontraktualistisches Argumentationsschema – Mill: Der Utilitarismus, 2. und 5. Kapitel: exemplarisch für ein utilitaristisches Argumentationsschema Unter den zeitgenössischen Philosophen sind z. B. Ernst Tugendhats Probleme der Ethik14, John Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit15 und Peter Singers Praktische Ethik16 zu empfehlen, deren Texte sich grundsätzlich durch ein hohes Maß an argumentativer Stringenz, Konsistenz und Kohärenz auszeichnen. Beispiel eines Argumentationsschemas:

14 15

16

Vgl. Tugendhat, Ernst: Probleme der Ethik, RUB 8250, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1984. Vgl. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. von Vetter, Hermann, stw 271, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1979. Vgl. Singer, Peter: Praktische Ethik, übers. von Bischoff, Oscar; Wolf, Jean-Claude; Klose, Dietrich, RUB 8033, Philipp Reclam jun., Stuttgart 21994 (revidierte und erweiterte Auflage).

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Posterpräsentation Für eine übersichtliche, anschauliche und klar strukturierte Darstellung von Argumentationsgängen, wie sie in Fallanalysen oder auch in Texten vorkommen, sind Posterpräsentationen besonders gut geeignet. Ein paar Grundregeln sollten bei deren Gestaltung beachtet werden. Visuelle Gestaltung: – Titel – als Frage oder in unüblicher Formulierung – auf 5 Meter Entfernung lesbar – 50 % Bilder (Grafiken etc.), 50 % Text

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Textuelle Gestaltung: – »Weniger ist mehr.« – »Need to know« statt »Nice to know« – Schlüsselbegriffe im Vordergrund; wenig Lauftext – Argumentationsstruktur herausarbeiten: Thesen / Prämissen / Konklusionen … – Poster soll zur Diskussion anregen: ! provokative Formulierungen ! Fragezeichen auf Bildern oder Thesen ! kritische Frageimpulse setzen ! sokratische Fragehaltung als affektives Lernziel

Sprechaktanalysen Das Kennzeichnen der einem Text zugrundeliegenden Sprechakte (Sprechaktanalyse)17 trägt auf eine ganz besondere Weise zur Klärung und Strukturierung des Textverständnisses bei. Die Sprechaktanalyse geht davon aus, dass jeder Satz, der geäußert wird, nicht nur einen Inhalt (Proposition) transportiert. Er ist vielmehr Ausdruck eines Handelns mit Sprache – How do to things with words lautet der Titel einer programmatischen Schrift von John L. Austin, einem Mitbegründer der Sprechakttheorie. Seine Grundannahme ist, dass wir mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen die unterschiedlichsten Arten von Handlungen vollziehen können. Die sprachliche Äußerung als

17

Vgl. dazu exemplarisch: Engels, Helmut: »Sprachanalytische Methoden im Philosophieunterricht«, in: Johannes Rohbeck (Hrsg.), Philosophische Denkrichtungen, a.a.O., S. 35 –81, besonders S. 64 – 72. Austin erläutert seine Sprechakttheorie anhand eines alltäglichen Beispiels: Tom sagt: »Der Hund ist bissig.« Was tut er damit, indem er das sagt? Zunächst macht er bestimmte Geräusche, die man phonetisch beschreiben kann. Er äußert einen Satz der deutschen Sprache und sagt damit, Nachbars Hund sei bissig. Er tut noch mehr damit. Zum Beispiel warnt er andere (Vorsicht!) »Der Hund ist bissig.« Oder er erklärt, warum der Hund an der Kette liegt. Oder er empfiehlt den Hund als Wachhund. Selbst wenn wir wissen, dass er mit seiner Äußerung »Der Hund ist bissig.« meint, Nachbars Hund sei bissig, wissen wir noch nicht, ob er damit warnt, etwas erklärt oder empfiehlt. Wir kennen zwar die Bedeutung (meaning) der Äußerung, aber nicht ihre Rolle (force). Wenn Tom Glück hat, erreicht er mit seiner Äußerung »Der Hund ist bissig.« noch mehr. Er warnt seine Gäste nicht bloß, sondern sie passen dann auch wirklich auf: Er hält sie zurück. Er erklärt nicht bloß, warum der Hund an der Kette liegt, sondern die anderen sehen den Zusammenhang auch ein: Er hilft verstehen. Er empfiehlt den Hund nicht nur, sondern man kauft ihn auch wirklich: Er beeinflusst den Interessenten. Solche Erfolge sind nicht selbstverständlich. Warnungen werden in den Wind geschlagen, Erklärungen bringen keine Erkenntnis, Empfehlungen werden missachtet. Wir mögen zwar wissen, dass Tom gewarnt, erklärt oder empfohlen hat, aber damit wissen wir nicht, ob er auch zurückgehalten, Verständnis geweckt, beeinflusst und überzeugt hat. Dass Tom sagt, der Hund sei bissig, nennt Austin einen lokutionären Akt. Dass Tom mit der Äußerung warnt (erklärt, empfiehlt, aussagt), nennt Austin einen illokutionären Akt; dass Tom durch die Äußerung jemanden zurückhält (erleuchtet, beeinflusst, überzeugt), nennt Austin einen perlokutionären Akt. Tom vollzieht alle drei Akte mit ein und derselben Äußerung. Die Bezeichnungen lokutionär, illokutionär und perlokutionär treffen nicht drei Handlungen, sondern drei Aspekte ein und derselben Sprachhandlung. Vgl. dazu auch: von Savigny, Eike: Die Philosophie der normalen Sprache, stw 1071, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1993, S. 125ff.

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Handlung nennt Austin einen lokutionären (Sprech-)Akt. In jedem Sagen steckt aber auch stets etwas Ungesagtes. Eine solche vollzogene Handlung nennt Austin einen illokutionären Akt. Wenn ich z. B. als propositionalen bzw. lokutionären Sprechakt sage »Ich komme morgen.«, so können darin unterschiedliche illokutionäre Akte gelesen werden. Er kann als Mitteilung – ich teile mit, dass ich morgen kommen werde –, als Versicherung – ich versichere einem Adressaten, dass ich kommen werde –, als Expression – ich hoffe, dass ich morgen komme – oder als Versprechen – ich verspreche, morgen zu kommen – aufgefasst werden. Es gibt also für ein und denselben Satz als grammatikalisch richtige Einheit mehrere Verwendungsweisen, die grundsätzlich vom jeweiligen Kontext abhängen. Entscheidend ist weniger die »Theorie«, sondern die praktische Verwendung der Worte. Im linguistischen Paradigma in der Folge von Wittgenstein wird stark auf den pragmatischen Gebrauch von Sprache abgehoben. Darin erschöpft sich weitgehend deren Bedeutung. Verben, die eine Illokution benennen, heißen performative Verben. Allgemeine performative Verben, die sich in alltäglichen Sprechakten finden, sind z. B.: behaupten / entgegnen / widersprechen / zustimmen / zugeben / fordern. In philosophischen Texten werden vorzugsweise folgende performative Verben verwandt: argumentieren / begründen / definieren / analysieren / verallgemeinern / schließen / urteilen / kritisieren / konkretisieren. Eine hinreichend differenzierte Wahrnehmung von illokutionären Sprechakten ist eine elementare Voraussetzung für ein adäquates Textverständnis. Die Sprechaktanalyse ermöglicht ein klareres Unterscheiden zwischen Behauptungen und Begründungen, zwischen autoreigener und bloß referierter Meinung, zwischen bloßer Vermutung und indikativisch vorgetragener These, zwischen Äußerungen von Hoffnung und Prognosen und last but not least zwischen bloß faktischen Feststellungen und voraussetzungsreichen Bewertungen.18

Sprachreflexion: der feine Unterschied zwischen be-schreiben und be-werten Die Sprechaktanalyse vermag über das Gesagte hinaus die Wahrnehmung von deskriptiven im Unterschied zu normativ aufgeladenen sprachlichen Ausdrücken zu schärfen. Diese Unterscheidung spielt vor allem im Ethikunterricht eine fundamentale Rolle. Kein ethisches Urteilen kommt ohne diese Differenzierung aus. Sie ist für die Einsicht in genuin ethische Zusammenhänge und Bereiche konstitutiv. Ein deklarativer oder konstativer Sprechakt impliziert einen gänzlich anderen Zugriff auf Wirklichkeit und Welt als ein normativer oder präskriptiver. Sagen, was bloß ist, einfach irgendwie vorhanden ist, unterscheidet sich grundsätzlich von einem Sagen, was sein soll, das insoweit auch vorschreiben bzw. empfehlen kann. Das normative Satzelement be-

18

Ein luzides Beispiel einer Sprechaktanalyse findet sich bei Engels, Helmut: »›Geben Sie den Inhalt des Textes wieder und …!‹ Anmerkungen zu einem Alltagsproblem des Philosophieunterrichts«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 12, 1990, Heft 1: Mündlich/Schriftlich I, S. 22 – 26.

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zeichnet Hare als »Neustikon« – im Griechischen bedeutet es so viel wie »zustimmend nicken« –, das indikative als »Phrastikon« – was »auf etwas hinweisen« bedeutet.

»Die Äußerung eines Satzes, der ein Phrastikon und ein Neustikon enthält, könnte so szenisch dargestellt werden: (1) Der Sprecher weist auf das hin oder deutet an, was er behaupten wird (dass es der Fall sei), oder was er befehlen wird (daß es herbeigeführt werde); (2) Er nickt, als ob er sagen wolle, ›Es ist der Fall‹ oder ›Tu es‹. Er wird jedoch auf verschiedene Weise nicken müssen, je nachdem, ob er das eine oder das andere meint.« 19 Dieses möglicherweise etwas kauzig anmutende Beispiel zeigt eines ganz deutlich: Um Wertwörter in einem Satzgefüge als solche erkennen zu können, bedarf es eines guten Auges – Hare redet von »feinfühliger Aufmerksamkeit« 20 –, um die Art und Weise, wie sie gebraucht werden, unterscheiden zu können. Dieses »Auge« kontinuierlich zu schärfen ist eines der großen Lernziele, die der Ethikunterricht zu erreichen sucht. Die Fähigkeit, Faktisches von Normativem grundsätzlich trennen zu können, ist eine der elementarsten Voraussetzungen jeglicher Ideologiekritik. Für eine sprachanalytische Untersuchung von Wertwörtern scheint das Sprachmodell Karl Bühlers21 immer noch von einem unverzichtbaren heuristischen Wert zu sein.

19

20 21

Hare, Richard M.: Die Sprache der Moral, übers. von Morstein, Petra von, stw 412, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1983, S. 38. Ibid., S. 161. Vgl. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, mit einem Geleitwort von Kainz, Friedrich, UTB 1159, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart/New York 1982 (vor allem § 2: Das Organonmodell der Sprache, S. 24 – 31).

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Darstellung – mit einer deskriptiv darstellenden Funktion –, Ausdruck – hier geht es um eine expressive, kommentierende und wertende Funktion – und Appell mit appellativer, agitierender Funktion sind nach Bühler die konstitutiven Leistungen der Sprache. Die Darstellung ist sachlich und gegenstandsbezogen; der Ausdruck wird der Sprecherin bzw. dem Sprecher / der Schreiberin bzw. dem Schreiber zugeordnet und gibt Auskunft über dessen Gestimmtheit und Wertempfinden; der Appell richtet sich an einen Empfänger mit der Absicht, Einfluss zu nehmen, zu überzeugen oder zu werben. In leichter Modifizierung des Bühler’schen Modells kann sprachanalytisch der Gebrauch von Sprache in einem vierdimensionalen Weltbezug dargestellt werden: 1. 2. 3. 4.

ein kognitiv-darstellender (deskriptiver) ein affektiv-gefühlsbezogener (emotionaler bzw. ästhetischer) eine evaluativ-bewertender (normativer) ein appellativer.

Ein Beispiel: »Der Asylantenstrom hat mit einem Anstieg der Asylanträge um 50 % ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen.« Wie lässt sich dieser Satz analysieren? a) Ein zahlenmäßig erfassbarer Sachverhalt wird deskriptiv vermittelt. b) Ein Gefühl (Sorge/Angst) angesichts dieses Sachverhalts kommt zum Ausdruck. c) Dem Dargestellten liegt eine gewisse Bewertung (negativ) zugrunde. d) Eine Änderung der Situation erscheint dringend. Dieses vierdimensionale Sprachmodell scheint in seiner didaktischen Reduktion ein taugliches Instrument zu sein, um die normative Ebene von der deskriptiven, affektiven oder appellativen unterscheiden zu können. Sein Differenzierungsgrad ist einer für den Ethikunterricht didaktisch sinnvollen Sprachreflexion adäquat. Um ethische Fragen überhaupt als ethisch wahrnehmen und weiter damit umgehen zu können, müssen die zwei grundlegenden Sprechakte unseres Sprachspiels – der konstative und der normative – in ihrer Unterschiedlichkeit gesehen werden. Die Schülerinnen und Schüler müssen à la longue in der Lage sein, zwischen dem im jeweiligen Sprechakt implizierten Geltungsanspruch auf »Wahrheit« (konstativer Sprechakt) und dem Geltungsanspruch auf »Richtigkeit« (evaluativer bzw. normativer22 Sprechakt) unterscheiden zu können. An einen Sprechakt wie »Ich verabscheue ihn, seit ich weiß, dass er seine Kinder prügelt.« kann man einmal die Wahrheitsfrage stellen – »Stimmt es, dass er seine Kinder prügelt?« –, zum anderen können wir die Richtigkeitsfrage stellen – »Ist es richtig, Kinder zu prügeln, ist die zugrundeliegende Norm legitim?«. Die Geltungsansprüche von Wahrheit und Richtigkeit müssen auf ihre Gültigkeit hin dann durch entsprechende Begründungs- und Argumentationsverfahren geprüft werden. 22

»Evaluativ« bezieht sich hier auf außermoralische, »normativ« auf moralische Werte und Normen.

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Die Textsorten, die im Ethikunterricht der Sekundarstufe I oder II benutzt werden, sind vergleichsweise breit gestreut: – philosophische Texte (Klassiker oder zeitgenössische Philosophen bzw. Sekundärliteratur) – narrative bzw. fiktive Texte (Kurzgeschichten, literarische Texte, Gedichte, Aphorismen) – Sachtexte (sozial-, natur- oder religionswissenschaftliche Texte) – Gebrauchstexte (Zeitungstexte – z. B. Reportagen, Kommentare, Interviews – oder Texte, die im Internet zugänglich sind, als Ergebnis von Internetrecherchen). Die vier Dimensionen mischen sich in den verschiedenen Textsorten je verschieden. In Sachtexten wird in der Regel eine vorwiegend deskriptive, in narrativen eine eher affektiv-emotionale bzw. ästhetisierende Tendenz auszumachen sein; philosophischethische Texte bieten Modelle guten und richtigen Handelns, sind also von normativen Perspektiven geprägt, während in den Printmedien nicht selten das appellative, auch propagandistisch-manipulative Moment im Vordergrund steht.

Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren Der Umgang mit Texten, deren Rezeption und Deutung, ist kein einseitiger, von einem Sender auf einen Empfänger hin ausgerichteter Prozess. Vielmehr spielt der Empfänger dabei eine konstitutive aktive Rolle. Das, was am Ende als sinnvolle Interpretation herauskommt, ist zu nicht unerheblichen Teilen Ergebnis und Produkt seiner individuellen Arbeit. Die Deutungsprozesse eines Textes können ganz wesentlich als das individuelle Konstrukt des Rezipienten gelten.

»Das System von Sinnzuordnungen, das jemand aufweist, ist entscheidend geprägt durch die Lebenswelt: durch die geschichtlichen Bedingungen, unter denen er lebt, und durch die Wahrnehmungs-, Urteils-, Verhaltens- und Rollenmuster, die Normen und Werte … sein Sinnsystem ist entscheidend geschichtlich und gesellschaftlich geprägt.« 23 Diesen grundlegenden Sachverhalten versucht ein handlungs- und produktionsorientiertes Verfahren im Ethik- und Philosophieunterricht gerecht zu werden. In solchen Verfahren sollen die Schülerinnen und Schüler sich als Interpretierende erfahren. Das Interpretieren wird so zu einem aktiven und produktiven Umgang mit Texten. So können Interesse und Engagement anstelle von Passivität und Langeweile geweckt werden.

23

Schuster, Karl: Einführung in die Fachdidaktik Deutsch, Schneider Verlag GmbH, Hohengehren 81999, S. 80.

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Anstatt einen Text durch fragend-entwickelnde (Leit-)Fragen zu erschließen und überwiegend kognitiv nachzuvollziehen, kann die Schülerin bzw. der Schüler aktiv und produktiv in ihn eingreifen. Sie bzw. er kann z. B. die texterhellenden Leitfragen selbst formulieren. Zu den inhaltsrelevanten Abschnitten eines Textes werden eigenständig Fragen – sogenannte Interviewfragen – gefunden, auf die die einzelnen Abschnitte die Antworten liefern. Didaktisch reduzierte Texte mit einem hinreichend stringenten und verständlichen Argumentationsgang eignen sich dafür, sie den Schülerinnen und Schülern als Textpuzzle vorzulegen bzw. ein solches von ihnen selbst fertigen zu lassen. Beim Rekonstruieren der ursprünglichen Textsequenz stoßen sie dann nicht selten auf Schwachstellen oder erhellende Alternativen in der Argumentation des Autors. Handelt es sich um klar strukturierte Texte mit einer mittleren Problemdichte, so können die Schülerinnen und Schüler auch Textfortsetzungen schreiben. Der Anfang, ein zentrales Mittelstück oder das Ende eines Textes wird weggelassen. Die Schülerin bzw. der Schüler muss dann den entsprechenden Textteil produzieren und kann ihn mit dem Originalteil vergleichen.

Textinszenierungen Eine besondere Form produktionsorientierten Umgangs mit philosophischen Texten ist das szenische Darstellen (Inszenierung) entscheidender Textpassagen als dramatisches Spiel, als Pantomime, mit freier Gestaltung der textimplizierten Rollen als Rollenspiel.

»Das Theater ist ständig dabei, Lebenskonzepte zu überprüfen. Theater ist ein Möglichkeitsraum, eine Versuchsanstalt. Hier kann alles passieren. Theater ist lebendiges Probehandeln.« 24 Das »theatralische Philosophieren« bietet Möglichkeiten, unterschiedliche Optionen des Handelns und Fühlens durchzuspielen und sich dabei in verschiedene Rollen hineinzuversetzen. Zur Darstellung kann z. B. eine Konfliktsituation kommen: Ein Schüler bzw. eine Schülerin baut eine Gruppe – oder die Gruppe sich selbst – als Standbild oder Skulpturengruppe auf. Sie bringt durch Körperhaltung sowie gestisch und mimisch die Konfliktsituation zum Ausdruck. Möglich ist auch, dass eine Lösung des Konflikts in analoger Weise dargestellt wird. Die entsprechende Haltung wird jeweils auf das Kommando »Freeze!« hin »eingefroren«. Schließlich kann ein Text auch durch Bewe24

Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Heyne Allgemeine Reihe 61105, Heyne Verlag, München 2006, S. 71. – Zum Theatralen Philosophieren vgl. Gefert, Christian: »Die Arbeit am Text – Das Schweigen der Schrift und Strategien der Texteröffnung«, in: Rohbeck, Johannes: Philosophische Denkrichtungen, a.a.O., S. 144 – 164 und vgl. Gefert, Christian: »Philosophieren in theatralen Formen«, in: Brüning, Barbara; Martens, Ekkehard (Hrsg.): Anschauliches Philosophieren. Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 5, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2007, S. 137– 155.

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gung und Tanz, durch Laute – z. B. Darstellung von Handlungen und Stimmungen durch Vokale und Konsonanten auf bestimmten Tonhöhen – und Musik dargestellt werden. Dieser didaktische Ansatz transformiert gewisse Elemente des »dekonstruktivistischen Verfahrens« (Jacques Derrida) auf den Umgang mit philosophischen Texten. Als Maximen eines didaktisch reflektierten dekonstruktivistischen Umgangs mit Texten gelten: – Texte werden gelesen ohne Annahme einer fixierten Bedeutung. Es gibt grundsätzlich verschiedene Weisen einer sinnvollen Interpretation. – Texte weisen eine prinzipiell unabschließbare Verweisungsstruktur auf. Es gibt keine endgültige »Sinnbesetzung« von Texten. Sie sind grundsätzlich offen für weitere Signifikanten. – Texte haben eine besondere sprachliche Form. Die Reflexion darauf – deren Metaphorik oder Ambiguität – liefert wesentliche Impulse der Texteröffnung. Derrida betont die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit des Textgefüges. Ihr wird ein starres, vorgefasstes Begriffs- und Methoden-Schema nicht gerecht. Hermeneutische Vernunft kann nicht mehr – de more geometrico – auf einen Satz fester Prinzipien und Verfahren zurückgreifen, die aus einem Guss entworfen wären. Sie ist vielmehr auf vielfältige, auch heterogen anmutende Auslegungsweisen angewiesen.

»Der Bastler […] (bricolage = Bastelei) ist derjenige, der ›mit dem, was ihm zur Hand ist, werkelt. Diese Werkzeuge findet er in seiner Umgebung vor und kann sich ihrer sogleich bedienen, sie sind schon da, wenn sie auch nicht speziell für das Vorhaben entworfen wurden, für das sie jetzt verwendet werden und für das man sie behutsam zuzurichten versucht; man zögert nicht, sie, wenn nötig, auszuwechseln oder mehrere gleichzeitig auszuprobieren, auch wenn ihr Ursprung oder ihre Form einander fremd sind usf. Im Bild der Bastelei ist also eine Kritik der Sprache enthalten, und man hat sogar sagen können, daß die Bastelei kritische Sprache, insbesondere die der literarischen Kritik, selbst sei. […] Nennt man Bastelei die Notwendigkeit, seine Begriffe dem Text einer mehr oder weniger kohärenten oder zerfallenen Überlieferung entlehnen zu müssen, dann muß man zugeben, dass jeder Diskurs Bastelei ist. Der Ingenieur […] müsste dann aber seinerseits die Totalität seiner Sprache, Syntax und Lexik, konstruieren. In diesem Sinne ist der Ingenieur ein Mythos: ein Subjekt, das der absolute Ursprung seines eigenen Diskurses wäre. Ein derartiges Subjekt, welches das Ganze seines Diskurses »aus einem Stück« erzeugte, wäre der Schöpfer des Wortes, das Wort selbst.« 25

25

Derrida, Jacques: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel«, in: Engelmann, Peter (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, RUB 8998, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999, S. 114 – 139: S. 125 – 126 und vgl. dazu auch grundsätzlich: Dreisholtkamp, Uwe: Jacques Derrida, bsr 550, Verlag C.H. Beck, München 1999, S. 158 – 159.

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»Dekonstruieren« im Umkreis einer »allgemeinen dekonstruktivistischen Strategie« (Derrida) heißt verflüssigen, heißt fixierte philosophische Sprachspiele und Begrifflichkeiten öffnen für neue, alternative Perspektiven oder Akzentuierungen. Voraussetzung und Hintergrund dafür ist ganz wesentlich eine hinreichende Kenntnis der zu dekonstruierenden Gedankengebäude. Ansonsten kann sich Philosophieren in expressiver Beliebigkeit verlieren. Dies ist dann nicht der Fall, wenn Rekonstruktion und Dekonstruktion in einer Hinund Her-Bewegung sich wechselweise bedingen und präzisieren. Eine Inszenierung von Platons Dialogen (z. B. Phaidros, insbes. 275c – 278d) oder Descartes’ Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (insbes. Meditation 3 und 4) setzt vernünftigerweise mit mehr oder minder fragmentarischen und vorläufigen Kenntnissen platonischen bzw. cartesianischen Philosophierens ein. Diese werden durch das Umsetzen von Text in Szenen, Bewegungen, Rollen, Bilder oder Musik fortlaufend kritisch in Frage gestellt, präzisiert und differenziert. Umgekehrt werden die ästhetisch-expressiven Umsetzungen und Ideen ständig kritisch kontrolliert und mit dem Text abgeglichen. Hier kann idealiter ein äußerst spannender, sich schrittweise vollziehender Lern- und Annäherungsprozess mit einem sehr hohen Anteil an vielseitigen Schüleraktivitäten und kritischem Engagement stattfinden. Beispiel (a): Platons »Höhlengleichnis« Platons Text eignet sich besonders gut für unterschiedliche Formen einer Textinszenierung. Zum einen kann das Gleichnis als Pantomime umgesetzt werden. Die Schüler gliedern den Text in sechs Szenen – Situation in der Höhle, Umkehr, Aufstieg … – und schreiben zu den einzelnen Szenen und deren pantomimischer Gestaltung Regieanweisungen. Dabei kommt es auf Körpereinsatz, Mimik, Gestik, auch auf die Lichtverhältnisse, die Gestaltung eines Bühnenbildes und eine mögliche Verwendung von musikalischen Mitteln an. Eine andere Möglichkeit bietet die Standbild-Methode. Standbilder sind ein Versuch, bestimmte Situationen mit den Mitteln der Körpersprache darzustellen. Das Standbild ist ein wortloses Rollenspiel, das sich in einem Bild ausdrückt. Eine oder mehrere Gruppen fühlen sich in die gewählten, konkrete Situationen (Szene) tragenden Rollen ein und bauen so ein Standbild. Dabei können sie eine Standbild-Regisseurin oder einen Standbild-Regisseur wählen, die bzw. der die Diskussion um eine besonders überzeugende Darstellung koordiniert. Bei der Präsentation der einzelnen Standbilder können die zuschauenden Schülerinnen und Schüler sich um die Standbilder herum bewegen und die einzelnen »Schauspieler« mit einem leichten Antippen befragen, z. B. was sie gerade sehen, hören, denken oder fühlen. In der abschließenden Besprechung der einzelnen Standbilder sollte erörtert werden, welches Standbild den Text und seine Bedeutung besonders eindrücklich umgesetzt hat. Solche Projekte eignen sich auch hervorragend für fächerübergreifendes Arbeiten (z. B. Zusammenarbeit von Philosophie- mit Kunst- oder Musikunterricht). Sie stellen allerdings auch – von schulorganisatorischen Zwängen einmal ganz abgesehen – hohe

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Anforderungen an die Lehrperson, da diese in der Lage sein muss, die unterschiedlichen Fachbereiche in den philosophisch-ethischen Lernprozess zu integrieren. Beispiel (b): Aristoteles: Das gerechte Gesetz

»Es liegt nichts daran, ob der Gute den Schlechten um etwas betrogen hat oder der Schlechte den Guten, noch auch, ob der Gute Ehebruch begangen hat oder der Schlechte: Das Gesetz schaut nur auf den Unterschied zwischen Höhe (des Unrechts und) des Schadens, es betrachtet die Partner als gleich – ob der eine das Unrecht getan und der andere es erlitten hat, ob der eine den Schaden verursacht hat und der andere davon betroffen worden ist. Daher versucht der Richter diese Form des Ungerechten – sie ist Verletzung der Gleichheit – auszugleichen. Denn auch in dem Falle, wo der eine verletzt worden ist und der andere zugeschlagen hat oder der eine getötet hat und der andere getötet worden ist, sind Erleiden und Tun ungleich aufgeteilt, und so versucht der Richter die Gewinnseite an die Verlustseite anzugleichen, indem er von dem ungerechten Gewinn (des Täters) wieder etwas wegnimmt. Der Ausdruck »Gewinn« wird nämlich ohne weiteres bei derartigen (unfreiwilligen) Vorkommnissen angewendet, auch wenn er für gewisse Fälle eigentlich nicht passt, zum Beispiel für den, der die Verletzung zugefügt – und der Ausdruck »Verlust« für den, der sie erlitten hat. Aber wenn das erlittene Unrecht abgeschätzt worden ist, so sagt man eben in einem Fall »Verlust« und im andern »Gewinn«. So steht also zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig mitten inne das Gleiche. Gewinn und Verlust jedoch sind in entgegengesetzter Weise ein Zuviel und ein Zuwenig: Gewinn bedeutet zu viel Vorteil und zu wenig Nachteil, und der Gegensatz dazu ist der Verlust. Als Mittleres zwischen beiden erwies sich das Gleiche, das wir als das Gerechte bezeichnen. So ist das Gerechte als ein Regulierendes nichts anderes als die Mitte zwischen Verlust und Gewinn. Wenn es daher Streitigkeiten gibt, so geht man zum Richter um Hilfe. Der Weg zum Richter aber ist der Weg zum Recht, denn das Wesen des Richters will gleichsam verkörpertes Recht sein. Und man sucht den Richter als den Mann, der in der Mitte steht, und mancherorts nennt man ihn »Mittler«, um die Erwartung anzudeuten, dass man sein Recht bekommt, wenn man die Mitte bekommt. So ist das Recht ein Mittleres, da es auch der Richter ist. Der Richter stellt die Gleichheit wieder her, und das ist so, wie wenn er bei einer in zwei ungleiche Teile geteilten Linie den Abschnitt, um den der größere Teil über die Mitte hinausreicht, wegnähme und dem kleineren Teil hinzufügte. Wird aber das Ganze in zwei gleiche Teile geteilt, so sagt man, man habe »das Seinige«, wenn jeder eben den gleichen Anteil erhalten hat.« 26 In einer ersten Reflexionsphase lesen die Schülerinnen und Schüler den Text und formulieren ihr spontanes Textverständnis: Von welchem Problem bzw. welchen Proble26

Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. und Nachwort von Dirlmeier, Franz, Anmerkungen von Schmidt, Ernst A., RUB 8586, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1983, N.E. V, 1131 b 32 – 1132 a 28 (S. 129 – 130).

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men handelt der Text? Welches sind die zentralen Textpassagen? Mit welchen konkreten Beispielen ließen sich die Probleme veranschaulichen? In der Inszenierungsphase wird in Dreiergruppen (Richter / Kläger / Angeklagter) eine Gerichtsverhandlung gespielt, in der die Gerechtigkeitsvorstellung von Aristoteles deutlich wird. Abschließend diskutiert die Klasse darüber, welche Verhandlung warum dem aristotelischen Begriff von Gerechtigkeit besonders nahe kommt. Dabei muss immer wieder der Text herangezogen werden, um mit ihm argumentieren zu können. Die didaktischen Potentiale von Textinszenierungen sind beträchtlich: – Die Schülerinnen und Schüler bekommen die Möglichkeit, durch die Formulierung ihrer Vorverständnisse etwas über sich selbst zu erfahren (Ich-Kompetenz), – sie lernen, Texte genau zu lesen und zu interpretieren (hermeneutische Kompetenz), – sie erweitern ihre methodischen Kenntnisse dadurch, dass sie ständig ihre Inszenierung mit der Textgrundlage in eine kritische Beziehung setzen, und dadurch, dass sie in fächerübergreifenden Zusammenhängen denken und argumentieren (methodische Kompetenz), – sie gleichen ihre Wahrnehmungen mit den Wahrnehmungen anderer in der Gruppe ab und versuchen gemeinsam, zu plausiblen Ergebnissen zu kommen (kommunikative oder diskursive Kompetenz), – sie entwickeln Einfühlungsvermögen und Empathie (Du-Kompetenz), – sie bekommen Impulse zum kreativen Denken und Arbeiten (kreative Kompetenz). Philosophieren ist so nicht nur ein kognitiv-intellektuelles Unternehmen; daneben werden auch die affektiven, ästhetischen und physischen Dimensionen (Körperwahrnehmung) angesprochen (Kompetenz zu ganzheitlichem Wahrnehmen und Gestalten).

Erstellen von Hypertexten Im Zusammenhang mit den Neuen Medien (Internet) stellt das Erstellen von HyperTexten ein weiteres produktionsorientiertes Textverfahren dar. Hyper-Texte27 können mittels der einfachen Markierungssprache HTML (Hyper Text Markup Language) so strukturiert werden, dass der Text nicht mehr eine fixe lineare Sequenz darstellt, sondern als ein aktiv zu gestaltendes Geflecht von Textbausteinen »funktioniert«. Aufgabe der Schüler bzw. der Schülerin ist es, einen mehr oder minder dicht vernetzten Korpus von geschriebenem und bildlichem Material zu erstellen. Jeder Textbaustein enthält mehrere anklickbare Stichworte, Piktogramme und Bilder (Links). Diese einfach anzulegenden und flexibel veränderbaren Schnittstellen verbinden die Textbausteine zu einem komplexen Netzwerk. Die Hypertexttechnologie hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Schreiben und Lesen von Texten.

27

Vgl. Sandbothe, Mike: »Interaktivität – Hypertextualität – Transversalität«, in: Münker, Stefan, Roesler, Alexander (Hrsg.): Mythos Internet, 2010, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1997, 56 –82.

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Jeder Leser bzw. Leserin komponiert den Gegenstand seiner Lektüre durch aktive Selektion der vorgegebenen Links. Die individuelle Rezeptionsperspektive bestimmt die Abfolge der Textbausteine. Lesen ist nicht länger nur der Vorgang der Rezeption einer fixen Textsequenz, sondern wird zu einem Prozess der kreativen Interaktion zwischen Leser, Autor und Text. Auch das Schreiben von Texten verändert sich. Die vielfältigen Beziehungen, die zwischen den verschiedenen Gedankengängen bestehen, die der Schreibende entwickelt, lassen sich durch Hyperlinks festhalten und repräsentieren. Das neue Schreiben und Denken im Hypertextstil stellt eine anspruchsvolle Zukunftsaufgabe dar. Schulen und Universitäten, Lehrer und Autorinnen müssen darauf noch vorbereitet werden. Hier liegt ein noch weitgehend unbeackertes Feld didaktischer Reflexion vor uns. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die klassischen Texte der Tradition zu diesem Zweck langfristig auch als echte Hypertexte, d. h. als durch Links verbundene Gedankennetze, zugänglich gemacht werden. Nicht nur schriftliche Texte, sondern auch Bilder, d. h. eingescannte Fotographien oder Videos, spielen im World Wide Web eine wichtige Rolle. Sie unterbrechen den Fluss der Verweisungen und stellen künstliche Endpunkte von Menüs dar. Eines scheint sich deutlich abzuzeichnen: Unsere traditionelle Lehr- und Lernkultur ist in Bewegung geraten. Im Netz der Hypertexte ist keine intrinsische oder immanente Ordnung auszumachen, wie sie etwa noch für das Gutenberg-Zeitalter typisch war. Die kritisch reflektierende Urteilskraft wird immer mehr herausgefordert, von sich aus eine gewisse Ordnung und zuverlässige Transparenz in das Datenchaos zu bringen. Der Erwerb von Wissen erscheint immer mehr als ein vielschichtiger Prozess, der ständiger Revision offen steht und bei dem die Fähigkeiten zu assoziativer Vernetzung und eigenständiger kritischer Bewertung eine herausragende Rolle spielen. Das Erstellen von Hyper-Texten im Ethik- und Philosophieunterricht konfrontiert die Schülerinnen und Schüler ansatzweise mit diesen neuartigen Problemen. Dabei kann vor allem eines auch deutlich werden: Ein bloß technischer Umgang mit den neuen Medien ist mitnichten eine hinreichende Bedingung für die Ausbildung reflektierender Urteilskraft. »Diesem Vorurteil gegenüber ist herauszustellen, dass die gezielte Ausbildung reflektierender Urteilskraft ihren pädagogischen Ort nicht allein und nicht zuerst im Computerlabor und vor dem Internetbildschirm hat. Sie beginnt vielmehr in der alltäglichen Kommunikationssituation des normalen, nicht-computerisierten Face-toFace-Unterrichts, der in einer mediengeprägten Bildungswelt mit seiner dekonstruktiven Dezentrierung zugleich eine pragmatische Revalidierung erfährt.« 28 Quelle: Pfeifer, Volker: »Arbeit am Logos. Textrezeption und Textproduktion«, in: ders.: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 32013 (überarbeitete und erweiterte Auflage), S. 145 – 178: S. 145 – 166 (vom Autor für diesen Band überarbeitet und gekürzt). 28

Sandbothe, Mike: »Lehren und Lernen im Zeitalter des Internets«, in: Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur sowie dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Denkräume. Szenarien zum Informationszeitalter, Bielefeld 2000, S. 31– 43: S. 40.

2

BEISPIELE AUS DER PRAXIS

»So kann man nicht philosophieren! Irgendwelche Zitate raussuchen!« Annäherung an die Interpretation klassischer Texte im Ethikunterricht am Beispiel Kants Antje Knopf Strizz ist ein tagesaktueller Comicstrip, der – unterbrochen von einer längeren Pause – seit 2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint und unter Comic-Freunden bereits als Klassiker gilt. Anlässlich des Kant-Jahres 2004 schuf der Zeichner Volker Reiche insgesamt fünf Folgen, die sich dem Königsberger Philosophen und seinem Denken widmen.1 Die Episode vom 10. 02. 2004 (M1) zeigt den Büroangestellten Strizz im Disput mit seinem Chef Leo. Der Chef verlangt die rasche Prüfung eines Kostenvoranschlags; Strizz hingegen ist wenig geneigt, dieser Forderung nachzukommen, und verweigert die Ausführung der Arbeit unter Berufung auf ein Zitat von Kant. Abwechselnd in dessen Schriften blätternd, überbieten sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer schließlich in der falschen Vereinnahmung einzelner Zitate: Im verbalen Ringen um die Durchsetzung der jeweiligen Interessen wird der Topos des Selbstdenkens zum einzigen Prüfstein der Urteilsfindung erhoben, die Achtung vor dem Sittengesetz umgedeutet zur Befolgung geltenden Rechts in Gestalt des Beschäftigungsvertrages und schließlich suggeriert, die fortwährende Beförderung des eigenen Glücks sei mit Kant als direkte Pflicht zu verstehen. Die angeführten Ausschnitte aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und dem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) geben die Protagonisten entweder unvollständig wieder oder separieren sie vom ihnen angestammten Kontext.2 Mit Douglas Walton lassen sich diese Praktiken als Beispiele 1

2

Besagte Folgen veröffentlichte Reiche vom 09.02.2004 – 13.02.2004 in der FAZ unter der Überschrift »Kant-Woche«. Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 4, Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1911, S. 385 – 463 sowie Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 8, Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1923, S. 33 – 43.

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Antje Knopf

für die Entstellung des Textsinns (»misrepresented authority«), einer Subkategorie des fehlerhaften Autoritätsarguments, begreifen.3 Solche Fehlschlüsse sind nicht nur im alltäglichen Argumentieren, sondern auch unter Philosophinnen und Philosophen anzutreffen – obwohl sie nichts mit dem Ideal des Philosophierens als zweckfreier Wahrheitssuche gemein haben.4 Der Comicstrip führt letztlich vor, unter welchen Voraussetzungen die Interpretation philosophischer Texte und damit ein wichtiger Teil des Philosophierens mit Sicherheit nicht gelingt: nämlich dann, wenn kein Interesse am Verständnis der Texte besteht, sondern lediglich an der Durchsetzung eigener Vorlieben in einem Streitgespräch – egal, ob die herbeizitierten Autoritäten tatsächlich hinter dem jeweiligen Anliegen stehen oder nicht.5 Im Kontext eines Ethikkurses der Oberstufe, der zur Klassikerlektüre nötigt, dürfte der Comic mit einiger Wahrscheinlichkeit die Frage provozieren, unter welchen Voraussetzungen die Interpretation klassischer philosophischer Texte glücken kann und welche Kriterien die Unterscheidung einer angemessenen Deutung von einer weniger angemessenen oder gar unangemessenen Deutung erlauben. Obgleich solcherlei Erkundigungen von großer Bedeutung für den Philosophie- und Ethikunterricht sind, werden sie – so scheint es zumindest – nur selten explizit im Unterricht besprochen.

 Fragen an den Comic zu Beginn einer Lerneinheit Neben dem Aufwerfen der obigen hermeneutisch-methodischen Problemstellung rechtfertigt sich der Comiceinsatz über die Möglichkeit, sich zentralen Begriffen der kantischen Moralphilosophie unter aktuellem Bezug zuzuwenden. Der Comic eignet sich als roter Faden, der durch die Unterrichtseinheit führt und das methodische Problem der adäquaten Klassikerinterpretation stets präsent hält. Da erst Schülerinnen und Schüler mit einschlägigen Lektüreerfahrungen in der Lage sind, die Fehldeutungen der im Comic zitierten Textstellen zu identifizieren und zu korrigieren, liegt es nahe, den Comic am Ende einer Unterrichtsreihe zur kantischen Moralphilosophie einzusetzen: Hier ließe er sich beispielsweise zur Festigung und Überprüfung, gegebenenfalls auch zur Vertiefung des Gelernten verwenden. Im Folgenden soll jedoch ein anderer Weg beschritten und ein Vorschlag unterbreitet werden, wie sich der Comic bereits zu Beginn einer solchen Einheit nutzen ließe. Einem mit der kantischen Philosophie noch nicht vertrauten Publikum werden vermutlich andere Aspekte innerhalb des Comics auffallen als einem belesenen: Während der kundige Rezipient sein Augenmerk auf die Kritik und Korrektur der fehlerhaften 3

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5

Walton, Douglas: Appeal to Expert Opinion. Arguments from Authority. Pennsylvania, Pennsylvania State University Press, University Park, PA 1997, S. 256. Zum Unterschied zwischen Falschzitat und unlauterer Dekontextualisierung siehe ferner Walton, Douglas; Macagno, Fabrizio: Wrenching from Context: The Manipulation of Commitments, in: Argumentation 24, 2010, S. 283 – 317. Höchst unterhaltsam und anschaulich beschreibt dies Soentgen, Jens: Selbstdenken! 20 Praktiken der Philosophie, Gulliver 5526, Beltz & Gelberg. Weinheim/Basel 2012, S. 25 – 30. Hier fallen starke Parallelen zu Harry Frankfurts Bullshit-Begriff auf. Vgl. Frankfurt, Harry: On Bullshit, in: Raritan Quarterly Review 6, 1986, Issue 2, pp. 81– 100.

»So kann man nicht philosophieren! Irgendwelche Zitate raussuchen!«

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Autoritätsargumente legen wird (»Warum ist das falsch?«) und – in Abhängigkeit von seinem Kenntnisstand – aus der Comiclektüre nur selten eine Frage an den Originaltext erwächst, werden dem kantunkundigen Leser bzw. der Leserin wohl am ehesten Verbindungen zwischen den Inhalten des Comics und Problemen der eigenen Lebenswelt ins Auge springen, etwa die folgenden: 1. Strizz versucht, sich der Anordnung seines Chefs zu entziehen, indem er behauptet, diese vertrüge sich nicht mit den Eingebungen seines Verstandes. Nicht nur der Chef, sondern auch der Staat und die Lehrerin sind Autoritäten mit bestimmten Weisungsbefugnissen. Lassen sich Anweisungen dieser Autoritäten unter Berufung auf das »Selberdenken« verweigern? Woran ist erkennbar, ob jemand tatsächlich ohne fremde Anleitung denkt? Und dürfen Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, dieses »verdrießliche Geschäft« zu verrichten, überhaupt Autoritäten zitieren? 2. Der Chef weist auf die Pflicht zur Erfüllung des Arbeitsvertrages hin – Strizz auf die Pflicht, die eigene Glückseligkeit zu befördern. Was tun, wenn Pflichten zu kollidieren drohen?6 Insofern auch der Ethikunterricht Teil der Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler ist und Prinzipien der Klassikerauslegung nicht schon an früherer Stelle explizit gemacht und fortwährend erprobt worden sind, lässt sich die oben bereits erwähnte hermeneutisch-methodische Frage stellen: 3. Welche Kriterien muss eine ihrem Gegenstand angemessene Textinterpretation erfüllen und welche Fehler können auf dem Weg zu einer solchen Interpretation auftreten? Kann es nur eine einzige angemessene Deutung geben, oder sind verschiedene Deutungen denkbar? Für den folgenden Vorschlag zur unterrichtlichen Arbeit mit dem Comic sind lediglich der erste und der dritte Fragekomplex von Belang. Der zweite Fragekomplex hingegen lässt sich nur dann bearbeiten und mit Gewinn erweitern, wenn bereits Kenntnisse zu Kants Verständnis von Pflicht und Glückseligkeit vorliegen, mithin im weiteren inhaltlichen Fortschreiten der Einheit.7

6

7

Zumindest eine Kollision vollkommener moralischer Pflichten ist, wie Kant in der Metaphysik der Sitten ausführt, unmöglich. Zur näheren Erläuterung der Unmöglichkeit moralischer Dilemmata in der kantischen Ethik siehe Timmermann, Jens: »Kantian dilemmas? Moral conflict in Kant’s ethical theory«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 95, 2013; Heft 1, S. 36 – 64. Zur Bedeutung der indirekten Pflicht, die eigene Glückseligkeit zu fördern vgl. Timmermann, Jens: »Kant on Consciousness, ›Indirect‹ Duty and Moral Error«, in: International Philosophical Quarterly, 46, 2006, Issue 3, pp. 293 – 308. Für den zweiten Fragekomplex bietet es sich an, 1) die Missinterpretation des Gesetzes-Begriffs durch Chef Leo in einer kurzen Anwendungsaufgabe zu besprechen, nachdem Kants Begriff der Pflicht Unterricht eingeführt wurde (»Formulieren Sie eine kurze Erwiderung auf Chef Leos Deutung des kantischen Pflichtbegriffs.«) und 2) Kants Kommentar zur Sicherung der eigenen Glückseligkeit zu nutzen, um a) die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Pflichten einzuführen, b) das verbreitete Missverständnis zu beseitigen, Kants Ethik wäre glücks- und neigungsfeindlich (dazu exemplarisch Mitscherlich-Schönherr, Olivia: »Glück bei Kant. Der Bruch mit dem Eudämonismus«, in: Thomä, Dieter; Henning, Christoph; Mitschernich-Schönherr, Olivia (Hrsg.): Glück – ein Interdisziplinäres Handbuch, J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 2011, 183 – 188), und c) die Unmöglichkeit der Kollision direkter Pflichten in der kantischen Ethik verständlich zu machen und einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

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 Prinzipien der Klassikerauslegung An dieser Stelle soll ein Vorschlag für im Unterricht zu etablierende Prinzipien und Hilfestellungen im Rahmen der Klassikerauslegung skizziert werden, der übersichtlich genug ist, um eine grobe Orientierung zu ermöglichen und Transparenz bzgl. der Anforderungen an eine angemessene Interpretation zu schaffen. Freilich ließe sich fragen, ob überhaupt Kriterien existieren, die eine Unterscheidung zwischen mehr und weniger adäquaten Deutungen ermöglichen. Für die Arbeit mit Schulklassen, die Orientierung in der Suche nach Textsinn benötigen, scheint es jedoch nahezu unausweichlich, die Existenz solcher Kriterien bis auf Weiteres anzunehmen. Der angekündigte Vorschlag geht aus von der Annahme, dass philosophische Texte als deutungsoffen, nicht jedoch als deutungsbeliebig zu verstehen sind: Weder kann eine einzige, vom Autor intendierte Bedeutung festgestellt werden, noch obliegt die Deutung des Textes der Willkür des Lesers, denn dieser ist an die Grenzen des Textes und der Sprache gebunden.8 Vor diesem Hintergrund besteht die Möglichkeit, im argumentativen Diskurs gemeinsam nach einem adäquaten Verständnis des Textes zu suchen und zugleich miteinander unvereinbare, aber den Prinzipien der Klassikerauslegung entsprechende, nachvollziehbare Deutungen nebeneinander bestehen zu lassen. Ein solches Vorgehen wirkt einer Deutungshoheit der Lehrkraft entgegen und befördert das Vertrauen in die eigene Vernunft. Obwohl es durchaus reizvoll erscheint, den Umgang mit philosophischen Texten in einer Unterrichtseinheit zur kantischen Ethik ausschließlich anhand der Empfehlungen Kants zu bestreiten9, sollen diese Empfehlungen nur besprochen werden, insofern sie sich bereits im zu erarbeitenden Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? angelegt finden: Im Unterricht zu thematisieren sind demnach (1.) die Bedeutung des Selbstdenkens für die Textlektüre sowie (2.) die in der Forderung nach öffentlichem Gebrauch der Vernunft anklingende Notwendigkeit, die eigenen Interpretationsversuche fremder Vernunft auszusetzen – etwa durch die Lektüre von Sekundärtexten oder ein Unterrichtsgespräch. Diese zwei Punkte finden in der Feststellung zusammen, dass die richtige Haltung zum Text Grundvoraussetzung für das Ge- oder Misslingen der Interpretation ist. Nur der Rezipient, welcher die entsprechende Schrift – deren Problemstellungen, Argumente und Struktur – wirklich durchdringen will, bringt auch die notwendigen Eigenschaften mit: etwa Genauigkeit in der Textanalyse (schwierige Textstellen müssen oft langsam und mehrfach gelesen10, fremde Begriffe nachgeschlagen, Mehrdeutigkeiten vermerkt, Argumente rekonstruiert und Kernaussagen in 8

9

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Vgl. Damschen, Gregor; Schönecker, Dieter: Selbst Philosophieren. Ein Methodenbuch, Walter de Gruyter, Berlin – Boston 22013 (2. durchges. und überarb. Aufl.), S. 207– 211. Wer dies versuchen möchte, dem sei der folgende Aufsatz empfohlen: Stegmaier, Werner: »Orientierung an anderer Orientierung. Zum Umgang mit Texten nach Kant«, in: Schönecker, Dieter; Zwenger, Thomas (Hrsg.): Kant verstehen – Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, S. 199 – 243. Dieser Umstand ist auch bei der Stundenplanung zu berücksichtigen: Manchmal schlägt eine Textanalyse fehl, weil den Schülerinnen und Schülern gar nicht genügend Zeit zum Selbstdenken gegeben wird.

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eigene Formulierungen überführt werden; schließlich sind die in der Textlektüre möglicherweise wirksamen kognitive Verzerrungen, etwa der Bestätigungsfehler, zu reflektieren) und Beharrlichkeit in Anbetracht des Widerstandes, den der Text seinen Lesern zuweilen entgegenstellt. Die Interpretation philosophischer Texte im Unterricht ist demnach als gemeinschaftliche Leistung zu verstehen – die Verantwortung für ihr Gelingen liegt nicht ausschließlich bei der Lehrkraft, sondern auch bei den Schülerinnen und Schülern, insofern sich Interpretationen an den kritischen Nachfragen und Einwänden der anderen Gesprächsteilnehmer zu bewähren haben. Die Kriterien oder Prinzipien, denen eine gelungene Interpretation zu entsprechen hat, variieren von Autor zu Autor: Während etwa Gregor Damschen und Dieter Schönecker fünf »hermeneutische Einsichten« zur Theorie und vierzehn Regeln zur Praxis der Interpretation als maßgeblich ausweisen – einige dieser Regeln wurden unter »Haltung zum Text« weiter oben bereits angeführt11 –, bespricht Gerhard Seel lediglich vier Prinzipien der Klassikerauslegung, von denen insbesondere die ersten zwei wichtige Bezugspunkte der Klassikerlektüre in der Schule sind12 : a) Die Trennung von externer Textkritik und Interpretation erfordert die vorläufige Akzeptanz der Prämissen des Textes, mithin die Verschiebung einer externen Textkritik auf ein »nach der Interpretation«. Von der Interpretation nicht zu trennen ist hingegen die interne Textkritik, welche prüft, ob aus den angegebenen Prämissen tatsächlich die im Text gezogenen Konklusionen folgen und, so ließe sich hinzufügen, nicht auflösbare Mehrdeutigkeiten, Widersprüche oder Inkonsistenzen im Text zu finden sind. Externe Kritik übte etwa derjenige, welcher Kants These von der »Selbstverschuldung« der Unmündigkeit für falsch erklärte und stattdessen behauptete, so etwas wie eine selbst verschuldetes Unvermögen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, gebe es streng genommen gar nicht. Interne Textkritik hingegen betriebe derjenige, welcher Kant einen Selbstwiderspruch nachweisen wollte: Wie ist eine selbst verschuldete Unmündigkeit denkbar, wenn Kant zugleich betont, dass der selbständige Gebrauch der Vernunft – mindestens des Großteils der Gesellschaft – erst durch Umstände möglich wird, die noch gar nicht in Gänze vorhanden sind?13 b) Das Prinzip der wohlwollenden Interpretation gebietet, den Text so auszulegen, dass unter Rückbezug auf eindeutige Textpassagen die argumentativ stärkste, konsistenteste Interpretation gewählt wird. Wenn es möglich ist, unter Bezugnahme auf

11 12

13

Vgl. Damschen, Gregor; Schönecker, Dieter: Selbst Philosophieren. Ein Methodenbuch, a.a.O. Vgl. Seel, Gerhard: »Das ›principle of charity‹ oder ›Kant wie einen toten Hund behandeln‹, in: Schönecker, Dieter; Zwenger, Thomas (Hrsg.): Kant verstehen – Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte, a.a.O., S. 182 – 198, hier insbesondere S. 191– 195. Seel merkt allerdings an, dass er mit den vorgestellten vier Prinzipien nicht alle, sondern lediglich die wichtigsten Prinzipien benannt hat und diese nur denjenigen anempfiehlt, welche an der Frage interessiert sind, was ein historischer philosophischer Text meinen könnte. Dass die Frage, ob an einer bestimmten Stelle des Interpretationstextes interne oder externe Kritik an einem Werk geübt wird nicht immer leicht zu entscheiden ist, zeigt etwa Johann Georg Hamanns in einem privaten Brief an Christian Jakob Kraus zu findende Kritik von Kants Aufklärungsaufsatz: Hamann, Johann Georg: Brief an Christian Jacob Kraus, in Bahr, Erhard (Hrsg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. RUB 9714, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1984, S. 18 – 22.

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Kants Texte das Selbstdenken entweder zu verstehen als eine Form des Prüfens eigener Eingebungen wie fremder Behauptungen, die stets echte Expertise in dem Bereich erfordert, aus welchem die Behauptung stammt, oder aber das Selbstdenken zu begreifen als die Aufgabe, sich zuvörderst um das Verstehen und kritische Durchdringen der fremden Behauptung zu bemühen, dann ist die letztere Lesart zweifelsohne die wohlwollendere. Denn sie unterstellt Kant nicht, er habe nicht sehen können, welch absurde Konsequenzen sich aus einem Selbstdenken ohne punktuelle Bezugnahme auf die Vernunft anderer ergibt. Konsistenz sollte jedoch nicht mit allen Mitteln erzwungen werden: »Der Preis, den man nicht mehr zahlen sollte, ist das systematische Uminterpretieren eindeutiger Aussagen, das Vernachlässigen wichtiger Aussagen und das Rekurrieren auf textfremde Aussagen (z. B. aus Tagebüchern), um eindeutige Aussagen des Textes zu eliminieren.« 14 c) Das Prinzip der historischen Einordnung des Textes, welches die Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des jeweiligen Textes verlangt, ist primär für Lehrerinnen und Lehrer von Belang. Für die Schülerschaft ist dieses Prinzip lediglich insofern von Interesse, als sie hierdurch zum Bewusstsein einer möglichen Ursache für Inkonsistenzen gelangen, die nicht dem Autor anzulasten sind – manchmal führen durch Dritte vorgenommene Anpassungen eines Textes an den heutigen Sprachgebrauch oder Umgliederungen von Textteilen zu regelrechten Verfälschungen –, und weil Informationen zur damaligen Verwendung von heute anderweitig besetzten Begriffen sowie dem historischen Kontext dabei helfen, den Text ggf. besser zu durchdringen (nicht zuletzt das Wissen um die nachvollziehbaren Befürchtungen vieler Aufklärer, der Zensur, Verbannung oder Schlimmerem zum Opfer zu fallen, kann Kants Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft sowie die Preisung Friedrichs des Großen erhellen15 ). d) Das Prinzip der Quellenkritik besagt, dass nicht vom Autor editierte Quellen – etwa posthum veröffentlichte Notizen und Briefe – lediglich heranzuziehen sind, um Mehrdeutigkeiten und offengelassene Fragen in den Hauptquellen zu klären sowie etwaige Änderungen und Umstellungen der Herausgeber ausfindig zu machen und zu prüfen. Auch dieses Prinzip erscheint insbesondere in der Auswahl der zu besprechenden Primärtexte von Belang und ist somit insbesondere für Lehrerinnen und Lehrer von Interesse. Zu ergänzen ist mit Damschen und Schönecker, dass alle hier als in besonderem Maße relevant aufgeführten Aspekte der Interpretation nicht nur eingeübt werden müssen, um deren Bedeutung gänzlich zu erfassen, sondern eine gute Interpretation darüber hinaus eines gewissen Maßes an Kreativität und Originalität bedarf.16 Fortwährendes Üben, die Beachtung der angeführten Prinzipien und die richtige Haltung

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16

Ibid., S. 193. Einen guten Überblick zum historischen Kontext des Aufklärungs-Aufsatzes bietet beispielsweise Brandt, Reinhardt: »Was ist Aufklärung? Beobachtungen zur Kantischen Antwort«, in: Kant-Studien 109, 2018; Heft 1, S. 147– 169. Damschen, Gregor; Schönecker, Dieter: Selbst Philosophieren. Ein Methodenbuch, a.a.O., S. 270 – 71.

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lassen die Wahrscheinlichkeit einer angemessenen Interpretation zwar exponentiell steigen, können tragfähige Interpretationsergebnisse aber nicht garantieren.

 Zwecke der Unterrichtseinheit Der hier vorgestellte Beginn der Unterrichtseinheit verfolgt vier Zwecke: Zum einen bietet der Einstieg aufgrund der im Comic enthaltenen Botschaft die Gelegenheit, Prinzipien und Fallstricke der Klassikerlektüre nicht nur qua guter Lenkung des Unterrichtsgesprächs durch die Lehrkraft – und damit potenziell unwissentlich – zu befolgen bzw. zu umgehen, sondern explizit zu thematisieren (siehe obiger Abschnitt) und auftretende Probleme in der Anwendung der Prinzipien während der Klassikerauslegung zu diskutieren. Zum anderen soll der Einstieg in die Einheit Kant als Gesprächspartner in Bezug auf nach wie vor aktuelle Probleme und Fragen etablieren: In Zeiten von Fake News, Bullshit und Verschwörungstheorien findet Kants Aufforderung zum Selbstdenken nicht nur wiederholt Eingang in die Artikel von Tageszeitungen und just erschienene Einführungen ins Kritische Denken; auch das Missverstehen dieser Aufforderung bis hin zu ihrer falschen Vereinnahmung lässt sich beobachten: Die Aneignung der Figur des nonkonformistischen »Querdenkers« durch Corona-Leugner kann beispielsweise als Versuch verstanden werden, an die positiv besetzte Aufklärungsrhetorik vom mündigen »Selbstdenker« anzuknüpfen. Dementsprechend dringlich erscheint eine Besprechung der Bedeutung und Voraussetzungen des Gebrauchs des eigenen Verstandes im Rahmen der Philosophie Kants. In Bezug auf die Erfordernisse des Selbstdenkens will der Einstieg zudem vor einem Missverständnis warnen: nämlich der irrigen Annahme, der Gebrauch des eigenen Verstandes verlange nicht nur, dass der letzte Probierstein der Urteilsfindung das eigene Denken, sondern auch, dass das eigene Denken der einzige Probierstein der Urteilsfindung sei. Dies würde mindestens in arbeitsteiligen Gesellschaften und Expertenkulturen zu einer Überforderung des Individuums führen: Den Hausarzt nicht an meiner statt denken zu lassen, kann nicht bedeuten, selbst Medizin studieren zu müssen oder tagelange Recherchen in Online-Foren zu betreiben, um Diagnosen zu überprüfen. Zwar sollten Behauptungen und Vorschriften gedanklich nachvollzogen und geprüft werden und sind nicht schon deshalb für gerechtfertigt zu halten, weil sie von einer Autorität oder Institution stammen. Allerdings erfordert unser Alltag, dass wir Informationen aus Quellen, die wir aus guten Gründen als vertrauenswürdig einschätzen, erst dann prüfen, wenn Indizien auftauchen, dass diese Informationen falsch sein könnten. Der mündige Patient lässt sich die Diagnose also erklären und fragt bei Unverständnis nach. Wird die Erklärung des Arztes für überzeugend befunden, sind dessen Anweisungen zu befolgen, bis belastbare Hinweise auftauchen, dass ein Irrtum vorliegen könnte. Ebenso kann bei einer Textlektüre, welche dem Primat des Selbstdenkens genügt, problemlos zu einem dunklen Passus die Deutung einer anderen, mit dem Text bereits vertrauteren Person eingeholt, diese Interpretation denkend nachvollzogen und bei Unverständnis kritisch befragt werden. Ziel des Selbstdenkers ist

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weder die Erreichung privater Zwecke noch die bloße Anhäufung von Wissensbeständen, sondern Orientierung im Denken qua Erkenntnis.17 Schließlich wird mit der Analyse des kantischen Aufsatzes implizit der Grundstein für das Verständnis der kantischen Moralphilosophie als einer Vernunftethik gelegt: Der Gebrauch der eigenen (nicht bloß instrumentellen, sondern praktischen) Vernunft ist Ausdruck von Freiheit und diese wiederum ist eine notwendige Voraussetzung für wahrhaft moralisches Handeln.

 Umsetzung im Unterricht In einem ersten Schritt gilt es, die Funktion der Zitate im Streitgespräch zwischen Chef Leo und Strizz zu verstehen und anschließend zu begründen, weshalb der im Comic gezeigte Umgang mit philosophischen Texten nichts gemein hat mit der Tätigkeit des Philosophierens (M1). Sollten die Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten haben, die Aufgaben zu lösen, könnten sie sich den Lösungen über das Nennen der Interessen der beiden Parteien nähern. Die anschließende Formulierung von Fragen an Kant auf Basis des Comics dient der strukturierten Auseinandersetzung mit den kantischen Texten in den folgenden Stunden. Die Fragen zum ersten Zitat sind anhand der Bearbeitung längerer Ausschnitte aus dem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? zu klären (M2). Um die Durchdringung des Textes zu gewährleisten, wird dieser anhand von Leitfragen erschlossen, welche die für die weitere Arbeit wesentlichen begrifflichen Unterscheidungen akzentuieren (selbstverschuldete Unmündigkeit, Mündigkeit als Selbstdenken, öffentlicher und privater Gebrauch der Vernunft). Bei Bedarf können phasenweise Techniken der Satz-für-Satz-Analyse sowie der Textstrukturanalyse hinzugezogen werden. Konkrete Anlässe der Thematisierung von Prinzipien und Voraussetzungen der Klassikerinterpretation ergeben sich in der Bearbeitung der Leitfragen fast zwangsläufig, wie etwa Aufgabe 3 zu M2 zeigt: Da der Text nicht ganz eindeutig ist, provoziert die Frage nach dem Verhalten des mündigen Patienten verschiedene Deutungsmöglichkeiten, weshalb sich an dieser Stelle die Gelegenheit bietet, im Unterrichtsgespräch das Prinzip der wohlwollenden Interpretation einzuführen, um ein klareres Textverständnis zu erlangen (M4). Die mündliche Vermittlung der Prinzipien verlangt von der Lehrkraft zwar ein gewisses Expertentum bezüglich des Gegenstandes, birgt aber den immensen Vorteil, auf spontan aufkommende Fragen flexibel reagieren zu können. Anhand der Erschließung des Unterschieds von öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft lässt sich zudem näher bestimmen, worin sich die Haltung des Verstehenwollens ausdrückt, die Strizz und seinem Chef offenbar fehlt. Um das erworbene inhaltliche und methodische Wissen zu sichern, kann unterschiedlich vorgegangen werden: Aufgabe 5 zu M2 etwa führt zurück auf den Comic und 17

Vgl. M4; vgl. ferner Bartuschat, Wolfgang: »Kant über Philosophie und Aufklärung,« in Klemme, Heiner F. (Hrsg.): Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Walter de Gruyter, Berlin – New York 2009, S. 7– 27: S. 13 und Hindrichs, Gunnar: »Die aufgeklärte Aufklärung«, in: ibid., S. 43 – 67: S. 43 – 44.

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fordert zu einer kritischen Stellungnahme in Bezug auf Strizz Deutung des Selberdenkens auf. In M3 dagegen sollen die Schülerinnen und Schüler einen Text des Philosophen Jens Soentgen, der die aufklärerische Aufforderung zum Gebrauch des eigenen Verstandes zum Gegenstand hat, zunächst analysieren und abschließend aus kantischer Sicht beurteilen.

M1 Strizz: Alles eine Frage der Auslegung?18

18

Reiche, Volker: Strizz, Das dritte Jahr – Es gibt schlechtere Kant-Darsteller…, C.H. Beck, München 2005, S. 42.

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 Arbeitsanregungen  Erklären Sie, worüber der Angestellte Strizz und sein Chef Leo streiten und welche Funktion die Zitate aus den Schriften Kants in dieser Auseinandersetzung übernehmen.  Strizz sagt im letzten Panel, das Heraussuchen »irgendwelcher Zitate« behindere das Philosophieren. Begründen Sie, inwiefern Strizz (nicht) recht hat.  Formulieren Sie Fragen an Kant, den Urheber der Zitate, welche sich für Sie aus der Lektüre des Comics ergeben.

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M2 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?19

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. […] Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. […] [D]er Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf. […] So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter, über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen, und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; […]. Eben derselbe handelt demohngeachtet der Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er, als Gelehrter, wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert. Eben so ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol, und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens, dem Publikum mitzuteilen. Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn, was er zu 19

Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 8, a.a.O., S. 35, 36, 37, 37– 38.

