Refresher Course Aktuelles Wissen für Anästhesisten / Nr. 41. 7. - 9. Mai 2015, Düsseldorf 9783932653452, 3932653459

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Refresher Course Aktuelles Wissen für Anästhesisten / Nr. 41. 7. - 9. Mai 2015, Düsseldorf
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Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung

Mai 2015 • Düsseldorf

Refresher Course Aktuelles Wissen für Anästhesisten 41

Aktuelles Wissen für Anästhesisten

Refresher Course Nr. 41 Mai 2015 · Düsseldorf

Refresher Course Aktuelles Wissen für Anästhesisten

Nr. 41 7. - 9. Mai 2015, Düsseldorf

Herausgegeben von der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung

Aktiv Druck & Verlag GmbH

Refresher Course Nr. 41 Mai 2015 • Düsseldorf

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Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (DAAF) Präsident: Prof. Dr. med. Frank Wappler Klinikum der Universität Witten/Herdecke - Köln Klinik für Anästhesiologie und operative lntensivmedizin Abteilung für Kinderanästhesie Kliniken der Stadt Köln gGmbH Ostmerheimer Str. 200 51109 Köln Internet: www.daaf.de

ISSN 1431-1437 ISBN 978-3-932653-45-2 Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach Aktuelles Wissen für Anästhesisten: Refresher Course/ hrsg. von der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung. ISSN 1431-1437 Nr. 41, Mai 2015, Düsseldorf- (2015) ISBN 978-3-932653-45-2 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten . Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. 10 Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach 2015 http://www.aktiv-druck.de Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinn der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.

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Geleitwort Eine Investition in Wissen bringt noch immer die besten Zinsen. Benjamin Franklin (1706 - 1790)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir möchten Sie herzlich zu den Refresher Courses der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (DMF) auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und lntensivmedizin (DGAI), der erstmals in der Landeshauptstadt Düsseldorf stattfindet, willkommen heißen. Die Themen des nunmehr 41. Refresher Courses der DMF werden von namhaften Experten in neun Sitzungen auf dem DAC referiert und mit Ihnen diskutiert. Die Refresher Courses widmen sich dabei dem gesamten Spektrum unseres Fachgebietes und bieten ein praxisorientiertes Update in der klinischen Anästhesie, der Intensiv- und Notfallmedizin sowie der Schmerztherapie und Palliativmedizin. Hierbei sollen jedoch nicht nur bekannte Fakten wiederholt, sondern auch neue Erkenntnisse und Konzepte vermittelt und vertieft werden. In Anlehnung an das Motto des diesjährigen Deutschen Anästhesie Congresses (DAC) sollen hierbei aber auch Werte vermittelt werden, die eine wesentliche Grundlage für unser tägliches ärztliches Handeln darstellen. Mit Weitsicht müssen wir uns auf die Herausforderungen der Zukunft einstellen, die eine optimale Patientenversorgung auch unter erschwerten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gewährleisten muss. Und letztlich ist es von großer Bedeutung die Wissenschaft zu stärken, um die Erkenntnisse zu gewinnen, die zu einer verbesserten Behandlungsqualität und Patientensicherheit führen.

Neben den Vorträgen auf dem DAC haben wir die Beiträge der Refresher Courses in dem vorliegenden Buchband in neuer Struktur zusammengefasst. Hiermit möchten wir allen interessierten Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit geben die einzelnen Themen nochmals in Ruhe nachzulesen und deren Inhalte zu vertiefen. In Ergänzung zu den etablierten Veranstaltungen und Repetitorien der DMF, stellt der Refresher Course auf dem DAC ein wichtiges Instrumente der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Sinne der Continuing Medical Education (CME) dar (s. a. www.DAAF.de). Unser besonderer Dank gilt den Referent(inn)en und Autor(inn) en, die sich neben ihren vielfältigen klinischen Verpflichtungen die Mühe gemacht haben, einen aktuellen Überblick über die Entwicklungen unseres Fachgebietes herauszuarbeiten und somit maßgeblich zur Wissensvermittlung beitragen. Wir wünschen den Leser(inne)n viel Freude mit dem diesjährigen Refresher Course Band und hoffen, dass die ausgewählten Themen ihr Wissen mit hilfreichen Informationen bereichert und diese Investition in Wissen einen hohen Zinsertrag liefert.

Prof. Dr. med. Frank Wappler - Präsident der DMF-

Prof. Dr. med. Udo X. Kaisers - Vizepräsident der DMF -

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1nhaltsverzeichnis Anästhesie 1 Präoperative Evaluation in der Kinderanästhesie

M. Laschat · F. Wappler ............................................... 1 Komplikationen in der Kinderanästhesie

M . Jöhr .................................................................... 9

Anästhesie II Präoperative Evaluation des kardiopulmonalen Risikopatienten

F. Wappler ....................................... ... .................... 17 „Narkosetiefe" - Grenzen und Möglichkeiten G. Schneider ........................................................... 31

Anästhesie III Antikoagulantien und Regionalanästhesie -wie verfahren? K. Waurick .................................................. ............ 37

Neuroaxiale Blockaden und Hämodynamik H. Baumann · J. Biscoping ........................................... 51

Anästhesie IV Anästhesie bei der schwangeren Patientin H. Bürkle ................................................................ 63

Anästhesie bei transplantierten Patienten T. Bluth ............ .......... ............ ........ ........................ 69

lntensivmedizin 1 lntensivmedizinische Erstversorgung des Kindes S. Brenner ............................................................... 75

Early Goal Directed Therapy - eine Neubewertung G. Huschak · T. Busch · U. X. Kaisers ............................. 83

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lntensivmedizin II Differenzierte Beatmung und kinetische Therapie bei ARDS Möglichkeiten und Grenzen A. Güldner · P. M. Spieth · M. Gama de Abreu ................. 91

Qualitätsindikatoren in der lntensivmedizin L. Martin · G. Marx ................................................... 99

lntensivmedizin III Die Patientenverfügung: der Arzt in der Entscheidung Th. Prien ............................................................... 107

Ethische Aspekte der Notfall- und lntensivmedizin H. A. Adams .......................................................... 117

Notfallmedizin 1 Alte und neue Drogen - Versorgung akuter Notfälle H. Desel ............................................................... 125

Update Schockraum-Management M. Roessler ............................................................ 133

Schmerztherapie 1 Schmerzintensität und -therapie nach verschiedenen operativen Eingriffen W. Meißner ........................................................... 143

Abgestufte Schmerztherapie bei Nichttumorschmerzen: mehr als Opioide A. Kopf ................................................................. 151

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Verzeichnis der Erstautoren

Adams H. A., Prof. Dr. med. Leiter der Stabsstelle für Interdisziplinäre Notfall- und Katastrophenmedizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover Baumann H., Dr. med., D.E.S.A. Klinik für Anaesthesie und Operative lntensivmedizin St. Vincentius-Kliniken gAG Steinhäuserstr. 18, 76135 Karlsruhe Bluth Th., Dr. med. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und lntensivtherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Anstalt des öffentlichen Rechts des Freistaates Sachsen Fetscherstr. 74, 01307 Dresden Brenner S., PD Dr. med. Fachbereich Neonatologie und pädiatrische lntensivmedizin Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus der TU Dresden Fetscherstr. 74, Haus 21, 01307 Dresden Bürkle H., Univ.-Prof. Dr. med. Geschäftsführender & Ärztlicher Direktor Klinik für Anästhesiologie und lntensivmedizin Universitätsklinikum Freiburg Hugstetter Str. 55, 79106 Freiburg Desel H., Dr. rer. nat. Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität Giftinformationszentrum-Nord der Länder Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein (GIZ-Nord Poisons Center) Rechtsmedizinisches Labor für forensisch-toxikologische Analytik und klinisch-toxikologisches Labor Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen Güldner A., Klinik für Anästhesiologie und lntensivtherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der TU Dresden Fetscherstr. 74, 01307 Dresden Huschak G., Dr. med. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und lntensivtherapie Universitätsklinikum Leipzig Liebigstr. 20, 04103 Leipzig

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Jöhr M., Dr. Klinik für Anästhesie, lntensivmedizin, Rettungsmedizin und Schmerztherapie Luzerner Kantonsspital 6000 Luzern 16 (Schweiz)

Kopf A., Dr. med. Klinik für Anästhesiologie m. S. operative lntensivmedizin Charite-Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin

Laschat M., Dr.

Schneider G., Prof. Dr. Klinik für Anästhesiologie HELIOS Klinikum Wuppertal Universität Witten/Herdecke Heusnerstr. 40, 42283 Wuppertal

Wappler F., Prof. Dr. med.

Abteilung für Kinderanästhesie Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße Amsterdamer Str. 59, 50735 Köln

Klinik für Anästhesiologie und operative lntensivmedizin Klinikum der Universität Witten/Herdecke - Köln Krankenhaus Köln-Merheim Ostmerheimer Str. 200, 51109 Köln

Marx G., Univ.- Prof. Dr. med., FRCA

Waurick K., Dr.

Klinik für Operative lntensivmedizin und lntermediate Care Uniklinikum RWTH Aachen Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen

Klinik für Anästhesiologie, operative lntensivmedizin und Schmerztherapie Universitätsklinikum Münster Albert-Schweitzer-Campus 1, Gebäude A 1, 48149 Münster

Meißner W., Apl. Prof. Dr. Klinik für Anästhesiologie und lntensivmedizin Universitätsklinikum Jena Erlanger Allee 101, 07740 Jena

Prien Th., Prof. Dr. Klinik für Anästhesiologie, operative lntensivmedizin und Schmerztherapie Universitätsklinikums Münster an der Westfälischen Wilhelms-Universität Albert-Schweitzer-Campus 1 Gebäude A1, Raum 03 .513, 48129 Münster

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Roessler M., Priv.-Doz. Dr. med., DEAA, EDIC Klinik für Anästhesiologie Universitätsmedizin Göttingen Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen

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Präoperative Evaluation in der Kinderanästhesie Preoperative Evaluation in Pediatric Anesthesia M. Laschat · F. Wappler

Zusammenfassung Ziel der präoperativen Evaluation in der Kinderanästhesie ist es, individuelle anästhesierelavante Risikofaktoren aufzudecken und auf der Basis dieser Informationen Strategien zur Vermeidung perioperativer Komplikationen zu entwickeln. Anamnese und körperliche Untersuchung haben dabei einen hohen Stellenwert, da mit diesen einfachen Maßnahmen die Mehrzahl der Risikofaktoren ermittelt werden können. Voraussetzung ist selbstverständlich die Kenntnis der speziellen Risikofaktoren in der Kinderanästhesie und der damit assoziierten Komplikationen. In dieser Übersichtsarbeit sollen die wichtigsten anästhesierelevanten Risikofaktoren im Kindesalter dargestellt und sich daraus ergebende notwendige Maßnahmen zur Vermeidung von Komplikationen aufgezeigt werden.

Schlüsselwörter: Kinderanästhesie - Risikofaktoren - perioperative Komplikationen - präoperative Evaluation

Summary The aim of preoperative evaluation in pediatric anaesthesia is to disclose any relevant individual risk factors and - based on this information - to form a strategy to avoid possible perioperative complications. lt is very important to perform a physical examination and to evaluate the patients' medical history as these simple procedures can identify a majority of possible risk factors. Naturally the knowledge of special risk factors in pediatric anaesthesia and their associated complications is required. This review aims to illustrate the most important risk factors in pediatric anaesthesia and to show the resulting necessary steps to avoid complications.

Keywords: Pediatric anesthesia - perioperative risks - preoperative assessment - complications

Einleitung Die Komplikationsrate ist in der Kinderanästhesie in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken. Das Risiko einer schweren anästhesiebedingten Komplikation ist bei Kindern aber nach wie vor deutlich höher als bei Erwachsenen [1]. Dies gilt besonders für Säuglinge und Neugeborene. Die Mehrzahl der kritischen Ereignisse sind respiratorischer Art [2]. Betroffen sind vor allem gesunde Kinder oder Kinder mit leichteren Allgemeinerkrankungen. Im Gegensatz dazu hat die Mehrzahl der perioperativen anästhesiebedingten Herzstillstände kardiovaskuläre Ursachen. Betroffen sind vor allem Kinder mit

Präoperative Evaluation in der Kinderanästhesie· M. Laschat · F. Wappler

schweren Begleiterkrankungen. Ziel vieler wissenschaftlicher Untersuchungen der letzten Jahre war es, Risikofaktoren für das Auftreten spezifischer Komplikationen im Kindesalter auszumachen. Neben vielen anderen Faktoren wie dem Patientenalter, der Art des Eingriffs und der Erfahrung des Anästhesisten sind dies Begleiterkrankungen sowie anatomische und physiologische Besonderheiten dieser Patientengruppe. Die präoperative Evaluation in der Kinderanästhesie dient dazu, allgemeine und spezielle vor allem im Kindesalter auftretende anästhesierelevante Risikofaktoren zu erkennen. Auf der Basis dieser Informationen können individuell geeignete Anästhesieverfahren geplant und im Voraus Strategien zur Vermeidung von spezifischen Komplikationen entwickelt werden. Unnötige, Patienten und Angehörige belastende sowie finanzielle und personelle Ressourcen beanspruchende Untersuchungen sind zu vermeiden. Laboruntersuchungen, Röntgenaufnahmen derThoraxorgane und andere in der Vergangenheit oft willkürlich vor einer Anästhesie geforderte Untersuchungen sind bei Kindern nur in seltenen Ausnahmen notwendig [3].

Die Prämedikationsvisite Im Rahmen der Prämedikationsvisite werden alle Informationen zusammengetragen und bewertet, die für die sichere Durchführung einer Anästhesie von Belang sind. Dies kann nur ein Anästhesist gewährleisten. Ein fachfremder Arzt kann eine „Narkosefähigkeit" nicht beurteilen, da er spezielle Risiken und Komplikationen der Anästhesie nicht kennt. Die Prämedikationsvisite gibt dem Anästhesisten außerdem die einmalige Gelegenheit, ein Vertrauensverhältnis zu Kind und Eltern aufzubauen, sich einen ersten Eindruck über das Eltern-KindVerhältnis zu verschaffen und zu erkennen, ob Eltern und/oder Kind ungewöhnlich ängstlich sind. Unabhängig davon sind vor jeder geplanten Anästhesie folgende Fragen zu klären: • Wie ist der Allgemeinzustand des Kindes? • Kann er verbessert werden und wenn ja, mit welchen Maßnahmen? • Bestehen aufgrund von Vorerkrankungen spezielle anästhesiologische Risiken? • Sind alle erforderlichen Befunde vorhanden bzw. müssen weitere Befunde, z.B. Laboruntersuchungen, Röntgenaufnahmen oder eine Echokardiographie angefordert werden? • Sind Blutprodukte anzufordern? • Ist eine medikamentöse Prämedikation erforderlich? Wenn ja, welche?

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Welches Anästhesieverfahren eignet sich am besten? Ist spezielles Monitoring erforderlich? Ist postoperativ eine Beatmung bzw. spezielle Überwachung (lntermediate Care, Intensivstation) nötig? Welches schmerztherapeutische Verfahren eignet sich am besten?

Die sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung durch einen Anästhesisten sind essentielle und unverzichtbare Bestandteile jeder Prämedikationsvisite. In den meisten Fällen erhält man mit diesen beiden wenig aufwändigen Maßnahmen alle relevanten Informationen zur sicheren Durchführung der Anästhesie.

Anamnese Die Anamnese beinhaltet Fragen zum aktuellen Gesundheitszustand und Besonderheiten in der Vorgeschichte des Kindes. In den allermeisten Fällen werden die Eltern oder eine andere betreuende Person die Angaben dazu machen. Hilfreich sind die in den Kinder-Untersuchungsheften dokumentierten Ergebnisse der Früherkennungsuntersuchungen. Ergeben sich anamnestisch Anhaltspunkte für eine Erkrankung des Kindes, die die Eltern nicht hinreichend erläutern können, sollte immer auch der betreuende niedergelassen Kinderarzt kontaktiert werden. Sind die Kinder alt genug, können und sollten sie kindgerecht befragt werden. Ein strukturiertes standardisiertes Vorgehen mithilfe von Fragebögen in elektronischer oder Papierform, die in vielen Sprachen erhältlich sind, hat sich bewährt. Diese enthalten Fragen zum aktuellen Gewicht und zur Größe des Kindes, zur Reife und Gewicht bei Geburt, zu Infekten der oberen Luftwege, Impfungen, aktueller Medikation, Voroperationen, Krankenhausaufenthalten, Auffälligkeiten bei Vornarkosen, Allergien und Störungen einzelner Organsysteme. Idealerweise füllen die Eltern die Bögen vor dem Prämedikationsgespräch aus. So bekommt man mit relativ geringem Zeitaufwand viele relevante Informationen. Die Bögen dienen jedoch nur als Leitfaden und ersetzen in keinem Fall das persönliche Gespräch. Leider fehlen auf vielen dieser Bögen Fragen zur Familienanamnese bzgl. Atopien und Asthma. In der Kinderanästhesie Amsterdamer Straße erhalten die Eltern zusätzlichen einen Bogen mit Fragen zum Gerinnungsstatus und es wird mit dem „Postoperative Vomiting in Children-Score" [4) das individuelle Risiko für Erbrechen nach Narkose bestimmt. .

Körperliche Untersuchung Die orientierende körperliche Untersuchung inklusive Auskultation von Lunge und Herz ist auch bei scheinbar gesunden Kindern unverzichtbar. Rutherford et al. [5] fanden bei der präoperativen körperlichen Untersuchung bei 10 von 216 anamnestisch unauffälligen, gesunden Kindern einen in Voruntersuchungen nicht beschriebenen Befund, meist eine auffälliges Herzgeräusch. Bei 5 dieser Kinder wurden in der Folge bis dahin nicht bekannte Diagnosen gestellt, die eine Änderung des anästhesiologischen Verfahrens erforderten.

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Insbesondere ist bei der Untersuchung auf Hinweise für einen schwierigen Atemweg - etwa kraniofaziale Fehlbildungen oder eine eingeschränkte Mundöffnung - zu achten. Die Racheninspektion, Überprüfung von Zahnstatus, Beweglichkeit der Halswirbelsäule und Atemgeräusch können ebenfalls Hinweise auf zu erwartende respiratorische Komplikationen liefern. Bei der Auskultation der Lunge wird man vor allem auf Zeichen einer Infektion oder Obstruktion achten. Die Auskultation des Herzen dient dem Aufspüren von pathologischen Herzgeräuschen.

Laboruntersuchungen Bei Kindern, die eine unauffällige Anamnese und Familienanamnese haben und deren körperliche Untersuchung ohne pathologischen Befund ist, kann auf die präoperative Bestimmung von Laborwerten verzichtet werden [6] Die Blutabnahme ist häufig schwierig und belastend für die Kinder und deren Familien. In den seltensten Fällen werden pathologische Werte gefunden und diese haben fast nie Änderungen des geplanten Anästhesieverfahrens zur Folge [6).

Hämoglobinkonzentration Bei präoperativen Routineuntersuchungen der Hämoglobinkonzentration fand sich bei 0,5% - 12% der Kinder einer milde Anämie (Hb 9 - 10 mgtdl), vorausgesetzt die Kind zeigten in der Anamnese und körperlichen Untersuchung keine Auffälligkeiten [3,7). In vielen Studien war jedoch die Komplikationsrate bei Kindern mit einer milden Anämie nicht erhöht [7,8]. Daher ist die präoperative Bestimmung der Hämoglobinkonzentration nur bei Kindern mit speziellen Begleiterkrankungen z.B. homozygoter Sichelzellanämie oderlhalassämia major, bei ehemals Frühgeborenen und vor Eingriffen mit einem zu erwartenden größeren Blutverlust indiziert [9].

Gerinnungsstatus In zahlreichen Studien [10, 11] konnte nachgewiesen werden, dass mit einer sorgfältigen Gerinnungsnamnese das Blutungsrisiko nach Tonsillektomie besser beurteilt werden kann als mit Routine-Laboruntersuchungen. Diese sind nur dann indiziert, wenn in der Anamnese Auffälligkeiten gefunden werden bzw. wenn bei Eingriffen mit einem erhöhten Blutungsrisiko diese nicht erhoben werden kann. Dann sollte neben Bestimmung von Quick, PTT und Thrombozytenzahl vor einer Adenotomie bzw. Tonsillektomie auch ein Von-Willebrand-Syndrom ausgeschlossen werden. Hierzu gibt es eine gleichlautende Erklärung mehrerer Fachgesellschaften [12].

Weitere Labordiagnostik Die Notwendigkeit weiterer Labordiagnostik muss individuell beurteilt werden und richtet sich nach der Größe des durchzuführenden Eingriffs, zu erwartenden Komplikationen, Vorerkrankungen des Kindes und möglichen Nebenwirkungen (z.B. Elektrolytverschiebungen) einer bestehenden Medikation [6, 13].

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EKG/Echokardiographie/Kinderkardiologisches Konsil Ergibt sich aus der Vorgeschichte und der körperlichen Untersuchung des Kindes der Verdacht auf eine bisher nicht diagnostizierte Herzerkrankung sollte vor elektiven Eingriffen eine Echokadiographie bzw. ein kinderkardiologisches Konsil angefordert werden, auch wenn es sich bei neu aufgetretenen Herzgeräuschen in der Mehrzahl um funktionell unbedeutende, sogenannte akzidentelle Herzgeräusche, handeln dürfte. Die meisten Kinder mit angeborenen Herzfehler oder anderen Herzerkrankungen werden in Deutschland jedoch früh erkannt und befinden sich in kinderkardiologischer Betreuung. liegen keine aktuellen Befunde vor, sollten diese angefordert bzw. die Untersuchungen wiederholt werden. Bei Kindern mit neuromuskulären Erkrankungen sowie Kindern, die eine Chemotherapie erhalten oder bi~ vor kurzem erhalten haben, sollten zum Ausschluss einer Kardiomyopathie ebenfalls eine Echokardiographie und ein EKG durchgeführt werden [13, 14).

Bildgebende Diagnostik/Röntgenuntersuchungen Kinder sind besonders strahlenempfindlich und haben ein höheres Strahlenrisiko als Erwachsene. Spätfolgen sind aufgrund der voraussichtlichen Lebenserwartung wahrscheinlicher (1 S] . Daher ist die Indikation für eine Röntgen-Diagnostik besonders streng zu stellen. Röntgenaufnahmen sind nur in seltenen Ausnahmen vor elektiven Eingriffen erforderlich [3]. Beispiele sind geplante Thoraxeingriffe sowie Auffälligkeiten in der Anamnese und körperlichen Untersuchung. Auch bei asymptomatischen Kindern mit Lymphomen im Thorax besteht die Gefahr des Mediastinal-Mass-Syndroms (13, 16). Daher sollte in diesen speziellen Fällen präoperativ eine Röntgenaufnahme der Thoraxorgane, ggf. auch eine MRT/CT angefordert werden (13].

Spezielle Risiken in der Kinderanästhesie

ten und der Einsatz einer Maske anstatt eines endotrachealen Tubus (18].

Das Frühgeborene Die dramatischen Fortschritte in der Neonatologie ermöglichen heute ein überleben selbst extremer Frühgeborener ab der 22. Schwangerschaftswoche mit einem Gewicht von wenigen hundert Gramm. Die Anästhesie dieser extrem Frühgeborenen ist auch für erfahrene Kinderanästhesisten eine Herausforderung, da neben technischen Schwierigkeiten bei der Anlage von venösen Zugängen, Intubation, Beatmung und Monitoring mit sinkendem Gestationsalter auch das Risiko für perioperative Komplikationen erheblich ansteigt (20]. Folglich werden operative Eingriffe meist aus Notfallindikationen durchgeführt. Typische Beispiele sind unter anderem Nekrotisierende Enterokolitis, Darmperforationen, Mekoniumpropfsyndrom und Verschluss eines offenen Ductus arteriosus. Viele dieser Kinder sind beatmet und haben begleitend eine Sepsis. Präoperativ müssen zusätzlich zur Routineevaluation immer folgende Fragen geklärt werden: • Hat das Kind zusätzlichen Sauerstoffbedarf? Wenn ja, wie hoch? • Ist eine Atemunterstützung erforderlich? Wenn ja, in welcher Form? Wie ist die Beatmungseinstellung? • Welcher Tubus liegt? Wurde die Tubuslage überprüft? • Ist das Kind kreislaufstabil? Wie viel Volumen wird aktuell gegeben? • Ist das Kind katecholaminpflichtig? Wenn ja, welche und in welcher Dosierung? • Wie hoch ist aktuell der Glukosebedarf? • Welche und wie viele Zugänge hat das Kind? Peripher, zentral, arteriell? • Bestehen zusätzliche kardiale Risiken, z.B. offener Ductus Botalli, pulmonaler Hypertonus? • Hatte das Kind eine Hirnblutung?