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Folge seines Amts, als Geschäftträger der Kirche, lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat, nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines andern vorzutragen angestellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der innern Religion Widersprechendes darin angetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch; weil diese immer nur eine häusliche, obzwar noch so große, Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er, als Priester, nicht frei, und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft, genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. […]

 Arbeitsanregungen  Benennen Sie die Ursachen, die im Text für das Verbleiben vieler Menschen in selbstverschuldeter Unmündigkeit angegeben werden. Machen Sie anhand eines Beispiels deutlich, was unter nicht selbstverschuldeter Unmündigkeit zu verstehen ist.  In kritischem, aufgeklärtem Denken sieht der Philosoph Jonas Pfister einen »zentrale[n] Aspekt von einer […] selbstbestimmten Persönlichkeit, die weder blind dem folgt, was andere sagen, noch allein dem, was dem Gefühl nach richtig zu sein scheint.« 20 Belegen Sie die von Pfister angeführten Aspekte aufgeklärten Denkens anhand von Kants Aufsatz.  Erörtern Sie, wie sich ein unmündiger und ein mündiger Patient jeweils beim Arztbesuch verhalten. Übertragen Sie Ihre Erkenntnisse anschließend auf den mündigen bzw. unmündigen Leser philosophischer Schriften.  Erklären Sie den Unterschied zwischen dem öffentlichen und privaten Gebrauch der Vernunft anhand eines selbstgewählten Beispiels. Übertragen Sie Kants Terminologie anschließend auf die Schulwirklichkeit: Wie hätte sich ein mündiger Schüler zu verhalten, der eine Maßnahme der Schulleitung für unsinnig hält? Begründen Sie Ihre Antwort.  Erörtern Sie unter Rückbezug auf M1, a) ob Strizz ohne Leitung eines anderen denkt und b), wie Kant Strizz’ Verhalten seinem Chef gegenüber beurteilen würde.

20

Pfister, Jonas: Kritisches Denken, RUB 14033, Philipp Reclam jun., Ditzingen 2020, S. 7.

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M3 Jens Soentgen: Ist der Anspruch des Selberdenkens vollständig einlösbar?21

Die weitaus meisten Dinge glauben wir nicht, weil wir sie selbst geprüft oder gesehen hätten, sondern weil sie uns ein anderer gesagt hat. […] Schon früh verlässt sich ein Kind auf das, was Mutter und Vater ihm sagen. Später vertraut man dann dem Lehrer, danach dem Professor, dann der Tageszeitung. […] Argumente, die auf Autoritäten bauen, lassen sich immer bestreiten. Man kann andere Autoritäten ins Feld führen, die das Gegenteil behauptet haben, oder man kann Gründe anführen, weshalb dieser oder jener Autorität nicht zu trauen sei. Man kann auch grundsätzlich werden und das sogenannte argumentum ex autoritate (Begründung durch Verweis auf eine Autorität) als solches in Zweifel ziehen. Man erklärt dann, dass es einem wichtig sei, sich selbst eine Meinung zu bilden. In der Philosophie hat es mehr als einmal einen regelrechten Aufstand gegen die Autoritäten gegeben. Der bekannteste fand zur Zeit der Aufklärung statt. Die Aufklärer traten für das Selbstdenken ein […]. Die Autoritätshörigkeit ist trotz aller Aufklärung nicht zurückgegangen. Sie hat sich in gewisser Hinsicht sogar gesteigert. Der moderne Mensch glaubt an deutlich mehr Dinge, die er nur vom Hörensagen kennt, als seine Vorfahren vor dreihundert Jahren. Nie zuvor war das Denken des Einzelnen so stark von Ansichten und Meinungen bestimmt, die er von anderen übernimmt, ohne sie zu prüfen oder auch nur prüfen zu können. Das liegt keineswegs an der Faulheit, die im Einzelfall natürlich hinzukommen kann. Ein wichtigerer Grund ist die Flut an Meinungen und Informationen, die der Einzelne nicht mehr verarbeiten kann. Man ist in der arbeitsteiligen Gesellschaft zwangsläufig auf Experten angewiesen. […] Es war der Traum der Aufklärung, diese Überzeugungen [Soentgen meint hier jene Überzeugungen, welche wir von anderen übernommen haben] abzuschaffen und stattdessen selbst zu denken. Doch vollständig ist dies nicht möglich. Zumindest hätte der Versuch den Verzicht auf jede Form gesellschaftlichen Lebens zur Folge: Man müsste als Einsiedler in die Wüste ziehen. Und auch das wäre noch nicht genug: Denn auch in der Wüste wird man noch von Erinnerungen beeinflusst. Der radikalste Weg zur Aufklärung wäre insofern, sich mit einem Nudelholz so lange auf den Kopf zu schlagen, bis eine vollständige Löschung der Festplatte eintritt. Auf diese Weise hätte man sich von allen Vorurteilen [und übernommenen Meinungen] befreit, doch zugleich die Fähigkeit des Denkens eingebüßt. Daher ist es zweckmäßiger, sich von vornherein klarzumachen, dass das Selbstdenken nicht total, sondern immer nur stückweise gelingen kann. Es ist unmöglich, ganz von vorn anzufangen.

21

Soentgen, Jens: Selbstdenken! 20 Praktiken der Philosophie, a.a.O., S. 51, S. 51– 52, S. 56 und S. 59 – 60.

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 Arbeitsanregungen  Stellen Sie Soentgens Prämissen für die Konklusion, das aufklärerische Ideal des Selbstdenkens könne lediglich »stückweise« verwirklicht werden, dar. Machen Sie dabei deutlich, was Soentgen unter »Selbstdenken« verstanden wissen möchte.  Schreiben Sie unter Berücksichtigung von M2 einen Brief an Soentgen, in welchem Sie sich zu seiner Kritik äußern.

M4 Immanuel Kant: Zur Angewiesenheit der eigenen Urteilsbildung auf fremde Urteilsbildung22

Der logische Egoist hält es für unnöthig, sein Urtheil auch am Verstande Anderer zu prüfen; gleich als ob er dieses Probirsteins (criterium veritatis extrenum) gar nicht bedürfte. Es ist aber gewiß, daß wir dieses Mittel, uns der Wahrheit unseres Urtheils zu versichern, nicht entbehren können, daß es vielleicht der wichtigste Grund ist, warum das gelehrte Volk so dringend nach der Freiheit der Feder schreit; weil, wenn diese verweigert wird, uns zugleich ein großes Mittel entzogen wird, die Richtigkeit unserer eigenen Urtheile zu prüfen, und wir dem Irrthum preis gegeben werden. […] Und ob wir gleich im Philosophiren wohl eben nicht […] uns auf andrer Urtheile zu Bestätigung unserer eigenen berufen dürfen, so würde doch ein jeder Schriftsteller, der keinen Anhang findet, mit seiner öffentlich erklärten Meinung, die sonst von Wichtigkeit ist, in Verdacht des Irrthums kommen.

 Arbeitsanregung  Erläutern Sie die Aussage des Textausschnitts und nehmen Sie Stellung dazu.

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Kant, Immanuel: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 7, Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1917, S. 117– 333: S. 128 – 129.

Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht Anita Rösch

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er Unterricht im Fach Ethik ist in besonderer Weise durch Heterogenität gekennzeichnet. Aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen als Ersatz- oder Alternativfach zu Religion setzen sich die Lerngruppen zum einen aus nicht religiös gebundenen Schülerinnen und Schülern, zum anderen aus Lernenden zusammen, die einer nicht christlichen Religionsgemeinschaft angehören. Damit verbunden ist eine Vielfalt an Nationen, Sprachen, Kulturen und eben Religionen und Werthaltungen. Neben den in allen Fächern zu verzeichnenden Leistungsunterschieden bedingt es der Migrationshintergrund vieler Ethikschülerinnen und -schüler, dass die Lehrkräfte verstärkt mit Sprachdefiziten und damit verbundenen Leseschwierigkeiten konfrontiert werden. Auch die unterschiedlichen kulturellen Zugänge zu den behandelten Themen und gelesenen Texten erschweren den Zugang zu den textlich vermittelten Inhalten und die Auseinandersetzung mit ihnen oft erheblich.

 Lesesituationen und Textsorten Die Vielfalt der Ausgangsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler trifft zusätzlich auf eine besondere Fülle an Textsorten. Die Inhalte des Fachs Ethik werden durch verschiedene Bezugswissenschaften bestimmt: Philosophie, Religionswissenschaft, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, Psychologie sowie in Fragen der angewandten Ethik die Naturwissenschaften verfügen über charakteristische Textformate, die jeweils spezifische Anforderungen an die Leserinnen und Leser stellen. Die im Ethikunterricht eingesetzten Textsorten lassen sich grob in Sachtexte, literarische Texte und andere Textsorten gliedern (Abb. 1).1 Letztere umfassen zum einen die im Unterricht behandelten religiösen Schriften, zum anderen aber auch diskontinuierliche Formate. Im Mittelpunkt des Unterrichts stehen jedoch vor allem Sachtexte, die sich in informierende und argumentierende Texte gliedern lassen2, sowie literarische Texte. Der Einsatz der verschiedenen Textformate ist abhängig von den Kompe-

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2

Zur Unterscheidung der Textsorten siehe Rosebrock, Cornelia: »Anforderungen von Sach- und Informationstexten, Anforderungen literarischer Texte«, in: Bertschi-Kaufmann, Andrea (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien, Lehren lernen, Basiswissen Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Bd. 1, Kallmeyer & Klett und Balmer, Seelze-Velber und Zug 2007, S. 50 – 65 Vgl. ibid.

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tenzen, die jeweils im Unterricht gefördert werden sollen. Handelt es sich vor allem um Kompetenzen aus dem Bereich »Analysieren und Reflektieren« 3, so stehen informierende Texte im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens. Eingesetzt werden sowohl Lehrtexte, die z. B. Hintergrundinformationen zu Themen der praktischen Philosophie geben, als auch Ausschnitte aus Biografien, philosophiegeschichtliche Überblicke, aber auch Gesetzestexte und die Menschenrechtskonvention. Diese fachlichen Grundlagen bieten häufig die Basis für einen Unterricht, der die Kompetenzen des Kompetenzbereichs »Argumentieren und Urteilen« 4 in den Mittelpunkt stellt. Argumentierende Texte, vor allem philosophische Schriften und Problemerörterungen, ergänzen angesichts dieser Ziele das Textspektrum. Da der Ethikunterricht auch Kompetenzen aus dem Bereich »Wahrnehmen und Verstehen« 5 anbahnen möchte, wird vielfach auch auf literarische Texte zurückgegriffen, die die Entwicklung von Perspektivenübernahme und Empathie ermöglichen. Kurzgeschichten, Kinder- und Jugendliteratur, aber auch Fabeln und Märchen bieten viele Anknüpfungspunkte für den Ethikunterricht. Sachtexte

Informierende Texte

Literarische Texte

Andere Textsorten

Argumentierende Texte

Narrative Texte

Andere Gattungen

Religiöse Texte

z.B. Lyrik, Drama, Märchen, Fabel

Diskontinuierliche Texte

Lehrtexte

z.B. Biografien, Philosophiegeschichte

Philosophische Texte

Kurzgeschichten

z.B. Informationen zu Themen der praktischen Philosophie

z.B. Gesetzestexte, Menschenrechtskonventionen

Problemerörterungen

Kinder- und Jugendliteratur

 Konzeptgeleitetes Verstehen – Phasen des Lesens Durch Erkenntnisse der kognitionspsychologischen und neurobiologischen Forschung ist nachgewiesen, dass sprachliche Zeichen nicht singulär verarbeitet, sondern immer in ein bestehendes Netz von bereits verarbeiteten sprachlichen Zeichen und einen schon vorhandenen Wissensbestand eingepasst werden.6 Dieser Prozess verläuft naturgemäß bei jedem anders, da die jeweiligen Wissensbestände verschieden sind. Textverstehen ist also ein »aktiver Konstruktions- und Interpretationsprozess«7, der

3

4 5 6

7

Vgl. Rösch, Anita: Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER, LIT Verlag GmbH & Co. KG, Berlin – Münster – Wien – Zürich 2009. Argumentations- und Urteilskompetenz, ethische Urteilsfähigkeit, moralische Urteilsfähigkeit. Wahrnehmungskompetenz, Perspektivübernahme, Empathie, interkulturelle Kompetenz. Willenberg, Heiner: »Schritte zum Textverstehen – Lesen aus der Perspektive der Gehirnforschung«, in: Steffens, Ulrich; Messner, Rudolf (Hrsg.): Neue Zugange zum Lesen schaffen – Lesekompetenz und Leseforderung nach PISA, Institut für Qualitätsentwicklung, Wiesbaden 2003, S. 15 – 31; vgl. Kuhn, Peter: »Lesekompetenz und Leseverstehen. Didaktisch-methodische Orientierungen zur Leseforderung im Muttersprachenunterricht«, in: Lernchancen 35, 2003, S. 4 – 9: S. 4. Ibid.

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auch als »konzeptgeleitetes Verstehen« bezeichnet wird. Für den Ethikunterricht ist entscheidend, dass es sich bei den Wissensbeständen nicht nur um Fachwissen, sondern vor allem auch um Wertkonzepte der Leserinnen und Leser handelt, zu denen die angelesenen Informationen, Argumentationen und Urteile in Bezug gesetzt werden. Lesen, das den Erkenntnissen der Gehirnforschung Rechnung trägt, verläuft in drei Phasen. Vorwissen muss aktiviert, der Text erschlossen und im Rahmen einer Anschlusskommunikation diskutiert bzw. weiterverarbeitet werden. Für jede Lesephase gibt es spezifische Methoden der Textarbeit, die den Leseprozess in besonderer Weise fördern. Wie sich diese Phasen des Lesens anhand der einzelnen Textsorten mithilfe ausgewählter Methoden konkretisieren lassen, wird im Folgenden erläutert.

Informierende Texte Die Lektüre eines informierenden Textes setzt das Aktivieren vorhandener Wissensbestände voraus. Darunter fallen sowohl Fachinformationen als auch das dazugehörige Fachvokabular. In diese bereits vorhandenen Wissenskonzepte fügt die Leserin bzw. der Leser während des Leseprozesses die Textaussagen ein. Im Anschluss an die Lektüre werden diese Vorwissenskonzepte erweitert, korrigiert bzw. differenziert. Vorwissen in Kombination mit neu erworbenem Wissen kann angewendet und das Gelesene unter dem Blickwinkel bewertet werden, inwieweit der Text die Fragen der Leserin bzw. des Lesers beantwortet und Fakten adäquat dargestellt hat (Abb. 2). Für Lehrkräfte im Ethikunterricht sollten bei der Auswahl informierender Texte für die eigene Lerngruppe folgende Gesichtspunkte leitend sein: – Passen das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler und der Text zueinander, d. h., wird nicht zu viel Wissen vorausgesetzt, das bei den Lernenden unter Umständen nicht vorhanden ist? – Gibt es eine Passung zwischen der Struktur der Texte und den Texterfahrungen der Leserinnen und Leser? – Welche Funktion soll der Text im Unterricht einnehmen? – Soll er Vorwissenskonzepte erweitern, korrigieren oder differenzieren?

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Am Beispiel eines Textes zum Thema »Menschenrechte« (M1) wird dieses Vorgehen exemplarisch dargelegt. Der Text erläutert anhand von Fragen an einen fiktiven Experten Entstehung, Aufgabe, Funktion und Wirkungsweise von Menschenrechten. Durch die Frage-Antwort-Struktur ist eine Gliederungshilfe gegeben, die es auch weniger versierten Leserinnen und Lesern erleichtert, die Informationen zu entnehmen, auch wenn der Text inhaltlich anspruchsvoll ist. Für Schülerinnen und Schüler, die sich noch nie mit den im Text erläuterten Fachbegriffen wie »Menschenrechte«, »Freiheit«, »Gerechtigkeit«, »Verantwortung« befasst haben, setzt dieser Text jedoch angesichts seiner Kürze sicherlich zu viel Fachwissen voraus.

Argumentierende Texte Während informierende Texte an das Faktenwissen der Leserinnen und Leser anknüpfen, erfordern argumentierende Texte eine stärkere persönliche Beteiligung der Lesenden. Aufgrund ihrer Funktion muss der Rezipient bzw. die Rezipientin nicht nur eigene Wissenskonzepte aktivieren, sondern sich auch in der Diskussion persönlich verorten (Abb. 3). Argumentierende Texte sprechen Leserinnen und Leser daher immer auf einer subjektiven Ebene an. Notwendig ist es daher, sich im Vorhinein über eigene Einstellungen und Werthaltungen zum Thema des Textes bewusst zu werden. Die Lektüre dieser Textsorte erfordert einen differenzierten Blick auf den Inhalt. Zum einen müssen die Argumentationsstruktur erschlossen und das Urteil des Textes herausgearbeitet werden. Notwendig ist es aber auch, die hinter der Argumentation eventuell im Verborgenen liegende Werthaltung des Autors zu erkennen. Welches Menschenbild wird vertreten, welche ethische Grundhaltung eingenommen? Schließ-

Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht

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lich gilt es, sachliche von affektiven Komponenten zu trennen. Im Anschluss an die Textlektüre müssen im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung eigene und fremde Werthaltungen in Bezug gesetzt und die Qualität der Argumente geprüft werden. Durch die unterschiedlichen kulturellen Zugänge der Schülerinnen und Schüler zu einzelnen Texten kann dieser Prozess mitunter sehr kontrovers verlaufen. Lehrkräfte müssen sich bei der Auswahl argumentierender Texte für ihren Unterricht daher folgende Fragen stellen: – – – – – –

Auf welches Wissen nimmt der Text Bezug, das er nicht selbst liefert? Ist dieses Wissen bei den Leserinnen und Lesern vorhanden? Welche Qualität haben die Argumente? Ist die Argumentationsstruktur des Textes klar erkennbar? Welche Werthaltungen vertritt der Text? In welchem Verhältnis stehen diese zu den Werthaltungen der Schülerinnen und Schüler?

Und schließlich natürlich die Frage nach der Funktion des Textes: – Soll er Argumente für eine Diskussion liefern? – Soll er eine kritische Auseinandersetzung anregen oder gar provozieren? – Ist er als Handlungsaufforderung zu verstehen?

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Am Beispiel eines philosophischen Textes für Jugendliche, der sich mit den Motiven für eine Handlung und der Verantwortlichkeit des Handelnden befasst, kann gezeigt werden, wie ein solcher Unterrichtsprozess aussehen kann. Dieser Text knüpft mit der Frage, woran sich jemand bei einer Handlung orientiert, unmittelbar an die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen an, indem er für Jugendliche relevante Gründe wie Anordnung der Eltern, Gruppendruck, Bequemlichkeit und Egoismus thematisiert (M2). Obwohl der Text inhaltlich und sprachlich anspruchsvoll ist, bietet er viele Möglichkeiten, Vorwissen zu aktivieren und so das Textverstehen zu entlasten.

Literarische Texte Auch literarische Texte erfordern einen Einbezug des Lesenden (Abb. 4), und auch bei ihnen ist es nötig, sich im Vorfeld über eigene Einstellungen und Werthaltungen bewusst zu werden, um das Handeln der Protagonisten verstehen, einordnen und bewerten zu können. Das Erschließen der Perspektivierung des Geschehens sowie das Herausarbeiten der Einstellung der geschilderten Figuren zu ethischen Fragestellungen stehen daher im Mittelpunkt der Texterarbeitung. Die dahinterliegenden Werthaltungen des Textes und die Aussageabsicht der Autoren gilt es herauszuarbeiten. Dabei können unter Umständen auch kulturelle Gefühlsmuster erarbeitet werden. So sind die Antworten auf Fragen wie »Was verstehen die Protagonisten unter Ehre oder Respekt?« sehr kulturabhängig. Dieser Aspekt ist gerade für den Ethikunterricht mit seiner multinationalen Schülerschaft von besonderer Bedeutung. Im Anschluss an die Textlektüre können und sollten die Lesenden je nach Text Empathie mit den Protagonisten entwickeln und deren Verhalten bewerten. Durch die Herstellung eines Bezugs zur eigenen Lebenswirklichkeit wird ein Inbeziehungsetzen eigener und fremder Werthaltungen angestoßen, die kritische Auseinandersetzung beginnt. Lehrerinnen und Lehrer, die literarische Texte im Unterricht einsetzen, müssen sich über folgende Gesichtspunkte Klarheit verschaffen: Sie müssen klären, inwiefern der Text an die Erfahrungswelt der Jugendlichen anknüpft. Sie müssen auch – da der Text unter anderen Gesichtspunkten als im Deutschunterricht besprochen wird, es also nicht um sprachliche und stilistische Gestaltung geht – auf eine Dosierung der poetischen Komplexität achten. Weiterhin stellen sich folgende Fragen: – Welche Werthaltungen vertreten die Protagonisten? – In welchem Verhältnis stehen diese zu den Werthaltungen der Schülerinnen und Schüler? – Aus welcher Perspektive wird das Geschehen geschildert? – Welche Funktion soll der Text einnehmen? Soll er Identifikationsmöglichkeiten bieten oder eher eine Gelegenheit zur Distanzierung sein? – Soll er eine Anregung zur Selbstreflexion geben oder der Veranschaulichung abstrakter Theorien dienen?

Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht

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Am Beispiel eines Ausschnitts aus einem Jugendbuch (M3) kann deutlich gemacht werden, wie sich Aufgaben konstruieren lassen, die die Phasen des Lesens berücksichtigen. Obwohl die Handlung in einem märchenhaften Umfeld mit Grünlingen und sprechenden Kaninchen spielt, geht es doch um für Kinder relevante Fragen: – – – –

Woher habe ich eigentlich mein Wissen? Wer stellt eine glaubwürdige Autorität dar? Wie entstehen Vorurteile? Wer hat Vorteile von der Verbreitung von Vorurteilen?

Die nachfolgende Vorstellung der Texte und Aufgabenstellung geht von einer klaren Trennung der Textsorten aus. Diese Trennung ist allerdings eher eine wissenschaftliche in dem Sinne, dass sie nicht unbedingt der literarischen Realität entspricht. Es gibt vielfältige Mischformen an Textformaten und Zielsetzungen literarischer Produkte. So finden sich in literarischen Texten integrierte Sachtexte, es arbeiten aber auch fiktionale Texte mit argumentierenden Aspekten.8 Die Übergänge sind fließend, die Gattungsgrenzen verschwimmen. Auch Schulbücher arbeiten oft mit einer Zusammenstellung von Texten verschiedenster Formate auf engstem Raum, die es den leseschwachen Schülerinnen und Schülern nicht unbedingt erleichtern, sich selbstständig zurechtzufinden. Umso wichtiger ist es, durch die gewählte Methodik Vorwissen zu aktivieren und den Leseprozess zu entlasten.

8

Vgl. Rosebrock, Cornelia: »Anforderungen von Sach- und Informationstexten, Anforderungen literarischer Texte«, a.a.O.

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M1 Menschenrechte verstehen9 Können Sie Menschenrechte definieren? Wie erklären Sie, was Menschenrechte sind? Ein Recht ist ein Anspruch, den Menschen berechtigt sind zu erheben: Es gibt ein Recht auf die Waren im Einkaufskorb, wenn dafür bezahlt wurde. Staatsbürger/innen haben das Recht, ein Staatsoberhaupt zu wählen, wenn dies durch die Verfassung ihres Landes garantiert wird. Ein Kind hat das Recht, in den Zoo mitgenommen zu werden, wenn seine Eltern ihm das versprochen haben. All dies kann angesichts gegebener Versprechen oder Garantien zu Recht erwartet werden. Menschenrechte jedoch sind Ansprüche mit einem kleinen Unterschied, denn sie beruhen nicht auf Versprechen oder Garantien durch andere. Eines Menschen Recht auf Leben hängt nicht davon ab, dass ein anderer verspricht, ihn nicht zu töten: sein Leben vielleicht schon, aber nicht sein Recht auf Leben. Sein Recht auf Leben begründet sich einzig darin, dass er ein Mensch ist. Menschenrechte zu akzeptieren, bedeutet anzuerkennen, dass jeder Mensch diesen Anspruch erheben kann: Ich habe diese Rechte, egal was du sagst oder tust, weil ich ein Mensch bin, genau wie du. Menschenrechte sind allen Menschen angeboren. Warum braucht dieser Anspruch keine Rechtfertigung? Worauf beruht er? Und warum sollten wir dies glauben? Dieser Anspruch ist letztlich ein ethischer Anspruch, der auf ethisch-moralischen Werten beruht. Das Recht auf Leben bedeutet, dass einem niemand das Leben nehmen darf, dass es falsch wäre, dies zu tun. So gesehen braucht der Anspruch wenig Rechtfertigung. Wahrscheinlich werden alle Lesenden dem zustimmen, weil wir im eigenen Fall alle erkennen, dass unser Leben, unser Sein, bestimmte Aspekte hat, die unantastbar sein sollten; niemand sollte sie antasten können, weil sie wesentlich sind dafür, wer wir sind und was wir sind; sie sind wesentlich für unsere Menschlichkeit und unsere Menschenwürde. Die Menschenrechte erweitern dieses Verständnis auf jeden einzelnen Menschen auf diesem Planeten. In diesem Verständnis hat jeder Mensch weltweit die gleiche Würde und Anspruch auf Schutz durch die Menschenrechte. Warum ist es falsch, eines Menschen Recht auf Leben zu missachten? Warum ist es falsch, ihn zu töten? Ist das ein und dieselbe Frage? Zwei zentrale Werte machen den Kern der Menschenrechtsidee aus: Der erste ist die Menschenwürde, der zweite ist die Gleichheit. Die Menschenrechte lassen sich begreifen als eine Manifestation dieser beiden grundlegenden Werte, die für ein Leben in Würde notwendig sind und deren Universalität sich aus der Tatsache ableitet, dass sie für alle Menschen gleichermaßen gültig sind, gültig sein müssen. 9

Lohrenscheit; Claudia (Hrsg.): Kompass. Handbuch zur Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn – Berlin 2005, S. 281– 282.

Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht

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Diese grundlegende Idee und diese beiden Werte werden von allen Kulturen, von jedem zivilisierten Land und jeder großen Religion unterstützt. Nahezu überall wird anerkannt, dass staatliche Macht nicht unbegrenzt oder willkürlich sein kann, sondern so weit eingeschränkt werden muss, dass alle Menschen in ihrem Geltungsbereich ein Leben in Würde führen können. Von diesen beiden grundlegenden Werten lassen sich viele andere Werte ableiten. Mit diesen gelangt man zu einer genaueren Definition, wie Menschen und Gesellschaften in der Praxis miteinander leben sollten. Zum Beispiel: Freiheit, denn der Wille des Menschen ist ein wichtiger Teil seiner Menschenwürde. Wer gezwungen wird, gegen seinen Willen zu handeln, dessen Geist wird gedemütigt. Respekt vor anderen, denn ein Mangel an Respekt verleugnet die Individualität und Würde des anderen. Schutz vor Diskriminierung, denn Gleichheit an menschlicher Würde bedeutet, Menschen nicht aufgrund körperlicher (oder anderer) Merkmale zu unterscheiden und zu benachteiligen, sondern sie in ihrer Verschiedenheit zu akzeptieren. Toleranz und Anerkennung, denn Intoleranz ist ein Zeichen für mangelnden Respekt gegenüber anderen. Gleichheit bedeutet in diesem Kontext keineswegs Gleichmacherei oder Uniformität – sie bezieht sich auf gleiche Rechte trotz individueller Unterschiede. Gerechtigkeit, denn Menschen, denen die gleiche Würde zukommt, haben Anspruch auf gleiche, menschenwürdige Behandlung. Verantwortung, denn um die Rechte anderer zu respektieren, muss Verantwortung für das eigene Handeln übernommen werden.

 Arbeitsanregungen Vorwissen aktivieren  Erstellt eine Mindmap zum Thema »Menschenrechte«. Was wisst ihr schon zu diesem Thema? Was assoziiert ihr mit dem Begriff »Menschenrechte«?  Erläutert euer Verständnis der Begriffe »Freiheit«, »Respekt vor anderen«, »Schutz vor Diskriminierung«, »Toleranz und Anerkennung«, »Gerechtigkeit«, »Verantwortung« und erstellt ein Schaubild über den Zusammenhang dieser Begriffe.

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Texterarbeitung Die Lehrkraft kann die Fragen aus dem Originaltext entfernen. Der Arbeitsauftrag lautet dann:  Der Text ist als Interview gestaltet. Formuliert Fragen, auf die die Absätze eine Antwort geben.  Der Text ist als Interview gestaltet. Stellt einer Mitschülerin bzw. einem Mitschüler die Interviewfragen und beantwortet sie mit eigenen Worten.  Ergänzt und korrigiert die vor der Lektüre erstellte Mindmap durch die beim Lesen neu erworbenen Informationen.  Ergänzt und korrigiert das vor der Lektüre erstellte Schaubild durch die beim Lesen neu erworbenen Informationen.

Anschlusskommunikation  Vergleicht eure Mindmap bzw. euer Schaubild vor und nach der Lektüre. Bewertet die Informationen, die euch der Text geliefert hat. Habt ihr neue Informationen erhalten? Wo gibt es noch Wissenslücken? Wie können sie geschlossen werden?  Erklärt einer Mitschülerin oder einem Mitschüler in der Nachbarklasse oder einem anderen Menschen, was Menschenrechte sind. Berücksichtigt den Adressaten eures Vortrags und dessen Vorkenntnisse und Lebenserfahrungen.

M2 Tu, was du willst10

Wir haben gesehen, dass es unterschiedliche Gründe gibt, warum wir etwas tun: 1. weil man es uns befiehlt (die Eltern, wenn wir jung sind, die Vorgesetzten oder die Gesetze, wenn wir erwachsen sind); 2. weil man sich daran gewöhnt hat, es so zu tun (manchmal zwingen uns die anderen mit ihrem Beispiel und ihrem Druck die Routine auf – aus Angst vor der Blamage, der Zensur, dem Gerede, dem Wunsch, in der Gruppe akzeptiert zu werden usw. – und manchmal schaffen wir selbst die Routine); 3. weil es ein Mittel ist, das zu erreichen, was wir wollen (z. B. mit dem Bus zur Schule zu fahren); oder einfach 4. weil uns eine verrückte Idee oder eine Laune eingegeben haben, plötzlich so zu handeln. Es zeigt sich aber, dass in wichtigen Situationen oder wenn wir das wirklich ernst nehmen, was wir tun wollen, alle diese geläufigen Motivationen sich als unbefriedigend herausstellen: Sie schmecken nach mehr, wie man so sagt. […] 10

Savater, Fernando: Ethik für Erwachsene von morgen, übers. von Hof, Wilfried, Campus Verlag, Frankfurt – New York 51998, S. 45 und S. 46 – 48.

Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht

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Das alles hat mit der Frage der Freiheit zu tun, mit der sich eigentlich die Ethik beschäftigt, wie ich dir schon gesagt habe. Freiheit besteht darin, ja oder nein sagen zu können, »Ich tue es« oder »Ich tue es nicht«, was auch immer mein Chef oder die anderen sagen, »Das gefällt mir, und ich will es«, »Das passt mir nicht, und deshalb will ich es nicht«. Freiheit heißt entscheiden, aber auch, vergiss das nicht, dir darüber Rechenschaft zu geben, wie du dich entscheidest. Freiheit steht in krassem Gegensatz zu Sich-treiben-Lassen, wie du inzwischen sicher bemerkt hast. Und um dich nicht treiben zu lassen, bleibt dir nichts anderes übrig, als mindestens zweimal darüber nachzudenken, was du tun willst; ja, zweimal, auch wenn dir der Kopf weh tut. Beim ersten Mal, wenn du über das Motiv deiner Handlung nachdenkst, ist die Antwort auf die Frage »Warum tue ich das?«: Ich tue es, weil man es mir befohlen hat, weil es so üblich ist, weil ich Lust dazu habe. Aber wenn du das zweite Mal darüber nachdenkst, sieht die Sache schon wieder anders aus. Ich tue das, weil man es mir befiehlt, aber … Warum gehorche ich dem Befehl? Aus Angst vor Strafe? In der Hoffnung auf eine Belohnung? Bin ich dann nicht wie ein Sklave dessen, der mir befiehlt? Wenn ich gehorche, weil der, der den Befehl gibt, mehr weiß als ich, wäre es dann nicht ratsam, mich ausreichend zu informieren, damit ich für mich selbst entscheiden kann? Und wenn man mir etwas befiehlt, das mir nicht angemessen zu sein scheint? So wie man dem Nazi-Kommandanten befahl, die Juden im Konzentrationslager zu vernichten? Kann es nicht möglicherweise etwas »Schlechtes« sein – also für mich Unangemessenes –, so sehr man es mir auch befiehlt, oder etwas »Gutes« und Angemessenes, auch wenn niemand es mir befiehlt? Mit den Gewohnheiten ist es genauso. Wenn ich nur einmal darüber nachdenke, was ich tue, genügt mir vielleicht die Antwort, dass ich so handle, »weil es so üblich ist«. Aber warum zum Teufel muss ich immer das tun, was man gewöhnlich tut (oder was ich normalerweise tue)? Dann wäre ich ja der Sklave der Leute in meiner Umgebung (so gute Freunde sie auch sein mögen) oder dessen, was ich gestern, vorgestern oder letzten Monat getan habe! Wenn ich von Leuten umgeben bin, die aus Gewohnheit Schwarze diskriminieren, und mir das nicht besonders gut zu sein scheint, warum muss ich sie nachahmen? Wenn ich mir angewöhnt habe, Geld zu leihen und nie zurückzugeben, ich mich aber jedes Mal mehr schäme, warum kann ich mein Verhalten nicht ändern und mich ab sofort mehr an die Gesetze halten? Kann nicht möglicherweise eine Gewohnheit wenig angemessen für mich sein, so sehr ich mich auch an sie gewöhnt habe? Und wenn ich mich zweimal über meine Launen befrage, ist das Ergebnis ähnlich wie bei den Befehlen und Gewohnheiten. Oft habe ich Lust, etwas zu tun, das sich sofort gegen mich wendet und das ich nachher bereue. In bedeutungslosen Angelegenheiten kann die Laune akzeptabel sein, aber wenn es sich um ernstere Sachen handelt, kann das Sichtreiben-Lassen, ohne nachzudenken, ob es sich um eine angemessene oder unangemessene Laune handelt, nicht ratsam sein; im Gegenteil, es kann sogar gefährlich sein: Die Laune, immer bei Rot über die Kreuzung zu fahren, macht vielleicht ein- oder zweimal Spaß, aber werde ich alt, wenn ich es Tag für Tag mache? Kurz zusammengefasst: Es kann Befehle, Gewohnheiten und Launen geben, die angemessene Motive zum Handeln sein mögen, aber in anderen Fällen muss es nicht so sein. Es wäre etwas idiotisch, sich allen Befehlen, Gewohnheiten und Launen wider-

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setzen zu wollen, weil sich das manchmal als angemessen oder angenehm herausstellt. Aber niemals ist eine Handlung gut, nur weil sie ein Befehl, eine Gewohnheit oder eine Laune ist. Um zu wissen, ob etwas für mich wirklich angemessen ist oder nicht, muss ich das, was ich tue, genauer untersuchen und über mich selbst nachdenken.

 Arbeitsanregungen Vorwissen aktivieren  Erstellt eine Meinungslinie im Klassenraum zu folgender Frage: Kann man tun, was man will? Die Endpunkte werden durch die Aussagen »Man kann immer tun, was man will.« und »Man kann nicht immer tun, was man will.« gebildet. Positioniert euch auf dieser Linie und diskutiert eure Standpunkte.  Formuliert eure Erwartungen an einen Text mit der Überschrift »Tu, was du willst«.  Visualisiert die Zusammenhänge zwischen den Begriffen »Laune«, »Freiheit«, »Rechenschaft«, »Befehl«, »Gewohnheit«, »Motiv«.

Texterarbeitung Der Text kann in Blöcke zerschnitten werden. Die Aufgabe für die Schülerinnen und Schüler lautet:  »Bringt die Textteile in die richtige Reihenfolge. Achtet dabei auf einen sinnvollen Argumentationsgang.« Binnendifferenziert:  Ordnet den Textteilen vorgegebene Überschriften zu und findet eigene Überschriften zu den Abschnitten.  Erstellt ein Cluster zu den Motiven des Handelns, die der Text benennt, und ergänzt es um weitere Begriffe.  Erstellt Frage-Antwort-Karten zum Text. Überprüft euer Textverständnis gegenseitig.

Anschlusskommunikation  Sucht je ein Beispiel aus eurer Erfahrungswelt zu den Motiven des Handelns und beschreibt es.  Wandelt den Text in eine andere Textsorte um, z. B. in einen Tagebucheintrag.

Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht

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M3 Das weiß doch jeder?!11 Lorina muss einen Aufsatz über einen besonderen Ort schreiben. Zur Recherche begibt sie sich in den Wald, um mehr über das dortige Schloss herauszufinden. Mit einem Kaninchen, das ihr den Weg weist, entspinnt sich ein Gespräch über das Wissen. »Du musst nämlich wissen«, sagte das schwarze Kaninchen, »dass es im Schloss zwei Arten von Leuten gibt. Das Drinnenvolk lebt drinnen – und ist ganz reizend. Gute Manieren, lieb, wohlerzogen, gesittet. Drinner sind dufte. Aber dann gibt‹s noch die Draußer. Sie leben draußen. Und sie sind widerlich. Puh! Draußer sind laut und liederlich, rau und rüpelhaft. Und grün. Weißt du, was diese Grünlinge mit mir machen würden, wenn sie mich schnappten? Weißt du das?« »Nein«, sagte Lorina. »Fressen würden sie mich, mit Haut und Haaren!« »Wie scheußlich!«, sagte Lorina. »Das kannst du laut sagen!«, sagte das schwarze Kaninchen. »Wie scheußlich!«, sagte Lorina laut. »Deshalb«, sagte das schwarze Kaninchen, »geh ich auch nie aus dem Wald raus. Ich zeig dir den Weg zum Schloss, aber glaub ja nicht, dass ich dich bis dorthin bringe!« Das Kaninchen stampfte durch die abgefallenen Blätter, Lorina dicht hinterher; sie dachte an die Grünlinge. Das Schloss und die Drinner würde sie ja gerne sehen, aber auf die Draußer konnte sie verzichten. »Wenn die Grünlinge dich fressen«, sagte Lorina, »fressen sie mich wahrscheinlich auch.« »Würde mich nicht wundern«, sagte das schwarze Kaninchen. »Die fressen alles und jeden.« »Bist du wirklich noch nie aus dem Wald rausgekommen?«, fragte Lorina. »Noch nie«, sagte das schwarze Kaninchen. »Als waschechtes Waldtier verlasse ich den Wald nur als Leiche.« »Aber wenn du den Wald noch nie verlassen hast«, sagte Lorina, »woher weißt du dann überhaupt was von Drinnern und Draußern?« »Die kennt jeder«, sagte das schwarze Kaninchen. »Das gehört zum Allgemeinwissen.« »Ich weiß aber nichts davon«, sagte Lorina. »Du bist eben dumm«, sagte das schwarze Kaninchen. »Das glaube ich nicht«, sagte Lorina. »Das ist die schlimmste Art von Dummheit«, sagte das schwarze Kaninchen. »Wenn man nicht weiß, dass man nichts weiß.« […] Der Wald wurde jetzt durchsichtiger, und Lorina fielen die vielen Baumstümpfe auf, zu denen aber die abgesägten Bäume fehlten.

11

Wilson, David Henry: Schloss Draußendrin, übers. von Winter, Helmut, mit Bildern von Heidelbach, Nikolaus, Beltz & Gelberg, Weinheim – Basel 2000, 5 – 9.

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»Das haben die Grünlinge gemacht«, sagte das schwarze Kaninchen. »Vandalen! Fällen die Bäume und schleppen sie weg. Bald gibt es hier keinen Wald mehr. Und wo soll ich dann leben?« »Woher weißt du, dass es die Grünlinge waren?«, fragte Lorina. »Das weiß jeder«, sagte das schwarze Kaninchen. »Hast du sie schon mal gesehen?«, hakte Lorina nach, die sich nicht gerne geschlagen gab. »Natürlich hab ich sie noch nicht gesehen«, schnappte das schwarze Kaninchen. »Wenn ich sie nämlich gesehen hätte, hätten sie mich auch gesehen – und Kaninchenpastete aus mir gemacht! « »Aber wenn du sie noch nicht gesehen hast«, sagte Lorina, »weißt du doch gar nicht, ob es sie überhaupt gibt!« Das schwarze Kaninchen stutzte, drehte sich um, sah zu Lorina auf und schüttelte ungläubig den Kopf. »Manchmal glaube ich«, schnaubte es, »dass Dummheit eine Krankheit ist. Hast du vielleicht schon mal Australien gesehen?« »Nein«, sagte Lorina. »Hast du schon mal die Schlacht bei Hastings, einen Kuhmagen von innen, die Rückseite des Mondes oder Dinosaurierkacke gesehen?« »Nein.« »Und woher weißt du dann, dass es sie gibt? Oder gab?« Lorina überlegte einen Augenblick. Die Frage war gar nicht so einfach zu beantworten. »Wenigstens hab ich schon mal davon gehört«, sagte sie. »Und jetzt hast du eben von den Grünlingen gehört«, sagte das schwarze Kaninchen und hoppelte weiter. Sie waren am Waldrand angekommen. Hier gab es kaum noch Bäume, der Blätterteppich war verschlissen und in der Luft hing der Geruch nach Verbranntem. Vor ihnen lag ein steiler Abhang. »Weiter gehe ich nicht«, sagte das schwarze Kaninchen. »Siehst du den Hügel da drüben?« »Ja«, sagte Lorina. »Er ist natürlich nur da, weil du ihn siehst«, spottete das schwarze Kaninchen. »Könntest du ihn nicht sehen, würdest du sagen, es gibt ihn nicht … Also, geh auf den Hügel hinauf, dann siehst du das Schloss. Die Drinner sind drinnen, aber Vorsicht mit den Draußern! Sie sind draußen. Viel Glück! Und noch ein guter Rat: Streite dich nie mit jemandem, der mehr weiß als du! Dagegen kommst du nicht an!« Und damit verschwand das schwarze Kaninchen durch das tote Unterholz, als ob es eine Pastetenschüssel mit langen Ohren gesehen hatte.

Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht

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 Arbeitsanregungen Vorwissen aktivieren  Welche Erwartungen verbindet ihr mit einem Text, der die Überschrift »Das weiß doch jeder?!« trägt?  Klärt gemeinsam den Begriff »Vorurteil« und erläutert ihn anhand von Beispielen.

Texterarbeitung  Kommentiert das Verhalten des Kaninchens und von Lorina mit verschiedenen Symbolen und diskutiert anschließend eure Bewertungen in der Klasse.  Malt Sprechblasen an den Rand des Textes. Schreibt in diese Sprechblasen Aussagen und Gedanken der Figuren, aber auch eigene Kommentare zum Geschehen hinein. Tipp: Wählt unterschiedliche Formen oder Farben für Lorina, das Kaninchen und eure persönlichen Kommentare.

Anschlusskommunikation  Schreibt ein Interview mit Lorina im Anschluss an ihren Ausflug. Sie hat inzwischen erfahren, dass das Kaninchen Unrecht hat. Die Drinner sind die »Bösen«, die Draußer die »Guten«. Wie hat sie das herausgefunden? Was denkt sie über die Einstellung des Kaninchens?  Formuliert alle negativen Aussagen des Kaninchens ins Positive um. Wie wirken sich diese Veränderungen auf den Verlauf der Geschichte aus?  Erstellt ein Standbild, das das Verhältnis von Lorina, dem Kaninchen, den Drinnern und den Draußern deutlich macht.  Schreibt einen Brief an eine Person aus der Geschichte. Quelle: Rösch, Anita: »Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht«, in: Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.): Pro Lesen. Auf dem Weg zur Leseschule. Leseförderung in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, Klasse 5 – Klasse 10, Auer Verlag, Donauwörth 2010, S. 241 – 267: S. 241 – 250.

Inhaltsaffine Texterschließung Starke und schwache Freiheitsbegriffe Klaus Goergen  Didaktische Erläuterung Der festgefahrene Disput um die Willensfreiheit lässt sich am besten überwinden, indem man statt der unergiebigen und in ihrer metaphysischen Gestalt seit Jahrhunderten ungelösten Frage ›Willensfreiheit oder Determinismus?‹ nachzugehen, nach dem Grad an Freiheit fragt, der sich wissenschaftlich halten lässt. Dazu eignen sich Texte von Immanuel Kant, Malte Hossenfelder, Harry Frankfurt, Peter Bieri und Gerhard Roth, die man erschließen und so ein Kontinuum unterschiedlich starker und schwacher Begriffe von Willensfreiheit ermitteln kann. Die Reihenfolge der Texte in dieser Unterrichtseinheit orientiert sich an ihrer abnehmenden Stärke des Begriffs von Willensfreiheit: Bei Kant ist er am voraussetzungsvollsten, da er Freiheit und rein vernünftige, neigungsfreie Selbstverpflichtung gleichsetzt; Hossenfelder begründet, warum wir im Alltag verpflichtet sind, uns wechselseitig als Freie zu behandeln; Frankfurt verweist darauf, dass wir in Analogie zur Handlungsfreiheit, die meint, das tun zu können, was man will, Willensfreiheit als die Fähigkeit verstehen sollten, das wollen zu können, was man will. Das schließt, anders als bei Kant, alle möglichen Motive der Selbstverpflichtung mit ein. Bieri erläutert, warum es einen unbedingten freien Willen nicht geben kann, und entwirft ein Modell der »Aneignung des Willens«, das diesen als etwas Erarbeitetes, zugleich Fragiles und Unvollkommenes versteht. Schließlich behauptet der Neurowissenschaftler Roth, Willensfreiheit sei nur eine Illusion, moralische Schuld und Verantwortung seien darum, wissenschaftlich gesehen, unangebracht. Die fünf Texte bieten also einen metaphysischen (Kant), analytisch-philosophischen (Hossenfelder, Frankfurt), einen moral-psychologisch argumentierenden (Bieri) und einen neurologischen (Roth) Zugang zum Thema Willensfreiheit. Die Schülerinnen und Schüler werden nach der Erschließung der Texte das Spektrum der aktuell diskutierten Positionen zum Verständnis von Willensfreiheit in nuce erkennen und sich selbst innerhalb dieses Spektrums positionieren können. Dies stärkt ihre fachlichen Kompetenzen. Ihre methodische Kompetenz wird dadurch befördert, dass sie die fünf Texte mit jeweils unterschiedlichen Texterschließungsmethoden erarbeiten, und zwar nicht beliebig, sondern vielmehr der Einsicht entsprechend, dass die Methode sich an der Art der Texte orientieren soll. Die Unterrichtseinheit lässt sich also auch als Beleg für die These inhaltsaffiner Erschließungsmethoden verstehen. 1. Die Interview-Methode eignet sich, wenn es keinen zusammenhängenden, im Unterricht behandelbaren Text des Autors zum Thema gibt, dessen Position sich vielmehr aus

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Klaus Goergen

vielen verstreuten Einzelaussagen im Gesamtwerk ergibt. Dies ist bei Kants Position zur Willensfreiheit der Fall, deshalb lassen sich hier Zitatmontagen (M2) zu einem Interview verarbeiten. 2. Die PLATO-Methode (M3) eignet sich für Texte, die überschaubar, klar strukturiert, komplex und mit einer eindeutigen Fragestellung versehen sind. Dies trifft für den Text von Hossenfelder (M4) zu. 3. Die Mystery-Methode ist dann besonders ergiebig, wenn der Text relativ leicht verständlich ist, eine eindeutige Begriffsbestimmung enthält und diese begründet und mit Beispielen versehen ist. Dies gilt für Harry Frankfurts Bestimmung von Willensfreiheit (M5, M6). 4. Den philosophischen Text als Expertise zu verstehen, den man zu Rate zieht, wenn man ein konkretes, lebensweltliches Problem lösen will, ist sinnvoll für Texte, die genau dies ermöglichen, d. h. die expertisenhaft argumentieren und eine Strategie zur Problemlösung bieten. Dies versucht Bieri in seinem Text, der drei Schritte zur Aneignung des Willens vorschlägt und erläutert. Das lebensweltliche Problem ist als Fallbeispiel dargeboten (M7, M8). 5. Die kritische Stellungnahme als Methode bietet sich bei provokanten, einseitigen und zum Widerspruch reizenden Texten an, wie das für Roths scharfer Ablehnung von Willensfreiheit und moralischer Schuldfähigkeit gilt (M9). Mit Ausnahme der weitgehend analytischen Interview-Methode enthalten alle Erschließungsmethoden analytische und hermeneutische Anteile: Sie gehen vom Text aus, beziehen aber die Position des Lesers in die Auseinandersetzung mit dem Text ein. Eine Übung, die einen propädeutischen Begriff von Willensfreiheit als Folie für die zu erschließenden Texte ermitteln soll, leitet die Unterrichtseinheit ein (M1). Eine Schülerin und ein Schüler tragen das Gespräch vorab mit verteilten Rollen vor.

M1 Ein Gespräch über den freien Willen1

Die ehemaligen Klassenkameraden Sandra und Olaf treffen sich vier Monate nach dem Abitur zufällig in der Stadt. Olaf: Hey – so eine Überraschung. Wie geht’s, was treibst du so? Sandra: Ich hab’ mich definitiv entschlossen, Philosophie zu studieren, und bin jetzt schon im ersten Semester. Olaf: Was heißt hier »entschlossen«? Das klingt, als wäre es eine freie Willensentscheidung gewesen. Aber wir haben doch alle nichts anderes erwartet von dir – so wie du schon im Philosophie-Kurs immer voll dabei warst. Sandra: Sicher, aber ich hätte mich auch ganz anders entscheiden können. Voraussagbar war es auf jeden Fall nicht. Bis zum letzten Moment hätte ich nein sagen können. Olaf: Also Zufall! – Und nix freier Wille. 1

Goergen, Klaus: Ein Gespräch über den freien Willen, Originalbeitrag.

Inhaltsaffine Texterschließung

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Sandra: O, nein! Mit Zufall hatte das nichts zu tun. Es war ein schwieriger Entscheidungsprozess, der schließlich zu meinem Entschluss führte. Olaf: Theoretisch vielleicht. Aber praktisch fließen doch in so eine Entscheidung auch Wünsche und Hoffnungen ein, die man gar nicht steuern kann. Was dann dabei herauskommt, ist doch keine freie Willensentscheidung, sondern eine Reizreaktion. Sandra: Wenn es so wäre, hättest du ja Recht! Aber tatsächlich waren mir meine Wünsche und Hoffnungen, übrigens auch meine Ängste, durchaus bewusst, und ich habe sie bei meinen Erwägungen natürlich auch mit bedacht. Aber den Ausschlag gaben doch rein vernünftige Überlegungen. Ich hätte es mir übrigens wirklich einfacher machen und in der Firma meiner Eltern einsteigen können. Aber gerade deshalb sage ich ja, es war mein freier Wille. Olaf: Was ist denn daran noch frei, wenn man alles erst durchrechnet und sich dann zu einem Entschluss durchringen muss! Sandra: Aber Olli! Jetzt widersprichst du dir aber selbst. Sonst wäre es doch wirklich nur eine Reizreaktion.

 Arbeitsanregung  In dem Gespräch werden mindestens fünf Bestimmungen dessen deutlich, was eine freie Willensentscheidung kennzeichnen kann. Finden Sie diese Bestimmungen und notieren Sie entsprechende Stichworte in einer Liste.

M2 Kants Freiheitsbegriff2

»Die Freiheit im praktischen Sinn ist die Unabhängigkeit des Willens von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Der menschliche Wille ist zwar durch sinnliche Antriebe beeinflusst, aber dennoch frei, weil Sinnlichkeit seine Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.« (KrV, B 561 – 562) »Der Wille ist also eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit ist die Eigenschaft dieser Kausalität, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann: So wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen ist, die durch den Einfluss fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt werden.« (GMS, BA 97)

2

Kant, Immanuel: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Walter de Gruyter. Berlin, New York 1968. Bände: III: Kritik der reinen Vernunft (KrV); IV: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS); V: Kritik der praktischen Vernunft (GpV); VI: Die Metaphysik der Sitten (MdS). (Zitate sprachlich leicht vereinfacht).

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»Die Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren lässt, und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man auszufüllen gedacht hat. Daher sind sie einem vernünftigen Wesen jederzeit lästig, und auch wenn man sie nicht ganz ablegen kann, wären wir doch froh, uns ihrer entledigen zu können. […] Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht.« (KpV, A 212) »Was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. h. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann.« (GMS, BA 98) »Tugend ist also die moralische Stärke des Willens, in Verfolgung seiner Pflicht, welche eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist.[…] Zur inneren Freiheit ist aber zweierlei erforderlich: seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister und über sich selbst Herr zu sein, d. h., seine Affekte zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen.« (MdS, A 46) »Wenn ich von einem Menschen, der einen Diebstahl verübt, sage, diese Tat sei nach dem Naturgesetze der Kausalität […] ein notwendiges Ergebnis, so war es unmöglich, dass sie hat unterbleiben können.« Zugleich gilt nach »dem moralischen Gesetze […], dass sie doch habe unterlassen werden können, weil das Gesetz sagt, sie hätte unterlassen werden sollen.« (KpV, A 171)

 Arbeitsanregungen  Verarbeiten Sie die Zitate aus Kants Werken zu einem Interview über seinen Begriff von Willensfreiheit. Wählen Sie dazu aus den Zitaten aus, was Sie als Antworten auf selbst formulierte Fragen als Interviewer für geeignet halten. Umstellungen und Kürzungen sind jederzeit erlaubt. Formulieren Sie die Interview-Fragen nach Ihren Sprachgewohnheiten. Die Fragen können auch Kants Aussagen in Ihre eigenen Worte fassen.  Tragen Sie das Interview mit verteilten Rollen vor dem Plenum vor.  Erarbeiten Sie zu Hause eine schriftliche Fassung des Interviews und machen Sie sie allen Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern in WhatsApp oder einer anderen Form zugänglich.

Inhaltsaffine Texterschließung

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M3 PLATO-Methode3 Aspekt der Bearbeitung Problem, Thema, Leitfrage des Textes Lösungsvorschlag, Antwort des Textes auf das Problem Argumentation des Textes: Voraussetzungen, Begründungen, Schlussfolgerungen Tragfähigkeit der Argumente: Überzeugungskraft und Stimmigkeit Orientierungskraft des Textes: Passt er in meine Lebenswelt? Erweitert er meinen Horizont?

M4 Malte Hossenfelder: Frei oder determiniert?4

Verläuft alles nach strengen Naturgesetzen, dann gibt es keine Willensfreiheit; gibt es Willensfreiheit, dann ist die strenge Gesetzmäßigkeit durchbrochen. Da ich mich in die metaphysische Diskussion nicht einmischen, sondern mich auf das ethische Problem beschränken möchte, so heißt die jetzt zu erörternde Frage also: Müssen wir uns in unserem praktischen Leben als frei betrachten oder als determiniert? […] Freilich stellt sich die Frage, ob nicht der subjektive Anschein der Freiheit in praktischer Hinsicht ihrer Wirklichkeit gleichzusetzen sei. Auch wenn uns der Anschein trügen und unsere Freiheit nur scheinbar sein sollte, so besteht doch zwischen der Entscheidungsfindung eines scheinbar Freien und der eines wirklich Freien für den Handelnden selbst nicht der geringste Unterschied. Solange der Determinierte nicht weiß, wozu er determiniert ist, und deswegen nicht zu sich sagen kann: Vor mir liegen die theoretischen Möglichkeiten A und Nicht-A, aber da ich zu A determiniert bin, muss ich A wählen – solange das nicht der Fall ist, muss er sich selbst für die eine oder andere Alternative entscheiden, genauso wie wenn er wirklich frei wäre. Wenn ein allmächtiges Wesen vor uns hinträte und verkündete: »Bisher wart ihr determiniert, aber heute schenke ich euch die Freiheit«, so wäre das ein nutzloses Geschenk, weil wir die Veränderung nicht bemerken würden. Da somit subjektiv kein Unterschied zwischen einem scheinbar und einem wirklich Freien besteht, besteht er für die Praxis auch objektiv nicht, d. h. wir müssen nicht nur uns selbst, sondern auch alle anderen als Freie be3

4

Die PLATO-Methode stammt von Joachim Kalcher und findet sich in: Kalcher, Joachim; Münnix, Gabriele: Horizonte Praktischer Philosophie, Klett Verlag, Leipzig 2002, S. 175. Hossenfelder, Malte: Der Wille zum Recht und das Streben nach Glück. Grundlegung einer Ethik des Wollens. Verlag C.H. Beck, München 2000. S. 200, S. 202f., S. 205 und S. 206.

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handeln. Denn gesetzt, sie seien determiniert, so hätten sie sich doch, auch wenn sie frei gewesen wären, in keiner Hinsicht anders verhalten, als sie es als Determinierte taten. Der determinierte Mörder hätte sich als Freier ebenso zum Mord entschieden, weil die Bedingungen für ihn absolut identisch waren. Folglich geschieht den Menschen kein Unrecht, wenn man sie die Verantwortung für ihre Taten übernehmen lässt. Überdies könnte man argumentieren, dass ihr Wollen in jedem Fall wirkliches Wollen ist, sie seien nun determiniert oder frei. Wenn sie aber das, was sie getan haben, selbst gewollt haben, dann darf man sie dafür auch zur Rechenschaft ziehen. […] Der Determinismus macht alles, was geschieht, einschließlich unserer Handlungen, zu objektiv wertfreien gesetzmäßig notwendigen Abläufen, und eben weil er keine Wertungen erlaubt, lassen sich aus ihm keinerlei Konsequenzen für unser Werten und Handeln ziehen. […] Durch den Determinismus ändert sich für die Praxis eben überhaupt nichts. Er bleibt eine rein theoretische Position, die für die Praxis keine Folgen hat, solange wir die Determinanten nicht vollkommen durchschauen und deshalb den Anschein der Freiheit nicht abschütteln können. […] Wir begehen also kein Unrecht, wenn wir einander als Freie behandeln, auch wenn wir determiniert sein sollten. Machen wir jedoch die Gegenprobe und fragen, ob wir Unrecht begehen, wenn wir einander als determiniert behandeln, auch wenn wir frei sein sollten, dann fällt die Antwort gegenteilig aus. Denn wenn wir frei sind, gibt es Recht und Unrecht, dann sind es nicht bloße Scheinbegriffe, und dann ist es unsere freie Entscheidung, ob wir Recht oder Unrecht tun. Und wenn wir dann einander als determiniert behandeln, geschieht allerdings Unrecht. Denn wer einen Freien als determiniert behandelt, erkennt ihn nicht als Rechtsperson an und beraubt ihn damit aller seiner Rechte. Solange also die metaphysische Frage, ob Freiheit oder Determinismus, unentschieden ist, kann die Antwort auf die ethische Frage, ob wir uns in unserem praktischen Leben als frei oder determiniert betrachten müssen, nur lauten: als frei, weil das allein kein mögliches Unrecht bei sich führt und damit dem allgemeinen Willen zum Recht entspricht – welche der alternativen metaphysischen Positionen auch wahr sein mag.

 Arbeitsanregungen  Erarbeiten Sie M4 mithilfe des PLATO-Modells. Nutzen Sie dazu M3.  Lesen Sie anschließend die folgenden Aufgaben zu M5 und M6:  a) Öffnen Sie Umschlag 1. Dort findet sich eine Frage. Formulieren Sie eine eigene Antwort auf diese Frage und notieren Sie sie auf dem Blatt.  b) Öffnen Sie Umschlag 2. Dort finden Sie sechs verschiedene Aussagen. Lesen Sie diese und entscheiden Sie, welche Aussagen nicht zur Beantwortung der Frage aus Umschlag 1 dienen. Legen Sie diese Aussagen beiseite.  c) Überlegen Sie, welche Aussage von den verbleibenden als direkte Antwort auf die Frage passt. Markieren Sie diese Aussage mit »A«.

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 d) Entscheiden Sie, welche der übrigen Aussagen die direkte Antwort begründen oder mit Beispielen belegen. Markieren Sie diese Aussagen mit »B«.  e) Tragen Sie Ihre Ergebnisse aus b), c) und d) im Plenum vor und vergleichen Sie sie miteinander.

M5 Inhalt von Umschlag 1

Arbeitsanregungen zu M5 finden sich unter M4.

M6 Inhalt von Umschlag 25

1. »Wir nehmen nicht an, dass Tiere Willensfreiheit haben, obwohl wir sehen, dass ein Tier in beliebige Richtungen laufen kann, wie es gerade möchte. Also ist die Freiheit zu tun, was man möchte, keine hinreichende Bedingung für einen freien Willen.« 2. »Jemanden seiner Handlungsfreiheit zu berauben heißt nicht notwendig, seine Willensfreiheit zu untergraben. Wenn einem Handelnden klar wird, dass es gewisse Dinge gibt, die zu tun er nicht die Freiheit hat, so berührt dieser Umstand zweifellos seine Wünsche und die Grenzen des Bereichs, innerhalb dessen er Entscheidungen treffen kann.« 5

Sentenzen 1, 2, 4 und 6 stammen aus: Frankfurt, Harry: »Willensfreiheit und der Begriff der Person«, in: Frankfurt, Harry: Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, hrsg. von Betzler, Monika; Guckes, Barbara, Polis. Schriften zur Ethik und Sozialphilosophie, Bd. 3, Akademie Verlag, Berlin 2001, S. 65 –83: S. 76 – 77. Die Sentenzen 3 und 5 stammen aus: Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: AA IV, S. 393f.

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3. »Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. h. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte.« 4. »Es scheint mir naheliegend und auch nützlich, die Frage, ob jemand einen freien Willen hat, möglichst genau in Analogie zu der Frage zu konstruieren, ob jemand Handlungsfreiheit genießt. Nun ist Handlungsfreiheit die Freiheit zu tun, was man tun möchte. Entsprechend besagt die Behauptung, dass jemand sich eines freien Willens erfreut, dass er frei ist zu wollen, was er wollen möchte. Genauer heißt das, dass er frei ist, den Willen zu haben, den er haben möchte.« 5. »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« 6. »Der Wille des Süchtigen wider Willen ist nicht frei. Das zeigt sich an der Tatsache, dass er nicht der Wille ist, den er haben möchte.« Arbeitsanregungen zu M6 finden sich unter M4.

M7 Peter Bieri: Die Aneignung des Willens6

Nehmen wir an, Sie hätten einen unbedingt freien Willen. Es wäre ein Wille, der von nichts abhinge: ein vollständig losgelöster, von allen ursächlichen Zusammenhängen freier Wille. Ein solcher Wille wäre ein aberwitziger, abstruser Wille. Seine Losgelöstheit nämlich würde bedeuten, dass er unabhängig wäre von Ihrem Körper, Ihrem Charakter, Ihren Gedanken und Empfindungen, Ihren Phantasien und Erinnerungen. Es wäre, mit anderen Worten, ein Wille ohne Zusammenhang mit all dem, was Sie zu einer bestimmten Person macht. […] Ganz anders in der Geschichte, die es nun zu erzählen gilt. Sie geht davon aus, dass die Freiheit des Willens etwas ist, das man sich erarbeiten muss. Man kann dabei mehr oder weniger erfolgreich sein, und es kann Rückschläge geben. Was man an Freiheit erreicht hat, kann wieder verlorengehen. Willensfreiheit ist ein zerbrechliches Gut, um das man sich stets von Neuem bemühen muss. Und es ist dieser Idee zufolge eine offene Frage, ob man sie jemals in vollem Umfang erreicht. Vielleicht ist sie eher wie ein Ideal, an dem man sich orientiert, wenn man sich um seinen Willen kümmert. Die Gesamtheit der Dinge, die man unternehmen kann, um diesem Ideal näher zu kommen, werde ich die Aneignung des Willens nennen, und entsprechend werde ich vom freien Willen als dem angeeigneten Willen sprechen. Man kann an dieser Aneignung drei Dimensionen unterscheiden. Die eine ist die Dimension der Artikulation. Hier 6

Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Carl Hanser Verlag, München 2001, S. 230 und S. 383 – 384.

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geht es um Klarheit darüber, was genau es ist, was man will. Entsprechend ist die Unfreiheit zu verstehen als der Zustand der Ungewissheit über das, was man will, eine Ungewissheit, die wie ein Gefängnis sein kann. Eine zweite Dimension der Aneignung betrifft die Anstrengung, den eigenen Willen zu verstehen. Wir können einen Willen als unfrei erfahren, weil er sich unserem Verständnis widersetzt und uns in diesem Sinne als fremd erscheint. Ihn sich anzueignen, bedeutet dann, den Eindruck der Fremdheit aufzulösen, indem man nach einer Betrachtungsweise sucht, die ein neues Verständnis ermöglicht. In einer dritten Dimension der Aneignung schließlich geht es um die Bewertung des eigenen Willens. Ein Wille kann einem auch deshalb als unfrei und fremd erscheinen, weil man ihn ablehnt. Es wird sich die Frage stellen, wo eine solche Bewertung herkommt und wie es geschehen kann, dass aus einem missbilligten, unfreien Willen ein gutgeheißener, als frei empfundener Wille wird. Die drei Dimensionen der Aneignung sind, wie sich zeigen wird, nicht unabhängig voneinander. Verstehen etwa setzt Artikulation voraus, und die Bewertung eines Willens kann sich verändern, wenn das Verständnis wächst. Arbeitsanregungen zu M7 finden sich unter M8.

M8 Yusufs Problem7

Eigentlich sind Yusuf (18) und Hanna (17) ein Paar. Auf jeden Fall sind die beiden seit zwei Jahren unzertrennlich, und Hanna macht schon Pläne für eine gemeinsame Wohnung nach dem Abitur. Nun hat Yusuf auf der Abi-Fahrt Henri kennengelernt und findet ihn extrem sympathisch. Er weiß nicht genau, warum er von ihm so fasziniert ist und sich so sehr zu ihm hingezogen fühlt. Aber als Henri ihm plötzlich vorschlägt, nach dem Abitur doch mit ihm zusammenzuziehen, da sie ohnehin beide in derselben Stadt studieren wollen, wird Yusuf sehr unruhig und unsicher. Was würde Hanna dazu sagen? Und was will er eigentlich wirklich? Er ist hin- und hergerissen.  Arbeitsanregungen  Ermitteln Sie die »drei Dimensionen«, die nach Bieri zur Aneignung des Willens gehören (M7) und erläutern Sie sie.  Stellen Sie Yusufs Problem dar (M8) und zeigen Sie, welche Handlungsmöglichkeiten er hat.

7

Goergen, Klaus: Yusufs Problem, Originalbeitrag.

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 Nutzen Sie M7 als Hilfsmittel, um Yusufs Problem zu lösen. Erläutern Sie, in welchen Schritten er vorgehen sollte, um eine Entscheidung zu treffen, die er als Ausdruck seines Willens verstehen kann.  Formulieren Sie einen entsprechenden Ratschlag an Yusuf.