Respiratorische Komplikationen Die meisten Zwischenfälle in der Kinderanästhesie werden durch respiratorische Komplikationen ausgelöst.

Bei ehemals Frühgeborenen ist die lnzidenz von Apnoen mit Bradykardien nach einer Allgemeinanästhesie bis zur 60. postkonzeptionellen Woche deutlich erhöht [22] .

Neugeborene und Säuglinge haben einen erheblich höheren Sauerstoffverbrauch als Erwachsene und die funktionelle Residualkapazität sinkt in Narkose stärker als bei Erwachsenen (17]. Folge ist eine deutlich geringereApnoetoleranz [18]. Bei Atemwegsproblemen werden Kinder sehr viel schneller hypoxisch als Erwachsenen. Typische Komplikationen sind Layngospasmus, Bronchospasmus, Hypoxie und lntubationsschwierigkeiten. Risikofaktoren sind unter anderem obere Atemwegsinfekte bis 2 Wochen nach Verschwinden der Symptome, Passivrauchen und Asthma oder eine positive Familienanamnese mit Asthma oder Atopien (19]. Eine intravenöse Anästhesie senkt dagegen im Vergleich zur Einleitung und Unterhaltung der Narkose mit Volatila das Risiko respiratorischer Komplikationen ebenso wie die Narkoseführung durch einen erfahrenen Kinderanästhesis-

Anämie und Apnoen in der Vorgeschichte erhöhen das Risiko perioperativer Apnoen zusätzlich (21 ). Die Dringlichkeit der Operation muss daher immer besonders sorgfältig abgewogen werden. Ein alleiniges Regionalanästhesieverfahren ohne Sedierung kann eine Alternative zur Allgemeinanästhesie darstellen (22]. Die Gabe von Coffeincitrat 10 mg/kg oral vor der Anästhesie senkt die Apnoehäufigkeit [23]. Die Überwachung von Herz- und Atemfrequenz und peripherer Sauerstoffsättigung über 24 h ist obligat und sollte im Bedarfsfall solange fortgesetzt werden, bis über einen Zeitraum von 12 Stunden keine Apnoen aufgetreten sind (1 ]. Ein weiterer Risikofaktor ist die Bronchopulmonale Dyplasie (BPD), eine chronische Lungenerkrankung, die vor allem bei ehemals extrem frühgeborenen Kindern auftritt, die über einen längeren Zeitraum beatmet

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werden mussten [24]. Kennzeichnend für die BPD sind unter anderem ein hyperreagibles Bronchialsystem und die Neigung zu pulmonalen Infekten, in schweren Fällen kann eine Rechtsherzbelastung vorliegen. Häufig haben die Kinder eine Medikation mit Diuretika, Steroiden und Bronchodilatatoren. Das Risiko für perioperative respiratorische Komplikationen ist ähnlich wie bei Kindern mit Asthma während des ersten Lebensjahres deutlich erhöht [25]. Präoperativ sollten ein aktuelles Thorax-Röntgenbild, ein EKG und eine Ultraschalluntersuchung des Herzen, ein kleines Blutbild, Blutgasanalyse (BGA) und Elektrolyte vorliegen [26].

Atemwegsinfekt Bei Kindern mit akutem Atemwegsinfekt ist das Risiko für perioperative respiratorische Komplikationen wie Bronchospasmus, Laryngospasmus und Abfall der Sauerstoffsättigung erhöht. Möglicherweise reagiert bei diesen Kindern der Atemweg infolge der Entzündung ähnlich wie bei Kindern mit Asthma überschießend. Ist das Kind 2 Wochen symptomfrei, entspricht das Risiko wieder dem vor dem Infekt [19]. Im Vorschulalter gelten bis zu 12 Atemwegsinfekte pro Jahr als normal (27]. So kann es in den Wintermonaten vor allem bei Kindern, bei denen HNO-Eingriffe durchgeführt werden sollen und die schon aufgrund des Eingriffs ein erhöhtes Risiko für perioperative respiratorische Komplikationen haben, sehr schwierig sein, ein Zeitfenster zu finden, in dem das Kind infektfrei ist bzw. sich nicht gerade von einem Infekt erholt. Die Stornierung eines geplanten elektiven Eingriffs ist für Eltern und Kinder psychisch und auch ökonomisch belastend. Für die Klinik bedeutet es einen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand. Es ist daher gelegentlich unvermeidlich, Kinder mit einem Infekt der oberen Atemwege zu anästhesieren. Viele Autoren halten eine kompetent durchgeführte Anästhesie bei Kindern mit banalem Infekt der oberen Luftwege, die kein Fieber >38.5°C haben, deren Lunge auskultatorisch frei ist und deren Allgemeinbefinden nicht beeinträchtigt ist, für vertretbar [28,

29].

Asthma Asthma ist die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter. Die Prävalenz liegt weltweit zwischen 1% - 30%. In Deutschland ist mittlerweile jedes 6. Kind betroffen [30,31 ]. Kennzeichnend für Asthma sind eine reversible durch physikalische und chemische Reize, Infekte, Anstrengung und andere Ursachen ausgelöste Bronchialobstruktion und ein hyperreagibles Bronchialsystem. Auch wenn das Kind nach einem akuten Anfall symptomfrei ist, persistiert die bronchiale Hyperreagilibität noch über einige Wochen [32]. Diese dürfte einer der Hauptursachen für das erhöhte Risiko perioperativer respiratorischer Komplikationen bei Kindern mit Asthma sein. Durch mechanische Stimuli wie Laryngoskopie, Intubation und Absaugen während zu flacher Anästhesie kann ein lebensbedrohlicher

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Bronchospasmus ausgelöst werden. Das Risiko ist bei Kindern mit aktuell zunehmender Symptomatik, bei Kindern, bei denen die Medikation aktuell erhöht werden musste und die wegen ihres Asthmas kürzlich stationär behandelt werden mussten, nochmals erhöht [25]. Anamnestisch muss die Anfallshäufigkeit und -schwere, der Zeitpunkt des letzten Anfalls, mögliche Trigger, körperliche Belastbarkeit und die aktuelle Medikation sowie - falls vorhanden - Peak Flow-Werte im Verlauf erfragt werden. Bei Kindern mit gut kontrolliertem Asthma sollte die aktuelle Medikation unbedingt bis unmittelbar vor der Narkose fortgeführt werden. Besonders wichtig ist bei der körperlichen Untersuchung die Auskultation der Lunge. Bei schwerem und instabilem Asthma sollte präoperativ eine Blutgasanalyse und gegebenenfalls ein Lungenfunktionsdiagnostik angefordert werden. Präoperatives Ziel ist die Optimierung des Zustands und der Behandlung. Bestehen Zweifel bezüglich der optimalen Einstellung sollte ein pädiatrischer Kollege konsiliarisch hinzugezogen werden.

Schwieriger Atemweg und Obstruktionen der oberen Atemwege Ein schwieriger Atemweg ist nach Definition der American Society of Anesthesiologists (ASA) ,,eine Situation im klinischen Alltag, in der ein durchschnittlich trainierter Anästhesist Schwierigkeiten hat, einen Patienten mit der Maske zu beatmen oder dessen Trachea zu intubieren bzw. weder eine suffiziente Maskenbeatmung noch eine Intubation ohne Schwierigkeiten möglich ist" [33]. Anamnestische Indikatoren für einen schwie· rigen Atemweg sind: • Atemwegsprobleme bei Vornarkosen • Symptome einer Obstruktion der oberen Atemwege, z.B. rezidivierender Stridor bei , Infekten oder Anstrengung, Schnarchen und obstruktive Schlafapnoen (ObstruktivesSchlafapnoe-Syndrom = OSAS) • Erkrankungen, die mit einer bronchialen Hyperreagibilität einhergehen wie Asthma, Atemwegsinfekte • Syndrome mit Fehlbildungen der Atemwege (34]. Bei der körperlichen Untersuchung ist besonders zu achten auf [35]: • Kraniofaziale Dysmorphien (Retrognathie, Lippe~-KieferGaumenspalten) • Ohrfehlbildungen, besonders beidseits • Auffällige Atemgeräusche wie in- und exspiratorischer Stridor, Heiserkeit • Eingeschränkte Mundöffnung • Eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule • Adipositas.

Die anästhesiologische Versorgung von Kindern mit schwierigem Atemweg ist personalintensiv und erfordert ein hohes Maß an Expertise sowie spezielles kindgerechtes Equipement.

Präoperative Evaluation in der Kinderanästhesie • M. Laschat · F. Wappler

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Sind die entsprechenden Ressourcen in einer Klinik nicht vorhanden, ist die Verlegung in ein spezialisiertes Zentrum zu empfehlen. Obstruktive Schlafapnoen treten meist infolge einer Einengung im Bereich des Epi- und Mesopharynx auf. Symptome sind lautes Schnarchen, Entsättigungen, häufiges nächtliches Erwachen (36) und exzessive Tagesschläfrigkeit (37). Ursächlich sind meist vergrößerte Adenoide oder Tonsillen. Perioperativ besonders gefährdet sind Kinder mit polysomnographisch gesichertem schwerem OSAS, 1 3 Jahre

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PONV oder Reisekrankheit in der Anamnese vom Kind oder Verwandten 1. Grades

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Strabismusoperation (Adenotomie, Tonsillektomie) (47)

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Operationsdauer > 30 min

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und ein neuropädiatrisches Konsil durchgeführt werden sowie Creatinkinase und Myoglobin gemessen werden [26] . Einige dieser Erkrankungen sind mit einer Disposition zur Malignen Hyperthermie (MH) assoziiert. Die MH und die im Verlauf sehr ähnliche anästhesieinduzierte Rhabdomyolyse sind potentiell lebensbedrohliche Reaktionen, die unter anderem durch diverse Anästhetika getriggert werden, deren Einsatz bei einer bekannten Disposition für diese Reaktionen kontraindiziert ist. In der Regel wird man bei Kindern mit Muskelerkrankungen eine intravenöse Anästhesie mit Propofol und Opioiden planen, da diese Substanzen keine Trigger der MH sind. Differentialdiagnostisch muss jedoch bei Kindern mit einer Muskelschwäche unbekannter Genese unter anderem an eine Mitochondropathie, eine sehr heterogene Gruppe von Erkrankungen mit Fehlfunktionen oder Schädigung der Mitochondrien, gedacht werden. Theoretisch haben diese Kinder ein erhöhtes Risiko für das Propofol-lnfusions-Syndrom (Azidose, Rhabdomyolyse, Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz, Nierenversagen) [48] . Man wird daher bei diesen Kindern auf Propofol verzichten wollen. Dieses Dilemma hat Brandom in einem 2013 erschienenen Editorial [49] als 11 the floppy infant challenge" bezeichnet. Er empfiehlt bei muskelhypotonen Neugeborenen oder Kleinkindern ohne eindeutige Diagnose folgendes Proce~ere: • Anforderung eines neuropädiatrischen Konsils mit der Frage nach der wahrscheinlichsten Diagnose • Bestimmung von Creatinkinase und Laktat. Ist die Creatinkinase erhöht, ist eine Muskelerkrankung wahrscheinlicher und die Narkose sollte triggerfrei geplant werden. Ist Laktat erhöht, ist eine Mitochondriopathie wahrscheinlicher und Propofol sollte vermieden werden [49] .

Seltene Erkrankungen und Syndrome Eine Erkrankung gilt als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen davon betroffen sind (Definition: Bundesministerium für Gesundheit). Als Syndrom werden bestimmte Symptomkomplexe bezeichnet. Namensgeber sind in vielen Fällen die Erstbeschreiber. Die meisten Syndrome zählen zu den seltenen Erkrankungen. Zurzeit werden ca. 8.000 Erkrankungen als selten eingestuft. Häufig haben diese Patienten anästhesierelevante Risikofaktoren. Bei jedem Kind mit einem Syndrom oder einer seltenen Erkrankung müssen daher vor der Anästhesie entsprechende Informationen eingeholt werden.

Präoperative Evaluation in der Kinderanästhesie • M. Laschat • F. Wappler

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Im Internet gibt es inzwischen Portale, die Informationen zu zahlreichen seltenen Erkrankungen und damit assoziierten Anästhesierisiken bereitstellen (Orphanet; OrphanAnesthesia, www.orphananesthesia.eu).

Schlussfolgerungen Die präoperative Evaluation dient der optimalen Vorbereitung des Kindes vor einer Anästhesie. Ihr Ziel ist es, anästhesierelevante Risiken aufzudecken und auf Basis dieser Informationen Strategien zur Vermeidung von perioperativen Komplikationen zu entwickeln. Sie ist somit ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der Qualität und Sicherheit in der Anästhesie. Anamnese und körperliche Untersuchung sind dabei von besonderer Bedeutung, da sich mit diesen beiden einfachen Mitteln die Mehrzahl der relevanten Risikofaktoren ermitteln lässt. Weiterführende Untersuchungen sind nur selten notwendig. Strategien zur Verminderung von Risiken beinhalten die Optimierung des Zustandes des Kindes, beispielsweise durch Anpassung der Medikation oder Verschieben des Eingriffs bis eine akute Erkrankung ausgeheilt ist. Risikopatienten oder Patienten, bei denen aufgrund der Dringlichkeit des Eingriffs der Zustand nicht verbessert werden kann, sollten von einem erfahrenen Kinderanästhesisten an einem spezialisierten Zentrum betreut werden, da die Häufigkeit von Komplikationen mit zunehmender individueller und institutioneller Erfahrung abnimmt (50].

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Komplikationen in der Kinderanästhesie Complications in paediatric anaesthesia M.Jöhr

Zusammenfassung Das Risiko einer Narkose ist bei kleinen Kindern viel größer als bei Erwachsenen. Das Alter des Kindes und die Erfahrung des Anästhesisten sind die Prädiktoren von Komplikationen. Die mangelnde Erfahrung des Anästhesisten, ungeeignetes Material und der große Zeitdruck begünstigen einen fatalen Verlauf. Die ungenügende Beherrschung des Atemwegs stellt das Hauptrisiko dar. Komplikationen, z.B. Husten, Sättigungsabfall, Laryngospasmus, sind häufiger beim erkälteten Kind. Sie können jedoch vom erfahrenen Anästhesisten meist antizipiert, rechtzeitig erkannt und erfolgreich behandelt werden. Die Prophylaxe der Aspiration erfolgt durch eine sog. modifizierte RSI (rapid sequence induction); die klassische RSI mit Apnoe hat keinen Platz in der Kinderanästhesie. Bei einer kardialen Grunderkrankung ist das perioperative Risiko erhöht, besonders bei Kardiomyopathie oder pulmonaler Hypertonie wird die Schwere des Zustandes leicht unterschätzt. Der Blutdruck ist zwar nur ein Surrogatparameter für die Organperfusion, er soll aber trotzdem von Anfang an gemessen werden und gewisse Werte nicht unterschreiten. Die Hyponatriämie ist eine ständige Gefahr in der pädiatrischen Akutmedizin; perioperativ sollen nur natriumreiche Lösungen (balancierte Vollelektrolytlösungen, z.B. Ringeracetat) infundiert werden. Die Überdosierung von Anästhetika ist eine häufige Ursache eines Kreislaufstillstands. Opioide können postoperativ Übersedierung und Atemdepression bewirken. Die Fokussierung auf die Apoptose und Neurotoxizität lenkt von den echten Problemen ab: der oft mangelnden Erfahrung der Beteiligten und der nicht optimal geführten Anästhesie. Eine optimale Vorbereitung und Checklisten helfen, auch bei Kindern das Risiko zu reduzieren. Erfahrung, Voraussicht und Sorgfalt sind elementar wichtig. Schlüsselwörter: Kinderanästhesie - Komplikationen - Atemweg - Kreislauf - Mortalität.

Summary The anaesthetic risk is much more important in small children compared to adult surgical patients. The age of the patient and the experience of the anaesthesiologist are the main predictors of complications. Absent experience of the anaesthesiologist combined with suboptimal equipment and pressure of time enhance a fatal course.

Komplikationen in der Kinderanästhesie· M. Jöhr

lnsufficient airway skills are the predominant risk factor. Complications, such as coughing, desaturation and laryngospasm, are more common in children with upper respiratory infection; however, the experienced practitioner will be able to anticipate, to recognize and to treat successfully most of these complications. A modified rapid sequence induction is used to prevent the occurrence of pulmonary aspiration. The classic rapid sequence induction including apnoea is of no use in paediatric anaesthesia. Cardiac co-morbidity increases the risk of perioperative complications; especially in case of cardiomyopathy or pulmonary hypertension the relevance of the disease is often underestimated. Although blood pressure is only a surrogate for adequate organ perfusion, blood pressure should be measured right from the beginning of the case and be maintained within safe limits. Hyponatraemia is a continuous threat in paediatric acute care. In the perioperative field only sodium rich solutions should be used (balanced crystalloid solutions, e.g. Ringer acetate). Anaesthetic overdose is a common cause of cardiac arrest. Opioids can cause postoperative oversedation and respiratory depression. Having the focus exclusively on apoptosis and neurotoxicity detracts from real existing problems, such as the often missing experience of the responsible anaesthesiologist and the suboptimal management of the case. Optimal preparation and using check lists are helpful to reduce the risk in children too. Experience, foresight and carefulness are of paramount importance. Keywords: Paediatric anaesthesia - complications - airway circulation - mortality.

1. Einleitung Die Versorgung kleiner Kinder ist für viele Anästhesisten oft mit erheblicher Anspannung verbunden: die einfachen handwerklichen Grundlagen unseres Faches wie die endotracheale Intubation oder das Legen eines Venenzugangs scheinen plötzlich schwierig oder gelingen nicht [1,2]. Darüber hinaus fehlt oft auch die Vertrautheit und Erfahrung mit Kindern, um den Zustand des kleinen Patienten richtig einzuschätzen und auch für erfahrene Kinderanästhesisten bestehen Unsicherheiten darüber, welches sichere und damit akzeptable Messwerte für die betreffende Patientengruppe sind [3]. All das trägt neben den physiologischen Besonderheiten dazu bei, dass Komplikationen bei kleinen Kindern viel häufiger sind. Es wird vermutet,

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dass anästhesiebedingte Todesfälle bei Kindern rund 1Ox häufiger sein könnten als bei Erwachsenen [4]; eine erschreckende Tatsache, da es sich oft um völlig gesunde Kinder mit noch weitem Lebenshorizont handelt.

Kinderanästhesie in der Hand des Unerfahrenen ist gefährlich - Komplikationen sind häufiger als bei Erwachsenen Es gibt bei Kindern viele kleinere Eingriffe mit geringem chirurgischen Aufwand, z.B. Wundversorgung, Fremdkörperentfernung oder Tränenwegssondierung, die aber trotzdem eine Allgemeinanästhesie erfordern. Diese Anästhesien sind nur kurz, aber dennoch nicht risikofrei, und sie müssen mit der nötigen Sorgfalt erfolgen.

Es gibt zwar den „kleinen Eingriff'', nicht aber die „kleine Narkose"

2. Ausmaß des Risikos

2.1 Alter des Kindes Das Komplikationsrisiko ist beim kleinen Kind deutlich höher als bei größeren Kindern oder Erwachsenen: das Alter des Kindes (5-7] und die Erfahrung des Anästhesisten [8-1 O] sind die wichtigsten Prädiktoren von Komplikationen. Aus einem rein pädiatrischen Zentrum wird über einen anästhesiebedingten Todesfall auf 10'188 Narkosen berichtet (11 ], allerdings waren hier die betroffenen Kinder meist schwer krank und die Hälfte hatte eine pulmonale Hypertonie.

Je kleiner das Kind ist, desto höher das Risiko

2.2 Erfahrung des Anästhesisten Der häufigste Fehler ist zweifellos, ,,dass der zuständige Anästhesist es nicht kann"; d.h. dass er die Verantwortung für einen Fall übernimmt, für den er letztlich zu wenig Erfahrung und ungenügende Fertigkeiten aufweist. Es ist realitätsfremd zu glauben, dass jede Anästhesiefachperson auch einen Säugling gut anästhesieren kann. Ein ständiges Training mit genügender Fallzahl ist nötig, um sicher und erfolgreich Kinder zu anästhesieren. Es gibt allerdings keine wissenschaftlich fundierte Daten, um den Begriff einer „genügenden Fallzahl" konkret in Zahlen zu definieren.

Für eine sichere Kinderanästhesie braucht es Können (Fertigkeiten und Erfahrung), Voraussicht und Notfallpläne.

3. Häufige Gefahren 3.1. Atemwegsprobleme Al/gemeines: Atemwegsprobleme sind häufig, vor allem bei kleinen Kindern [12]. Die ungenügende Beherrschung des Atemwegs stellt das Hauptrisiko dar [13]. Die endotracheale Intubation geht bei kleinen Kindern häufiger mit Schwierigkeiten einher. Hierfür sind vor allem drei Dinge verantwortlich (Tab. 1): die mangelnde Erfahrung, das nicht optimale Material und der große Zeitdruck (14]. Atemwegsinfektionen und Laryngospasmus: Ein Infekt der oberen Luftwege erhöht das Risiko von Komplikationen. Kleine Kinder haben sehr häufig Infekte der oberen Atemwege; rund 6 pro Jahr in den ersten 2 Lebensjahren und zwar vor allem im Winterhalbjahr (15] . In Australien waren im Winterhalbjahr von 2051 Patienten 22,3% akut und 45,8% innerhalb der letzten 6 Wochen erkältet (16]. Die Entscheidungsfindung und das Vorgehen bei all diesen Patienten ist daher von großer praktischer Relevanz (17] und eine Ablehnung aller erkälteten Kinder ist keine realistische Option. Das Risiko respiratorischer Komplikationen ist erhöht bei einer akuten oder weniger als zwei Wochen zurückliegenden Erkältung [8]. Bei erkälteten Kindern kommen Sättigungsabfälle und Bronchospasmus gehäuft vor, die Apnoetoleranz ist reduziert [18] und intra- wie auch postoperativ werden tiefere Sättigungswerte gemessen (19]. Die Ansicht, wie diese Fakten gewertet werden sollen, hat sich allerdings in den letzten Jahren gewandelt: Früher wurden schwerstwiegende Komplikationen als möglich und häufig erachtet; McGill berichtete 1979 (20], dass 10 von 11 Kindern mit relevanten Komplikationen einen Infekt der oberen Luftwege in der Anamnese hatten, und sogar ein letaler Verlauf wurde einem Atemwegsinfekt zugeordnet (21 J. Heute hingegen wird davon ausgegangen, dass Komplikationen zwar häufiger sind, dass diese aber von einem erfahrenen

Tabelle 1

Die 3 Ursachen für das erhöhte Risiko bei Kindernarkosen. limmgsmiiglichh•ihm

Ursachen

1. Mangelnde Erfahrung

2. Nicht optimales Material

3. Großer Zeitdruck

. . . •

. • • •

. 10

Verlegen von Neugeborenen und Säuglingen an Zentren Einbezug einer beschränkten Zahl von Mitarbeitern Supervision durch einen Erfahrenen Arbeitsplatz vollständig mit Kindermaterial ausgestattet Tabellen und Standards vorli egend Beratu ng durch einen Erfahrenen Vorausschauen im Wissen um die beschränkten Zeitreserven Arbeiten nach Algorithmen und Checklisten Üben mit Simulation

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Kinderanästhesisten antizipiert, rechtzeitig erkannt und ohne oder mit minimaler Morbidität behandelt werden können [22]. Selbst in einem kinderkardiochirurgischen Krankengut ist die Mortalität und die Hospitalisationsdauer beim erkälteten Kind nicht erhöht [23]. Atelektasen und bakterielle Infektionen sind allerdings häufiger und mahnen zur Zurückhaltung (Tab. 2). Komplikationen (z.B. Husten, Sättigungsabfall, Laryngospasmus) sind häufiger beim erkälteten Kind. Sie können jedoch vom erfahrenen Anästhesisten meist antizipiert, rechtzeitig erkannt und erfolgreich behandelt werden.

Besondere Vorsicht ist bei kleinen Säuglingen mit Infektionen mit dem „respiratory syncytial virus" (RSV) angezeigt [24]: RSV-lnfektionen sind in diesem Alter häufig Ursache einer schweren Bronchiolitis mit Beatmungspflicht [25]. Säuglinge mit RSV-lnfektionen sind kranke Kinder, sie haben nicht nur eine laufende Nase und sind somit für den Anästhesisten erkennbar und für Wahleingriffe abzulehnen. Unterschätzt wird oft der Stellenwert einer Exposition gegenüber Zigarettenrauch: Atemwegskomplikationen nehmen hier dosisabhängig zu [26]; das Risiko eines Laryngospasmus nimmt um den Faktor zehn zu [27] und auch postoperativ ist die Sauerstoffsättigung tiefer.

Aspiration: Auch bei Kindern kann es zur Aspiration kommen [28-31 ], z.T. auch mit relevanter Morbidität [32]. Die Folgen scheinen aber weniger schwerwiegend zu sein als bei Erwachsenen, bei denen regelmäßig über Todesfälle berichtet wird [33-35]. Warner und Mitarbeiter berichteten über 24 Aspirationen bei 63'180 Kinderanästhesien [28]. Nur 9 der 24 Kinder entwickelten Symptome, 5 mussten beatmet werden und kein Kind verstarb. Die lnzidenz betrug 1:2'632, bei Notfalleingriffen lag sie rund 10-mal höher. Von klinischer Relevanz ist, dass kein Kind, das nach 2 Stunden symptomlos war, später Komplikationen entwickelte. In britischen Kinderkliniken betrug die lnzidenz gar nur 1:4'932 und auch hier verstarb kein Kind [31]. Die beteiligten Anästhesisten waren erfahren in Kinderanästhesie, 22 von 24 Kindern wurden von „Consultant paediatric anaesthetists" betreut. Obwohl katastrophale Folgen bei Kindern selten sind, ist eine relevante Morbidität doch möglich und erfahrungsgemäß steht bei mangelnder Erfahrung

Tabelle2 Entscheidungsfindung bei einem Infekt der oberen Luftwege. Zustand des Kindes

Mögliches Vorgehen



Allgemeinzustand reduziert Fieber> 38,5° Produktiver Husten

Es ist klug, den Eingriff zu verschieben (das Kind geht auch nicht draußen spielen und nicht in die Schule)

Allgemeinzustand gut Nur laufende Nase Gelegentlich Husten

Es scheint vertretbar, den Eingriff durchzuführen (besondere Vorsicht jedoch bei kleinem Kind, ängstlichen Eltern und zusätzlichen Risikofaktoren)

• • • • •

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der Beteiligten eine hektische Einleitung mit Aspiration gefolgt von Oxygenationsproblemen und Schwierigkeiten beim Atemwegsmanagement oft am Anfang der „Spirale in den Abgrund" mit ungünstigem Ausgang. Die Prophylaxe erfolgt durch eine sog. modifizierte RSI (rapid sequence induction): Nach Erreichen einer ausreichenden Anästhesietiefe und bei beginnender Muskelrelaxierung wird das Kind sorgfältig mit der Maske beatmet, ohne Abwehr, Pressen oder Regurgitation zu provozieren [36]. Die klassische RSI mit Apnoe hat keinen Platz in der Kinderanästhesie [37]. Intubation ohne Zeitdruck mit der modifizierten RSI Kinder müssen beatmet werden

Verletzungen: Die Intubation soll sorgfältig und atraumatisch erfolgen. Verletzungen kommen typischerweise im Bereich der Membrana cricothyreoida vor; an dieser Stelle stößt der Tubus beim Einführen primär an. Die Perforationsgefahr ist groß, wenn die Strukturen sehr fein sind (Frühgeborene) oder wenn die Trachea fixiert ist und nicht ausweichen kann (Tumoren). Der Tubus soll keinesfalls mit Gewalt vorgeschoben werden. Durch grobes Manipulieren im Pharynx, z.B. mit dem Laryngoskop oder peripartal mit dem Finger des Geburtshelfers kann auch die Pharynxhinterwand aufgerissen werden [38].

3.2. Herz und Kreislauf Kardiomyopathie und pulmonale Hypertonie: Das perioperative Risiko ist beim Vorliegen einer kardialen Grunderkrankung erhöht [39]. Während Herzfehler oft mittels Blickdiagnose (Zyanose) und mit dem Stethoskop (Geräusche) vermutet werden können, sind die klinischen Zeichen einer Kardiomyopathie oder einer pulmonalen Hypertonie dagegen oft subtil und die Schwere des Zustandes wird unterschätzt. So kam es bei Kindern mit einer Kardiomyopathie bei 1,7% zum Herzstillstand während der Narkoseeinleitung [40]. Auch Kinder mit einer pulmonalen Hypertonie sind gefährdet, bei 256 Anästhesien kam es zu 8 schweren Zwischenfällen, zwei davon mit fatalem Ausgang [41 ]. Solche Kinder sollen nur von erfahrenen Anästhesisten betreut werden und bedürfen einer minutiösen Überwachung, damit nicht einmal kurzzeitig „vom guten Pfad abgewichen" wird [42].

Vorsicht: Hohes Risiko bei Kardiomyopathie und pulmonaler Hypertonie

Patienten mit Fontan-Zirkulation (Zustand nach totaler kavopulmonaler Anastomose) sind bei nichtkardialer Chirurgie erheblich gefährdet; 12 (31 %) von 39 Patienten hatten Komplikationen, ein Patient verstarb [43]. Beängstigend ist, dass bei kleinen Säuglingen, die das Kreislaufsystem noch kaum belasten, eine noch nicht erkannte strukturelle Herzpathologie vorliegen kann, die erst bei der Anästhesieeinleitung manifest wird; z.B. zyanotische Krise

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bei einer Fallot'schen Tetralogie oder Herzstillstand bei einer Anomalie der Koronararterien [44). Die Differentialdiagnose soll bei unerwarteter kardiovaskulärer Instabilität immer umfassend sein, auch wenn Überdosierung von Anästhetika und Hypovolämie viel häufigere Ursachen sind.

Blutdruck und Perfusion: Die Aufrechterhaltung einer genügenden Organperfusion und Gewebeoxygenierung ist eine zentrale Anforderung [45]. Der Blutdruck ist zwar nur ein Surrogatparameter; er soll aber trotzdem auch bei Kindern immer von Anfang an gemessen werden und gewisse Werte nicht unterschreiten. Wichtig ist zudem das Vermeiden einer Hypokapnie. In letzter Zeit mehren sich Berichte über postoperative Krämpfe und Zeichen einer hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie im Kernspintomogramm nach Phasen länger dauernder Hypotension bei kleinen Kindern [3). Während früher bei Säuglingsnarkosen vielfach auch sehr tiefe Blutdruckwerte einfach hingenommen wurden, weil sie unter Narkose eben sehr häufig vorkamen, wird heute versucht, mittels Volumengabe und gegebenenfalls der Gabe von Vasoaktiva einen minimalen Perfusionsdruck aufrechtzuerhalten. "Nur weil häufig tiefe Blutdruckwerte gemessen werden bedeutet das nicht, dass das gut ist" Es ist schwierig, Grenzwerte festzulegen. Die Ansicht des Autors ist, dass bei Termingeborenen und Säuglingen unter 6 Monaten ein Mitteldruck von mindestens 40 mmHg anzustreben ist. Dafür sprechen Messungen der Hirnperfusion bei Kindern unter Sevoflurannarkosen [46]; möglicherweise liegen auch noch etwas tiefere Werte (35 mmHg) im sicheren Bereich [47,48).

Bei Termingeborenen und Säuglingen unter 6 Monaten soll der Mitteldruck mindesten 40 mmHg sein

3.3. Venenzugang Der fehlende Venenzugang: Dem Erfahrenen ist es möglich, ein gesundes Kind auch ohne liegenden Venenzugang sicher inhalativ einzuleiten. Gelegentlich wird sogar während der Anästhesie ganz auf einen Venenzugang verzichtet [49]. Die Schwierigkeiten beim Anlegen des Venenzugangs sind größer als vermutet: auch dem Erfahrenen gelingt es in 1/3 bis 1/5 der Fälle nicht auf Anhieb. Bei Kindern unter einem Jahr [50) oder auch bei adipösen größeren Kindern [51] kann die Rate der initialen Fehlpunktionen auf 50% steigen. Der fehlende oder herausgerissene Venenzugang steht oft am Anfang einer „Spirale in den Abgrund" z.B. bei einer Tonsillennachblutung oder einem Laryngospasmus in der Ausleitungsphase. Auch bei unmöglicher Beatmung hat die Vertiefung der Anästhesie und/oder Relaxierung hohe Priorität [52]. Eine rasche und gekonnte Venenkanülierung, ohne den Zustand des Patienten aus dem Auge zu verlieren, sowie im Notfall das rechtzeitige

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Ausweichen auf eine intraossäre Infusion zeichnen den Erfahrenen aus [53).

Der liegende Venenzugang: Paravasate sind eine ständig drohende Gefahr und können auch nach längerer problemloser lnfusionstherapie plötzlich auftreten: eine zunehmende Gewebeschwellung bewirkt, dass die Kanülenspitze schließlich aus dem Gefäßlumen rutscht. Hohe lnfusionsraten, hohe Viskosität des lnfusats (Blutprodukte) und ein behinderter Abfluss (beginnende Thrombosierung) erhöhen den Druck im Gefäßlumen und begünstigen Flüssigkeitsaustritt und Gewebeschwellung. Eine ständige Wachsamkeit ist erforderlich. Verschiedene Kriterien fließen in den Entscheid ein, einen bereits liegenden Venenzugang für die Anästhesie zu benutzen, z.B. Liegedauer und die Einführtiefe der Katheterspitze im Gefäßlumen. Ein liegender Venenzugang ermöglicht auch erst die Gabe von nicht indizierten Medikamenten oder gar durch Fehlmanipulationen die Infusion von Luft. Ein für die Kindermedizin typisches Phänomen sind starke Nebenwirkungen durch Medikamentenrückstände im Schlauchsystem oder Dreiwegehahn.

Zentrale Venenkatheter: Zentrale Venenkatheter (ZVK) können zu schwersten Komplikationen führen [5,6): z.B. Pneumothorax, Hämatothorax, Herztamponade, Fehllagen, Thrombosen und Infektionen. Punktionsbedingte Risiken lassen sich durch Sorgfalt und die Verwendung des Ultraschalls minimieren. Bei Verwendung der Seldingertechnik muss vor der Dilatation die korrekte Lage des Drahtes mit größtmöglicher Sicherheit verifiziert sein.

Vorsicht bei der ZVK-Einlage - Die eigentliche "Waffe" ist der Dilatator Fehllagen können zu Thrombosen und Paravasaten mit zum Teil katastrophalen Folgen führen. Die korrekte Lage in der oberen oder unteren Hohlvene muss verifiziert werden. Femoral eingeführte Katheter können in paravertebrale Venen abweichen und sogar epidurale Venen erreichen.

3.4. lnfu~ionstherapie Kleine Kinder haben einen sehr großen Wasserumsatz; sie haben einen großen Wasserbedarf; sie scheiden aber auch wieder sehr viel Wasser aus [54). Krankheit, Trauma und perioperativer Stress führen dazu, dass durch vermehrte Sekretion von ADH eine massive Antidiurese eintritt und Wasser gespart wird. Dieser Mechanismus ermöglicht das überleben des Individuums ohne medizinische Maßnahmen bei Krankheit oder Trauma, wenn vorübergehend das Trinken nicht mehr möglich ist. Sobald jedoch eine Infusion gelegt wird, wird dieser Wassersparmechanismus potentiell gefährlich: Durch eine inadäquate lnfusionstherapie zugeführtes freies Wasser kann zur Hyponatriämie, zum Hirnödem oder gar zum Tod führen.

Die Hyponatriämie ist eine ständig drohende Gefahr in der pädiatrischen Akutmedizin

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Iatrogene, infusionsbedingte Todesfälle kommen leider auch heute immer wieder vor [55,56]. Kinder nach Tonsillektomie oder kieferchirurgischen Eingriffen, die oft verzögert trinken und somit postoperativ Infusionen erhalten, scheinen besonders gefährdet zu sein. Gefährdet sind auch Kinder, die wegen Enuresis nocturna oder aus hämostasiologischen Überlegungen Desmopressin (MinirinR) erhalten; Desmopressin verhindert die Ausscheidung von freiem Wasser [57]. Perioperativ sollen daher auch für den Erhaltungsbedarf nur natriumreiche Lösungen infundiert werden [58]; zusätzlich soll das Serumnatrium bei allen kranken Kindern gemessen werden. Perioperativ sollen nur natriumreiche Lösungen (balancierte Vollelektrolytlösungen, z.B. Ringeracetat) infundiert werden

3.5. Medikamente Anästhetika: Ihre Überdosierung ist eine der häufigen Ursachen für einen Kreislaufstillstand [5,6]. Bei der inhalativen Anästhesie kann die individuelle Pharmakokinetik Atemzug für Atemzug überwacht werden [59] und schwere Überdosierungen sind heute selten; gelegentlich werden aber inadäquat hohe Dosen von Propofol und Opioiden verabreicht, um ohne Muskelrelaxanzien zu intubieren [60]. Dies wird von gesunden Kindern toleriert, kann aber bei vorbestehender Hypovolämie oder kardialen Begleiterkrankungen zum Kreislaufstillstand führen. Beim Neugeborenen führen schon übliche Dosen Propofol zu einem erheblichen Blutdruckabfall [6 1,62]. Die medikamentös induzierte Hypotension dürfte ein noch unterschätztes Risiko vor allem bei Säuglingsnarkosen sein.

Opiatüberhang: Eine Opiatgabe kann Übersedierung und Atemdepression bewirken. Besonders Kinder mit NCA (,,nurse controlled analgesia") sind adäquat zu überwachen [63,64]. Typische Risikosituationen sind Kinder mit obstruktiver Schlafapnoe [65], die Morphingabe bei Niereninsuffizienz sowie die Codeingabe bei CYP2D6-Varianten mit sehr rascher Metabolisierung [66]. Daneben kommen iatrogene Fehldosierungen vor, nicht selten um den Faktor 10 [66,67].

3.6. Regionalanästhesie Lokalanästhetika spielen eine tragende Rolle im Konzept der postoperativen Analgesie bei Kindern. Die klassischen Techniken Kaudalanästhesie, Penisblock und Wundinfiltration gelten als sicher. Schwerwiegende Komplikationen oder gar Dauerschäden kommen kaum vor [68,69]. Bei sorgfältiger und korrekter Technik sind bei der Kaudalanästhesie und vielen peripheren Blockaden kaum schwere Komplikationen zu erwarten. Bei epiduralen Kathetertechniken hingegen sind Probleme häufiger [70]. Eine Serie von rund 10'000 epiduralen Katheteranlagen in hoch spezialisierten Kinderkliniken zeigte: bleibender Schaden 1:10'000, schwere Komplikation 1:1000, „schwarze Ferse" 1:300 [71 ]. Punktionsbedingte [72-74], aber auch ungeklärte, möglicherweise ischämiebedingte schwerste Schäden [75] sind beschrieben. Das Risiko wurde möglicherweise bis anhin unterschätzt [76] und die Anwendung epiduraler Kathetertechniken scheint rückläufig zu sein [77].

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3.7. Komplikationen durch Katheter, Sonden und Materialien Druckschäden: Vor allem Kinder, die sich noch nicht konkret äußern können, erleiden Druckschäden: z.B. durch lnfusionskanülen, Pulsoxymetersensoren oder straff an die Nase geklebte Magensonden. Wenn Klebesensoren beim wachen, strampelnden Kind angelegt werden, so sind sie oft sehr straff geklebt und es ist klug, sie nach Einleitung der Narkose für längere Eingriffe nochmals neu zu befestigen.

Magensonden: Die Lage jeder Magensonde muss überprüft werden. Im Ösophagus umgeschlagene Sonden erfüllen ihren Zweck nicht; Mageninhalt kann nicht aspiriert werden und Luftinsufflation führt auch bei einem Leck in der Magenwand nicht zum Luftaustritt im Operationsfeld. Eine Fehllage im Bronchus führt zu pulmonalen Komplikationen und die Nahrungsverabreichung direkt ins Duodenum zu Durchfällen. Fremdkörper: Im Pharynx zurückgelassene Abstopfungen oder Teile von Abdruckmasse können zur lebensbedrohlichen Atemwegsobstruktion führen. Fremdkörper können aber vom wachen Kind auch verschluckt werden und im Ösophagus stecken bleiben [78].

4. Theoretische Risiken und die echten Probleme Vor allem von Laien wird die anästhetika-induzierte Neurotoxizität als im Vordergrund stehendes Problem gesehen. Es besteht auch ein großes Forschungsinteresse mit entsprechenden finanziellen Mitteln an diesen Fragen [79]. Zwar steht außer Zweifel, dass Anästhetika auch bei Primaten und unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen einen apoptotischen Zelluntergang beim sich entwickelnden Gehirn bewirken [80]. Die Auswirkungen einer einzelnen Exposition aber dürften gering sein und vor allem haben wir bei begründeter Indikation keine Alternative [81 ] . Die Fokussierung auf die Apoptose und Neurotoxizität lenkt von den echten Problemen ab: der oft mangelnden Erfahrung der Beteiligten und der nicht optimal geführten Anästhesie [1,82].

Die Fokussierung auf Apoptose und Neurotoxizität lenkt von den echten Problemen bei der Versorgung von Kindern ab

5. Schlussfolgerungen Das Risiko einer Narkose ist bei kleinen Kindern viel größer als beim Erwachsenen. Das Alter des Kindes und die Erfahrung des Anästhesisten sind die Prädiktoren von Komplikationen. Die mangelnde Erfahrung des Anästhesisten, ungeeignetes Material und der große Zeitdruck begünstigen einen fatalen Verlauf. Eine optimale Vorbereitung und Checklisten helfen, auch bei Kindern das Risiko zu reduzieren. Erfahrung, Voraussicht und Sorgfalt sind elementar wichtig.

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Präoperative Evaluation des kardiopulmonalen Risikopatienten Preoperative risk evaluation in patients with pulmonary and cardiac diseases F. Wappler

Zusammenfassung Die präoperative Risikoevaluation kardialer und pulmonaler Risikopatienten erfordert genaue Kenntnisse der zugrundeliegenden Vorerkrankungen und deren spezifischen Implikationen für die perioperative Betreuung der Patienten. Neben den Standardmaßnahmen (Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung) muss anhand der vorliegenden Pathologie, dem chirurgischen Risiko sowie weiteren Begleiterkrankungen entschieden werden ob und ggfs. welche zusätzlichen Untersuchungen erfolgen müssen. Die European Society of Anaesthesiology empfiehlt in den aktuellen Leitlinien, dass die präoperative Risikoevaluation durch ein multidisziplinäres Team bestehend aus Anästhesisten, Chirurgen und Kardiologen, ggfs. weiteren Fachbereichen durchgeführt werden soll. Darüber hinaus werden in den Leitlinien konkrete Empfehlungen für den Einsatz verschiedener Untersuchungsmethoden beim kardialen Risikopatienten gegeben. Für den pulmonalen Risikopatienten stehen für die präoperative Risikoeinschätzung verschiedene validierte Risikoscores zur Verfügung, die zum einen die Risikostratifizierung vereinfachen und andererseits Rationalen für die Indikationsstellung zusätzlicher Untersuchungen geben. Schlüsselwörter: Präoperativ - Risikoevaluation - Herzinsuffizienz - Diagnostik - Adipositas - Schlafapnoe

Summary Preoperative evaluation of patients with increased cardiac or pulmonary risk requires precise knowledge regarding the basic pathophysiology of the disease as weil as the specific implications concerning perioperative treatment of the patient. Besides · standard measures (anamnesis and physical examination) it has to be decided regarding the pathology of the disease, surgical risk and co-morbidities whether, and if so, which additional examinations are required. The European Society of Anaesthesiology recently recommend, that preoperative evaluation should be performed by an integrated multidisciplinary team including anaesthesiologists, cardiologists and surgeons, and when appropriate an extended team (e. g. pulmonologists, geriatricians). Furthermore, in these guidelines recommendations for the use of different examination methods in patients at cardiac risk are given. In patients with increased pulmonary risk numerous scoring systems for preoperative risk assessment are available. Using these scores, risk evaluation can on the one hand be simplified; on the other hand indication for additional examinations becomes more reasonable.

Präoperative Evaluation des kardiopulmonalen Risikopatienten· F. Wappler

Keywords: Preoperative - risk evaluation - heart failure - diagnosis - obesity - sleep apnoea

Einleitung Die präoperative Evaluierung hat zum Ziel, dass perioperative Risiko des individuellen Patienten zu bestimmen und basierend hierauf vorhandene Risikofaktoren bei Bedarf zu therapieren und/oder das intraoperative Management dem ermittelten Risiko anzupassen. Um diesem gerecht zu werden, wurde über viele Jahre die Strategie verfolgt möglichst viele Informationen zu jedem Patienten zusammenzutragen. Hierzu wurden ungeachtet des Gesundheitszustandes des Patienten sowie der Art und des Umfangs der operativen Intervention regelhaft Laborparameter entnommen sowie ein EKG und Röntgenbilder der Lunge im Rahmen eines Routinescreenings angefertigt. Da diese Konzeption jedoch weder den Bedürfnissen des individuellen Patienten Rechnung trägt noch zu einer Reduktion der perioperativen Morbidität und Mortalität führt [1 - 41, wird dieses Vorgehen heutzutage grundlegend in Frage gestellt. Gefordert ist vielmehr ein rationales Vorgehen mit hoher Patientenorientierung unter Vermeidung unnötiger Voruntersuchungen. Weiterhin sollten die präoperativen Untersuchungsabläufe verkürzt und hierdurch Kosten reduziert werden [5). Letztlich wäre es sinnvoll wenn alle an der perioperativen Patientenversorgung beteiligten Fachdisziplinen ein gemeinsames Konzept verfolgten. Daher hat eine gemeinsame Kommission der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und lntensivmedizin (DGAI), der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) sowie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGC) entsprechende Empfehlungen erarbeitet und publiziert [6). Diese sind in deutschen Anästhesieabteilungen mittlerweile in hohem Maße bekannt und vielfach implementiert worden [7]. Aktuellen Umfrageergebnissen zu Folge führt die Implementierung der Empfehlungen zudem zu einer verbesserten Standardisierung der präoperativen Risikoabschätzung und somit einer höheren Patientensicherheit. Die gemeinsamen Empfehlungen der drei Fachverbände zur präoperativen Evaluation erwachsener Patienten vor nicht-herzchirurgischen Eingriffen geben unter anderem eine klare Hilfestellung zum Einsatz präoperativer Untersuchungstechniken. Im Gegensatz zu den Europäischen Leitlinien zur präoperativen Patientenevaluierung [8), werden in den

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Deutschen Empfehlungen jedoch keine Angaben gemacht wie bei bestimmten Vorerkrankungen vorgegangen werden soll. So finden sich in den Leitlinien der European Society of Anaesthesiology beispielweise Vorgaben für die Evaluierung von Patienten mit pulmonalen Vorerkrankungen oder Diabetes mellitus. Die vorliegende Arbeit soll nun eine Übersicht geben zu den aktuellen Konzepten der präoperativen Evaluierung von kardialen und pulmonalen Risikopatienten.