M9 Gerhard Roth: Aus Sicht des Gehirns8

Psychologen haben kürzlich festgestellt, dass das Gefühl, etwas gewollt zu haben, auch damit zusammenhängt, dass das Gehirn vor einer Bewegung ein Erwartungsmodell der sensomotorischen Rückmeldungen entwirft und dann mit den tatsächlichen Rückmeldungen vergleicht. Sind die Abweichungen gering, so stellt die Großhirnrinde fest: Das war ich! Die Forscher glauben bewiesen zu haben, dass diese Feststellung im Bewusstsein zurückdatiert wird und dann vor dem Beginn der Bewegung angesiedelt wird. Dafür spricht die Tatsache, dass Personen, bei denen diese sensomotorische Rückmeldung unterbrochen wurde, die von ihnen ausgeführte Bewegung als fremdverursacht empfinden. Heißt dies, dass wir für das, was wir tun, nicht verantwortlich sind? Etwa in dem Sinne: Nicht ich bin es, sondern unbewusst arbeitende Mechanismen in meinem Gehirn sind es gewesen! Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Das bewusste, denkende und wollende Ich ist nicht im moralischen Sinne verantwortlich für dasjenige, was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn »perfiderweise« dem Ich die entsprechende Illusion verleiht. Nach allem, was wir über das Ich gehört haben, kann es auch gar nicht zum großen Steuermann werden, denn es entsteht in der kindlichen Entwicklung relativ spät, nämlich dann, wenn Motorik, Wahrnehmungssysteme und limbisches System schon weitgehend ausgereift sind. Das Ich ist unerlässlich für komplexe Handlungsplanung, es wägt ab, erteilt Ratschläge, aber es entscheidet nichts […]. Wenn also Verantwortung an persönliche moralische Schuld gebunden ist, wie es im deutschen Strafrecht der Fall ist, dann können wir nicht subjektiv verantwortlich sein, weil niemand Schuld an etwas sein kann, das er gar nicht begangen hat und auch gar nicht begangen haben konnte. Das Gefühl der persönlichen Schuld, das wir häufig empfinden, wenn wir etwas Unrechtes getan haben, resultiert aus der irrtümlichen Annahme, wir als bewusstes Ich hätten das Unrecht verursacht. Wie wir alle wissen, ist es nicht schwer, in anderen Menschen Schuldgefühle zu erzeugen für etwas, das sie gar nicht getan haben.

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Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns, stw 1833, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003. S. 180 – 181.

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 Arbeitsanregungen  Erläutern Sie, wieso Gerhard Roth die Idee einer freien Willensentscheidung für eine »Illusion« hält.  Stellen Sie dar, wie Roth moralische Schuld und Verantwortung beurteilt.  Nehmen Sie kritisch abwägend Stellung zu Gerhard Roths Position. Nutzen Sie dazu Ihr Wissen über die Bestimmung von Willensfreiheit bei Kant, Hossenfelder, Frankfurt und Bieri. Formulieren Sie Ihre Stellungnahme als kritischen Blog, den Sie auch posten können. Quelle: Goergen, Klaus: »Inhaltsaffine Texterschließung. Starke und schwache Freiheitsbegriffe«, in: Praxis Philosophie & Ethik 2016, Heft 5: Methoden der Texterschließung, S. 57 – 65.

Philosophisch puzzeln Philosophische Ganzschriften mit der Textpuzzlemethode erschließen* Steffen Goldbeck

D

ie Erarbeitung philosophischer Ganzschriften ist im Philosophieunterricht der gymnasialen Oberstufe in Nordrhein-Westfalen eine sicherlich von vielen Lehrerinnen und Lehrern oftmals vernachlässigte didaktisch-methodische Herausforderung, da zum einen bereits der in fast allen Schulbüchern anzutreffende philosophische Textausschnitt viele Schülerinnen und Schüler regelmäßig aufgrund seiner argumentativ-strukturellen und mitunter sprachlichen Komplexität wahlweise vor sprachliche, methodische oder inhaltliche Probleme stellt und zum anderen der neue Kernlehrplan von 2013/2014 die Behandlung von Ganzschriften zwar nicht ausschließt, diese jedoch nicht mehr explizit fordert, wie dies noch im alten Lehrplan von 1999 der Fall war, in dem die Behandlung einer philosophischen Ganzschrift zur fachlichen Obligatorik gehörte. Die entsprechende Passage aus dem Lehrplan von 1999 sei daher nachfolgend angeführt, aber auch deswegen, weil sie neben dem fachdidaktischen Zweck der Erarbeitung eine diskutable Auskunft darüber gibt, was unter dem Begriff »Ganzschrift« im Philosophieunterricht genau zu verstehen ist. Im alten Lehrplan steht:

*

Der nachfolgende Beitrag stellt eine stark überarbeitete Version des Beitrages »Philosophisch puzzeln. Ganzschriften mit Hilfe der Textpuzzlemethode kooperativ erschließen. John Lockes Second Treatise of Government als Ganzschrift im gymnasialen Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 39, 2017. Heft 3: John Locke, S. 38 – 48 dar. Der Kern der überarbeiteten Methode wurde im Schuljahr 2021/2022 in einem Grundkurs der Qualifikationsphase an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen erprobt. Im Rahmen des zweiten Themas (Fokus: das Leib-Seele-Problem) des ersten Halbjahres wurde Thomas Nagels Essay What Is It Like to Be a Bat? / Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? als Ganzschrift gelesen. Der Text ist als zweisprachige Ausgabe in der Reclam-Reihe Was bedeutet das alles? für Schülerinnen und Schüler kostengünstig zugänglich. Die in diesem Beitrag in KAPITÄLCHEN gedruckten Passagen beziehen sich auf die durchgeführte Erprobung, indem zum Teil das Vorgehen dargelegt, Erfahrungen geschildert und Tipps gegeben werden.

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»Verpflichtend ist, dass im Verlauf des Philosophieunterrichts von 11/I bis 13/II mindestens einmal eine philosophische Ganzschrift im Unterricht behandelt wird. Unter ›Ganzschrift‹ ist nicht ein umfangreiches Werk zu verstehen, sondern ein zusammenhängender Text, der kontinuierlich besprochen wird, und zwar in einem Zeitraum von einem Quartal oder einem ganzen Kurshalbjahr. Die Auseinandersetzung mit einer Ganzschrift intensiviert das fachliche Lernen […]. Die Analyse eines längeren systematisch geordneten Zusammenhangs vermag die Konzentration der Schülerinnen und Schüler zu steigern, sie fördert zugleich die Methodenreflexion.« 1 Aus der obigen Passage sind meines Erachtens vor allem drei Bestimmungen hervorzuheben, und zwar erstens, dass eine Ganzschrift ein »zusammenhängender Text« ist, zweitens, dass dieser »kontinuierlich besprochen wird« und drittens, dass hierfür ein Zeitraum vorgesehen ist, der von einem »Quartal bis zu einem Kurshalbjahr« reichen kann. Definitorisch klärungsbedürftig ist sicherlich die Frage, was unter »zusammenhängender Text« genau zu verstehen ist, und zudem in methodischer Hinsicht, wie eine »kontinuierliche Besprechung« gestaltet werden kann. Besonders hierauf soll dieser Beitrag eine Antwort geben. Zunächst jedoch zum Begriff »Ganzschrift«: Dafür, dass die zitierte Lehrplan-Definition im Kern zutreffend und funktional ist, spricht u. a., dass sie in wesentlichen Aspekten mit einer recht aktuellen Ganzschriftendefinition aus der Deutschdidaktik übereinstimmt, für die sich die Frage der Vermittlung von Ganzschriften im Unterricht mit einer viel größeren Dringlichkeit stellt als für die Philosophiedidaktik. So sind Tilman von Brand zufolge »Ganzschriften […] einzelne vollständige Texte, die als Einzeldruck vorliegen [Hervorhebung von mir, S. G.] und deren Rezeption wenigstens [Hervorhebung von mir, S. G.] mehrere Stunden in Anspruch nimmt.« 2 Bezüglich der aufgeworfenen ersten Klärungsfrage gibt diese Definition eine klare Antwort, wenngleich zu diskutieren bleibt, ob Ganzschriften ausschließlich als »Einzeldruck« vorliegen müssen – was eine gewisse intuitive Plausibilität hat – oder ob gegebenenfalls auch Kapitel aus solchen Einzeldrucken als Ganzschrift aufgefasst werden können. Dies kann und soll hier jedoch nicht weiter erörtert werden. Wendet man den Blick weg von der Definition hin zu den Zielen der Erarbeitung von Ganzschriften im Philosophieunterricht, dann sollte definitiv unkontrovers sein, wie für den Deutschunterricht auch, dass »[…] die Beschäftigung mit Ganzschriften jene intensive und lang andauernde Erfahrung ermöglichen [soll], welche die Lektüre eines umfangreichen Textes ihren Rezipientinnen und Rezipienten von Natur aus abverlangt.« 3 Dies korrespondiert im Übrigen mit der im alten Philosophie-Lehrplan von 1999 anvisierten Förderung der »Konzentration«. Doch vor allem aufgrund der besonderen 1

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Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie, Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 4716, Ritterbach Verlag, Frechen 1999, S. 17. von Brand, Tilman: Ganzschriften im Deutschunterricht. Mittelfristige Unterrichtsplanung zu Romanen, Novellen, Dramen und Graphic Novels, Kallmeyer in Verbindung mit Klett Friedrich Verlag, Hannover 2 2021, S. 9. Ibid.

Philosophisch puzzeln

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Förderung der Sachkompetenz und entsprechender Methodenkompetenzen – »zum ›Knacken‹ schwieriger Texte« 4 – und besonders aufgrund ihres hohen wissenschaftspropädeutischen Wertes5 sollte man die Erarbeitung einer Ganzschrift auch im Philosophieunterricht ernsthaft in Erwägung ziehen, wenn die zeitlichen Ressourcen dafür vorhanden sind. Dies nicht zuletzt auch, da einerseits der in vielen Schulbüchern anzutreffende und oftmals stark gekürzte Textausschnitt z. T. sinnent- und sinnverstellend ist, weil er es beispielsweise erheblich erschwert, die Argumentation des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin adäquat zu rekonstruieren. Andererseits sind viele philosophische Abhandlungen durchaus für den Philosophieunterricht geeignet6, wie zum Beispiel aus dem Kontext der politischen Philosophie Immanuel Kants Zum ewigen Frieden7 oder Jean-Jacques Rousseaus Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique8 sowie John Lockes Second Treatise of Government9.

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Albus, Vanessa: Kanonbildung im Philosophieunterricht. Lösungsmöglichkeiten und Aporien, Thelem, Dresden 2013, S. 568. Die Erarbeitung von Ganzschriften mit der Textpuzzlemethode entspricht dem für die gymnasiale Oberstufe zentralen »didaktischen Prinzip« der Wissenschaftspropädeutik im Sinne einer Hinführung »[…] zu wissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweisen, zu wissenschaftlichem Sprachgebrauch […] [und] zu Methoden des Erkenntnisgewinns […].« Stefan Hahn, »Wissenschaftspropädeutik in der gymnasialen Oberstufe«, in: Bosse, Dorit; Eberle, Franz; Schneider-Taylor, Barbara (Hrsg.), Standardisierung in der gymnasialen Oberstufe, Springer VS, Wiesbaden 2013, S. 162. Sie fördert das »fachliche Lernen«, indem von den Schülerinnen und Schülern eine spezifische »Fachperspektive« auf einen philosophischen und gesellschaftlich wie personal relevanten Problemkomplex eingenommen und nachvollzogen wird. Außerdem vermittelt sie »methodisches Orientierungswissen«, zu dem »[…] Kenntnisse basaler Methoden der Erkenntnisgewinnung gehören […] [, wie beispielsweise] die Hermeneutik […]« (ibid., S. 167). Natürlich unter der Voraussetzung, dass sowohl lernförderliche Hilfestellungen angeboten werden als auch gegebenenfalls notwendige Reduktionen vorgenommen werden. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, hrsg. von Maler, Rudolf, RUB 1055, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1993. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übers. und hrsg. von Brockard, Hans in Zusammenarbeit mit Pietzcker, Eva, RUB 1769, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2008. Hier stellt die Konzentration auf das erste und zweite Buch gegebenenfalls eine sinnvolle Inhaltsreduktion dar. Hinzuweisen ist auf die zweisprachige Textausgabe von Reclam, da sie unter anderem bei begrifflichen Problemen den schnellen Abgleich mit dem Originaltext ermöglicht: Locke, John: The Second Treatise of Government. Über die Regierung, übers. von Tidow, Dorothee, Nachwort von Mayer-Tasch, Peter Cornelius, UB 18884, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2012. Außerdem ist die von Ludwig Siep herausgegebene Textausgabe zu erwähnen, da diese viele, vor allem für die Lehrkraft hilfreiche, Materialien bereitstellt, wie z.B. eine »historische Einführung« oder einen »Stellenkommentar«. John: Zweite Abhandlung über die Regierung: Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung, Suhrkamp Studienbibliothek, Bd. 7, übers. von Hoffmann, Hans Jörn, kommentiert und bearbeitet von Siep, Ludwig, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2008. Die intensive Erarbeitung des Second Treatise könnte sich beispielsweise auf die Kapitel 2 – 5, 7– 13, 18 – 19 beschränken.

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Diese Reihe lässt sich zudem leicht weiter ergänzen, beispielsweise um – wenngleich hinsichtlich ihrer Eignung meines Wissens noch nicht unterrichtspraktisch erprobter – Schriften namhafter Philosophinnen, wie Hannah Arendts Essays10, speziell Die Freiheit frei zu sein11, Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?12 oder Sokrates. Apologie der Pluralität13 sowie Judith Nisse Shklars Schriften Liberalismus der Furcht14 und Liberalismus der Rechte15. Ziel dieses Beitrags ist es daher zu zeigen, wie sich derartige Ganzschriften mithilfe einer eigens dafür entwickelten kooperativen Textpuzzlemethode, die einer umfassenden hermeneutischen Textstrukturanalyse16 dienen soll, im gymnasialen Philosophieunterricht der Oberstufe so erschließen lassen, dass die jeweilige Schrift als solche zu ihrem Recht kommt, dass den Eigenschaften der jeweiligen Lerngruppe Rechnung getragen wird und dass sowohl etablierten Prinzipien des Philosophieunterrichts als auch den jeweiligen Lehrplänen (allgemeinpädagogische Vorbemerkungen, Aufgaben und Ziele des Fachs) entsprochen wird. Besonders bezüglich des Lehrplanbezugs stellt der Beitrag zudem ein Plädoyer dafür da, die Erarbeitung von Ganzschriften in den Philosophieunterricht (wieder) curricular verbindlich zu verankern. Ein besonderer Schwerpunkt der nachfolgend vorgestellten Textpuzzlemethode liegt auf der weitgehend selbstständigen Erarbeitung einer Ganzschrift in kooperativer Arbeitsform.17 Da diese Form der Erarbeitung eher leistungsstarke Lerngruppen voraussetzt, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen werden, werden auch Hinweise zu alternativen, stärker angeleiteten und unterstützenden Umsetzungsmöglichkeiten gegeben. Zunächst sind jedoch noch Vorklärungen notwendig, und zwar zur »Textsorte« (verstanden auch als Ergänzung zu den vorherigen definitorischen Überlegun-

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Vgl. speziell die beiden Essaysammlungen Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, übers. von Ludz, Ursula (Texte 4, 5, 8 und 11), SP 30174, Piper Verlag, München 52012 und Arendt, Hannah: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, übers. von Ludz, Ursula (Texte 4, 5, 7, 9, 13, 17 und 18), SP 30173, Piper Verlag, München 2000 (hierin enthalten ist z.B. der in NRW bereits einmal abiturrelevante Essay »Macht und Gewalt«) sind womöglich weitere Fundgruben für unterrichtstaugliche Essays. Arendt, Hannah: Die Freiheit, frei zu sein, übers. von Wirthensohn, Andras, Nachwort von Meyer, Thomas, dtv 14651, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2018. Arendt, Hannah: Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?, übers. von Geisel, Elke, hrsg. und Nachwort von Knott, Marie Luise, Piper Verlag, München 2018. Arendt, Hannah: Sokrates. Apologie der Pluralität, übers. von Kalka, Joachim, eingel. von Bormuth, Matthias, mit Erinnerungen von Kohn, Jerome, Fröhliche Wissenschaft, Bd. 078, Matthes & Seitz, Berlin 2016. Shklar, Judith Nisse: Liberalismus der Furcht, übers., hrsg. und Nachwort von Bajohr, Hannes, Vorwort von Honneth, Axel, Fröhliche Wissenschaft, Bd. 078, Matthes & Seitz, Berlin 2013. Shklar, Judith Nisse: Liberalismus der Rechte, hrsg. und Vorwort von Bajohr, Hannes, Fröhliche Wissenschaft, Bd. 085, Berlin 2017. Vgl. Brun, Georg: »Textstrukturanalyse und Argumentrekonstruktion«, in: Pfister, Jonas; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts, UTB 4514, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 247– 274. Vgl. Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen, 2 Bde., Bd. 1: Strategien zur Schüleraktivierung, Neue Deutsche Schule, Essen 102015.

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gen und möglicherweise zur Abgrenzung vom Deutschunterricht), zur »Textauswahl« und zu »grundsätzlichen Planungsschritten«. Zur »Textsorte« ist zweierlei anzumerken: Erstens ist die vorgestellte Methode eher dazu geeignet, diskursive Texte, sprich philosophische Sachtexte zu erarbeiten als literarische Texte. Es stehen somit zwar philosophische Primär- bzw. Original-Texte im Methodenfokus, dennoch ist es auch denkbar, mit Nach-Texten18 im Unterricht zu arbeiten. Ein derartiger, durchaus kontroverser Zugriff auf eine philosophische Ganzschrift ist womöglich als sprachsensible Differenzierungsmaßnahme für leistungsschwächere Lerngruppen geboten, wenn die Arbeit mit dem Primärtext für die Lerngruppe eine, trotz funktionaler Reduktionen und Hilfen, aller Voraussicht nach nicht zu bewältigende Herausforderung darstellt. Ein interessantes Projekt wäre daher der Versuch, für den Unterricht einschlägige Ganzschriften (s. o.) in unterrichtspraktisch-funktionale Nachtexte umzuwandeln.19 Bezüglich der »Textauswahl« ist zu beachten, dass curriculare Vorgaben oder Rahmen ebenso zu berücksichtigen sind wie (inhaltliche/didaktische) Zielsetzungen, die Eigenschaften und Interessen der jeweiligen Lerngruppe, der Textumfang und relevante Zeitvorgaben sowie pragmatische Aspekte, wie beispielsweise der Preis oder die Möglichkeiten der Beschaffung der Ganzschrift im Kurssatz.20 Als Auswahlkriterien sind die Aspekte »Aktualität«, »Exemplarität« und »Wirkungsmächtigkeit« (bezogen auf die Schülerinnen und Schüler) relevant.21 Bezogen auf diese Aspekte gibt womöglich der Exemplakanon mustergültiger philosophischer Werke eine orientierende Auskunft, da dieser Vanessa Albus zufolge philosophische Werke umfassen sollte, die nach den fol-

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Vgl. Albus, Vanessa: »Kanon und Klassiker«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 255 – 256; vgl. auch Blesenkemper, Klaus: »Lesen erleichtern. Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 22 – 31, vgl. ferner Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung von Elementen neuerer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Turnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 9, Thelem, Dresden 2008, S. 47– 63. Auf die damit möglicherweise verbundenen Probleme, z.B. dass Primärtexte in manipulativer Absicht interpretiert und als Nach-Text umgeschrieben werden oder, dass den Verfassern bzw. Verfasserinnen von Nachtexten beim Umschreiben sachliche Fehler unterlaufen, weisen Vanessa Albus und Leif Marvin Jost hin. Derartige »Stolpersteine« stehen dem Verfassen von Nachtexten m.E. jedoch nicht grundsätzlich im Wege, sollten aber unbedingt beachtet werden. Vgl. Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! Kant-Texte im sprachsensiblen Philosophieunterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 10 – 11 und vgl. Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, in: Albus, Vanessa; Frank, Magnus; Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, Philosophie und Bildung, Bd. 18, LIT Verlag, Berlin – Münster – Wien – Zürich – London 2017, S. 219 – 232. Vgl. von Brand, Tilman: Ganzschriften im Deutschunterricht. Mittelfristige Unterrichtsplanung zu Romanen, Novellen, Dramen und Graphic Novels, a.a.O., S. 43 – 45. Vgl. ibid. S. 45 – 47. Auf den angegebenen Seiten stellt von Brand auch einen sehr differenzierten Katalog von »brauchbaren« Auswahlkriterien von Joachim Fritzsche vor.

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genden Kriterien ausgewählt wurden: »Pluralität«, »Exemplarizität«, »Paradigmatizität«, »Wirkmächtigkeit«, »Aktualität«, »Lebensweltbezug«, »Verständlichkeit« sowie »sprachliche Zugänglichkeit«.22 Besonders die letzten zwei Aspekte sind bei der Ganzschriftauswahl mit Blick auf einen sprachsensiblen Philosophieunterricht hervorzuheben. Die »Planung« der Erarbeitung einer Ganzschrift erfordert es, wie aus den eingangs angestellten definitorischen Überlegungen zu entnehmen ist, einen längeren Zeitraum bei der Unterrichtsvorbereitung in den Blick zu nehmen. Insofern sind hier zentrale Aspekte der Reihenplanung angesprochen. Tilman von Brand stellt dazu die folgenden wichtigen Planungsschritte für den Deutschunterricht vor: 1. »Bedingungsanalyse«, 2. »Textauswahl«, 3. »Sach- und didaktische Analyse des ausgewählten Werkes«, 4. »Festlegung der Lektüremodi«, 5. »Auswahl der Unterrichtsinhalte und Bestimmung zentraler Lernziele«, 6. »Anordnung der Unterrichtsinhalte/Phasierung« und 7. »Entwicklung der Lernerfolgskontrolle(n)«.23 Die nachfolgende Darstellung der Textpuzzlemethode geht diesbezüglich besonders auf die Aspekte »Lektüremodi« und »Phasierung«, implizit aber auch auf den Aspekt »Inhalte und Ziele« ein. Wichtig ist also im Hinterkopf zu behalten, dass die Textpuzzlemethode ein Schema für die Planung einer Unterrichtsreihe darstellt, in deren Rahmen eine Ganzschrift erarbeitet werden soll. Für die methodisch-konkrete Planung der einzelnen Stunden, die in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung durch die Reihenplanung festgelegt werden, können andere Konzepte leitend sein, wie z. B. das Kernphasen-Konzept oder der Leitfaden zum backward design.24 Die intensive Erarbeitung einer Ganzschrift erfordert auf der Ebene der Reihenplanung umsichtige, vorausschauende und strukturgebende Planungsentscheidungen. Die Struktur der Unterrichtsreihe, in der bzw. durch die die Textpuzzlemethode realisiert wird, lässt sich mithilfe u. a. hierfür entwickelter didaktischer Strukturierungsprinzipien, sogenannte »rote Fäden« 25, explizieren. Strukturgebend für die Unterrichtsreihe sind insgesamt vier rote Fäden, und zwar der »problem-/leitfragenorientierte«, der »systematisch-progredierende«, der »aspektiv-vernetzende« und der »hermeneutisch-vertiefende« rote Faden. Jeder dieser Fäden strukturiert im Kern eine der vier Sequenzen der Reihe, wobei der problem-/leitfragenorientierte Faden derjenige ist, in den – bildlich gesprochen – die übrigen drei Fäden verflochten sind und der

22

23

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25

Vgl. Albus, Vanessa: Kanonbildung im Philosophieunterricht. Lösungsmöglichkeiten und Aporien, S. 29 und S. 567– 571 und vgl. Albus, Vanessa: »Kanon und Klassiker«, a.a.O., S. 256 – 257. Vgl. von Brand, Tilman: Ganzschriften im Deutschunterricht. Mittelfristige Unterrichtsplanung zu Romanen, Novellen, Dramen und Graphic Novels, a.a.O., S. 54. Vgl. Goldbeck, Steffen; Guntermann, Isabelle; Laschet, Oliver: »Das Kernphasen-Konzept«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 41. 2019, Heft 3: Montesquieu, S. 96 – 106 und vgl. Pörschke, Tim: »Unterrichtsplanung durch backward design. Wie plane ich eine gute Unterrichtsstunde im Fach Philosophie? – Ein Leitfaden in sieben Schritten«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 43, 2021, Heft 1: Aufklärung heute, S. 112 – 120. Goldbeck, Steffen: »Didaktische Strukturierungsprinzipien für den Philosophieunterricht. Zwölf ›rote Fäden‹ zur Strukturierung von Unterrichtsreihen und -sequenzen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 43, 2021, Heft 3: Ehre, S. 94 – 104.

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daher immer wieder auch deutlicher zum Vorschein kommt, so z. B. zu Beginn der dritten Sequenz. Er ist somit der sich durchziehende, verbindende und damit Halt gebende Hauptfaden. Konkret bedeutet das, dass die Erschließung einer Ganzschrift mit der Textpuzzlemethode in der ersten Sequenz damit beginnt, bezogen auf die Ganzschrift (z. B. auf den Titel) eine Leitfrage zu etablieren. Hierbei handelt es sich zunächst um eine hermeneutische Leitfrage samt zugehöriger Teilfragen, also um solche Fragen, die für den Verstehensprozess der Schülerinnen und Schüler leitend sein werden. Davon ausgehend kann dann eine relevante philosophische Problemfrage antizipiert und von den Schülerinnen und Schülern intuitiv beantwortet werden. Hierauf folgt in der zweiten Sequenz ein erster Zugriff auf die Ganzschrift, indem der Text von den Schülerinnen und Schülern kontextualisiert und vorentlastend für die intensive Textarbeit in der dritten Sequenz systematisch-progredierend erschlossen wird. In der dritten Sequenz wird zunächst die leitende philosophische Problemfrage der Ganzschrift rekonstruiert, gegebenenfalls intuitiv beantwortet und mit der antizipierten Problemfrage verglichen. Dann werden aspektiv-vernetzend und leitfragenorientiert die im Rahmen der zweiten Sequenz ausgewiesenen Abschnitte oder Kapitel erarbeitet. Die so gewonnenen Ergebnisse werden anschließend zusammengeführt, auf die rekonstruierte Problemfrage bezogen und lebensweltbezogen bewertet. In einer optionalen vierten Sequenz ist es abschließend möglich, wichtige Aspekte der einzelnen Abschnitte bzw. Kapitel durch hermeneutisch-vertiefende Erarbeitungsschleifen intensiver in den Blick zu nehmen. Bezüglich dieser Sequenz ist allerdings anzumerken, dass sie erstens optional ist, da die Ganzschrift im Verlauf der vorherigen drei Sequenzen erarbeitet wurde, sich aber zweitens besonders dazu eignet, den Lehrplanbezug durch entsprechende inhaltliche Vertiefungen herzustellen. Die sich in der zuvor dargestellten Reihenstruktur abbildende Struktur der Textpuzzlemethode, bestehend aus den grundsätzlichen Schritten: a) Ermittlung hermeneutischer Leitfragen, b) Antizipation einer philosophischen Problemfrage, c) erstes, kontextualisiertes Textverstehen, d) Rekonstruktion der zugrunde liegenden Problemfrage, e) intensives, analytisches Textverstehen und f) problemorientiert-hermeneutisch-vertiefendes Textverstehen ergibt sich daraus, dass im Mittelpunkt der Textpuzzlemethode die hermeneutisch erweiterte Textstrukturanalyse steht. Die Textstrukturanalyse ist Georg Brun zufolge »[a]us didaktischer Sicht […] einerseits ein Mittel zum Erschließen des philosophischen Gedankengangs. Aber sie hilft auch, das Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass sich das Verstehen von Texten nicht darin erschöpft, wesentliche Inhalte zur Kenntnis zu nehmen. Es geht auch darum, die Struktur des Textes zu erfassen und die Funktion der Textteile zu berücksichtigen.« 26 Hierzu empfiehlt Georg Brun: a) das inhalts-, funktions- und bezugsorientierte Lesen, das darauf abzielt, die Textstruktur zu erfassen27, b) die darauf aufbauende (anschauliche)

26 27

Brun, Georg: »Textstrukturanalyse und Argumentrekonstruktion«, a.a.O., S. 248. Es geht darum, den Text in inhaltliche Abschnitte einzuteilen, das Sprachhandeln des Autors bzw. der Autorin im jeweiligen Abschnitt anzuzeigen, indem dieses z.B. mit performativen Verben bezeichnet wird, und es geht darum, die Bezüge zwischen den verschiedenen Textteilen zu erkennen. Vgl. ibid., S. 250 – 251.

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Textgliederung, zwecks Erfassung des Gedanken- und Argumentationsganges des Textes28 sowie c) das Rekonstruieren der zentralen Argumente gemäß den hermeneutischen Prinzipien »Akkuratheit«, »Wohlwollen« und »Klarheit« und die Evaluation derselben, mit Blick auf »[…] die Wahrheit der Prämissen, die Stärke der Begründungsbeziehung zwischen Prämissen und Konklusion sowie […] [den] Diskussionsbeitrag des Arguments […]« 29. Die Schrittfolge der Textstrukturanalyse sollte man jedoch hermeneutisch erweitern, indem man sie in den von Volker Steenblock vorgeschlagenen Dreischritt30 a) Texteröffnung, b) immanentes Textverstehen und c) Textüberschreitung einbettet, um so nicht nur ein analytisches, sondern auch ein explizit hermeneutisches Textverstehen zu garantieren, denn »[g]enerell gilt: Der Text ist aus Sinnzusammenhängen heraus wahrzunehmen; mit seiner Hilfe sind neue herzustellen«.31

28 29 30

31

Vgl. ibid., S. 248 – 257. Ibid., S. 259, vgl. ibid., S. 257– 271. Vgl. Volker Steenblock, »Hermes und die Eule der Minerva. Zur Rolle der Hermeneutik in philosophischen Bildungsprozessen«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 108 – 110 und vgl. Martens, Ekkehard: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik, Siebert Verlag, Hannover 2003, S. 105 – 106. Ibid., S. 110.

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Abb. 1: Puzzleteil A (Leitfragen, Antworten, Orientierungsgehalt und Bewertungen)

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Abb. 2: Puzzleteil B (historischer Kontext) Texteröffnung: So umfasst der erste Schritt, die Texteröffnung, wie der Name schon sagt, alle Methoden und Arbeitstechniken, die ein textöffnendes Lesen32 unterstützen. Die Schülerinnen und Schüler müssen nämlich buchstäblich erst einmal in den Text hineinfinden, bevor sie ihn philosophisch durchdringen können. Dazu ist es notwendig, den Schülerinnen und Schülern »[…] Handlungsstrategien zur Förderung des fachlichen Lesens zu vermitteln.« 33 Speziell ist bei der Texteröffnung zwischen »Aktivitäten vor dem Lesen« und solchen »während des Lesens« zu unterscheiden.34 Zunächst geht es in einer Frage- und Antizipationsphase um das Vorverständnis der Schülerinnen und Schüler. Vor dem Lesen ist daher das »Vorwissen zum Thema« zu aktivieren, es sind, ausgehend vom Titel der Ganzschrift, »Fragen an den Text« zu richten, aus denen sich dann eine hermeneutische Leitfrage und gegebenenfalls eine überschaubare Anzahl an zugehörigen Teilfragen ergeben sollten.35 Das Puzzleteil A (vgl. Abb. 1)36 ist u. a. dafür 32

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35

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Vgl. Steenblock, Steenblock: »Hermes und die Eule der Minerva. Zur Rolle der Hermeneutik in philosophischen Bildungsprozessen«, a.a.O., S. 108 – 109. Boing, Maik; Grannemann, Katharina; Lange-Weber, Stephan: »Cluster Gesellschaftswissenschaften«, in: Sven Oleschko (Hrsg.), Sprachsensibles Unterrichten fördern. Angebote für den Vorbereitungsdienst, Bezirksregierung Arnsberg, Arnsberg 2017, S. 68 – 103, S. 82, auf: https://www.stiftung-mercator.de/ de/publikationen/ (Stand: 11.06.2022). Ibid., S. 83 und vgl. vgl. Werner, Sybille; Rosebrock, Cornelia: »Einen literarischen Text durch strategisches Lesen im Philosophie- und Ethikunterricht zugänglich machen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 43 – 45. Boing, Maik; Grannemann, Katharina; Lange-Weber, Stephan: »Cluster Gesellschaftswissenschaften«, a.a.O., S. 83. Wichtig zu beachten ist, dass die Puzzleteile A und B so angelegt sind, dass sie zu verschiedenen Zwecken verwendet werden können. Dies betrifft vor allem das Puzzleteil A.

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vorgesehen, diese zu fixieren. Bezogen auf das Thema und den Titel der Ganzschrift ist es mitunter möglich, eine philosophische Problemfrage zu antizipieren, auf die der Text womöglich eine Antwort gibt. DIE UNTERSCHEIDUNG ZWISCHEN HERMENEUTISCHER LEIT- UND ANTIZIPIERTER PHILOSOPHISCHER PROBLEMFRAGE (SAMT DER JEWEILS ZUGEHÖRIGEN TEILFRAGEN ) WAR IN DER ERPROBUNG HILFREICH, UM DIE FRAGEN DER SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER ZU SORTIEREN UND BEZÜGLICH IHRES JEWEILIGEN FOKUS‹ KLÄREN ZU KÖNNEN. INSOFERN ERGIBT ES SINN, DIE BEIDEN SCHRITTE IN DER FRAGE- UND ANTIZIPATIONSPHASE MÖGLICHST ZEITGLEICH, ALSO IN EINER SCHULSTUNDE ZU VOLLZIEHEN (vgl. Abb. 5: Texteröffnung). Die antizipierte philosophische Problemfrage wird ebenfalls auf dem dafür vorgesehenen Puzzleteil A fixiert. In einem ersten Zugriff kann diese Frage dann von den Schülerinnen und Schülern vor dem Hintergrund ihrer Prä-Konzepte37 beantwortet werden. Die erarbeiteten Antworten können in Form von ausgearbeiteten Strukturmodellen38 fixiert werden. Vier repräsentative Antworten sollten dann ebenfalls auf dem A-Puzzleteil, auf dem schon die antizipierte philosophische Problemfrage steht, notiert werden. DIE ERPROBUNG ZEIGTE, DASS ES MITUNTER SINNVOLL IST, ANTWORTEN ZU CLUSTERN, WENN SIE IN EINEM ENGEN INHALTLICHEN ZUSAMMENHANG STEHEN. So wird entsprechend etablierten fachdidaktischen Prinzipien schon an dieser Stelle der Erarbeitung der Ganzschrift für eine lernförderliche Problemorientierung39 gesorgt und die Prä-Konzepte der Schülerinnen und Schüler werden in den Erarbeitungsprozess miteinbezogen. Ebenfalls texteröffnend, aber schon auf das Textverständnis abzielend, ist die erste Kontextualisierungsphase. Damit ist gemeint, dass vor dem Lesen zu hermeneutischen Zwecken und als Vorentlastung der intensiven Textarbeit der historische Kontext zu erarbeiten ist. Dafür gibt es das Puzzleteil B (vgl. Abb. 2), das am besten unter Einbezug moderner Recherchemedien kooperativ bearbeitet wird, so dass die vier vorgegebenen Aspekte zeiteffekiv erarbeitet werden können. WICHTIG FÜR DIE WEITERE ERARBEITUNG WAR IN DER ERPROBUNG VOR ALLEM DIE KLÄRUNG DER PHILOSOPHISCHEN DEBATTE, ZU DER DIE GANZSCHRIFT EINEN BEITRAG DARSTELLT. Während des Lesens geht es dann in der texteröffnenden Vorbereitungsphase für das immanente Textverstehen um ein zielgerichtetes »Unterstreichen und Markieren« und gegebenenfalls auch Kommentieren (»Notizen« bzw. »Randbemerkungen« machen).40 Sprachsensibel unterstützend und notwendig ist daher ein Lektüremodus, der

37

38

39

40

Vgl. Zimmermann, Peter: »Fachliche Klärung und didaktische Rekonstruktion«, in Pfister, Jonas; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts, UTB 4514, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 65 – 67. Hierbei sollte es meines Erachtens darum gehen, die zentrale Antwort der Schülerinnen und Schüler auf die philosophische Problemfrage in Form einer These zu fixieren, zusätzlich sollten auch die Argumente dargestellt werden, die die Schülerinnen und Schüler für ihre These haben. Vertiefend, insbesondere für leistungsstarke Lerngruppen, ist eine Darstellung der den Argumenten und somit auch der These zugrunde liegenden Voraussetzungen sinnvoll. Vgl. Fröhlich, Michael; Langebeck, Klaus; Ritz, Eberhard: Philosophieunterricht. Eine situative Didaktik, mit einem Vorwort von Schnädelbach, Herbert, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, S. 70 – 77 und S. 80. Vgl. Tiedemann, Markus: »Problemorientierung«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, a.a.O., S. 70 – 78. Vgl. Steenblock, Volker: »Hermes und die Eule der Minerva. Zur Rolle der Hermeneutik in philosophischen Bildungsprozessen«, a.a.O., S. 109, vgl. auch Brun, Georg: »Textstrukturanalyse und Argu-

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eine Kombination aus einem ersten »[o]rientierende[n] Lesen« (den Text überfliegen, Überschriften und Hervorhebungen etc. markieren) mit einem darauf aufbauenden »[s]uchende[n], selektive[n] Lesen« (den Text im Hinblick auf Daten und Fakten, »spezifische[…] Informationen« und Schlüsselwörter lesen) darstellt.41 Leistungsstarken Lerngruppen kann man womöglich die Ganzschrift als »Vorablektüre« aufgeben, so dass der erste Lektürezugriff selbstständig zu Hause stattfindet.42 Für leistungsschwächere Lerngruppen ist dies insbesondere bei einer anspruchsvollen Ganzschrift sicherlich nicht empfehlenswert. Hier ist es sinnvoll, den ersten Lektürezugriff durch die Lehrkraft anzuleiten, was insbesondere für das selektive Lesen bedeutet, dieses mit einem gemeinsamen, »[k]rusorische[n] Lesen« zu verbinden, indem der Text gemeinsam mit der Lehrkraft »Satz für Satz« gelesen wird.43 DIES WURDE IN DER ERPROBUNG DER TEXTPUZZLEMETHODE AUF LEICHT ABGEWANDELTE WEISE DURCHGEFÜHRT, DA DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER DER QUALIFIKATIONSPHASE NOCH WENIG GEÜBT IM LESEN UND ERSCHLIESSEN LÄNGERER PHILOSOPHISCHER TEXTE SCHIENEN. DER TEXT WURDE ABSATZWEISE VOM LEHRER VORGELESEN, HIERBEI SOLLTEN DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER WICHTIGE BEGRIFFE UMKREISEN UND ZENTRALE SÄTZE UNTERSTREICHEN. ANSCHLIESSEND WURDEN DIE VORGENOMMENEN MARKIERUNGEN BESPROCHEN, INDEM Z. B. BEGRIFFLICHE UNKLARHEITEN BESEITIGT WURDEN UND INDEM DER TEXTINHALT KURZ DISKUTIERT WURDE, UM DAS GELESENE IN EINEM ERSTEN SCHRITT ZU VERARBEITEN UND EIN ERSTES TEXTVERSTÄNDNIS ZU ERZEUGEN, DAS DANN, BEGINNEND MIT DER INTENSIVPHASE, IMMER WEITER VERTIEFT WURDE. Am Ende der Texteröffnungsphase sollte der Text der Ganzschrift klar in weiter zu bearbeitende Kapitel oder Absätze eingeteilt sein. Diese Einteilung kann die Lehrkraft festlegen oder gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern vornehmen. IN DER ERPROBUNG WURDEN DIE ABSCHNITTE DURCH DIE LEHRKRAFT EINGETEILT, U. A. WEIL ES KEINE KLARE KAPITELSTRUKTUR GAB.

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mentrekonstruktion«, a.a.O., S. 249 und vgl. Boing, Maik; Grannemann, Katharina; Lange-Weber, Stephan: »Cluster Gesellschaftswissenschaften«, a.a.O., S. 83. Ibid.; Material vom zugehörigen USB-Stick: 06_05_M1_Lesestile_Leseabsichten.docx, vgl. 06_05_M2_Zusammenstellung_Lesestrategien_und_Methoden.docx. Vgl. von Brand, Tilman: Ganzschriften im Deutschunterricht. Mittelfristige Unterrichtsplanung zu Romanen, Novellen, Dramen und Graphic Novels, a.a.O., S. 61– 62. Vgl. ibid. und vgl. Boing, Maik; Grannemann, Katharina; Lange-Weber, Stephan: »Cluster Gesellschaftswissenschaften«, a.a.O., S. 83, Material vom zugehörigen USB-Stick: 06_05_M1_Lesestile_Leseabsichten.docx

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Abb. 3: Puzzleteil C (Argumentation oder zentrale Aussagen bzw. Gedankengang)

Texterschließungsmethode (von Matthias Schulze – unveröffentlicht) Argumentationsanalyse: Darstellung der argumentativen Struktur des Textes durch ein »Flussdiagramm« Die Argumentation eines Textes soll ein Diagramm veranschaulichen, das – wie ein Flussdiagramm bei Computerprogrammen – die einzelnen Schritte der Argumentation in ihrem argumentationslogischen Zusammenhang darstellt und dabei festgelegte Symbole für bestimmte Elemente der Argumentation verwendet:

Die einzelnen Elemente verbindet man mit Pfeilen, denen man ebenfalls eine festgelegte Bedeutung geben kann, z. B.: Folgerung ——> wechselseitige Folgerung Widerspruch

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Vorgehensweise: 1. Die SuS lesen den Text und markieren die zentralen Stellen und Begriffe und die argumentationslogisch wichtigen Worte (z. B. Konnektoren wie »also«, »aber«, »weil«, Verben wie »folgern«, »bestätigen«, »begründen«, Substantive wie »Grund«, »Schluss«) 2. Sie notieren in Stichworten die zentralen inhaltlichen Elemente, entscheiden, welche argumentationslogische Funktion diese jeweils haben, und übertragen sie dem entsprechend auf von der Lehrkraft ausgeteilte Rechtecke, Trapeze etc. (oder sie zeichnen diese Elemente selbst). 3. Sie ordnen diese Elemente auf einem großen Papier entsprechend ihrer argumentationslogischen Beziehung zueinander an und verdeutlichen diese Beziehungen durch geeignete Pfeile. Abb. 4: Argumentationsrekonstruktion (siehe Fußnote 48) Der zweite Schritt, das immanente Textverstehen, verbindet in der Intensivphase die Argumentationsrekonstruktion mit einer ebenso notwendigen Begriffsarbeit. Bevor dies jedoch durchgeführt werden kann, ist die der Ganzschrift zugrunde liegende philosophische Problemfrage zu rekonstruieren und samt der darauf bezogen erarbeiteten Schülerinnen- und Schüler-Antworten (Strukturmodelle auf der Grundlage der Prä-Konzepte, s. o.) zu fixieren, wozu auch das Puzzleteil A verwendet werden sollte. In diesem Zusammenhang ist ein Abgleich mit der antizipierten Problemfrage und den darauf bezogenen Schülerinnen- und Schüler-Antworten vorzunehmen, um letztere noch einmal zu reflektieren. DIE SCHÜLERINNEN- UND SCHÜLER-ANTWORTEN KÖNNEN DURCH DIE PHASE DER TEXTERÖFFNUNG STARK ÜBERFORMT WORDEN SEIN, WAS DIE ERPROBUNG DEUTLICH ZEIGTE, WESWEGEN ES GEGEBENENFALLS SINNVOLL IST, DIE ERARBEITUNG DER PROBLEMFRAGEBEZOGENEN PRÄ-KONZEPTE AUSZULASSEN. ZUDEM IST ES MITUNTER NOTWENDIG, EIN A-PUZZLETEIL KOMPLETT FÜR DIE REKONSTRUKTION DER PROBLEMFRAGE ZU VERWENDEN, UM GEGEBENENFALLS. ÜBERGEORDNETE FRAGEN ODER RELEVANTE TEILFRAGEN IN DIE ECKEN DES PUZZLETEILS SCHREIBEN ZU KÖNNEN. So oder so, die rekonstruierte philosophische Problemfrage leitet im weiteren Verlauf das immanente Textverstehen. Besonders wichtig beim immanenten Textverstehen ist, dass in diesem Rahmen der kooperative Dreischritt »Denken – Austauschen – Vorstellen« und die Prinzipien des kooperativen Lernens zur Geltung kommen, was der intensiven Erarbeitung der Ganzschrift, also der Qualität der Arbeitsergebnisse und dem Textverstehen in besonderem Maße förderlich ist.44 Wichtig ist daher, dass die Schülerinnen und Schüler zur Erarbeitung der zuvor festgelegten Abschnitte oder Kapitel der Ganzschrift (s. o.) als Teams oder Dreier-Gruppen auf jeweils einen Abschnitt oder ein Kapitel aufgeteilt werden. Die leistungsheterogene Zusammensetzung dieser Gruppen kann womöglich eine wirkungsvolle Differenzierungsmaßnahme sein. Man sollte aber beachten, dass die Schülerinnen und Schüler nicht dazu gezwungen werden, mit jemanden zusammenzuarbeiten, den sie nicht mögen, da dies der intensiven Er44

Vgl. Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen, a.a.O., S. 15 – 17.

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arbeitung sicherlich im Wege steht. In den Gruppen oder Teams wird grundsätzlich aufgabengleich gearbeitet. In der Intensivphase (vgl. Abb. 5) haben die Schülerinnen und Schüler zunächst ausreichend »Denkzeit«, um sich in Einzelarbeit den ihnen als Team oder Gruppe zugewiesenen Abschnitt oder das zugewiesene Kapitel zu erarbeiten.45 Dabei geht es vor allem darum, den Abschnitt auf die in ihm vorgebrachten Argumente und argumentativen Strukturen hin zu bearbeiten. Es geht also um ein funktionsorientiertes Lesen und Markieren entsprechender Textstellen. Auf diese Weise gelangen die Schülerinnen und Schüler zu Arbeitsergebnissen, über die sie sich dann in der Partner- oder Gruppenarbeit austauschen und die von ihnen abschließend auf dem dafür vorgesehenen Puzzleteil C (vgl. Abb. 3) fixiert werden.46 So findet eine erste »Ko-Konstruktion« statt.47 Für die in diesem Schritt als Vertiefung vorgesehene Argumentationsrekonstruktion bietet sich die auf anschauliche Visualisierung ausgerichtete Methode von Matthias Schulze an (vgl. Abb. 4).48 Als Alternative hierzu könnte man aber auch auf die von Jonas Pfister erarbeiteten Möglichkeiten zur anschaulichen Darstellung von rekonstruierten Argumentationen zurückgreifen.49 VOR DER ERPROBUNG DER TEXTPUZZLEMETHODE WURDE DIE ARBEIT MIT DEM SCHULZE-SCHEMA DEM GRUNDKURS IN DER VORHERIGEN UNTERRICHTSREIHE VERMITTELT. DANN WURDE DIE METHODE IMMER WIEDER, VOR ALLEM AN KURZEN TEXTSTELLEN EINGEÜBT. ES IST DAHER ZU EMPFEHLEN, MIT DER LEKTÜRE EINER GANZSCHRIFT NICHT DIREKT AM ANFANG EINES SCHULJAHRES ZU BEGINNEN, SONDERN DIE LERNGRUPPE IM RAHMEN VON MINDESTENS EINEM UNTERRICHTSTHEMA KENNENZULERNEN UND WICHTIGE METHODEN UND METHODENKOMPETENZEN ZU VERMITTELN. Die Darstellung der zentralen Argumentation eines Textes, Kapitels oder Abschnitts mithilfe des Schulze-Schemas sollte den Großteil des hierfür vorgesehenen C-Puzzleteils beanspruchen. Dabei kommt es darauf an, nicht jedes Detail oder jede argumentative Verästelung darzustellen, sondern die Kernargumentation bzw. das Kernargument zu rekonstruieren.50 Dies sollte besonders bei der vorherigen Einteilung des Textes in Abschnitte beachtet werden. Mit Blick auf eher leistungsschwache oder in der Argumentationsrekonstruktion noch nicht ausreichend geübte Kurse kann es mitunter sinnvoll sein, auf dem jeweiligen C-Puzzleteil nur die zentralen Aussagen des jeweiligen Kapitels oder Abschnitts zu notieren, die gegebenenfalls in Form eines Sequenzdiagramms51 dargestellt werden, um so im Idealfall zumindest den Gedankengang zu veranschaulichen und nachvollziehbar zu machen. DIES WURDE AUCH BEI DER ERPROBUNG DER METHODE DURCHGEFÜHRT, WOBEI ZWEI STÄRKEREN SCHÜLERINNEN ZUR LEISTUNGSDIFFERENZIERUNG DIE DARAUF

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Vgl. ibid., S. 15. Zur Gestaltung der Partnerarbeit vgl. ibid., S. 59 –81, zur Gruppenarbeit vgl. S. 29 – 43. Vgl. ibid., S. 21 und S. 60 – 61. Vgl. Goldbeck, Steffen; Henke, Roland Wolfgang: »Argumentative Beurteilung philosophischer Positionen. Ideen zur Förderung einer zentralen Kompetenz des Philosophieunterrichts«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, /2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 117. Vgl. Pfister, Jonas: Kritisches Denken, RUB 14033, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2020, S. 157– 166. Brun weist darauf hin, dass es »[…] oft […] verschiedene, vergleichbar plausible Rekonstruktionsmöglichkeiten [gibt]« (Brun, Georg: »Textstrukturanalyse und Argumentrekonstruktion«, a.a.O., S. 261). Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Erfolgreich Unterrichten durch Visualisieren. Grafisches Strukturieren mit Strategien des Kooperativen Lernens, Neue Deutsche Schule, Essen 22009, S. 57– 59.

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AUFBAUENDE ARGUMENTATIONSREKONSTRUKTION ANGEBOTEN WURDE. HILFREICH IST ZUDEM, WENN MAN DEN SUS DIN-A6-BLÄTTER AN DIE HAND GIBT, AUF DENEN SIE DIE ZENTRALEN AUSSAGEN NOTIEREN KÖNNEN, UM SIE SO IN DIE REIHENFOLGE BRINGEN ZU KÖNNEN, DIE DER GEDANKLICHEN STRUKTUR DES ABSCHNITTS ENTSPRICHT. AUS DEN BESCHRIFTETEN DIN-A6-BLÄTTERN KÖNNEN DANN DIEJENIGEN AUSSAGEN AUSGEWÄHLT UND GEGEBENENFALLS. ZUSAMMENGEFASST WERDEN, DIE AUF DIN-A4-BLÄTTERN GESCHRIEBEN UND AUF DEM C-PUZZLETEIL FIXIERT WERDEN SOLLEN. Leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern könnte man inhaltlich beschriebene Blätter geben, die sie nur noch in Struktur bringen und mit passenden Textstellenverweisen versehen müssen, um dann diejenigen auszuwählen, die sie auf ihrem Puzzleteil fixieren wollen. Beim immanenten Textverstehen kommen also zwei Lektüremodi bzw. zwei analytische Lesestrategien52 zum Tragen, nämlich erstens, den Text »[…] auf seine Resultate hin lesen« 53, »[…] um herauszufinden, was sein Verfasser denkt […]« 54 und, wenn auch die Argumentation rekonstruiert werden soll, zweitens, den Text »[…] auf seine Argumente hin lesen« 55, um »[…] auf ein Verständnis der zugrunde liegenden Argumentationsstruktur hinzuarbeiten.« 56 Die hierbei bereits erwähnte notwendige funktionsorientierte Markierung von Textstellen kann z. B. über unterschiedliche Farben57 oder mit einer modifizierten Form der Västerås-Methode erfolgen.58 Wenn jedes Team oder jede Gruppe seine bzw. ihre Ergebnisse auf einem dafür vorgesehenen C-Puzzleteil fixiert hat, kann gepuzzelt werden. IN DER ERPROBUNG WURDEN NICHT ALLE PUZZLETEILE GLEICHZEITIG FERTIG (FEHLZEITEN EINIGER SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER ETC.). ES IST DAHER BEI DER DURCHFÜHRUNG WICHTIG, AUFGABEN FÜR SCHNELLERE TEAMS ODER GRUPPEN PARAT ZU HABEN, DIE EINEM MÖGLICHEN LEERLAUF ENTGEGENWIRKEN, INDEM SIE Z. B. AUF EINE VERTIEFENDE DURCHDRINGUNG DER ERARBEITETEN INHALTE ABZIELEN. In der sich an die Intensivphase anschließenden ersten Puzzelphase (vgl. Abb. 5) werden Groß-Gruppen gebildet, indem diejenigen Teams oder Gruppen zusammenkommen, die »benachbarte« Kapitel oder Abschnitte bearbeitet haben. In jeder GroßGruppe ist folglich jede Schülerin und jeder Schüler Experte bzw. Expertin (»persönliche Verantwortung« 59 ) für das von ihm bzw. ihr erarbeitete Kapitel bzw. den erarbeiteten 52

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Vgl. Boing, Maik; Grannemann, Katharina; Lange-Weber, Stephan: »Cluster Gesellschaftswissenschaften«, a.a.O., S. 82 –83, Material vom zugehörigen USB-Stick: 06_05_M1_Lesestile_Leseabsichten. docx, 06_05_M2_Zusammenstellung_Lesestrategien-und_Methoden.docx. Rosenberg, Jay Frank: Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, übers. von Flickinger, Brigitte, Klostermann Rote Reihe, Bd. 18, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 62009, S. 154. Ibid., S. 154. Ibid., S. 155. ibid. Boing, Maik; Grannemann, Katharina; Lange-Weber, Stephan: »Cluster Gesellschaftswissenschaften«, a.a.O., S. 82 –83, Material vom zugehörigen USB-Stick: 06_05_M3_Zusammenstellung_Scaffolding_Input_Output.docx Hierbei sollten die Schülerinnen und Schüler auf bestimmte Wörter achten, so, wie von Matthias Schulze vorgeschlagen, vor allem auf Konnektoren (»weil«, »da«, »denn« etc., siehe Abb. 4) oder Konklusionsindikatoren (»somit«, »folglich«, »also« etc.). Vgl. Brun, Georg: »Textstrukturanalyse und Argumentrekonstruktion«, a.a.O., S. 250 – 251. Zur Markierung am Rand könnten die folgenden Kürzel Verwendung finden: A = Argument, T = These, SF = Schlussfolgerung, B = Beispiel, E = Erklärung/ Erläuterung, V = Voraussetzung. Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen, a.a.O., S. 15. Wie man persönliche Verantwortung fördern kann, erläutern Brüning und Saum auf S. 150 – 151.

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Abschnitt. Als Experten bzw. Expertinnen stellen die Schülerinnen und Schüler den anderen Schülerinnen und Schülern der Groß-Gruppe ihre Ergebnisse vor (»Austausch« 60 ), legen die Puzzleteile zusammen und fixieren die Verknüpfungsaspekte in den Verbindungsstücken der Puzzleteile. IN DER ERPROBUNG FERTIGTEN DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER NOTIZZETTEL MIT DEN WICHTIGSTEN AUSSAGEN UND GEDANKLICHEN SCHRITTEN AN, DIE IHNEN BEI DER PRÄSENTATION IHRER ERGEBNISSE HELFEN SOLLTEN. Mit den Ergebnissen der Groß-Gruppen wird dann im Plenum61 gemeinsam die Gesamtstruktur der Ganzschrift zu Ende gepuzzelt, womit der zweite Schritt der Methode, das immanente Textverstehen, abgeschlossen ist. ZU DIESEM ZWECK STELLTEN IN DER ERPROBUNG ZUNÄCHST DIE JEWEILIGEN TEAMS BZW. GRUPPEN IHRE ERGEBNISSE MITHILFE DER ERSTELLTEN NOTIZZETTEL VOR. ANSCHLIEßEND KONNTEN RÜCKFRAGEN GESTELLT WERDEN. DANN WIEDERHOLTE UND VERTIEFTE DIE LEHRKRAFT DIE ZUSAMMENHÄNGE NOCH EINMAL. DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER SOLLTEN WÄHREND DER PRÄSENTATIONEN DIE WICHTIGSTEN INHALTLICHEN AUSSAGEN AUF EINEM SO GENANNTEN GEDANKENZETTEL NOTIEREN, UM DIE ERARBEITETEN ERGEBNISSE ÜBERSICHTLICH AUF EINEM BLATT ZUR VERFÜGUNG ZU HABEN, WAS U. A. DIE WEITERARBEIT IN DEN FOLGESTUNDEN ERLEICHTERTE, DA DIE GESAMTSTRUKTUR NICHT IN EINER STUNDE FERTIGGESTELLT WERDEN KONNTE. Den wichtigen dritten Schritt der Methode stellt die Textüberschreitung dar. Denn das immanente Textverstehen und die erste Puzzelphase zielen auf ein »höhere[s] Verstehen« 62 ab, das jedoch erst im Zusammenspiel mit der Horizontverschmelzung, also der Verschmelzung von Vorverständnis und Textverständnis, erreicht wird.63 Dazu dient eine zweite Kontextualisierungsphase. In dieser sollen die Schülerinnen und Schüler zunächst die der Ganzschrift zugrunde liegende philosophische Problemfrage beantworten, die zu Beginn der Intensivphase (immanentes Textverstehen) rekonstruiert wurde. So wird der potenzielle Orientierungsgehalt der Ganzschrift herausgestellt. Dieser ist auf einem A-Puzzleteil zu notieren und dann gegebenenfalls mit den bereits fixierten und zu Strukturmodellen ausgearbeiteten Schüler- und SchülerinnenAntworten abzugleichen (vgl. Abb. 5 Texteröffnung und immanentes Textverstehen), indem z. B. Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt werden. Anschließend sind die in der Frage- und Antizipationsphase aufgeworfene hermeneutische Leitfrage samt der zugehörigen Teilfragen dahingehend zu überprüfen, inwiefern diese durch die Textlektüre beantwortet wurden. Möglicherweise sind offene Fragen bzw. neue Fragen, die einen erneuten Zugriff auf die Lektüre leiten könnten, zu fixieren. DIE ERPROBUNG ZEIGTE, DASS ES SINNVOLL IST, ERST DIE REKONSTRUIERTE PHILOSOPHISCHE PROBLEMFRAGE UND DANACH DIE HERMENEUTISCHE LEITFRAGE ZU BEANTWORTEN, WEIL ERSTERES HILFREICH FÜR LETZTERES IST. Wenn alle aufgeworfenen und rekonstruierten Fragen beantwortet sind, folgt der für die Textüberschreitung wichtigste Schritt, die Übertragung der gewonnen Erkenntnisse auf die gegenwärtige Situation der Schülerinnen und Schüler. Das bedeutet, die Schülerinnen 60 61

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Ibid., S. 15. Alternativ hierzu könnten wieder Groß-Gruppen aus den bestehenden Groß-Gruppen gebildet werden, die sich dann über ihre gebildeten Puzzlestränge austauschen und diese miteinander verbinden. Diesen Prozess könnte man so lange durchführen, bis nur noch zwei Groß-Gruppen übrig sind, deren Puzzlestränge dann im Plenum in einem finalen Schritt verbunden werden. Danner, Helmut: Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik. Einführung in die Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik, UTB 947, Reinhardt-Verlag, München – Basel 41998, S. 56. Vgl. ibid., S. 55 – 61 und S. 87–88.

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und Schüler sollen über den tatsächlichen Orientierungsgehalt der Ganzschrift urteilen. Sie müssen dazu argumentierend bewerten, welche Überzeugungskraft der Orientierungsgehalt der Ganzschrift bezogen auf ihre gegenwärtige Lebenssituation (individuell bedeutsame Fragen und Probleme) besitzt.64 Erst durch diesen Schritt wird klar, ob der potenzielle zu einem tatsächlichen Orientierungsgehalt wird. Auf diese Weise wird, durch die Auswahl der Ganzschrift möglicherweise begünstigt, sowohl der für den Philosophieunterricht geforderte Lebensweltbezug65 hergestellt als auch die Urteilskompetenz gefördert. ALS HILFE HIERZU WURDE DEN SCHÜLERINNEN UND SCHÜLERN IN DER ERPROBUNG EIN ANLEITENDES ARBEITSBLATT AUSGETEILT. GEMÄSS DEN AUFGABENSTELLUNGEN SOLLTEN DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER ZUERST PHILOSOPHISCH RELEVANTE FRAGEN (PROBLEME ) NOTIEREN, DIE SIE BESCHÄFTIGEN. DANN SOLLTEN SIE DIEJENIGEN FRAGEN KENNZEICHNEN, DIE DIE GANZSCHRIFT (TEILWEISE ) BEANTWORTET. IM ANSCHLUSS HIERAN SOLLTEN DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER DIE JEWEILIGE ANTWORT DER GANZSCHRIFT KLAR HERAUSARBEITEN, SICH BEGRÜNDET ZU DER FRAGE POSITIONIEREN, OB SIE DIESE ANTWORT ÜBERZEUGT UND DIE HINTER IHRER JEWEILIGEN BEGRÜNDUNG STEHENDEN WERTE ODER ÜBERZEUGUNGEN ANGEBEN. ABSCHLIESSEND SOLLTEN DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER EIN URTEIL DARÜBER FÄLLEN, OB UND INWIEFERN DIE DURCH DIE GANZSCHRIFT GEWONNEN ERKENNTNISSE FÜR SIE BEDEUTSAM SIND. Vier kursrepräsentative Bewertungen des Orientierungsgehaltes werden dann ebenfalls auf dem A-Puzzleteil notiert, auf dem bereits die Antwort auf die rekonstruierte philosophische Problemfrage bzw. der Orientierungsgehalt der Ganzschrift steht. Möglicherweise ergibt es dann an dieser Stelle Sinn, im Rahmen einer ersten Reflexionsphase, den bisherigen Erarbeitungsprozess zusammen mit den Schülerinnen und Schülern zu reflektieren, um ihn langfristig zu optimieren.66

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Für den Philosophieunterricht in der gymnasialen Oberstufe wird in Nordrhein-Westfalen zwischen den Operatoren »beurteilen« und »bewerten« unterschieden. Die zugehörigen Operatorenbeschreibungen und Kompetenzformulierungen des Kernlehrplanes legen meines Erachtens nahe, anzunehmen, dass der Operator »beurteilen« auf ein Sachurteil ohne Wertbezug mit lediglich »feststellendem Charakter« abzielt und der Operator »bewerten« auf ein Werturteil, das einen klaren Bezug zu den eigenen Wertmaßstäben und daher folglich einen »wertenden Charakter« hat. Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Philosophie, auf: https://www.schul entwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/pl/KLP_GOSt_Philosophie.pdf (Stand: 11.05.2022), S. 20 – 21, S. 26 und S. 34; vgl. auch Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NordrheinWestfalen (Hrsg.): Philosophie. Übersicht über die Operatoren, auf: https://www.standardsicherung. schulministerium.nrw.de/cms/zentralabitur-wbk/faecher/getfile.php?file=2287 (Stand: 11.06.2022), vgl. ferner Lehrerinnenfortbildung Baden-Württemberg: Grundlegende Begriffe, auf: https://lehrer fortbildung-bw.de/u_gewi/geschichte/gym/bp2004/fb3/e_urteil/0_vortrag/2_begriff/ (Stand; 11.06.2022) und vgl. Winklhöfer, Christian: Urteilsbildung im Geschichtsunterricht, Kleine Reihe Geschichte Didaktik und Methodik, Wochenschau Verlag, Frankfurt am Main 2021, S. 16 – 17 und S. 40 – 41. Isabelle Guntermann betont diesbezüglich, dass die Unterscheidung zwischen Wert- und Sachurteil für den Philosophieunterricht sinnvoll ist und dass das Wert-Urteil auf dem zugehörigen Sach-Urteil aufbaut (vgl. Guntermann, Isabelle: »Stundentypen im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 50 – 54, S. 53, Fußnote 13). Vgl. Stelzer, Hubertus: »Lebensweltbezug«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, a.a.O., S. 79 –86. Mögliche geeignete Reflexionsschwerpunkte finden sich bei: Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen, a.a.O., S. 165 – 166.

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Um die Textüberschreitung weiter auszudehnen und zur weiteren Vertiefung der bereits verstandenen Zusammenhänge beizutragen, können im Sinne einer Horizonterweiterung (vgl. Abb. 5) zusätzliche hermeneutische Erarbeitungsschleifen ebenfalls im Dreischritt »Denken – Austauschen – Vorstellen« erfolgen, indem zuvor identifizierte wichtige inhaltliche Aspekte der Ganzschrift mithilfe zusätzlicher Texte (s. u.) tiefgründiger und gegebenenfalls dialektisch-kontrastiv erschlossen werden.67 Dies legt auch der alte Philosophie-Lehrplan von 1999 nahe: »Bei der Bearbeitung empfiehlt es sich sowohl aus sachlichen als auch aus Gründen der Motivation kontrastierende oder ergänzende Texte heranzuziehen. Dies kann sowohl vor als auch nach der Bearbeitung der Ganzschrift geschehen oder die Erarbeitung gelegentlich unterbrechen.« 68 Die zur Vertiefung herangezogenen Texte können in einer Erschließungsphase erarbeitet werden. Auch hier liegt der Fokus auf positionenerschließenden philosophischen Primärtexten oder entsprechenden Nachtexten. Als weitere »Bezugstexte« kann es jedoch auch sinnvoll sein, auf »Erklärtexte« oder »Texte zum historischen und/oder geistesgeschichtlichen Hintergrund«, gegebenenfalls sogar auf biografische Texte zurückzugreifen.69 Bei der erweiternden Arbeit mit Primär- oder geeigneten Nachtexten geht es vor allem darum, das jeweils zugrunde liegende philosophische Problem zu identifizieren (Puzzleteil A), die zentralen Inhalte zu erarbeiten und gegebenenfalls die Argumentation bzw. etwas niederschwelliger (s. o.), den Gedankengang zu erarbeiten (Puzzleteil C). Die entsprechenden Arbeitsergebnisse können mithilfe der Puzzleteile A und C gesichert werden. In der sich hieran anschließenden zweiten Puzzelphase werden diese dann dem bestehenden Textpuzzle hinzugefügt. Deswegen ermöglichen es alle Puzzleteile, dass an sie weitere Puzzleteile angelegt werden können. Die inhaltlichen Aspekte, die auf diese Weise vertieft werden können, ergeben sich aus den fachlichen Schwerpunktsetzungen der Lehrkraft oder Vertiefungswünschen bzw. -notwendigkeiten seitens der Schülerinnen und Schüler. Um die Erarbeitung einer Ganzschrift da, wo sie nicht explizit durch den Lehrplan gefordert wird, nicht gegen diesen vorzunehmen, sondern im Gegenteil, um die Lehrplanobligatorik zu integrieren, ist es sinnvoll, die curricularen Themen bei der Ganzschriftenauswahl mitzuberücksichtigen, so dass diese zum Zweck eines vertiefenden Verstehens erarbeitet werden können.