Der kardiale Risikopatient Perioperative kardiale Komplikationen können während nichtkardiochirurgischer Operationen bei Patienten mit asymptomatischen sowie klinisch nachgewiesenen Herzerkrankungen auftreten. Das perioperative Risiko des Patienten hängt dabei von dessen körperlichem Zustand vor der Operation, seinen Co-Morbiditäten sowie der Dringlichkeit, dem Umfang, der Art und der Dauer des operativen Eingriffs ab (9) . Wie häufig kardiale Komplikationen wie Myokardischämien, Herzrhythmusstörungen oder hämodynamische Dekompensationen perioperativ auftreten, ist nicht genau bekannt. Insbesondere fehlen systematische Daten über die Anzahl und Art der Operationen sowie das Outcome der Patienten. Basierend auf den Daten von 56 WHO-Mitgliedsstaaten wird geschätzt, dass jährlich ca. 234 Millionen operative Eingriffe weltweit und in den Europäischen Staaten bezogen auf eine Einwohnerzahl von ca. 500 Millionen, jährlich 19 Millionen Operationen durchgeführt werden (10]. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Großteil der Patienten nur ein minimales kardiales Risiko aufweist, während ca. 30% bzw. 5,7 Millionen Prozeduren an Patienten mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen erfolgen.

Risikofaktoren, der Art des chirurgischen Eingriffs sowie den Umständen unter denen der Eingriff erfolgt. Dies beinhaltet u. a. die lnvasivität sowie die Dauer des Eingriffs, die Dringlichkeit, Veränderungen der Körpertemperatur und Volumenverschiebungen [9]. Zur Abschätzung des perioperativen chirurgischen Risikos hat sich die Kategorisierung nach niedrigem, mittlerem und hohem Risiko etabliert (Tab .1 ). Der Großteil der Patienten mit einer stabilen Herzerkrankung kann einem operativen Eingriff mit niedrigem oder mittlerem Risiko ohne zusätzliche Untersuchungen zugeführt werden. Ausgewählte Patienten benötigen jedoch eine weiterführende Evaluation. Dies betrifft insbesondere diejenigen Patienten, die eine vermutete oder bekannte kardiale Erkrankung aufweisen, welche ein erhöhtes perioperatives Risiko bedingt (z.B.

Tabelle 1 Kardiales Risiko bei verschiedenen Operationen (mod. n. G/ance et al. 2012 [14]).

Hohes Risiko (>5%)

Allgemeine Risikofaktoren Das Risiko für kardiale Komplikationen im Rahmen nichtkardiochirurgischer Eingriffe hängt ab von Patientenseitigen

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Große periphere arterielle Eingriffe Chirurgie von Duodenum und Pankreas Leberresektion Ösophagektom ie Operativer Verschluss einer Magenperforation Adrenalektom ie Totale Zystektomie Pneumektomie Leber- oder Lungentransplantation

Mittleres Risiko (1 - 5%)

Intraperitoneale Eingriffe (Splenektomie etc.) Carotischirurgie (bei Symptomatik, CEA) periphere arterielle Angioplastie

Die Komplikationsraten nicht-kardiochirurgischer Eingriffe werden mit 7 bis 11 % beziffert, während die weltweiten Mortalitätsraten zwischen 0,8 und 1,5% eingeschätzt werden (11 ]. Bis zu 42% dieser Komplikationen sind kardial bedingt (12). Rechnet man diese Daten hoch, so kommt es perioperativ in der Europäischen Union pro Jahr zu 167.000 kardialen Komplikationen, von denen ca. 19.000 lebensbedrohlich sind. Die EUSOS-Studie erbrachte eine Mortalitätsrate von 4% bei stationären operativen Patienten, die somit höher lag als erwartet und deutliche regionale Unterschiede in Europa aufzeigte (13) . In Europa wird die Anzahl operativer Eingriffe bis zum Jahr 2020 um 25% steigen, zeitgleich wächst der Anteil der älteren Bevölkerung um 50%. Darüber hinaus ist aufgrund der sich verändernden Altersstruktur der Bevölkerung mit einem beschleunigten Anstieg des Anteils älterer Patienten mit Co-Morbiditäten (Herzinsuffizienz, Klappenvitien, Diabetes mellitus etc.) in der operativen Medizin zu rechnen.

Aortenchirurgie

Endovaskuläre Aneurysmachirurgie Operationen im Kopf-Hals-Bereich Orthopädische Operationen (Hüftoperationen) Neurochirurgische Operationen (Wirbelsäule) Prostatachirurgie; große gynäkologische Eingriffe Nierentransplantation lntrathorakale Eingriffe (thorakoskopisch)

Niedriges Risiko (< 1%)

Oberflächliche Eingriffe Mammachirurgie Zahnch irurgie Schilddrüsenoperationen Augenoperationen Carotischirurgie (ohne Symptomatik, CEA) kleinere Eingriffe Gynäkologie, Orthopädie, Urologie

CEA: Carotis-Endarteriektomie.

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instabile kardiale Symptome oder eine geringe funktionelle Kapazität). Weiterhin Patienten, bei denen eine präoperative medikamentöse Optimierung sehr wahrscheinlich zu einer Reduktion des perioperativen Risikos führt und Patienten mit hohem kardialen Risiko, die sich einem hochrisikohaften operativen Eingriff unterziehen müssen. Der Anästhesie kommt hierbei eine wesentliche Weichenfunktion zu, da im Rahmen der präoperativen Risikoevaluation entschieden werden muss welcher Patient einer weiterführenden Diagnostik und ggfs. Therapie bedarf. Die aktuellen Leitlinien der Joint Task Force der European Society of Cardiology (ESC) und der European Society ofAnaesthesiology (ESA) empfehlen, dass bei diesen Patienten ein multidisziplinäres Team bestehend aus Anästhesisten, Chirurgen und Kardiologen sowie ggfs. Pulmonologen, lntensivmedizinern und Geriatern die präoperative Evaluation durchführen sollte [9]. Notfalleingriffe müssen nach den neuen Europäischen Leitlinien naturgemäß auch ohne vorherige kardiologische Abklärung erfolgen. Bei dringlichen Operationen muss jedoch individuell geprüft werden, ob die kardiologische Evaluierung dazu beitragen kann, das perioperative Risiko zu senken. Zum Beispiel kann hierdurch auch die Entscheidung einer offenen Intervention im Vergleich zu einer weniger invasiven Methodik (z.B. Bypasschirurgie vs. endoluminaler Angioplastie) beeinflusst werden [9]. Die Art des operativen Eingriffs ist eine Determinante des perioperativen Patientenrisikos. Allerdings ist die Bemessung des spezifischen Risikos des jeweiligen Eingriffs dadurch erschwert, dass es eine wachsende Anzahl operativer Techniken gibt, die bei sehr unterschiedlichen Patientenkollektiven untersucht wurden. Große Gefäßeingriffe sind dabei von besonderer Bedeutung, da diese das höchste kardiale Risiko aufweisen, aber auch da durch eine adäquate Vorbereitung das perioperative Risiko günstig beeinflusst werden kann [15]. Die ESA empfiehlt für Patienten mit eingeschränkter kardialer Leistungsreserve, wenn möglich zunächst das weniger invasive Verfahren zu verwenden. Generelle Empfehlungen für oder gegen eine offene chirurgische im Vergleich zur endoluminalen Intervention sind jedoch nicht möglich, da diese von einer Vielzahl von Faktoren abhängen. So ist beispielsweise die 30-Tagesmortalität bei offener Operation eines abdominellen Aortenaneurysmas signifikant höher als bei endovaskulärer Aortenreparatur (EVAR) (16]. Zwei Jahre nach der jeweiligen Intervention besteht hingegen kein Unterschied mehr in den Letalitätsraten, darüber hinaus weisen Patienten mit EVAR höhere Reinterventions- sowie Rupturhäufigkeiten auf. Laparoskopische und thorakoskopische Verfahren weisen zahlreiche Vorteile gegenüber offenen chirurgischen Techniken auf. Ein Pneumoperitoneum in Kombination mit einer Trendelenburglagerung führt jedoch zu relevanten hämodynamischen Veränderungen (171, so dass das perioperative Risiko von Patienten mit kardialen Vorerkrankungen bei laparoskopischen Eingriffen im Vergleich zur offenen Chirurgie nicht prinzipiell

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reduziert ist. Allerdings gibt es einzelne Untersuchungen, die zeigen konnten, dass es bei laparoskopischen Eingriffen seltener zu kardialen, respiratorischen oder auch thrombotischen Komplikationen im Vergleich zu den offenen Verfahren kam [18] . Vorteile wurden auch für ältere Patienten postuliert (19). Die funktionale Kapazität eines Patienten ist ein einfach anzuwendender Parameter, der eine Einschätzung der körperlichen Leistungsfähigkeit erlaubt. Sie wird in metabolischen Äquivalenten (metabolic equivalents; MET) angegeben, wobei 1 MET der basalen metabolischen Rate entspricht. Anhand der Fähigkeit bestimmte Tätigkeiten des täglichen Lebens auszuführen kann auch ohne apparative Diagnostik eine Einschätzung der funktionalen Kapazität vorgenommen werden. So entspricht das Aufsteigen zweier Treppen einem MET von 4. Sofern ein Patient nicht in der Lage ist zwei Treppen zu steigen oder eine kurze Wegstrecke zu gehen (< 4 MET) entspricht dies einer unzureichenden funktionalen Kapazität und einem erhöhten Risiko für postoperative kardiale Komplikationen (Tab. 2). So war bei Patienten mit reduzierter funktionaler Kapazität die Mortalität nach thoraxchirurgischen Eingriffen deutlich erhöht, Ursache hierfür ist offenbar die eingeschränkte pulmonale Funktion. Bei Patienten, die sich einem nicht-kardiochirurgischen Eingriff unterzogen war die Assoziation zwischen METs und postoperativen kardialen Komplikationen und Tod jedoch nur gering [20]. Letztlich ist die Prognose für den Patienten sehr gut sofern die funktionale Kapazität hoch ist. Ein wesentliches Hilfsmittel zur Ermittlung des perioperativen Risikos stellen Risikoindices dar [21] . Die ESA empfiehlt weiterhin die Anwendung des aus sechs Parametern bestehenden revised cardiac risk index aus dem Jahr 1999 (Tab. 3) (22] . Ein aktueller Score zur Prädiktion von postoperativen Myokardinfarkt oder Herzstillstand (MICA) wurde basierend auf der Datenbank des American College of Surgeons National Surgical Quality lmprovement Program (NSQIP) entwickelt und validiert [23]. Hierbei wurden fünf Prädiktoren identifiziert, die eine Kalkulation des Risikos ermöglichen (Tab. 4). Hierzu stehen Berechnungsprogramme im Internet (http:// www.surgicalriskcalculator.com/miorcardiacarrest) oder als Applikationen für die Online-Verwendung zur Verfügung.

Tabelle2

Unzureichend/ schlecht

< 4 MET (< 100W)

MET: metabolisches Äquivalent (.metabolic equivalentM; 3,5 ml O 2Aufnahme pro kg KG und Minute). Das MET dient dem Vergleich des Energieverbrauchs bei unterschiedlichen Aktivitäten. Referenzpunkt ist dabei der Ruheumsatz eines Menschen, der 1 MET beträgt. Ein MET von 4 bedeutet demnach, dass der Mensch einer körperlichen Aktivität nachgehen kann, die seinen Ruheumsatz um das vierfache steigert.

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Tabelle 3 Kardiale Risikofaktoren aus Anamnese und/oder Klinik (n. Lee et al. 1999 (221). • Ischämische Herzerkrankung (Angina pectoris und/oder Z. n. Myokardinfarkt) • Herzinsuffizienz • Schlaganfall oder transitorisch ischämische Attacke in der Anamnese • Renale Dysfunktion (Serumkreatinin > 170 µmol/I oder 2 mg/dl oder eine Kreatininclearance < 60 ml/min/1 ,73 m2) • lnsulinpfli chtiger Diabetes mellitus • Hochrisikoeingriff

Tabelle4 Risikofaktoren für postoperativen Myokardinfarkt oder Herzstillstand (n. Gupta et al. 2011 [231). • • • •

Art des operativen Eingriffs funktionaler Status Renale Dysfunktion (Serumkreatinin > 130 µmol/I oder 1,5 mgldl) Klassifikation gemäß der American Society of Anesthesiologists (ASA) • Patientenalter

Die ESA empfiehlt beide Scoring-Systeme additiv zu verwenden, da diese sich ergänzende Angaben liefern und dadurch dem Kliniker bei der Entscheidung für weitere Maßnahmen hilfreich sind. So genannte Biomarker (Troponin, B-Typ natriuretisches Peptid (BNP) etc.) können Aufschluss über bestimmte Erkrankungen oder Komplikationen geben. Die kardialen Troponine T und 1 weisen dabei eine größere Sensitivität und Spei:ifität für die Diagnose eines Myokardinfarktes als andere Biomarker auf (24]. Auch geringe Anstiege der Troponine in der perioperativen Phase weisen auf eine klinisch relevante Schädigung des Myokards und eine schlechtere Prognose hin. Daher sollte die Bestimmung bei Hochrisikopatienten vor und bis zu 72 Stunden nach der Operation erwogen werden [12]. BNP und N-terminales pro-BNP (NT-proBNP) werden in Herzmuskelzellen produziert und durch unterschiedliche Stimuli (Wanddehnung, Myokardischämie, lnflammation etc.) freigesetzt. BNP als auch NT-proBNP sind stellen unabhängige prognostische Marker für perioperative und spät auftretende kardiale Komplikationen bei Risikopatienten dar (9, 25). Da die Datenlage jedoch noch unzureichend ist, wird eine generelle Routinebestimmung dieser Biomarker derzeit nicht empfohlen (9).

Testverfahren Präoperative nicht-invasive Testverfahren sollen insbesondere zu den drei Risikofaktoren linksventrikuläre (LV) Dysfunktion, Myokardischämie und Herzklappendysfunktion Informationen liefern.

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Ein Elektrokardiogramm (EKG) in Ruhe ist bei Patienten ohne Risikofaktoren und Eingriff mit niedrigem Risiko nicht indiziert. Ein EKG soll bei Patienten mit kardialen Risikofaktoren (Tab. 3), die sich einem Eingriff mit mittlerem oder hohem Risiko unterziehen müssen, angefertigt werden. Die ESA empfiehlt zudem ein EKG bei Patienten mit Risikofaktoren und Eingriff mit niedrigem Risiko (Tab. 1) zu erwägen. Im Gegensatz zu den deutschen Empfehlungen [6] soll bei Patienten über 65 Jahren und ohne Risikofaktoren, die einen Eingriff mittleren Risikos erhalten, eine EKG-Diagnostik bedacht werden. Allerdings fehlt an dieser Stelle eine Rationale für die Alters-adjustierte Indikationsstellung. Bei Trägern eines Herzschrittmachers ist ein präoperatives EKG nur dann erforderlich, wenn die Schrittmacherkontrolltermine nicht eingehalten wurden bzw. neue klinische Symptome aufgetreten sind [6]. Bei Patienten mit implantierten Kardioverterdefibrillator (AICD) sollte generell ein EKG präoperativ aufgezeichnet werden. EKG-Aufzeichnungen unter Belastung (z.B. Fahrradergometer) weisen ein hohe Variabilität auf und sind daher wenig empfehlenswert. Die LV-Funktion kann mit zahlreichen Methoden bestimmt werden, am besten etabliert und weit verfügbar ist jedoch die Echokardiographie. Eine präoperative Echokardiographie ist jedoch nur bei neu aufgetretener Dyspnoe unklarer Genese sowie bei Patienten mit bekannter Herzinsuffizienz und Symptomverschlechterung innerhalb der letzten 12 Monate indiziert [6]. Weiterhin ist die Echokardiographie sinnvoll bei Patienten mit nicht bekannten oder nicht abgeklärten Herzgeräuschen, die sich einem Eingriff mit mittlerem oder hohem Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen unterziehen müssen. Darüber hinaus können für Patienten bei einem Eingriff mit hohem Risikoprofil durch eine Echokardiographie weiterführende Befunde erhoben werden. Generell weist die Stressechokardiographie mit Dobutamin (DSE) einen hohen negativen prädiktiven Wert auf, dies bedeutet, dass ein negatives Testresultat mit einer geringen lnzidenz kardialer Komplikationen bei operativen Patienten einhergeht. Allerdings ist der positive prädiktive Wert gering, so hat ein positiver Wert nur eine geringe Vorhersagekraft für kardiale Komplikationen in der postoperativen Phase. Die szintigraphische Darstellung der Myokardperfusion in Ruhe als auch unter medikamentöser Stimulation ist ein etabliertes Verfahren zur präoperativen Risikostratifizierung kardialer Risikopatienten. Metaanalysen zu Studien an gefäßchirurgischen Patienten belegen, dass Patienten mit Nachweis größerer ischämischer Areale postoperativ eine höhere Morbidität und Mortalität aufwiesen als Patienten mit geringen oder Normalbefunden (26). Zusammenfassend sollten nichtinvasive kardiale Belastungstests nur durchgeführt werden, wenn dadurch eine Änderung der perioperativen Versorgung zu erwarten ist [9]. Dies ist bei der Fall bei Patienten mit mehr als 2: 3 klinischen Risikofaktoren (Tab. 3) und unzureichender funktionaler Kapazität (< 4

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METs), die sich einem Hochrisikoeingriff unterziehen müssen. Bei Patienten mit einem oder zwei klinischen Risikofaktoren und eingeschränkter Belastbarkeit (< 4 METs), die sich einem Eingriff mit mittlerem oder hohem Risiko unterziehen müssen, kann eine Diagnostik erwogen werden. Bei einem Eingriff mit niedrigem Risiko besteht unabhängig vom klinischen Risiko des Patienten hingegen keine Indikation [9]. Derzeit fehlen große, randomisierte Studien zur Frage, ob eine präoperative Koronarangiographie eine Risikoeinschätzung bei Patienten mit nicht-kardiochirurgischen Eingriffen ermöglicht. Die Indikationsstellung für eine Koronarangiographie und ggfs. Revaskularisierung unterscheidet sich im operativen Patientenklientel daher nicht von konservativen Patienten. Bei Patienten mit akutem ST-Hebungsinfarkt oder NSTEMI, die einen nicht-kardiochirurgischen Eingriff benötigen, wird eine Notfallkoronarangiographie empfohlen [9]. Gleiches gilt für Patienten mit gesicherter Myokardischämie und instabilem Thoraxschmerz unter adäquater Medikation. Bei Patienten in stabilem kardialen Zustand, die sich einer elektiven Endarteriektomie der Carotis unterzeihen müssen, sollte die Indikation für eine Koronarangiographie geprüft werden. Nicht empfohlen wird die Diagnostik hingegen bei stabilen Patienten vor Operationen mit niedrigem Risiko. Letztlich soll eine präoperative Therapie (medikamentös oder interventionell) immer durchgeführt werden, wenn der nicht-kardiochirurgische Eingriff verschoben werden kann.

Chronische Herzinsuffizienz Die Prävalenz der chronischen Herzinsuffizienz in Industrienationen beträgt 1 - 2%, bei über 70-jährigen Patienten hingegen über 10% [9]. US-amerikanische Daten zeigen eine Häufigkeit der Herzinsuffizienz von 18% bei über 65-jährigen auf, die mit einem um 63% erhöhten Risiko einer perioperativen Mortalität einherging [27]. Bei gefäßchirurgischen Patienten wird dabei eine linksventrikuläre Ejektionsfraktion s 35% (LVEF) als valider Vorhersagewert für postoperative kardiale Komplikationen betrachtet [28]. Neben den üblichen Maßnahmen (Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung) spielt die transthorakale Echokardiographie (TTE) die wesentliche Rolle bei der präoperativen Risikoeinschätzung herzinsuffizienter Patienten [9, 29]. Hierdurch können die LVEF als auch die Volumina des linken Ventrikels sowie der Vorhöfe bestimmt werden. Darüber hinaus ermöglicht die Diagnostik Informationen über Klappenmorphologie und -funktionen sowie diastolische Funktionsparameter. Daher wird die TEE vor Operationen mit mittlerem und hohem Risiko bei dieser Patientengruppe empfohlen. Bei unzureichendem Schallfenster kann alternativ ein Kardio-MRT angefertigt werden. Die präoperativen Spiegel von BNP und NT-proBNP sind eng korreliert mit der Prognose sowie der peri- und postoperativen Morbidität und Mortalität [251, daher wird empfohlen auch diese vor Operationen mit mittlerem und hohem Risiko zu messen.

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Die beste Methodik zur Einschätzung der funktionellen Kapazität der Patienten besteht in kardiopulmonalen Belastungstests [301, da hiermit sowohl die kardiale als auch die pulmonale Leistungsfähigkeit bestimmt werden kann. Zudem ist die Messmethodik präziser als die Einschätzung aus anamnestischen Angaben. Allerdings ist die Datenlage im Rahmen der präoperativen Evaluierung derzeit ungenügend, so dass eine generelle Empfehlung für Belastungstestverfahren derzeit nicht gegeben werden kann.

Herzklappenerkrankungen Patienten mit Erkrankungen der Herzklappen weisen ein erhöhtes perioperatives Risiko für kardiale Komplikationen auf. Das individuelle Risiko ist sehr variabel und hängt von der Art und dem Ausmaß der Klappenpathologie sowie von der Art des operativen Eingriffs ab. Die ESA empfiehlt bei jedem Patienten mit Herzklappenerkrankung, insbesondere bei pathologischem Auskultationsbefund, eine Echokardiographie durchzuführen. Ziel ist die Einschätzung des Schweregrades und, in Kombination mit einer klinischen Untersuchung, der Symptome, sowie die zu erwartenden Risiken einer Intervention einerseits und des operativen Risikos andererseits. Die Aortenklappenstenose ist die häufigste Herzklappenerkrankung in Europa. Sie geht mit einem deutlich erhöhten perioperativen Risiko einher und bei symptomatischen Patienten mit schwerer Stenose sollte daher vor elektiven Operationen geprüft werden, ob zunächst ein Klappenersatz oder alternativ eine Valvuloplastie oder ein transaortaler Aortenklappenersatz (TAVI) erfolgen können. Bei asymptomatischen Patienten können Operationen mit niedrigem oder mittlerem Risiko sicher durchgeführt werden. Wenn möglich sollte jedoch präoperativ eine Belastungsuntersuchung erfolgen.

Herzrhythmusstörungen Kardiale Arrhythmien wie Vorhofflimmern oder ventrikuläre Rhythmusstörungen sind in den meisten Fällen Folgen einer zugrundeliegenden strukturellen Herzerkrankung. Daher sollten präoperativ detektierte Herzrhythmusstörungen vor dem operativen Eingriff weiter abgeklärt werden, einschließlich einer echokardiographischen Untersuchung. Je nach Natur der Rhythmusstörung muss entschieden werden, ob zudem eine Koronarangiographie (inkl. Revaskularisation) indiziert ist. Bei Patienten mit implantiertem Herzschrittmacher ist eine apparative Untersuchung nur bei einer neu aufgetretenen Symptomatik bzw. Funktionsstörungen indiziert. AICD-Träger erhalten präoperativ ein EKG, der AICD muss perioperativ deaktiviert werden. In dieser Phase sollen die Patienten kontinuierlich am EKG-Monitor überwacht werden und ein externer Defibrillator jederzeit verfügbar sein.

Kongenitale Herzerkrankungen Patienten mit kongenitalen Herzerkrankungen gelten unabhängig von ihrem Alter als Risikoklientel, wobei das Risiko jedoch stark variiert und von u. a. der Ausprägung des Herzfehlers, dem Vorliegen eines pulmonalen Hypertonus, begleitenden

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Arrhythmien, intrakardialen Shunts und/oder Sauerstoffsättigungen abhängt. Bei gut kompensierten Patienten mit unkompliziertem Vitium und physiologischer Kreislaufsituation ist das Gesamtrisiko gering, eine weiterführende Untersuchung ist in diesen Fällen in der Regel verzichtbar. In komplizierten Fällen sollte hingegen eine umfängliche Untersuchung durch ein multidisziplinäres Team in einem spezialisierten Zentrum erfolgen.

Der pulmonale Risikopatient Pulmonale Komplikationen stellen ein signifikantes Risiko in der postoperativen Phase dar [31, 32]. Zu den häufigsten Komplikationen gehören Atelektasen, Pneumonien, respiratorische Insuffizienz sowie die Exazerbation einer vorbestehenden chronischen Lungenerkrankung. Die Folgen sind eine erhöhte Morbidität und Mortalität [33, 34] sowie ein verlängerter Krankenhausaufenthalt. Pulmonale Komplikationen sind dabei keine seltenen Ereignisse sondern weisen kardialen Komplikationen vergleichbare Häufigkeiten auf. So konnte in einer retrospektiven Kohortenstudie an 8.930 Patienten, die sich einer Hüftoperation unterziehen mussten, gezeigt werden, dass 19% perioperative Komplikationen aufwiesen [35]. In der weiteren Analyse der Daten wurden in 2% aller Fälle (n=178) ernsthafte kardiale und in 2,6% (n=229) ernsthafte pulmonale Komplikationen registriert. Bei älteren Patienten beträgt die Häufigkeit sogar zwischen 5 und 40% der Fälle [36].