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Ein Schritt im Rahmen des Hinzufügens der entsprechenden Puzzleteile könnte die dialektisch-kontrastive »Bewertung« der Überzeugungskraft der erschlossenen philosophischen Positionen seitens der Schülerinnen und Schüler sein. Alternativ hierzu könnten die Positionen auch hinsichtlich ihrer Konsistenz einer dialektisch-kontrastiven »Beurteilung« unterzogen werden. Vgl. Fußnote 64 und vgl. Henke, Roland Wolfgang: »Die Förderung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, a.a.O., S. 86 – 95. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie, a.a.O., S. 17. Vgl. von Brand, Tilman: Ganzschriften im Deutschunterricht. Mittelfristige Unterrichtsplanung zu Romanen, Novellen, Dramen und Graphic Novels, a.a.O., S. 37– 40.

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Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Textpuzzlemethode im Kern durch den hermeneutischen Dreischritt »Texteröffnung – Textverstehen – Textüberschreitung« gegliedert ist, der sich mit den drei an der Gadamer’schen Hermeneutik orientierten Verstehensschritten »Vorverständnis«, »Textverständnis« und »Horizontverschmelzung« 70 weiter ausdifferenzieren lässt, zu denen als weiterer Verstehensschritt gegebenenfalls die »Horizonterweiterung« 71 hinzukommt. Die unter dem Aspekt »Planung« erläuterten »roten Fäden« sind für den Gesamtprozess und die einzelnen Sequenzen strukturgebend. So ergibt sich die folgende Gesamtstruktur:

1. Schritt: Texteröffnung A. Vorverständnis (1. Puzzelrunde) Frage- und Antizipationsphase: – Fragen an den Text stellen ! hermeneutische Leitfrage etablieren und fixieren ! themenbezogenes Vorwissen transparent machen ! A-Puzzleteil phasenbezogen beschriften und anlegen – Philosophische Problemfrage antizipieren und darauf bezogen Prä-Konzepte in Form von Strukturmodellen explizieren ! weiteres A-Puzzleteil beschriften und anlegen (Ende 1. Sequenz)

B. Textverständnis (2. Puzzelrunde) Erste Kontextualisierungsphase: – Erarbeitung des historischen Kontextes ! B-Puzzleteil phasenbezogen beschriften, kritisch prüfen, gegebenenfalls verbessern und anlegen

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Vgl. Martens, Ekkehard: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik, a.a.O., S. 105 – 106. Dieser Begriff ist in einem gewissen Sinne redundant, da durch die Horizontverschmelzung bereits eine Horizonterweiterung erfolgt. Er ergibt bezüglich der Darstellung der Prozessstruktur der Textpuzzlemethode jedoch Sinn, da er anzeigt, dass der neu erschlossene Horizont durch zusätzliche hermeneutische Vertiefungen erweitert wird.

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Vorbereitungsphase: – Markierung zentraler Begriffe und Textstellen, Wort- und erste inhaltliche Klärungen ! Abschnitte/Kapitel für die Intensivphase festlegen (Ende 2. Sequenz)

2. Schritt: Immanentes Textverstehen Intensivphase (3. Puzzelrunde)

– philosophische Problemfrage rekonstruieren und mit der antizipierten Problemstellung abgleichen ! gegebenenfalls darauf bezogen Prä-Konzepte in Form von Strukturmodellen explizieren (gegebenenfalls überarbeiten) ! A-Puzzleteil phasenbezogen beschriften, kritisch prüfen, gegebenenfalls verbessern und anlegen – textanalytische Erarbeitung der zentralen Abschnitte/Kapitel, Ergebnisse fixieren ! C-Puzzleteile phasenbezogen beschriften Erste Puzzelphase: – Gesamtstruktur erarbeiten und ein fachlich korrektes und verbindliches Gesamtergebnis erzeugen ! C-Puzzleteile inhaltlich kritisch prüfen, gegebenenfalls verbessern, zusammenfügen und anlegen

3. Schritt: Textüberschreitung C. Horizontverschmelzung (4. Puzzelrunde) Zweite Kontextualisierungsphase: – Beantwortung der philosophischen Problemfrage (= Orientierungsgehalt der Ganzschrift) und gegebenenfalls Abgleich derselben mit den Strukturmodellen ! APuzzleteil phasenbezogen beschriften, inhaltlich kritisch prüfen und gegebenenfalls verbessern – Revision der hermeneutischen Leit- und Teilfrage(n), Fixierung offener und neuer Fragen – Übertragung der gewonnen Erkenntnisse auf die gegenwärtige Situation = Bewertung des tatsächlichen Orientierungsgehaltes der Ganzschrift ! Beschriftung des obigen A-Puzzleteils vervollständigen und dieses anlegen

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Reflexionsphase: – Auswertung der Arbeit in den Teams und Gruppen sowie Bewertung des Gesamtverfahrens (Ende 3. Sequenz)

D. Horizonterweiterung (optional, beliebig oft) (5.–X. Puzzelrunde) Erschließungsphase: – Jeweiligen Erweiterungstext erschließen ! zugrunde liegende Problemfrage und zentrale Aussagen und/oder Argumente bzw. den Gedankengang erarbeiten ! Ergebnisse phasenbezogen auf A-Puzzleteil und C-Puzzleteile fixieren Zweite Puzzelphase: – Gesamtstruktur erweitern und ein fachlich korrektes und verbindliches Gesamtergebnis erzeugen ! Puzzleteile inhaltlich kritisch prüfen und gegebenenfalls verbessern ! A-Puzzleteil anlegen, C-Puzzleteile zusammenfügen und anlegen Reflexionsphase: siehe erste Reflexionsphase (Ende 4. Sequenz) Abb. 5: Reihen- und Prozesstruktur Der Name »Textpuzzlemethode« ergibt sich aus der Bedeutung, die dem Prozess des Puzzelns bei der Erarbeitung einer Ganzschrift beigemessen wird. Dieser Prozess und der Aspekt der nachhaltigen Ergebnissicherung sollen abschließend durch ein paar konkretisierende und mitunter wiederholende Erläuterungen weiter erhellt werden. Die Puzzelphase erfolgt in mindestens vier Runden: In der ersten Runde wird zunächst ein A-Puzzleteil mit der hermeneutischen Leitfrage und den zugehörigen Teilfragen horizontal »gelegt« bzw. an der Wand im Kursraum fixiert.72 An dieses wird dann ein weiteres A-Puzzleteil angelegt, auf dem die zu Beginn der Erarbeitung der Ganzschrift antizipierte philosophische Problemfrage samt der darauf bezogenen Schülerinnen- und Schüler-Antworten notiert ist. In der zweiten Puzzelrunde wird als nächstes, nachdem der historische Kontext erarbeitet worden ist, ein entsprechend beschriftetes B-Puzzleteil angelegt. In der ersten und zweiten Puzzelrunde wird sukzessive gemeinsam im Plenum gepuzzelt, auch um vorentlastende Zwischensicherungen vorzunehmen. Das Puzzle besteht nach diesen beiden Runden aus zwei A-Puzzleteilen, die 72

Dazu können die Puzzleteile auf Tapeten gezeichnet und ausgeschnitten werden, damit die auf den Puzzleteilen fixierten Ergebnisse im Kursraum gut sichtbar sind. IN DER ERPROBUNG WURDEN DIE PUZZLETEILE AUF TAPETENBAHNEN GEZEICHNET, ZUSAMMENGEKLEBT UND AUSGESCHNITTEN. SIE HATTEN DIE MASSE 120 X 98,5 CM.

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horizontal mit einem B-Puzzleteil verbunden sind (Struktur: A+A+B). In der dritten Puzzelrunde wird zunächst ein A-Puzzleteil mit der rekonstruierten philosophischen Problemfrage und gegebenenfalls den darauf bezogenen Schülerinnen- und SchülerAntworten an die bereits bestehende Puzzlestruktur angelegt (A+A+B+A). Wichtig sind dabei der Abgleich der in der ersten Puzzelrunde antizipierten Problemfrage mit der rekonstruierten Problemfrage und gegebenenfalls die Revision der Schülerinnen- und Schüler-Antworten. Dann erfolgt die erste eigentliche Puzzelphase in zwei Schritten, das abschnitt- bzw. kapitelverbindende und z. T. ko-konstruktive Puzzeln. Zuerst werden die Schüler/innen-Teams bzw. Gruppen zu Groß-Gruppen formiert, in denen sie sich über ihre Ergebnisse austauschen, um anschließend ihre C-Puzzleteile zusammenzulegen (C+C, C+C etc.). Durch das gemeinsame Beschriften der Verbindungsstücke wird der ko-konstruktive Austausch gefördert, der ein Verständnis des inhaltlichen Zusammenhangs der Ganzschrift begünstigt. Darauf erfolgt der finale Puzzelschritt. Dieser besteht im Zusammenlegen der aus jeweils zwei C-Puzzleteilen bestehenden großen Puzzleteile und deren Anlegen an die bestehende Puzzlestruktur im Plenum [A+A+B+A+(C+C)+(C+C)+(C+C)]. Spätestens hier sollten der Gesamtzusammenhang und gegebenenfalls die (argumentative) Funktion der Kapitel bzw. Abschnitte der Ganzschrift einsichtig werden. Bei schwachen Lerngruppen ist es womöglich ratsam, auf die Gruppenarbeitsphase zu verzichten und auch in der zentralen dritten Puzzelrunde systematisch-progredierend zu verfahren, also sukzessive weiter die Puzzleteile anzulegen und dabei immer wieder das Verständnis im Plenum zu sichern, bis die Gesamtstruktur der Ganzschrift erarbeitet ist. In einer vierten Puzzelrunde wird schließlich wieder ein A-Puzzleteil angelegt, auf dem jetzt jedoch die Antwort der Ganzschrift auf die rekonstruierte Problemfrage (Orientierungsgehalt) notiert ist sowie vier kursrepräsentative Bewertungen derselben [A+A+B+A+(C+C)+(C+C)+(C +C)+A]. Sollte der Schritt der »Horizonterweiterung« durchgeführt werden, schließen sich mindestens eine, grundsätzlich aber unbestimmt viele weitere Puzzelrunden an, die entweder systematisch-progredierend oder auch aspektiv-vernetzend gestaltet werden können. Letzteres würde bedeuten, dass die Schülerinnen und Schüler inhaltlich unterschiedliche Vertiefungsaspekte selbstständig in Gruppen oder Teams erarbeiten und diese dann vernetzend zusammenfügen, d. h. an die Gesamtstruktur anlegen. Hierbei handelt es sich allerdings um ein anspruchsvolles und daher womöglich eher unrealistisches Vorhaben, weil es bereits sehr gut ausgebildete Text- und Sozialkompetenzen voraussetzt. Die Ergebnisse der jeweiligen Erweiterungsschleifen werden je Text auf einem A-Puzzleteil (Problemfrage des Textes) und, abhängig von der Textlänge, auf einem oder mehreren C-Puzzleteilen (zentrale Aussagen bzw. Argumentation/Gedankengang des Textes) notiert und an den entsprechenden Stellen des bestehenden Puzzles vertikal angelegt. Der Durchlauf der zuvor beschriebenen Puzzelrunden sollte bei dem überwiegenden Teil der Schülerinnen und Schüler zu einem vertieften und umfassenden Textverständnis führen, da sie alle in den Erarbeitungsprozess der Ganzschrift intensiv und z. T. ko-konstruktiv eingebunden werden und an vielen Stellen Gelegenheiten zu kritischen

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oder klärenden Rückfragen und Ergänzungen bekommen (»Qualität der Beiträge«).73 Bei der Textpuzzlemethode geht es also nicht nur darum, eine Ganzschrift hermeneutisch-analytisch zu durchdringen, sondern auch darum, das so erzeugte Wissen kooperativ zu erarbeiten und damit das selbstständige Lernen zu fördern. Darüber hinaus zielt die Textpuzzlemethode darauf ab, überall da, wo nicht subjektiv-beliebige, sondern fachlich verbindliche Arbeitsergebnisse (historischer Kontext, zugrunde liegende Problemfrage, zentrale Aussagen und Argumente etc.) erzielt werden sollen, diese fachlich korrekt, verbindlich und durch eine geeignete Visualisierung nachhaltig zu sichern und so für weitere Unterrichtsvorhaben bereitzustellen. Gerade den Aspekt der nachhaltigen Zwischen- und abschließenden Gesamtsicherung der Arbeitsergebnisse betont auch Tilman von Brand: »Eine herausgehobene Bedeutung stellt schließlich die Sicherung der Ergebnisse zur langfristigen Konservierung dar. Selbst wenn es […] nicht immer einfach ist, eindeutige und einheitliche Ergebnisse zu erzielen, sollte doch der Versuch unternommen werden, diese so […] festzuhalten, dass sie bei allen Lernenden im Heft bzw. einem Ordner/Portfolio vorhanden sind.« 74 Vor allem am Ende der Puzzelphasen ist ein fachlich korrektes und verbindliches Gesamtergebnis zu erzeugen. Hierzu muss die Lehrkraft mitunter deutlich in die bearbeiteten Puzzleteile eingreifen, um Inhalte zu ergänzen, umzustellen oder zu verbessern. Diesbezüglich ist es sehr hilfreich, wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Ergebnisse nicht direkt auf das jeweilige Puzzleteil schreiben, sondern auf DIN-A3- oder DIN-A4-Blätter, die mit Kreppband auf dem Puzzleteil befestigt werden. Dies ermöglicht einen unkomplizierten Austausch mit gegebenenfalls neu erstellten oder von der Lehrkraft bereits vorbereiteten Blättern. Letzteres, also das vorbereitende Fixieren von korrekten und verbindlichen Inhalten seitens der Lehrkraft auf Blätter kann für die Moderation der Sicherungsphasen entlastend sein. IN DER ERPROBUNG BEKAMEN DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER VOR DEM ZUSAMMENLEGEN DER C-PUZZLETEILE ZU EINEM GROSSEN PUZZLETEIL (ERSTE PUZZELPHASE ) EIN LÖSUNGSBLATT, SO DASS SIE SELBSTSTÄNDIG ERGÄNZUNGEN UND KORREKTUREN VORNEHMEN 75 KONNTEN. ANSCHLIESSEND SICHTETE DIE LEHRKRAFT DIE PUZZLETEILE. MITUNTER WAREN ERGÄNZUNGEN UND VERBESSERUNGEN NOTWENDIG. ERST NACH DIESER FACHLICHEN PRÜFUNG DURFTEN DIE PUZZLETEILE ZUSAMMENGELEGT UND DIE VERBINDENDEN BEGRIFFE BESTIMMT UND NOTIERT WERDEN. ZUDEM STELLTE DIE LEHRKRAFT NACH DER PRÄSENTATION DER ERGEBNISSE DURCH DIE SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER (ERSTE PUZZELPHASE ) EBENFALLS NOCH EINMAL DIE INHALTLICHEN ZUSAMMENHÄNGE DEUTLICH HERAUS. Neben einem fachlich korrekten und verbindlichen Gesamtergebnis ist in den Sicherungsphasen, also dann, wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Ergebnisse zum Zweck der Verbindung der Puzzleteile 73

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Vgl. Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen, a.a.O., S. 15 – 18, S. 21 und S. 60 – 61. Die Sorge für eine fachlich solide Ergebnissicherung sowohl am Ende der Erarbeitungsphasen als auch im Verlauf der Puzzelphasen obliegt natürlich der Lehrkraft, die hierzu z.B. vorbereitete Lösungsblätter (in Form von ausgefüllten Puzzleteilen) den einzelnen Teams bzw. Gruppen zur selbstständigen Ergebniskontrolle und Verbesserung zur Verfügung stellen kann. von Brand, Tilman: Ganzschriften im Deutschunterricht. Mittelfristige Unterrichtsplanung zu Romanen, Novellen, Dramen und Graphic Novels, a.a.O., S. S. 90. Für die Bewertung der Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler ist zu empfehlen, die Puzzleteile zu fotografieren, bevor die Lösungsblätter reingereicht werden.

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vorstellen, besonders auch auf das fachsprachliche Sprechen zu achten.76 Zur nachhaltigen Sicherung des Gesamtergebnisses dient bei der Textpuzzlemethode die Puzzlestruktur77, die sich ebenfalls am Sequenzdiagramm78 orientiert und, im Unterrichtsraum aufgehängt, visuell gegenwärtig bleibt, was zudem das Hinzufügen weiterer Puzzleteile (s. o.) ermöglicht. So werden nicht nur die hermeneutischen Erweiterungen (vgl. Abb. 5) veranschaulicht, sondern gegebenenfalls auch die Ergebnisse aus nachfolgenden Unterrichtsvorhaben, wenn diese ebenfalls zur Erweiterung des Puzzles und damit des hermeneutischen Kontextes hinzugefügt werden, was natürlich voraussetzt, dass diese Ergebnisse auf entsprechenden Puzzleteilen notiert wurden. Insofern können mit der Puzzlestruktur womöglich die Themen und zugehörigen Ergebnisse eines ganzen Halbjahres mit der Ganzschrift anschaulich in Verbindung gebracht werden. Aufgrund der vorherigen Erläuterungen sollte jedem erfahrenen Praktiker bzw. jeder erfahrenen Praktikerin bereits klar geworden sein, dass die erfolgreiche Anwendung der Textpuzzlemethode sehr voraussetzungsreich ist und daher einer guten organisatorischen und methodischen Vorbereitung bedarf. Für die Durchführung ist es dann besonders wichtig, die Methode lerngruppenbezogen zu modifizieren, indem z. B. Verfahrensschritte vereinfacht oder gegebenenfalls weggelassen werden, wie beispielsweise der optionale Schritt D der Textüberschreitung, die Horizonterweiterung. Außerdem ist jeder Prozessschritt auf lerngruppenbezogen notwendige (sprachsensible) Unterstützungsmaßnahmen zu befragen. Trotz der Herausforderung, die die Methode in der Umsetzung für alle Beteiligten zweifelsohne und ganz besonders für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler darstellt, fördert sie doch andererseits das selbstständige Lernen, zentrale philosophische Kompetenzen und besonders das Verstehen philosophischer Zusammenhänge. Quelle: Goldbeck, Steffen: »Philosophisch puzzeln. Philosophische Ganzschriften mit der Textpuzzlemethode erschließen, in: Gerber, Sophia, Heise, Melanie, Tiedemann, Markus (Hrsg.): Ganzschriften im Philosophie- und Ethikunterricht. Anachronismus in Zeiten der Digitalisierung oder Gegengewicht zur Häppchenkultur?, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 22, Thelem, Dresden 2022, S. 145 – 167.

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Vgl. Boing, Maik; Grannemann, Katharina; Lange-Weber, Stephan: »Cluster Gesellschaftswissenschaften«, a.a.O., S. 92 – 93. Um diese abschließend allen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung zu stellen, sind Formen der nachträglichen Digitalisierung möglich, wie z.B. die Erstellung eines Fotos der erarbeiteten Gesamtstruktur, das dann z.B. auf einer Lernplattform hochgeladen wird. Vgl. Fußnote 52.

Zehn Arten, einen Text zu lesen Johannes Rohbeck

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exte verstehen sich nicht von selbst. Zum Textverständnis gehören vielmehr eine aktive Leserin und ein aktiver Leser, die sich fremdes Wissen selbständig aneignen. Die minimale Anforderung an die Leserin oder den Leser besteht darin, die Gedanken einer Autorin oder eines Autors nachzuvollziehen, was jedoch ohne eigenes Denken gar nicht möglich wäre, die maximale darin, sich den Sinn eines Textes nicht vorgeben zu lassen, sondern ihn selbst zu erzeugen. Dazwischen gibt es eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, die eines gemeinsam haben: Sie erfordern jeweils bestimmte Methoden der Interpretation. Nun befinden sich die Philosophie und deren Didaktik in der komfortablen Lage, über eine eigene Theorie des Verstehens zu verfügen – über die Hermeneutik. Die Philosophiedidaktikerinnen und Philosophiedidaktiker sind gut beraten, diese hausgemachten Ressourcen für die Lektüre im Unterricht zu nutzen. Doch reicht ein solcher Rückbezug nicht aus, denn die Hermeneutik stellt keine einheitliche Formation dar, sondern fächert sich historisch und systematisch in mehrere Richtungen auf: Sie versteht sich 1. als ›objektive‹ Interpretation, 2. als Suche nach der Intention des Autors, 3. als Deutung im kulturellen Kontext oder 4. als philosophische Hermeneutik bis hin zur Grenze 5. der Dekonstruktion. In diesen hermeneutischen Varianten liegen je spezifische didaktische Potentiale. Außer der Hermeneutik gibt es bekanntlich noch weitere Denkrichtungen: 6. die Phänomenologie, 7. die analytische Philosophie, 8. die Dialektik, 9. den Konstruktivismus und 10. den Strukturalismus. Es wäre absurd, diesen Richtungen das Verständnis philosophischer Texte absprechen zu wollen. Im Gegenteil, jede Strömung hat eigene Deutungstheorien ausgearbeitet. Zwar bildet die Hermeneutik in puncto Interpretation das methodische Zentrum, aber selbstverständlich werden auch an der Peripherie Texte interpretiert. Nur geschieht dies eben auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Ziel dieses Unterrichtsvorschlags ist es, die Methoden der verschiedenen Denkrichtungen bei der Textlektüre zur Geltung zu bringen.1 Die Schülerinnen und Schüler 1

Vgl. Rohbeck, Johannes: »Didaktische Potenziale philosophischer Denkrichtungen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 82 – 93 (Wiederabdruck in: Rohbeck, Johannes: Didaktik der Philosophie und Ethik, Thelem, Dresden 42008, S. 73 –88) und vgl. Rohbeck, Johannes: »Didaktische Transformationen«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 48 – 56 (Wiederabdruck unter: Rohbeck, Johannes: »Der transformative Ansatz«, in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019, S. 53 – 70.

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sollen befähigt werden, diese Methoden zur Interpretation philosophischer Texte selbständig anzuwenden. Wie lässt sich diese methodische Kompetenz vermitteln? Dazu eignen sich präzise gestellte Aufgaben. Natürlich steht es den Lehrenden frei, die methodischen Hintergründe zu erläutern. Doch die didaktische Kunst besteht darin, dass es auch ohne Exkurse geht. Die Aufgaben sind so zu formulieren, dass jeweils eine bestimmte methodische Ausrichtung erkennbar und praktizierbar wird. Dieses Unterrichtsverfahren soll nun an einem Beispiel demonstriert werden. Einen einzigen Text zugrunde zu legen, hat den Vorteil, dass die Unterschiede der Methoden, deren Leistungen und Grenzen deutlich werden. Der Text selbst sollte bekannt sein, damit man sich auf Methodenfragen konzentrieren kann.2 Und er sollte hinreichend dicht sein, damit sich der methodische Aufwand lohnt. Die Textpassage, die ich hierzu ausgewählt habe, erfüllt diese Kriterien in besonderem Maße: Es handelt sich um den Anfang der Nikomachischen Ethik, wo Aristoteles erklärt, was er unter Glück versteht, indem er zwischen den Tätigkeitsarten Herstellen (poiesis) und Handeln (praxis) unterscheidet. Dieser »Klassiker« hat seit rund 2000 Jahren so viele Interpretationen über sich ergehen lassen, dass sich meine Proben auf zahlreiche Vorarbeiten stützen können. Die folgende Demonstration bezieht sich auf die erwähnten zehn Denkrichtungen und deren Methoden.

 Aristoteles: Nikomachische Ethik3

Jedes praktische Können und jede wissenschaftliche Untersuchung, ebenso alles Handeln und Wählen strebt nach einem Gut, wie allgemein angenommen wird. Daher die richtige Bestimmung von »Gut« als »das Ziel, zu dem alles strebt«. Dabei zeigt sich aber ein Unterschied zwischen Ziel und Ziel: das eine Mal ist es das reine Tätig-sein, das andere Mal darüber hinaus das Ergebnis des Tätig-seins: das Werk. Wo es Ziele über das Tätig-sein hinaus gibt, da ist das Ergebnis naturgemäß wertvoller als das bloße Tätigsein. Da es aber viele Formen des Handelns, des praktischen Könnens und des Wissens gibt, ergibt sich auch eine Vielzahl von Zielen: Ziel der Heilkunst ist die Gesundheit, der Schiffsbaukunst das Schiff, das Ziel der Kriegskunst: Sieg, der Wirtschaftsführung: Wohlstand. Überall nun, wo solche »Künste« einem bestimmten Bereich untergeordnet sind – so ist z. B. der Reitkunst untergeordnet das Sattlerhandwerk und andere Handwerke, die Reitzeug herstellen, während die Reitkunst ihrerseits, wie das gesamte Kriegswesen, unter der Feldherrnkunst steht, und was dergleichen Unterordnungen 2

3

Dabei setze ich generelle und elementare Verfahren der Texterschließung voraus (schwierige Satzkonstruktionen erschließen, Fremdwörter klären, Sinneinheiten erkennen usw.); ausführlich dazu: Grzesik, Jürgen: Textverstehen lernen und lehren. Geistige Operationen im Prozeß des Textverstehens und typische Methoden für die Schulung zum kompetenten Leser, Grundlagentexte Schulpädagogik, Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung, Stuttgart 1990, insbesondere S. 169ff. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. und Nachwort von Dirlmeier, Franz, Anmerkungen von Schmidt, Ernst A., RUB 8586, Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 1969, bibliographisch ergänzte Auflage 1983, NE I.1 1094 a1– 1094 a21 (S. 5 – 6).

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mehr sind –, da ist durchweg das Ziel der übergeordneten Kunst höheren Ranges als das der untergeordneten: um des ersteren willen wird ja das letztere verfolgt. Hierbei ist es gleichgültig, ob das Tätig-sein selber Ziel des Handelns ist oder etwas darüber hinaus wie bei den eben aufgezählten Künsten. Wenn es nun wirklich für die verschiedenen Formen des Handelns ein Endziel gibt, das wir um seiner selbst willen erstreben, während das übrige nur in Richtung auf dieses Endziel gewollt wird, und wir nicht jede Wahl im Hinblick auf ein weiteres Ziel treffen – das gibt nämlich ein Schreiten ins Endlose, somit ein leeres und sinnloses Streben –, dann ist offenbar dieses Endziel »das Gut« und zwar das oberste Gut.

 Hermeneutik als ›objektive‹ Interpretation Die Annahme, ein Text enthalte einen bestimmten Sinn, stellt sozusagen die ›natürliche‹ Einstellung des Lesers zu seinem Gegenstand dar. Die provokative Bezeichnung ›objektiv‹ meint zweierlei: Zum einen bezieht sie sich auf einen vorgegebenen Inhalt, der zu entdecken ist; zum andern bedeutet ›objektiv‹ die intersubjektive Verständigung auf eine konsensfähige Interpretation. Um einen so betrachteten Text zu interpretieren, haben sich im Unterricht einige methodische Schritte bewährt: – – – –

das behandelte Problem erkennen, die verwendeten Begriffe klären, die Argumentation rekonstruieren, Kritik üben und eigenes Urteil bilden.4

Erst wenn die eigentliche Textarbeit getan ist, werden die Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert, subjektiv Stellung zu nehmen – also unter der prinzipiellen Voraussetzung der Trennung von Textinhalt und Leserurteil. Man mag diese Methode für antiquiert halten – sogar für autoritär, weil ja im Zweifelsfall die Lehrerin bzw. der Lehrer bestimmt, was im Text steht, indem er beispielsweise (wie in der folgenden Interpretation) andere nur ihm bekannte Textstellen heranzieht. Er fungiert wie ein allwissender Erzähler, als Sachwalter eines tradierten 4

Vgl. Rehfus, Wulff D.: Der Philosophieunterricht. Kritik der Kommunikationsdidaktik und unterrichtspraktischer Leitfaden, problemata, Bd. 109, frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 121– 138. Gewährsmann ist: Brandt, Reinhardt: Die Interpretation philosophischer Werke. Eine Einführung in das Studium antiker und neuzeitlicher Philosophie, problemata 99, frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984. – Vgl. Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2: Methodenfragen, S. 16 – 24, S. 16; vgl. auch Langebeck, Klaus: Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 3 – 11, S. 5 – 10, der zwischen lehrer- und schülerorientierten Methoden unterscheidet, und vgl. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien.

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Bildungsgutes. Doch hat das Verfahren auch seine Berechtigung. Denn es ist handwerklich solide und seit Generationen erprobt. Außerdem haben die Schülerinnen und Schüler ein Anrecht darauf, einen gewissen Standard der Interpretation kennenzulernen. Die entsprechende Aufgabe lautet:  Geben Sie den Text wieder. – Unterstellt wird bei den Menschen (wie bei den Lebewesen) das Streben nach einem Gut, das zum Ziel erklärt wird.5 Ausgangspunkt der Ethik ist daher ein solches Tätigsein. Hier unterscheidet Aristoteles zwischen zwei Arten, und zwar ausdrücklich nach Art der Ziele: die erste Art Tätigsein hat ihr Ziel außer sich als Werk (z. B. ein Schiff), die zweite Art ist hingegen reines Tätigsein, sie hat ihr Ziel in sich selbst. An anderer Stelle bezeichnet Aristoteles diese beiden Typen als Hervorbringen bzw. Herstellen (poiesis) und als Handeln (praxis): »Hervorbringen und Handeln sind zwei verschiedene Tätigkeiten […]. Denn das Hervorbringen hat ein Endziel außerhalb seiner selbst, beim Handeln aber kann dies nicht so sein, denn wertvolles Handeln ist selbst Endziel.« 6 Das so bestimmte Handeln wird höher bewertet als das Herstellen.

 Intentionalistische Hermeneutik In dieser Methode wird nach der Intention des Autors gefragt. Dabei setzt man voraus, dass der Autor seinen Text in der Absicht geschrieben hat, eigene Gedanken anderen mitzuteilen, und dass die Leserin bzw. der Leser grundsätzlich imstande ist, diese Schreibabsicht zu erschließen.7 Zwar ähneln die methodischen Schritte denjenigen der ›objektiven‹ Interpretation, aber sie zielen jetzt mehr auf die Strategie und beabsichtigte Wirkung der Argumentation. Auch dieser Ansatz scheint mir sinnvoll zu sein. Denn selbst ein Befürworter der Dekonstruktion, in der sich die Autorenschaft verflüchtigt, wird zugestehen, dass die Intention auch dann noch als regulative Idee dient, wenn unbeabsichtigte Effekte des Textes beschrieben werden sollen. Im Übrigen gebietet es das hermeneutische Prinzip der Gutwilligkeit, den Autor an seinen eigenen Ansprüchen zu messen. Didaktisch wichtig ist diese Variante, weil sie es erlaubt, sich in die Situation eines Autors zu versetzen. Das eröffnet die Suche nach alternativen Denkmöglichkeiten. Die Aufgabe lautet: 5 6 7

Höffe, Otfried: Aristoteles, BsR 506, C.H. Beck, München 1996, S. 195 – 196. Aristoteles: Nikomachische Ethik, a.a.O., N.E. VI.4 1140 a2 (S.157) und N.E. VI.5, 1140 b6 – 7 (S. 159). Vgl. Ridder, Lothar: »Textarbeit im Philosophieunterricht aus hermeneutisch-intentionalistischer Sicht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 124 – 132 und vgl. Ridder, Lothar: »Methoden der Interpretation im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2001, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 116 – 143. Ridder beruft sich auf: Bühler, Axel: »Hermeneutischer Intentionalismus und die Interpretation philosophischer Texte«, in: Logos N.F. 2, 1995, S. 1– 18.

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 Erschließen Sie die Schreibabsicht des Autors. – Es stellt sich also die Frage, was Aristoteles mit seiner Unterscheidung zwischen Herstellen und Handeln bezweckt. Offensichtlich verfolgt er die Absicht, das Glück philosophisch zu begründen – und zwar nicht nur allgemein als Tätigkeit, sondern als einen besonderen Typ selbstzweckhafter Handlung. Dieser formalen Bestimmung entspricht die spätere inhaltliche Auszeichnung des politischen Handelns, das auf diese Weise ethisch legitimiert wird (1094a, a.a.O., S. 6). Gemeint ist damit die ehrenvolle Tätigkeit des Polisbürgers, die aufgewertet werden soll. Zugleich wertet Aristoteles die herstellende Tätigkeit, also die materielle Arbeit ab und schließt damit Handwerker und Sklaven aus der Politik aus.

 Hermeneutik und kultureller Kontext Die Schreibabsicht zu erschließen, erweist sich als umso schwieriger, je größer der zeitliche Abstand zum Autor ist. Das trifft besonders für Aristoteles zu. Er ist gerade nicht unser Dialogpartner und hat in einem völlig anderen Kontext philosophiert. Unter der Voraussetzung dieser Alterität ist eine Aktualisierung erst sinnvoll. Und um die historische Differenz zu überbrücken, empfiehlt es sich, den kulturellen Kontext zu erläutern: Biographie, Sozialgeschichte und Politik, Kunst, Wissenschafts- und Philosophiegeschichte.8 Die Interpretation wird dadurch letztlich erleichtert, obwohl das Verfahren natürlich aufwendiger ist. Die Aufgabe lautet:  Erläutern Sie die Aussagen im kulturellen Kontext. – Politische und ethische Tugend wird meist erst zum Thema, wenn sie in Gefahr gerät. So ist auch über die Zeit des Aristoteles zu berichten, dass sich der Stadtstaat Athen in einer politischen Krise befand.9 Die Bürger nahmen ihre Pflichten weniger wahr, Gruppeninteressen begannen zu dominieren, vor allem die Interessen der emporgekommenen Reichen. Generell geht es um Idee und Wirklichkeit der antiken Polis. Die Kehrseite ist der politische Ausschluss von Sklaven, Barbaren und Frauen. – Ebenso hilfreich für das Verständnis der zitierten Textpassage sind Hinweise auf den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext: Das anfangs unterstellte Streben (orexis) wird in der aristotelischen Natur- und Seelenkunde expliziert (›Über die Bewegung der Tiere‹, ›Über die Seele‹).

8

9

Vgl. Rohbeck, Johannes: »Begriff, Beispiel, Modell. Zur Arbeit mit philosophischen Texten anhand des ›Leviathan‹ von Thomas Hobbes«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 26 – 42; vgl. auch Rohbeck, Johannes: »Philosophiegeschichte als didaktische Herausforderung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40, Jg. 1992, Heft 1/2, S. 137– 144 und vgl. Rohbeck, Johannes.: »Philosophiegeschichte als Bildungsaufgabe«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 1: Philosophisches Engagement, S. 91– 100. Vgl. Höffe, Otfried: Aristoteles, a.a.O., S. 13ff., S. 100ff. und S. 248 – 249.

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 Philosophische Hermeneutik Worin bestehen nun die didaktischen Potentiale der philosophischen Hermeneutik?10 Sie enthält Ansätze, die durchaus in die Richtung späterer Entwicklungen der Rezeptionsästhetik und Dekonstruktion verweisen. Das betrifft erstens die Betonung von Fremdheit und Differenz, die das Verstehen überhaupt zum Problem werden lassen; und zweitens die aktive, ja sogar produktive Rolle der Leserin bzw. des Lesers. Demnach verfügt jede Leserin und jeder Leser über ein bestimmtes Vorverständnis, das die Lektüre maßgebend prägt und das sich im Laufe der Textarbeit verändert. Ein vertieftes Verständnis entsteht, wenn die beiden Sinnhorizonte miteinander verschmelzen. Die »Horizontverschmelzung« lässt sich in eine spezielle Unterrichtsmethode übertragen, indem das Vorverständnis der Lernenden und das später erarbeitete Textverständnis explizit gemacht und miteinander konfrontiert werden. Diese Methode des verzögernden Lesens dient dazu, eine Spannung von Vorverständnis und Verständnis zu erzeugen und dadurch die Vermittlung beider Seiten zu reflektieren. Für den Philosophieunterricht eignen sich Schlüsselbegriffe, Argumente und Denkfiguren, um einen spezifisch philosophischen Erwartungshorizont zu schaffen. Dieses Verfahren ist didaktisch wichtig, weil die Schülerinnen und Schüler als autonome Leserinnen und Leser ernst genommen werden. Die konkrete Schreibaufgabe vor der Lektüre lautet:  Formulieren Sie vor der Lektüre Ihre Erwartungen an den Text und konfrontieren Sie dieses Vorverständnis mit dem folgenden Textverständnis. – Die Schülerinnen und Schüler schreiben ihre Vorstellungen auf, die Sie mit dem Begriff Glück oder mit einer Tätigkeit, die glücklich macht, verbinden. Die schriftlich fixierte Lese-Erwartung wird sodann mit der Lese-Erfahrung verglichen. Die Erwartungen können sich bestätigen, sie können jedoch auch enttäuscht oder übertroffen.

Dekonstruktion Aus dem heutigen Abstand betrachtet, sind Hermeneutik und Dekonstruktion weder identisch noch schließen sie sich gegenseitig aus, wohl aber handelt es sich um eine wichtige Akzentverschiebung. In der dekonstruktivistischen Methode radikalisiert sich

10

Vgl. Steenblock, Volker: »Hermes und die Eule der Minerva. Zur Rolle der Hermeneutik in philosophischen Bildungsprozessen«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Philosophische Denkrichtungen, a.a.O., S. 81– 115 und vgl. auch Steenblock, Volker: Philosophische Bildung. Einführung in die Philosophiedidaktik und Handbuch: Praktische Philosophie, Münster 2000, insbes. S. 100 – 102. Vgl. darüber hinaus Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1960, vgl. ferner Grondin, Jean: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991 und vgl. Ineichen, Hans: Philosophische Hermeneutik, Handbuch Philosophie, Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau 1991.

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die Hermeneutik.11 Da die Herstellung eines gemeinsamen Horizonts von Autorin bzw. Autor und Leserin bzw. Leser prinzipiell in Frage gestellt wird, gibt es keinen eindeutigen Textsinn mehr. Viele Deutungen sind möglich, sicher sind allein die endlosen Verweisungen der Texte aufeinander. Die Autorin bzw. der Autor war bereits Leserin bzw. Leser, die Leserin bzw. der Leser wird zur Autorin bzw. zum Autor. Die Lernenden werden dazu aufgefordert, insbesondere nach Brüchen, Lücken und Rändern, also nach verborgenen Aussagen zu suchen. Dekonstruktion bedeutet hier im wörtlichen Sinn: etwas im Text Unsichtbares sichtbar machen oder ein Randphänomen ins Zentrum rücken. Die Aufgabe lautet etwa:  Formulieren Sie, was nicht im Text steht. – Hier könnte beispielsweise das Schweigen über die Handwerker und Sklaven zur Sprache kommen. Die Schülerinnen und Schüler schreiben einen Essay, in dem sie diesen sozialen Gruppen eine Stimme verleihen. Sie kehren die Rangfolge von Herstellen und Handeln um und stellen das Thema vom Standpunkt einer höher bewerteten poiesis dar.

Phänomenologie Diese Denkrichtung passt hier nicht so recht, weil in ihr weniger Texte als unmittelbare Wahrnehmungen im Vordergrund stehen.12 Gleichwohl können auch bei der Textlektüre Methoden der Phänomenologie zum Zuge kommen. Ich beziehe mich dabei auf die phänomenologische Leseforschung, in der ebenfalls Bewusstseinszustände zum Thema gemacht werden.13 Auf diese Weise setzt man Ansätze der philosophischen 11

12

13

Vgl. Gefert, Christian: »Text und Schrift. Dekonstruktivistische Verfahren in philosophischen Bildungsprozessen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, Jg. 2000, Heft 2: Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 133 – 139; vgl. auch Gefert, Christian: »Die Arbeit am Text – das Schweigen der Schrift und Strategien der Texteröffnung«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Philosophische Denkrichtungen, a.a.O., S. 144 – 164 und vgl. Hiß, Torsten: »Vom Lesen zum Schreiben – vom Schreiben zum Lesen. Strukturalistische und dekonstruktivistische Tätigkeiten im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, Jg. 2000, Heft 2: Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 140 – 148. Vgl. darüber hinaus auch Zima, Peter V.: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen – Basel 1994. Vgl. Werner, Ditmar: »Alltag und Lebenswelt: Perspektiven einer didaktischen Phänomenologie«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, Jg. 2000, Heft 2: Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 110 – 116, vgl. auch Werner, Ditmar: »Didaktische und methodische Grundfiguren für einen phänomenologisch ausgerichteten Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Philosophische Denkrichtungen, a.a.O., S. 165 – 199 und vgl. Thomas, Philipp: »Habe Mut, dich deiner eigenen Anschauung zu bedienen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 23, 2001, Heft 2: Philosophische Kompetenzen, S. 104 – 112. Im Anschluss an die Rezeptionsästhetik: vgl. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk, Niemeyer Max Verlag, Halle (Saale) 1931, vgl. auch Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens – Theorie ästhetischer Wirkung, UTB 636, Wilhelm Fink Verlag, München 1976 und vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, 3 Bde.,

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Hermeneutik und der Rezeptionsästhetik fort. Wurden dort die persönlichen Lese-Erwartungen thematisiert, wird jetzt die individuelle Lese-Erfahrung reflektiert. Die Aufgabe lautet:  Beschreiben Sie Ihre eigenen Gedanken und Empfindungen bei der Lektüre des Textes. – Dies könnte etwa in Form eines fiktiven Briefes geschehen, der sich für die Mitteilung subjektiver Befindlichkeiten besonders gut eignet. Mögliche Leitfragen sind: Welchen Eindruck übt der Text auf Sie aus? Welche Verständnisschwierigkeiten fallen auf? Was assoziieren Sie bei den Aussagen: »Streben nach einem Gut« oder »leeres und sinnloses Streben«? Welche Gefühle verbinden Sie damit?

Analytische Philosophie In kaum einer Denkrichtung kommt der methodische Aspekt so zum Vorschein wie in der analytischen Philosophie, stellt sie doch verhältnismäßig klare Regeln der Begriffsdefinition und Argumentation auf.14 Damit verlagert sich das Interesse vom historischen Kontext zur systematischen Geltungsfrage. Derartige theoretische Hilfsmittel lassen sich bei jedem Thema im Philosophieunterricht einsetzen; sie können gelernt und selbständig angewendet werden. Zunächst können mit Hilfe dieser Methode philosophische Begriffe geklärt werden.15 In unserem Fall wähle ich die zentralen Begriffe ›Herstellen‹ und ›Handeln‹ aus, die in einer bestimmten Relation zueinander stehen. Darüber hinaus bedarf es einer Analyse der Argumentation16, weil diese Begriffe ja keine Tätigkeiten empirisch abbilden, son-

14

15

16

Bd 3: Die erzählte Zeit (Übergänge), übers. von Rochlitz, Rainer, Wilhelm Fink Verlag, München 1991, S. 270 – 293. Vgl. Hoche, Hans-Ulrich; Strube, Werner: Analytische Philosophie, Handbuch Philosophie, Verlag Karl Alber, Freiburg – München 1985, vgl. auch Runggaldier, Edmund: Analytische Sprachphilosophie, Grundkurs Philosophie, Bd. 11, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart – Berlin – Köln 1990 und vgl. Blume, Thomas; Demmerling, Christoph: Grundprobleme der analytischen Sprachphilosophie. Von Frege zu Dummett, UTB 2052, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 1998. Vgl. Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Begriffen im Philosophieunterricht«, in: Mitteilungen des Fachverbandes Philosophie 1984, Heft 25, S. 2 – 10, vgl. auch Engels, Helmut: »Wie man der Mehrdeutigkeit der Sprache im Philosophieunterricht begegnen kann«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 14, 1992, Heft 2: In Bildern denken I, S. 110 – 115, vgl. ferner Engels, Helmut: »Sprachanalytische Methoden im Philosophieunterricht: Mittel der Kritik, Hilfe beim Verstehen und Erkennen, Schutz vor den Fallstricken der Sprache«, in: Philosophische Denkrichtungen, a.a.O., S. 35 –80 und vgl. Leeuw, Karel van der; Mostert, Pieter: Philosophieren lehren. Ein Modell für Planung und Analyse und Erforschung des einführenden Philosophieunterrichts, Eburon, Delft 1988, insbes. S. 67–84. Vgl. darüber hinaus Wilson, John: Begriffsanalyse. Eine Einführung, übers. und hrsg. von Guth, Karin, RUB 9580, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1984 und vgl. Grzesik, Jürgen: Begriffe lernen und lehren. Psychologische Grundlage: Operative Lerntheorie. Unterrichtsmethoden: Typische Phasen. Unterrichtspraxis: Kommentierte Unterrichtsprotokolle, Klett Verlag, Stuttgart 1988. Vgl. Diesenberg, Norbert: »Begriffslernen – ›poiesis‹ und ›praxis‹ bei Aristoteles«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 12, 1990, Heft 3: Mündlich/Schriftlich II, S. 148 – 157, im Anschluss an Schnä-

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dern ihre Bedeutung allein aus dem gedanklichen Kontext erlangen. Es kommt darauf an, die formale Struktur eines bestimmten Typus von Tätigkeit (poiesis) zu analysieren, die wir heute als zweckrationales oder instrumentelles Handeln bezeichnen. Diese Begriffe werden also verstanden, wenn das entsprechende Handlungsschema begriffen ist. Die Aufgaben lauten:  Bestimmen Sie die Begriffe ›Herstellen‹ (poiesis) und ›Handeln‹ (praxis). – Offensichtlich liegen hier Relationsbegriffe vor, deren Gegensätze zu fixieren sind. Die Begriffe erhalten ihre Bedeutung aus den negativen Spiegelungen. Tätig sein Herstellen (poiesis)

Handeln (praxis)

- »um eines anderen willen«

- »um seiner selbst willen«

- Zweck außerhalb der Tätigkeit

- Selbstzweck

- untergeordnet und weniger wertvoll

- übergeordnet und wertvoll

- endloses, leeres und sinnloses Streben

- Endziel, oberstes Gut, Glück

- Technik (Künste)

- Politik

 Analysieren Sie die Argumentation, indem Sie ein entsprechendes Handlungsschema entwerfen. – Anhand eines von Aristoteles selbst gewählten Beispiels lässt sich die Handlungskette des ›Herstellens‹ rekonstruieren. Dabei verwandelt sich jeder Zweck (Z) einer Handlung in das Mittel (M) für einen nächstfolgenden, höheren Zweck und so fort. Erst in der ›Handlung‹ wird diese endlose Kette dreifach abgeschlossen: als Ende, höchste Stufe und Selbstreflexion.

delbach, Herbert: »Philosophische Argumentation«, in: Martens, Ekkehard, Schädelbach, Herbert (Hrsg.): Philosophie. Ein Grundkurs, 2 Bde., Bd. 2, re 457, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 683 – 707.

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Handlungsschema des Herstellens (poiesis)

Dialektik Analytik und Dialektik werden heute längst nicht mehr als einander ausschließende Richtungen behandelt, wie dies noch vor einigen Jahrzehnten üblich gewesen ist. Die Dialektik ergibt sich aus einer konsequenten Analyse, die bis an die Grenze getrieben wird. Die Argumente verwickeln sich in Widersprüche und setzen sich einer grundsätzlichen Kritik aus. Die Geltungsfrage spitzt sich zu. Das eröffnet die Perspektive für alternative Problemlösungen. Für die Lernenden bieten sich dabei zusätzliche Möglichkeiten, ihr kritisches Urteilsvermögen zu schärfen und nach eigenen Lösungen zu suchen. Die dafür angemessenen Aufgaben lauten:  Überprüfen Sie die Unterscheidung zwischen ›Herstellen‹ (poiesis) und ›Handeln‹ (praxis) mit Hilfe aristotelischer und eigener Beispiele. Formulieren Sie eine Kritik, indem Sie diese Unterscheidung ad absurdum führen. Entwickeln Sie daraus eine eigene Problemlösung. – Nimmt man Aristoteles beim Wort und betrachtet die Politik ganz konsequent als Praxis, dann zeigt sich, wie wenig selbstzweckhaft das politische Handeln letztlich ist, weil es natürlich auch Zwecke außerhalb seiner selbst hat: günstigenfalls das Wohl des Gemeinwesens, andernfalls nur Machtstreben und Ehrgeiz, wenn nicht noch schlimmer. Umgekehrt lässt sich feststellen: Beim Herstellen ist es keineswegs ausgeschlossen, dass dieser Handlungstyp nicht auch »um seiner selbst willen« Freude bereitet. Das kann jeder an eigenen Beispielen überprüfen.

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Der kategoriale Fehler liegt darin, dass Herstellen und Handeln als Klassen betrachtet werden. Denn es findet sich keine bestimmte Tätigkeit, die ausschließlich unter einem der beiden Begriffe subsumierbar wäre. Daher verbietet sich der einfache Gegensatz. Jedes finale Handeln ist auch instrumentell, wie jedes instrumentelle Handeln auch final ist. Hier liegt eine typisch dialektische Denkfigur vor: Jedes Extrem zweier Pole enthält selbst noch einmal beide Pole. Deutet man daher die Begriffe poiesis und praxis als unterschiedliche Aspekte menschlichen Handelns, können sie bis heute Geltung beanspruchen. Dann gibt es Handlungen, die in konkreten Situationen eher instrumentelle oder eher finale Züge tragen.

Konstruktivismus Diese Richtung knüpft zwar an die analytische Philosophie an, indem ebenfalls der Sprachgebrauch reflektiert wird, aber sie wendet sich zugleich gegen die Hermetik der logischen Argumentation. Stattdessen verweist man auf alltägliche und wissenschaftliche Praxis, aus der die formalen Strukturen hervorgegangen sind. Wie von ProtoPhysik lässt sich hier von Proto-Philosophie sprechen.17 In einem solchen genetischen Sinn besteht der Konstruktivismus in der Rekonstruktion philosophischer Begriffe, Aussagen und Theorien. Diese Methode hat für den Unterricht weitreichende Konsequenzen: Es werden nicht nur fertige Regeln gelernt, die auf Fallbeispiele anzuwenden

17

Vgl. Janich, Peter: Das Maß der Dinge. Protophysik von Raum, Zeit und Materie, stw 1334, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997, vgl. auch Jelden, Eva (Hrsg.): Prototheorien – Praxis und Erkenntnis, Leipziger Universitäts-Verlag, Leipzig 1995 und vgl. Rohbeck, Johannes: »Philosophieunterricht als Problem der Vermittlung«, in: Rehfus, Wulff D; Becker, Horst (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel GmbH, Düsseldorf 1986, S. 114 – 132.

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sind; vielmehr sollen die Regeln selbst aus der Reflexion auf die alltägliche Lebenspraxis gewonnen werden. Das berührt sich mit der Phänomenologie, die hier noch einmal auf andere Weise zum Einsatz kommen könnte. Die didaktische Pointe liegt darin, dass an die Alltagserfahrung der Schülerinnen und Schüler angeknüpft wird. Die Aufgabe lautet:  Rekonstruieren Sie das Handlungsschema des technischen Herstellens und des selbstzweckhaften Handelns aus Ihrer alltäglichen Erfahrung. – Am besten beginnt man mit einer Sammlung von Tätigkeiten, die sich unter die beiden Begriffe einordnen lassen. Als Beispiele für das Herstellen bieten sich Basteln, Schreiben, Zeichnen an. Beispiele für selbstzweckhaftes Handeln sind Sport treiben, Spielen, sich unterhalten. Wenn die Strukturen dieser Handlungstypen rekonstruiert sind, ergibt sich bei der folgenden Lektüre des Textes von Aristoteles ein Wiedererkennungs-Effekt. Das Textverständnis wird auf diese Weise vorbereitet und erleichtert. Die genauere Reflexion der eigenen Beispiele zeigt dann, dass sich die Merkmale »um eines anderen willen« und »um seiner selbst willen« nicht eindeutig zuordnen lassen. Dies schließt an die Ergebnisse der analytischen und dialektischen Kritik an.

Strukturalismus Nach dieser Methode bewegt man sich an der Oberfläche des Textes und versucht dessen Strukturen zu analysieren. Wie bei der Dekonstruktion steht der Text als Text im Vordergrund. Es geht also um die Art und Weise der Darstellung.18 Gegenstand der Untersuchung sind vor allem literarische Formen; in unserem Fall konzentriere ich mich auf die Struktur der Erzählung. Die Aufgabe lautet:  Untersuchen Sie die literarische Form der Erzählung.  Schreiben Sie den Text in eine andersartige Erzählung um.

18

Vgl. Bogdal, Michael (Hrsg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, WV studium, Bd. 156, Westdeutscher Verlag, Opladen 1990, vgl. auch Belgrad, Jürgen; Fingerhut, Karlheinz (Hrsg.): Textnahes Lesen. Annäherungen an Literatur im Unterricht, Schneider Verlag, Hohengehren 1998. – Ich habe mich anregen lassen durch den Romanisten Victor Klemperer, der das philosophische Werk Vom Geist der Gesetze von Montesquieu als eine Tragödie interpretiert hat: Vgl. Klemperer, Victor: Montesquieu, 2 Bde., Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 6/7, Carl Winters Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1914/15 und vgl. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, übers. von Kohlhaas, Peter, Figuren des Wissens/Bibliothek 18020, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 1991.

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– Im vorliegenden Fall eignen sich wieder die Relationsbegriffe Herstellen und Handeln, die den Text durchgehend strukturieren. Von dort richtet sich der Blick auf die narrative Struktur: Welche Geschichte erzählt Aristoteles? Welches Drama wird aufgeführt? Es beginnt mit einer Verheißung: Alle Menschen streben nach dem Guten, das Glück ist uns sicher, dank menschlicher Praxis. Wir leben im Paradies der Polisbürger. – Doch dann folgt die Bedrohung: Handwerker und Sklaven, ja Banausen machen sich breit mit ihren niederen Arbeiten. Schlimmer noch: Das technische Herstellen, die poiesis, führt auch uns in einen Progress, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint: »Das gibt nämlich ein Schreiten ins Endlose, somit ein leeres und sinnloses Streben«. Wir befinden uns in der existentiellen Gefahr einer Sinnkrise. – Zum Schluss kommt die Lösung und wohl auch Erlösung: Wir können die endlose Handlungskette schließen zur selbstbestimmten Praxis. Die heile Welt des guten Lebens ist wiedererlangt. Das Abenteuer ist bestanden, der Feind besiegt, und wir kehren beruhigt an den Ausgangspunkt zurück. Das liest sich wie ein Rührstück mit Happy-End. Wie sähe eine Erzählung mit tragischem Ende aus? Am Ende dieser Demonstration stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang der Denkrichtungen. Die zehn Methoden sind natürlich so nicht zwingend. Andere Einteilungen sind denkbar. Wie vielfach angedeutet, ergeben sich außerdem Übergänge, Überschneidungen und Mischformen: nicht nur innerhalb der hermeneutischen Richtungen, sondern auch zwischen Hermeneutik und Phänomenologie, analytischer Philosophie und Dialektik, Analytik und Konstruktivismus usw. Für die Reihenfolge waren drei Tendenzen maßgebend: erstens vom ›objektiven‹ Textinhalt zur subjektiven Interpretation, zweitens von der historischen Bedeutung zur systematischen Geltung und drittens von der rezeptiven Haltung zur kreativen Produktion. So bewegten sich die Methoden von traditionellen zu innovativen Aktionsformen, vom lehrer- zum schülerorientierten Unterricht. Entscheidend für die Auswahl und Kombination ist allein, welche Kompetenzen mit Hilfe dieser Methoden gefördert werden sollen. Quelle: Rohbeck, Johannes: »Zehn Arten, einen Text zu lesen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 23, 2001, Heft 4: Hermeneutik, S. 286 – 292.

»Nein, nicht schon wieder ein Text.« Textverstehen im Philosophie- und Ethikunterricht gezielt unterstützen durch geschlossene und halboffene Aufgabenformate* Alexander Chucholowski

 Relevanz des Textverstehens im Philosophie- und Ethikunterricht Mag sich der Ethikunterricht in den letzten Jahrzehnten auch gewandelt haben und andere, prozessbezogene Kompetenzen wie das Argumentieren, Diskutieren und Urteilen an Bedeutung gewonnen haben, so spielen Texte, insbesondere philosophische, noch immer eine zentrale Rolle im Philosophie- und Ethikunterricht, sowohl für den Erwerb der prozessbezogenen als auch den Erwerb der inhaltsbezogenen Kompetenzen, d. h. des überprüfbaren Wissens. Dies zeigt sich nicht zuletzt bei Leistungsfeststellungen wie schriftlichen Lernkontrollen oder im Abitur. Daraus folgt, dass der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler im Philosophie- und Ethikunterricht maßgeblich an die Ausbildung der Fähigkeit, Texte zu verstehen, gekoppelt ist und die unterrichtlichen Erfahrungen zeigen, dass die Schülerinnen und Schüler gerade hier besonders häufig scheitern. Die Kompetenz, philosophische Texte zu verstehen, setzt sich aus verschiedenen Teilkompetenzen – etwa Leseflüssigkeit, Dekodieren u. a. – zusammen. Aus diesem Grunde ist der Prozess des Verstehens enorm komplex. Er erfordert eine Vielzahl von Operationen des Lesers1 und verlangt anspruchsvolle Abstraktionsleistungen, die einem Expertenleser – wie es Autoren philosophischer Texte meist sind – so vertraut sind, dass er die Tendenz hat, dies zu vergessen oder zumindest zu vernachlässigen2. *

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An dieser Stelle möchte ich mich für die vielen hilfreichen Anregungen und Anmerkungen meiner Kolleginnen Anita Rösch und Eva Müller bedanken. Jürgen Grzesik hat dies eindrücklich an dem Beispiel eines Brecht-Gedichtes aufgezeigt, in: Grzesik, Jürgen: Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen, Waxmann Verlag, Münster 2005, S. 134 – 137. Vgl. auch Schnotz, Wolfgang und Dutke, Stephan: »Kognitionspsychologische Grundlagen der Lesekompetenz: Mehrebenenverarbeitung anhand multipler Informationsquellen«, in: Schiefele, Ulrich; Artelt, Cordula, Schneider, Wolfgang; Stanat, Petra (Hrsg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von Pisa 2000, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, S. 61– 99. Da es mir in diesem Beitrag nur um eine spezifische Phase des Textverstehens geht, habe ich von einer Darstellung des gesamten Prozesses des Textverstehens abgesehen und verweise hier auf ibid. und Garbe, Christine Garbe; Holle, Karl; Jesch, Tatjana: Texte lesen. Textverstehen – Lesedidaktik – Lese-

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Ich werde mich in diesem Beitrag mit dem Teilprozess des Textverstehens beschäftigen, der auf der Satzebene (lokale Kohärenz) stattfindet und die Textbasis herstellt für das Verstehen des gesamten Textes (globale Kohärenz). Scheitern die Schülerinnen und Schüler bereits dabei, einzelne Sätze oder Textpassagen des Textes zu verstehen, so steht auch ein Scheitern beim Verstehen des ganzen Textes zu befürchten. Ob der darauf noch aufbauende Verstehensprozess insgesamt gelingt, hängt zudem auch von den Leseerfahrungen und dem Weltwissen der Schülerinnen und Schüler ab3. Im Ethik- sowie Philosophieunterricht kommt erschwerend hinzu, dass die Schülerinnen und Schüler es meist mit einer spezifischen, besonders anspruchsvollen Textform argumentierender Texte zu tun haben, deren Komplexität sich sowohl auf der sprachlichen als auch inhaltlichen Ebene wiederfindet. Das bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler zunächst die sprachliche bzw. textschriftliche Komplexität bewältigen müssen, um überhaupt zur inhaltlichen Komplexität vorzudringen4. Dabei müssen sie in der Lage sein, verschiedene Satzarten wie Fragen, Thesen, Argumente etc. zu unterscheiden, um philosophische Begründungszusammenhänge rekonstruieren zu können. Sollen Ethik- und Philosophieunterricht erfolgreich Kompetenzen und Wissen vermitteln, muss die Kompetenz, philosophische Texte zu verstehen, gezielt gefördert werden, und zwar nicht erst in der Sekundarstufe II. Dazu reicht es nicht aus, mit den Schülerinnen und Schülern viele Texte zu bearbeiten5, da sie mit Defiziten bei bestimmten Teilfertigkeiten im Textverstehen stets an denselben Punkten eines Textes scheitern werden und die sich wiederholende Erfahrung eines gescheiterten Textverständnisses, d. h. eines Misserfolgserlebnisses sich negativ auf die Leseabsicht und -motivation sowie auf das Selbstkonzept auswirken wird. Die Schülerinnen und Schüler bilden dann einen Habitus aus, der sich in Schüleräußerungen wie »Nein, nicht schon wieder ein Text.« oder »Die Texte im Ethikunterricht sind viel zu schwer.«, »Warum können sich die Philosophen nicht einfach ausdrücken?« usw. niederschlägt, die Ausdruck negativer Leseerwartungen sind. Bestätigen sich diese negativen Leseerwartungen, sinkt die Lesemotivation weiter, Misserfolge verstetigen das negative Selbstkonzept6. Alle diese Äußerungen zeigen eine Überforderung der Schülerinnen und Schüler an7, die neben der Komplexität der Texte auch auf die zu offenen Aufgabenformate zurückzuführen ist, die meist auf die globale Kohärenz zielen, d. h. auf ein

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sozialisation, UTB 3110, Schöningh Verlag, Paderborn 22010, S. 39 – 70, vgl. auch: Leisen, Josef: Lesen im Fachunterricht, auf: http://www.sprachsensiblerfachunterricht.de/lesen Stand: 07.03.2022. Vgl. dazu Grzesik, Jürgen: Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen, a.a.O., S. 184 – 187. Vgl. ibid., S.152. Vgl. ibid., S.151. Vgl. dazu Möller, Jens und Schiefele, Ulrich: »Motivationale Grundlagen der Lesekompetenz«, in: Schiefele, Ulrich; Artelt, Cordula, Schneider, Wolfgang; Stanat, Petra (Hrsg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von Pisa 2000, a.a.O., S. 101– 124: S.117. Siehe dazu Winkler, Iris: »Lernaufgaben im Literaturunterricht«, in: Kiper, Hanna; Meints-Stender, Waltraud; Peters, Sebastian; Schlump, Stephanie; Schmit, Stefan (Hrsg.): Lernaufgaben und Lernmaterialien im kompetenzorientierten Unterricht, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2010, S. 103 – 113: S. 108.

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Verständnis des ganzen Textes. Auf diese Überforderung wird meist nur unzureichend methodisch reagiert, z. B. dadurch, dass das Satz-für-Satz-Lesen mit starker Lehrerlenkung durchgeführt wird. Dies ist aus mehreren Gründen sehr unbefriedigend. So ist doch eines der Ziele des Ethik- und Philosophieunterrichts, dass sich die Schülerinnen und Schüler selbstständig philosophische Texte erarbeiten können und dadurch ihr Selbstkonzept gestärkt wird. Ein derart lehrerzentriertes Verfahren wirkt dem aber entgegen und vermittelt den Schülerinnen und Schülern zusätzlich das Gefühl, dass sie philosophische Texte ohne Hilfe des Experten nicht verstehen können. Zudem ist dieses Verfahren extrem zeitaufwändig, und es geht kostbare Unterrichtszeit für andere Tätigkeiten verloren. Zur Förderung der Kompetenz, Texte zu verstehen, ist sicherlich Lenkung notwendig, jedoch sollte diese so gestaltet sein, dass sie langfristig die Selbstständigkeit und die Selbstwirksamkeitserwartung der Lernenden fördert und ihnen die Tätigkeit nicht abnimmt, sondern lediglich eine Unterstützung in der Selbsttätigkeit anbietet8. Dies gelingt im Lernprozess am besten durch materialgesteuerte Formen der Unterstützung.

 Geschlossene und halboffene Aufgaben und ihre Funktion Eine Möglichkeit, das Verstehen von Texten im Ethik- und Philosophieunterricht in der Phase der Bildung lokaler Kohärenzen gezielt zu unterstützen und damit auch eine Differenzierungsmöglichkeit für Schülerinnen und Schüler anzubieten, ermöglichen die aus der Fremdsprachendidaktik bekannten geschlossenen und halboffenen Aufgabenformate (bekannt als multiple choice questions) – nicht zuletzt auch deshalb, weil philosophische Texte bei den Schülerinnen und Schülern häufig einen ähnlichen Eindruck wie fremdsprachliche Texte hinterlassen. Werden diese Aufgabenformate normalerweise zur Diagnose des Leseverstehens eingesetzt, so eignen sie sich doch nicht nur zur Messung des Leseverstehens, sondern auch zur Förderung bzw. Unterstützung desselben. Setze ich diese Aufgaben zur Förderung des Textverstehens ein, erhalte ich mit den Ergebnissen automatisch auch eine Rückmeldung darüber, wie leicht oder schwer diese Aufgaben für die Schülerinnen und Schüler lösbar sind, und kann die Aufgaben entsprechend anpassen. Leider gibt es meines Wissens bislang kaum systematische Erfahrungen mit diesem Verfahren im Ethik- und Philosophieunterricht9, der meist auf Aufgabenformate und Operatoren setzt wie z. B. »Erklären / erläutern / arbeiten Sie [heraus], was der Autor xy unter z versteht.« Solche Aufgaben nehmen häufig schon den gesamten Text oder zumindest längere Textpassagen in den Blick und setzen das Teilverständnis einzelner 8 9

Ibid., S.106 Eine Ausnahme bildet die Arbeit einer Zentralen Projektgruppe der Fachberater Ethik in Baden-Württemberg, die im Auftrag der Lehrerfortbildung dazu gearbeitet hat und ihre Ergebnisse 2014 auf einer Tagung vorgestellt hat. Die Ergebnisse dazu sind auch im Internet abrufbar unter: Lehrerfortbildung Baden-Württemberg: Kompetenzorientierter Unterricht: Ethik, Neue Aufgabenformate: Geschlossene und halbgeschlossene Aufgaben, auf: https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gewi/ethik/gym/bp2004/fb4/5_ aufg/ (Stand: 07.03.2022).

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Textpassagen voraus, ohne hier eine adäquate Unterstützung anzubieten.10 Während es seit PISA, IGLU und DESI in vielen Fächern eine systematische Forschung und Diskussion um Lesekompetenz, Textverstehen und die Förderung dieser Kompetenzen gibt, steht dies in den Fächern Philosophie und Ethik noch weitgehend am Anfang. Das Ziel dieses Aufgabenformats ist es hier, die Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, die Textbasis auf der Ebene lokaler Kohärenzen herzustellen, d. h., sie werden darin unterstützt, einzelne zentrale Textpassagen zu verstehen. Wie es scheint, haben schwache Leser und Leserinnen hier besondere Probleme.11 Ohne das Verstehen zentraler Textpassagen gelingt aber auch das Verstehen des Textes in seiner Gänze nicht, das darüber hinaus auch welt- und bereichsspezifisches Vorwissen von den Schülerinnen und Schülern verlangt.

 Methodische Einbettung geschlossener und halboffener Aufgaben Zunächst sollte eine thematische Hinführung zum Text stattfinden, um für das Verständnis des Textes sowie einzelner Textpassagen notwendiges Wissen zu aktivieren. Anschließend führen die geschlossenen und halboffenen Aufgaben die Schülerinnen und Schüler tiefer in den Text bzw. an zentrale Textpassagen und lenken damit ihr Augenmerk auf wesentliche Stellen des Textes. Um sicher zu gehen, dass sie die passende Textstelle aufgefunden haben, werden sie dazu aufgefordert, die Textpassage, auf die sie sich beziehen, zu zitieren. In einem weiteren Schritt sind die Lernenden gezwungen, zunächst die Antwortmöglichkeiten zu verstehen, um im nächsten Schritt zu entscheiden, welche dieser Möglichkeiten bzw. Bedeutungen der gefundenen Textstelle im Text entspricht. So bieten die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten den Schülerinnen und Schülern verschiedene lokale Kohärenzbildungen an, von denen nur jeweils eine richtig ist bzw. sein sollte. Darüber hinaus bieten die Antwortmöglichkeiten auch Gelegenheit, Bezüge und Hinweise einzubauen, um Kohärenzlücken zu schließen, z. B. durch kausale Verknüpfungen oder indem pronominale Bezüge, die das Textverstehen erschweren, explizit gemacht werden, ohne in den Originaltext einzugreifen12. 10

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Tatsächlich muss man zugestehen, dass sich das Medium Schulbuch auch nur bedingt für Textarbeit und deren gezielte Förderung eignet. So sollen meist mehrere Schülergenerationen die Bücher benutzen, weswegen die Schülerinnen und Schüler die Texte nicht bearbeiten dürfen. Mit der Digitalisierung bieten sich gerade hier neue Möglichkeiten mit Texten intensiv zu arbeiten und entsprechende Hilfen anzubieten. »Genau dies, die Herstellung lokaler Kohärenz, scheint schwächeren Lesern Probleme zu bereiten. Es gelingt ihnen oft nicht, aufeinander folgende Themen in die richtige Beziehung zu setzen.« Schnotz, Wolfgang und Dutke, Stephan: »Kognitionspsychologische Grundlagen der Lesekompetenz: Mehrebenenverarbeitung anhand multipler Informationsquellen«, a.a.O., S. 82. Siehe dazu: Artelt, Cordula; McElvany, Nele; Christmann, Ursula; Richter, Tobias; Groeben, Norbert; Köster, Juliane; Schneider, Wolfgang; Stanat, Petra; Ostermeier, Christian; Schiefele, Ulrich; Valtin, Renate; Ring, Klaus; Saalbach, Henrik: »Lesekompetenz: Modelle der Entwicklung und Ansatzpunkte für die Förderung«, in: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Bildungsforschung, Band 17: Förderung von Lesekompetenz – Expertise, Referat Publikationen, Berlin – Bonn 2007, S. 11–80: S. 24.

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Grzesik weist darauf hin, dass der Leser beim Lesen »Wörter oder sogar ganze Sätze des Textes in innerem Sprechen durch andere Wörter oder Sätze ersetzt, die er aus dem Gedächtnis aktivieren kann. Er stellt auf diese Weise zum vorliegenden Text einen Paralleltext her.« Dies passiere an Stellen, »an denen es für das Verstehen des Textes hilfreich ist: Bei diesem Vorgehen wird in einem weniger vertrauten Text etwas Bekanntes wiedererkannt, zwischen alternativen Textbedeutungen entschieden, eine zuerst eingefallene Bedeutung wird dem Kontext angepaßt, der Zuweisungsprozeß wird insgesamt erleichtert.« 13 Dies machen sich diese Aufgaben zunutze und bieten den Schülerinnen und Schülern Unterstützung bei der Erstellung ihres inneren ›Paralleltextes‹ an – also der Wiedergabe mit eigenen Worten, wie es häufig von Lehrenden verlangt wird. Dennoch nimmt das Hilfsangebot den Schülerinnen und Schülern nicht die ganze Arbeit ab, insofern die letztliche Entscheidung für einen bestimmten ›Paralleltext‹, eine bestimmte Bedeutung, bei ihnen bleibt. Natürlich bleibt auch hier die Möglichkeit, dass sich die Lernenden für eine ›falsche‹ oder eine ›unvollständige‹ Bedeutung entscheiden14, jedoch wird die Misserfolgswahrscheinlichkeit durch die eingeschränkte Auswahl drastisch gesenkt. Dies hängt entscheidend von der Konstruktion der Aufgaben selbst ab, die ja hier nicht der Messung der Lesekompetenz dienen, sondern ihrer Förderung15. Nachdem die Schülerinnen und Schüler ein Verständnis der zentralen Stellen des Textes entwickelt haben, sollten in einem Zwischenschritt das Verständnis abgeglichen und etwaige Abweichungen geklärt werden. Im Anschluss können die Lernenden in einem nächsten Unterrichtsschritt das Verständnis der einzelnen Textpassagen in einen Zusammenhang bringen, um den Text als Ganzes zu verstehen. Dazu benötigen sie über den Text hinausgehendes bereichsspezifisches Fachwissen (z. B. über den Autor, Epoche, thematische Zusammenhänge etc.) sowie Weltwissen (historische Kenntnisse zu einer Epoche, politische Zusammenhänge, aktuelle Debatten usw.). Erfahrungen mit diesem Aufgabenformat zeigen, dass das Textverständnis der Schülerinnen und Schüler zunehmend besser wird und die Texte auch schneller erschlossen werden. So lässt sich dieses Verfahren ebenfalls sehr gut bei der Methode flipped classroom einsetzen, d. h., die Schülerinnen und Schüler lesen den Text und bearbeiten die dazugehörigen geschlossenen und halboffenen Aufgaben zu Hause und bringen damit schon ein Grundverständnis zentraler Textpassagen mit, an das der 13

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Grzesik, Jürgen: Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen, a.a.O. S. 195. Grzesik merkt ferner an, dass dieser Prozess des Rekodierens eben nicht nur auf die Begriffsebene beschränkt sei, sondern sich auch weitere Verarbeitungs- bzw. Verstehensprozesse erstrecke: »Diesen Vorgang bezeichnet man als ›paraphrasieren‹ oder als ›Wiedergabe mit eigenen Wörtern‹.« (ibid., S.196); vgl. auch Schnotz, Wolfgang und Dutke, Stephan: »Kognitionspsychologische Grundlagen der Lesekompetenz: Mehrebenenverarbeitung anhand multipler Informationsquellen«, a.a.O. S. 81. Diese Anregung verdanke ich meiner Kollegin Eva Müller. Dabei werden nicht richtige und falsche Antwortmöglichkeiten vorgegeben, sondern differenzierte Antwortmöglichkeiten, die einen unterschiedlich anspruchsvollen ›Paralleltext‹ anbieten und dadurch differenziertere Stufen des Textverstehens berücksichtigen. Allerdings ist die Konstruktion solcher Aufgaben ebenfalls deutlich anspruchsvoller. Siehe weiter unten die Hinweise zur Konstruktion sowie die Beispiele.

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Unterricht anknüpfen kann. Ein positiver Nebeneffekt besteht darin, dass die Angst der Lernenden vor anspruchsvollen Texten deutlich abnimmt. Sowohl die Aktivierung durch das Aufgabenformat als auch die Erfolgserlebnisse beim Textverstehen scheinen ihre generelle und damit auch ihre Lesemotivation zu steigern. Befragt man sie selbst, so geben sie in den allermeisten Fällen an, dass ihnen dieses Aufgabenformat beim Textverstehen geholfen hat und es positiv bewerten. Natürlich gibt es unter den Lernenden auch immer einige, die bereits eine höhere Kompetenzstufe beim Leseverstehen haben und die diese Aufgaben eigentlich nicht benötigen. Sie können daher sowohl die geschlossenen als auch die halboffenen Fragestellungen zur Kontrolle des eigenen Textverstehens nutzen.

 Konstruktion geschlossener und halboffener Aufgaben Da dieses Aufgabenformat im Bereich des Ethik- und Philosophieunterrichts noch nicht richtig Fuß gefasst hat und man nicht auf einen Fundus solcher Aufgaben zu zentralen Texten zurückgreifen kann, bedeutet eine Anwendung dieses Formats in den meisten Fällen Mehrarbeit für Lehrerinnen und Lehrer. So müssen die Lehrenden den Text deutlich gründlicher und intensiver vorbereiten und einen eigenen Erwartungshorizont formulieren, um entsprechende Aufgaben für die zentralen Textstellen zu erstellen. Bei der Konstruktion der Aufgaben sollte man zunächst mit den Attraktoren beginnen, d. h. mit der richtigen/vollständigen Lösung, bevor man sich geeignete Distraktoren, d. h. falsche/unvollständige Lösungen überlegt. Bei der Formulierung der Attraktoren entscheidet die Lehrperson, wie weit sich die Formulierungen vom Originaltext entfernen. Je mehr Schwierigkeiten die Schülerinnen und Schüler haben, philosophische Texte zu verstehen, desto näher am Text sollte man bleiben. Je weiter man sich sprachlich vom Originaltext entfernt, desto anspruchsvoller wird die Verstehensleistung der Schülerinnen und Schüler. Hier halten Lehrerinnen und Lehrer ein Steuerungsinstrument in der Hand, um die Kompetenz, Texte zu verstehen, sukzessive aufzubauen. Zu bedenken ist zudem die Frage, ob man bestimmte Begriffe des Originaltextes in den Attraktor aufnimmt oder durch andere ähnliche oder synonyme Begriffe ersetzt. Auch hier helfen die originalen Begriffe den Schülerinnen und Schülern dabei, die richtige Textstelle zu identifizieren, andererseits könnte dies auch dazu verleiten, nur nach bestimmten Begriffen im Text zu suchen. Sofern man sich dafür entscheidet, originale Begriffe zu verwenden, um den Lernenden das Auffinden der Textstelle zu erleichtern, sollte man dies u. U. auch bei den Distraktoren berücksichtigen, damit sie dennoch gezwungen sind, sich für eine bestimmte Antwort zu entscheiden, und diese nicht bereits mit dem Begriff mitgeliefert wird. Da im Kontext der Förderung des Textverstehens die Aufgaben nicht zur Bewertung eingesetzt werden, sondern als Unterstützung, sollten die Distraktoren einerseits eine gewisse Nähe zur richtigen/vollständigen Lösung aufweisen, jedoch für den gründlichen Leser relativ sicher als falsch/unvollständig identifizierbar sein. Fallstricke, wie man sie öfter bei den Abituraufgaben der Fremdsprachen findet, sind dabei wenig hilfreich, da diese bewusst die Kohärenzbildung unterlaufen. Dennoch ist der Arbeits-

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aufwand nicht zu unterschätzen, da es nicht immer leicht ist, geeignete Distraktoren zu konstruieren. Manch eine Aufgabe oder ein Distraktor erweist sich erst im Nachhinein als ungünstig, bietet aber beim gemeinsamen Vergleich der Lösungen Anlass, das Verständnis der entsprechenden Textstelle zu diskutieren, und natürlich kann man die Aufgabe dann entsprechend anpassen. Im Folgenden soll an zwei Beispielen gezeigt werden, wie dieses Aufgabenformat im Unterricht eingesetzt werden kann, wobei sich das erste Beispiel an Kurse der gymnasialen Oberstufe richtet und das zweite sich auf den Unterricht in der Sekundarstufe I bezieht.

M1 Thomas Hobbes: Was ist »gut«?16

Alle Dinge, die erstrebt werden, bezeichnet man, sofern sie erstrebt werden, mit einem gemeinsamen Namen als »Güter«, alle, die wir vermeiden, als »Übel«. […] Da aber die verschiedenen Menschen verschiedene Dinge erstreben und vermeiden, so muss es viele Dinge geben, die für einige Güter, für andere Übel sind, wie für unsere Feinde das ein Übel ist, was für uns ein Gut ist. Gut und Übel sind also relativ je nach den Erstrebenden und Vermeidenden. […] Das erste Gut ist für jeden die Selbsterhaltung, denn die Natur hat es so eingerichtet, dass alle ihr eigenes Wohlergehen wünschen. Um das erlangen zu können, müssen sie Leben und Gesundheit wünschen und für beide, soweit es möglich ist, Gewähr für die Zukunft.  Arbeitsanregungen Ergänzungsaufgabe (halboffene Aufgabe):  Ergänzen Sie die richtige Lösung. Alle Dinge, die man vermeidet, heißen _______________________________________ Zeile[n] _____ Zitat: ____________________________________________

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Hobbes, Thomas: »Vom Menschen«, in: Hobbes, Thomas: Vom Menschen – Vom Bürger (Elemente der Philosophie II/III), hrsg. und eingel. von Gawlick, Günter. übers. von Gawlick, Günter auf der Grundlage der Übersetzung von Frischeisen-Köhler, Max, Phb 158, Verlag von Felix Meiner, Hamburg 1977 (Nachdruck der 2.verbesserten Auflage von 1988, mit ergänztem Literaturverzeichnis), S. 22 und S. 24.

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Richtig/Falsch-Aufgabe (geschlossene Aufgabe):  Kreuzen Sie die richtige Lösung an. Was für uns gut ist, ist nicht für alle, d. h. an sich gut. r richtig r falsch Zeile[n] _____ Zitat: ____________________________________________

Multiple-choice-Aufgabe (geschlossene Aufgabe):  Kreuzen Sie die zwei richtigen Lösungen an. Der Mensch strebt von Natur aus nach folgenden Gütern: r Besitz r Selbsterhaltung r Gesundheit r Macht Zeile[n] _____ Zitat: ____________________________________________ Bei diesen Aufgaben handelt es sich um verschiedene Aussagen, die eine Ergänzung (1), Bewertung (2) oder Auswahl verlangen bzw. einfordern (3). Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler jeweils die Zeilen angeben sowie die Zitatstelle bzw. bei langen Zitaten Anfang und Ende des Zitats. Das hier gewählte Verfahren ist sehr kleinschrittig und eignet sich daher lediglich für leistungsschwächere oder junge Lerngruppen, um sie sowohl anzuleiten als sie auch darin zu unterstützen, einen philosophischen Text zu durchdringen. Wie man erkennt, entfernen sich die Aussagen mehr oder weniger weit vom Originaltext. Je stärker die Paraphrasierung sich vom Original entfernt, desto anspruchsvoller wird die Verstehensleistung für die Schülerinnen und Schüler, d. h., je größer die Verstehensschwierigkeiten der Lernenden sind, desto näher sollten die Attraktoren am Original bleiben. Je mehr Fortschritte sie machen, desto stärker kann man sich vom Original entfernen.

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M2 John Stuart Mill: Über die Lüge17

»So wäre es zum Beispiel in vielen Fällen opportun* [praktisch, bequem, günstig] zu lügen, um sich aus einer momentanen Verlegenheit zu retten oder um etwas zu erreichen, dass für uns oder andere unmittelbar vorteilhaft ist. Aber insofern die Ausbildung und Pflege einer strikten Wahrhaftigkeitsliebe eines der nützlichsten und ihre Schwächung eines der schrecklichsten Dinge ist, zu denen unser Verhalten führen kann, und insofern jede und sei es auch unbeabsichtigte Abweichung von der Wahrheit dazu beiträgt, jene Vertrauenswürdigkeit menschlicher Äußerungen zu erschüttern, von der alles gesellschaftliche Wohlergehen, dass wir gegenwärtig vorfinden, abhängt, […] insofern fühlen wir, dass es nicht nützlich sein kann, eine Regel von so überragender Nützlichkeit um eines kurzfristigen Vorteils willen zu verletzen […]. Es wird jedoch von allen Ethikern zugestanden, dass selbst diese so unantastbare Regel Ausnahmen zulässt, besonders dann, wenn das Verschweigen einer Wahrheit – indem man etwa einem Übeltäter eine Auskunft verweigert oder einem Schwerkranken eine schlechte Nachricht vorenthält – jemanden, zumal einen anderen als sich selbst, vor großem unverschuldeten Unglück bewahrt, und wenn dieses Verschweigen nur durch Ableugnen erfolgen kann.«  Arbeitsanregungen  Warum ist es häufig bequem zu lügen? Markiere die richtige Antwort. a) Wir helfen uns dadurch aus einer Verlegenheit oder verschaffen uns einen Vorteil. b) Uns fällt nichts Besseres ein. Zeile[n] _____ Zitat: ____________________________________________  Wozu trägt jede Abweichung von der Wahrheit bei? Markiere die richtige Antwort. a) Das Leben wird viel interessanter. b) Man kann nicht mehr auf das vertrauen, was die Leute sagen. Zeile[n] _____ Zitat: ____________________________________________

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Mill, John Stuart: Der Utilitarismus, Englisch/Deutsch, hrsg. und übers. von Birnbacher, Dieter, RUB 18461, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2014, S. 67 und S. 69.

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 Wann darf ich trotzdem die Wahrheit verschweigen oder verweigern? Markiere die richtige Antwort. a) Wenn jemand sonst unglücklich ist. b) Wenn ich jemanden davor bewahre, unverschuldet zu Schaden zu kommen. Zeile[n] _____ Zitat: ____________________________________________

Ich darf einem Übeltäter die Auskunft verweigern, weil …  Erkläre, ob dein Lügen positive Folgen für ein potentielles Opfer hat/haben kann und falls ja, welche. Ich darf einem Schwerkranken eine schlechte Nachricht verschweigen, weil …  Erkläre, ob dein Lügen positive Folgen für den Schwerkranken hat und falls ja, welche.  Erkläre, warum Mill meint, dass das Lügen dem Wohlergehen der Gesellschaft schadet.  Lies noch einmal Zeilen 5 – 7 und überlege, welche Folgen es hätte, wenn alle Menschen ständig lügen würden, weil sie es dürften.  Erkläre, worin der Unterschied zwischen einem gerechtfertigten und einem ungerechtfertigten Verweigern oder Verschweigen der Wahrheit besteht:  Lies erneut Zeilen 10 – 14 und bestimme den Begriff »unverschuldet« (Z. 13). Der gewählte Text ist sprachlich und auch inhaltlich anspruchsvoll, und seine Lektüre würde ohne massive Unterstützung auch bei Schülerinnen und Schülern in den Jahrgangsstufen 8 oder 9 eines Gymnasiums vermutlich zu einem Scheitern des Verstehensprozesses führen und damit die Lesemotivation für philosophische Texte nachhaltig schädigen. Aus diesem Grund wurde eine Aufgabenmischung aus geschlossenen und halboffenen Aufgaben gewählt, die aber inhaltliche Hinweise sowie Hinweise zur Textstelle geben; dabei dienen die geschlossenen Aufgaben (1 – 3) als Hilfestellung für ein grundlegendes Verständnis des Textes. Da der Einsatz des Textes in der Mittelstufe erfolgen soll, wurden die Distraktoren grob gewählt, um zu gewährleisten, dass im Anschluss an die geschlossenen Aufgaben zu halboffenen Aufgaben (4 – 7) übergeleitet werden kann. Bei diesen Aufgaben ist bereits eine Aussage vorgegeben, die Schülerinnen und Schüler anhalten soll, über die Begründung derselben nachzudenken. Das gezielte Lenken des Augenmerks der Lernenden auf bestimmte Textstellen stellt eine nochmalige und vor allen Dingen intensive Auseinandersetzung mit dem Text sicher. Die beiden Beispiele machen deutlich, wie vielseitig sich dieser Aufgabentyp im Philosophie- und Ethikunterricht einsetzen lässt. Er kann übrigens auch digital, z. B. über Learningapps.org oder Learningsnacks.com18, problemlos umgesetzt werden. 18

Der folgende Link führt zu einem aufgearbeiteten Text von Robert Spaemann: https://www.learningsnacks.de/share/116736/65f5e65575684bc3c26fb00f86a0a63716371d33

Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht Strategien und Methoden Tobias Saum

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ie sprachlichen Hürden bei der Erschließung von Texten im Philosophieunterricht erfahren viele Schülerinnen und Schüler als besonders hoch – auch im Vergleich zu anderen Fächern. Hinzu kommen die Schwierigkeiten bei der weitergehenden Analyse philosophischer Texte, etwa wenn es darum geht, Sprechakte zu erkennen. Die Herausforderung, als Lehrkraft Schülerinnen und Schüler an die Bewältigung dieser Anforderungen heranzuführen, hat sich durch die aktuellen Veränderungen der Schülerschaft noch vergrößert. Denn noch mehr sprachliche Schwierigkeiten zeigen sich bei Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Haushalten, jenen, die viel Zeit mit digitalen Spielen verbringen, solchen mit Deutsch als Zweitsprache und denjenigen mit speziellen Förderbedarfen. Immer mehr Lernende sind nur noch eingeschränkt in der Lage, den sprachlichen Anforderungen im Philosophieunterricht zu genügen. Das sprachliche Niveau, das dafür vorausgesetzt wird, ist vielfach nicht mehr vorhanden. Manchmal steht Schülerinnen und Schülern nur das sprachliche Register der Alltagsprache zur Verfügung. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines sprachsensiblen Philosophieunterrichts, der auf die genannten Bedingungen reagiert. Die Lehrkraft muss sich immer auch als »Sprachlehrerin« bzw. »Sprachlehrer” verstehen: Sie sieht die sprachlichen Probleme ihrer Schülerinnen und Schüler und reagiert darauf angemessen. Ein Ziel des Philosophie- bzw. Ethikunterrichts besteht ja darin, dass Schülerinnen und Schüler Bildungsund Fachsprache verstehen und diese selbst verwenden können, und ein anderes darin, sie in die Lage zu versetzen, Texte zu philosophischen Themen selbständig zu erschließen und eigene Texte dazu zu schreiben. In den folgenden Ausführungen soll konkretisiert werden, wie man sprachsensiblen Unterricht in Philosophie, Praktischer Philosophie und Ethik beim Umgang mit Texten umsetzen kann. Hinsichtlich der Planung des Unterrichts ist dabei besonders die Auswahl angemessen schwieriger Texte und die Formulierung der Aufgabenstellung in den Blick zu nehmen. Hinzu kommt die Frage, wie den Schülerinnen und Schülern jene Kompetenzen vermittelt werden, Aufgaben angemessen zu bearbeiten.

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 Sprachsensible Aufgabenstellungen Ein Unterrichtsziel besteht – so wurde bereits festgestellt – darin, Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, einen Text selbständig zu erschließen. Dies soll geschehen, indem sie zunächst die Problemstellung eines Textes herausarbeiten, dann die These als Antwort auf die Problemstellung erkennen und anschließend die Argumentation untersuchen. Weitere Schritte des Transfers, der Untersuchung der Tragfähigkeit und der Beurteilung schließen sich an. Doch die Kompetenz zu dieser eigenständigen problemorientierten Texterschließung ist Schritt für Schritt aufzubauen. Bevor die Schülerinnen und Schüler dazu in der Lage sind, ist es hilfreich, sie durch Aufgaben stärker anzuleiten und durch den Prozess der Texterschließung zu führen. Dabei bietet es sich an, die Aufgabe in Teilaufgaben zu untergliedern, wobei für jeden Arbeitsschritt eine eigene Teilaufgabe vorzusehen ist. Dann können sich die Schülerinnen und Schüler daran orientieren und Schritt für Schritt vorgehen. Als weitere Hilfestellung hat es sich bewährt, in der Aufgabe Aspekte anzugeben, die sie bei der Untersuchung besonders berücksichtigen sollen. Eine noch größere Hilfe ist es, wenn man Formulierungen des Textes in die Aufgabenstellung aufnimmt, damit die Schülerinnen und Schüler wissen, wonach sie suchen müssen. Davon profitieren besonders jüngere Lernende. Mit Blick auf das Ziel der Selbständigkeit sollte man diese Hilfen nach und nach abbauen. Aufgaben sollten mit Operatoren formuliert werden. Allerdings können diese für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler zunächst eine Hürde beim Verständnis von Aufgabenstellungen darstellen, denn es handelt sich um komplexe Anweisungen, die eine ganze Reihe von einzelnen Schritten umfassen.1 Insbesondere komplexe Operatoren wie »analysieren«, »Stellung nehmen«, »beurteilen«, »erörtern« oder »untersuchen« erfordern die Kenntnis einer Reihe von Prozeduren (Textroutinen) und Routineausdrücken (typischen sprachlichen Mitteln), die kennengelernt und eingeübt werden müssen. Daher müssen die Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I zunächst zu den Operatoren hingeführt werden, indem sie entsprechende Hilfen erhalten. Wie Aufgabenstellungen auf verschiedenen Stufen mit einem unterschiedlichen Grad an Hilfestellung aussehen können, wird an Aufgaben zu einem Text von Viktor Frankl gezeigt (M1). Das Ziel ist es, dass die Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, folgende Aufgabe selbständig zu bearbeiten: »Analysiere den Text, indem du die Problemfrage, die These und die Argumentation erarbeitest.« (Stufe 1) Um zu verdeutlichen, wie man dabei vorgehen sollte, kann diese Aufgabe in mehrere Teilaufgaben gegliedert werden, wobei jede Aufgabe mit einem eigenen Operator, der weniger komplex als der Operator »Analysieren« ist, formuliert wird (Stufe 2). Zu diesen Aufgaben können zusätzlich noch sprachliche Hilfen in Form von Satzanfängen gegeben werden (Stufe 3). Sollten die Schülerinnen und Schüler mit diesen auf die Schritte der Argumentation zielenden Aufgaben noch Schwierigkeiten haben (wie es nicht selten 1

Vgl. Thein, Christian: »Operatoren im Philosophieunterricht«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 325 – 327.

Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht

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der Fall ist), kann man zunächst auch inhaltlich orientierte Fragen stellen, etwa: »Analysiere den Text, indem du folgende Fragen beantwortest: 1. Worum geht es in dem Text? 2. Wie definiert Frankl den Menschen? 3. In welchem Verhältnis stehen der Wille zum Sinn und der Wille zur Lust? […]« Auch zu diesen Fragen kann man wieder Formulierungshilfen geben (Stufe 5) oder auch Hinweise zu den Abschnitten, in denen man die Antwort finden kann (Stufe 6). Diese Stufung ist nicht so gedacht, dass alle Schülerinnen und Schüler dieselben Aufgaben erhalten, sondern sie stellen vielmehr eine Hilfe zur Differenzierung dar. Dies kann man beispielsweise so umsetzen, dass alle Schülerinnen und Schüler Aufgaben auf Stufe 4 bekommen. Die Aufgaben auf den Stufen 5 und 6 werden dann als Hilfekarten angeboten, auf die die Lernenden bei Bedarf zurückgreifen können. Ähnlich kann man auch mit den Aufgaben auf den Stufen 1 – 3 vorgehen. Bei der methodischen Umsetzung ist es wichtig, die Aufgaben nicht nur mündlich, sondern immer auch schriftlich zu formulieren. Gerade jüngere Schülerinnen und Schüler sollten zudem vor Beginn der Bearbeitung die Aufgaben mit eigenen Worten wiederholen, so dass sich das Verständnis überprüfen lässt. Außerdem ist es hilfreich, die Arbeitsblätter so zu gestalten, dass sie entsprechend den Aufgaben vorstrukturiert sind: Für jede Teilaufgabe gibt es dann auf dem Arbeitsblatt ein Feld, in das die Schülerinnen und Schüler die Ergebnisse eintragen können. Wenn alle dieselbe Aufgabenstellung bekommen, kann man auch Hilfekarten zum Verständnis der Aufgabenstellung mit folgendem Inhalt anbieten: – Aspekte der Aufgabe genauer erläutern: Wenn in der Aufgabenstellung beispielsweise steht, dass Sprechakte zu analysieren sind, kann man eine Hilfekarte mit einer genaueren Erläuterung formulieren und sprachliche Mittel zu ihrer Realisierung zur Verfügung stellen.2 – Hinweise zu den Bearbeitungsschritten geben: Wenn man sich aufgrund der vorausgesetzten Kompetenzen dafür entscheidet, die Aufgaben nicht kleinschrittig zu formulieren, könnte man auf einer Hilfekarte die einzelnen Bearbeitungsschritte erläutern. Darüber hinaus hat es sich bewährt, die Aufgaben so zu konstruieren, dass zunächst jeder Zeit hat, allein zu denken. So haben auch die langsamer Denkenden jene Zeit zur Verfügung, die sie benötigen. Anschließend sollten die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit erhalten, sich auszutauschen.3 Bei der Kooperation können sie voneinander sprachlich lernen, weil die Leistungsstärkeren hier als sprachliches Modell fungieren. 2

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Vgl. Engels, Helmut; Goergen, Klaus: Abi Philosophie. Mehr wissen. Mehr können, Schöningh Verlag, Braunschweig/Paderborn/Darmstadt 22017, S. 25 – 34. Vgl. Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen, 2 Bde., Bd. 1: Strategien zur Schüleraktivierung, Neue Deutsche Schule, Essen 102015, S. 11– 23.

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 Defensive und offensive Strategien Besondere Aufmerksamkeit erfordert bei der Planung des Unterrichts die Auswahl von Texten mit einem angemessenen Schwierigkeitsgrad. Dabei gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen: Beim ersten Weg fragt man sich als Lehrerin oder Lehrer: Wie weit komme ich Schülerinnen und Schülern mit der Entlastung von Textschwierigkeiten entgegen, indem ich den Text umarbeite und sprachliche Hürden entferne? Beim zweiten Weg fragt man sich: Wie führe ich Schülerinnen und Schüler zum philosophischen Text in seiner Originalgestalt hin? Welche Unterstützung muss ich ihnen zukommen lassen, damit sie in die Lage versetzt werden, anspruchsvolle philosophische Texte zu lesen? In der Literatur zum sprachsensiblen Unterricht spricht man in diesem Zusammenhang auch von defensiven und offensiven Strategien. Als offensiver Ansatz ist zu verstehen, wenn man eine Leserin bzw. einen Leser in die Lage versetzen möchte, einen unveränderten Text zu erschließen. Als defensiv gilt der Ansatz, wenn man den Schwierigkeitsgrad eines Textes an die Kompetenzstufe einer Leserin bzw. eines Lesers anpasst.4 Der hier vertretene Ansatz von sprachsensiblem Philosophieunterricht nutzt beide Wege. Welcher der beiden gewählt wird oder ob sie kombiniert werden, hängt vom Kompetenzstand der Schülerinnen und Schüler und vom unterrichtlichen Ziel ab. Entscheidend ist, dass der Unterricht adaptiv5 ist und sich an den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler orientiert. Die Kriterien, nach denen man entscheiden kann, ob man defensive oder offensive Strategien wählt, sollen im Folgenden erläutert werden. Wenn Schülerinnen und Schüler nur über vereinfachte Texte einen Zugang zum Thema finden, dann muss man diesen Weg gehen. Wenn ihre Kompetenzen schon weiter entwickelt sind, kann man ihnen schwierigere Texte und die dazu benötigten Hilfen geben. So kann man für die Textanalyse Hilfen mit den notwendigen sprachlichen Mitteln (Begriffslisten, Wortfelder, Gliederungshilfen, Formulierungsmuster, Beispiele) zur Verfügung stellen. Tatsächlich kann man erst am Ende dieses Prozesses erwarten, dass Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, komplexe philosophische Texte ohne Hilfen zu erschließen. Die didaktische Entscheidung für eine defensive oder offensive Strategie fällt also mit Blick auf den Stand der kognitiven Entwicklung der Schülerinnen und Schüler und ihrer Kompetenzen. In der Praxis bedeutet das, dass in der Regel jüngere Schülerinnen und Schüler zunächst vereinfachte Texte erhalten, die nach und nach schwieriger werden. Sie können auch schon leichte Originaltexte lesen, die mit Hilfen versehen sind. Werden die Schülerinnen und Schüler aber zu früh damit

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Vgl. zur Unterscheidung von defensiven und offensiven Strategien: Oleschko, Sven (Hrsg.): Sprachsensibles Unterrichten fördern. Angebote für den Vorbereitungsdienst, Bezirksregierung Arnsberg, Arnsberg 2017, S. 8, auf: http://sprachsensibles-unterrichten.de/materialien (Stand: 24.04.2022). Vgl. zum Konzept des adaptiven Unterrichts: Helmke, Andreas: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts, Klett Kallmeyer, Seelze-Velber 72017 (überarbeitete Auflage), S. 248 – 262.

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konfrontiert und scheitern, verlieren sie ihre Motivation und verstehen weniger, als sie mit vereinfachten Texten verstanden hätten. Im Verlauf der Entwicklung lesen die Schülerinnen und Schüler dann zunehmend mehr Originaltexte, um das anvisierte Ziel zu erreichen.6 Aufgrund der sprachlichen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler ist es demnach in der Sekundarstufe I häufig notwendig, philosophische Originaltexte zu vereinfachen oder zu ersetzen – so wie im Deutschunterricht lange Zeit Jugendbücher gelesen werden und erst später die Klassiker der Literatur. In der Sekundarstufe II lesen die Schülerinnen und Schüler in der Regel Originaltexte. Zur Unterstützung sind – je nach Lerngruppe – Hilfen angebracht, etwa zur Begrifflichkeit. Zusätzlich können zu einem Originaltext noch weitere Texte zur Verfügung gestellt werden: Zusammenfassungen mit Kontext- und Hintergrundinformationen, fiktive Interviews mit Philosophen und anderes.7 Studierende sowie Lehrerinnen und Lehrer lesen in der Regel Sekundärtexte, wenn sie sich mit Primärtexten auseinandersetzen, warum sollen nicht auch Schülerinnen und Schüler Sekundärtexte als Ergänzung zu den Primärtexten lesen?8 Die vereinfachten Texte, die man den Schülerinnen und Schülern im Rahmen der defensiven Strategie gibt, werden »Nach-Texte« genannt.9 Klaus Blesenkemper unterscheidet bei den Nach-Texten drei verschiedene Typen10 :

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Dem entspricht der Vorschlag von Albus zur Gestaltung eines aktuellen Kanons. Vgl. Albus, Vanessa: Kanonbildung im Philosophieunterricht. Lösungsmöglichkeiten und Aporien, Thelem, Dresden 2013, S. 564 – 577. Wiederabdruck in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Moderne Philosophiedidaktik: Basistexte, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019, S. 193 – 211. Vgl. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen über ihre Theorien, Texte und Materialien für den Unterricht, RUB 15062, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009. Peters und Rolf haben auf den hohen Schwierigkeitsgrad von philosophischen Texten hingewiesen und mit einer Sammlung von Interviews reagiert, in denen sie Ideen und Theorien von Philosophen in Form von fiktiven Interviews dargestellt haben. Sie begründen dies damit, dass Theorien den Schülern dadurch leichter verständlich würden. Als weitere Vorteile nennen die Autoren: »Durch die Möglichkeiten der Auswahl bestimmter Argumente, der Zusammenfassung zentraler Beweisführungen und der Umstellung von Gedanken erlaubt sie [die Transformation der Originaltexte in fiktive Dialoge (T. S.)] didaktische Vereinfachung und ermöglicht zusätzlich die Gelegenheit zur Erläuterung schwieriger Sachverhalte.« (ibid., S. 5). In der Einleitung weisen sie darauf hin, dass die Dialoge die Quellen im Unterricht nicht ersetzen, sondern dass sie ergänzend zu den originalen Quellen eingesetzt werden sollen (vgl. ibid., S. 6). Roland Willareth äußert sich kritisch zur Vereinfachung von philosophischen Texten, geht aber nicht auf das Alter der Schüler und den Unterschied der Sekundarstufen ein. Sein Beispiel, in dem er berichtet, dass er mit Oberstufenschülern erfolgreich Kant im Original gelesen hat, lässt darauf schließen, dass er sich gegen den Ersatz von philosophischen Primärtexten in der Oberstufe ausspricht. Vgl. Willareth, Roland: »40 Jahre Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 41,2019, Heft 1: Medienalltag – Alltagsmedien, S. 109 – 111. Steenblock hat die Notwendigkeit solcher Texte begründet und nennt in diesem Zusammenhang »vereinfachte Texte, sog. ›(Schulbuch-)Autoren‹- oder ,Nach’-Texte (,nach Aristoteles‹)« (Steenblock, Volker: »›Nach-Texte‹ oder: Mit vereinfachten Texten bewusst arbeiten. Ein Vorschlag«, in: Steenblock, Volker: Philosophie und Lebenswelt. Beiträge zur Didaktik der Philosophie und Ethik, Siebert Verlag, Hannover 2012, S. 213 – 222: S. 220). Blesenkemper, Klaus: »Lesen erleichtern. Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 22 – 31: S. 26.

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1. Nach-Texte im engeren Sinne: Paraphrasen von philosophischen Texten, 2. Mit-Texte: Gespräche mit Philosophen zu Texten und Positionen; hier werden drei Formen unterschieden: a. Fiktive Interviewfragen mit authentischen Texten eines Philosophen als Antworten, b. Fiktive Gespräche mit und zwischen Philosophen zu ihren Texten und Positionen, c. Fiktive Gespräche mit philosophischen Experten über Texte und Positionen eines Philosophen, 3. In-Texte: Originalbeiträge von Schulbuchautoren, in die philosophische Positionen eingebettet sind, ohne dass dies deutlich werden muss. In der didaktischen Diskussion werden Nach-Texte teilweise kritisch gesehen.11 Allerdings hat man didaktisch manchmal keine andere Möglichkeit, wie Volker Steenblock feststellt: »Die Erstellung von ›Nach-Texten’ ist aus fachphilosophischer Sicht bestreitbar, didaktisch jedoch dadurch zu rechtfertigen, dass andernfalls bestimmte Denkvorstellungen gar nicht in den Horizont von Schülerinnen gelangten […].« 12 Wenn man einen Nach-Text zu einem philosophischen Text schreibt, kann man den Schwierigkeitsgrad dieses Textes an verschiedenen Stellschrauben regulieren13, etwa in Hinsicht auf die Komplexität des Satzbaus, die verwendete Begrifflichkeit und den Umfang des benötigten Vorwissens. Wenn z. B. in einem fiktiven Interview mit KlausMichael Meyer-Abich14 die industrielle Revolution und die damals durch die soziale Krise entstandene Idee der Sozialpflichtigkeit des Eigentums eine Rolle spielt, muss man sich vor dem unterrichtlichen Einsatz eines solchen Textes fragen, ob die Schüler im Geschichtsunterricht schon die industrielle Revolution und die soziale Krise behandelt haben oder ob man hier Hintergrundwissen zur Verfügung stellen muss. Ebenso muss man sich fragen, welche philosophischen Begriffe man voraussetzen kann und wie

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Albus, Vanessa ; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, in: Albus, Vanessa ; Frank, Magnus; Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, Philosophie und Bildung, Bd. 18, LIT Verlag, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2017, S. 219 – 232. Albus und Jost sehen den Einsatz von »Nach-Texten« kritisch. Sie weisen darauf hin, dass Nachtexte auch nur Deutungen seien, deren Plausibilität die Schülerinnen und Schülern nicht prüfen könnten (vgl. ibid., S. 220 ). Es bestehe immer die Gefahr der sachlichen Unangemessenheit (vgl. ibid., S. 221). Sie formulieren als Fazit: »Aus all diesen Bedenken ergibt sich klar, dass ›Nach-Texte‹ nur in geringen Dosen am Anfang philosophischer Bildungsprozesse eine gewisse Berechtigung haben, wenn sie fachphilosophisch autorisiert sind.« ( ibid.) Steenblock, Volker: Philosophische Bildung. Einführung in die Philosophie-Didaktik und Handbuch: Praktische Philosophie, Münsteraner Einführungen – Münsteraner Philosophische Arbeitsbücher, Bd. 1, LIT Verlag, Münster 72013. S. 151. Volker Steenblock hat einen Vorschlag für Kriterien für die Formulierung von Nachtexten gemacht (Steenblock, Volker: »›Nach-Texte‹ oder: Mit vereinfachten Texten bewusst arbeiten. Ein Vorschlag«, a.a.O., S. 220 – 221). Peters, Jörg; Rolf, Bernd: philo praktisch 3. Unterrichtswerk für Praktische Philosophie in NordrheinWestfalen, C.C. Buchner Verlag, Bamberg 2008. S. 142.

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komplex der Gedankengang und der Satzbau sein dürfen, um Schülerinnen und Schüler nicht zu überfordern. Wenn man entscheidet, Schülerinnen und Schüler einen Originaltext lesen zu lassen, muss zunächst eine Diagnose der im Text auftauchenden Schwierigkeiten vorgenommen werden. Wie diese aussehen kann, zeigen Vanessa Albus und Leif Marvin Jost exemplarisch mit der Analyse der sprachlichen Anforderungen auf der Wort-, Satz- und Textebene eines Ausschnittes aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.15 Dabei wird deutlich, wie komplex ein Text von Kant ist und vor wie große sprachliche Herausforderungen er Schülerinnen und Schüler stellt. Daher ist es besonders wichtig, den Unterricht so zu gestalten, dass die Schülerinnen und Schüler diese Herausforderungen bewältigen können und gegebenenfalls Hilfen zum Verstehen erhalten. Für die Unterrichtsgestaltung schlagen sie daher vor, die sprachliche Struktur des zu besprechenden Textes und das sprachliche Verstehen direkt zum Thema zu machen, zum Beispiel durch die gemeinsame Untersuchung von verschachtelten Sätzen an der Tafel oder die gemeinsame Analyse unbekannter Begriffe.

 Hilfen zum Textverstehen Wenn Schülerinnen und Schüler Aufgaben zu Texten bearbeiten können sollen, muss man bei der Planung des Unterrichts zunächst eine Vorstellung davon entwickeln, welche sprachlichen Mittel sie benötigen und ob darüber hinaus noch weitere zur Verfügung gestellt werden müssen. Die unterrichtlichen Hilfen sind deswegen so entscheidend, weil sie den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, einen Fortschritt in die Zone ihrer nächsten Entwicklungsstufe16 zu machen: »Fähigkeiten, die ein Kind heute mit Hilfe zeigt, bieten einen Ausblick auf seine Fähigkeiten von morgen (Zone der nächsten Entwicklung).« 17 Damit Schülerinnen und Schüler die Hilfen immer wieder benutzen und so ihre sprachlichen Fähigkeiten dauerhaft verbessern, hat es sich bewährt, Lernplakate mit Sprachhilfen, Beispielsätzen und fachsprachlichen Begriffen zu entwickeln und im Klassenraum aufzuhängen.18 Die umfangreichsten Hilfen, die man geben kann, sind Modelle der erwarteten Leistung.19 Dafür sind Schülerinnen und Schüler sehr dankbar, denn sie sehen genau, was von ihnen erwartet wird. Modelle können mündlicher und schriftlicher Art sein. Ein

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Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, a.a.O. Der Begriff stammt von Lev Vygotskij; seine Bedeutung hebt der Hamburger Erziehungswissenschaftler André Frank Zimpel hervor: »Das zentrale Kriterium für Unterricht ist die Gewährung von Hilfen, die in der Zone der nächsten Entwicklung des Kindes liegen.« (Zimpel, André Frank: Einander helfen. Der Weg zur inklusiven Lernkultur, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 22014, S. 50). Ibid., S. 17. Zu Merkmalen gelungener Lernplakate vgl. Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Direkte Instruktion. Kompetenzen wirkungsvoll vermitteln, Neue Deutsche Schule, Essen 2019, S. 94. Zur lerntheoretischen Begründung der Arbeit mit Modellen vgl. Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Direkte Instruktion. Kompetenzen wirkungsvoll vermitteln, a.a.O., S. 47– 48.

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schriftliches Modell ist ein Mustertext, in dem eine Lehrerin oder ein Lehrer zum Beispiel zeigt, wie man einen Text analysiert. Wenn man einen solchen Modelltext selbst schreibt, schärft dies den Blick für die Schwierigkeiten, die Schülerinnen und Schüler mit einem Primärtext haben könnten. Man kann dann entsprechende Übungen und Hilfen erstellen, die Schülerinnen und Schüler beim Lernen unterstützen. Wichtig ist, dass man ihnen am Modell genau erläutert, welche Merkmale dieses überhaupt zu einem Modell machen. Dabei sollte man den Schülerinnen und Schülern auch vermitteln, dass sie auf diese Weise das Handwerk erlernen, das sie benötigen, um selbständig Texte analysieren zu können. Sehr wirksam ist ein anderes Modell: das sogenannte Laute Denken20. Wenn Schülerinnen und Schüler lernen sollen, einen Text zu analysieren, stellt ihre Lehrerin bzw. ihr Lehrer laut denkend dar, wie er selbst die Argumentation eines Textes analysiert und was sie bzw. er dabei denkt. So erhalten die Lernenden ein Modell, wie man während der Analyse am Text arbeitet. Da ihnen der Text vorliegt, können sie rechts daneben die einzelnen Argumentationsschritte notieren. Wenn man als Lehrerin oder Lehrer den Schülerinnen und Schülern Muster bietet – sei es schriftlich oder laut denkend –, erfordert das eigene Kompetenzen und auch Mut. Manchmal wird einem sogar erst beim Erarbeiten der Muster bewusst, was man eigentlich genau von den Schülern erwartet. Gerade sprachliches Lernen geschieht häufig über das Imitieren von Mustern, daher sind Modelle ein zentraler Pfeiler eines sprachsensiblen Umgangs mit Texten. Um Schülerinnen und Schüler an die Analyse schwieriger Texte – etwa von Kant – heranzuführen, kann man ihnen z. B. zeigen, wie sich ein komplexer, langer Satz in Teilsätze gliedern lässt, man ihn von seinem Kern, dem Hauptsatz, aus lesen und dann die Inhalte der Nebensätze sukzessive damit verbinden kann. Dazu bekommen die Schülerinnen und Schüler zunächst ein vollständiges Muster einer Satzbauanalyse mit Erläuterung des in dem Satz vermittelten Inhalts. In einem zweiten Schritt erhalten sie eine unvollständige Satzbauanalyse, bei der nur die oberste Zeile ausgefüllt ist, die Ebene des Hauptsatzes. Alles andere müssen sie ergänzen. Im dritten und letzten Schritt bekommen sie dann nur noch einen komplexen Satz und müssen dazu die Satzbauanalyse eigenständig durchführen und den Satz anschließend erläutern.21 Es gibt es noch viele weitere Möglichkeiten, Hilfen zur Erschließung von Texten in der Originalgestalt zu geben. So kann man den Lernenden Strategien vermitteln, wie sie bei Schwierigkeiten vorgehen können. Diese Strategien unterscheiden sich, je nachdem ob es sich um Probleme beim Verständnis von Begriffen, von Sätzen oder von Abschnitten handelt (M2). Man kann auch gezielt zu den einzelnen Schritten der Analyse Tipps und Hilfen geben. So könnte man zur Problemstellung oder zur These jeweils eine Auswahl von 4 Möglichkeiten geben, aus denen Lernende auswählen können. Wenn die Schü-

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Ibid., S. 51– 55. Ein Beispiel dazu findet sich in dem diesen Beitrag zugrunde liegenden Aufsatz: Saum, Tobias: »Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht. Strategien und Methoden zur Unterstützung der Schüler«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 76 –86: S. 85 –86.

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lerinnen und Schüler den Inhalt eines Textes an Beispielen erläutern sollen, könnte man ihnen Bereiche nennen, aus denen sich Beispiele entnehmen lassen. Man könnte auch auf jene Abschnitte oder Zeilen hinweisen, die Hinweise enthalten, die bei der Bewältigung einer Aufgabe helfen (M3). Dieses scaffolding, das Geben eines Gerüsts mit Hilfen, das sukzessive abgebaut wird, ist ein zentrales Element des sprachsensiblen Fachunterrichts.

 Differenzierung bei der Texterschließung Wenn man bei der Diagnose der Lerngruppe feststellt, dass die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler weit auseinandergehen, ist es notwendig zu differenzieren. Dazu gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Entweder bereitet man Arbeitsblätter auf verschiedenen Niveaustufen vor, oder es gibt ein Arbeitsblatt mit einem dazugehörigen Angebot verschiedener Hilfestellungen. Arbeitsmaterialien auf verschiedenen Niveaustufen: Wenn man Arbeitsblätter auf unterschiedlichen Niveaustufen entwickelt, dann bietet es sich an, Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlich schwierigen Texte zu konfrontieren. Während sich die einen mit einem entlasteten Text auseinandersetzen, bearbeiten die anderen den Originaltext. Auf diese Weise können wahrscheinlich alle Schülerinnen und Schüler den Inhalt, um den es geht, erschließen, womit ein frühzeitiges Scheitern in Bezug auf den anstehenden Verstehensprozess verhindert wird. Bei der Vorstellung der Ergebnisse im Plenum können sich alle einbringen: Zuerst stellen jene Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem entlasteten Text auseinandergesetzt haben, ihre Ergebnisse vor, anschließend die anderen. Diese können dann Differenzierungen und Begriffe des Originaltextes einbringen, die der vereinfachte Text nicht enthalten hat. So partizipieren alle Schüler gemäß ihren Möglichkeiten am Unterricht, und das fachliche Niveau befindet sich auf der Höhe des Originaltextes. Die Arbeitsblätter auf unterschiedlichen Niveaustufen können aber auch so gestaltet sein, dass dort die gleichen Texte stehen, diese aber unterschiedlich aufbereitet sind: Der Text für die Ieistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler hat mehr Worterklärungen, in ihm sind vielleicht auch die Schlüsselbegriffe oder -stellen bereits hervorgehoben. Weitere Hilfen wie etwa Fußnoten, Randbemerkungen etc. lassen sich ergänzen. Wenn man solche Arbeitsblätter vorbereitet, sollte man diese im Plenum in ihren Grundzügen vorstellen. Das bringt den Vorteil mit sich, dass Schülerinnen und Schüler sich selbst einer Niveaustufe zuordnen können. Allerdings kann es vorkommen, dass eine Kurslehrerin bzw. ein Kurslehrer noch korrigierend eingreifen muss, nämlich dann, wenn sie bzw. er beispielsweise bemerkt, dass leistungsstarke Schülerinnen und Schüler sich dem leichteren Arbeitsblatt zuwenden. Gleiche Arbeitsblätter mit Hilfsangeboten: Wenn man vermeiden möchte, dass Schülerinnen und Schüler sich verschiedenen Niveaustufen zuordnen müssen, kann man auch allen den gleichen Text geben und die zuvor dargestellten Hilfen zur Verfügung stellen, auf die die Lernenden bei Bedarf zurückgreifen können. Zusätzlich zu den Hil-

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festellungen sollte es auch immer Ergänzungsaufgaben für die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler geben, auf die sie bei Bedarf zurückgreifen können.

 Arbeit am Wortschatz Bei der Erschließung von Texten sollte man besonderen Wert auf den Aufbau eines philosophischen Wortschatzes legen. Dafür gibt es diverse Möglichkeiten: Wörter des Tages22 : In jeder Stunde werden bestimmte Fachbegriffe eingeführt. Indem man sie als »Wörter des Tages« bezeichnet und als solche an der Tafel festhält, hebt man sie besonders hervor. Glossar anlegen: Wichtige Fachbegriffe (etwa die Wörter des Tages) halten die Schüler in einem Glossar fest. Zu jedem Wort schreiben sie jeweils eine Erklärung. Kontextbezogene Wortschatzarbeit: In Bezug auf das behandelte Thema legt man Wortfelder an, Wortschatzlisten oder Tabellen mit Synonymen und Antonymen. Fachbegriffe anwenden: Die Lehrerin bzw. der Lehrer schreibt ausgewählte Begriffe an die Tafel. Die Schülerinnen und Schüler sollen diese dann – sofern es sich in ihren Beiträgen als sinnvoll erweist – in der entsprechenden Unterrichtsstunde nutzen. Eine weitere Möglichkeit, Fachbegriffe zu schulen, besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler einen Lückentext erhalten, in dem sie Fachbegriffe an den passenden Stellen eintragen müssen.

 Sprachliche Förderung beim Unterrichtsgespräch Zur Erschließung eines Textes gehört nicht nur die aufgabengeleitete Arbeit am Text, sondern auch die Präsentation der Ergebnisse und das sich daran anschließende Unterrichtsgespräch. Hier ist erneut ein sprachsensibler Ansatz wichtig. Wenn sich Schülerinnen und Schüler sprachlich unsicher fühlen, führt dies in der Regel zu einer Vermeidungsstrategie: Sie möchten von sich aus keine Unterrichtsergebnisse präsentieren und beteiligen sich auch nicht freiwillig am Unterrichtsgespräch. Hier besteht immer die Gefahr, dass man als Lehrerin oder Lehrer nur diejenigen Schülerinnen und Schüler ihre Resultate präsentieren lässt, die sich melden. Ein solches Vorgehen führt dazu, dass man das Unterrichtsgespräch lediglich mit denjenigen führt, die auch sonst das Unterrichtsgeschehen bestimmen. Einige Lehrerinnen und Lehrer begrüßen ein solches Szenario nur allzu gern, weil es die Chance bietet, fachlich in die Tiefe zu gehen. Der Nachteil, der aus diesem Vorgehen resultiert, besteht darin, dass sich das Leistungsgefälle weiter vergrößert. Gerade die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler benötigen die Unterstützung des Lehrenden besonders. Daher ist es wichtig, auch diejenigen in Unterrichtsgespräche einzubeziehen und zu fördern, die sich nicht von sich aus beteiligen.

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Die Idee stammt von Matthäus Ochmann.

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Wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Ergebnisse im Plenum vorstellen, sollten diese für alle sichtbar sein, so dass jede und jeder folgen und sich bei der Besprechung darauf beziehen kann. Schriftliche Ausarbeitungen können für alle Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer beispielsweise mit einer Dokumentenkamera sichtbar gemacht werden. Neben dem Inhalt kann man auch auf Satzbau, Wortwahl, Grammatik und Rechtschreibung eingehen. So wird die Förderung schriftsprachlicher Fähigkeiten viel einfacher und kann leicht zur Regel bei der Besprechung von Ergebnissen werden. Dabei sollte die Besprechung des Inhalts allerdings im Vordergrund stehen. Auch während des sich an die Präsentation anschließenden Auswertungsgesprächs können sprachfördernde Maßnahmen eingesetzt werden: Schülerinnen und Schüler, die sich aufgrund sprachlicher Defizite nicht am Gespräch beteiligen, kann man zum Beispiel auffordern zu wiederholen, was andere gesagt haben. Auf diese Weise werden sie dadurch entlastet, dass sie selbst keine neuen Inhalte vorzutragen brauchen, sondern sich allein auf die Zusammenfassung und Formulierung bereits geäußerter Gedanken konzentrieren können. Dabei kann das sprachliche Modell der leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler eventuell als Orientierung dienen, denn nicht ausschließlich das Hören, sondern vor allem das Anwenden und Selbstsprechen führt zu einem sprachlichen Fortschritt. Geht man im Unterricht regelmäßig so vor, lässt sich eine erzieherische Wirkung konstatieren: Die Aufmerksamkeit wird gesteigert, weil jeder stets damit rechnen muss, das, was andere gesagt haben, noch einmal mit eigenen Worten zu wiederholen. Man muss nur daran denken, das Unterrichtsgespräch an ausgewählten Stellen zu unterbrechen und Schülerinnen und Schüler aufzufordern, zu sagen, was sie schon verstanden haben. So kann man auch der Gefahr begegnen, die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler zu verlieren. Wie für alle Phasen des Unterrichts gilt auch für das Gespräch über den Text, dass eine Lehrerin bzw. ein Lehrer Sprachvorbild sein sollte: Sie bzw. er sollte klar und verständlich formulieren, keine verschachtelten Sätze bilden, Begriffe, die unbekannt sein könnten, erklären und die eigenen Ausführungen klar strukturieren. Sprachlich korrigieren muss man Lernende vor allem, wenn sich sprachliche Fehler zeigen, wenn etwa Artikel fehlen oder falsch benutzt werden. Dann sollte man das Gesagte in einem korrektiven Feedback überformen und korrekt wiedergeben. Während Kommunikation im Alltag fehlertolerant ist, gilt dies nicht für einen sprachsensiblen, auf Bildungssprache ausgerichteten Unterricht. Daher ist es schließlich auch noch wichtig, darauf zu achten, dass die Schülerinnen und Schüler grundsätzlich in ganzen Sätzen sprechen.

 Zum Abschluss Wenn heute eine größere Anzahl an Schülerinnen und Schülern Schwierigkeiten hat, philosophische Texte zu verstehen, und nicht in der Lage ist, sich klar, strukturiert, differenziert und elaboriert auszudrücken, dann kann man darüber klagen, aber geholfen ist damit niemandem. Besser ist es, sich diesen Umstand zu vergegenwärtigen und den Unterricht so anzulegen, dass dieser Mangel gemindert oder im besten Fall sogar behoben werden kann. Gelingt dieses Unterfangen, haben Schülerinnen und

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Schüler Interesse und Freude, sich an den reichhaltigen Schatz philosophischer Texte zu wagen; und schafft man es, die Inhalte in ihr Blickfeld zu rücken, so merken sie schnell: Tua res agitur.23

M1 Victor Frankl: Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn24

Der Titel umreißt mehr als ein Thema: er umfasst eine Definition, zumindest eine Interpretation des Menschen. Eben als eines Wesens, das letztlich und eigentlich auf der Suche nach Sinn ist. Der Mensch ist immer schon ausgerichtet und hingeordnet auf etwas, das nicht wieder er selbst ist, sei es eben ein Sinn, den er erfüllt, oder anderes menschliches Sein, dem er begegnet. So oder so: Menschsein weist immer schon über sich selbst hinaus, und die Transzendenz25 ihrer selbst ist die Essenz26 menschlicher Existenz27. […] Wovon der Mensch zutiefst und zuletzt durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum Sinn. Und auf Grund eben dieses seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden und zu erfüllen, aber auch anderem menschlichen Sein in Form eines Du zu begegnen, es zu lieben. Beides, Erfüllung und Begegnung, gibt dem Menschen einen Grund zum Glück und zur Lust. Beim Neurotiker28 aber wird dieses primäre Streben gleichsam abgebogen in ein direktes Streben nach Glück, in den Willen zur Lust. Anstatt dass die Lust das bleibt, was sie sein muss, wenn sie überhaupt zustande kommen soll, nämlich eine Wirkung (die Nebenwirkung erfüllten Sinns und begegnenden Seins), wird sie nunmehr zum Ziel einer forcierten Intention. […] Die Lust wird zum alleinigen Inhalt und Gegenstand der Aufmerksamkeit. In dem Maße aber, in dem sich der neurotische29 Mensch um die Lust kümmert, verliert er den Grund zur Lust aus den Augen und die Wirkung »Lust« kann nicht mehr zustande kommen. Je mehr es einem um die Lust geht, um so mehr vergeht sie einem auch schon. […] Was aber die Selbstverwirklichung anlangt, wage ich zu behaupten, dass sich der Mensch nur in dem Maße zu verwirklichen imstande ist, in dem er Sinn erfüllt. […] Jaspers sagt: »Was der Mensch ist, das ist er durch die Sache, die er zur seinen macht.« Analoges gilt ja auch vom Willen zur Lust und vom Willen zur Macht. Während aber die 23

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Vgl. dazu: Wittschier, Michael: »Tua res agitur. Einige praxisnahe Überlegungen zur Motivation im Philosophieunterricht«, in: Rehfus, Wulff D.; Becker, Horst (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel GmbH, Düsseldorf 1986, S. 342 – 351. Frankl, Viktor E: Psychotherapie für den Alltag. Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde, Herder, Freiburg im Breisgau 1992, S. 15 – 18. Transzendenz (lat. transcendere, »hinüberschreiten, übertreten), hier so viel wie: das Überschreiten des bloßen Daseins auf einen Sinn hin. Essenz (lat. essentia): das Wesen, der Kern. Existenz (lat. existentia): das Bestehen, das Dasein. Neurotiker: Mensch, der an einer Neurose (griech. neuron [Nerv, Faser und -ose für Krankheit] leidet und erhebliche Stimmungsschwankungen aufweist. der neurotische Mensch: hier so viel wie: der psychisch gestörte Mensch.

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Lust eine Nebenwirkung der Sinnerfüllung ist, ist die Macht insofern ein Mittel zum Zweck, als die Sinnerfüllung an gewisse gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen und Voraussetzungen gebunden ist. Wann aber ist der Mensch auf die bloße Nebenwirkung »Lust« bedacht, und wann beschränkt er sich auf das bloße Mittel zum Zweck, Macht genannt? Nun, zur Ausbildung des Willens zur Lust beziehungsweise des Willens zur Macht kommt es jeweils erst dann, wenn der Wille zum Sinn frustriert wird, mit anderen Worten, das Lustprinzip ist nicht weniger als das Geltungsstreben eine neurotische Motivation. […] Unser Zeitalter ist das einer existentiellen Frustration. Und zwar ist es im besonderen der junge Mensch, dessen Wille zum Sinn frustriert wird. […] Die Leute heute leben in einem existentiellen Vakuum, das sich vor allem durch Langeweile manifestiert. Langeweile – klingt doch ganz anders, nicht wahr? Viel vertrauter, nicht wahr? Oder kennen Sie zuwenig Leute rings um Sie herum, die über Langeweile klagen? […] Tatsächlich wenden sich heute mehr und mehr Patienten an uns mit dem Gefühl einer inneren Leere, wie ich sie als »existentielles Vakuum« beschrieben und bezeichnet habe, mit dem Gefühl einer abgründigen Sinnlosigkeit ihres Daseins.

 Arbeitsanregung (Stufe 1)  Analysiere den Text, indem du die Problemfrage, die These und die Argumentation erarbeitest.

 Arbeitsanregungen (Stufe 2)  Rekonstruiere die Problemfrage, auf die der Text antwortet.  Gib die These als Antwort auf diese Problemfrage wieder.  Erarbeite die Begründung, die Frankl für seine These gibt.  Erkläre die Gegenpositionen, die Frankl entkräftet.  Erarbeite die Argumente, mit denen Frankl die Gegenpositionen entkräftet.  Erläutere die Schlussfolgerung, die Frankl mit Blick auf die Gesellschaft zieht.

 Arbeitsanregungen (Stufe 3)  Rekonstruiere die Problemfrage, auf die der Text antwortet. ¬ Hilfe: Die philosophische Problemfrage, die der Autor in dem Text beantwortet, lautet…

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 Gib die These als Antwort auf diese Problemfrage wieder. ¬ Hilfe: Als Antwort auf die Problemfrage vertritt der Autor die These …  Erarbeite die Begründung, die Frankl für seine These gibt. ¬ Hilfe: Frankl begründet seine These damit, dass …  Erkläre die Gegenpositionen, die Frankl entkräftet. ¬ Hilfe: Frankl nennt folgende zwei Gegenpositionen …  Erarbeite die Argumente, mit denen Frankl die Gegenpositionen entkräftet. ¬ Hilfe: Die erste Gegenposition entkräftet er, indem er …  Erläutere die Schlussfolgerung, die Frankl mit Blick auf die Gesellschaft zieht. ¬ Hilfe: Frankl zieht die Schlussfolgerung, dass das Hauptproblem der Menschen in seiner Zeit ist, dass …

 Arbeitsanregungen (Stufe 4)  Analysiere den Text, indem du folgende Fragen beantwortest:

1. 2. 3. 4. 5.

Worum geht es in dem Text? Wie definiert Frankl den Menschen? In welchem Verhältnis stehen der Wille zum Sinn und der Wille zur Lust? In welchem Verhältnis stehen der Wille zum Sinn und der Wille zur Macht? Welche Erkenntnis leitet Frankl daraus ab, dass heute viele Menschen über Langeweile klagen?

 Arbeitsanregungen (Stufe 5) Analysiere den Text, indem du folgende Fragen beantwortest:  Worum geht es in dem Text? ¬ Hilfe: Überlege dazu, welche Frage der Text beantwortet.  Wie definiert Frankl den Menschen?

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¬ Hilfe: Kläre dazu die Formulierung »die Transzendenz ihrer selbst ist die Essenz menschlicher Existenz« (Z. 6).  In welchem Verhältnis stehen der Wille zum Sinn und der Wille zur Lust? ¬ Hilfe: Erarbeite dazu, was Frankl als Problem des neurotischen Menschen bezeichnet (Z. 17 – 20) und erkläre es mit eigenen Worten.  In welchem Verhältnis stehen der Wille zum Sinn und der Wille zur Macht? ¬ Hilfe: Erarbeite dazu, wann der Wille zur Macht sinnvoll und wann er eine »neurotische Motivation« (Z. 32.) ist.  Welche Erkenntnis leitet Frankl daraus ab, dass heute viele Menschen über Langeweile klagen? ¬ Hilfe: Kläre dazu die Begriffe »existentielle Frustration« (Z. 32) und »existentielles Vakuum« (Z. 34).