Zusätzlich können noch Scoring-Systeme zur Anwendung kommen, um eine genaue Einschätzung des Risikos für das Auftreten postoperativer pulmonaler Komplikationen vorzunehmen. Das American College of Physicians hat zwei Scoring-Systeme anhand der oben dargestellten Faktoren entwickelt (Tab. 5 und 6) [33, 34] . Die Faktoren werden dabei mit einem Punktwert versehen und diese addiert. Anhand des Summenwertes kann das postoperative Risikoprofil für die Entwicklung pulmonaler Komplikationen insgesamt sowie speziell für eine Pneumonie kategorisiert werden. Für beide Scoring-Systeme weisen die operativen Maßnahmen sowie das Alter jeweils den höchsten prädiktiven Wert auf. Tabelle 5 Risikofaktoren für akute postoperative pulmonale Komplikationen nach nichtkardialen Eingriffen (mod. n. Arozullah et al. 2000 (331). Risikofaktor(en)

Score

Abdominelle Aortenaneurysmaoperation

27

Thoraxchi rurgie

14

Abdominale Oberbauchchirurgie, periphere oder vaskuläre Neuroch irurgie

21

Kopf / Hals-Operationen

11

Notfalloperationen

11

Albumin < 3,0 mg/dl

9

Allgemeine Risikofaktoren

Harnsäure > 30 mg/dl

8

Es konnten zahlreiche Risikofaktoren für die Entstehung von postoperativen pulmonalen Komplikationen identifiziert werden, die in Patientenseitige sowie Prozeduren-assoziierte Faktoren aufgeschlüsselt werden können [32]. Ein besonderes Risiko für pulmonale Komplikationen scheinen dabei ältere Patienten [361, solche mit kardialen und pulmonalen Vorerkrankungen sowie akutem Gewichtsverlust aufzuweisen [37]. Eine höhere ASA-Risikoklasse und Nikotin- sowie Alkoholabusus bedingen ebenfalls eine erhöhtes Risiko. Darüber hinaus sind Patienten mit respiratorischen Infektionen innerhalb von 30 Tagen vor dem operativen Eingriff und solche mit einer pulsoxymetrischen Sättigungs 90 % gefährdet [38].

funktionelle Abhängigkeit

7

Von operativer Seite weisen Eingriffe an der Aorta, des Thorax sowie im Bereich des Abdomens ein hohes Risikoprofil auf. Zudem prädestinieren Notfalloperationen sowie längere Operationszeiten und auch die Notwendigkeit zur perioperativen Bluttransfusion zu postoperativen pulmonalen Komplikationen.

Präoperative Risikoeinschätzung Die strukturierte Erhebung der Patienten- und Familienanamnese sowie eine körperliche Untersuchung sind grundlegende Bestandteile jeder präoperativen Evaluation [6, 8, 39]. Patientenseitige sowie Prozeduren-assoziierte Risikofaktoren lassen sich anamnestisch feststellen und sollen nur dann zur lndika-

22

tion für weitere Untersuchungen führen, wenn hierdurch für die perioperative Versorgung relevante Zusatzinformationen zu erwarten sind [6].

COPD

6

Alter :. 70 Jahre

6

Alter 60 - 69 Jahre

4

Klasse

Score

% Risiko 0,5

1

:,;; 10

2

11 -19

1,8

3

20 - 27

4,2

4

28-40

10,1

5

> 40

26,6

Als Beispiel sei hier ein 80-jähriger Patient (= 17 Punkte) genannt, welcher sich einem Eingriff an einen abdominalen Aortenaneurysma (= 15 Punkte) unterziehen muss, vollständig pflegebedürftig ist(= 10 Punkte) und in der Vorgeschichte eine COPD aufweist(= 5 Punkte). Das Risiko des Patienten postoperativ eine Pneumonie zu erleiden beträgt demnach 9,4%, die 30-Tage Mortalitätsrate 21% [34]. Ein weiteres Scoring-System wurde in einer prospektiven, multizentrischen Studie (Assess Respiratory Risk in Surgica/ Patients in Catalonia; ARISCAT) an knapp 2.500 chirurgischen

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Tabelle 6 Risikofaktoren für akute postoperative Pneumonie nach nichtkardialen Eingriffen (mod. n. Arozullah et a/. 2001 [34]). Risikofaktor(en)

Operation

Alter

Score

Abdominelle Aortenaneurysmaoperation

15

hochthorakal

14

hochabdominal

10

Halsoperationen / Neurochirurgie

8

Gefäßchirurgie

3

>= 80Jahre

17

70- 79 Jahre

13

60- 69 Jahre

9

0- 59 Jahre Funktionelle Abhängigkeit

4

teilweise

10

vollständig

6

Gewichtsverlust (> 10 % / 6 Monate)

7

COPD

5

Allgemeinanästhesie

4

Cerebrale Dysfunktion

4

z. n. Schlaganfall

4

Harnsäure (mgtdl)

4 Einheiten

3

Notfalloperation

3

Kortikoiddauermedi kation

3

Nikotinabusus

3

Alkoholabusus

2

Klasse

Score

% Risiko 0,24

1

0-15

2

16-25

1,2

3

26-40

4,0

4

41 - 55

9,4

5

>55

15,8

Patienten entwickelt (38]. Die Daten derjenigen Patienten, die postoperativ pulmonale Komplikationen erlitten (ca. 5%), dienten zur weiteren Risikoanalyse. Die nachstehenden Parameter wurden als Risikofaktoren analysiert und ebenfalls mit Punktwerten für eine Risikostratifizierung versehen: • präoperativ niedrige Sauerstoffsättigung • akute respiratorische Infektion (innerhalb 30 Tagen vor dem Eingriff) • Alter • präoperative Anämie

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• • •

Oberbaucheingriff/ Thoraxchirurgie OP-Zeiten > 2 Stunden Notfalleingriffe.

Kritikpunkt an der Studie war, dass diese eine eingeschränkte Aussagekraft haben könnte, da die Patientenrekrutierung nur in einem umschriebenen geographischen Gebiet erfolgte. In der PERISCOPE-Studie wurde nun in 63 Europäischen Kliniken eine Validierung des Scores durchgeführt (40]. Hierbei zeigten sich allerdings regionale Unterschiede in den Ergebnissen, und die Vorhersagekraft war in Westeuropäischen deutlich besser als in Osteuropäischen Staaten. Eine weitere Studie prüfte, welche Parameter sich eignen die Notwendigkeit einer postoperativen Reintubation vorherzusagen (37] . Als Indikatoren fanden sich eine ASA-Klassifikation 2:: 3, Notfalleingriffe, Hochrisikooperationen, Herzinsuffizienz sowie eine chronische Lungenerkrankung. Auch wenn Scoring-Systeme einen wichtigen Beitrag zur Risikoeinschätzung liefern könnten, haben diese bislang keine weite Verbreitung oder den Eingang in die klinische Routine gefunden. Darüber hinaus wurde bisher nicht vergleichend untersucht welches dieser Systeme die beste Vorhersagekraft für postoperative pulmonale Komplikationen besitzt. Während Einigkeit darüber besteht, dass die Anfertigung einer Röntgen-Thorax-Untersuchung als präoperative Routine nicht indiziert ist, wird die Wertigkeit bei (kardio)-pulmonalen Risikopatienten aufgrund mangelnder Evidenz weniger einheitlich gesehen. Patienten mit hohem Risiko für pulmonale Komplikationen anhand der obigen Risikoscores sollten präoperativ eine Röntgen-Thorax-Untersuchung erhalten. Die Fachgesellschaften empfehlen zudem eine präoperative Röntgen-ThoraxUntersuchung bei Patienten mit akuten kardiopulmonalen Befundänderungen sowie Patienten > 70 Jahre mit chronischen kardiopulmonalen Erkrankungen, bei denen innerhalb von 6 Monaten präoperativ keine Röntgenaufnahme des Thorax angefertigt wurde (41 ]. Die Datenlage für spirometrische Untersuchungen im Rahmen der präoperativen Evaluation ist gering. Für definierte Patientenkollektive (Gastrektomie sowie abdominelle AneurysmaChirurgie) konnte ein prädiktiver Wert der Spirometrie für die perioperative Morbidität und Mortalität belegt werden [42, 43]. Für zahlreiche weitere Erkrankungen bzw. operative Verfahren (z.B. chronischer Nikotinabusus, neuromuskuläre Erkrankungen, bariatrische Chirurgie) wurde vorgeschlagen eine spirometrische Untersuchung zu erwägen, ein Nachweis für eine verbesserte perioperative Versorgung und/oder Reduktion der Morbidität und Mortalität existiert jedoch nicht. Auch niedrige Serumalbuminspiegel (< 3,5 g/dl) stellen einen starken Prädiktor für postoperative pulmonale Komplikationen sowie für eine erhöhte 30-Tage Mortalität dar (33]. Eine präoperative Blutgasanalyse sollte bei Patienten mit chronischen Lungenfunktionsstörungen sowie denjenigen mit moderater bis schwerer Obstruktion in der Spirometrie erfolgen.

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Somit sollen neben der Anamneseerhebung und der körperlichen Untersuchung weiterführende diagnostische Maßnahmen beim pulmonalen Risikopatienten in der Regel nur dann angeordnet werden, wenn es akut zu Veränderungen der kardiopulmonalen Funktionen gekommen ist, das Risikoprofil als besonders hoch eingeschätzt wird und in Fällen in denen das perioperative Management aufgrund der neuen Befunde modifiziert werden könnte.

stoffsättigungen unter 90% aufweisen als Kontrollpatienten [49, 50]. Darüber hinaus wurde in einer Fallkontrollstudie gezeigt, dass Patienten mit OSA postoperativ signifikant häufiger ernsthafte Komplikationen wie die Notwendigkeit zur Reintubation, ungeplante Aufnahme auf eine Intensivstation oder kardiale Probleme im Vergleich zu Kontrollen erlitten (24 vs. 9%) [51 ]. Auch ist das Atemwegsmanagement bei dieser Patientengruppe erschwert [52].

Im Folgenden sollen noch Konzepte zur präoperativen Evaluierung bei Patienten mit obstruktiver Schlafapnoe, bei chronisch obstruktiver Lungenkrankheit sowie Adipositas erläutert werden.

Die aktuellen Leitlinien des American College of Physicians haben die Polysomnographie als Goldstandard für die Diagnostik des OSA definiert [53] . Allerdings ist diese Methodik teuer, zeitaufwändig und erfordert ein spezielles Schlaflabor, als präoperatives Screening ist die Polysomnographie daher kein geeignetes Instrument [8] .

Obstruktive Schlafapnoe (OSA) Die obstruktive Schlafapnoe (OSA) ist definiert als schlafbezogenes, phasenweises Aussetzen des Atemluftstroms bei fortbestehender muskulärer Atemanstrengung, deren Dauer mindestens 10 Sekunden beträgt und einen Abfall der peripheren Sauerstoffsättigung von mindestens 4% bedingt [44]. Sofern kardiozirkulatorische oder zentralnervöse Folgeerscheinungen hinzutreten, spricht man von einem obstruktiven SchlafapnoeSyndrom (OSAS). Die Diagnose des OSA basiert auf dem Apnoe-lndex (Al) bzw. dem Apnoe-Hypopnoe-lndex (AHI), die polysomnographisch in einem Schlaflabor ermittelt werden müssen. Hierbei wird die Anzahl der hypopnoeischen respektive apnoeischen Episoden pro Stunde gemessen. Gemäß der polysomnographischen Resultate wird der Schweregrad der OSA wie in Tabelle 7 angegeben definiert. Die Häufigkeitsangaben für die OSA variieren in der Literatur stark und werden mit 2 - 38% der Gesamtbevölkerung beziffert [46, 47], wobei Geschlechtsspezifische Unterschiede nachgewiesen wurden und Männer demnach ein deutlich höheres Risiko als Frauen haben [48]. Risikofaktoren für die OSA sind zudem Nikotin- und Alkoholabusus, Diabetes mellitus, therapieresistenter arterieller Hypertonus, Adipositas, Herzinsuffizienz, neurologische Erkrankungen, Einnahme von Sedativa und habituelles Schnarchen [46]. Das perioperative Risiko von Patienten mit OSA ist insgesamt deutlich erhöht [44] . So konnte nachgewiesen werden, dass Patienten mit OSA nach einer Allgemeinanästhesie signifikant häufiger Atemwegsobstruktionen haben und periphere Sauer-

Tabelle 7

Schweregradeinteilung der obstruktiven Schlafapnoe (OSA) mittels Apnoe-Hypopnoe-lndex (AHI) (mod. n. American Society of Anesthesiologists 2014 [451).

Schweregrad

-

KeineOSA MildeOSA

24

-- -

-

-

---

-- - -

AHI

-- --

0-5

--

Die im Jahr 2014 publizierten Leitlinien der American Society of Anesthesiologists empfehlen daher folgendes Vorgehen: Bei Patienten mit (Verdacht auf) OSA werden zunächst entsprechend dem üblichen Standard die medizinischen Akten des Patienten geprüft sowie eine Anamnese erhoben [45]. Weiterhin soll bei allen Patienten eine körperliche Untersuchung erfolgen. Eindeutige Belege dafür, dass durch diese Maßnahmen das Vorliegen einer OSA nachgewiesen werden kann, finden sich in der Literatur jedoch nicht. Die Leitlinien der ASA empfehlen zudem die Risikostratifizierung anhand eines Scoring-Systems sowie eine enge Zusammenarbeit mit den chirurgischen Disziplinen bei der präoperativen Evaluation. Allerdings fehlt bislang ein solches validiertes und auf Evidenz basierendes System [54]. Zum Screening der OSA eignen sich nach derzeitigem Stand der Berlin-Fragebogen, der STOP-Bang-Fragebogen sowie die Checkliste der ASA [55] . Der Berlin-Fragebogen wird zwar vielfach verwendet, nachteilig in der klinischen Anwendung erscheint allerdings der Umfang des von den Patienten auszufüllenden Fragebogens [46] . Die Checkliste der ASA besteht aus 12 Punkten für die Anwendung beim Erwachsenen und 14 bei Kindern [45] . Entwickelt wurde diese als Konsensus von einer Task Force der Fachgesellschaft, eine Validierung hat bislang jedoch nicht stattgefunden. Der STOP-Fragebogen beinhaltet vier Ja/Nein-Fragen (Tab. 8) [55] . Der Fragebogen wurde an über 2.000 chirurgischen Patienten getestet und letztlich validiert. Bei Hinzunahme vier weiterer Fragen (,,Bang") zeigt sich eine verbesserte Aussagekraft und insbesondere bei hohen Scoringwerten von 5 - 8 eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine OSA [47]. Auf dem Boden der Fragebogenergebnisse soll dann entschieden werden, ob weiterführende Untersuchungen wie die Polysomnographie oder auch therapeutische Maßnahmen (z.B. CPAP-Behandlung, Kieferschienen, Medikation mit Atemanaleptika, Gewichtsreduktion) indiziert sind. Allerdings reicht die Datenlage der Literatur zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht aus, verbind! iche Empfehlungen zum weiteren Procedere zu geben [8].

6 - 20

Moderate OSA

21 - 40

Schwere OSA

> 40

Chronisch Obstruktive Lungenkrankheit Die chronisch obstruktive Lungenkrankheit (COPD) ist eine chronische Erkrankung mit progredienter, nach Gabe von

Präoperative Evaluation des kardiopulmonalen Risikopatienten · F. Wappler

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Tabelle 8

Tabelle 9

STOP-BANG Fragebogen zur Evaluierung einer obstruktiven Schlafapnoe (mod. n. Chung et al. 2012 1551).

Schweregradeinteilung der chronisch obstruktiven Lungenkrankheit (COPD) (mod. n. Spieth et al. 2010 (56)).

Schnarchen (lautes Schnarchen, durch geschlossene Türen hörbar?)

Schwer~g_rade

Symptome

Spirometrie

0 (Risikogruppe)

Chronische Symptome (Husten, Auswurf, Dyspnoe)

Normale Werte

1 (leichtgradig)

Mit oder ohne chronische Symptome (Husten, Auswurf, Dyspnoe)

FEV, "' 80% des Sollwertes FEV1NK < 70% des Sollwertes

II (mittelgradig)

Mit oder ohne chronische Symptome (Husten, Auswurf, Dyspnoe)

50% "' FEV1 < 80% des Sollwertes FEV,NK < 70% des Sollwertes

III (schwer)

Mit oder ohne chronische Symptome (Husten, Auswurf, Dyspnoe)

30% "' FEV, < 50% des Sollwertes FEV,NK < 70% des Sollwertes

IV (sehr schwer)

Chronisch respiratorische Insuffizienz

FEV, < 30% des Sollwertes FEV1 < 50% des Sollwertes mit resp. Insuffizienz FEV,NK < 70% des Sollwertes

Tagesmüdigkeit Observation (wurden Atemstillstände während des Schlafes beobachtet?) Pression (Vorbehandlung eines Bluthochdrucks?)

BMI (> 35 kg / m 2 ?) Alter (> 50 Jahre?) Nacken (Halsumfang > 40 cm?) Geschlecht (männlich?)

< 3 Ja-Antworten: geringes Risiko fü r eine OSA

OSA: obstruktive Schlafapnoe.

Bronchodilatatoren und/oder Kortikosteroiden nicht vollständig reversibler Atemwegsobstruktion auf dem Boden einer chronischen Bronchitis und/oder eines Lungenemphysems (Definition der Nationalen Versorgungsleitlinie zur COPD). Valide Angaben zur Prävalenz der COPD in Deutschland liegen nicht vor, Schätzungen gehen jedoch von einer Rate zwischen 10 und 15% der erwachsenen Bevölkerung aus (56] . Die Ätiologie der COPD ist multifaktoriell, ein wesentlicher exogener Faktor ist jedoch ein langjähriger Nikotinabusus (ca. 90% der Fälle). Darüber hinaus können rezidivierende bronchopulmonale Infekte sowie endogene Faktoren, wie ein a1-Proteasenmangel, zur COPD führen. Die COPD ist mit zahlreichen Co-Morbiditäten assoziiert, die bei der präoperativen Risikoeinschätzung berücksichtigt werden müssen. Insbesondere sind dies ein OSAS, kardiale Erkrankungen, Arteriosklerose, Diabetes mellitus, Kachexie und Muskelatrophie. Pathophysiologisch besteht ein erhöhter Atemwegswiderstand bei konsekutiver Destruktion des Lungenparenchyms und Ausbildung eines Lungenemphysems. Die Folgen sind Belastungsdyspnoe mit Hypoxie und Hyperkapnie sowie eine Erhöhung des pulmonalvaskulären Widerstandes und ggfs. eine Rechtsherzbelastung. Die Erkrankungsschwere wird in vier Grade eingeteilt (Tab. 9). Das postoperative Risiko für pulmonale Komplikationen ist bei Patienten mit COPD doppelt so hoch als bei gesunden Personen (57]. Dabei korreliert die Häufigkeit diese Komplikationen mit dem Schweregrad der COPD, und ist insbesondere bei Patienten mit pulmonalen Hypertonus und/oder Heimsauerstofftherapie drastisch erhöht [58].

Präoperative Evaluation des kardiopulmonalen Risikopatienten • F. Wappler

-

FEV,: forciertes Exspirationsvolumen; FEV,NK: Verhältnis von forcierten Exspirationsvolumen in 1 s zur Vitalkapazität.

Neben dem üblichen Vorgehen mit Anamneseerhebung und körperlicher Untersuchung sollte insbesondere nach Häufigkeit, Intensität und Zeitpunkt der letzten Exazerbation gefragt werden. Die Notwendigkeit für eine Erweiterung der präoperativen Diagnostik mit apparativen Maßnahmen wird · uneinheitlich betrachtet. Untersuchungen an abdominalchirurgischen Patienten zeigten, dass u. a. pathologische Befunde bei der körperlichen Untersuchung, im Röntgenbild des Thorax sowie des kardialen Risikoindexes auf ein erhöhtes Risiko für pulmonale Komplikationen hinweisen (59]. Im Gegensatz dazu erlaubten spirometrische Befunde keine Risikoeinschätzung. Auch eine hohe ASA-Kategorie erwies sich als besser geeignet das Risiko für pulmonale Komplikationen einzuschätzen als eine spirometrische Untersuchung (60]. Ein pragmatischer Vorschlag besteht in der Empfehlung weiterführende Untersuchungen in denjenigen Fällen anzuordnen, in denen Anamnese und körperlicher Untersuchungsbefund keine eindeutigen Befunde ergeben (57]. In diesen Situationen können ein Thoraxröntgen, eine Spirometrie sowie eine Blutgasanalyse indiziert sein (56] . Bei Patienten mit pulmonalem Hypertonus wird zudem ein Ruhe-EKG sowie eine Echokardiographie empfohlen (58]. Darüber hinaus ist bei COPD-Patienten zu bedenken, dass diese häufig relevante Begleiterkrankungen, wie arterielle Verschlusserkrankungen, ischämische Herzerkrankungen und/oder arteriellen Hypertonus aufweisen. Daher ist sorgfältig zu prüfen, ob eine weitere (kardiale) Abklärung präoperativ erfolgen sollte.

25

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Tabelle 11 Adipositas-assoziierte Begleiterkrankungen (mod. n. Konrad et a/. 2011 (631).

Normalgewicht

18,5-24,9

Übergewicht (Präadipositas)

25,0-29,9

Adipositas Grad 1

30,0-34,9

Adipositas Grad II

35,0-39,9

Kardiovaskuläre Erkrankungen

• Arterieller Hypertonus • Kardiomyopathie • Herzinsuffizienz • Cerebrovaskuläre Erkrankungen

Adipositas Grad III (Adipositas per magna oder morbide Adipositas)

BMI: body mass index.

• Koronare Herzerkrankung

• Varikosis; tiefe Beinvenenthrombosen

Pulmonale Erkrankungen

• Restriktive und obstruktive Ventilationsstörungen • Schlafapnoe-Syndrom

Adipositas

• Dyspnoe

Die Adipositas ist definiert als eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts. Als Berechnungsgrundlage für die Gewichtsklassifikation der Adipositas wird der body-mass-index (BMI) verwendet, anhand dessen fünf Kategorien definiert werden (Tab. 10).

• Adipositas-Hypoventilationssyndrom•

In Deutschland weisen mehr als 50% der Erwachsenen einen BMI > 25 kg/m 2 auf und sind somit übergewichtig. Nach Schätzungen der WHO sind weltweit 1,4 Milliarden Menschen übergewichtig und ca. 500 Millionen adipös mit steigender Tendenz. In einer Gewichtsanalyse von 19.000 chirurgischen Patienten fanden sich 8% mit einem BMI > 40 kg/m 2 und 1,8% mit einem BMI von< 50 kg/m 2 [61 ). Die Adipositas spielt somit im Rahmen der anästhesiologischen Versorgung eine immer größer werdende Rolle. So konnte nachgewiesen werden, dass die Rate perioperativer Komplikationen (kardial und pulmonal) mit der Höhe des BMI korreliert ist [62] und das Outcome bei Patienten mit morbider Adipositas schlechter als beim Normalgewichtigen ist. Die Adipositas ist in der Regel assoziiert mit zahlreichen Begleiterkrankungen, die in der perioperativen Versorgung eine erhebliche Rolle spielen können (Tab. 11 ). Die häufigste Begleiterkrankung des adipösen Patienten ist der arterielle Hypertonus. Zudem steigt das Risiko für eine koronare Herzerkrankung mit zunehmenden BMI [64]. Aufgrund der chronischen Überbeanspruchung des Myokards bei der Versorgung überschüssigen Fettgewebes entwickeln sich eine linksventrikuläre Hypertrophie [65] und letztlich eine Herzinsuffizienz [66]. Weiterhin besteht bei vielen adipösen Patienten ein Diabetes mellitus, beides wesentliche Komponenten des metabolischen Syndroms. Das Diabetesrisiko ist nach älteren Daten bei Frauen mit einem BMI > 30 kg/m 2 um den Faktor 30 erhöht [67]. Die Adipositas führt zu Veränderungen der intraabdominellen sowie der intrathorakalen Drucke, wodurch die funktionelle Residualkapazität (FRC), das exspiratorische Reservevolumen (ERV), die Compliance als auch die totale Lungenkapazität abnehmen. Das Atemzugvolumen der normal großen Lunge ist im Vergleich zum Gesamtkörpergewicht zu klein, daher kommt es konsekutiv zu Ventilations-Perfusionsstörungen,

26

• Pulmonale Hypertonie

Endokrine Erkrankungen

• Diabetes mell itus • Infertilität • Dyslipoproteinämie • Hypothyreose

Gastrointestinale Erkrankungen

• H iatushernie • lnguinalhernie • Gastroösophagealer Reflux • Cholezysthol ithiasis

Urogenitale Erkrankungen

• Harninkontinenz • Erektile Dysfunktion

Erkrankungen des Bewegungs• apparats

• Degenerative Erkrankungen (z.B. Coxarthrose)

Malignome

• u. a. Mamma-, Prostatakarzinome

• Chronische Rückenschmerzen

• Synonym - Pickwick-Syndrom.

Shuntbeimischungen und einer arteriellen Hypoxämie. Insgesamt 21 % der morbid adipösen Patienten weisen restriktive Ventilationsstörungen auf [68]. Darüber hinaus kommt es zu einem Anstieg der Atemwegsresistance [65]. Zudem beträgt die Prävalenz eines OSAS bis zu 78%, bei superadipösen Patienten (BMI :i!: 60 kg/m 2) sogar 95% [69). Die präoperative Untersuchung des adipösen Patienten fokussiert daher neben den Standardmaßnahmen (Anamnese und körperliche Untersuchung) auf die genaue Erfassung und Evaluation der Begleiterkrankungen. Die Prävalenz von OSA und OSAS bei Adipösen ist hoch, daher wird die Verwendung eines Fragebogens (Berlin-Fragebogen, STOP-Bang-Fragebogen) zur Evaluierung empfohlen [8, 55]. Weiterhin empfehlen einige Autoren die Durchführung einer Polysomnographie [65] und/oder die pulsoxymetrische Messung der Sauerstoffsättigung [8]. Allerdings besteht keine Evidenz dafür, dass durch diese Maßnahmen das perioperative Risiko reduziert und das Outcome verbessert wird.

Präoperative Evaluation des kardiopulmonalen Risikopatienten· F. Wappler

Mai 2015 • Düsseldorf

Einige Autoren fordern präoperativ eine spirometrische Untersuchung durchzuführen, da viele (morbid) adipöse Patienten bereits in Ruhe eine respiratorische Partialinsuffizienz aufweisen. Untersuchungen an Patienten mit einem mittleren BMI von 50 kg/m 2 ergaben jedoch nur milde und klinisch nicht relevante Veränderungen der Lungenfunktion [68]. Weiterhin hatten die Lungenfunktionsveränderungen keinen Einfluss auf das perioperative Management [65], so dass die Spirometrie nur zur Abklärung unklarer Befunde indiziert ist sowie wenn hieraus eine Änderung des anästhesiologischen Konzepts zu erwarten ist. Gleiches gilt auch für die Indikationsstellung der Röntgenaufnahme des Thorax [65]. Im EKG von adipösen Patienten wurden in 62% der Fälle Überleitungs- sowie Erregungsrückbildungsstörungen nachgewiesen, darüber hinaus war das QT-lntervall in 17% verlängert [65]. Echokardiographische Untersuchungen zeigten zudem eine linksventrikuläre Hypertrophe bei 61% der Patienten, allerdings ohne Konsequenzen für die perioperative Betreuung. Eine kardiale Funktionsdiagnostik mittels Belastungs-EKG ist zumeist nicht möglich, da entweder die Geräte nicht für das Patientengewicht zugelassen sind und/oder die Patienten aufgrund degenerativer Veränderungen von Knie- und Hüftgelenken hierzu nicht in der Lage sind. Eine Dobutamin-Stressechokardiographie als präoperative Routineuntersuchung an 611 adipösen Patienten erbrachte in 92,4% Normalbefunde, während in 6,4% der Fälle eine Befundung nicht möglich war [70), lediglich in 1,2% fanden sich pathologische Befunde. Daher wird empfohlen bei allen Adipösen präoperativ ein EKG anzufertigen, eine weiterführende kardiologische Diagnostik jedoch nur bei konkreter Fragestellung. Adipöse Patienten weisen eine signifikant höhere Prävalenz eines Diabetes als normalgewichtige Personen auf [71 ], zudem ist die Glukosetoleranz deutlich verringert [72] . So konnte gezeigt werden, dass bei 11,4% der weiblichen und bei 20,8% der männlichen Patienten mit Adipositas pathologisch erhöhte HbA 1c-Spiegel vorliegen und somit ein bislang nicht diagnostizierter Diabetes mellitus. Als Folge der Fehlernährung kommt es jedoch nicht nur zu einer Störung der Glukosestoffwechsel, sondern auch zu einer Anämie [8], daher wird empfohlen präoperativ die entsprechenden Laborparameter zu bestimmen. Besondere Bedeutung kommt der präoperativen Evaluierung des Atemweges zu, da sowohl Maskenbeatmung als auch Intubation beim morbid adipösen Patienten erschwert sein können [73]. Ursache hierfür ist die veränderte Anatomie bei zum Teil exzessiver Zunahme des Weichteilgewebes im Gesicht, Halsbereich, Pharynx und Zunge. Der Anteil schwieriger Intubationen beim morbid adipösen Patienten beträgt ca. 1%, die der schwierigen Maskenbeatmung etwa 10% [61]. Weiterhin ist die schwierige Laryngoskopie bei Patienten mit einem BMI > 35 kg/m 2 ca. sechs Mal häufiger als bei normalgewichtigen Patienten [61]. Allerdings konnten diese Resultate in anderen Studien nicht nachvollzogen werden und die Datenlage ist insgesamt uneinheitlich. Letztlich erlauben weder die Adipositas selbst noch die Höhe des BMI eine präzise Vorhersage

Präoperative Evaluation des kardiopulmonalen Risikopatienten · F. Wappler

von lntubationsproblemen. Lediglich ein Mallampati-Score :i!: 3 sowie ein Halsumfang> 43 cm weisen einen prädiktiven Wert auf. Daher sollten in jedem Fall eine eingehende Inspektion der Atemwege im Rahmen der körperlichen Untersuchung mit Festlegung des Mallampati-Scores und eine Messung des Halsumfanges erfolgen.

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Präoperative Evaluation des kardiopulmonalen Risikopatienten · F. Wappler

Aktuelles Wissen für Anästhesisten

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Präoperative Evaluation des kardiopulmonalen Risikopatienten · F. Wappler

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„Narkosetiefe" - Grenzen und Möglichkeiten „Depth of Anaesthesia" - Strengths and Limitations G. Schneider

Zusammenfassung Das Konzept der „Narkosetiefe" stammt aus der Zeit, als alle Wirkungen der Allgemeinanästhesie durch ein einziges Medikament hervorgerufen wurden. Die beobachtete sequenzielle Abfolge einzelner Wirkungen ist bei Kombinationsanästhesie nicht mehr vorhanden, da einzelne Komponenten spezifisch medikamentös beeinflusst werden. Die Zusammensetzung aus mehreren Teilkomponenten erfordert eine multidimensionale Beschreibung der Allgemeinanästhesie. Zu den charakterisierenden Kernkomponenten der Allgemeinanästhesie zählen Amnesie, Bewusstlosigkeit und Unterbrechung der Verbindung zur Umgebung (Connectendness). Zukünftiges Monitoring sollte spezifisch die einzelnen Komponenten dieser multidimensionalen Beschreibung erfassen. Unzureichende Ausschaltung der Verbindung zur Umgebung (,,Connectedness") oder des Bewusstseins führt zu intraoperativer Wachheit. Aber auch unnötig hohe Anästhetikadosen können negative Folgen haben. Insbesondere Konzentrationen, bei denen im EEG das unphysiologische Muster Burst Suppression auftritt, könnten mit Delir, kognitiver Verschlechterung oder sogar mit erhöhter Mortalität assoziiert sein. Schlüsselwörter: Allgemeinanästhesie - Narkosetiefe - Amnesie - Bewusstlosigkeit - Monitoring: Narkosetiefe - Elektroenzephalographie - Burst Suppression

Summary The concept „depth of anaesthesia" was developed to describe the effects of pure inhalational (mono-)anaesthesia. The combination of volatile anaesthetics with other drugs (muscle relaxants, opioids) changes the sequence of clinical effects, and decreases their reliability as a general sign of the „level of anaesthesia". In current clinical practice, general anaesthesia is a combination of several specific effects, which requires a multidimensional description of general anaesthesia. Characterizing key components of general anaesthesia include amnesia, unconsciousness and disruption of connectedness. Future monitoring should include multiple modalities with a focus on each of the components of general anaesthesia. lntraoperative connectedness or consciousness leads to intraoperative awareness. lnadequate high doses of anaesthetics may also lead to negative effects. lncidence and duration of EEG burst suppression are associated with postoperative delirium, cognitive decline and maybe even mortality.

„Narkosetiefe" - Grenzen und Möglichkeiten· G. Schneider

Keywords: General Anaesthesia - Depth of Anaesthesia - Amnesia - Unconsciousness - Monitoring: Depth of Anaesthesia - Electroencephalogram - Burst Suppression

„Narkosetiefe" - Grenzen und Möglichkeiten Das Konzept „Narkosetiefe" Die Geschichte der Allgemeinanästhesie in der Neuzeit beginnt mit Einführung der Ether-Narkose durch Crawford Long 1842 und die erste öffentliche Demonstration durch Thomas Morton 1846. Die Bedingungen, die durch diese Allgemeinanästhesien geschaffen wurden, entsprechen allerdings nicht unserer heutigen Vorstellung von „Allgemeinanästhesie". Bei Mortons erster erfolgreicher öffentlicher Demonstration bewegte sich der Patient und stöhnte, aber er ließ den operativen Eingriff zu und erinnerte sich postoperativ nicht an Schmerzen. Erste Vorläufer einer Definition von 11 Narkosetiefe" finden sich bereits kurz nach Einführung der Allgemeinanästhesie mit Ether. 1847 beschrieb Plomley seine persönlichen Erfahrungen mit Ether: 11 lch habe bei verschiedenen Gelegenheiten Ether eingeatmet, und glaube seine Wirkung kann in drei verschiedene Stadien oder Grade eingeteilt werden, das erste ist lediglich ein angenehmes Gefühl halber Intoxikation; das zweite ist das extremen Behagens, ähnlich den Empfindungen, die durch Inhalation von Lachgas ausgelöst werden. [ ... ] Das dritte Stadium, ich denke das einzige zur Durchführung von Operationen, ist eines tiefer Intoxikation und Gefühllosigkeit (Bewusstlosigkeit)" (20]. Noch im gleichen Jahr beschreibt John Snow fünf verschiedene Stadien, die jedoch nicht immer klar voneinander abzugrenzen sind und sich teilweise überschneiden. Snow richtet das Augenmerk nicht mehr alleine auf das Erzielen ausreichender Wirkung, er beschreibt auch Zeichen der Überdosierung (28]. Gerade zu Beginn der Allgemeinanästhesie war nicht so sehr die Unterdosierung, sondern viel mehr die Überdosierung von Anästhetika gefürchtet. Einerseits umfasste das angestrebte „Toleranzstadium" für operative Eingriffe nicht zwingend die Ausschaltung von Patientenreaktionen. Andererseits drohten bei Überdosierung Kreislauf- und Atemdepression, die beide noch nicht suffizient therapierbar waren. Noch stand kein Sauerstoff zur Verfügung, die erste eiserne Lunge wurde erst 1876 konstruiert. Deshalb galt es in der Frühzeit moderner Allgemeinanästhesie insbesondere, die vitale Gefährdung durch Überdosierung frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden.

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Die Gefahr der Überdosierung bestimmte auch Arthur Guedels Beschreibung der Zeichen und Stadien der Ether-Anästhesie. Guedel war während des ersten Weltkriegs als Arzt in den Vogesen stationiert und dort für die Überwachung von Anästhesien zuständig, die durch nicht-ärztliches Personal durchgeführt wurden . Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er das Guedel-Scherna der Ether-Wirkung. Durch Beobachtung von Atmung, Muskeltonus, Pupillen, Tränenfluss und Lidreflexen beschrieb er die zunehmende Wirkung des Ethers von Wachheit über verschiedene Stadien der Anästhesie-"Tiefe" bis hin zum Tod des Patienten. Diese vertikale Ausrichtung von Wachheit bis zum Tod des Patienten - die sich auch in der entsprechenden Abbildung wiederfindet - zeigt die Bewegung von einer Beschreibung verschiedener Stadien hin zum Konzept der zunehmenden „Narkosetiefe" bis hin zu Überdosierung und Tod. Bereits 1957 bezweifelt Woodbridge die Sinnhaftigkeit der Frage, wie „tief" der Patient in Narkose sei [32). Mushin stellt 1960 fest, dass wir beim gebräuchlichen Ausdruck „Narkosetiefe" davon sprechen, den Patienten „tiefer" zu bekommen, im amerikanischen Sprachgebrauch werden die Begriffe ,getting the patient' ,,deeper", ,,under" oder „down" verwendet. ,,All diese Worte beinhalten Bewegung in eine vertikale Richtung: in Richtung Grab" [18) . Das Konzept der Narkosetiefe stammt aus der Zeit der EtherAnästhesie, bei der alle Anästhetikawirkungen durch eine einzige Substanz hervorgerufen wurden. Abhängig von der Konzentration der Substanz treten sequenziell unterschiedliche Wirkungen und Nebenwirkungen auf. Bei MonosubstanzAnästhesie kann die Beobachtung der einzelnen Wirk-Komponenten zur Bestimmung der „Narkosetiefe" herangezogen werden. Da hier konzentrationsabhängig Wirkungen und Nebenwirkungen in einer bestimmten Reihenfolge auftreten, dient die Beobachtung klinischer Symptome der Erfassung zunehmender Medikamentenwirkung. Bereits ein Wechsel von Ether-Anästhesie zu Monoanästhesie mit anderen volatilen oder intravenösen Anästhetika verändert jedoch die Reihenfolge, in denen die einzelnen Symptome auftreten. Da unterschiedliche Phänomene, die zur Quantifizierung der „Narkosetiefe" herangezogen werden, durch unterschiedliche Substanzen spezifisch beeinflusst werden, wird klar dass das Phänomen „Allgemeinanästhesie" kein unveränderliches Kontinuum unterschiedlicher Medikamentenwirkungen darstellt.

Das Konzept „Narkosetiefe" jenseits der Ether-Monoanästhesie Mit der Einführung von Kombinationsanästhesien begann die Möglichkeit, einzelne Zeichen und Symptome der „Narkosetiefe" selektiv zu beeinflussen. Den klinischen Möglichkeiten entsprechend wurde das Konzept der „Narkosetiefe" von einem Modell abgelöst, das von unterschiedlichen Komponenten der Allgemeinanästhesie ausgeht. Diese einzelnen Komponenten entsprechen weitgehend den pharmakologischen Gruppen von Anästhetika und Adjuvantien: analgetische/antinozizeptive Komponente ((Opioid-)Analgetika), arnnestische Komponente (Benzodiazepine, volatile und intravenöse Anästhetika in sub-

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anästhetischen Konzentrationen), Unterdrückung motorischer Antwort / motorische Blockade (Muskelrelaxantien), härnodynarnische Stabilität (Katecholarnine, Alpha-, Beta-Blocker), etc. Im Rahmen der Kombinationsanästhesie sind die Komponenten der Allgemeinanästhesie weitgehend unabhängig voneinander zu beeinflussen. Muskelrelaxanzien führen zu selektiver motorischer Blockade, selbst bei Wachheit können Bewegungsreaktionen fehlen. Schmerzreize lassen sich mit Analgetika (Opioiden) blockieren, eine Reaktion auf schmerzhaften Stimulus kann so selbst bei bewusster Wahrnehmung ausbleiben. Gegen das Konzept der „Narkosetiefe" spricht nicht nur der polypharrnakologische Ansatz der modernen Anästhesieführung. Hinzu kommt, dass es sich bei vielen einzelnen „Komponenten" um binäre Zustände, d.h. um Alles-oder-Nichts Phänomene handelt. Ist das Bewusstsein erst einmal verloren, ist eine „tiefere" Bewusstlosigkeit nicht möglich. Dennoch suggeriert der klinische Alltag, dass weitere Steigerung der Medikamentendosis den klinischen Zustand des Patienten über den Bewusstseinsverlust hinaus verändert. Die klinisch übliche Praxis, den Grad der Bewusstlosigkeit durch verschiedene Schmerzreize zu testen, prüft jedoch eine andere Entität, die „Erweckbarkeit". Diese muss nicht zwingend einen „Grad der Bewusstseinsausschaltung" widerspiegeln. Die Überprüfung einer Reaktion auf unterschiedlich starke (Schmerz)Reize schafft kein wirkliches Kontinuum unterschiedlicher „Grade der Bewusstlosigkeit", sondern ist ebenso vom Ausmaß der Analgesie oder Antinozizeption abhängig. Ist der Bewusstseinsverlust eingetreten, ist eine weitere „Vertiefung" der Anästhesie anhand dieser Wirkkomponente nicht quantifizierbar; Ist Bewusstsein ausgeschaltet, kann es nicht ,,noch weiter" ausgeschaltet werden. Die medikamentös induzierten Phänomene, die als Komponenten der „Allgemeinanästhesie" betrachtet werden, treten substanzspezifisch entweder isoliert oder bei unterschiedlichen Substanzen in unterschiedlicher Reihenfolge auf. Der Patient, der während des operativen Eingriffs in Allgemeinanästhesie in unterschiedlichen „Narkosetiefen" ist, wurde mit einem U-Boot während des Tauchvorgangs verglichen [27). Während des Tauchvorganges bleibt das U-Boot unter Wasser, ist jedoch in unterschiedlichen Tiefen, kurz vor dem Auftauchen oder tief unter der Oberfläche. Spätestens seit Verlassen der Monosubstanz-Anästhesie stellt diese Vereinfachung der Allgemeinanästhesie eine unzulässige eindimensionale Verkürzung der Wirklichkeit dar. Die Definition unterschiedlicher „Narkosetiefen" ist stark vorn zugrundeliegenden Modell der Allgemeinanästhesie abhängig. Shafer und Stanski schlagen ein rnultidirnensionales Modell der Anästhetikawirkungen vor, das auf unterschiedlich starker Unterdrückung verschiedener Reaktionen auf Stimuli basiert [26). Es beinhaltet die Wahrscheinlichkeit der Unterdrückung einer Antwort auf Stimuli, kalibriert gegen die Intensität des

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Stimulus, die Schwierigkeit, die Antwort zu unterdrücken, und die medikamentenabhängige Wahrscheinlichkeit der Unterdrückung einer Antwort bei definierten Wirkort-Konzentrationen. Die Einführung dieser Wahrscheinlichkeitsfunktion erinnert an das Modell der „Narkosetiefe", während die anästhesiologischen Dosis-Wirkungskurven in der Realität oft sehr steil verlaufen und auch die (neuro)physiologischen Korrelate eher dem Alles-oder-Nichts Prinzip folgen. 2011 bemerkt Sleigh in einem Editorial, dass „der Patient vielleicht kein U-Boot ist" und schlägt vor, das Bild der „Narkosetiefe" durch das Bild eines Schaltpultes zu ersetzen [27]. Anästhesie stellt eine Kombination unterschiedlicher, häufig binärer Phänomene dar. Statt diffus von unterschiedlicher „Narkosetiefe" zu sprechen, sollten diese binären Phänomene spezifisch adressiert werden. Die Kernfragen hierbei könnten unter anderem wie folgt lauten: • sind die Gedächtnisfunktionen ausgeschaltet? • ist das Bewusstsein ausgeschaltet? • sind die Schmerz-Arousal-Systeme ausgeschaltet? • sind die Reaktionen des autonomen Nervensystems ausgeschaltet? • sind die somatischen Reaktionen ausgeschaltet? Die Auflistung dieser binären Fragen macht deutlich, dass das Konstrukt der „Narkosetiefe" kaum in der Lage ist, diese hoch spezifischen Anästhesie-Effekte ausreichend in einem Kontinuum abzubilden. Im Kontext „Narkosetiefe" sollen spezifische Komponenten der Allgemeinanästhesie betrachtet werden. Unterdrückung von hämodynamischen Reaktionen, gezielter Bewegung und Schmerzen wird nicht nur im Rahmen der Allgemeinanästhesie, sondern auch bei Regionalanästhesie erwartet. Allgemeinanästhesie umfasst zahlreiche Komponenten. Den Zustand „Allgemeinanästhesie" definieren insbesondere einige Kernkomponenten.

Kernkomponenten der Allgemeinanästhesie Kernkomponenten und charakteristische Merkmale der Allgemeinanästhesie betreffen vor allem die Hirnfunktion.

Unterdrückung motorischer Reaktionen Mangelnde Unterdrückung von Bewegung wird insbesondere von Operateuren als „unzureichende Narkosetiefe" interpretiert. Die Unterdrückung von Bewegung findet jedoch überwiegend auf subkortikaler und spinaler Ebene statt. Rampil konnte an Ratten zeigen, dass sich der MAC-Wert (Bewegung nach Hautschnitt) nach Entfernung des Großhirns nicht ändert [22]. Antognini trennte bei Ziegen die Perfusion des Gehirns von der Perfusion des Körpers. Bei selektiver Anästhetikagabe entweder in den Gehirn- oder in den Körperkreislauf bestimmte er den MAC-Wert (Bewegung auf schmerzhaften Stimulus). Hierbei entsprach der MAC-Wert bei Anästhetikagabe in den Körper dem üblichen MAC-Wert. Bei Verabreichung ausschließlich in den Gehirnkreislauf wurden deutlich höhere Dosen benötigt, um Bewegungsreaktionen zu unterdrücken [2]. Eine

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Vorhersage von Bewegungsreaktionen ist anhand der üblichen Monitoring-Parameter kaum möglich, die medikamentöse Blockade der neuromuskulären Endplatte kann mittels Elektromyographie oder Mechanomyographie erfasst werden.