 Arbeitsanregungen (Stufe 6) Analysiere den Text, indem du folgende Fragen beantwortest:  Worum geht es in dem Text? ¬ Hilfe: Überlege dazu, welche Frage der Text beantwortet.

 Arbeitsanregung zu Abschnitt 1 (Z. 1 – 7)  Wie definiert Frankl den Menschen? ¬ Hilfe: Kläre dazu die Formulierung »die Transzendenz ihrer selbst ist die Essenz menschlicher Existenz« (Z. 6 f.).

 Arbeitsanregung zu Abschnitt 2 (Z. 8 – 22)  In welchem Verhältnis stehen der Wille zum Sinn und der Wille zur Lust? ¬ Hilfe: Erarbeite dazu, was Frankl als Problem des neurotischen Menschen bezeichnet (Z. 17 – 20) und erkläre es mit eigenen Worten.

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Tobias Saum

 Arbeitsanregung zu Abschnitt 3 (Z. 23 – 35)  In welchem Verhältnis stehen der Wille zum Sinn und der Wille zur Macht? ¬ Hilfe: Erarbeite dazu, wann der Wille zur Macht sinnvoll und wann er eine »neurotische Motivation« (Z. 32) ist.

 Arbeitsanregung zu Abschnitt 4 (Z. 36 – 44)  Welche Erkenntnis leitet Frankl daraus ab, dass heute viele Menschen über Langeweile klagen? ¬ Hilfe: Kläre dazu die Begriffe »existentielle Frustration« (Z. 32) und »existentielles Vakuum« (Z. 34).

M2 Strategien zur Überwindung von Schwierigkeiten bei der Erschließung von Texten Problem

Strategie

Ich verstehe ein Wort nicht.

Ich überlege, was ich mit dem Wort verbinde: Vorwissen anwenden.

Ich teile das Wort auf. Sagt der Stamm etwas über das Wort oder einen Teil des Wortes? Ich überlege, ob ich aus den Fremdsprachen ein ähnliches Wort kenne.

Ich frage mich, welche Bedeutung das Wort im Kontext haben könnte. Ich setze ein anderes mir bekanntes Wort dafür ein.

Ich schlage das Wort nach oder frage jemanden.

Ich verstehe einen Satz nicht.

Ich teile den Satz auf und versuche zunächst die Teilsätze für sich zu verstehen.

Ich suche zunächst nur das Prädikat und das Subjekt des Satzes und lasse alle anderen Informationen weg.

Danach ergänze ich Schritt für Schritt alle weiteren Informationen, die sich auf das Subjekt und das Prädikat beziehen.

Ich kläre die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Sätze.

Ich möchte den Zusammenhang der Sätze des Abschnittes verstehen.

Ich markiere die Ich verbinde die Schlüsselwörter Schlüsselwörter in jedem Satz mit Pfeilen im Text. des Abschnittes.

Ich schreibe den Kerngedanken, der sich aus den Schlüsselwörtern ergibt, an den Rand des Textes.

Ich stelle Fragen an den Text und versuche sie zu beantworten.

Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht

Problem

239

Strategie

Ich möchte den Zusammenhang der Abschnitte verstehen.

Ich fasse die Kerngedanken des Textes zu einem Text zusammen. Dabei stelle ich die Beziehungen der Gedanken dar.

Ich möchte den Zusammenhang zwischen dem Text und meinem Vorwissen verstehen.

Ich frage mich, was ich über das Thema weiß.

Ich verbinde das, was ich über das Thema, den Autor etc. weiß, mit dem Text.

M3 Analyse eines philosophischen Textes mit Hilfestellungen Schritt 1.

Mögliche Hilfen

Den Text lesen und die Kernaus- Tipps sagen zusammenfassen Markiere möglichst wenig, konzentriere dich auf das Wesentliche. Markiere mit Bleistift, damit du leicht korrigieren kannst. Fasse die Kernaussagen am Rand des Textes zusammen. Hilfekarte Aussagen zur Auswahl; daraus müssen begründet die Kernaussagen ausgewählt werden. Wortschatzkarten mit Begriffserklärungen

2.

Das Problem des Textes bestimmen

Tipps Das Problem ist die Frage, auf die der Text eine Antwort gibt. Wenn das Problem im Text nicht genannt wird, muss man die Frage formulieren, die der Autor mit dem Text beantworten wollte. Hilfekarte 4 mögliche Problemfragen zur Auswahl Formulierungshilfen: In dem vorliegenden Text setzt sich der Autor mit der Problemfrage xy auseinander… Die zentrale Fragestellung des Textes lautet… Die philosophische Problemfrage, die der Autor in dem Text beantwortet, lautet…

240

3.

Tobias Saum

Die These erarbeiten

Tipps Die Problemlösung ist die Antwort des Autors auf seine Frage. Die Antwort ist seine These. Häufig wird eine These besonders hervorgehoben. Hilfekarte Die Schülerinnen und Schüler können 4 Möglichkeiten zur Auswahl bekommen und müssen begründet auswählen. Formulierungshilfen: Als Antwort auf sein Problem vertritt der Autor die zentrale These … Die zentrale These des Autors ist, dass … Die Lösung des Problems formuliert er in folgender These: … Der Autor beginnt mit der einleitenden These, dass …

4.

Die Argumentation rekonstruieren

Tipps Suche danach, wie der Autor seine These begründet. Gibt es Beispiele, die ein Argument belegen oder veranschaulichen? Von welchen Voraussetzungen wird im Text ausgegangen? Welche Schlussfolgerung wird aus den Argumenten gezogen? Gibt es Gegenargumente und werden diese entkräftet? Kläre die zentralen Begriffe und begrifflichen Unterscheidungen. Hilfekarten Liste mit performativen Verben, um die Sprechakte zu benennen. Liste mit sprachlichen Indikatoren für Elemente der Argumentation, etwa Begründungen oder Gegenargumente. Formulierungshilfen: Der Autor geht von folgender Voraussetzung aus: … Der Autor begründet seine These damit, dass … Er veranschaulicht sein Argument mit folgendem Beispiel: … Er führt den Einwand an, dass … Dieses Gegenargument entkräftet er, indem er … Der Autor schließt daraus, dass …

5.

Transfer

Tipps Erläutere den Inhalt des Textes an Beispielen. Hilfekarte Bereiche, aus denen die Beispiele kommen könnten

Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht

241

6. Die innere Stimmigkeit der Argu- Tipps mentation untersuchen Folgt die Konklusion logisch aus den Prämissen? Fehlen Prämissen? Sind die Begriffe definiert und werden sie differenziert verwendet? Gibt es einen Zirkelschluss, wird also nur bewiesen, was vorausgesetzt worden ist? Hilfekarten Hinweise auf Stellen, in denen der Text nicht stimmig ist Hinweis auf Aspekte, die nicht berücksichtigt worden sind (in Frageform oder Hinweis auf bestimmte Abschnitte) Nennung stiller Prämissen Formulierungshilfen: Die Argumentation basiert auf einem Zirkelschluss, denn sie zeigt nur auf, was in den Anfangsvoraussetzungen schon lag, nämlich… Hier fehlt eine wichtige Voraussetzung, nämlich folgende … Der Autor definiert gar nicht, was er mit xy meint. 7. Prüfung der Überzeugungskraft (Tragfähigkeit)

Tipps Überzeugen dich die Begründungen des Autors? Wenn nicht, begründe dies. Begründe auch, wenn du etwas überzeugend findest, etwa mit eigenen Beispielen, die dazu passen. Überzeugen dich die Voraussetzungen, auf denen der Autor aufbaut, zum Beispiel das Menschenbild des Autors? Welche Konsequenzen folgen aus seinen Darlegungen? Sind diese tragbar? Können die in Frage stehenden Phänomene plausibel erklärt werden? Verwende abwägende Formulierungen. Formulierungshilfen: Das Menschenbild überzeugt mich nicht, weil… (zu einseitig, zu idealistisch u. a.). Wenn man die Folgen bedenkt, würde das bedeuten, dass …

242

8. Prüfung der Orientierungskraft

Tobias Saum

Tipps Hilft der Text dir, die heutige Welt besser zu verstehen? Hilft er dir beim Nachdenken über Fragen, die dir wichtig sind? Erweitert er deinen Horizont? Hilft der Text dir, Handlungsoptionen für aus der Alltagswirklichkeit erwachsende Situationen entwickeln? Kannst du mithilfe des Textes eigene Entscheidungen und Handlungen durch plausible Argumente rechtfertigen?

9. Vernetzung

Tipps Stelle gedankliche Bezüge zu anderen philosophischen Ansätzen her. Nenne Gemeinsamkeiten und grenze die philosophischen Ansätze auch voneinander ab.

Quelle: Saum, Tobias: »Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht. Strategien und Methoden zur Unterstützung der Schüler«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 76 – 86 (vom Autor für diesen Band grundlegend überarbeitet).

Resonanztheorie und Bonbonmodell Lesestrategien nach dem Bonbonmodell des Philosophieunterrichts aus resonanztheoretischer Sicht Rolf Sistermann  Philosophische Aspekte der Resonanztheorie Hartmut Rosas viel diskutierte Resonanztheorie hat es inzwischen bis auf die Titelseite des Sterns geschafft. Ungewöhnlich, dass eine soziologische Theorie in einer Illustrierten, selbst einer intellektuell einigermaßen ambitionierten, ein solches Interesse findet. Aber die Resonanztheorie trifft anscheinend den Nerv der Zeit, wie man so sagt. In dem Interview zu der Titelstory formuliert Rosa prägnant den Grundgedanken: »Wir haben eine tiefe Sehnsucht nach einer anderen Art des In-der-Welt-Seins, eine Sehnsucht nach Resonanz. Und um die geht es. Resonanz heißt ja in der Physik so etwas wie Mitschwingen… Ja, das trifft es auch auf der sozialen Ebene. Wir möchten von etwas berührt und bewegt, ja, nennen wir es ruhig »ergriffen« werden. Das kann Musik sein, das können Begegnungen sein, Naturerlebnisse, Reisen oder ein Buch. Es geht darum, dass wir uns im übertragenen Sinne von etwas anrufen lassen und dann auch »aufhören«. Ich mag dieses Wort: Wir halten inne und hören hin.« 1 Können auch philosophische Texte für Schüler und Schülerinnen zu Resonanzerfahrungen werden, die sie berühren und aufhorchen lassen? Im Folgenden will ich untersuchen, ob und wieweit solche Resonanzerlebnisse bei der Arbeit mit philosophischen Texten im Unterricht ermöglicht und in der Unterrichtsplanung zumindest berücksichtigt werden können. Um zu verstehen, was genau Resonanz bei Rosa bedeutet, muss man sich mit seinem 2019 erschienenen Hauptwerk Resonanz intensiver beschäftigen. Dort hat er diese andere Art des In-der-Welt-Seins auf fast achthundert Seiten in anregender und vielfältiger Weise erläutert. Dabei geht er im ersten Teil sorgfältig allen möglichen Quellen des Resonanzbegriffs nach und vergleicht ihn mit ähnlichen Begriffen. Zu den Entdeckern des Resonanzbegriffs, auf die er sich bezieht, gehört u. a. der kanadische Philosoph Charles Taylor, über den Rosa seine Dissertation geschrieben hat. Wie Taylor vermutet er, dass fast alle Menschen »Momente des umfassenden Geborgenseins« und ebenso die anderen Momente 1

Schlenz, Kerster: »›Das Leben als einzige, ausufernde To-do-Liste‹ – Soziologe erklärt, wie Sie den Alltagsstress besser bewältigen«, in: Stern 33/2019, Ausgabe vom 08. August 2020, auch auf: https://www.stern.de/ gesundheit/psychologie/resonanz-so-kommen-wir-im-alltag-wieder-ins-gleichgewicht-8850964.html (Stand: 12.03.2022).

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Rolf Sistermann

kennen, die durch »das Gefühl der Leere, der fehlenden Resonanz« geprägt sind.2 Neben Taylor bezieht sich Rosa auch noch auf den Freiburger Neurologen Joachim Bauer, der 2005 in seinem Buch Warum ich fühle, was du fühlst den Resonanzbegriff benutzte, um die Wirkung der sogenannten Spiegelneuronen anschaulich zu machen. Wichtig ist für Rosa, dass Resonanz nicht einfach mit Harmonie verwechselt wird, die seiner Meinung nach auch steril sein kann und »nicht sprechend« 3. Harmonie ist demnach eher anspruchslos. Resonanz dagegen ist ansprechend und dadurch manchmal auch ausgesprochen anspruchsvoll. Wesentliche Anstöße für eine erkenntnistheoretisch genauere Bestimmung des Resonanzbegriffs erhielt Rosa auch noch durch Thomas Fuchs, dem Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie in Heidelberg. Für Fuchs ist der Leib im Sinne Merleau-Pontys etwas, das weit über den biologischen Körper hinausgeht. Er versteht den Leib als »Resonanzkörper«, der eine »ursprünglich seelische Partizipation an der Welt vermittelt« und uns »mit den Dingen und noch mehr mit den Menschen« verbindet.4 Fuchs hält den Begriff der Resonanz für besser geeignet, die untrennbare Verbundenheit des Organismus mit der Umwelt zum Ausdruck zu bringen als der in der erkenntnistheoretischen Tradition bei Locke, Hume und Kant, aber auch in der reduktionistischen Gehirnforschung bei Roth, Damasio und Metzinger benutzte Begriff der Repräsentation.5 Nach der genauen Erläuterung seines Resonanzbegriffs schildert Rosa im zweiten Teil seines Buches sehr anschaulich und umfassend die verschiedenen Sphären, in denen es zu Resonanzerlebnissen kommen kann. In einer horizontalen Resonanzachse sind dies Familie, Freundschaft und Politik, in einer diagonalen die gegenständliche Welt, Arbeit, Schule und Sport und in einer vertikalen Religion, Natur, Kunst und Geschichte. Die konkreten Beispiele gehen von Filmen wie Ziemlich beste Freunde bis zu Pink Floyds Is there anybody out there und von Eichendorffs Schläft ein Lied in allen Dingen bis zur Begeisterung bei der Fußball-WM. Rosa versteht seine Soziologie der Weltbeziehungen als eine »Kritik der historisch realisierten Resonanzverhältnisse« und erhofft sich eine »modifizierte und erneuerte Form der Kritischen Theorie«.6 Sein Buch, so formuliert er seine Absicht, stellt »den Versuch dar, der Kritischen Theorie einen positiven Begriff zur Verfügung zu stellen, der es ihr erlaubt, über die Kritik hinauszugehen und sich auf die Suche nach einer besseren Daseinsform zu machen.« 7 Nach einem lesenswerten Überblick über die Geschichte der Kritischen Theorie stellt Rosa fest, dass diese Entwürfe zwar al2

3 4

5

6 7

Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, stw 2272, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Berlin 2019, S. 198. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 316. Fuchs, Thomas: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Klett-Cotta (J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger), Stuttgart 2000, S. 21. Fuchs, Thomas Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2009, S. 176. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 36. Ibid., S. 739.

Resonanztheorie und Bonbonmodell

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lesamt darin übereinstimmen, dass »die Moderne ein beträchtliches Potential zur Realisierung und vielleicht sogar zur Totalisierung [… ] stummer Weltverhältnisse birgt«, aber in der Analyse ihrer Ursachen und vor allem der Möglichkeit anderer Beziehungsformen »erstaunlich unscharf« bleiben.8 In der »Geschichte gesteigerter Resonanzsensibilität«, die er im Anschluss an die Kritik der Kritischen Theorie skizziert, orientiert er sich vor allem an der Epoche der Romantik. In dem anfangs erwähnten Interview im Stern akzeptiert er deshalb auch, dass man ihn einen Romantiker nennt, wenn man unter Romantik die Epoche versteht, in der »die Idee der schützenswerten Kindheit geboren, […] die Konzepte der partnerschaftlichen Liebe und der Freundschaft formuliert [und] der Natur und der Kunst ein Eigenwert zugesprochen« wurde. Obwohl ihm die »notorische Unschärfe des Entfremdungsbegriffs« 9 seit Marx bewusst ist, entscheidet er sich für Entfremdung als zentralen Gegenbegriff zu ›Resonanz‹: »Resonanz ist das Andere der Entfremdung, so lautet die begriffliche Kernthese dieses Buches.« 10 Die Entscheidung für den Begriff der ›Entfremdung‹ als Gegenbegriff zu ›Resonanz‹ erscheint etwas unglücklich, weil er ja im Unterschied zu Resonanz keine bewusste Welthaltung anzeigt, sondern eher so etwas wie einen »Verblendungszusammenhang«, der bei Marcuse und Adorno als unausweichliches Verhängnis erscheint. Deren Analyse wird von Rosa als zu pessimistisch kritisiert.11 Rosas Ansatz ist ähnlich wie der von Habermas und Honneth optimistischer. Diese »teilen mit den älteren Vertretern dieser Traditionslinie zwar durchaus die Sorge vor einem Überhandnehmen stummer Weltbeziehungen, rekonstruieren die Moderne jedoch im Kern als Prozess der Steigerung von Resonanzsensibilität und Resonanzfähigkeit – auch wenn sie natürlich andere Begriffe verwenden.« 12 Mit der genaueren Bestimmung des Entfremdungsbegriffs versucht Rosa den Eindruck der Unausweichlichkeit dieser Weltbeziehung zu vermeiden. Er will Entfremdung als einen Modus der Weltbeziehung bestimmen, »in dem die (subjektive, objektive und/oder soziale) Welt dem Subjekt gleichgültig gegenüberzustehen scheint (Indifferenz) oder sogar feindlich entgegentritt (Repulsion).« 13 Der Begriff der Repulsion als Gegenbegriff zu Resonanz erscheint aussagekräftiger als der der Entfremdung. Als eine bewusste Haltung umschließt er Verhärtung, Abwehr und die Bereitschaft zur Rivalität als Charakteristika dieser Weltbeziehung. Im vierten Teil geht Rosa auf Bedingungen und Schwierigkeiten einer resonanten Weltbeziehung ein und grenzt den Resonanzbegriff gegen mögliche Missverständnisse ab. Er hält zuerst noch einmal fest, dass »Konkurrenz und Resonanz […] zwei inkompatible Welthaltungen« 14 sind, aber dann ausdrücklich, dass eine resonante 8 9 10 11 12 13 14

Ibid., S. 596. Ibid., S. 300. Ibid., S. 306. Ibid., S. 578. Ibid., S. 585. Ibid., S. 306. Ibid., S. 695.

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Weltbeziehung nicht die einzig richtige ist, sondern dass es auch Umstände und Verhältnisse gibt, in denen eine repulsive Beziehung durchaus ihre Berechtigung hat. Er warnt vor der »Überfrachtung mit Resonanzerwartungen«. Denn diese ist »ein zuverlässiger Hemmfaktor für deren Erfüllung«.15 Er hält sogar »die Entfremdung als Fähigkeit zur Unterbrechung oder Stillstellung von Resonanzen, aber auch hinsichtlich der intersubjektiven Begegnung und der moralischen Entwicklung von Individuen [für] eine eminent wichtige Fähigkeit, zu deren Schutz es geradezu so etwas wie ein Grundrecht auf Resonanzverweigerung geben sollte.« 16 Manchmal ist dieser Schutz nötig, denn Menschen sind im Resonanzmodus »grundsätzlich verletzbar«.17 Resonanz darf auch nicht verwechselt werden mit dem, was in den »kommerziellen Resonanzoasen« geliefert wird, z. B. im Kino, in den Fernsehshows, in der Werbung oder der Aromatherapie. Dort wird die Berührung oft durch Rührung ersetzt. Die dort erzeugte Welt »mag die rezipierenden Subjekte sensuell und affektiv überwältigen, doch es etabliert sich keine beidseitig vibrierende Resonanzachse. Und weil auf diese Weise die Selbstwirksamkeit ermöglichende Verbindung fehlt, steht die Affizierung stets in der Gefahr, reine Rührung an die Stelle der Berührung treten zu lassen.« 18 Ähnliches gilt für die Art, in der im Faschismus Begeisterung erzeugt wurde. Weil es dort nicht um Selbstwirksamkeit ging, also darum, dass die Menschen eigene Ideen entwickelten und initiativ wurden, trat an die Stelle der Resonanz eine Echobeziehung, in der es nur noch um den Nachhall der immer gleichen Parolen ging. »Hier liegt dann auch der Grund dafür, dass faschistische Vergemeinschaftung Resonanzbeziehungen mit Echobeziehungen verwechselt.« 19

 Lesestrategien und Resonanzpädagogik In seinem 2018 erschienen Buch Unverfügbarkeit, in dem er eine lesefreundliche Zusammenfassung seiner Resonanztheorie bietet, hat Rosa vier Momente der Weltbeziehung durch Resonanz zusammengestellt. Gleichzeitig hat er diese vier Merkmale noch einmal in der österreichischen Zeitung Die Presse aufgeführt: 1) 2) 3) 4)

Das Moment der Berührung. […] Das Moment der Selbstwirksamkeit. […] Das Moment der Transformation. […]. Das Moment der Unverfügbarkeit.20

15

Ibid., S. 635. Ibid., S. 742. Ibid., S. 643. Ibid., S. 705. Ibid., S. 743. Rosa, Hartmut: »Hartmut Rosa über RESONANZ«, in: Die Presse, Print-Ausgabe vom 17. März 2018, auch auf: https://webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:w2Vv1ZSppX4J:https://eine-soli

16 17 18 19 20

Resonanztheorie und Bonbonmodell

247

Wie können Lesestrategien im Philosophieunterricht diesen Momenten des Resonanzbegriffs gerecht werden ? Wenn man Rosas Kapitel über die »Kraft der Kunst« (IX.3) liest, in dem es u. a. auch um das Ergriffensein von Literatur geht, kann man sich nicht vorstellen, dass bestimmte Lesestrategien dem überhaupt beikommen können. Er zitiert dort aus einem berühmt gewordenen Brief Franz Kafkas: »Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?« Weiter heißt es dann: »Das Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«. Diese ungeheure Forderung Franz Kafkas ist für Rosa ein Beispiel für die Vermischung von Resonanz- und Entfremdungserfahrung, durch die sich ein Kunstwerk auszeichnet.21 Nun ist ein philosophischer Text kein Kunstwerk. Aber damit ist die Latte auch für das Verständnis philosophischer Texte hoch gehängt. Wie kann man dem im Unterricht gerecht werden? Am ehesten kommt dem noch Emil Staigers klassische Aufgabenstellung der Literaturwissenschaft nahe: »Dass wir begreifen, was uns ergreift, das ist das eigentliche Ziel aller Literaturwissenschaft.« 22 Damit ist aber ein Ausgehen vom subjektiven Gefühl verbunden. »Denn ohne das erste Gefühl vermag ich am Text überhaupt nichts wahrzunehmen, da weiß ich nicht, was wesentlich, was lebendig und was konventionell ist.« 23 Aber können Gefühle eine Grundlage für das Textverstehen im Philosophieunterricht sein, und kann man das Ergriffensein überhaupt durch Lesestrategien erfassen? Als Lesestrategien im Philosophieunterricht kann man Strategien verstehen, die im Umgang mit philosophischen Texten kontrollierbare und messbare Kompetenzen vermitteln. So z. B. die Fähigkeiten, leicht auffindbare Informationen zu lokalisieren, den Hauptgedanken zu erfassen, widersprüchliche und indirekte Informationen zu erschließen, nicht vertraute Inhalte zu verstehen, längere Texte kritisch zu bewerten oder zu einer Fragestellung eine größere Anzahl unbekannter Texte auszuwählen und zu verarbeiten. Solche Kompetenzen hat Anita Rösch zusammengestellt und Textkompetenzen genannt.24 Claudia Brahmi hat in ihrer Dissertation über Textverstehen im Philosophie- und Ethikunterricht die Fokussierung auf diese Kompetenzen als unzulänglich gekennzeichnet: »Vergleicht man […] Röschs Ausführungen zur Textkompetenz mit Ergebnissen aus der Deutschdidaktik und der Leseforschung, dann fällt auf, dass Rösch lediglich den Teil der vermeintlich messbaren Leistung und der Indikatoren in den Vordergrund stellt, ohne genauer auf jene

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darische-welt.de/wp-content/uploads/2019/02/Hartmut-Rosa_RESONANZ.docx +&cd=2&hl=de&ct=clnk&gl=de&client=firefox-b-d (Stand: 12.03.2022). Kafka, Franz: Briefe 1902 – 1924, Frankfurt a.M. 1958, S.27f. Zit.: Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 486. Staiger, Emil: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, Atlantis Verlag, Zürich 1953, S. 11. Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik, Atlantis Verlag, Zürich/Freiburg im Breisgau 71966, S. 244 – 245. Rösch, Anita: Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER, LIT Verlag GmbH & Co. KG, Berlin/Münster/Wien/Zürich 32012, S. 219.

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geistigen Operationen einzugehen, die überhaupt zum Erbringen einer Verstehensleistung notwendig sind: Welche geistigen Operationen benötigen wir denn eigentlich, um den Hauptgedanken eines Textes in eigenen Worten wiederzugeben ?« 25 Sie selbst orientiert sich in ihrer mit empirischen Erhebungen abgestützten umfangreichen und methodisch einfallsreichen Untersuchung zum Textverständnis im Philosophie- und Ethikunterricht vor allem an Jürgen Grzesik. Lesestrategien sind für Grzesik Kombinationen von textverstehenden Operationen.26 Damit soll die Grundlage für die »Bildung Mentaler Modelle« als der »höchsten Form des Textverstehens« 27 geschaffen werden. Bei der Wahl zwischen einem kognitiven und einem aneignenden Textzugang nach der Typologie von Peter Tepe entscheidet sich Claudia Brahmi eindeutig für den ersten und gegen den zweiten. Sie bezieht sich dabei ausdrücklich auf Wulff D. Rehfus und dessen Reaktion auf den kommunikativpragmatischen Ansatz von Ekkehard Martens vor fast vierzig Jahren. Bei Rehfus ging es allein um den Autor und nicht um die Probleme der Rezipienten, also der Schülerinnen und Schüler. Auch Brahmi propagiert die »Rückkehr des Autors« und kann das, was sie mit Textverstehen meint, nämlich »die Bildung eines Mentalen Modells […]«, nicht anders als unter Rückgriff auf einen dem Text vom Autor eingeschriebenen Sinn denken. Wissenschaftliches Interpretieren, zu dem sie die Schülerinnen und Schüler führen will, ist nach ihrer Ansicht »ein kognitiver Textzugang, der einen dem Text eingeschriebenen, objektiven Sinn, den es zu rekonstruieren gilt, annimmt«. »Aneignende Interpretationen«, so behauptet sie anschließend, »zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, dass ein Text letztlich nur zum Ausgangspunkt beliebiger Assoziationen wird.« 28 Der mit der Bildung eines Mentalen Modells verbundene kognitive Ansatz beruht auf einer Wahrnehmungstheorie der Repräsentation, denn er setzt eine Analogie zwischen dem Textinhalt als Repräsentandum und der mentalen Repräsentation voraus.29 Brahmi sieht durchaus auch die Bedeutung eines resonanztheoretischen Ansatzes des Textverstehens im Sinne von Rosa30, macht die Diskrepanz zu dem von ihr favorisierten kognitiven Ansatz aber nicht 25

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Brahmi, Claudia: Textverstehen im Philosophie- und Ethikunterricht der gymnasialen Oberstufe. Eine fachdidaktische Studie, Philosophie und Bildung, Bd. 20, LIT Verlag, Münster 2019, S.53. Grzesik, Jürgen: Textverstehen lernen und lehren. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen, Klett Verlag, Stuttgart/München/ Düsseldorf/Leipzig, 1996, S. 356. Grzesik hat neun Gruppen textverstehender Operationen ausgemacht: 1. Dekodierung subsemantischer semiotischer Information, 2. Rekodierung der Wort- und Satzsemantik, 3. Repräsentation von Textinformation in Begriffen und Vorstellungen, 4. Gewinnung von implizierter Information aus Wort- und Satzsemantik, 5. Generierung ästhetischer Information, 6. Herstellung von Bezügen zu außertextlichen Sachverhalten, 7. Kritik der Textinformation, 8. Bildung komplexer Zusammenhänge von textverstehenden Urteilen und 9. Selbststeuerung des eigenen Textverstehens. Brahmi, Claudia: Textverstehen im Philosophie- und Ethikunterricht der gymnasialen Oberstufe. Eine fachdidaktische Studie, a.a.O., S. 529. Ibid., S. 530f. Ibid., S. 528. Ibid., S. 62 – 70.

Resonanztheorie und Bonbonmodell

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deutlich. Nach Thomas Fuchs, auf den sich Rosa bei seinem Verständnis von Resonanz bezieht, geht es dabei gerade nicht um Repräsentation: »Der Begriff der Repräsentation, der inneren Bilder, ist aus der visuellen Sphäre abgeleitet, die am meisten von allen Sinnesmodalitäten ein statisches Gegenüber von Wahrnehmendem und Wahrgenommenen herstellt. Er beruht auf einer Wahrnehmungstheorie, die uns nicht mit der Welt in Verbindung bringt, sondern nur mit aus Sinnesdaten gewonnenen Konstrukten.« Dagegen, so fährt er fort, stellt »der Resonanzbegriff […] eine zeitlich übergreifende Beziehung zwischen den beteiligten Systemen her. Anders als Repräsentandum und Repräsentat, Vorbild und Abbild, lassen sich »Resonandum« und »Resonans« daher nicht voneinander trennen.« 31 Wenn man sich die vier Momente des Resonanzbegriffs noch einmal vor Augen führt – das der Berührung, der Selbstwirksamkeit, der Transformation und der Unverfügbarkeit –, erscheint die kognitive Rekonstruktion eines »objektiven Sinns«, mit dem man das Mentale Modell des Autors erfassen will, nicht so sehr verschieden von dem kompetenzorientierten Ansatz. In beiden steht die Verfügbarkeit über den vermeintlich objektiven Sinn des Textes an erster Stelle und spielt die Frage keine Rolle, ob und wie der Text den Schüler überhaupt angeht.32 Rosa unterscheidet im Moment der Transformation im Resonanzbegriff Aneignung von Anverwandlung. Abgesehen davon, dass zu bezweifeln ist, ob es so etwas wie einen objektiven Sinn gibt, sollte man im Philosophieunterricht nach einer Möglichkeit suchen, kognitive und aneignende Interpretationen miteinander zu verbinden, damit es möglicherweise zu einer Anverwandlung kommt, wenn man schon über eine reine Kompetenzorientierung hinausgehen will. Rosa hält Kompetenzen durchaus für notwendig. Sie können jedoch seiner Meinung nach niemals Endzweck von Bildung sein. »Versteht man Bildung als Kompetenzentwicklung – eben dieses Verständnis dominiert heute in Wissenschaft und Politik –, dann lässt sich erstens mittels exakter Lehrpläne planen, wann was gelernt werden soll, zweitens mittels weltweit vergleichender, exakter Erhebungsmethoden (PISA) genau messen, ob die Ziele erreicht wurden, drittens mittels gezielter Lehrund Lernmethoden und einer evidenzbasierten wissenschaftlichen Begleitforschung genau bestimmen, wann an welchen Stellschräubchen wie gedreht werden muss, um die Ergebnisse zu verbessern. Das jedenfalls ist der Traum aktueller Bildungspolitik – wenngleich jede Lehrerin und jeder Lehrer aus erfahrungsbasierter alltäglicher Arbeit nur allzu genau weiß, dass Bildung so nicht funktioniert. Bildung, so habe ich in mehreren Publikationen zu zeigen versucht, ist ein bestenfalls halbverfügbarer Prozess des In-Resonanz-Tretens zwischen Subjekt und Welt bzw. zwischen Kind und einem bestimmten Weltausschnitt: Bildung ereignet sich nicht dort, 31

32

Fuchs, Thomas: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, a.a.O., S. 176. In einer längeren Anmerkung wendet sich Brahmi ausdrücklich gegen Bettina Bussmanns gut begründete Forderung, philosophische Theorien »als Antwortmöglichkeiten auf eine möglichst lebensweltlich verankerte Problemstellung […] zu sehen, die eben auch heute noch relevant ist« (Brahmi, Claudia: Textverstehen im Philosophie- und Ethikunterricht der gymnasialen Oberstufe. Eine fachdidaktische Studie, a.a.O., S.453).

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wo eine bestimmte Kompetenz erworben wird, sondern dann, wenn ein gesellschaftlicher relevanter Weltausschnitt »zu sprechen beginnt«.« 33 Im folgenden dritten Abschnitt wird es um die Frage gehen, ob bei dem Bonbonmodell zumindest eine solcher »halbverfügbarer Prozess des In-Resonanz-Tretens« möglich ist.

 Das Bonbonmodell aus resonanztheoretischer Sicht Im Anschluss an die Stufen des Denkens bei Dewey, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von den Lernpsychologen Heinrich Roth und genauer noch von Werner Correll als notwendige Abfolge eines natürlichen Lernprozesses begriffen wurden, kann man folgende Phasen in einem problemorientierten Unterricht unterscheiden:34 1. Phase) Hinführung, 2. Phase) Problemstellung, 3. Phase) Phase der intuitiven, selbstgesteuerten Problemlösungsversuche, 4. Phase) Phase der angeleiteten, kontrollierten Problemlösungsversuche, 5. Phase) Festigungsphase, 6. Phase) Transferphase.

33 34

Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit, Unruhe bewahren, Residenz Verlag, Wien/Salzburg 2018, S. 79. Sistermann, Rolf: »Problemorientierung, Lernphasen und Arbeitsaufgaben«, in: Pfister, Jonas; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts, UTB 4514, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 197– 217 und Sistermann, Rolf: »Der experimentelle Empirismus John Deweys und die Problemorientierung nach dem Bonbonmodell«, in: Martens, Ekkehard (Hrsg.): Empirie und Erfahrung im Philosophie- und Ethikunterricht, Siebert Verlag, Hannover 2017, S. 114 – 133.

Resonanztheorie und Bonbonmodell

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Zwei dieser Phasen, die Problemstellung und die Festigung, erfordern eine enge Unterrichtsführung, andere Phasen, vor allem die Phase der selbstgesteuert-intuitiven Problemlösung und die Transferphase, eine offenere Vorgehensweise. Wenn man sich den Wechsel von weiteren und engeren Unterrichtsphasen graphisch vor Augen führt, entsteht eine Figur, die einem in Bonbonpapier gewickelten und an zwei Stellen eng zusammengedrehten Bonbon ähnelt. Ich spreche deshalb seit 2005 von dem »Bonbonmodell des Lernprozesses« als dem Unterrichtsmodell, das einem problemorientierten Philosophieunterricht am angemessensten ist. In der Abfolge von selbstgesteuert-intuitiven und angeleitet-kontrollierten Problemlösungsversuchen bietet es die Möglichkeit, aneignende und kognitive Textzugänge miteinander zu verbinden. Das Bonbonmodell des Lernprozesses impliziert eine bestimmte Lesestrategie, nämlich eine, die einer Schülerin oder einem Schüler Raum gibt, die Erwartungen an einen Text oder die Fortsetzung eines Textes zu reflektieren, zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Sie sollen angeregt werden, über die Probleme der Texte erst

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einmal selbst nachzudenken und eigene Lösungen zu entwickeln, bevor sie mit den Texten konfrontiert werden. Entscheidend ist, dass die Schülerinnen und Schüler das Problem nachvollziehen können, dass es sie wirklich etwas angeht und dass es sie, wie Volker Gerhardt formuliert hat, berührt: »Probleme erkennt man nicht wie einen Gegenstand, von dem man sich jederzeit wieder abwenden kann. Wenn es echte Probleme sind, die uns ganz berühren, dann fordern sie uns auch ganz und verlangen eine eigene, aus uns selbst kommende Aktivität.« 35 Darin unterscheiden sich Probleme von klärenden oder weiterführenden Fragen in einem fragend-entwickelnden Unterricht ebenso wie von den Fragen, die an einem rein kognitiven Interpretationsansatz ausgerichtet sind. In der Arbeit an Problemen kommt der Unterricht nach dem Bonbonmodell der Resonanztheorie nahe. Präsentative Medien wie Bilder, Filmausschnitte oder literarische Texte sind besonders gut geeignet, um Schülerinnen und Schüler auch im Philosophieunterricht an Probleme so heranzuführen, dass sie sich von ihnen betroffen fühlen. Michael Wittschier hat kürzlich in seinem neuen Buch Mit Dichtern denken fünfundachtzig Unterrichteinheiten nach dem Bonbonmodell vorgelegt, in denen Schülerinnnen und Schüler der Sek. I ausgehend von literarischen Texten zum philosophischen Denken angeregt werden.36 Die literarischen Texte enthalten ein hohes Motivationspotential, weil in ihnen die menschlichen Lebensumstände konkreter dargestellt sind als in einem philosophischen Text. Sie ermöglichen die »imaginative ,Teilnahme‹ an vielfältigen Handlungszusammenhängen, Motiven, Gefühlen, Haltungen, Sichtweisen und Stimmungen«.37 Dadurch werden die Schüler und Schülerinnen zu persönlichen Stellungnahmen und eigenen weitergehenden Gedanken angeregt. In dem dreibändigen Unterrichtswerk Weiterdenken sind auch alle Unterrichtseinheiten nach dem Bonbonmodell aufgebaut.38 Als Hinführung zu der jeweiligen Problemstellung dienen Ausschnitte aus literarischen Texten oder Beschreibungen von Filmen, die die jeweiligen Unterrichtseinheiten zu einem Thema miteinander verbinden. Weil die zum Teil sehr anspruchsvollen philosophischen Texte auf genau die gleiche Frage Antworten enthalten, mit denen sich die Schüler zuvor eigenständig beschäftigt haben, sind sie in der Lage, diese trotz der Schwierigkeiten zu entschlüsseln und mit ihren Antworten zu vergleichen. So ist die Chance gegeben, dass es zu einer Verbindung von kognitivem und aneignendem Textzugang kommt, ohne dass die Texte »letztlich nur zum Ausgangspunkt beliebiger Assoziationen« werden, wie Brahmi befürchtet.

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Gerhardt, Volker: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, RUB 9761, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999, S. 46 – 52. Wittschier, Michael: Mit Dichtern denken. 85 literarische Texte mit Stundenblättern und allen Materialien für Praktische Philosophie und Ethik in der Sek I, Westermann Verlag, Braunschweig 2019. Gabriel, Gottfried: »Vergegenwärtigung in Literatur, Kunst und Philosophie«, in: Gethmann, Carl Friedrich (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft, XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie 15. – 19. September 2008 an der Universität Duisburg – Essen, Kolloquiumsbeiträge, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011, S. 726 – 745: S. 734. Sistermann, Rolf (Hrsg.): Weiterdenken, 3 Bde., Schroedel, Braunschweig 2009 – 2012.

Resonanztheorie und Bonbonmodell

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Bei allen Vorzügen ist das Bonbonmodell sicher auch ergänzungsbedürftig. Ich sehe zumindest drei Felder, auf denen die Resonanztheorie Anstöße zur Weiterentwicklung der Arbeit mit dem Bonbonmodell geben kann. Erstens kann die Resonanztheorie daran erinnern, dass das Bonbonmodell zwar einen Lernprozess und einen Lernerfolg sehr wahrscheinlich macht, aber keine Garantie dafür ist, dass es zu einem nachhaltigen Bildungserlebnis kommt, das begeistert39 und an das Schülerinnen oder Schüler sich noch nach Jahren erinnern können. Allerdings kann die Planung nach dem Bonbonmodell dafür sorgen, dass Resonanzerlebnisse zumindest nicht verhindert werden. Indem die Schülerinnen und Schüler sich z. B. in die Situation der handelnden Personen einer Geschichte versetzen, sind sie motiviert, sich gemeinsam an der Lösung eines auftauchenden Problems zu versuchen. Sie sind involviert und engagiert, wenn sie merken, dass das Problem sie auch selbst angeht. Die Resonanzerlebnisse selbst bleiben aber letztlich unverfügbar. Zweitens kann die Resonanztheorie die Suche nach Problemstellungen erleichtern, die die Schüler wirklich angehen. Nach Ursula Wolf sind die spezifisch philosophischen Probleme »in der Struktur der menschlichen Existenz angelegt, die durch Grundspannungen, unauflösbaren Aporien gekennzeichnet ist.« 40 Problemstellungen unterscheiden sich von kognitiven fachwissenschaftlichen Fragestellungen dadurch, dass sie die Polaritäten des Lebens betreffen. Um in literarischen Texten ergiebige und für die Schülerinnen und Schüler nachvollziehbare Probleme zu finden, ist es hilfreich, sich eine Liste möglicher Grundspannungen oder Polaritäten, wie man sie auch nennen kann, vor Augen zu führen. Zum Themenfeld Anthropologie kann man beispielsweise auf die Liste zurückgreifen, die der Philosoph und Theologe Paul Tillich zusammengestellt hat und die auch die Themenfelder Ontologie und Ethik berührt. Er unterscheidet drei ontologische Grundpolaritäten, die unsere Existenz und alles Sein bestimmen: Freiheit und Schicksal, Dynamik und Form und Individuation und Partizipation.41 Die Polarität von Freiheit und Schicksal entspricht der dritten von Kants Antinomien der reinen Vernunft. Die Polarität von Dynamik und Form hat Ähnlichkeiten mit dem Gegensatz von Stofftrieb und Formtrieb, den Schiller in seinen ästhetischen Briefen beschrieben hat, oder auch dem Gegensatz zwischen einem hysterischen und einem zwanghaften Charakter bei dem Psychologen Fritz Riemann, den Rosa rezipiert hat.42 Für die Polarität von Individuation und Partizipation hat Schopenhauer in seiner Parabel von den Stachelschweinen in einer kalten Winternacht, die gleichzeitig Distanz und Nähe suchen, ein einprägsames Bild gefunden. Sie entspricht Arthur Koestlers anthropologischer Entgegensetzung von selbstbehauptender vs. integrativer Ten-

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Zur Bedeutung der Begeisterung in der Resonanzpädagogik vgl. Rosa, Hartmut; Endres, Wolfgang: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2016. Wolf, Ursula: »Begriffliche Spannungen und existenzielle Aporien«, in: Schulte, Joachim und Wenzel, Uwe Justus (Hrsg.): Was ist ein ›philosophisches Problem‹?, FW 14931, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 197– 202. Tillich, Paul: Systematische Theologie, 3 Bde., Bd. 1, Evangelisches Verlagswerk, Stuttgart 31956, S. 206 – 217. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 193 – 195.

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denz43 oder dem Dilemma von Selbstbehauptung und Teilhabe, an dessen Leitfaden Werner Becker eine Skizze der Kultur- und Geistesgeschichte vorgelegt hat.44 Die Polarität von Repulsion und Indifferenz auf der einen Seite und Resonanz als Weltbeziehung auf der anderen Seite, die Rosas Werk in den verschiedenen Lebensbereichen veranschaulicht, entspricht der von Individuation und Partizipation bei Tillich. Mit der Typologie von Repulsion und Resonanz stehen den Schülern und Schülerinnen gut verständliche begriffliche Kategorien zur Verfügung, um unterschiedlichste Texte und Quellen auf die in ihnen zum Ausdruck kommende Weltbeziehung eigenständig analysieren und einordnen zu können. Drittens kann die Resonanztheorie darauf aufmerksam machen, dass das Hören mindestens so wichtig ist wie das Sprechen. »Eine gute Lehrkraft fungiert deshalb nicht nur als erste, ›inspirierende‹ Stimmgabel, sondern ist als zweite Stimmgabel, als ›Rezeptor‹, auch in der Lage, feinfühlig auf die die Bedürfnisse, Stimmungen und Interessen der Schüler zu reagieren.« So schreibt Rosa in dem Kapitel über »Schule als Resonanzraum« unter Bezug auf die die Forschungen John Hatties zur Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung.45 Eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung lebt davon, dass Lehrerinnen oder Lehrer sich auf die Kunst des Hörens verstehen müssen. Sie müssen unter anderem in der Lage sein, im Sinne einer situativen Didaktik auch einmal eine geplante Problemstellung zurückstellen zu können, wenn ein aktuelles Problem, z. B. ein Streit in der Klasse oder auf dem Schulhof, die Schüler im Moment mehr beschäftigt als der Lehrstoff. Vor allem aber ist der Humor, mit der Lehrende im Unterschied zur Ironie auch einmal von dem Interesse an Selbstdarstellung Abstand nehmen können, sowohl für eine gelungene Lehrer-Schüler-Beziehung als auch für ein förderliches Lernklima wichtig. In dem zusammen mit dem Pädagogen Wolfgang Endres veröffentlichten Buch über »Resonanzpädagogik« hat Rosa den Humor als wichtigen Indikator für Resonanzverhältnisse beschrieben. »Humor ist eine Grundhaltung, mit Unzulänglichkeiten umzugehen. Dieses Lösen von Verhärtungen schafft ein Lern- und Arbeitsklima, in dem man Fehler machen darf. Dann ist Humor im Resonanzraum Schule ein starker Motivationsfaktor.« 46 Das Bonbonmodell, so kann man zusammenfassen, ist sicher kein Garant für Resonanzerfahrungen im Unterricht. Es wird aber solche auch nicht verhindern, sondern bietet eher die Chance, diese zu ermöglichen. Damit ist schon viel erreicht. Man kann es als einen Weg ansehen, einen »halbverfügbaren Prozess des In-Resonanz-Tretens« in Gang zu setzen.

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Koestler, Arthur: Der Mensch – Irrläufer der Evolution. Die Kluft zwischen unserem Denken und Handeln – eine Anatomie menschlicher Vernunft und Unvernunft, Wilhelm Goldmann Verlag, München 1978, S. 67ff. Becker, Werner: Das Dilemma der menschlichen Existenz. Die Evolution der Individualität und das Wissen um den Tod, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2000. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 416. Rosa, Hartmut; Endres, Wolfgang: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert, a.a.O., S. 69.

Wie kann man philosophischen Unterricht digital unterstützen? Klaus Blesenkemper  I. Einleitung und Überblick: Digitalerfahrungen in schulischer und hochschulischer Lehre Der von mir gehaltene zweistündige Workshop im Rahmen der Tagung Geist im Netz? – Chancen und Gefahren von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz an der Universität Duisburg-Essen, vom 01. – 03. November 2019, geht im Wesentlichen zurück auf die Lektüre eines Aufsatzes von Vanessa Albus und Leif Marvin Jost.1 Während sich der erste Teil des auf sprachsensible Bildung im Philosophieunterricht abzielenden Beitrags mit sogenannten Nach-Texten befasst,2 wird im zweiten Teil am Beispiel eines kurzen Auszugs aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine »regelgeleitete Analyse der philosophiesprachlichen Gestalt« 3 auf der Text-, der Satz- und der Wortebene vorgeführt. Gerade weil ich die Intention der Autoren teile, Schülerinnen und Schüler auch darin zu fördern, schwierige Primärtexte zu ›knacken‹, war ich in einem Punkt mit dem Ergebnis, vor allem aber mit der Darstellung unzufrieden. Meine diesbezüglichen Erwägungen bezogen und beziehen sich ausschließlich auf den Teil der syntaktischen Analyse, also auf den Aspekt der Satzebene. Seit mehr als 30 Jahren mit Textverarbeitung am Computer vertraut, zerlegte ich einen für mich fraglichen Satz mit Tools meines Textverarbeitungsprogramms – und dachte mir, so könnten doch auch Schülerinnen und Schüler und Studierende verfahren, wenn sie sich ihre philosophische bzw. vorbereitende philologische Arbeit digital erleichtern wollen. In einem Seminar hatte ich dann Gelegenheit, dieses Verfahren mit Studierenden zu erproben. Das zentrale Kapitel ist diesen Überlegungen zur digitalen Unterstützung einer syntaktischen Analyse mit Textverarbeitung gewidmet. Daran schlossen sich drei weitere ergänzende an:

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Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, in: Albus, Vanessa; Frank, Magnus; Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, Philosophie und Bildung, Bd. 18, LIT Verlag, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2017, S. 219 – 232. Dazu ausführlich: Blesenkemper, Klaus: »Lesen erleichtern: Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht«, Beitrag in diesem Band. Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, a.a.O., S. 223.

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Auch meine Erfahrungen aus den letzten Jahren meiner schulischen Lehrtätigkeit mit interaktiven Whiteboards lassen sich in entsprechende Empfehlungen für eine texterschließende Visualisierung durch Schülerinnen und Schüler und Studierende transformieren, und zwar unter Verwendung eines gängigen Präsentationsprogramms. In meiner Zeit als Hochschullehrer habe ich Studierende auch auf ihre Praxissemester vorbereitet und in diesem Zusammenhang einschlägige Schulbücher vergleichen lassen. Dabei stieß ich auf eine interessante Form von Nach-Texten, die man – so meine Empfehlung, noch ohne Erfahrung – in eine motivierende produktionsorientierte Texterschließung umwenden kann, und zwar wieder mithilfe eines Textverarbeitungsprogramms. Sokratische Gespräche lassen sich ebenfalls digital unterstützen. Das entsprechende Konzept habe ich entwickelt, als ich in einer Philosophie-AG der 5. Klasse sokratisch verfahren wollte. Abschließend folgt ein kurzes Fazit. Im Workshop wurden drei Verfahren (syntaktische Analyse mit Textverarbeitung, texterschließende Visualisierung und produktionsorientierte Texterschließung) an konkreten Beispielen ausprobiert. Ich bezeichne sie aus folgenden Gründen als ›einfache‹ Beispiele: 1. Es wird nur die übliche Hardware benötigt, nämlich: a) jeweils ein Laptop oder ein Tablet für die Arbeit der Lernenden und der Lehrperson, b) ein Beamer (gegebenenfalls in ein interaktives Whiteboard integriert) für die Ergebnispräsentationen. Er sollte mit den Laptops kabellos (gegebenenfalls über den Rechner der Lehrperson) verbunden werden können. Zur Not kann man aber einfach – wie im Workshop – den jeweiligen Laptop mit dem Beamer direkt per Kabel (VGA oder HDMI) verbinden. 2. Es wird nur gängige Programm-Software benötigt, nämlich a) ein Textverarbeitungsprogramm auf den Laptops. Die folgenden Beispiele operieren mit dem WORD-Programm von Microsoft-Office 2019. Es können aber auch ältere Versionen oder andere Textprogramme verwendet werden. b) ein Präsentationsprogramm auf den Laptops. Hier kann z. B. das Programm PowerPoint aus Microsoft-Office 2019 entsprechend ersetzt werden. 3. Viele Texte für den philosophischen Unterricht können aus dem Netz heruntergeladen werden, etwa die wichtigsten von Kant über https://www.projekt-gutenberg. org/. Dies betrifft aber nur Texte ohne urheberrechtliche Bindungen. 4. Bei Lernenden und Lehrenden werden nur Grundkenntnisse im Umgang mit Textverarbeitungs- und Präsentationsprogrammen vorausgesetzt. Zeitraubende Einarbeitungszeiten entfallen somit.

Wie kann man philosophischen Unterricht digital unterstützen?

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 II. Digital unterstützte Syntaxanalyse Vanessa Albus und Leif Marvin Jost führen ihre Analyse an einem Auszug aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zur Herleitung des kategorischen Imperativs durch.4 Das folgende Zitat ist gegenüber dem Abdruck der Autoren gekürzt und leicht verändert.5

»[S1] Bei dieser Aufgabe wollen wir zuerst versuchen, ob nicht vielleicht der bloße Begriff eines kategorischen Imperativs auch die Formel desselben an die Hand gebe, die den Satz enthält, der allein ein kategorischer Imperativ sein kann; denn wie ein solches absolutes Gebot möglich sei, wenn wir auch gleich wissen, wie es lautet, wird noch besondere und schwere Bemühung erfordern, die wir aber zum letzten Abschnitte aussetzen. [S2] Wenn ich mir einen hypothetischen Imperativ überhaupt denke, so weiß ich nicht zum voraus, was er enthalten werde: bis mir die Bedingung gegeben ist. [S3] Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte. [S4] Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein den/der Imperativ eigentlich als nothwendig vorstellt.« Von den hier wiedergegebenen Sätzen haben Albus und Jost den vierten näher syntaktisch analysiert:

»In S4 finden sich einleitend ein Kausalsatz (›Denn da‹), anschließend ein eingeschobenen Infinitivsatz, der sich auf das Objekt des Kausalsatzes bezieht (›gemäß zu sein‹), die Fortführung des Kausalsatzes (›das Gesetz aber‹), eine dem Kausalsatz untergeordneter Relativsatz (›auf die‹), der eigentliche Hauptsatz (›so bleibt nichts‹), ein dem Hauptsatz untergeordneter Relativsatz (›welchem‹), gefolgt von einem dem vorherigen Relativsatz untergeordneten [???, K.B., s. u.] weiteren Relativsatz (›welche‹).«6

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Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 4: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl.) – Prolegomena – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1911, GMS, BA 51– 52, S. 420 – 421. Gekürzt ist der Text um den Schlussteil, d.h. um den Satz, der den kategorischen Imperativ vorstellt, sowie um Kants Fußnote zu »Maxime«. Änderungen: 1. Ich habe Satznummer eingefügt. 2. Ergänzt ist der Artikel »der« vor »Imperativ« in der letzten Zeile um den Artikel »den«. In den neun von mir berücksichtigten Ausgaben der GMS steht viermal »der« und fünfmal »den«, insbesondere in der zehnbändigen Ausgabe Kant, Immanuel: Kants Werke, 10 Bde., Bd. 6: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Erster Teil: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), hrsg. von Weischedel, Wilhelm. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975, S. 9 – 102: S. 50 – 51 (BA, 51– 52). 3. Hier heißt das letzte Wort »vorstellt« anstelle des Druckfehlers »herstellt«. Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, a.a.O., S. 225.

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Bei meinen Überlegungen, wie man eine solche Analyse anschaulicher machen könnte, erinnerte ich mich an meinen viele Jahre zurückliegenden Deutschunterricht, genauer: Grammatikunterricht in einer achten Klasse. Die Schule verfügte über zwei Computerräume und die Schülerinnen und Schüler waren bezüglich Textverarbeitung gut vorbereitet.7 Im Sinne eines produktionsorientierten Grammatikunterrichts sollten die Schülerinnen und Schüler an den Rechnern komplexe Satzgefüge konstruieren und dabei die jeweilige Unterordnungsebene durch Einrücken signalisieren. Es entstanden zum Teil abstruse, aber durchaus lernförderliche verschachtelte Bandwurmsätze mit zum Teil mehr als sechs Unterordnungsebenen, die dann von den jeweils anderen Schülerinnen und Schülern zu analysieren waren. Wie ein derart bearbeiteter Text aussieht, sei an S1 vorab demonstriert, dabei ist das Semikolon nach »kann« durch ein Komma ersetzt worden. »Bei dieser Aufgabe wollen wir zunächst versuchen, ob nicht vielleicht der bloße Begriff eines kategorischen Imperativs auch die Formel desselben an die Hand gebe, die den Satz enthält, der allein ein kategorischer Imperativ sein kann, denn wie ein solches absolutes Gebot möglich sei, wenn wir auch gleich wissen, wie es lautet, wird noch besondere und schwere Bemühung erfordern, die wir aber zum letzten Abschnitt aussetzen.«

Ganz links stehen jeweils die Teile des Satzgefüges, die Hauptsätze sind oder den Hauptsatz fortführen. Auf der ersten Einzugsebene folgen dann jeweils die Neben- bzw. Gliedsätze der 1. Ordnung usw. Hier: Der 1. Hauptsatz benennt eine »Aufgabe«, die im Objektsatz in Form eines indirekten Fragesatzes (»ob nicht«) näher bestimmt wird. In diesem ist von einer »Formel« die Rede, auf die sich ein Relativsatz (»die den«) bezieht. Das darin enthaltene Nomen »Satz« wird durch einen weiteren Relativsatz (»der allein«) näher erläutert. Dann beginnt ein neuer Abschnitt mit einem zweigeteilten Hauptsatz. Um Lernenden zu ermöglichen, sich ein Satzgefüge in dieser Weise transparent zu machen, müssen die Lehrenden vorab den Text in einer bestimmten Form den Lernenden digital zur Verfügung stellen: Der Text muss als durchgängiger Fließtext vorliegen, nicht als ein in WORD hineinkopierter PDF-Text, bei dem am Ende jeder Zeile eine – gegebenenfalls unsichtbare – Absatzmarke ({) steht. Man kann solche Marken sichtbar machen, wenn man unter »Start« { anklickt. Die unter gutenberg.de publizierten Texte sind bereits Fließtexte im hier geforderten Sinne. 7

Seit 1991 organisierte ich die Arbeitsgemeinschaften »Tastschreiben«, in denen über 70% eines 7. Jahrgangs durch eine professionelle Lehrperson des örtlichen Stenografenvereins das Blindschreiben an elektrischen Schreibmaschinen erlernte. 2001 wurde das Programm erweitert auf »Tastschreiben und Textverarbeitung« und in den Computerräumen der Schule durchgeführt.

Wie kann man philosophischen Unterricht digital unterstützen?

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Im ersten Arbeitsschritt der Schülerinnen und Schüler oder Studierenden muss erreicht werden, dass alle Haupt- und Gliedsätze8 in jeweils einer Zeile stehen und diese Zeile als Absatz formatiert ist. Dazu kann man A händisch, d. h. die einzelnen Satzzeichen der Reihe nach bearbeitend, und B algorithmisch, d. h. mit einer einzigen Befehlskette für den ganzen Text, verfahren.9 1. A Händische Absatzbildung (bei sichtbarem {)  Führe den Cursor hinter das Leerzeichen hinter einem Punkt.  b) Lösche das Leerzeichen durch die Rücktaste, so dass der Cursor nun direkt hinter dem Punkt steht.  c) Betätige zweimal die Enter-Taste und erzeuge so einen Absatz pro Zeile plus eine Leerzeile.  d) Für die Kommata wird der Umstand genutzt, dass im Deutschen in den meisten Fällen das Komma Teile von Satzgefügen abgrenzt. In diesem Fall verfahre mit einem Komma wie in a) und b). (Reine Aufzählungs-Kommata bleiben unberücksichtigt.)  e) Betätige einmal die Enter-Taste und erzeuge so einen Absatz pro Zeile. 1. B Algorithmisch Absatzbildung (bei sichtbarem {)10  a) Bei Gesamttexten: Markiere den zu unterteilenden Text mit »Markieren«, »alles markieren«. (Bei einzelnen Textabschnitten: Markiere den jeweiligen Abschnitt mit der Maus und heruntergedrückter linker Maustaste.)  b) Rufe die Funktion »Ersetzen« auf. Gib in »Suche nach« einen Punkt und ein Leerzeichen durch Drücken der Leertaste ein.  c) Gib in »Ersetzen durch« wieder einen Punkt + Leerzeichen ein.  d) Klicke in der Funktion »Ersetzen« »Erweitern« an und dann unten »Sonderformat«.  e) Füge hinter dem Punkt und dem Leezeichen in »Ersetzen durch« zusätzlich zweimal »Absatzmarke« ein ( p p) und erzeuge so einen Absatz pro Zeile plus eine Leerzeile.  f) Klicke »alle ersetzen« an. (Bei der Meldung: »? Die Suche für den markierten Bereich ….. Möchten Sie …« klicke »Nein« an.)  g) Verfahre nun bei den Kommata wie in b) bis f). Ausnahme in e): Füge nur einmal »Absatzmarke« ein ( p) und erzeuge so einen Absatz pro Zeile.  h) Korrekturen des Algorithmus: Manche Kommata dienen nur als Aufzählung. In diesem Fall mache die Veränderung durch den Algorithmus rückgängig: Markiere die Absatzmarke und entferne sie mit »Entf.«

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Gemeint sind hier alle Nebensätze im weiteren Sinne, auch solche, die etwa als Appositionen oder erweiterte Infinitivsätze keine Gliedsätze im engeren Sinne sind, da sie kein finites Prädikat enthalten, aber die Funktion erfüllen, eine Satzglied im übergeordneten Satz zu vertreten. Im Workshop wurde nur das algorithmische Verfahren und dieses nur an Kommata ausprobiert. WORD bietet auch die Möglichkeit, die hier vorgestellte Befehlskette von a) bis g) als »Makro« aufzuzeichnen (Ansicht ! Makros ! Makro aufzeichnen) und diese so zu einem einzigen Befehl zu bündeln. Aber h) erfordert den kundigen Textbearbeiter.

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 Manche Satzzeichen stehen für Kommata, z. B. ein Semikolon oder ein Doppelpunkt. Dann ersetze diese Zeichen durch Kommata und füge eine Absatzmarke durch »Enter« hinzu.  Nun folgt der entscheidende Schritt, bei dem es darum geht, die erkannte Struktur der Satzgefüge11 abzubilden: 2. Hierarchisierung der Sätze/Nebensätze Dies erfolgt mit der Funktion »Einzug vergrößern« und bei Korrekturen »Einzug verkleinern« (die entsprechenden Schaltflächen stehen links von der Absatzmarke neben der Schaltfläche für »Sortieren«). Ein Hauptsatz steht dann ganz linksbündig, ein Nebensatz erster Ordnung erhält einem Einzug, ein Nebensatz zweiter Ordnung zwei Einzüge usw. Anwendung auf den problematischen Satz S4 des Auszugs von Albus und Jost: Er beginnt mit einem Einzug, da das Satzgefüge nicht mit einem Hauptsatz beginnt: »Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem12 die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein den/der Imperativ eigentlich als nothwendig vorstellt.«

Im Unterschied zu den Autoren Albus und Jost ist für mich der letzte Teilsatz nicht dem vorangehenden Relativsatz unter-, sondern gleichgeordnet. Denn es ist nicht erkennbar, auf was im ersten Relativsatz der zweite Relativsatz bezogen sein soll. Allerdings sind hier die Verhältnisse alles andere als eindeutig: Denn Kant verwendet keinen regulären Relativsatz mit Relativpronomen, das auf ein Nomen zurückverweist (wie bei »auf die« und »Bedingung« in den Teilsätzen vor dem Hauptsatz). Und ein relativer Bezug zum Hauptsatz, den ich durch Gleichordnung unterstelle, ist eben auch nicht klar. Außerdem wechseln »Gemäßheit« und »Imperativ« je nach Artikel (»den/ der«) die Rollen von Subjekt und Objekt, was zu unterschiedlichen Deutungen führt. Das »und« im letzten Satz bewegt mich aber, von einer Gleichordnung der Relativsätze auszugehen. Dann verstehe ich den Satz in folgendem Sinne: »[S]o bleibt nichts als die Allgemeinheit des Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung ge-

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Hier wird deutlich: Die Verwendung von Textverarbeitung ersetzt nicht Grammatikkenntnisse; diese werden vielmehr vorausgesetzt oder können durch ein solches Verfahren auch vertieft werden. In einer neueren Ausgabe der GMS wird vorgeschlagen, »welchem« in »welche« zu korrigieren und damit auf »Allgemeinheit« zu beziehen. Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, PhB 519, hrsg. und eingel. von Kraft, Bernd; Schönecker, Dieter, Felix Meiner Verlag, Hamburg 22016, S. 45, Fußnote zu Zeile 3.

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mäß sein soll und wobei die Gemäßheit mit dem allgemeinen Gesetz allein den Imperativ als notwendig vorstellt.« Wenn auch für die letzten beiden Teilsätze durch das vorgestellte Verfahren keine endgültige Klarheit erzielt werden kann, so scheint es mir insgesamt doch für mehr Transparenz zu sorgen als die oben zitierte syntaktische Analyse von Albus und Jost im fortlaufenden Text. Eine besondere Bewährungsprobe bestand das Verfahren vor und während des Workshops an einem einzigen zentralen Satz einer deutschen Übersetzung von Gettiers berühmten fünfseitigen Aufsatz Is Justified True Belief Knowledge von 196313, der seit seiner Veröffentlichung die Philosophenwelt – vor allem die Wahrheitstheoretiker – in helle Aufregung versetzte. Ich stelle den fraglichen Satz in seinen Kontext, indem ich einige Bemerkungen, die dem Satz vorausgehen, mit zitiere.

»In den letzten Jahren wurden verschiedene Versuche unternommen, notwendige und hinreichende Bedingungen dafür anzugeben, dass jemand eine gegebene Proposition weiß. Die Versuche können häufig auf eine Form ähnlich der folgenden gebracht werden: (a) S weiß, dass P, genau dann, wenn (i) P wahr ist, (ii) S glaubt, dass P, und (iii) S gerechtfertigt darin ist, zu glauben, dass P. […] Ich werde dafür argumentieren, dass (a) falsch ist, da die Bedingungen, die hierin genannt werden, keine hinreichende Bedingung für die Wahrheit der Proposition, S wisse, dass P, darstellen. […] Ich möchte zunächst auf zwei Punkte hinweisen. [Es folgt nun der zu analysierende Satz, K.B.] Erstens ist es in dem Sinn von ›gerechtfertigt‹, in dem S’ Gerechtfertigtsein, P zu glauben, eine notwendige Bedingung ist für S’ Wissen, dass P, möglich, dass eine Person darin gerechtfertigt ist, eine tatsachlich falsche Proposition zu glauben.« 14 Wie die Teilnehmer eines Workshops habe auch ich diesen Satz mehrmals gelesen, ohne ihn zu verstehen. Die englische Originalversion ist selbst für Leute mit mäßigen Englischkenntnissen leichter nachzuvollziehen.15 Hier nun die Textzerlegung per Textverarbeitung mit Einzügen:

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Gettier, Edmund L.: Is Justified True Belief Knowledge? Ist gerechtfertigte, wahre Überzeugung Wissen? Englisch / Deutsch, RUB 19577, hrsg. und übers. von Weber, Marc Andree; Yolcu, Nadja-Mira, Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 2019. Ibid., S. 7 und S. 9. Ibid., S. 8: »First, in that sense of ›justified‹ in which S’s being justified in believing P is a necessary condition of S’s knowledge that P, it is possible for a person to be justified in believing a proposition that is in fact false.”