Unterdrückung des Gedächtnisses Die Unterdrückung der Gedächtnisfunktion stellt einen wesentlichen Bestandteil der Allgemeinanästhesie dar. Das „MultiStore Gedächtnismodell" stellt ein gebräuchliches Modell der Gedächtnisfunktion dar. Vom sensorischen Gedächtnis werden Inhalte abhängig von Aufmerksamkeit in das Kurzzeitgedächtnis übernommen. Das Kurzzeitgedächtnisses umfasst nur wenige Inhalte (7 +/- 2 Begriffe) und hält in etwa 18 Sekunden an. Eine längere Zeitspanne kann durch aktives Wiederholen erreicht werden. Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses können in das Langzeitgedächtnis übernommen werden, Inhalte aus dem Langzeitgedächtnis in das Kurzzeitgedächtnis abgerufen werden. Nach Inhalt und Funktion wird explizites (bewusstes) und implizites (unbewusstes) Gedächtnis unterschieden. Bewusste Gedächtnisinhalte sind bewusst zugänglich und typischerweise detailliert. Sie beinhalten kontextuelle Information (d.h. wann und wo die Gedächtnisinhalte gespeichert wurden). Alle Anästhetika beeinflussen bereits in subanästhetischer Konzentration das Gedächtnis. Veselis untersuchte 2008 den Mechanismus der amnestischen Wirkung von Propofol [29) . Dabei analysierte er die Unterschiede zwischen semantischer (komplexer) und Stimulusbasierter (oberflächlicher) Verarbeitung. Hierzu musste eine Reihe von Wörtern geordnet werden nach z.B. Lebewesen (semantisch) oder danach, ob die Wörter von einer männlichen oder weiblichen Stimme gesprochen waren. Semantische Evaluierungen erfordern komplexere Gedächtnisprozesse, da hierzu gespeicherte Gedächtnisinformationen abgerufen werden müssen. Ergebnisse dieser Prozesse sind tiefer verschlüsselt und werden besser behalten. Diese Gedächtnistests wurden unter subanästhetischen Konzentrationen von Thiopental, Propofol und einem (ablenkendem) Aufmerksamkeitstest (Unterscheidung zweier unterschiedlich hoher Töne) durchgeführt. Die gleichzeitige Durchführung eines PET identifizierte die Hirnareale, die bei komplexer Codierung zusätzlich aktiviert sind. Das episodische Gedächtnis zeigte sich im linken inferioren präfrontalen Cortex, Hippocampus und parietalen Cortex. Dort finden Codierung, Speicherung und Abruf statt [29]. Am Ende des Untersuchungstages wurde im Wiedererkennungstest die Gedächtnisleistung überprüft. Hierbei zeigte sich, dass . die geteilte Aufmerksamkeit und Thiopental über eine Beeinflussung der Codierung amnestisch wirken, während die amnestischen Effekte von Propofol nicht über eine Beeinflussung der Codierung erklärbar sind, d.h. hier zusätzliche spezifische amnestische Effekte auftreten. In einer weiteren Probandenuntersuchung wurde die Bedeutung der emotionalen Bedeutung von Gedächtnisinhalten untersucht [21]. Hierbei zeigte sich, dass subanästhetische Konzentrationen von Anästhetika ihre amnestische Wirkung zuerst bei positiven und neutralen

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Bildern entfalten. Die visuelle Erinnerung emotional negativer Inhalte wird erst bei höheren Konzentrationen GABA-erger Anästhetika unterdrückt. Im Tierversuch wurde gezeigt, dass diese emotionalen Inhalte in den Amygdala gespeichert werden und die amnestische Wirkung von Sevofluran auf emotionale Inhalte durch Läsion der Amygdala aufgehoben wird [1 ]. In der klinischen Anästhesie ist eine Überwachung der amnestischen Anästhetikawirkung leider erst nachträglich möglich, d.h. postoperativ lässt sich überprüfen, ob die amnestische Wirkung während des Eingriffs ausreichend war. Eine Steuerung nach Wirkung ist so nicht möglich. Eventuell könnten hier ereigniskorrelierte akustisch evozierte Potentiale (event-related potentials, ERP) eine Möglichkeit des Monitorings eröffnen [30]. Nachträgliche Erfassung und möglicherweise intraoperative Überwachung amnestischer Wirkung von Anästhetika bezieht sich derzeit vor allem auf explizite Erinnerung. Implizite (unbewusste) und emotionale Erinnerung sind im klinischen Alltag ohne spezielle Stimulations- und Untersuchungsparadigmen kaum zu überprüfen. Dennoch muss davon ausgegangen werde, dass beide Folgen für den Patienten haben.

Ausschaltung des Bewusstseins Die Ausschaltung bewusster Wahrnehmung (Bewusstlosigkeit) stellt eine Schlüsselkomponente der Anästhesie dar. Derzeit ist Gegenstand der Diskussion, ob die komplette Ausschaltung des Bewusstseins (Consciousness) oder die Unterbrechung der Verbindung zur Umgebung (Connectedness) für den Zustand „Allgemeinanästhesie" erforderlich ist [24]. Als Beispiel hierfür wird der Zustand des Träumens während physiologischem Schlaf angeführt. Hier durchlebt der Patient bewusst Ereignisse (Consciousness), diese spiegeln jedoch nicht zeitgleiche Ereignisse aus seiner Umgebung wider (keine Connectedness). Die Schwierigkeit bei dieser Darstellung betrifft die präzise klinische Unterscheidung von Bewusstsein und Verbindung zur Umgebung. Das neuronale Korrelat für Anästhetika-induzierte Bewusstlosigkeit wurde mit neuronaler Bildgebung identifiziert. In der funktionellen Magnetresonanztomographie zeigt sich, dass Anästhetika-induzierte Bewusstlosigkeit zu einer Abnahme der kortiko-kortikalen und thalamo-kortikalen funktionellen Konnektivität führt, während funktionelle Konnektivität in den primär sensorischen Netzwerken erhalten oder verstärkt ist [9, 12]. Im EEG lässt sich entsprechend eine Abnahme der fronto-parietalen und fronto-occipitalen Feedback-Verbindung (gerichteter Informationstransfer) nachweisen. Die symbolische Transferentropie kann diese Abnahme der FeedbackKonnektivität aus dem EEG nachweisen [12, 15-16]. Somit steht ein Mechanismus-basiertes, spezifisches Maß dieser physiologischen Funktion zur Verfügung. Klinische Untersuchungen zu Ergebnis und Nutzen einer gezielten Überwachung oder Steuerung mit Mechanismusbasierten Monitoren stehen noch aus.

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Monitore der Hirnfunktion während Anästhesie Seit den 1990er Jahren finden zunehmend EEG-basierte Monitore ihren Weg in die klinische Anwendung. Sie versprechen eine Erfassung der Anästhetikawirkung am primären Zielorgan der Allgemeinanästhesie - dem Gehirn. Die Erfassung elektrischer Aktivität auf der Oberfläche der Kopfhaut (EEG) gibt so einen Einblick in die Aktivität des Gehirns. Insbesondere kortikale Wirkung, aber auch der Einfluss aus tieferen Regionen auf kortikale elektrische Aktivität wird im EEG widergespiegelt. Leider spiegeln die analysierten Signale nicht nur elektrische Aktivität des Gehirns wider. Der Frequenzbereich des EMG der Skalpmuskulatur überschneidet sich z.T. mit den EEGFrequenzen, insbesondere im hochfrequenten Bereich sind die Anteile kaum zu trennen. Die Indexwerte der probabilistischen Monitore beruhen somit auf Mischsignalen aus EEG (Zielorgan der „hypnotischen" Wirkung) und EMG (unspezifisch, Muskelaktivität der Skalpmuskulatur). Das derzeit angewandte Monitoring der Hirnfunktion folgt keinem Mechanismusbasierten, sondern einem probabilistischen Ansatz. Hierfür werden mathematische und statistische Methoden angewandt, um aus elektrischen Signalen, die die Aktivität des primären Zielorgans der Anästhesie, des Gehirns, widerspiegeln, einen Indexwert zu konstruieren [23]. Dieser korreliert laut Hersteller mit der „hypnotischen Komponente der Anästhesie". In den klinischen Validierungen dieser Parameter wurde überwiegend die Verbindung zur Umgebung (,,Connectedness", Antwort auf eine Aufforderung) [11] und die Gedächtnisfunktion (explizite Erinnerung nach Anästhesie) überprüft [19].

Folgen „Flacher" Narkose lntraoperative Wachheitszustände entstehen bei erhaltener Verbindung zur Umgebung (Connectedness) oder fehlender Ausschaltung des Bewusstseins. Kommt eine unzureichender Ausschaltung bewusster Erinnerung hinzu, spricht man von intraoperativer Wachheit mit bewusster Erinnerung (Awareness). Diese .kann zu akuten postoperativen Belastungsreaktionen, im Extremfall zur (persistierenden) posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) führen [8,25]. In zahlreichen Studien wurde der Einfluss von proabilistischem EEG-basiertem Monitoring auf Awareness untersucht [3,5, 6-19]: die lnzidenz von Awareness bei Hochrisikopatienten ist bei total intravenöser Anästhesie geringer unter Monitoring (und entsprechend eingestellten Alarmen) des Bispektral Index (BIS). Bei der Anwendung von lnhalationsanästhetika kann eine Senkung entweder durch Überwachung und Alarmierung nach BIS, oder aber nach endexpiratorischer Konzentration des lnhalationsanästhetikums erreicht werden [4].

Folgen „tiefer" Narkose Ebenfalls auf der Basis probabilistischen Monitorings wurde die Folge zu niedrigen Indexwerte untersucht. Die probabilistischen Monitore der Hirn (EEG) und Muskelaktivität (EMG) sind vor allem im Bereich der hohen Indexwerte störanfällig. Zum Beispiel zeigt der BIS bei relaxierten Patienten eine „tiefe"

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hypnotische Komponente an. Im Falle „tiefer" hypnotischer Komponente ist diese Störanfälligkeit geringer. Die Berechnung des BIS erfolgt bei niedrigen Werten ausschließlich auf der Grundlage des Burst-Suppression Verhältnisses des EEG [1 O].

tionen unterworfen. Dies erfordert eine multidimensionale Beschreibung der Allgemeinanästhesie. Zukünftiges Monitoring sollte auch spezifisch die einzelnen Komponenten dieser multidimensionalen Beschreibung erfassen.

In multifaktoriellen Analysen zeigte sich, dass zu niedrige Indexwerte abhängig von der Dauer dieses Zustandes mit einer erhöhten postoperativen Mortalität über einen Zeitraum von Monaten bis Jahren assoziiert sind [17] .

Während durch unzureichende Ausschaltung der Verbindung zur Umgebung (,,Connectedness") oder des Bewusstseins Awareness entstehen kann, gibt es zunehmend Hinweise, dass unnötig hohe Anästhetikadosen ebenfalls negative Folgen haben können. Insbesondere Konzentrationen, bei denen im EEG das unphysiologische Muster Burst Suppression auftritt, können mit Delir, kognitiver Verschlechterung oder sogar mit erhöhter Mortalität assoziiert sein.

Diese ersten Beobachtungen wurden bei kardiochirurgischen Patienten bestätigt [13], bei nicht-kardiochirurgischen Patienten ließ sich dies durch die Ergebnisse einer anderen Arbeitsgruppe nicht bestätigen [14]. Letztlich beruhen die Erkenntnisse auf der Analyse großer Datenbanken und können Korrelationen, aber keine Kausalitäten aufzeigen [7]. Eine mögliche Verschlechterung des Langzeitergebnisses betrifft jedoch nicht nur die Mortalität, sondern auch die kognitive Leistungsfähigkeit. Insbesondere ältere Patienten und Patienten mit eingeschränkter kognitiver Reserve scheinen hier gefährdet. Das Auftreten eines postoperativen Delirs stellt einen Risikofaktor für die Entwicklung eines postoperativen kognitiven Defizites dar. Hierzu existieren erste Studien, die zwar alle methodische oder analytische Schwächen aufweisen, aber deutliche erste Hinweise geben. Eine Metaanalyse der aktuellen Studien weist auch hier auf einen negativen Einfluss niedriger Indexwerte - und dem Auftreten des unphysiologischen Musters Burst Suppression im EEG hin [31]. Derzeit untersucht eine prospektive randomisierte Studie den Einfluss unterschiedlicher Indexwerte auf das Langzeitergebnis operativer Patienten. Näher am Konzept der multiparametrischen Definition von Narkosewirkungen fand die Arbeitsgruppe von Sessler, dass insbesondere Patienten mit einer Kombination aus niedrigem Blutdruck, niedrigem BIS und niedriger Anästhetikakonzentration (Triple Low) schlechte Langzeitergebnisse zeigen. Dies könnte auf eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Anästhetika hinweisen. Zum anderen ist Burst Suppression nicht nur ein unphysiologischer Zustand, der bei hohen Anästhetikakonzentrationen im EEG auftritt, sondern kann auch auf Hypoperfusion und Ischämie hinweisen. Somit könnte dies auch die Reaktion des Gehirns auf die Komponente 11 niedriger Blutdruck" darstellen. Auch bei „Triple Low" handelt es sich um eine statistische Identifikation einer Korrelation, auch hier ist eine Beurteilung der Kausalität nicht möglich. Derzeit läuft auch zu diesem Thema eine Interventionsstudie, die den Einfluss von Therapie des „Triple Low" auf das Langzeitergebnis von Patienten untersucht.

Fazit Der Begriff „Narkosetiefe" scheint zwar intuitiv verständlich, ermöglicht jedoch keine adäquate Beschreibung zeitgemäßer Anästhesie. Der Mensch während Allgemeinanästhesie ist kein U-Boot, sondern gezielter Beeinflussung multipler Einzelfunk-

„Narkosetiefe" - Grenzen und Möglichkeiten · G. Schneider

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36

„Narkosetiefe" - Grenzen und Möglichkeiten · G. Schneider

Mai 2015 • Düsseldorf

Antikoagulantien und Regionalanästhesie - wie verfahren? Anticoagulants and regional anaesthesia - how to proceedl K. Waurick

Zusammenfassung

Summary

Rückenmarksnahe Regionalanästhesieverfahren unter Antikoagulation erfordern eine individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung aufgrund des Risikos spinaler epiduraler Hämatome. Bei Unterbrechen einer Antikoagulation muss dem individuellen patientenspezifischen Risiko thrombembolischer und ischämischer Komplikationen Rechnung getragen werden.

Performing neuroaxial regional anesthesia in patients receiving antithrombotic drugs remains an individual risk-benefit analysis. In particular the patients individual risk of thromboembolic and ischemic complications as a result of interrupting the anticoagulation must be taken into account.

Die Empfehlungen zum Umgang mit Antikoagulantien und Thrombozytenaggregationshemmern sollen die Entscheidungen für oder wider ein neuroaxiales Verfahren erleichtern. Die Einhaltung substanzspezifischer Zeitintervalle ermöglicht die Punktion zum Zeitpunkt von Talspiegeln mit einem reduzierten Risiko spinaler epiduraler Hämatome. Als Faustregel gilt bei nierengesunden Patienten ein Zeitintervall von zwei Halbwertszeiten zwischen letzter (prophylaktischer) Applikation und neuroaxialer Punktion als ausreichender Sicherheitsabstand. Bei Niereninsuffizienz oder „therapeutischer" Antikoagulation sollte das Zeitintervall auf 4-5 Halbwertszeiten ausgedehnt werden. Werden zusätzlich zu einer niedrigdosierten AcetylsalicylsäureTherapie antithrombotische Medikamente in prophylaktischer Dosis verabreicht, sollten diese 4-5 HWZ vor neuroaxialer Punktion/ Kathetermanipulation pausiert werden. Allerdings erscheint eine neuroaxiale Blockade unter Actetylsalicylsäure zum jetzigen Zeitpunkt nur unter prophylaktischer NMH oder Fondaparinux Gabe nach Verlängerung des Zeitintervalls zwischen letztmaliger Gabe und Punktion/Katheterentfernung von 36-42 h sicher. Bei Kombinationstherapien von Acetylsalicylsäure mit allen anderen Antikoagulantien, ausgenommen unfraktioniertem Heparin, muss zum jetzigen Zeitpunkt von einer neuroaxialen Blockade abgeraten werden. Im Hinblick auf die geringe lnzidenz spinaler epiduraler 1-!ämatome dürfen trotz fehlender Fallberichte zu spinalen epiduralen Hämatomen unter den neueren Antikoagulantien wie Hirudinen, Fondaparinux und den neuen oralen Antikoagulantien keine voreiligen Rückschlüsse auf deren generelle Sicherheit bei neuroaxialen Blockaden gezogen werden. Schlüsselwörter: Regionalanästhesie - Spinales epidurales Hämatom - Antithrombotische Medikation - Heparine - neue orale Antikoagulantien

Antikoagulantien und Regionalanästhesie - wie verfahren? · K. Waurick

Guidelines on neuroaxial anesthesia and anticoagulants aim to assist anesthesiologists to facilitate decisions for or against neuroaxial blockades. Compliance with the substance-specific time interval allows puncture within lowest anticoagulant blood levels. As a rule of thumb a time interval of two half-lives between last (prophylactic) administration and neuroaxial puncture is considered as an adequate safety margin. In renal insufficiency or „therapeutic" anticoagulation the time interval should be extended to 4-5 half-lives. In addition to low-dose acetylsalicylic acid therapy antithrombotic drugs in prophylactic dose should be paused 4-5 half-times before neuroaxial puncture/catheter manipulation. However to date, a neuroaxial blockade in patients receiving acetylsalicylic acid appears to be safe only in combination with prophylactic LMWH or fondaparinux by extending the time interval between the last dose and puncture/catheter removal to 36-42 h. For all other anticoagulants, except unfractionated heparin, one must be discouraged from performing a central nerve block while simultaneously administration of acetylsalicylic acid. In view of the low incidence of spinal epidural hematoma and the lack of reports of spinal epidural haematoma with newer antithrombotic drugs, like hirudins, fondaparinux and the new oral anticoagulants there is no reason to conclude about their safety during neuroaxial procedures. lt is rather based on lack of experience. Keywords: Regional Anesthesia - Spinal Epidural Haematoma -Antithrombotic Drugs - Heparin - New Oral Anticoagulants

Einleitung Die Zulassung zahlreicher neuer Antikoagulantien und Thrombozytenaggregationshemmer hat die DGAI veranlasst, die Empfehlung zu „Rückenmarksnahen Regionalanästhesien und Thrombembolieprophylaxe/antithrombotische Medikation" aus

37

Mai 2015 · Düsseldorf

dem Jahr 2007 sowie die Empfehlung zu peripheren Blockadetechniken unter Antikoagulation zu überarbeiten 11]. Die Durchführung rückenmarksnaher Anästhesien bei Patienten unter geplanter oder fortlaufender Antikoagulation erfordert eine individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung, wobei nicht nur das Risiko spinaler epiduraler Hämatome, sondern auch das individuelle Risiko thrombembolischer und ischämischer Komplikationen nach Absetzen der Antikoagulation und/oder Plättchenaggregationshemmung berücksichtigt werden muss. Das Risiko spinaler epiduraler Hämatome nach Spinalanästhesien wird international derzeit mit 1:40.800 bis 1:156.000 und nach Epiduralanästhesien mit 1:3.100 bis 1:200.000 beziffert, wobei die geringste lnzidenz (1 :200.000) bei geburtshilflichen Verfahren angegeben wird 11,2]. Angeborene und erworbene Koagulopathien, Thrombozytopenien und -pathien, die Einnahme gerinnungshemmender Substanzen, anatomische und degenerative Wirbelsäulenveränderungen, ein höheres Patientenalter und weibliches Geschlecht zählen zu den patienteneigenen Risikofaktoren. Darüber hinaus ist das Risiko spinaler epiduraler Hämatome insbesondere bei orthopädischen und unfallchirurgischen Operationen, bei Mehrfach- und blutigen Punktionen sowie bei schwierigen Katheterplatzierungen erhöht 13,4]. Nach Etablierung von Leitlinien im Umgang mit rückenmarksnahen Regionalanästhesien und Antikoagulation scheint insbesondere eine klinisch inapparente Niereninsuffizienz mit Akkumulation gerinnungshemmender Medikamente der wesentliche Risikofaktor für spinale epidurale Hämatome zu sein 15).

Vorgehen bei neuroaxialen Blockaden Allgemeine Empfehlungen im Umgang mit antithrombotischer Medikation bei geplanten neuroaxialen Blockaden Bei allen Patienten unter Antikoagulation, bei denen ein rückenmarksnahes Regionalanästhesieverfahren geplant ist, erfolgt eine Risikoevaluation hinsichtlich ihres individuellen Blutungs- und Thrombembolierisikos. Der CHA2DS2-VAScScore sollte zur Evaluation des Thrombembolie-Risikos bei Patienten mit chronischem Vorhofflimmern herangezogen werden (Tab.1) 161; der HAS-BLEO-Score (Tab. 2) 17] ermöglicht die Einschätzung des Blutungsrisikos. Generell gilt, Patienten mit einem CHA2DS2-VASc-Score ~2 haben ein deutlich erhöhtes thrombembolisches Risiko; mit Zunahme der Risikofaktoren im HAS-BLED-Score steigt das Blutungsrisiko exponentiell an. · Den Empfehlungen der deutschen Gesellschaft für Kardiologie entsprechend sollte die duale Plättchenaggregationshemmung nach Implantation eines BMS (bare metal stents) mindestens über 4 Wochen, nach Implantation eines DES (drug eluting stents) mindestens über 6 Monate fortgesetzt werden l8,9].

38

Aufgrund der Seltenheit spinaler epiduraler Hämatome und der zum heutigen Zeitpunkt geringen Erfahrung im Umgang mit den neuen oralen Antikoagulantien und neueren Thrombozytenaggregationshemmern bei neuroaxialer Blockaden, beruhen die Empfehlungen vorwiegend auf den pharmakokinetischen Eigenschaften der Substanzen, Fallbeschreibungen und Expertenmeinungen. In Abhängigkeit von der substanzspezifischen Halbwertszeit (HWZ), dem Zeitpunkt bis zum Erreichen .des Plasmaspitzenspiegels und der renalen Funktion werden die Substanzen periprozedural pausiert 110]. Nicht nur die Anlage, sondern jede Form der Kathetermanipulation gilt als kritische Phase in der Entstehung von spinalen epiduralen Hämatomen, daher gelten für die neuroaxiale Katheterplatzierung und -entfernung (Kathetermanipulation) die gleichen empfohlenen Zeitintervalle 111]. Ziel des Einhaltens der Zeitintervalle ist es, die Punktionen/Katheterentfernungen zum Zeitpunkt der Talspiegel durchzuführen.

Als Faustregel kann ein Sicherheitsabstand von zwei Halbwertszeiten zwischen letzter Applikation und neuroaxialem Verfahren als ausreichender Sicherheitsabstand angesehen werden.

Tabelle 1

CHA2DS2-VASc-Score zur Abschätzung des Schlaganfallrisikos bei Patienten mit Vorhofflimmern (max. 9 Punkte) (Lip, Nieuwlaat, Pisters, Lane, & Crijns, 2010).

isc!l~e

Parameter

•I 1

;,

Punkt

CHA2DS2-VASc-Score C

Herzinsuffizienz (congestive heart failure)

1

H

Hypertonie

1

A2

Alter ;,,75

2

D

Diabetes mellitus

1

S2

Vorangegangener Schlaganfall/flNEmbolie

2

V

Periphere arterielle Verschlusskrankheit

1

A

Alter 65-74 Jahre

1

Sc (,,sex category")

Weibliches Geschlecht

1

Tabelle 2

HAS-BLED-Score (Pisters et al., 2010). ~

~linische Pa!~~~

_

Punkte

--~

H

Hypertension

1

A

Abnormale Nieren-/ Leberfunktion (je 1 Punkt)

1 oder 2

s

Stroke

1

B

Bl utung

1

L

Labile INRs

1

E

Alter (elderly)

1

D

Drogen und Alkohol (je 1 Punkt)

1 oder 2

Antikoagulantien und Regionalanästhesie - wie verfahren?· K. Waurick

Mai 2015 · Düsseldorf

Tabelle 3 Empfohlene Zeitintervalle vor und nach rückenmarknaher Punktion bzw. Katheterentfernung (Waurick K, Riess H, Van Aken H, Kessler P, Gogarten W, 2014). Substanz

Halbwertszeit

Vor Punktion/

Nach Punktion/

K.1tlwterenli1•rnung

Kallwfl>renlit•rnung

Laborkontrolle

Unfraktionierte Heparine (Prophylaxe)

1,5-2 h

4h

1h

Thrombozyten bei Anwendung >5 d

Unfraktionierte Heparine (Therapie)

2-3 h

i.v. 4-6 h s.c. 8-12 h

1h

aPTT, (ACT), Thrombozyten

Niedermolekulare Heparine (Prophylaxe)

4-6 h; $

12 h

4h

Thrombozyten bei Anwendung >5 d

24 h

4h

Thrombozyten, Anti-Xa-Spiegel Anti-Xa-Spiegel

Niedermolekulare Heparine (Therapie) Fondaparinux (1 x2,5 mg/d)

15-20 h; $

36-42 h

6-12 h

Danaparoid (2x750 I.EJd)

22-24 h; $

48 h

3-4 h

Anti-Xa-Spiegel

Natriumpentosanpolysulfat (max. 2x50 mg)

24 h

48 h

8h

Thrombozyten

Hirudine Desirudin Bivalirudin•

120 min;$$ 25 min; $$

8-10 h 4h

6h Sh

aPTT, ECT ACT

Argatroban (Prophylaxe) §

35-45 min

4h

5-7 h

aPTT, ECT, ACT

Dabigatran (max. 1xl 50-220 mg/d)

14-17 h; $

28-34 h

6h

aPTr♦,

Dabigatran (max. 2x150 mg/d)#

14-17 h; $

56-85 h

6h

aPTT•, ECT, TT++

Rivaroxaban (1 xl 0 mg/d)

11-13h;($)

22-26 h

4-5,5 h

PP; kalibrierte Anti-Xa-Spiegel

Rivaroxaban (2x15 mg/d, 1x20 mg/d)#

11-13 h; ($)

44-65 h

4-5,5 h

PP; kalibrierte Anti-Xa-Spiegel

Apixaban (2x2,5 mg/d)

10-15 h; ($)

26-30 h

5-7 h

PP, kalibrierte Anti-Xa-Spiegel

Apixaban (2x5 mg/d)#

10-15 h; ($)

40-75 h

5-7 h

PP, kalibrierte Anti-Xa-Spiegel

Vitamin-K-Antagonisten

Tage

INR 6 Jahre

Serum für Stoffwechseluntersuchung Blutgruppe, Kreuzblut, Bedside Test LDH, Harnsäure (Onkologie)

80

KUSS Skala für postoperative Kinder 0-4 Jahre [22] Comfort B Score für beatmete bzw. spontanatmende, retardierte Kinder (0-18 Jahre) [23]

lntensivmedizinische Erstversorgung des Kindes· S. Brenner

Mai 2015 • Düsseldorf

der Eltern während z.B. einer Reanimation sich positiv auf die Verarbeitung des psychischen Traumas auswirkt [18, 19]. Die weitläufige Befürchtung, dass Eltern die Behandlung ihres Kindes durch ihre Anwesenheit stören könnten hat sich grundsätzlich nicht bestätigt. Durch Hinzuziehen eines Kriseninterventionsteams (KIT) für die Elternbetreuung kann eine erhebliche Entlastung des medizinischen Personals erzielt werden. Des Weiteren muss an die Betreuung etwaiger Geschwisterkinder gedacht werden. Um einen effizienten und reibungslosen Ablauf der intensivmedizinischen Erstversorgung eines Kindes zu gewährleisten, muss das medizinische Personal in regelmäßigen Abständen geschult werden [20,21]. Hierzu zählen neben theoretischen Weiterbildungen, Reanimationstrainings sowie Teamtrainings am Patientensimulator (medizinische und nicht-medizinische Aspekte), in welchen das Erkennen und die Therapie spezieller Krankheitsbilder im Vordergrund stehen. Interne Leitlinien, Algorithmen und gut zugängliche oder sichtbare Flow-Charts erleichtern dabei die Versorgung des Kindes in kritischen Situationen. Ehrliche Umgangsformen mit gewachsener Fehlerkultur sowie Nachbesprechungen schwieriger bzw. belastender Fälle im Team helfen die Versorgung kritisch kranker Kinder weiter zu optimieren und die eigene emotionale Belastung zu reduzieren.