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»Erstens ist es in dem Sinn von ›gerechtfertigt‹, in dem S’ Gerechtfertigtsein, P zu glauben, eine notwendige Bedingung ist für S’ Wissen, dass P, möglich, dass eine Person darin gerechtfertigt ist, eine tatsachlich falsche Proposition zu glauben.«

Das Verständnisproblem besteht hier vor allem darin, dass der Hauptsatz mit einem einzigen Wort (»möglich«) fortgesetzt wird, nachdem zuvor ein verkürzter Nebensatz zweiter Ordnung steht. Solche Sprünge sind in und mit einem Fließtext gedanklich kaum nachzuverfolgen – wohl aber nach Zerlegung mit Einzügen!

 III. Digital unterstützte Textanalyse mit Strukturskizzen auf der Basis von Schlüsselbegriffen Das zweite Beispiel für digitale Unterstützung philosophischen Unterrichts bezieht sich zwar auch auf Texte, aber Textverarbeitung ist dafür nicht geeignet. Für die Visualisierung zentraler Gedanken eines Textes wird hier ein Präsentationsprogramm wie PowerPoint genutzt. Anders als im vorausgegangenen Kapitel geht es hier um eine spätere Phase der Texterschließung. Sie baut auf dem ersten Schritt der Ermittlung von Schlüsselbegriffen16 auf. Damit sind zentrale Begriffe eines Textes gemeint, die in ihrer Beziehung zueinander Hauptgedanken des Textes anschaulich machen sollen. Als Beispiel sei hier ein Textausschnitt zu Arnold Gehlens anthropologischer These, der Mensch sei ein Mängelwesen17, herangezogen. In dem nachfolgend zitierten Ausschnitt – es ist nur der Anfang des zugrunde gelegten Textes – sind die Schlüsselbegriffe bereits markiert:

»Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepasstheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne 16

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Schlüsselbegriffe sind abzugrenzen von Signalwörtern wie einschlägigen Konjunktionen, (»weil«, »obwohl«, usw.) Adverbien (»allerdings«, »deshalb« usw.) und Sprechakte kennzeichnenden Verben (»behaupten«, »begründen« usw.). Diese verweisen auf die Argumentationsstruktur eines Textes Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1. Aufl. 1940, weitere Auflagen mit deutlichen Änderungen),: Akademische Verlagsgesellschaft Athenäion, Wiesbaden 121981 (unveränderter Nachdruck der 9 Aufl. 1972), S. 33 – 38.

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übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten, und er unterliegt während der ganzen Säuglings— und Kinderzeit einer ganz unvergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit anderen Worten: innerhalb natürlicher, urwüchsiger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten der gewandtesten Fluchttiere und der gefährlichsten Raubtiere schon längst ausgerottet sein.« 18 Die Strukturskizzen werden wie folgt vorbereitet: Die Lehrperson erstellt in PowerPoint eine Liste der zuvor arbeiteten Schlüsselbegriffe, die in verschiebbaren Textfeldern stehen. Im Einzelnen: a) Die Lehrperson öffnet eine PowerPoint-Folie und versieht sie mit einem Titel. b) Sie klickt dann unter »Einfügen« auf »Textfeld.« c) Sie öffnet mit der Maus ein einzelnes Textfeld auf der Folie und schreibt das erste Schlüsselwort hinein. d) Aus Gründen der Übersichtlichkeit sollte das Textfeld mit einem Rahmen (einer »Kontur«) versehen werden. Dazu klickt die Lehrperson auf das erstellte Textfeld. Oben rechts wird dann bei den Registerkarten über »Format« »Zeichentools« sichtbar. Wenn man diese anklickt, erscheint »Formkontur«. Nun kann man Farbe und Stärke der Kontur auswählen. e) Für jeden Schlüsselbegriff wird nun ein Textfeld erstellt, so dass auf der Folie alle relevanten Schlüsselbegriffe unsortiert oder alphabetisch aufgelistet sind. f) Die Lehrperson stellt noch weitere Formelemente zur Verfügung wie geschweifte Klammern, Pfeile usw., indem sie unter »Einfügen« »Formen« anklickt und – unter Beachtung von 5.d) – geeignete auswählt. Dieser Schritt kann auch ganz den Lernenden überlassen werden. Auf diese Weise könnte den Schülerinnen und Schülern etwa folgende Folie zur Verfügung gestellt werden:

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Ibid., S. 33.

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Klaus Blesenkemper

Lernende sollten für die Gestaltung einer Strukturskizze auf der Basis von Textelementen und Struktur veranschaulichenden Formen auf einer neuen Präsentationsfolie folgende Ablaufschritte vollziehen: 1. Wähle einen sinnvollen Aufbau der Skizze: von oben nach unten, von unten nach oben oder von links nach rechts. 2. Positioniere die zentralen Begriffe – etwa für die Ausgangssituation und die Endsituation – gemäß dem gewählten Aufbau durch Kopieren auf einer neuen Folie. 3. Positioniere die weiteren Begriffe entsprechend der Argumentation des Textes zwischen die zentralen Begriffe. Dabei können die Textfelder mit den Begriffen per Maus oder bei einem Touchscreen mit dem Finger versuchsweise verschoben werden. 4. Nutze die vorbereiteten Formen zur Veranschaulichung der Beziehungen zwischen den Begriffen. Die Formen können mit der Maus den Bedürfnissen angepasst werden (dehnen, stauchen, drehen). 5. Eventuell sind andere Formen erforderlich: a) Wähle aus »Einfügen« »Formen« und suche eine passende aus. b) Kopiere diese Form zunächst an eine leere Stelle der Folie. c) Die Form ist in der Regel gefüllt. Die Füllung muss entfernt werden: Klicke die gefüllte Form an. Dann erscheint oben »Fülleffekte«. Klicke dort »keine Füllung« an.

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d) Platziere die neue Form an der richtigen Stelle auf der Folie. Wenn sie einen Begriff umrahmen soll, muss der vorgegebene Rahmen des Textfeldes entfernt werden: Klicke das Textfeld mit dem Begriff an. Dann erscheint oben »Formkontur«. Klicke dort »Keine Kontur« an. Gemäß diesen Schritten könnte etwa die folgende Strukturskizze entstehen:

Bei der Diskussion der einzelnen Ergebnisse ist die allseitige Wertungshaltung entscheidend: Keine Skizze ist perfekt, aber jede ist in der Regel in der Lage, Aspekte sichtbar zu machen, die auf anderen Skizzen fehlen. Wichtig ist also der komplementäre Vergleich.

 IV. Digital unterstützte Texterschließung durch Unterbrechung von Texten und Einfügen geeigneter Dialogpassagen Unter den sogenannten »Nach-Texten«. d. h. solchen Texten, die von Autoren von Schulbüchern und anderen Unterrichtsmaterialien zwecks leichterer Lesbarkeit gegenüber philosophischen Originaltexten vereinfacht und dadurch verändert wurden, findet sich eine seltene, aber höchst interessante Variante. Ich habe sie als Untervari-

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Klaus Blesenkemper

ante der »Mit-Texte« klassifiziert und didaktisch diskutiert.19 Zunächst das Muster gebende Beispiel: »Herr Kant, Sie haben sich, wie alle Philosophen, ausführlich mit dem Guten beschäftigt. Worin sehen Sie das wirklich Gute? Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Das ist eine verblüffende Behauptung. Fast hätte ich gesagt: Das ist aber ein Hammer. Gibt es denn nichts anderes Gutes als den guten Willen? Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Hinsicht gut und wünschenswert … Aha, nicht nur der gute Wille ist gut! … in mancher Absicht gut und wünschenswert, aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden […]. Mäßigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Teil vom inneren Werte der Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Ihre Begründung? Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden.« 20 Unter dem Text findet sich der klärende Hinweis: »Kants Antworten geben den ersten Abschnitt [nach der Vorrede, K.B.] der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wörtlich wieder.« 21 Dieser Text ist also keine reine Fiktion, sondern er fingiert einen Dialog mit fiktionalen und authentischen Elementen. Fiktional sind nur die kursiv gedruckten Einwürfe des Interviewers. In ihnen sollen sich, wie im Sprachstil erkennbar, die Schülerinnen und Schüler mit ihren Fragen und Einwänden (»Hammer«) wiederfinden. Soweit der vorgefundene Nach-Text. Wenn nun in Umkehrung des Verfahrens den Schülerinnen und Schülern ein Originaltext wie dieser von Kant zusammen mit einem Textverarbeitungsprogramm digital zur Verfügung gestellt wird, dann eröffnet sich für diese – so meine bisher nur in

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zur Differenzierung von Nach-Texten verweise ich auf Blesenkemper, Klaus: »Lesen erleichtern. Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht«, a.a.O. Bei den folgenden Ausführungen greife ich zum Teil auf Formulierungen dieses Aufsatzes zurück. Sistermann, Rolf (Hrsg.): weiterdenken, Philosophie/Ethik Band C Oberstufe, Schroedel Verlag im Bildungshaus Schulbuchverlage, Braunschweig 2012, S. 213. Ibid., S. 214

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einem Workshop bestätigte Vermutung – die Möglichkeit, produktionsorientiert22 den Text durch ihre eigenen Einwürfe, Einwände, Fragen und Strukturierungshinweise zu dialogisieren. Die einzelnen Textpassagen werden so explizit als das aufgefasst, was sie implizit nach Möglichkeit sein sollen: Antworten auf Fragen, Lösungsvorschläge für Probleme. Dieses Verfahren bietet insbesondere die Chance, die Argumentation des zu besprechenden Textes transparenter zu machen. Im gewählten Beispiel leitet Kant den zuletzt zitierten Satz mit »Denn« ein, aber die eingefügte Frage »Ihre Begründung?« macht den folgenden Argumentationsschritt noch deutlicher. Eine Diskussion unterschiedlicher Dialogisierungen der hier skizzierten Art in einer Lerngruppe stelle ich mir als besonders furchtbar vor.

 V. Digitale Unterstützung Sokratischer Gespräche Ich habe lange gezögert, in einer durchaus hoch motivierten Philosophie-Arbeitsgemeinschaft mit meist acht Schülerinnen und Schülern eines 5. Jahrgangs sokratische Gespräche in der Tradition von Nelson und Heckmann durchzuführen.23 Meine Befürchtungen richteten sich darauf, dass die in sokratischen Gesprächen übliche Form des Protokollierens auf Flipp-Charts für nicht schnell lesende und auf gute Lesbarkeit angewiesene Schülerinnen und Schüler zu viel frustrierenden Aufwand und zu viel Geduld auf allen Seiten erfordern würde. Ich habe daher ein anderes, im Laufe der Zeit verfeinertes und durchaus bewährtes Verfahren der Gesprächsdokumentation für alle von mir geleiteten sokratischen Gespräche entwickelt – mit Laptop, Textverarbeitungsprogramm, Beamer und gegebenenfalls Drucker24. Die Leiterin bzw. der Leiter eines sokratischen Gesprächs sitzt mit Blickkontakt zum Halbkreis der Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer. Sie bzw. er hat vor sich seinen Laptop; die Gesprächsteilnehmerinnen und-teilnehmer sehen hinter dem Leiter den per Beamer projizierten Protokolltext. Im Verlauf des Gesprächs können sie auf bereits ausgedruckte Texte vor ihnen zurückgreifen.

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Zum Begriff und zur didaktischen Bedeutung von Produktionsorientierung vgl. Runtenberg, Christa: Philosophiedidaktik. Lehren und Lernen, Basiswissen Philosophie, UTB 4653, Wilhelm Fink, Paderborn 2016, S. 155. Zu dieser Gesprächsmethode vgl. Birnbacher, Dieter; Krohn, Dieter (Hrsg.): Das sokratische Gespräch., RUB 18230, Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 2002 und vgl. Blesenkemper, Klaus: »Das sokratische Gespräch«, in: Brüning, Barbara: Ethik/Philosophie Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Cornelsen Verlag, Berlin 32020, S. 71—84. Ein Drucker ist bei längeren Gesprächen (ganztägig oder mehrtägig) im Gesprächsraum erforderlich. Die in etwa 90 Minuten erzielten Ergebnisse werden dann vor Ort sukzessive ausgedruckt. Bei Veranstaltungen mit Einzelsitzungen von ca. 90 Minuten – in der Schule oder der Erwachsenenbildung – kann der Protokolltext zur nächsten Sitzung mit einem häuslichen Drucker oder per E-Mail vervielfältigt werden.

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Die Darstellung eines Gesprächsausschnitts würde hier den Rahmen sprengen. Ich begnüge mich mit technischen Details, die in den digital unterstützten Gesprächen zur Anwendung kommen: 1. Wegen des Projektionsformats wird bei WORD das Querformat gewählt. 2. Auf gute Lexbarkeit ist zu achten: 18-pt-Schrift, etwa Rockwell; Zeilenabstand genau 26 pt. 3. Damit die zu lesenden Zeilen nicht zu lang sind, wird der Text in zwei Spalten projiziert. 4. Seiten und Zeilen werden nummeriert. (»Einfügen«, dann »Seitenzahl«; »Seitenlayout«, dann »Zeilennummern«) 5. Spontane Korrekturen von Formulierungen erfolgen sofort. Nachträglich Korrekturen, die das Werden des Gedankens spiegeln sollen, werden wie folgt vorgenommen: Der korrekturbedürftige Text wird durchgestrichen und ausgeblendet. Dafür wird das Detailmenu zu »Schriftart« geöffnet, und zwar durch Anklicken des x neben »Schriftart«. Dann wird der fragliche Text mit »Durchgestrichen« und »Ausgeblendet« formatiert. So bleibt der Text übersichtlich. Wenn man die Absatzmarke ({) anklickt, wird der ausgeblendete Text wieder sichtbar und kann auch im Ausdruck mit berücksichtigt werden.

 Kurzes Fazit Philosophischer Unterricht kann, dies sollte hier deutlich werden, in vielfältiger Weise digital unterstützt werden. Digitale Unterstützung meint aber ausdrücklich nicht digitale Ersetzung des Denkens: Textzerlegung mit Einzügen (II.) ist nur möglich, wenn man den grammatikalisch vorgebildeten Verstand einsetzt. Strukturskizzen (III.) sind eine Veranschaulichung bereits zuvor geleisteter Strukturierungsdenkarbeit. Wer einen Text zu einem Gesprächspartner (IV.) weiterentwickeln will, muss ihn verstanden haben. Und selbstredend ist das gemeinschaftliche Selberdenken im sokratischen Gespräch vollumfänglich ein Ereignis nur in der realen, nicht in der digitalen Welt.25 Diese Erwägungen ergänzen die Kritik vor allem an einer frühzeitigen Digitalisierung von Lernprozessen. Die entsprechenden Bedenken, wie sie etwa Manfred Spitzer eindrucksvoll zur Geltung bringt, teile ich ausdrücklich. Quelle: Blesenkemper, Klaus: »Wie kann man philosophischen Unterricht digital unterstützen? – Einfache Beispiele (Workshopbericht)«, in: Münnix, Gabriele; Rolf, Bernd; Albus, Vanessa (Hrsg.) Total digital?, Forum Philosophie International, Jahrbuch der Association Internationale des Professeurs de Philosophie, Bd. 69, LIT Verlag, Wien – Zürich 2020, S. 109 – 124 (vom Autor für diesen Band überarbeitet).

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Das hier vorgestellte Verfahren des digitalen Protokollierens ermöglichte mir in der Corona-Zeit sokratische Gespräche auch per Video-Konferenz durchzuführen. Der sonst auf Leinwand projizierte Protokolltext wurde als ›freigegebene Datei‹ jeweils eine Zeitlang für alle Teilnehmenden auf dem Bildschirm sichtbar. Dieses Verfahren werte ich gegenüber der Lebendigkeit eines realen Gesprächs als ›2. Wahl‹. Alle Teilnehmenden haben es aber durchaus als zufriedenstellend erlebt. Hinzu kommt der große Vorteil, auch räumlich entfernte Teilnehmerinnen und Teilnehmer einbeziehen zu können.

Methoden der Textarbeit Michael Wittschier

 Texterschließung: Kompetenzen, Operatoren, Indikatoren Der Text ist und bleibt trotz aller technischen Innovationen und der zunehmenden Visualisierung unserer Kommunikation neben dem Dialog in beiden Sekundarstufen das wichtigste Medium des Philosophieunterrichts. Nur in der intensiven, lebendigen und kontinuierlichen Auseinandersetzung mit ihm lässt sich das zentrale Ziel philosophischer Denk- und Begriffsarbeit (in der Schule) – die Entwicklung einer fundierten Reflexions- und Urteilskompetenz1 – verwirklichen, die Roland Henke zu Recht als »Kernkompetenz des Philosophieunterrichts«2 bezeichnet. Der Auf- und Ausbau einer anspruchsvollen Lesekompetenz (in enger Verbindung mit einer analogen Schreibkompetenz) ist dafür eine unverzichtbare Schlüsselqualifikation. Um diese zu erwerben, müssen Schülerinnen und Schüler Schritt für Schritt von der einfachen Informationsentnahme bis hin zur PISA-Stufe V, der »vollständigen flexiblen Nutzung unbekannter und komplexer Texte« 3, im Unterricht angeleitet werden. Auf der Grundlage der PISA-Kompetenzstufen der »Informationsentnahme und -verarbeitung beim Lesen« hat Anita Rösch schon vor einigen Jahren auf dem Hintergrund von bundesdeutschen Lehrplananalysen, den Anforderungen der Fachdidaktik und mithilfe einer bundesweiten Expertenbefragung für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen und LER ein sechsstufiges Textkompetenzmodell mit drei Niveaus vom »Anfänger- bis zum Expertenstatus«4 entwickelt, wobei jede Stufe die Vorgängerstufe beinhaltet. Das fünfstufige PISA-Modell hat sie dabei aus guten Gründen mit Blick auf das Anfertigen von Präsentationen und Facharbeiten um eine Kompetenz-

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Beschlüsse der Kultusrninisterkonferenz. Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Philosophie (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01.12.1989 i.d.F. vom 16.11.2006), auf: https://www.kmk.org/ fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1989/1989_12_01-EPA-Philosophie.pdf (Stand: 07.05.2022), S. 5 –6. Henke, Roland: »Die Entwicklung philosophischer Urteilskompetenz durch kognitive Konflikte«. In: NidaRümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde., Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 86– 95: S. 86. Deutsches Pisa-Konsortium (Baumert, Jürgen; Klieme, Eckhard; Neubrand, Michael; Prenzel, Manfred; Schiefele, Ulrich; Schneider, Wolfgang; Tillmann, Klaus-Jürgen; Weiß, Manfred) (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Leske + Budrich, Opladen 2001, S. 69 – 70. Rösch, Anita: Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER, LIT Verlag GmbH & Co. KG, Berlin/Münster/Wien/Zürich 2009, S. 143.

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Michael Wittschier

stufe erweitert: »Eine Steigerung der Kompetenz (C2) ist darin zu sehen, sich selbstständig Texte zu einem Thema zusammenzustellen und zu bearbeiten.«5 Ihr übersichtliches Kompetenzraster zur Lesekompetenz ist sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für (angehende) Lehrerinnen und Lehrer eine wertvolle, langfristige Selbsteinschätzungs-, Planungs- und Beurteilungsgrundlage. Wie die Indikatoren der einzelnen Unterkategorien deutlich zeigen, müssen die Schülerinnen und Schüler – von Klasse 5 bis zum Abschluss der Sekundarstufe II – von Niveaustufe zu Niveaustufe immer selbstständiger und genauer komplexere Textzusammenhänge (zu neuen, unbekannten Themen) mit größerem Abstraktionsgrad erfassen. Sie durchlaufen dabei von Al nach C2 zugleich die klassischen Anforderungsbereiche bzw. Reflexionsdimensionen »begreifen«, »erörtern« und »urteilen« und sollen dabei auch in argumentativer Hinsicht (unausgesprochene) Voraussetzungen und (verdeckte) Widersprüche erkennen. Der äußerst komplexe Prozess des Textverstehens besteht »gleichzeitig aus den Prozessen der Identifikation der jeweiligen sprachlichen Zeichen und Zeichenkombinationen, aus der Zuordnung von sprachlichen Bedeutungen zu Kombinationen von Sprachzeichen aus der Aktivierung von Weltwissen, das zum Informationsgehalt der sprachlichen Bedeutungen passt«.6 Diese »Text verstehenden Operatoren können zu Lese- und Leselernstrategien kombiniert werden«.7 Beispiele dafür wären die in der schwedischen Stadt Västeras entwickelte Methode der Textmarkierung. Dabei werden noch nicht verstandene Stellen mit einem Fragezeichen markiert, solche, die eine besonders wichtige Information beinhalten, mit einem Ausrufezeichen, und Aussagen, von denen sich eine Leserin oder ein Leser besonders angesprochen fühlt, mit einem Pfeil8 und die von F.P. Robinson 1946 entwickelte SQ3R-Technik (S = Survey, Q = Question, 3 x R = Read, Recite, Review).9 Mithilfe solcher textverstehenden Verfahren können Schülerinnen und Schüler dann auch erfolgreich die philosophierelevanten Operatoren ausführen, wenn sie im Vorfeld einer Leistungsüberprüfung klar und verständlich kommuniziert worden sind. Sie wurden in Deutschland durch die Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung als verbindlicher Maßstab für das Textverstehen im Fach Philosophie festgeschrieben und dabei (aber nicht zwingend) bestimmten Anforderungsbereichen zugeordnet und dienen so auch der Standardsicherung des »Textverstehens als hermeneutischer Kompetenz«.10

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Ibid., S. 217. Grzesik Jürgen: Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen, Waxmann Verlag, Münster/New York/München/Berlin 2007, S. 14. ibid., S. 355. Pfeifer, Volker (Hrsg.): Fair Play 2 für den Unterricht im Fach Praktische Philosophie in den Jahrgangstufen 7– 9, Schöningh Verlag im Bildungshaus Schulbuchverlage, Braunschweig/Paderborn/Darmstadt 2009, S. 242. Christmann, Ursula; Groeben, Norbert: »Psychologie des Lesens«, in: Franzmann, Bodo; Hasemann, Klaus; Löfller; Dietrich; Schön, Erich (Hrsg.): Handbuch Lesen, im Auftrag der Stiftung Lesen und der Deutschen Literaturkonferenz, unter Mitarbeit von Jäger, Georg; Langenbucher, Wolgang R.; Melichar, Ferdinand, K.G. Saur Verlag, München 1999, S. 145 –223: S. 192. Rösch, Anita: Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER, a.a.O., S. 209.

… kann aus kurzen einfachen Texten mit ethischen/philosophischen Themen unter Anleitung leicht auffindbare Informationen lokalisieren und mit Alltagswissen in Verbindung setzen.

…kann den Inhalt kurzer Texte verstehen, einfache Fragen zum Text beantworten den Inhalt mit eigenen Worten wiedergeben, persönliche Erfahrungen mit den Schilderungen des Textes vergleichen.

Lesekompetenz: Texte fachspezifisch erschließen, interpretieren und beurteilen

Indikatoren (exemplarisch)

…kann aus den Aussagen des Textes Fragestellungen ableiten, selbständig Beispiele zusammentragen und daran Aussagen des Textes überprüfen.

…kann den Inhalt eines Textes mit eigenen Worten wiedergeben und die Aussagen zweier Texte zum Thema vergleichen.

…kann den Hauptgedanken eines Textes mit eigenen Worten wiedergeben, den Text durch ein eigenes Beispiel konkretisieren, eine begründete eigene Meinung zu im Text beschriebenen Sachverhalten vertreten.

…kann eine eigene Position begründet mit unbekannten Texten vergleichen und die Information des Textes auf ein komplexes Problem anwenden.

… kann längere, unbekannte ethische/ philosophische Texte vollständig und detailliert verstehen, sie für verschiedene Zecke flexibel nutzen, sie mit eigenem Wissen in Verbindung setzen und kritisch bewerten.

… kann komplexe Texte mit ethischen/ philosophischen Inhalten, deren Inhalt und Form nicht vertraut sind, verstehen, Informationen des Textes der Aufgabenstellung gemäß organisieren und aus dem eigenen Wissen die Fakten auswählen, die zu einer Interpretation benötigt werden.

… kann Texte mit ethischen/philosophischen Inhalten mittleren Schwierigkeitsgrades verstehen, widersprüchliche Informationen erkennen, auch indirekte Informationen erschließen und unter Berücksichtigung eigenen Wissens zum Thema das Gelesene beurteilen.

C1

… kann eine begrenzte Anzahl an Informationen aus einem Text mit ethischen/ philosophischen Inhalten entnehmen, den Hauptgedanken erfassen und das Gelesene auf der Basis eigener persönlicher Erfahrungen beurteilen.

B2 Bewertung/Neues

B1 Interpretation/Fremdes

Textkompetenz: A1 A2 Texte fachspezifisch erschließen, Information/Vertrautes interpretieren und verfassen

Die Schülerin bzw. der Schüler …

…kann selbständig zu einem Thema Texte Auswählen die Inhalte der Texte unter einer selbst gewählten Fragestellung erarbeiten selbständig Problemstellungen und Problemlösungen erarbeiten.

… kann zu einer Fragestellung eine größere Anzahl unbekannter, auch ethischer/philosophischer Texte selbständig auswählen, Informationen flexibel verarbeiten, mit dem eigenen Wissen in Verbindung setzen und kritisch bewerten.

C2

Methoden der Textarbeit 271

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Michael Wittschier

 Grundsätzliche Überlegungen zur Textarbeit Anita Rösch weist in ihrer »Kompetenzorientierung« zu Recht darauf hin, dass im Unterrichtsfach »Philosophie« neben den klassischen philosophischen Texten auch andere Sachtexte und literarische Texte (eher in der Sekundarstufe I) zum Einsatz kommen, »die aufgrund ihrer Thematik zum Philosophieren anregen können«. Diesen Hinweis verbindet sie mit der Forderung an die Fachdidaktiken, »Lesestrategien für ihre fachspezifischen Textsorten [zu] entwickeln«.11 Damit argumentiert sie ganz im Sinne der Einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Fach Philosophie.12 Da Dichter auch Denker sind und »der Akt des Lesens und der Akt des Philosophierens […] das Moment der Reflexion gemeinsam« 13 haben, spricht mehr dafür als dagegen, auch literarische Texte im Philosophieunterricht (der Oberstufe) einzusetzen. Gottfried Gabriel sieht den »Erkenntniswert der Literatur in deren Vergegenwärtigungsleistung […]. [Er] besteht […] in einer Kultivierung unserer moralischen Urteilskraft, in einer Sensibilisierung durch adäquate Vergegenwärtigung des Allgemeinen im Besonderen, ohne die ein differenzierter moralischer Diskurs nicht möglich ist.« 14 Dies verlangt von den Unterrichtenden bzw. den Herausgebern von Lehrbüchern, einen genauen Blick für das philosophische Problempotenzial von nicht-philosophischen Texten zu entwickeln und die Aufgaben dazu – analog zu ethischen/philosophischen Texten – so zu gestalten, dass die Schülerinnen und Schüler nicht Gefahr laufen, sich im Narrativen zu verlieren. Im »Medienschlüssel Philosophie« werden (auf sieben Seiten) für alle schulrelevanten Inhaltsfelder der Sekundarstufe II und für die Fragekreise der Sekundarstufe I eine Fülle von literarischen Texten vorgestellt, die sich mit intellektuellem Gewinn im Philosophie- und Ethikunterricht einsetzen lassen.15 In seinem Grundlagenwerk Texte verstehen lernen betont Jürgen Grzesik, dass »beim Verstehen von Texten immer Probleme gelöst werden [müssen] […]. Kein Text gleicht dem anderen mit Ausnahme der Kopie.«16 Diese leidvolle Erfahrung machen viele Schülerinnen und Schüler schon auf Niveaustufe A2, wenn es darum geht, den »Hauptgedanken eines Textes in eigenen Worten wiederzugeben« oder selbstständig 11

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Rösch, Anita: Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER, a.a.O., S. 209. Beschlüsse der Kultusrninisterkonferenz. Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Philosophie (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01.12.1989 i.d.F. vom 16.11.2006), a.a.O., S. 5 – 6. Nordhofen Susanne: »Fiktionale Welten und philosophische Reflexion«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 20, 1998, Heft 3: Literarische Texte, S. 154 – 163: S. 162. Gabriel, Gottfried: »Vergegenwärtigung in Literatur, Kunst und Philosophie«, in: Gethmann, Carl Friedrich (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft, XXI. Deutscher Kongress für Philosophie, 15. – 19. September 2008 an der Universität Duisburg – Essen, Kolloquienbeiträge, Deutsches Jahrbuch Philosophie, Band 2, 2011, unter der Mitarbeit von Bottek, Karl J.; Hiekel, Susanne, Felix Meiner Verlag, Hamburg, S. 726 – 745: S. 726 und S. 734. Vgl. Wittschier, Michael: Medienschlüssel Philosophie. 30 Zugänge mit Beispielen, bsv/patrnos im Oldenbourg Schulbuchverlag, München 2013. Grzesik Jürgen: Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen, a.a.O., S. 366.

Methoden der Textarbeit

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die Problemfrage zu erschließen, auf die der Philosoph/Autor mit seinem Text eine Antwort gibt. Auch Schülerinnen und Schüler weitergehender Schulen, die aufgrund ihrer Lesesozialisation noch wenig oder gar keine Erfahrung mit philosophischen bzw. Sachtexten haben, verlieren dann vor lauter (Fremd-)Wörtern schnell den Überblick über das Textganze. Und der gut gemeinte Rat von Lehrerinnen und Lehrern: »Lies den Text mehrmals genau durch und halte dann das Wichtigste mit eigenen Worten fest!«, ist für sie keine konstruktive Anleitung zum Textverstehen. Hier sind sinnvolle, hilfreiche und gut handhabbare Methoden der Textarbeit in Verbindung mit Musterbeispielen gefragt, an denen sich Schülerinnen und Schüler ganz konkret orientieren können, damit sie dem »Circulus vitiosus« von Vermeidungsverhalten aufgrund von Negativerfahrungen entkommen und durch ein »Flow«Erlebnis Lust auf neue Herausforderung bekommen.17 Dabei machen Philosophielehrerinnen und -lehrer nichts falsch, wenn sie bei der Texterschließung ihre Tätigkeit als Förderarbeit für Verstehenskompetenz begreifen.

 Methodisch-didaktische Zugänge Klaus Langebeck hat schon vor über 30 Jahren ganz pragmatisch die wichtigsten Methoden der Erschließung von philosophischen Texten wie die Arbeit mit Leitfragen, die Überschriftenbildung, die Sprechaktanalyse und die Arbeit mit Begriffsnetzen skizziert18 und eine grundlegend gewordene Einteilung der Methoden in die drei Kategorien »Texterschließung mit Anleitung«, »Selbstständige Texterschließung mit Anleitung« und »Selbstständige Texterschließung« vorgenommen. Es ist ein großes Verdienst von Helmut Engels, dass er einige Jahre später anhand einer kurzen Lichtenberg-Passage überzeugend demonstriert hat, wie man die Aussageabsicht eines diskursiven Textes mithilfe von Sprechakten sehr genau benennen kann, anstatt einfach nur den Inhalt zu paraphrasieren, was ja auch nicht als eigenständige Verstehensleistung gewertet werden darf.19 Er hat damit den Grundstein für eine obligatorische Aufgabenstellung für das Zentralabitur Philosophie in NRW gelegt und gleichzeitig dafür gesorgt, dass seit dem Jahre 2005 Schülerinnen und Schülern in ganz NRW besonders relevante performative Verben für die Bestimmung der argumentativen Überzeugungskraft von Textaussagen an die Hand gegeben werden. In ihrem Grundlagenwerk »Philosophieren in der Sekundarstufe« sind die von Klaus Langebeck genannten Verfahren von Barbara Brüning in ihrem Kapitel »Textinterpre-

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Hüther, Gerald: Ohne Gefühl geht gar nichts! Worauf es beim Lernen ankommt, Vortrag, Jokers hörsaal DVD, Auditorium, Freiburg 2009, Zeit: 1:01:57. Langebeck, Klaus: »Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 3 – 11. Engels, Helmut: »›Geben Sie den Inhalt des Textes wieder und …!‹ Anmerkungen zu einem Alltagsproblem des Philosophieunterrichts«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 12, 1990, Heft 1: Mündlich/Schriftlich I, S. 22 – 26.

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tation« 20 fachdidaktisch noch weiter fundiert und ramifiziert worden. Sie hat damit bundesweit der methodischen Arbeit in Studienseminaren und Schulen wichtige methodische Impulse gegeben. Auf dieser Grundlage sind im Textschlüssel Philosophie21 dreißig Methoden zur Erschließung von abiturrelevanten philosophischen Texten zusammengetragen worden, die vor dem Hintergrund der neurobiologischen und psychologischen Überlegungen zur Entwicklung der Lesekompetenzen von Jürgen Grzesik22 weiterentwickelt wurden und deren praktische Anwendung mithilfe je eines Textbeispiels (mit Lösungsvorschlag) demonstriert wird.

 Methoden der Texterschließung Mit Anleitung 1.1 Textvortrag Durch einen sinnbetonenden Textvortrag wird die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf zentrale Begriffe bzw. Textstellen gelenkt. 1.2 Satz-für-Satz-Analyse Bei besonders schwierigen Texten leitet die bzw. der Unterrichtende Schülerinnen und Schüler Satz für Satz durch die Analyse und klärt dabei – als Fachmann bzw. Fachfrau – mit ihnen alle wichtigen Begriffe im Unterrichtsgespräch. 1.3 Leitfragen Mithilfe von Leitfragen kann man die Schülerinnen und Schüler auf wichtige, markierte Stellen im Text aufmerksam machen. Da jede Frage in nuce schon eine Antwort enthält, bietet man mit dieser Methode noch ungeübten Leserinnen und Lesern von philosophischen Texten eine wichtige Verständnishilfe an.

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Brüning Barbara: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 1, Beltz Verlag. Weinheim/Basel/Berlin 2003, S. 82 – 90. Vgl. Wittschier, Michael: Textschlüssel Philosophie. 30 Erschließungsmethoden mit Beispielen, Patmos – Bayrischer Schulbuchverlag, München 2010. Vgl. Grzesik Jürgen: Texte verstehen lernen. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung von Lesekompetenzen durch den Erwerb von textverstehenden Operationen, a.a.O.

Methoden der Textarbeit

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1.4 Begriffs-Rätsel Die zentralen Begriffe eines Textes werden in ein einfaches Kreuzworträtsel (das längste Wort als senkrechte Achse) integriert. Die gesuchten Begriffe sollten über die gestellten Fragen eindeutig identifizierbar sein. 1.5 Wo steht das im Text? Für den Text wird ein Begriffsnetz entwickelt, oder man arbeitet z. B. mit einem schon entwickelten Schema aus Philosophie kompakt.23 Die Schülerinnen und Schüler müssen die Begriffe und ihre Beziehungen zueinander mit dem Text (mit Zeilenangabe) belegen. Dies fördert eine sehr genaue Textlektüre. 1.6 Lernstation Analyse-Training Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten sich mithilfe von Leitfragen, Lösungsangeboten und Zwischensicherungen Schritt für Schritt den gedanklichen Aufbau eines Textes. Auf dieser Grundlage formulieren sie abschließend ihr Textverständnis.24 1.7 Vom Sekundär- zum Primärtext Bevor sich die Schülerinnen und Schüler den Primärtext erarbeiten, werden sie gedanklich durch einen Sekundärtext, der Thema, Argumentation und mögliche Kritikpunkte thematisiert, auf die Textanalyse vorbereitet und damit gedanklich vorentlastet. 1.8 Bildlich denken Die im Text verwendeten Bilder (Metaphern, Vergleiche usw.) werden für die Sachebene mithilfe von Fotografien, Bildern oder Schemazeichnungen begrifflich kompatibel mit dem Text erschlossen. 1.9 (Text-)Test Es werden Verständnisfragen zum Text und verschiedene richtige, falsche oder halbrichtige Antworten formuliert, die die Lernenden nach dem Multiple-Choice-Prinzip bearbeiten. Alternativ kann man auch mit Lückensätzen arbeiten, die die Schülerinnen und Schüler selbstständig oder mit Hilfestellung füllen müssen.

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Vgl. Wittschier, Michael: Philosophie kompakt. Grundlagen in Texten und Grafiken, Patmos Verlag, Düsseldorf 2008. Beispiele dazu findet man unter: www.wittschier.de/Selbstlernstationen.htm.

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 Selbstständig mit Anleitung 2.1 Text-Gliederung Die Schülerinnen und Schüler erhalten den Text als Fließtext ohne Sinnabschnitte. Diese müssen sie selbst finden und in Einzel- oder Partnerarbeit mit Zwischenüberschriften versehen. 2.2 Schreibgitter Jeweils vier Schülerinnen und Schüler halten die Begriffe, die ihnen im Text besonders wichtig erscheinen, in der Ecke eines Blattes fest. Anschließend werden sie verglichen. Das gemeinsame Gruppenergebnis wird im Blattzentrum fixiert und im Plenum vorgestellt und gegebenenfalls ergänzt oder/und korrigiert. 2.3 Strukturlegetechnik Jede Schülerin und jeder Schüler schreibt die für sie bzw. ihn zentralen Begriffe eines Textes auf einzelne Zettel und ordnet sie dann sachlogisch sinnvoll vor sich auf dem Tisch. Anschließend gleicht sie ihr bzw. er sein Ergebnis mit jenem einer Mitschülerin oder eines Mitschülers ab, bevor beide auf dieser Grundlage gemeinsam ein Begriffsnetz entwickeln. 2.4 Begriffsnetz Die zentralen Begriffe werden sachlogisch sinnvoll geordnet und mit Zeichen für begriffliche Beziehungen (Teil von/Folge/Gegensatz) und gegebenenfalls mit Symbolen visualisiert. Das Begriffsnetz ist eine gute Grundlage für eine Argumentationsanalyse. 2.5 Text-Rekonstruktion Bevor die Schülerinnen und Schüler den Text an die Hand bekommen, wird der Gedankenweg eines Textes Schritt für Schritt operativ rekonstruiert. Die bzw. der Unterrichtende setzt dazu Denkimpulse, steuert Fachtermini bei und präzisiert die eigenständigen Denkleistungen der Schülerinnen und Schüler vor der Begegnung mit dem Originaltext. 2.6 Partner-Interview Die Schülerinnen und Schüler stellen sich in Partnerarbeit gegenseitig vorbereitete Fragen zum Text und beantworten sie abwechselnd. Anschließend werden die notierten Antworten mit denen eines anderen Text-Tandems oder einer Musterlösung verglichen.

Methoden der Textarbeit

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2.7 Textpuzzle Der Text wird in Sinnabschnitten auf gleich große Lerngruppen verteilt und inhaltlich erschlossen. Im Plenum sollen die Schülerinnen und Schüler versuchen, die originale Reihenfolge der Textabschnitte gemeinsam herzustellen. Ihre argumentativ begründeten Entscheidungen werden anschließend mit dem Originaltext verglichen. 2.8 Kernaussagen Die Schülerinnen und Schüler erhalten in gleich großen Arbeitsgruppen verschiedene Kernaussagen des Textes, zu denen sie Fragen stellen und/oder Deutungshypothesen entwickeln. Anschließend versuchen sie gemeinsam, die Argumentationsstruktur zu rekonstruieren. 2.9 Mystery Die Schülerinnen und Schüler finden in einem Umschlag mehrere Textaussagen, von denen nur eine als Antwort auf eine bestimmte Problemfrage passt, und mehrere Begründungen für die gesuchte Antwort. Die nicht zur Problemfrage passenden Aussagen werden aussortiert. Die Schülerinnen und Schüler begründen anschließend ihre Auswahl und ordnen die Begründungen verschiedenen Argumenttypen zu. 2.10 Fokus-Methode Bevor die Schülerinnen und Schüler den Text lesen, erörtert man mit ihnen die Kernaussage und entlastet so die spätere Analyse gedanklich vor. 2.11 In den Mund gelegt Man legt einer Philosophin oder einem Philosophen richtige und falsche Thesen in den Mund. Die Schülerinnen und Schüler müssen mithilfe des Textes entscheiden, welche Aussagen zutreffen und welche nicht; gegebenenfalls unterstützt man die Arbeit der Schülerinnen und Schüler mit Textverweisen auf »Inspirationskarten«. 2.12 PLATO-Methode Die Texterschließung erfolgt nach folgendem Muster, das man auch für Klausuren verwenden kann: 1. Was ist die Problemstellung des Textes? 2. Wie lautet die Lösung? 3. Wie verläuft die Argumentation? 4. Wie sieht die Tragfähigkeit der Argumentation aus? 5. Bietet sie Orientierung für das weitere Denken und Leben?

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 Selbstständig 3.1 Sprechakt-Analyse Die Schülerinnen und Schüler analysieren die Argumentationsstruktur eines Textes selbstständig mithilfe von vorgegebenen performativen Verben (s. u.), die die argumentative Bedeutung der Aussagen eindeutig verbalisieren. 3.2 Lerntempo-Duett Die eine Hälfte der Lerngruppe analysiert die erste Hälfte eines Textes, die andere Hälfte die zweite. Anschließend bilden die Schülerinnen und Schüler (entsprechend ihrem Lerntempo) »Duette« und erklären sich gegenseitig die Inhalte ihrer Textabschnitte. Die Ergebnisse werden abschließend im Plenum verifiziert, falsifiziert oder modifiziert. 3.3 Interview Die Schülerinnen und Schüler formulieren in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit Fragen zum Text und lassen sie in einem fiktiven Interview von der Autorin bzw. vom Autor mit passenden originalen Textaussagen beantworten. Man kann auf diese Weise auch mit mehreren Philosophinnen und Philosophen ein Gespräch führen. 3.4 Transformation Ein zentraler Gedanke wird erzählerisch dramatisiert und/oder in Alltagssprache transformiert. Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler das philosophische Problem – auch emotional – von verschieden Seiten beleuchten und lebendig zur Sprache bringen. 3.5 Mit 100 Worten Die wesentlichen Aussagen eines Textes werden in ca. 100 Wörtern im Stil eines Lexikonartikels für eine uninformierte Leserin bzw. einen uninformierten Leser klar und verständlich zusammengefasst. Diese Methode bietet sich oft als Transferaufgabe an. 3.6 Essay-Werkstatt Im Textschlüssel Philosophie finden Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer insgesamt zwölf aufeinander aufbauende Module einer Essay-Werkstatt, die kriteriengeleitet auf die Teilnahme am Bundeswettbewerb »Philosophischer Essay« vorbereiten. Sie lassen sich auch verteilt über ein ganzes Schuljahr einsetzen.

Methoden der Textarbeit

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3.7 Text-Theater Die Schülerinnen und Schüler entwickeln in fünf bis zehn Minuten in Gruppenarbeit zum zentralen Gedanken eines Textes eine kleine Spielszene oder ein aussagekräftiges sprechendes Standbild. Dieser ganzheitlich-kreative Umgang mit einem Text erzeugt in der Regel einen philosophisch interessanten emotionalen, präsentativen Mehrwert. 3.8 Brief Die Schülerinnen und Schüler nehmen in Form eines fiktiven Briefes persönlich Stellung zu der in einem Text vertretenen Position. Der Brief kann sich entweder an den Philosophen selbst oder an einen Freund, der den Text nicht kennt, richten. 3.9 Schreibgespräch Drei bis vier Schülerinnen und Schüler nehmen auf einem leeren Blatt mit einem Eröffnungssatz Stellung zu der zentralen Aussage eines philosophischen Textes und laden ihre Mitschülerinnen Mitschüler damit im Rahmen eines stummen Schreibgesprächs zu einem fortgesetzten schriftlichen, zeitlich begrenzten Dialog ein, den man gegebenenfalls in eine Plenumsdiskussion überführen kann.25 Die in Modul 1.6 vorgestellte »Selbstlernstation« zur Erschließung eines DescartesTextes bietet Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, ganz individuell in ihrem eigenen Lerntempo zu arbeiten. Dabei werden ihnen auch konkrete Lösungsvorschläge zum Erfassen der Problemstellung und Inspirationshilfen zur Identifikation von Argumenttypen angeboten.26 Viele der im Textschlüssel Philosophie vorgestellten Methoden sind in den letzten Jahren in neu erschienene Unterrichtswerke für das Fach Philosophie implementiert worden, sodass Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler damit auch im Schulalltag ihre Textkompetenz wirkungsvoll erweitern können – so zum Beispiel im Oberstufenband C von »weiterdenken«.27 Hier findet man auch zu jeder Kursphase einen Text mit einem detailliert ausgearbeiteten Erwartungsbogen für eine sehr gute Klausurleistung, der Schülerinnen und Schülern als Orientierungshilfe dienen soll.28 Die meisten Schulbücher für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen und LER beschränken sich auf allgemein formulierte Empfehlungen für die Erschließung von Textinhalt und -aufbau bzw. die Identifikation von Argumenttypen. Jonas Pfister hat diese Anweisungen zum genauen Lesen in seiner 25

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Vgl. Wittschier, Michael: »3.9 Schreibgespräch«, in Wittschier, Michael: Textschlüssel Philosophie. 30 Erschließungsmethoden mit Beispielen, a.a.O., S. 177– 179, hier neu kommentiert. Vgl. ibid., S. 24 – 62. Wittschier, Michael: Gesprächsschlüssel Philosophie. 30 Moderationsmodule mit Beispielen, bsv/patmos im Oldenbourg Schulbuchverlag, München 2012, S. 466 – 468. Sistermann, Rolf (Hrsg.): weiterdenken, Philosophie/Ethik Band C Oberstufe, Schroedel Verlag im Bildungshaus Schulbuchverlage, Braunschweig 2012, S. 466 – 468.

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Fachdidaktik Philosophie einmal übersichtlich zusammengestellt: (i) genau lesen (Fokus auf sich wiederholende Begriffe, Satzarten, z. B. Fragesätze, persönliche Rezeption drei besonders wichtiger Sätze), ! (ii) den Text strukturieren, ! (iii) Hauptthesen herausarbeiten, ! (iv) Argumente rekonstruieren, ! (v) Diskussionsfragen formulieren.29 Das von Bernd Rolf und Jörg Peters herausgegebene Lehrwerk philo – NRW Einführungsphase30 geht ganz bewusst einen Schritt weiter, um die Methodenkompetenz von Schülerinnen und Schülern, die Probleme mit der Texterschließung haben, nachhaltig zu schulen. Mithilfe von farbig unterlegten Textaussagen und entsprechend eingefärbten Marginalien, die diese Aussagen noch einmal zusammenfassen bzw. deren argumentative Funktion erläutern, werden den Lernenden in jedem Kapitel mustergültige Analysevorlagen an die Hand gegeben, an denen sie sich bei der selbstständig vorgenommenen Texterfassung orientieren können.

 Ausgesuchte Methoden der Texterschließung Im Folgenden werden aus allen drei Kategorien der Texterschließung (mit Anleitung – selbstständig mit Anleitung – selbstständig) exemplarisch einige Methoden31 vorgestellt. Sie werden in besonderer Weise den geltenden Unterrichtsprinzipien (binnendifferenziertes Arbeiten, Einsatz kooperativer Lernformen) gerecht und dienen zugleich dem nachhaltigen Auf- und Ausbau der Basis-Textkompetenzen (den Hauptgedanken erfassen – Schlüsselbegriffe identifizieren – Argumentationsstruktur analysieren).

Texterschließung mit Anleitung # Wo steht das im Text? Variable Arbeit mit dem Begriffsnetz (Textschlüssel Philosophie 1.5) Philosophielehrerinnen und -lehrer können und sollen ihren Schülerinnen und Schülern bei der Analyse eines philosophischen Textes Hilfestellungen anbieten, wenn diese ihn sich nicht selbstständig erschließen können. Ausgangspunkt der Methode ist ein vorstrukturiertes Begriffsnetz, das den sachlogischen Strukturzusammenhang der Argumentation vollständig abbildet, aber noch nicht die Schlüsselbegriffe verortet. Hier kann man die Vorgaben – je nach Lerngruppe binnendifferenziert – fluidal variieren.

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31

Vgl. Pfister, Jonas (2014): Fachdidaktik Philosophie, UTB 3324, Haupt Verlag, Bern/Stuttgart/Wien 22014 (korrigierte und aktualisierte Auflage), S. 53 – 56. Rolf, Bernd; Peters, Jörg (Hrsg.): philo NRW – Einführungsphase. Unterrichtswerk für Philosophie in der Sekundarstufe II, C.C. Buchner, Bamberg 2014. Die hier vorgestellten Methoden sind Modifikationen, Variationen bzw. Weiterentwicklungen der Methoden der Texterschließung aus Michael Wittschier: Textschlüssel Philosophie – 30 Erschließungsmethoden mit Beispielen, patmos/bsv München, 2010

Methoden der Textarbeit

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Entweder man gibt den Schülerinnen und Schülern alle oder einige Schlüsselbegriffe32 vor, die sie zunächst in ihrem argumentativen Textzusammenhang identifizieren müssen, bevor sie sie dann sinnvoll den Knoten- und Eckpunkten der Concept Map zuordnen. Bei der wiederholten Arbeit mit dieser Methode sollte man dann die Vorgaben zunehmend minimieren und die Schülerinnen und Schüler selbstständig ein Begriffsnetz zu einem Begriffszusammenhang entwickeln lassen, damit sie auch »ohne Geländer« denken und arbeiten lernen.

M1 David Hume: Die wertlose Fiktion vom Gesellschaftsvertrag33

Die Gesamtheit der moralischen Pflichten lässt sich in zwei Klassen unterteilen. Der ersten Klasse gehören jene Pflichten an, zu deren Erfüllung der Mensch sich schon durch natürlichen Instinkt oder unmittelbare Neigung motiviert fühlt, unabhängig von jeder Pflichtvorstellung und jeder Rücksichtnahme auf privaten oder öffentlichen Nutzen. Hierher gehören Kindesliebe, Dankbarkeit gegenüber Wohltätern und Mitleid mit Unglücklichen. Wenn man die Vorteile bedenkt, die der Gesellschaft aus derartigen Instinkten erwachsen, erscheint es völlig gerechtfertigt, sie moralisch zu billigen und zu achten. Aber wer selbst von ihnen motiviert wird, fühlt ihre Kraft und ihren Einfluss unabhängig von moralischen Erwägungen. In die zweite Klasse der moralischen Pflichten fallen jene, die nicht von einem natürlichen Instinkt getragen, sondern allein aus Pflichtgefühl ausgeführt werden. Dieses Pflichtgefühl entsteht aus der Einsicht in die Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens und aus der Erkenntnis, dass sich ein solches Zusammenleben nicht aufrechterhalten ließe, wenn nicht bestimmte Pflichten beachtet würden. Auf diese Weise gewinnen Gerechtigkeit (das heißt die Achtung fremden Eigentums) und Treue ( das heißt die Einhaltung von Versprechen) ihren Verpflichtungscharakter und ihre Autorität für die Menschen.

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Die Reihenfolge der vorgegebenen Begriffe sollte nicht ihrer grafischen Abfolge von oben nach unten entsprechen. Hume, David: »Die wertlose Fiktion vom Gesellschaftsvertrag«, übers. von Kliemt, Hartmut, in: Hoerster, Norbert (Hrsg.): Klassische Texte der Staatsphilosophie, dtv wissenschaft 4455, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 163 – 176: S. 172 – 173.

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Selbstständige Texterschließung mit Anleitung # Schlüsselbegriffe mithilfe der WORTWOLKE finden (Textschlüssel Philosophie 2.2) Wer seinen Schülerinnen und Schülern bei der Suche nach Schlüsselwörtern in einem philosophischen Text eine pragmatische Hilfestellung anbieten möchte, kann dabei auf eine Methode der beiden französischen Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari zurückgreifen. Ihr 1992 erschienenes Werk Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie34 präsentiert auf über 700 Seiten statt eines kontinuierlichen Textes zu allen möglichen Wirklichkeitsbereichen sogenannte »Wortwolken«. Dabei werden besonders wichtige Begriffe größer dargestellt als weniger wichtige. Heute kann man solche »word clouds« innerhalb weniger Sekunden mithilfe von wordle.net mit jedem beliebigen Text selbst herstellen. Diese Methode der Informations-Visualisierung hat eine ähnliche Funktion wie das Stellen von Leitfragen: Man lenkt damit die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf bestimmte Begriffe, die für die Argumentation (besonders) wichtig sind, denn sonst hätte sie der Autor nicht (so) oft verwendet.35 Dass die Wort-Quantifizierung nur ein erster Schritt sein kann, um sich den begrifflichen Zusammenhang eines Textes gedanklich zu erschließen, versteht sich von selbst.

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Deleuze, Gilles; Guattari, Felix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. von Schwibs, Bernd, stw 224, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010. Wenn möglich, sollten die Schülerinnen und Schüler den zu bearbeitenden Text selbst in einen WordCloud-Generator eingeben.

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Mithilfe des im Textschlüssel Philosophie beschriebenen methodischen »Dreisprungs« 36 lassen sich die gemeinsam gefundenen und im Plenum abgeglichenen Schlüsselwörter eines Textes mit der Strukturlegetechnik in ein Begriffsnetz verwandeln, das dann als Grundlage für eine genaue Analyse des argumentativen Zusammenhangs bzw. des argumentativen Stellenwerts einzelner Aussagen und Begriffe dient.

M2 Jeremy Bentham: Über das Prinzip der Nützlichkeit37

1. Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid und Freude – gestellt. Es ist an ihnen allein aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden. Sowohl der Maßstab für Richtig und Falsch als auch die Kette der Ursachen und Wirkungen sind an ihrem Thron festgemacht. Sie beherrschen uns in allem, was wir tun, was wir sagen, was wir denken: jegliche Anstrengung, die wir auf uns nehmen können, um unser Joch von uns zu schütteln, wird lediglich dazu dienen, es zu beweisen und zu bestätigen. Jemand mag zwar mit Worten vorgeben, ihre Herrschaft zu leugnen, aber in Wirklichkeit wird er ihnen ständig unterworfen bleiben. Das Prinzip der Nützlichkeit erkennt dieses Joch an und übernimmt es für die Grundlegung jenes Systems, dessen Ziel es ist, das Gebäude der Glückseligkeit durch Vernunft und Recht zu errichten. Systeme, die es in Frage zu stellen versuchen, geben sich mit Lauten anstatt mit Sinn, mit einer Laune anstatt mit der Vernunft, mit Dunkelheit anstatt mit Licht ab. Doch genug des bildlichen und pathetischen Sprechens: Durch solche Mittel kann die Wissenschaft der Moral nicht verbessert werden. 2. Das Prinzip der Nützlichkeit ist die Grundlage des vorliegenden Werkes; es wird daher zweckmäßig sein, mit einer ausdrücklichen und bestimmten Erklärung dessen zu beginnen, was mit ihm gemeint ist. Unter dem Prinzip der Nützlichkeit ist ein Prinzip zu verstehen, das schlechthin jede Handlung in den Maß billigt oder missbilligt, wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück der Gruppe, deren Interesse in Frage steht, zu vermehren oder zu vermindern, oder – das gleiche mit anderen Worten gesagt – dieses Glück zu befördern oder zu verhindern. Ich sagte: schlechthin jede Handlung, also nicht nur jede Handlung einer Privatperson, sondern auch jede Maßnahme der Regierung. 3. Unter Nützlichkeit ist jene Eigenschaft an einem Objekt zu verstehen, durch die es dazu neigt, Gewinn, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück hervorzubringen (dies alles läuft im vorliegenden Fall auf das gleiche hinaus) oder (was ebenfalls auf das gleicht hinausläuft) die Gruppe, deren Interesse erwogen wird, vor Unheil, Neid, Bösem oder Unglück zu bewahren; sofern es sich bei dieser Gruppe um die Gemeinschaft im allgemeinen handelt, geht es um das Glück der Gemeinschaft; sofern es sich um ein bestimmtes Individuum handelt, geht es um das Glück dieses Individuums. 36 37

Wittschier, Michael: Textschlüssel Philosophie. 30 Erschließungsmethoden mit Beispielen, a.a.O., S. 75 –82. Bentham, Jeremy: »Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung«, übers. von Pieper, Annemarie, in: Höffe, Otfried (Hrsg.): Einführung in die utilitaristische Ethik, UTB 1683, A. Francke Verlag, Tübingen 42003, S. 55 – 56.

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# Thesenpuzzle38 (2.3 und 2.7) Man kann die Erarbeitung eines (schwierigen) philosophischen Textes auch dadurch vorentlasten, dass die Schülerinnen und Schüler im Vorfeld der Analyse sechs bis acht zentrale Text-Thesen in beliebiger Reihenfolge auf separaten Zetteln ausgehändigt bekommen. Sie sollen dann in (in Partnerarbeit) zunächst überlegen und entscheiden, welche der Aussagen zur THESE und welche zur GEGENTHESE gehören, sich anschließend – aus guten Gründen – für die THESE oder die GEGENTHESE als das bessere Argument entscheiden und die dazu passenden Aussagen abschließend mithilfe der Strukturlegetechnik in einen sachlogisch stimmigen Zusammenhang bringen. Gegebenenfalls bietet man Schülerinnen und Schülern, die (große) Probleme mit diesen beiden Teilaufgaben haben, in dieser Phase (der intuitiven Problemlösung) schon den Originaltext als Hilfestellung an. Ansonsten wird er der Lerngruppe erst danach – zum Zweck der kontrollierten Problemlösung – an die Hand gegeben und einer begrifflich-argumentativen Detailanalyse unterzogen.

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Die Anregung für diese Variante des »Text-Puzzles« verdanke ich Florian Kraemer.

Methoden der Textarbeit

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M3 Karl Raimund Popper: Zwei Seiten des Alltagsverstandes39

Der Alltagsverstand ist, wie ich sagte, stets unser Ausgangspunkt, aber er bedarf der Kritik. Und, wie man erwarten konnte, zeigt er sich nicht von seiner besten Seite, wenn er über sich selbst nachdenken soll. Die Theorie des Alltagsverstandes über das Wissen des Alltagsverstandes ist in der Tat ein naives Durcheinander. Doch sie bildet die Grundlage selbst der neuesten philosophischen Erkenntnistheorien. Die Theorie des Alltagsverstandes ist einfach. Wenn jemand etwas noch Unbekanntes über die Welt wissen möchte, muss er nur seine Augen aufmachen, ebenso die Ohren, um insbesondere solche Geräusche zu hören, die andere Menschen machen. Unsere Sinne sind also die Quellen unserer Erkenntnis, die Eingangspforten in unser Bewusstsein. Diese Theorie habe ich oft die Kübeltheorie des Geistes genannt. Sie lässt sich am besten durch ein Bild darstellen:

Unser Geist ist ein Kübel, anfangs leer, oder mehr oder weniger leer, und in diesen gelangt Material durch unsere Sinne (oder vielleicht durch einen Trichter zur Füllung von oben), häuft sich an und wird verdaut. In der Philosophie ist diese Theorie eher unter dem würdigeren Namen der tabularasa-Theorie des Geistes bekannt: Unser Geist ist eine leere Schiefertafel, in die die Sinne ihre Nachrichten gravieren. Doch der Hauptpunkt der tabu/a-rasa-Theorie geht über die Kübeltheorie des Alltagsverstandes hinaus: Er betont die völlige Leere des Bewusstseins bei der Geburt. Für unsere Diskussion ist das nur eine geringfügige Abweichung zwischen den beiden Theorien, denn es kommt nicht darauf an, ob wir mit ein paar »angeborenen Ideen« in unserem Kübel geboren werden oder nicht – wobei intelligente Kinder vielleicht ein paar mehr, schwachsinnige ein paar weniger haben. Die entscheidende These der Kübeltheorie ist, dass wir so gut wie alles, was wir lernen, durch den Eintritt der Erfahrung in unsere Sinnesöffnungen lernen, so dass alles Wissen aus Informationen besteht, die wir durch unsere Sinne erhalten haben, das heißt durch Erfahrung. […] 39

Popper, Karl Raimund: »Zwei Seiten des Alltagsverstandes: Ein Plädoyer für den Realismus des Alltagsverstandes und gegen die Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes«, in: Popper, Karl Raimund: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hoffmann und Campe, Hamburg 1973, S. 61– 63 und S 64 – 65.

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An der Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes ist nahezu alles falsch. Der Hauptfehler aber ist vielleicht die Annahme, wir seien mit dem beschäftigt, was Dewey die Suche nach Gewissheit nannte. Diese führt zum Herauslösen von Daten oder Elementen, Sinnesdaten oder Sinneseindrücken oder unmittelbaren Erfahrungen als sicherer Grundlage aller Erkenntnis. Doch das sind sie nicht – sie existieren nicht einmal. Sie sind Erfindungen optimistischer Philosophen, die es fertiggebracht haben, sie den Psychologen aufzuhängen. Was sind die Tatsachen? Als Kinder lernen wir die chaotischen Nachrichten zu entschlüsseln, die uns aus unserer Umwelt erreichen. Wir lernen, sie zu sortieren, die Mehrzahl von ihnen unbeachtet zu lassen und diejenigen herauszusuchen, die entweder für uns unmittelbar von biologischer Bedeutung sind oder in einer Zukunft, auf die wir durch einen Reifungsvorgang vorbereitet werden. Das Erlernen der Entschlüsselung der Nachrichten, die auf uns zukommen, ist äußerst kompliziert. Es beruht auf angeborenen Dispositionen. Ich vermute, dass wir angeborenermaßen dazu neigen, Nachrichten auf ein zusammenhängendes und teilweise regelmäßiges oder geordnetes System zu beziehen: die »Wirklichkeit«. Mit anderen Worten, unser subjektives Wissen von der Wirklichkeit besteht aus reifenden angeborenen Dispositionen. (Das halte ich übrigens für eine zu komplizierte Konstruktion, als dass es als starkes unabhängiges Argument für den Realismus verwendet werden könnte.) Wie dem auch sei, wir lernen das Entschlüsseln durch Versuch und Fehlerelimination; wir erlangen zwar eine hervorragende Fähigkeit, die entschlüsselte Nachricht als »unmittelbar« oder »gegeben« zu empfinden, aber es kommen immer wieder Fehler vor, die gewöhnlich durch besondere Mechanismen von großer Kompliziertheit und beträchtlicher Wirksamkeit korrigiert werden. Die ganze Geschichte vom »Gegebenen«, von den wahren Daten, denen Gewissheit anhaftet, ist eine falsche Theorie, obwohl sie Teil des Alltagsverstandes ist. Ich gebe zu, dass wir vieles so empfinden, als wäre es uns unmittelbar gegeben und als wäre es vollkommen gewiss. Das ist unserem hochentwickelten Entschlüsselungsapparat zu verdanken mit seinen vielen eingebauten Kontrollmechanismen, die, um mit Winston Churchill zu sprechen, »Kontrollpeilungen« vornehmen; dadurch werden sehr viele unserer Entschlüsselungsfehler beseitigt, so dass wir uns in den Fällen, in denen wir unmittelbar wahrnehmen, tatsächlich nur selten irren. Ich bestreite aber, dass diese wohlangepassten Erfahrungen in irgendeinem Sinne mit »gegebenen« Maßstäben der Verlässlichkeit oder Wahrheit gleichgesetzt werden können. Sie bilden auch faktisch keinen Maßstab der »Unmittelbarkeit« oder »Gewissheit«; sie zeigen nicht, dass wir uns bei unseren unmittelbaren Wahrnehmungen nie irren können; der Erfolg beruht einfach darauf, dass wir als biologische Systeme unglaublich leistungsfähig sind. (Ein erfahrener Photograph macht selten Fehlbelichtungen. Das ist seiner Übung zu verdanken und nicht der Tatsache, dass seine Bilder als »Daten« oder »Maßstab der Wahrheit« oder vielleicht als »Maßstab richtiger Belichtung« zu gelten hätten.

Methoden der Textarbeit

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Lösung Wie kommen wir zu unseren Erkenntnissen von Tatsachen? THESE

GEGENTHESE

Am Anfang ist unser Geist leer wie eine Von Geburt an haben wir die Fähigkeit, Sinnesunbeschriebene Schiefertafel (tabula rasa). nachrichten auf die Wirklichkeit als ein geordnetes System zu beziehen bzw. sie zu entschlüsseln. In diese »Schiefertafel« gravieren die Sinne Wenn wir einem Entschlüsselungsproblem beihre Nachrichten. gegnen, entwickeln wir dazu eine vorläufige Theorie. Die Sinnesnachrichten werden zu InforDurch Versuche und Fehlerbeseitigungen versumationen über die Wirklichkeit verarbeitet. chen wir den Entschlüsselungsfehler zu beseitigen. Alle unsere Tatsachenerkenntnisse erhalten wir durch unsere Sinne.

Alle unsere Tatsachenerkenntnisse sind das Ergebnis eines Lernprozesses.

Selbstständige Texterschließung # Sprechakt-Analyse (Textschlüssel Philosophie 3.1) Das richtige und vollständige Identifizieren von »Argumenttypen« 40 als unabdingbare Voraussetzung für die Analyse von Argumentationsgang und -aufbau eines philosophischen Textes stellt – je nach Schwierigkeitsgrad – auch für manche Lehramtsanwärterin bzw. manchen Lehramtsanwärter noch eine echte intellektuelle Herausforderung dar. Damit die Schülerinnen und Schüler nicht Gefahr laufen, den Text bloß zu paraphrasieren, sollte man ihnen eine übersichtliche Liste mit performativen Verben an die Hand geben, mit deren Hilfe man alle wichtigen argumentativen Verwendungsabsichten aufspüren und explizit benennen kann: begründen * behaupten * bekräftigen * belegen * bezweifeln * definieren * erwidern * infrage stellen * Gedankenexperiment durchführen * Missverständnis ausräumen * referieren * schlussfolgern * verallgemeinern * an einem Beispiel veranschaulichen * verweisen auf * widerlegen * Widerspruch aufzeigen * wiederholen * zusammenfassen * zustimmen.

40

Nach Göttert, Karl-Heinz: Argumentation. Grundzüge ihrer Theorie im Bereich theoretischen Wissens und praktischen Handelns, Germanistische Arbeitshefte, Bd. 23, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1978, S. 27 sollte man immer zwischen »drei Argumenttypen, die Argumentationen tragen [= Faktum, Grundsatz, Stütze]«, und »einer kompletten Argumentation unterscheiden, die alle […] Bestandteile enthält (und allenfalls verschiedene Beispiele für einen Argumenttyp vorlegen kann)«.

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# Das »Lerntempo-Duett« als kontrollierter Text-Austausch (Textschlüssel Philosophie 3.2) Zu den durch Diethelm Wahl bekannt gewordenen WELL-Methoden (wechselseitiges Lehren und Lernen)41 gehört auch das sogenannte »Lerntempo-Duett«, bei dem sich zunächst zwei gleich große Lerngruppen in Einzel- oder Partnerarbeit selbstständig unterschiedliche Texte erschließen. In einer anschließenden Austauschphase stellen sich dann eine Schülerin bzw. ein Schüler aus den Textgruppen A und B die Inhalte ihrer Texte gegenseitig (mithilfe der Strukturlegetechnik) vor – beginnend mit den jeweils Schnellsten aus Gruppe A und Gruppe B. Es folgen die Zweitschnellsten usw. Abschließend werden die »Ergebnisse […] im Plenum von einem der Duette exemplarisch vorgestellt und auf ihre Richtigkeit hin überprüft«.42 Obwohl diese Methode oft im Unterricht praktiziert wird, gibt es vor allem gegen den sogenannten »Experten«-Status der Schülerinnen und Schüler berechtigte Vorbehalte, die die bzw. der Unterrichtende aber schnell und effektiv aus dem Weg räumen kann, indem er den Schülerinnen und Schülern beider Gruppen vor der Austauschphase eine Musterlösung zum Beispiel in Form eines Begriffsnetzes an die Hand gibt. Hier ist die Fachfrau bzw. der Fachmann gefragt, die bzw. der dafür Sorge tragen muss, dass keine unvollständigen, fehlerhaften oder halbrichtigen Informationen über den Text vermittelt werden. Da Schülerinnen und Schüler in der Praxis gerne das von Wahl geforderte Lerntempo-Prinzip dadurch unterlaufen, dass sie mit dem Standby-Signal (»Ich habe den Text verstanden und bin bereit zur Vermittlung.«) so lange warten, bis ein bestimmter befreundeter Mitschüler in der Lerngruppe fertig ist, kann man auch grundsätzlich darauf verzichten und dafür Lerntandems mit (eher) lernstarken und (eher) lernschwachen Schülerinnen und Schülern bilden. Ob Inhalt und Argumentation der Texte vollständig, genau und richtig ausgetauscht wurden, lässt sich am besten dadurch überprüfen, dass die Schülerinnen und Schüler der beiden Gruppen A und B sich einander gegenübersitzen und sich gegenseitig Feedback zum vermittelten Textverständnis geben. Dabei bestätigen, korrigieren oder ergänzen die Textvermittlerinnen und -vermittler und die Unterrichtende als Fachfrau bzw. der Unterrichtende als Fachmann gegebenenfalls das vorgetragene Textverständnis. Auf der Grundlage der Begriffsnetze zu Text A und B kann man die Textvermittlerinnen und -vermittler von Text A zu Hause einen 100-Worte-Lexikonartikel zu Text B verfassen lassen und umgekehrt.

41

42

Wahl, Diethelrn: Lernumgebungen erfolgreich gestalten: Vorn trägen Wissen zum kompetenten Handeln, Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 22006 (erweiterte Auflage). Auf der Basis lernpsychologischer Erkenntnisse stellt Wahl hier sehr detailliert das Lernen nach dem Sandwich-Prinzip vor sowie Methoden des wechselseitigen Lehrens und Lernens. Wittschier, Michael: Gesprächsschlüssel Philosophie. 30 Moderationsmodule mit Beispielen, a.a.O., S. 121.

Methoden der Textarbeit

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M4 David Hume: Ursprung unserer Vorstellungen43 (GRUPPE A)

Jedermann wird bereitwillig zugeben, dass ein beträchtlicher Unterschied zwischen den Perzeptionen des Geistes besteht, wenn ein Mensch den Schmerz übermäßiger Hitze empfindet oder die Wohltat angenehmer Wärme und wenn er sich nachher diese Wahrnehmung ins Gedächtnis zurückruft oder sie in der Einbildungskraft vorwegnimmt. Diese Fähigkeiten können die Sinneswahrnehmungen nachahmen oder kopieren, jedoch niemals die Stärke und Lebendigkeit der ursprünglichen Empfindung völlig erreichen. Wir können höchstens von ihnen sagen – selbst dann, wenn sie mit größter Kraft auftreten –, sie stellen ihren Gegenstand derart lebendig dar, dass wir ihn fast zu sehen oder zu fühlen meinen. Aber außer wenn der Geist durch Krankheit oder Wahnsinn gestört ist, können sie nie einen solchen Grad der Lebendigkeit erreichen, dass diese Perzeptionen gänzlich voneinander ununterscheidbar wären. Alle Farben der Poesie, wie prächtig sie auch sein mögen, können nie und nimmer Naturgegenstände so malen, dass die Beschreibung für eine wirkliche Landschaft gehalten werden könnte. Der lebendigste Gedanke ist immer noch schwächer als die dumpfeste Wahrnehmung. Wir können beobachten, wie ein gleicher Unterschied durch alle anderen Perzeptionen des Geistes hindurchgeht. Ein Mensch in einem Zornausbruch wird in gänzlich anderer Weise ergriffen als jemand, der nur an diese Gemütserregung denkt. Sagt man mir, jemand sei verliebt, verstehe ich leicht, was damit gemeint ist, und kann mir eine zutreffende Vorstellung von seinem Zustand machen. Aber niemals kann ich diese Vorstellung mit den wirklichen Verwirrungen und Gemütsbewegungen dieser Leidenschaft verwechseln. Wenn wir auf unsere früheren Gefühle und Gemütserregungen reflektieren, ist unser Gedanke ein getreuer Spiegel, der seine Gegenstände zuverlässig abbildet; doch die von ihm v:erwendeten Farben sind schwach und blass im Vergleich zu den Farben unserer ursprünglichen Perzeptionen. Es bedarf keines Scharfsinnes oder eines metaphysischen Kopfes, den Unterschied zwischen beiden festzustellen. Wir wollen deshalb alle Perzeptionen des Geistes in zwei Klassen oder Arten unterteilen, die durch ihre verschiedenen Grade der Stärke und Lebendigkeit unterschieden sind; die schwächsten und am wenigsten lebhaften werden gemeinhin Gedanken (THOUGHTS) oder Vorstellungen (IDEAS) genannt. Für die andere Art fehlt in unserer Sprache wie in den meisten anderen ein besonderer Name, vermutlich weil es außer für philosophische Zwecke nicht erforderlich war, sie unter einen allgemeinen Ausdruck oder Namen zu fassen. Wir wollen uns deshalb erlauben, sie Eindrücke (IMPRESSIONS) zu nennen, wobei wir dieses Wort in einem vom üblichen etwas abweichenden Sinne gebrauchen. Unter der Bezeichnung Eindruck verstehe ich also alle unsere lebhafteren Perzeptionen, wenn wir hören sehen, fühlen, lieben, hassen, begehren oder wollen. Eindrücke sind von Vorstellungen unterschieden, welche die weniger lebhaften Perzeptionen sind, deren wir uns bewusst sind, wenn wir auf eine der oben erwähnten Wahrnehmungen oder Gemütsbewegungen reflektieren.

43

Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. und hrsg. von Herring, Herbert, RUB 5489, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2003, S. 31– 32.

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Michael Wittschier

M5 David Hume: Verbindung unserer Vorstellungen44 (GRUPPE B)

Nichts erscheint wohl auf den ersten Blick unbegrenzter als das Denken des Menschen, das sich nicht nur aller menschlichen Macht und Autorität entzieht, sondern sich nicht einmal in den Grenzen von Natur und Wirklichkeit halten lässt. Ungeheuer zu ersinnen und nicht zueinander passende Gestalten und Erscheinungen miteinander zu verbinden kostet die Einbildungskraft nicht mehr Mühe, als sich die natürlichsten und vertrautesten Gegenstände vorzustellen; und während der Leib an einen Planeten gefesselt ist, auf dem er unter Schmerzen und Beschwerden einher kriecht, kann uns das Denken im Nu in die entlegensten Regionen des Universums tragen – oder sogar über das Universum hinaus in das grenzenlose Chaos, wo sich die Natur, wie man annimmt, in totaler Unordnung befindet. Was niemals gesehen wurde und wovon man niemals gehört hat, kann dennoch vorgestellt werden, und nichts übersteigt die Macht des Denkens, mit Ausnahme dessen, was einen absoluten Widerspruch enthält. Doch obgleich unser Denken diese unbegrenzte Freiheit zu besitzen scheint, werden wir bei näherer Prüfung finden, dass es in Wirklichkeit in sehr enge Grenzen eingeschlossen ist und dass diese ganze schöpferische Kraft des Geistes nur in dem Vermögen besteht, das uns durch die Sinne und Erfahrung gegebene Material zu verbinden, zu transponieren, zu vermehren oder zu verringern. Denken wir uns einen goldenen Berg, so verbinden wir nur zwei vereinbare Vorstellungen, Gold und Berg, die uns von früher bekannt sind. Ein tugendhaftes Pferd können wir uns vorstellen, weil wir uns aus unserem eigenen Gefühl die Tugend vorstellen können; und diese können wir mit Gestalt und Aussehen eines Pferdes in Verbindung bringen, das ja ein uns vertrautes Tier ist. Kurz gesagt, der ganze Stoff des Denkens ist entweder aus der äußeren oder der inneren Sinnesempfindung (outward or inward sentiment) abgeleitet: Aufgabe des Geistes und des Willens ist einzig und allein ihre Mischung und Zusammensetzung. Oder, um mich 44

Ibid., S. 32 – 34.

Methoden der Textarbeit

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philosophisch auszudrücken: Alle unsere Vorstellungen oder schwächeren Perzeptionen sind Abbilder unserer Eindrücke oder lebhaftere Perzeptionen.

 Arbeitsanregungen  Fertige ein Begriffsnetz zum Textinhalt an. (Einzel- oder Partnerarbeit)  Erkläre einer Mitschülerin bzw. einem Mitschüler aus der anderen Textgruppe mithilfe des Begriffs-netzes Inhalt und Argumentation deines Textes.  Setzt euch als Gruppe A und B einander gegenüber und stellt euch gegenseitig das vermittelte Textverständnis vor. Korrigiert und ergänzt gegebenenfalls fehler- oder lückenhaftes Verständnis von Inhalt und Argumentation. Quelle: Wittschier, Michael: »Methoden der Textarbeit«, in: Pfister, Jonas; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts, UTB 4514, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 225 – 245 (vom Autor für diesen Band überarbeitet).

Methoden der Textarbeit im Philosophieunterricht Roland Henke, Matthias Schulze  Einführung Texte spielen eine zentrale Rolle im Philosophie- und Ethikunterricht, gleichzeitig haben Schülerinnen und Schüler sehr häufig Probleme beim Verstehen von Texten, erst recht von philosophischen Texten, und sind meist wenig motiviert, sich damit zu beschäftigen. Die Textarbeit bedarf daher einer genauen methodischen Vorbereitung, damit die Schülerinnen und Schüler die behandelten Texte wirklich verstehen, Kompetenzen in der Erschließung von Texten erwerben und im günstigen Fall sogar ein bisschen Spaß am Umgang mit Texten haben. Im Folgenden wird eine Reihe von Methoden zur Erschließung von philosophischen Texten vorgestellt. Bei einigen dieser Methoden wird die Vorgehensweise ein Stück weit exemplarisch anhand eines Textes von Kant (Anhang I) demonstriert. Man muss dabei berücksichtigen, dass sich nicht jede Methode für jeden Text eignet. Zum einen hängt die Methodenwahl von den Fähigkeiten der Mitglieder der Lerngruppe ab, philosophische Texte eigenständig zu erschließen, zum anderen vom Schwierigkeitsgrat des Textes (Anhang II). Zudem spielt es eine Rolle, um welche Art von Text es sich jeweils handelt. Philosophische Texte erheben zwar stets den Anspruch, argumentativ zu sein, aber man kann im Anschluss an Rehfus1 verschiedene Arten philosophischer Texte unterscheiden: – Texte, die eine Auffassung durch einen Argumentationsgang begründen bzw. herleiten, – Texte, die ein philosophisches Denkmodell konstruieren, – Texte, die eine Auffassung auf bildhafte Weise plausibel machen, – Texte, die (von anderen) schon Gedachtes und Formuliertes kritisch rekonstruieren. Die Methodenwahl bei der Texterschließung muss daher berücksichtigen, um welche Art von philosophischem Text es sich jeweils handelt und welche Methode ihm daher angemessen ist.

1

Rehfus, Wulff D.: Der Philosophieunterricht. Kritik der Kommunikationsdidaktik und unterrichtspraktischer Leitfaden, problemata, Bd. 109, frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstadt 1986, S. 121– 125.

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Roland Henke, Matthias Schulze

Philosophische Texte fungieren im Philosophieunterricht als Diskurspartner in der Erörterung eines philosophischen Problems. Diese Rolle können die Texte nur spielen, wenn – sie als Antworten auf eine bestimmte Frage bzw. Problemstellung verstanden werden, – sie gründlich analysiert werden (lieber kurze Texte gründlich lesen als lange Texte ungenau), – die Argumentation des Textes rekonstruiert wird, – die Kernaussagen des Textes veranschaulicht und (ansatzweise) kritisch gewürdigt werden. Für die Lehrkraft sind folgende Fragen in der Vorbereitung der Textarbeit wichtig: 1. Wie entwickelt man im Unterricht eine Fragestellung, auf die der Text antwortet? 2. Welche zentralen Einsichten sollen die Schülerinnen und Schüler aus dem Text gewinnen? 3. Wie muss der Text für den Einsatz im Unterricht bearbeitet werden (Kürzungen, Begriffsklärungen, Erläuterungen etc.), wo liegen seine besonderen Schwierigkeiten für die Lerngruppe? 4. Welche Texterschließungsmethode passt zu diesem konkreten Text? 5. Welche methodischen Kompetenzen können in der Erschließung des Textes erworben werden?

 Methoden der Textarbeit 1. Grundlegende Vorgehensweise 1.1 Interpretationsschritte bei der Textarbeit Grundlegende Interpretationsschritte für die eigene Textanalyse durch die Lehrkraft und für die Textarbeit im Unterricht sind: 1. Formulierung der Frage bzw. des Problems, auf die bzw. das der Text eine Antwort gibt, 2. Klärung von Begrifflichkeit und – eventuell – Kontext, 3. Rekonstruktion der Argumentation / Klärung ihres Aufbaus bzw. ihrer Logik (Thesen, Argumente, Beispiele etc.), 4. Überprüfung der Argumentation auf ihre Konsistenz sowie die Überzeugungskraft ihrer Prämissen und Konsequenzen, 5. Einordnung des Textes in den Kontext des Unterrichtsdiskurses, kritische Bewertung seiner zentralen Aussagen.

Methoden der Textarbeit im Philosophieunterricht

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1.2 P-L-A-T-O-Methode2 Die grundlegenden Schritte einer Texterarbeitung lassen sich in folgendem Schema darstellen: 1. Problem, Thema, Frage des Textes benennen, 2. Lösungsvorschlag, Position, Antwort des Textes erfassen, 3. Argumentation des Textes darlegen – z. B.: Von welchen Voraussetzungen geht der Text aus? Welche Gründe werden genannt, welche Schlussfolgerungen gezogen? 4. Tragfähigkeit der Argumente prüfen – z. B.: Können die Gründe überzeugen? Stimmen die Definitionen? Taugen die Begriffe? Wird Wichtiges außer Acht gelassen? 5. Orientierung finden: Vermag der Text Sinn zu stiften? Passt die Perspektive in die heutige Welt bzw. meine Lebenswelt? Erweitert der Text meinen Horizont?

2. Methoden mit enger Lehrersteuerung3 2.1 Lernen am Modell4 Die Schülerinnen und Schüler erlernen die methodische Erschließung von Texten dadurch, dass die Lehrkraft ihr eigenes Vorgehen bei einer Textanalyse demonstriert. Die Lehrkraft, die sich in den Kenntnisstand der Schülerinnen und Schüler versetzt, wählt einen Text aus, den sie selbst nicht kennt. Sie analysiert schrittweise den Text und denkt dabei laut, so dass der Kurs ihre Gedanken bei der Analyse mit verfolgen kann und das Vorgehen bei der Texterarbeitung modellhaft demonstriert bekommt; dabei werden die Arbeitsschritte der Textanalyse in geeigneter Form visualisiert (etwa durch Notizen am Rand des Textes). Man nutzt diese Methode bei Texten, die für die Lerngruppe angemessen sind, aber auch bestimmte Schwierigkeiten enthalten, und geht dabei in folgenden Schritten vor: 1. Die Schülerinnen und Schüler lesen den Text für sich und wenden die bisher gelernten Texterschließungsmethoden bzw. Lesestrategien5 an. 2. Die Lehrkraft erläutert dem Kurs den Beobachtungsauftrag für das Lernen am Modell: Sie sollen genau darauf achten, an welchen Stellen sich die Lehrkraft unterbricht und eine bestimmte Lesestrategie anwendet. Dafür bekommen sie ein

2

3

4

5

Münnix, Gabriele; Kalcher, Joachim; Baranowski, Andreas: Horizonte Praktischer Philosophie 9/10, Ernst Klett Schulbuchverlag Leipzig, Leipzig/Stuttgart/Düsseldorf 2002, S. 175. Vgl. Langebeck, Klaus: »Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie1,1985: Textverstehen, S. 3 – 11. Vgl. Brüning, Ludger; Saum, Tobias: Direkte Instruktion. Kompetenzen wirksam vermitteln, Neue Deutsche Schule Verlagsgesellschaft, Essen 2019, S. 51– 55. Vgl. Abschnitt. 3.1 dieses Aufsatzes.

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Blatt mit drei Spalten, eine für die Beobachtung, eine für die jeweilige Lesestrategie und eine für den Grund für diese Strategie. 3. Die Lehrkraft liest den Text schrittweise laut vor, unterbricht sich dabei immer wieder und sagt laut, welche Gedanken sie sich dabei macht, um den Text zu verstehen (z. B. »Hier wird nun begründet, was im letzten Abschnitt behauptet wurde.«, »Unklar ist für mich noch…« etc.). Die Lehrkraft äußert dabei nur ihre Gedanken bei der Textanalyse und verzichtet auf Erklärungen des Textes aus der Lehrerrolle und auf eine Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern. Am Beispiel des Kant-Textes (Anhang I) könnte die Lehrkraft z. B. ausführen: Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist.

» … daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist« (Z 1,2) Dies scheint der Ausgangspunkt für Kants Argumentation. Aber in Z 4 heißt es: »Die Ursache davon ist…«. Das heißt, es ist keine Prämisse, die einfach vorausgesetzt wird, denn es wird im Folgenden ja begründet, mit folgendem Argument: Die Elemente der Glückseligkeit sind »aus der Erfahrung entlehnt«, das heißt hier so viel wie »entnommen«, wir nehmen es z. B. aus der Erfahrung, dass Gesundheit zum Glück gehört, aber eben nur oft, keineswegs immer. »Gleichwohl« – d. h. »jedoch« – ist unsere Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, also nichts nur Relatives, Zufälliges, mal Gesundheit, mal etwas anderes, sondern »ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande« usw.

1. Die Schülerinnen und Schüler notieren ihre Beobachtungen in der ersten Spalte. 2. Die Schülerinnen und Schüler tauschen sich über ihre Beobachtungen aus und vervollständigen ihre Aufzeichnungen. Sie klären, welche Lesestrategien die Lehrkraft aus welchem Grund angewendet hat und füllen die entsprechenden Spalten aus. 3. Die Ergebnisse werden im Plenum vorgestellt und besprochen.

2.2 Texterschließung mit Leitfragen Mittels Leitfragen kann die Lehrkraft das Vorgehen der Schülerinnen und Schüler bei der eigenständigen Erarbeitung des Textes strukturieren und Hilfen zum Verständnis geben. In der Vorbereitung des Unterrichts analysiert die Lehrkraft den Text im Hinblick auf seine zentralen Aussagen und seine argumentative Struktur sowie seine Funktion für die Problementwicklung der Unterrichtsreihe. Auf dieser Grundlage formuliert sie Leitfragen nach

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– – – –

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dem im vorangegangenen Unterricht entwickelten Stand der Problementwicklung, dem Anliegen bzw. der Problemstellung des Textes, den zentralen Thesen des Textes, der argumentativen Struktur des Textes (Argumente, Prämissen, Beispiele etc.).

Sie gibt außerdem vor: eine Sozialform (Einzel-, Partnerarbeit etc.), die Form, in der die Antworten schriftlich festgehalten werden sollen (kurze Sätze, Stichworte, tabellarische Gegenüberstellungen etc.), sowie die Art und Weise der Präsentation der Ergebnisse. Die Ergebnisse werden vorgestellt, verglichen und gegebenenfalls gemeinsam korrigiert.

2.3 Gezielte Strukturierung der Texterschließung mit Hilfe von Arbeitsblättern Der Einsatz von Arbeitsblättern ermöglicht eine weitergehende Strukturierung und Unterstützung der Textarbeit des Kurses. Wie bei der Verwendung von Leitfragen analysiert die Lehrkraft vorbereitend den Text in Hinblick auf seine Funktion für die Problementwicklung, seine zentralen Aussagen und seine argumentative Struktur. Das Arbeitsblatt kann folgende Elemente enthalten: – eine Hinführung zur Problemstellung des Textes durch Impulse, Fragen und kurze Texte, – Hilfen zum Verständnis, z. B. durch Paraphrasierung schwieriger Abschnitte, – eine Vorstrukturierung der Schülerergebnisse durch Überschriften oder grafische Elemente (Kästchen für Abschnitte, Pfeile für Beziehungen etc.), um die (argumentative) Struktur des Textes zu verdeutlichen, – Vorgaben für die Form der Bearbeitung (vorgegebene Stellen zum Eintragen, Tabellen etc.), – Vorgaben für die Struktur der Zusammenarbeit (Wechsel von Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit), – eine ansprechende, motivierende grafische Gestaltung (Bildelemente etc.). Bei dem vorliegenden Text von Kant (Anhang I) könnte ein solches Arbeitsblatt etwa so aussehen:

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3. Methoden zur eigenständigen Texterschließung/Lesestrategien6 Die Schülerinnen und Schüler erlernen verschiedene Strategien, die sie nutzen können, um einen philosophischen Text eigenständig zu analysieren. Die wichtigsten Elemente einer solchen Texterschließung sind: 1. erste Annäherung an den Text – wiederholtes, auch lautes Lesen des Textes, – vorläufige Formulierung der zentralen These des Textes, – Formulierung des Anliegens/der Problemstellung des Textes (Auf welche Frage gibt der Text eine Antwort?). 2. methodische Texterschließung – Unterstreichen/Herausschreiben/Markieren von Schlüsselbegriffen und Kernaussagen, – Klärung der verwendeten Begriffe, – Oberbegriffe finden und notieren,

6

Vgl. Rolf, Bernd; Peters, Jörg (Hrsg.): philo – Einführungsphase, C.C. Buchner Verlag, Bamberg 2014, S. 44 – 45 sowie Assmann, Lothar; Henke, Roland W.; Sewing, Eva; Schulze, Matthias (Hrsg.): Zugänge zur Philosophie – Einführungsphase, Cornelsen Verlag, Berlin 2015, S. 29 – 30 und Wittschier, Michael: Textschlüssel Philosophie – 30 Erschließungsmethoden mit Beispielen, Patmos Verlag, Düsseldorf 2010, S. 25 – 61 und S. 72 – 74.

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– Gliederung des Textes nach Sinnabschnitten, Formulieren von Überschriften für diese Abschnitte, – Kennzeichnung (z. B. durch farbige Markierung) der Funktion verschiedener Textbausteine (These, Argument, Schlussfolgerung, Beispiel etc.), – Aussagen des Textes mit (eigenen) Beispielen veranschaulichen, – Formulieren von (Zwischen-)Zusammenfassungen in Stichworten, – evtl.: Erstellen von Strukturskizzen/Schaubildern zum Gedankengang des Textes. 3. Überprüfen des Textverständnisses: – Überprüfung der Formulierungen für die zentrale These und die Problemstellung bzw. Absicht des Textes.

4. Argumentationsanalyse Philosophische Texte sind, wie oben erläutert, nicht immer, aber häufig diskursive Texte, in denen bestimmte Auffassungen mit Argumenten begründet werden. Die Rekonstruktion dieser Argumentation ist dann der entscheidende Schritt, um den Beitrag des Textes zum Reflexionsgang innerhalb einer Unterrichtsreihe zu verstehen und kritisch zu würdigen.

4.1 Argumentationsanalyse I: tabellarische Darstellung der Argumentation In einem diskursiven Text sollen die einzelnen Schritte dieser Argumentation nachvollzogen werden. Dabei wird zwischen dem Inhalt eines bestimmten Abschnitts und seiner argumentationslogischen Funktion unterschieden. Diese Funktion eines Abschnitts kann u.a. sein: These (Satz, Aussage, Behauptung), Antithese, Argument (Begründung), Beispiel (Veranschaulichung, Erfahrungen, Fakten), Schlussfolgerung, Kritik einer anderen Position, Referat/Erläuterung einer anderen Position, Schlussfolgerung, Zwischenergebnis etc. Vorgehensweise: 1. Die Schülerinnen und Schüler lesen den Text und markieren die zentralen Textstellen bzw. Begriffe und die für seine Argumentationslogik wichtigen Worte (z. B. Konnektoren wie »also«, »aber«, Verben wie »folgen«, »bestätigen«, Substantive wie »Grund«, »Schluss«). 2. Sie halten den argumentationslogischen Aufbau des Textes in einer Tabelle fest, indem sie in einer Spalte jeweils den Inhalt des Abschnitts – in Stichworten oder kurzen Sätzen – und in einer zweiten Spalte seine argumentationslogische Funktion festhalten (s. u.). Die Lehrkraft gibt dabei der besseren Vergleichbarkeit der Ergebnisse halber die Einteilung in die Abschnitte vor.

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Absatz

Inhalt

Logische Funktion

1) Z 1-

z.B. »Der Begriff der Glückseligkeit ist unbestimmt.«

Behauptung/These

2) Z –

4.2 Argumentationsanalyse II: Darstellung der Argumentation durch ein »Flussdiagramm« Die Argumentation eines Textes soll in einem Diagramm veranschaulicht werden, das – wie ein Flussdiagramm bei Computerprogrammen – die einzelnen Schritte der Argumentation in ihrem argumentationslogischen Zusammenhang darstellt und dabei festgelegte Symbole für bestimmte Elemente der Argumentation verwendet.

Die einzelnen Elemente werden durch Pfeile verbunden, die ebenfalls eine festgelegte Bedeutung haben:

Vorgehensweise: 1. Die Schülerinnen und Schüler lesen den Text und markieren die zentralen Textstellen bzw. Begriffe und die für die Argumentationslogik wichtigen Worte (z. B. Konnektoren wie »also«, »aber«, Verben wie »folgen«, »bestätigen«, Substantive wie »Grund«, »Schluss«). 2. Sie notieren in Stichworten die zentralen inhaltlichen Elemente, entscheiden, welche argumentationslogische Funktion diese jeweils haben, und übertragen sie dem-

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entsprechend auf von der Lehrkraft ausgeteilte Zettel in Form von Rechtecken, Trapezen etc. (Oder sie zeichnen diese Elemente selbst.). 3. Sie ordnen diese Elemente auf einem großen Papier entsprechend ihrer argumentationslogischen Beziehungen zueinander an und verdeutlichen diese Beziehungen durch geeignete Pfeile. Bei dem ausgewählten Kant-Text (Anhang I) könnte das Ergebnis einer solchen Argumentationsanalyse etwa folgendermaßen aussehen:

5. Antizipation von Textsinn Eine der Hauptschwierigkeiten bei der Textanalyse ist für Schülerinnen und Schüler, dass sie sich bei der Lektüre eines Textes häufig Satz für Satz entlanghangeln und allenfalls Bruchstücke verstehen, also nur lokale Kohärenz entwickeln, ohne ein Verständnis davon zu erlangen, worum es in dem Text überhaupt geht und in welchen Kontext die einzelnen gedanklichen Schritte einzuordnen sind (Entwicklung globaler Kohärenz). Der geübte Leser wird sich dagegen – ganz im Sinne des hermeneutischen Zirkels – zunächst im Ausgang von einem zentralen Abschnitt eine Vorstellung davon

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machen, worum es im betreffenden Text geht, bevor er sich den Ausführungen und Argumenten im Einzelnen zuwendet. Die im Folgenden vorgestellten Methoden versuchen, eine solche Vorgehensweise in schematisierter Form einzuüben.

5.1 Fokus-Methode (bzw. Kernstellenanalyse)7 Bei dieser Methode wird eine zentrale Textstelle genutzt, um eine Antizipation des Textsinns im Rest des Textes zu ermöglichen; dies geht natürlich nur bei Texten, die solche Kernstellen enthalten. Vorgehen: 1. Die Lehrkraft wählt eine zentrale Textstelle aus, die eine für den Text zentrale Aussage – eine Kernstelle – enthält, und präsentiert sie dem Kurs. 2. Die Textstelle wird im Plenum gemeinsam interpretiert. Ein erstes vorläufiges Verständnis dieser Stelle wird erarbeitet und es wird versucht, die zentralen Begriffe – soweit wie an dieser Stelle möglich – zu klären. – Offene Fragen werden festgehalten und notiert, und zwar Fragen – zum Verständnis der Textstelle, – zu möglichen Argumenten für die darin vertretene (zentrale) These, – zu möglichen Hintergründen und Voraussetzungen dieser These. 3. Die Schülerinnen antizipieren mögliche Antworten des Textes auf diese Fragen, die für alle schriftlich festgehalten werden. 4. Die Schülerinnen und Schüler überprüfen (in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit) am Rest des Textes, ob ihre Antworten zum Verständnis und zu möglichen Argumenten dort bestätigt werden. 5. Die Ergebnisse dieser Überprüfung werden im Plenum vorgetragen und geprüft. Dieses Verfahren kann an mehreren wichtigen Textstellen nacheinander eingesetzt werden. Für den als Beispiel ausgewählten Kant-Text (Anhang I) bietet sich der folgende – etwas gekürzte – Satz als Kernstelle an:

»Hieraus folgt, daß […] die Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Handlung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens befördern werde, völlig unauflöslich […]sei.« (Z. 20 – 24)

7

Nach Diesenberg, Norbert; Neugebauer, Hans Gerhard: Unterrichtsideen – Textarbeit im Philosophieunterricht der Sekundarstufe II, Ernst Klett Verlag, Stuttgart/München/Düsseldorf/Leipzig 1996, S. 201. Bei Diesenberg und Neugebauer wird die Methode nicht allgemein, sondern an einem konkreten Beispiel (Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) vorgestellt.

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Bei der Klärung der Begriffe wird – neben der Klärung des Begriffs »vernünftiges Wesen« – vor allem deutlich zu machen sein, was es heißt, die Handlungen »sicher und allgemein«, also notwendig und streng allgemein, d. h. a priori und nicht empirisch zu bestimmen. Als offene Fragen können u. a. festgehalten werden:  Was macht eine »sichere und allgemeine« Bestimmung aus? (zum Verständnis der Textstelle)  Warum ist eine allgemeingültige Bestimmung der Glückseligkeit nicht möglich? (zu möglichen Argumenten für die These)  Warum geht es Kant in der Ethik um allgemein gültige Aussagen? (zu möglichen Hintergründen und Voraussetzungen dieser These) Die Schülerinnen und Schüler antizipieren sodann mögliche Antworten des Textes auf diese Fragen. Argumente zu der These, dass es keine allgemeingültige Antwort auf die Frage nach der Glückseligkeit gibt, können durch eigenes Nachdenken gefunden werden, das Textverständnis wird damit vorentlastet. Die Schülerinnen und Schüler überprüfen am Rest des Textes: Finden sich unsere Argumente für die Unmöglichkeit einer apriorischen Bestimmung der Glückseligkeit auch bei Kant? usw.

5.2 »Vorverständnis«-Methode Bei dieser Methode werden – wie das im Philosophieunterricht ohnehin häufig gemacht wird – im Unterricht zunächst eigene Vorstellungen zu der im Text behandelten Problematik entwickelt, damit man die Textanalyse »vorentlasten« kann. Ein solches Vorverständnis erleichtert das Verständnis des Textes und ordnet ihn erkennbar in den Kontext der Problementwicklung ein. Vorgehen: 1. Die Lehrkraft entnimmt dem Text die zentralen Thesen. 2. Sie lässt die Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Vorverständnis zur Thematik dieser Thesen formulieren. 3. Die Gruppen erörtern ihr (gemeinsames) Vorverständnis und halten es in Stichworten schriftlich fest. Sie bekommen dazu eine Tabelle, in der dieses Vorverständnis in einer Spalte festgehalten wird, die andere Spalte ist für die Aussagen des Textes reserviert. 4. Die Schülerinnen und Schüler bekommen den Text und vergleichen ihr Vorverständnis mit seinen Thesen. Sie tragen dazu die Inhalte dieser Thesen (in Stichworten) in die zweite Spalte ein. 5. Der Vergleich wird im Unterrichtsgespräch ausgewertet, als Grundlage für weitere Reflexionen.

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6. Kooperative Formen der Texterschließung Wie in anderen Phasen des Unterrichts empfiehlt es sich auch bei der Textarbeit, Formen des »kooperativen Lernens« einzusetzen. Sie zeichnen sich gegenüber anderen Methoden der eigenständigen Arbeit im Kurs dadurch aus, dass sie durch ihr methodisches Design (»think-pair-share«) dafür sorgen, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler am Arbeitsprozess beteiligt werden und gleichzeitig jeder Einzelne eine Verantwortung für das Ergebnis der Gruppe zugewiesen bekommt. 8

6.1 Begriffsbestimmungsmethode

1. Die Schülerinnen und Schüler lesen den Text und formulieren das zugrunde liegende Problem in einem Satz. (Einzelarbeit) 2. Sie markieren beim nochmaligen Lesen die nach ihrer Auffassung zehn bis zwölf zentralen Begriffe. 3. Sie einigen sich mit ihrer Partnerin bzw. ihrem Partner auf die acht wichtigsten Begriffe des Textes. 4. Sie finden sich mit einem weiteren Paar zusammen und einigen Sie sich auf sechs zentrale Begriffe. 5. Sie erstellen in der Vierergruppe ein Begriffsnetz (»mind-map«) aus den sechs zentralen Begriffen. 6. Die Vierergruppen präsentieren ihr Begriffsnetz im Plenum und vergleichen es mit den Ergebnissen der anderen Gruppen.

6.2 Reziprokes Lesen9 Das reziproke Lesen ist eine kooperative Methode, um das Leseverstehen zu verbessern. Schülerinnen und Schüler in Gruppen mit vier bis sieben Mitgliedern übernehmen beim Gespräch über einen philosophischen Text – einander abwechselnd – zwei unterschiedliche Rollen: Als Gruppenleiter bzw. Gruppenleiterinnen geben sie bestimmte Lesestrategien vor, als Gruppenmitglieder wenden sie diese selbst an. Nachdem der erste Abschnitt des Textes still gelesen und dann vorgelesen worden ist, hat die Gruppenleiterin bzw. der Gruppenleiter das erste Wort. Das Gespräch kann sich wie folgt entwickeln: 1. Sie/Er stellt Fragen, die aus dem Text heraus beantwortet werden können. 8

9

Vgl. Brüning, Ludger, Saum: Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen. Strategien zur Schüleraktivierung, Neue Deutsche Schule, Essen 2009. Nach Steffens, Rudolf: »Gelesen heißt noch nicht verstanden«, in: forum schule. Magazin für Lehrerinnen und Lehrer 3, 2002, Heft 1, S. 22 – 23.

Methoden der Textarbeit im Philosophieunterricht

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2. Sie/Er formuliert und schlägt eine Zusammenfassung des Textabschnitts vor. 3. Sie/Er fordert zu Worterklärungen und zur Erläuterung unklarer Textstellen auf. 4. Sie/Er »wagt« zum Abschluss ihres/seines Rollenparts eine Vorhersage dessen, was der folgende Abschnitt wohl bringen wird. Alle Gruppenmitglieder wenden die Strategien an: Sie antworten, fragen ihrerseits, ergänzen, verbessern, klären, fordern Klärungen ein, stellen Hypothesen auf und prüfen – und das viele Male.

6.3 Schreibgitter (Placemat) Der Kurs wird in 3er- oder 4er-Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe erhält ein Schreibgitterblatt für 3 bzw. für 4 Personen (Format mindestens DIN A2) mit einem (je nach Text und nach dem Ziel der Textarbeit mehr oder weniger methodisch spezifizierten) Arbeitsauftrag. 1. Jedes Gruppenmitglied bearbeitet den Arbeitsauftrag in Einzelarbeit und trägt sein Ergebnis in seinem Feld ein. 2. Das Schreibgitter wird gedreht; jeder liest das Ergebnis seines Nachbarn/seiner Nachbarin und schreibt eventuell einen Kommentar darunter. Dies wird zwei- bzw. dreimal wiederholt. 3. Die Gruppe einigt sich auf ein gemeinsames Ergebnis und hält es im mittleren Feld fest (in einer Form, die eine spätere Präsentation im Plenum ermöglichen, z. B. für die Dokumentenkamera). 4. Die im mittleren Feld festgehaltenen Gruppenergebnisse werden im Plenum präsentiert und diskutiert.

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6.4 Lerntempoduett In den kooperativen Methoden des »Lerntempoduetts« und des »Gruppenpuzzles« geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler individuell einen Teil des Wissens erarbeiten und es dann an andere weitergeben. Solche Methoden der Zusammenarbeit kann man einsetzen, wenn man mehrere leicht zu verstehende Texte zum gleichen Thema oder einen einfachen Text, der sich in unabhängig voneinander verstehbare Abschnitte aufteilen lässt, erarbeiten lassen will. Die Texte bzw. die Textabschnitte sollten etwa gleich lang und gleich schwierig sein, die jeweiligen Methoden der Texterschließung werden durch die Aufgabenstellung vorgegeben oder selbständig gewählt. Beim Lerntempoduett werden zwei Texte bzw. Textabschnitte arbeitsteilig erarbeitet, wobei die Schülerinnen und Schüler in ihrem individuellen Tempo arbeiten können. 1. Der Kurs wird in zwei gleichgroße Gruppen eingeteilt, von denen sich die eine mit Text A, die andere mit Text B in Einzelarbeit auseinandersetzt und ihre Ergebnisse schriftlich festhält (Stichworte, Visualisierungen etc.)

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2. Wer mit der Erarbeitung seines Textes fertig ist, signalisiert dies, indem er aufsteht und – z. B. durch ein Handzeichen oder Hochhalten einer farbigen Karte – anzeigt, ob er Text A oder B bearbeitet hat. Die nächste Schülerin bzw. der nächste Schüler aus der anderen Gruppe, die bzw. der mit der Erarbeitung seines Textes fertig ist, geht zu ihr oder ihm und bildet mit der bzw. dem Stehenden ein Lerntempo-Duett. 3. Die Schülerinnen und Schüler erläutern sich mit Hilfe ihrer Aufzeichnungen gegenseitig die von ihnen einzeln erarbeiteten Texte und erarbeiten eventuell gemeinsam weitere Aufgaben zur Vertiefung. 4. Ausgewählte Ergebnisse der Lerntempoduette werden im Plenum vorgestellt und diskutiert.

6.5 Gruppenpuzzle Im Gruppenpuzzle werden mehrere Texte oder Abschnitte eines Textes – wie im Lerntempoduett – arbeitsteilig erschlossen. Zu diesem Zweck werden Expertengruppen gebildet, die je einen Text erarbeiten, und anschließend Austauchgruppen, in denen einzelne Mitglieder aus den verschiedenen Expertengruppen die jeweils von ihnen erarbeiteten Texte erläutern. 1. Vorbereitung: Die Lehrkraft markiert jeden Text mit dem gleichen Buchstaben (z. B. A, B, C, D bei vier Texten) und einer Zahl von 1 bis 3 oder bis 4. (Bei größeren Klassenstärken muss man das Verfahren doppelt anwenden, also z. B. zweimal denselben Text einsetzen). Sie gibt zu jedem Text Anweisungen, welche Texterschließungsaufgaben individuell und gemeinsam bearbeitet werden sollen. 2. Arbeit in Expertengruppen10 : Alle Schülerinnen und Schüler mit demselben Text (und damit mit demselben Buchstaben auf ihrem Arbeitsblatt) sitzen in Expertengruppen 10

Oft wird der Arbeit in Expertengruppen eine Phase in Stammgruppen vorgeschaltet: Dort wird die zu

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zusammen. Sie erarbeiten den Text zunächst individuell entlang der gegebenen Aufgaben, tauschen sich dann in der Gruppe aus und halten ihre Ergebnisse fest. 3. Austauschphase: Alle Schülerinnen und Schüler, die auf ihrem Arbeitsblatt dieselbe Zahl haben, setzen sich zum Austausch jeweils in einer Gruppe zusammen. Die jeweiligen Experten stellen den übrigen Gruppenmitgliedern ihren Text und die Ergebnisse ihrer Expertengruppe vor. Die anderen Gruppenmitglieder fragen nach, bis das Verständnis des jeweiligen Textes gesichert ist. Anschließend werden evtl. weitere Aufgaben, die sich auf alle Texte beziehen, bearbeitet. 4. Plenumsphase: Die Ergebnisse der Austauschphase werden im Plenum präsentiert, offene Fragen gemeinsam mit der Lehrkraft geklärt, die Texte werden kritisch gewürdigt, der Ertrag der Textarbeit zur Reflexion des jeweiligen philosophischen Problems erörtert.

7. Methoden zur Umsetzung des Textverständnisses Wenn die Schülerinnen und Schüler einen Text erschlossen haben, sollten sie in der Lage sein, ihr Textverständnis anderen zu vermitteln (z. B. in kooperativen Arbeitsformen) und es auch in schriftlicher Form darzustellen (z. B. in Hausaufgaben und Klausuren). klärende Frage besprochen, anschließend erarbeiten Experten individuell die jeweiligen Texte. Erst dann gehen sie in die Expertengruppe, klären dort untereinander das Verständnis des jeweiligen Textes, um anschließend in die Stammgruppe zurückzukehren und die Texte dort vorzustellen.

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7.1 Verfassen einer Textanalyse11 Für das Verfassen einer Textanalyse gibt es unterschiedliche, häufiger auch curricular vorgegebene feste Formen, die im Folgenden beschriebene Vorgehensweise gilt aber wohl für die meisten Formate. 1. Vorgehen Die Schülerinnen und Schüler erschließen den Text mit den dazu geeigneten Methoden (vgl. Methoden 3 und 4), stellen eine Gliederung auf (siehe hier 2.) und formulieren die Darstellung in einer bestimmten sprachlichen Form (siehe hier 3.). 2. Gliederung der Darstellung A B – – –

Einleitung: Angabe von Autor, Titel und Quelle Hauptteil: Darstellung des Anliegens bzw. der Problemstellung des Textes Formulierung der zentralen These des Textes als Antwort auf die Problemstellung Darstellung der Argumentation des Textes (vgl. Methode 4): Prämissen/Annahmen, Thesen/Behauptungen, Argumente, Beispiele/Erläuterungen, Schlussfolgerungen C Schluss: Formulierung einer abschließenden Zusammenfassung 3. Sprachliche Form

– Keine Nacherzählung, sondern Distanz zum Text: indirekte Rede (Konjunktiv), Einschübe wie »nach A«, »wie A behauptet« usw. – Darstellung der argumentativen Struktur des Textes: Thesen/Behauptungen, Argumente/Begründungen, Beispiele, Fakten, Referat/Kritik einer anderen Position – und zwar unter Verwendung spezieller (sog. performativer) Verben wie: ! behaupten, feststellen, eine These aufstellen, vermuten ! begründen, schließen, beweisen, folgern, rechtfertigen, einwenden, widerlegen ! erläutern, definieren, analysieren, erklären, zusammenfassen.

11

Anleitungen und Beispiele: vgl. Engels, Helmut: »›Geben Sie den Inhalt des Textes wieder und …!‹ Anmerkungen zu einem Alltagsproblem des Philosophieunterrichts«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 12, 1990, Heft 1: Mündlich/Schriftlich I, S. 22 – 26; vgl. auch Rolf, Bernd; Peters, Jörg (Hrsg.): philo – Qualifikationsphase, C.C. Buchner Verlag, Bamberg 2015, S. 20 – 21; vgl. ferner Assmann, Lothar; Henke, Roland W.; Sewing, Eva; Schulze, Matthias (Hrsg.): Zugänge zur Philosophie – Qualifikationsphase, Cornelsen Verlag, Berlin 2015, S. 36 – 37 und vgl. Wittschier, Michael: Textschlüssel Philosophie – 30 Erschließungsmethoden mit Beispielen, a.a.O., S. 25 – 62.

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7.2 Visualisieren des Textverständnisses12 Um den Gedankengang eines Textes selbst zu verstehen oder ihn anderen verständlich zu machen, ist es hilfreich, ihn zu visualisieren. Denn man verbindet mit seinen Gedanken fast immer bildliche Vorstellungen; außerdem können Visualisierungen komplexe Zusammenhänge ganzheitlich und gleichzeitig darstellen, während sprachliche Darstellungen in einzelnen Schritten vorgehen. Formen der Visualisierung, die einen gedanklichen Zusammenhang grafisch darstellen, sind: – Begriffsnetze (»Mindmaps«), in denen die Beziehungen zwischen verschiedenen Begriffen durch Pfeile dargestellt werden (vgl. auch 6.1), – Strukturdiagramme zu einem Text bzw. zu einer Argumentation, in denen die logischen Beziehungen zwischen den einzelnen Begriffen und Aussagen grafisch verdeutlicht werden: ! Baumstrukturen (z. B. »Baum des Porphyrios«), Folgerungsketten, Flussdiagramme (vgl. 4.2), Begriffskreise (z. B. Venn-Diagramme) etc., – Modellskizzen, die die Struktur eines philosophischen Denkmodells veranschaulichen. Bei der Visualisierung verwendet man neben einfachen geometrischen Formen (Linien, Pfeile, Rechtecke etc.) vor allem ikonische Zeichen (z. B. Strichmännchen), die den gemeinten Gegenstand verbildlichen, sowie Symbole, die durch Vereinbarung einem Gegenstand zugeordnet sind. Man sollte bei einer Visualisierung darauf achten, dass man – mit möglichst wenigen Zeichen bzw. Begriffen das Wesentliche darstellt, – den inhaltlich-logischen Zusammenhang entsprechend grafisch darstellt, – die dargestellte Struktur möglichst auf einen Blick erkennen kann.

7.3 Transformation in eine andere Textsorte13 Philosophische Texte können in eine andere Textsorte transformiert werden, um das eigene Verständnis zu vertiefen und anderen das Verständnis zu erleichtern. Textsorten, die dafür in Frage kommen, sind z. B. (Leser-)Briefe an den Verfasser, fiktive Interviews mit dem Autor bzw. der Autorin des Textes, fiktive Dialoge unter verschiedenen Autoren, Reden zu bestimmten Anlässen (z. B. vor Gericht) etc.

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Vgl. Assmann, Lothar; Henke, Roland W.; Sewing, Eva; Schulze, Matthias Assmann (Hrsg.): Zugänge zur Philosophie – Qualifikationsphase, a.a.O., S. 284. Vgl. Rolf, Bernd; Peters, Jörg (Hrsg.): philo – Qualifikationsphase, S. 118 – 119 und S. 308 – 309 und Wittschier, Michael: Textschlüssel Philosophie, a.a.O., S. 125 – 135.

Methoden der Textarbeit im Philosophieunterricht

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Fiktive Briefe: Ein (fiktiver) Brief an den Verfasser bzw. die Verfasserin des Textes sollte eine Darstellung des im Text dargestellten Gedankengangs sowie eine eigene Stellungnahme, die sich auf den zuvor dargestellten Gedankengang bezieht, enthalten. Eine genaue Textanalyse ist daher Voraussetzung. Fiktive Interviews: Bei (fiktiven) Interviews geschieht die Analyse des Textes auf seine zentralen Aussagen hin. Zudem sollen die Fragen (sowie Auffassungen, Thesen und Einwände), auf die der Text antwortet bzw. reagiert, herausgearbeitet und die Textstellen der Antworten auf diese Fragem markiert werden. Zuletzt soll dann mittels der erarbeiteten Fragen und Antworten die Formulierung eines Interviews vorgenommen werden.

Anhang I Kant: Glückseligkeit als Ziel der Moral?14

Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist. Nun ist’s unmöglich, daß er als das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wieviel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen! Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, usw. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum weil hierzu Allwissenheit erforderlich sein würde. Man kann also nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Ratschlägen, z. B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung usw., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern. Hieraus folgt, daß […] die Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Handlung die Glückseligkeit eines ver14

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Reclam: Stuttgart 1961, S. 63 – 64.

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Roland Henke, Matthias Schulze

nünftigen Wesens befördern werde, völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in Ansehung derselben möglich sei, der im strengen Verstande geböte, das zu tun, was glücklich macht.

Anhang II Kriterien zur Diagnose des Schwierigkeitsgrades von philosophischen Texten (hier: Kriterien für Zugänglichkeit)

– Sprachliche Einfachheit / durchschaubare Syntax (z. B. analytische Philosophie) – keine hermetische Sprache (»Jargon der Eigentlichkeit«) – Transparenz der leitenden Problemstellung – Transparenz des Gedanken- bzw. Argumentationsganges (Thesen und Begründungen unterscheidbar, strukturiert, klar aufgebaut, in Sinnabschnitte unterteilbar) – Klar bestimmte und durch Alltagsgebrauch gedeckte Begrifflichkeit (Gegenteil: neuartige oder schillernde Begriffe (z. B. bei Heidegger), »falsche Freunde« = nicht ausgewiesene Differenz zwischen philosophiespezifischem und Alltagsgebrauch) – Auto-Referentialität (Ist der Text aus sich heraus verstehbar oder ist ein Rekurs auf zum Nachvollzug des Gedankengangs notwendiges (philosophisches) Vorwissen erforderlich? Ist dieses Wissen erarbeitet?) – Verständlichkeit und Redundanz (Sind die Gedanken hinreichend erklärt bzw. erläutert? Wird Wichtiges mehrmals in anderen Worten angesprochen? Gibt es Leerstellen in der Gedankenführung?) – Konkretisierung abstrakter Zusammenhänge (Sind die leitenden Thesen und die sie stützenden Argumente durch Beispiele veranschaulicht? Stammen die Beispiele aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler bzw. sind sie von dort aus nachvollziehbar?)

Weitere Kriterien zur Auswahl von philosophischen Texten:

– Anschluss an Kenntnisstand / Methodenkompetenz der Lerngruppe – Motivationale Stimulanz (neue Thesen, überraschende Folgerungen (z. B. Thesen von Peter Singer) – Lebensweltbezug – Wirkmächtigkeit (Klafki: »Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung«) – Exemplarität (typisch für eine bestimmte Denkrichtung) – Vergleichbarkeit mit anderen Texten / Positionen – Kritisierbarkeit – Problemüberhang für die Auswahl weiterer Texte

Auswahlbibliographie Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht Andersson, Katja: »Stell dir vor, es wäre Krieg …«, in: Ethik & Unterricht 26, 2015, Heft 2: Gerechtigkeit, S. 32 – 33. Albus, Vanessa: »Lesen im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 3 – 8. Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! Kant-Texte im sprachsensiblen Philosophieunterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 9 – 10. Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, in: Albus, Vanessa; Frank, Magnus; Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, Philosophie und Bildung, Bd. 18, LIT Verlag, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2017, S. 219 – 232. Baum, Patrick: »Kant ad usum delphini. Mit Nach-Texten Transferaufgaben gestalten«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 34 – 37. Baum, Patrick: »Lob des ›Nach-Textes‹. Vielfältige Lektüren für den Unterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 12 – 13. Becke, Claus-Peter: »Textarbeit und Selbstdenken. ›Konstituierungsthese‹ versus ›Vermittlungsthese‹«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 12, 1990, Heft 1: Mündlich/Schriftlich I, S. 3 – 7. Bekes, Peter: »Reziprokes Lesen – ›Die grüne Krawatte‹. Ausgrenzung durch Vorurteile«, in: Praxis Philosophie & Ethik 2, 2016, Heft 5: Methoden der Texterschließung, S. 28 – 35. Blesenkemper, Klaus: »Lesen erleichtern. Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 22 – 31. Brahmi, Claudia: »Emilie du Châtelet über den Wert der Hypothesenbildung in den Institutions de physique. Ein textdidaktischer Kommentar«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 95 – 105. Brahmi, Claudia: Textverstehen im Philosophie- und Ethikunterricht der gymnasialen Oberstufe. Eine fachdidaktische Studie, Philosophie und Bildung, Bd. 20, LIT Verlag, Münster 2019. Brinkmeier, Birger: »›… die Epiphanie der Philosophie selbst‹. Über die Schwierigkeiten beim Lesen eines philosophischen Textes«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 9 – 21. Brun, Georg: »Textstrukturanalyse und Argumentrekonstruktion«, in: Pfister, Jonas; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts, UTB 4514, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 247 – 274. Brüning, Barbara: »Textinterpretation«, in: Brüning, Barbara: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien, Philosophie und Ethik unterrichten, Bd. 1, Beltz Praxis, Beltz Verlag, Weinheim/Basel/ Berlin 2003, S. 82 – 90. Busch, Werner: »Zu Christophs Dejungs ›Fünf Thesen zur Textlektüre‹«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 16, 1994, Heft 4: Tier, S. 277. Dejung, Christoph: »Fünf Thesen zur Textlektüre«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 15, 1993, Heft 2: Zeit, S. 139. Deppert, Wolfgang: »Interpretationen zu Kants Schriften ›Was ist Aufklärung?‹ und ›Was heißt: Sich im Denken orientieren?‹«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 15, 1993, Heft 2: Zeit, S. 116 – 123. Diesenberg, Norbert: »Mit oder ohne Text?«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 15, 1993, Heft 2: Zeit, S. 241 – 250.

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Auswahlbibliographie

Engels, Helmut: »›Geben Sie den Inhalt des Textes wieder und …!‹ Anmerkungen zu einem Alltagsproblem des Philosophieunterrichts«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 12, 1990, Heft 1: Mündlich/ Schriftlich I, S. 22 – 26. Engels, Helmut: »Sprechakte und intentionale Zustände. Ein Hilfsmittel bei der Erschließung von Texten«, in: Praxis Philosophie & Ethik 2, 2016, Heft 5: Methoden der Texterschließung, S. 18 – 27. Engels, Helmut: »Textarbeit und Schreiben«, in: Brüning, Barbara (Hrsg.): Ethik / Philosophie-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Cornelsen Verlag GmbH, Berlin 22016, S. 85 – 97. Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2: Methodenfragen, S. 16 – 24. Gefert, Christian: »Die Arbeit am Text – Das Schweigen der Schrift und Strategien der Texteröffnung« , in: Rohbeck, Johannes: Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2001, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 144 – 164. Gefert, Christian: »Die Arbeit mit dem philosophischen Text als performatives Experiment mit und in einer philosophischen Weltanschauung«, in: Raupach-Strey, Gisela; Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Philosophie und Weltanschauung, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2010, Bd. 11, Thelem, Dresden 2011, S. 137 – 143. Gefert, Christian: »Text und Schrift. Dekonstruktivistische Verfahren«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 133 – 139. Geiß, Paul Georg: »Philosophische Textarbeit (hermeneutisch, analytisch, spekulativ)«, in: Geiß, Paul Georg: Fachdidaktik Philosophie. Kompetenzorientiertes Unterrichten und Prüfen in der gymnasialen Oberstufe, Verlag Barbara Budrich, Opladen/Berlin/Toronto 2017, S. 134 – 178. Glitza, Ralf: »Philosophische VUCA-Lesestrategien. Innovative Textarbeit anhand chinesischer Philosophie im Philosophieunterricht der Sekundarstufe I«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 55 – 64. Goergen, Klaus: »Inhaltsaffine Texterschließung. Starke und schwache Freiheitsbegriffe«, in: Praxis Philosophie & Ethik 2, 2016, Heft 5: Methoden der Texterschließung, S. 57 – 65. Goldbeck, Steffen: »Philosophisch puzzeln. Ganzschriften mit Hilfe der Textpuzzlemethode kooperativ erschließen. John Lockes Second Treatise of Government als Ganzschrift im gymnasialen Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 39, 2017, Heft 3: John Locke, S. 38 – 48. Haase, Volker; Schmidt, Donat: »Rezeptionsorientierte Textarbeit«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 206 – 213. Henke, Roland, Schulze, Matthias: »Alternative Formen der Textarbeit«, in: Fachverband Philosophie – Mitteilungen 2007, Heft 47. Heydenreich, Konrad: »Meditation, Selbstartikulation und Reflexion in lebendiger Textarbeit«, in: Ethik & Unterricht 4,1993, Heft 2: Mensch und Staat, S. 39 – 43. Hiß, Torsten: »Textlektüre und Textproduktion – Zum Um- und Weiterschreiben am Beispiel einer Fabel«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 23, 2001, Heft 4: Hermeneutik, S. 279 – 285. Höffle, Andreas: »Textkompetenz. Diagnostizieren und fördern«, in: Ethik & Unterricht 27, 2016, Heft 1: Diagnose und Differenzierung, S. 15 – 19. Kertscher, Jens: »Strategien zur Lektüre von philosophischen Texten«, in: Richter, Philipp (Hrsg.): Professionell Ethik und Philosophie unterrichten. Ein Arbeitsbuch, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2016, S. 37 – 40. Kuchen Winfried: »Textfiguren. Dramatisierende und modellierende Verfahren der Interpretation philosophischer Texte«, in: Fachverband Philosophie – Mitteilungen 2005, Heft 45, S. 24 – 39. Langebeck, Klaus: »Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 3 – 11.

Auswahlbibliographie

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Langebeck, Klaus; Ritz; Eberhard; Schneider, Friedhelm: »Platons ›Apologie des Sokrates‹. Handreichung zu einer Unterrichtseinheit«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 15, 1993, Heft 3: Sokrates, S. 183 – 190. Macho, Thomas H.; Moser, Manfred: »Kann die Psychoanalyse zum Verständnis philosophischer Texte beitragen? Überlegungen im Anschluss an Gernot und Hartmut Böhmes Untersuchung des ›Anderen der Vernunft‹«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 11 – 16. Marschall-Bradl, Beate: »Argumente erschließen. Gottesbeweise proportional und epistemisch analysiert«, in: Praxis Philosophie & Ethik 5, 2016, Heft 3: Argumentation und Logik, S. 46 – 55. Marschall-Bradl, Beate: »Hermeneutische, strukturanalytische und dialektische Texterschließung. Kant und die Wertschätzung des guten Willens«, in: Praxis Philosophie & Ethik 2, 2016, Heft 5: Methoden der Texterschließung, S. 50 – 56. Maurer, Christian: »Szenische Umsetzung als Beispiel für eine Methode der intensiven Texterarbeitung«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 27, 2005, Heft 3: Hobbes, S. 225 – 229. Nordhofen, Susanne: »Mit Fabeln weiterdenken. Philosophie Potenziale einer kleinen Form«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 26, 2004, Heft 2: Literarisches Philosophieren, S. 144 – 150. Panknin-Schappert, Heike: »Was ist Glück? Klassische Texte der Philosophie auf ›unklassische‹ Weise erschließen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 28, 2006, Heft 4: Glück, S. 307 – 317. Pfeifer: »Arbeit am Logos. Textrezeption und Textproduktion«, in: Pfeifer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 32013 (überarbeitete und erweiterte Auflage), S. 150 – 178. Pfister, Jonas: »Lesen«, in: Pfister, Jonas: Fachdidaktik Philosophie, UTB 3324, Haupt Verlag, Bern/Stuttgart/ Wien 2001, S. 51 – 56. Pfister, Jonas: »Lesen«, in: Pfister, Jonas: Werkzeuge des Philosophierens, RUB 19138, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2013, S. 198 – 226. Phan, Alexandra; Gelhard, Andreas: »Methoden der Texterschließung im Unterricht«, in: Richter, Philipp (Hrsg.): Professionell Ethik und Philosophie unterrichten. Ein Arbeitsbuch, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2016, S. 41 – 49. Plate, Michael: »Wieso, weshalb, warum? – die Why-Because-Analyse«, in: Praxis Philosophie & Ethik 2, 2016, Heft 5: Methoden der Texterschließung, S. 43 – 49. Rehfus, Wulff D.: »Arbeit am Text. Descartes’ ›Meditationen‹ als Paradigmatische Ganzschrift in einem Einführungskurs«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 17 – 25. Reis, Burkhard: »Warum Denker Texte und Texte Hilfe brauchen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 28, 2006, Heft 1: Platon, S. 24 – 39. Ridder, Lothar: »Methoden der Interpretation im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes: Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2001, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 116 – 143. Ridder, Lothar: »Textarbeit im Philosophieunterricht aus hermeneutisch-intentionalistischer Sicht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 124 – 132. Rodi, Frithjof: »Übungen im gedanklichen Umsetzen von Texten«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2: Methodenfragen, S. 25 – 41. Rohbeck, Johannes: »Begriff, Beispiel, Modell. Zur Arbeit mit philosophischen Texten anhand des ›Leviathan‹ von Thomas Hobbes«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 26 – 42. Rohbeck, Johannes: »Zehn Arten, einen Text zu lesen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 23, 2001, Heft 4: Hermeneutik, S. 286 – 292. Rösch, Anita: »Jeder Bissen ein Fall für das Gewissen?! Texte verstehen«, in: Ethik & Unterricht 26, 2015, Heft 1: Aufgaben stellen – Leistung messen, S. 28 – 33.

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Auswahlbibliographie

Rösch, Anita: »Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht«, in: Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.): Pro Lesen. Auf dem Weg zur Leseschule. Leseförderung in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, Klasse 5 – Klasse 10, Auer Verlag, Donauwörth 2010, S. 241 – 267. Rösch, Anita: Textarbeit im Ethikunterricht. Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe I, Hessisches Kultusministerium, Amt für Lehrerbildung. Frankfurt 2007. Rösch, Anita; »Texte von Philosophinnen mit Lernaufgaben erschließen«, in: Hagengruber, Ruth; Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Philosophinnen im Philosophieunterricht – ein Handbuch, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2015, Bd. 16, Thelem, Dresden 2015, S. 109 – 123. Runtenberg, Christa: »Die Schatzkiste – Das Deuten von Texten«, in: Runtenberg, Christa: Philosophiedidaktik. Lehren und Lernen, Basiswissen Philosophie, UTB 4653, Wilhelm Fink, Paderborn 2016, S. 77 – 93. Saum, Tobias: »Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht. Strategien und Methoden zur Unterstützung der Schüler«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 76 – 86. Schmidt, Donat: »Reading literacy mit philosophischen Texten. Zur Konzeption einer empirischen Studie über die Messbarkeit von Refelexions- und Verstehensprozessen im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Turnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2008, Bd. 9, Thelem, Dresden 2009, S. 65 – 81. Schmidt, Donat: »Strukturale Textanalyse im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Denkstile der Philosophie, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2002, Bd. 3, Thelem, Dresden 2002, S. 157– 178. Schneider, Wolfgang: »Systemtheoretische Textanalyse am Beispiel einer Rede des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 27, 2005, Heft 2: Rhetorik, S. 128 – 135 Schröder, Annette: »Über eine phänomenologische Brücke zu hermeneutischen Verstehensvollzügen. Ein Unterrichtsbeispiel zum ›ontologischen Gottesbeweis‹ des Anselm von Canterbury«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 65 – 76. Siekmann, Andreas: »›Die Schrift versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht‹ (Platon). Möglichkeiten des textfreien Unterrichts«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Methoden des Philosophierens, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2000, Bd. 1, Thelem, Dresden 2000, S. 108 – 126. Siekmann, Andreas: »Drehtüren ins Philosophieren. Zum Umgang mit Kürzesttexten«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 28, 2006, Heft 2: Vor-Urteile, S. 135 – 141. Siekmann, Andreas: »Verzögertes Vorlesen – wie vermutest du, dass es weitergeht? Gerechtigkeit und Schuld bei Werner Bergengruen und Josef Reding«, in: Praxis Philosophie & Ethik 2, 2016, Heft 5: Methoden der Texterschließung, S. 9 – 17. Sistermann, Rolf: »Resonanztheorie und Bonbonmodell. Lesestrategien nach dem Bonbonmodell des Philosophieunterrichts aus resonanztheoretischer Sicht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 32 – 42. Soentgen, Jens: »Wie man schwierige Texte liest«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 20, 1998, Heft 3: Literarische Texte, S. 173 – 178. Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung von Elementen neuerer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Turnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2008, Bd. 9, Thelem, Dresden 2009, S. 47 – 63. Stelzer, Hubertus: »›Lesen Sie den Text!‹«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 38, 2016, Heft 1: Jugendliteratur, S. 15 – 19. Stubbe-Da Luz, Helmut: »Finden Sie den folgenden Text philosophisch relevant? Textanalyse ohne spezifische Aufgabenstellung – Metaphilosophie als oberstes Lernziel im Philosophieunterricht?«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 18, 1996, Heft 4: Jahrtausendwende, S. 292 – 298.

Auswahlbibliographie

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van der Leeuw, Karel; Mostert, Pieter: »Der Dschungel und der Kompaß. Textverstehen im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S. 42 – 48. Werner, Sybille; Rosebrock, Cornelia: »Einen literarischen Text durch strategisches Lesen im Philosophieund Ethikunterricht zugänglich machen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 43 – 54. Wilbers, Lea: »Descartes’ Meditationen mit Lesestrategien in der Sek. II erschließen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 87 – 94. Wittschier, Michael: »Methoden der Textarbeit«, in: Brüning, Barbara (Hrsg.): Ethik / Philosophie-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Cornelsen Verlag GmbH, Berlin 22016, S. 166 – 181. Wittschier, Michael: »Methoden der Textarbeit«, in: Pfister, Jonas; Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts, UTB 4514, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 225 – 245. Wittschier, Michael: Textschlüssel Philosophie. 30 Erschließungsmethoden mit Beispielen, Patmos, Bayrischer Schulbuchverlag, München 2010.