Danksagung Ich möchte Frau PD Dr. Sigrun Hofmann und Herrn PD Dr. Christoph Eich ganz herzlich für die kritische Durchsicht des Artikels und für die Diskussion danken.

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lntensivmedizinische Erstversorgung des Kindes • S. Brenner

81

Refresher Course Nr. 41

Aktuelles Wissen für Anästhesisten

Mai 2015 · Düsseldorf

23. lsta E, van DM, nbboel D, de HM: Assessment of sedation levels in ·pediatric intensive care patients can be improved by using the COMFORT „behavior" scale. Pediatr Crit Care Med 2005 January;6(1 ):58-63.

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lntensivmedizinische Erstversorgung des Kindes · S. Brenner

Aktuelles Wissen für Anästhesisten

Refresher Course Nr. 41 Mai 2015 • Düsseldorf

Early Goal Directed Therapy - eine Neubewertung Early Goal Directed Therapy - a Reevaluation G. Huschak • T. Busch · U. X. Kaisers

Zusammenfassung Das ursprüngliche Konzept der Early Goal Directed Therapy (EGDT, frühe zielorientierte Therapie) beschreibt eine protokollbasierte und an festen Parametern orientierte Behandlungsstrategie für Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock in der Notfallaufnahme. Die grundlegende Studie von Rivers et al. führte zu tief greifenden Änderungen der Sepsistherapie, ohne dass allerdings die Resultate zuvor unabhängig repliziert worden waren. Die Zielparameter der EGDT sind der zentralvenöse Druck (ZVD), der mittlere arterielle Blutdruck (MAD), die Diurese sowie die zentralvenöse Sauerstoffsättigung (ScvO2). Aktuell liegen mit der ARISE- und der ProCESSStudie jetzt zwei weitere randomisierte kontrollierte Studien vor, deren Daten die Notwendigkeit des Erreichens der von Rivers et al. genannten Zielgrößen in Frage stellen. In beiden Studien wurden Patienten in der Frühphase einer schweren Sepsis oder eines septischen Schocks eingeschlossen. Die Erreichung von konkreten Zielparametern nach Studieneinschluss führte im Vergleich zur Standardbehandlung nicht zu einer Reduktion der Sterblichkeit. Die EGDT ist damit jedoch nicht obsolet, auch wenn die Erreichung der von Rivers et al. vorgegebenen Zielparameter nicht zwingend erscheint. Die essentiellen Elemente der initialen Therapie der Sepsis bleiben die frühzeitige Diagnosestellung, der möglichst sofortige Beginn einer kalkulierten Antibiotikabehandlung mit Fokussanierung, die adäquate Volumentherapie zur hämodynamischen Stabilisierung sowie die engmaschige klinische Re-Evaluation der Kreislauffunktion. Die vorliegende Darstellung bewertet die EGDT der Sepsis unter Berücksichtigung der aktuellen Studienlage. Schlüsselwörter: Early Goal Directed Therapy- EGDT - Sepsis - Schock - Flüssigkeitstherapie

the question whether the use of fixed target parameters is further useful. Patients were included in the early phase of severe sepsis or septic shock in both studies. The achievement of the parameter values defined by Rivers et al. did not result in a reduction in mortality compared to standard care. However, EGDT is not obsolete. The essential elements of initial treatment of sepsis remain the early diagnosis, prompt antimicrobial therapy together with source control, adequate fluid resuscitation and close clinical re-evaluation of the circulatory function. Keywords: Early goal directed therapy - EGDT - sepsis - shock - fluid therapy

Einleitung Das ursprüngliche Prinzip der Early Goal Directed Therapy (EGDT, frühe zielorientierte Therapie) bezog sich auf eine Behandlungsstrategie bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock in der Notfallaufnahme. EGDT wurde durch Rivers et al. im Jahr 2001 erstmalig vorgestellt und führte zu einer klinisch relevanten Verminderung der Sterblichkeit [1]. Die wesentlichen Zielparameter (Tab. 1) dieses Therapiekonzepts sind der zentralvenöse Druck (ZVD), der mittlere arterielle Blutdruck (MAD), die Diurese und die zentralvenöse Sauerstoffsättigung (ScvO2). Die Erreichung definierter Werte für diese Größen innerhalb eines kritischen Zeitfensters von 6 h führte in der Arbeit von Rivers zu einer Absenkung der Krankenhaussterblichkeit von 46,5% auf 30,5% (p=0.009) [1] und stellte einen Meilenstein in der SepsisTherapie dar. Aus diesem Grund wurde das beschriebene Protokoll breit implementiert und fand Berücksichtigung in aktuellen Leitlinien zur Therapie der Sepsis [2,3] .

Summary The original concept of Early Goal Directed Therapy (EGDT) describes a treatment protocol based on fixed parameters for patients with severe sepsis and septic shock in the emergency department. The landmark study by Rivers et al. led to profound changes in sepsis therapy; however, the results had previously not been independently replicated. The target parameters of EGDT are central venous pressure (CVP), mean arterial blood pressure (MAP), diuresis and central venous oxygen saturation (ScvO). Currently, the ProCESS- and the ARISE-study are now available. The data of both randomized controlled trails raise

Tabelle 1

Zielparameter und angestrebte Werte bei der klassischen Early Goal Directed Therapy (EGDn nach Rivers et al. (1 ). Zielparamelt•r

Wert

Zentralvenöser Druck (ZVD)

;,:8-12 mmHg

Mittlerer arterieller Blutdruck (MAP)

;,:65 mmHg

Diurese

;,:0,5 ml/kglh

Zentralvenöse Sauerstoffsättigung (ScvO,)

;,:70%

Early Goal Directed Therapy- eine Neubewertung · G. Huschak · T. Busch · U. X. Kaisers

1

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Refresher Course Nr. 41

Aktuelles Wissen für Anästhesisten

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lnzidenz des septischen Schocks von 95 Fällen/100.000 Einwohner, der schweren Sepsis von 144 Fällen/100.000 Einwohner und der Sepsis von 231 Fällen/100.000 Einwohner [7]. Die zunehmende Bedeutung des Krankheitsbildes der Sepsis wird unterstrichen durch die jährliche Zunahme der Zahl von Patienten, die intensivmedizinisch behandelt wurden [7,8]. Eine auf 171 australischen und neuseeländischen Intensivstationen im Zeitraum der Jahre 2000-2012 durchgeführte Observationsstudie an 101.064 Patienten zeigte eine nahezu lineare Zunahme der jährlichen Fallzahl [8] (Abb. 1). Trotz der Fallzahlzunahme zeigen die Daten dieser Studie eine Verminderung der Sterblichkeit im Verlauf der Jahre 2000-2012. Diese Verringerung ist möglicherweise ein Effekt der verbesserten Diagnosestellung mit frühzeitigem Behandlungsbeginn. Unstrittig ist die Zunahme der Fälle mit Sepsis in allen industrialisierten Ländern nachweisbar, so dass das Krankheitsbild der Sepsis tatsächlich für jeden praktizierenden Arzt relevant ist.

Die kritischen Elemente bei der Therapie der Sepsis sind 1.) die frühzeitige Erkennung sowie 2.) der möglichst sofortige Beginn der Therapie und 3.) deren Reevaluation. Das Prinzip erscheint auf den ersten Blick logisch und einfach realisierbar, erfordert im klinischen Alltag aber erhebliche Anstrengungen. Jede schwere Sepsis ist ein zeitkritischer Notfall. Eine verzögerte Therapie verschlechtert die Prognose erheblich (4,5]. Der Grundsatz der frühzeitigen Initiierung einer Therapie ist nicht nur für das Krankheitsbild der Sepsis, sondern zum Beispiel auch für die akutmedizinische Versorgung von Patienten mit Polytrauma, Schlaganfall, Darmischämie oder Myokardinfarkt essentiell [6]. Die Betonung liegt auf dem Faktor Zeit, so dass die Vorhaltung von adäquat ausgestatteten Versorgungsstrukturen mit definierten Algorithmen sinnvoll ist. Der EGDT läge somit ein universales Therapieprinzip zu Grunde. Im Folgenden wird eine Neubewertung der EGDT am Beispiel des erstbeschriebenen Krankheitsbildes - der Therapie der Sepsis - unternommen. Der Fokus liegt hierbei auf der Erkennung des Krankheitsbildes, der Auswahl der Zielparameter und der Betrachtung von evaluierten Therapieprotokollen.

ProCESS- und ARISE-Studie Die Rivers-Studie führte zu einer tief greifenden Änderung der Sepsistherapie, ohne dass die Studie vorher unabhängig repliziert wurde. In Leitlinien wurden sogar höchste Empfehlungsgrade ausgesprochen. Andererseits ist bekannt, dass statische hämodynamische Zielwerte wie z.B. der in der Studie verwendete ZVD wenig über die Volumenreagibilität eines Schockpatienten aussagen. Es gab also zahlreiche gute Gründe für „Bestätigungsstudien", die nun vorliegen.

Klinische Relevanz Bei der Sepsis handelt es sich um ein häufiges und klinisch relevantes Krankheitsbild verschiedener Ursachen. Aktuelle, auf Basis der ICD Sepsis Codes (ICD-9, engl. International Classification of Diseases) in den USA erhobene Daten zeigten in einer 6-Jahresperiode von 2004 bis 2009 eine jährliche

Abbildung 1 -

tot

-

nach Hause

=

Rehabilitation

=

sonstiges 14000

100

12000

90 80

10000

70 8000

60

50

6000

40 4000

30 20

2000

10 0

0 2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

Jahr Outcome von 101.064 Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock in den Jahren 2000 bis 2012. Daten aus [81 incl. ergänzender online Daten.

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Tabelle 2

Outcome- und ausgewählte Basis- und Verlaufsparameter der Sepsistherapie in der ProCESS (10)- und ARISE-Studie (91

EGDT

Standard

ProtkokollEGDT

ProtokollStandard

Standard

21

18

19 19

19

Dauer der lntensivtherapie (d)

5,1

5,1

4,7

2,8

2,8

APACHE II Score

21

21

21

15

16

Dauer Krankenhausaufnahme bis zur Randomisierung (min)

197

185

181

168

162

2,3±1,5

2,3±1,4

2,1±1,4

2,5±1,2

2,6±1,3

19%

17%

15%

22%

22%

Krankenhaussterblichkeit (60 d, %) Krankenhaussterblichkeit (90 d, %)

Zeitraum Aufnahme bis zur Randomisierung (1-3 h)

Intravenöse Flüssigkeitsgabe (1) Vasopressorgabe Zeitraum Randomisierung bis 6 h

ZVK-Anlage

93%

57%

58%

90%

62%

2,8±2,0

3,3±1,7

2,3±1,9

2,0±1,4

1,7±1,4

Vasopressorgabe

55%

52%

44%

67%

58%

Transfusion Erythrozytenkonzentrat

14%

8%

8%

14%

7%

4,6±3,9

4,9±4,3

4,4±3,9

4,3±3,1

4,4±3, 1

48%

47%

43%

59%

52%

Intravenöse Flüssigkeitsgabe (1)

Zeitraum 6-72 h

Intravenöse Flüssigkeitsgabe (1) Vasopressorgabe

Hierbei sind insbesondere die ARISE [9] - und ProCESS [1 O]Studie zu nennen. In beiden Studien wurden Patienten in der Frühphase der schweren Sepsis oder des septischem Schocks untersucht. Bei der ProCESS-Studie wurden 1.341 Patienten in drei Gruppen verglichen (protokollbasierte EGDT; protokollbasierte Standardbehandlung, übliche Behandlung ohne Protokoll). In der EGDT-Gruppe war die Anlage eines zentralen Venenkatheters vorgeschrieben; bei der Standardbehandlung erfolgte sie nur, wenn sie als notwendig erachtet wurde; hier orientierte sich die Entscheidung zur Flüssigkeitsgabe am systolischen arteriellen Blutdruck. Bei der üblichen Behandlung gab es keine durch das Studienprotokoll vorgegebene Intervention, sondern es wurde das sonst im jeweiligen Krankenhaus übliche Vorgehen beibehalten. Erstaunlicherweise unterschied sich die Sterblichkeit zwischen den Gruppen nicht, auch nicht in der Gruppe mit der üblichen Behandlung. Ähnliche Ergebnisse zeigte die ARISE-Studie mit insgesamt 1600 Patienten im frühen septischen Schock. Die Patienten wurden in eine EGDT-Gruppe und eine Standardbehandlungsgruppe randomisiert. Auch diese Arbeit zeigte, dass die EGDT die Sterblichkeit nicht verringerte. Eine Schlussfolgerung aus beiden Studien könnte sein, dass eine protokollbasierte EGDT keinen Nutzen zur Verringerung der Sterblichkeit bringt. Umgekehrt könnte aber auch der Schluss gelten, dass die EGDT hinsichtlich der Letalität keinen Schaden bedingt, wenngleich die lnvasivität der Therapie zum

Beispiel durch die Anlage eines zentralen Venenkatheters steigt. Eine solche Therapieintensivierung wäre bei fraglichem Nutzen jedoch abzulehnen. Tabelle 2 zeigt ausgewählte Parameter beider Studien. So fällt auf, dass die Patienten der ARISE-Studie beim Einschluss niedrigere APACHE-2-Werte als die Patienten der ProCESSStudie hatten. Ob dies zur unterschiedlichen Dauer der lntensivtherapie führte ist unklar. Beide Arbeiten zeigen die häufigere Gabe von Vasopressoren und Erythrozytenkonzentraten in den EGDT-Gruppen. Bei beiden Studien musste in allen Studienarmen eine antimikrobielle Chemotherapie vor Randomisierung appliziert werden; dies hatte möglicherweise einen größeren Einfluss auf die Zielparameter/die Sterblichkeit, als das jeweilige Flüssigkeitsmanagement nach dem Studieneinschluss. Der fehlende Unterschied in der Sterblichkeit kann auch dahingehend interpretiert werden, dass in allen Vergleichsgruppen letztlich rechtzeitig eine zur hämodynamischen Stabilisierung adäquate Flüssigkeitszufuhr erfolgte und dass dies auch ohne Orientierung am ZVD oder der zentralvenösen Oi-Sättigung erfolgen kann. Im Supplement zur ProCESS-Studie wird beschrieben, dass alle drei Studienarme schon jeweils mehr als 2 Liter Flüssigkeit erhielten, bevor erst nach dreistündiger Therapiedauer randomisiert wurde (Tab. 2). Summiert mit den Flüssigkeitsgaben in den anschließenden 3 h ergaben sich dann zwar signifikante, aber kaum klinisch relevante Unterschiede zur EGDT (EGDT

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5,06 I; protokollbasierter Standard 5,51 I; übliche Behandlung 4,36 I; siehe Tab. 2). Das mittlerweile durch die Leitlinien der Surviving Sepsis Campaign verbesserte Management der frühen Sepsistherapie wird auch durch die geringe Sterblichkeit der Gruppe mit üblicher Behandlung von 18-21 % deutlich (9, 10); in der ursprünglichen EGDT-Studie von Rivers et al. aus dem Jahr 2001 hatte die Letalität der Kontrollgruppe noch 46,5% betragen [1). Es bleibt vom originären Konzept der EGDT die Betonung der frühzeitigen Erkennung und Therapie der Sepsis (Abb. 3). Die Erreichung konkreter hämodynamischer Zielparameter und Hämoglobinwerte sind mehr oder weniger willkürlich und für ein erfolgreiches Therapiekonzept nicht zwingend erforderlich. Unter der Voraussetzung einer zeitgerechten Diagnose der Sepsis sind somit weniger invasive Strategien im Vergleich zur klassischen EGDT nach Rivers et al. denkbar (11 ).

Erkennen der Sepsis Die frühzeitige Diagnosestellung und sofortige Behandlung der Sepsis sind erfolgversprechend, jedoch ist in der frühen Krankheitsphase die Diagnose schwieriger als in fortgeschrittenen Stadien mit bereits vorhanden Organfunktionsstörungen (11). Hierzu wurden klare Kriterien erarbeitet, welche insbesondere durch die Surviving Sepsis Campaign bekannt gemacht wurden (12). Die S-2k Leitlinie zur „Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge der Sepsis" empfiehlt die Kriterien des deutschen Kompetenznetzwerkes Sepsis (SepNet) für die klinische Diagnose der schweren Sepsis bzw. des septischen

Abbildung 3 III. Reevaluation Kreislauffunktion

II. Fokussanierung

II. frühzeitige

und adäquate Antibiotikatherapie 1.

..

II. Adlquate Flli1'91111I,;..

Frilhzeitige Enennung Sepsis

Schlüsselelemente der Sepsistherapie.

Schocks zu verwen~en (2). Diese Kriterien sind mittlerweile grundlegendes ärztliches Wissen (Abb. 2). Nach der schnellen Diagnosestellung soll unverzüglich die Therapie beginnen, die als Schlüsselelement eine frühzeitige und adäquate Antibiotikatherapie beinhaltet. Die Bestimmung von Procalcitonin als „Sepsis-Marker" kann additiv zur Diagnose der Sepsis und Steuerung der antimikrobiellen Therapie erwogen werden (2,3). Eine klare Evidenz ist hierfür bislang noch nicht gegeben.

Frühzeitige und adäquate Antibiotikatherapie sowie Folmssanierung Bei der Initiierung der antibiotischen Therapie ist ein Zeitfenster von maximal einer Stunde nach der Diagnosestellung

Abbildung2 Arterielle Hypotension

• RR,y. s90 mmHG bzw. MAP s65 mmHG oder • Vasopressoreinsatz • Hypotonie trotz adäquater Volumengabe • keine anderen Ursachen

III.

Akute Organdysfunktion (mind. 1 Kriterium) • • • • •

II.

Encephalopathie Thrombozytopenie Hypoxämie renale Dysfunktion metabolische Azidose

Schwere Sepsis

SIRS (mind. 2 Kriterien), Sytemic inflammatory host response • • • •

1.

Septischer Schock

Fieber .t38 °C oder Hypothermie s36 •c Tachykardie .t90/min Tachypnoe (a.20/min) oder p.CO, s33 mmHg Leukozytose .t12*109/I oder Leukopenie "4*109/1 oder .t10% unreife Neutrophile

Sepsis

Nachweis einer Infektion • mikrobiologischer Nachweis oder klinische Kriterien

Diagnosekriterien für Sepsis, schwere Sepsis und septischen Schock nach den ACCP/SCCM Konsensus-Konferenz-Kriterien wie in den S-2k Leitlinien der Deutschen Sepsis-Gesellschaft e.V. (DSG) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) angegeben 12, 12).

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gefordert [3). Die Entnahme von Blutkulturen ist ebenfalls notwendig, soll jedoch die Antibiotikagabe nicht verzögern. Sofern bei Patienten mit Sepsis eine suffiziente Antibiotikatherapie verzögert wird, steigt das Risiko zu versterben nach Kumar et al. mit jeder Stunde um 7,6% [4, 13). Auch wenn diese drastische Sterblichkeitszunahme in anderen Arbeiten nicht reproduzierbar war, gilt es die Antibiotikatherapie nicht zu verzögern. Eine aktuelle retrospektive Studie von Ferrer et al. an 28.150 Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock bestätigt eine stetige Zunahme der Sterblichkeit von 1-1,52 Prozentpunkten pro Stunde bei Verzögerung der Antibiose innerhalb der ersten 6 h nach erfolgter Diagnose [14). Häufig ist jedoch keine Zeit für einen Erregernachweis vorhanden. Aus diesem Grund muss in aller Regel mit einer kalkulierten Therapie nach der Tarragona Strategie begonnen werden. Diese beinhaltet die Berücksichtigung der individuellen Risikofaktoren, der lokalen Resistenzsituation, den prompten und adäquaten Therapiebeginn, die entsprechende Pharmakokinetik des Antibiotikums sowie die geplante Reevaluation der gewählten Therapie [15, 16). Als Ergänzung ist eine Fokussanierung zu fordern. Sofern eine chirurgische oder interventionelle Herdsanierung möglich ist, soll diese ebenfalls so früh als möglich durchgeführt werden. Dies stellt besondere Herausforderungen an die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die frühzeitige und erfolgreiche operative oder interventionelle Fokussanierung ist ebenfalls ein wesentliches Schlüsselelement der Sepsistherapie. So konnte bei einer aktuellen multizentrischen Beobachtungsstudie an 1.011 Patienten gezeigt werden, dass eine Verzögerung der Sanierung um mehr als 6 Stunden zu einer Erhöhung der Sterblichkeit führt [17). Eine inadäquate Antibiotikatherapie war in dieser Untersuchung ebenfalls mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert [17). Zur weiteren supportiven Therapie werden Maßnahmenbündel empfohlen, welche innerhalb der ersten 6 Behandlungsstunden zu erreichen waren [2,3). Diese beinhalten zusätzlich zur frühzeitigen Antibiotikatherapie die EGDT (Tab. 1) die intensivierte Insulintherapie, Hydrokortisongabe, Gabe von rekombinantem aktiviertem Protein C, Begrenzung des Plateaudrucks bei maschineller Beatmung sowie Messungen der Laktatclearance. Für diese Bündelung konnte in früheren Arbeiten der Nachweis der Effektivität mit einer geringeren Sterblichkeit erbracht werden [18-20). Über die konkrete Auswirkung der jeweiligen Parameter, insbesondere der EGDT-Zielparameter besteht jedoch auf Grund der neueren Daten Unklarheit [9, 10). Insgesamt kann eine suffiziente Sepsistherapie offenbar auch ohne die Einhaltung der von Rivers et al. vorgeschlagenen Zielparameter gewährleistet werden. Es ist zu betonen, dass die frühzeitige Erkennung einer Sepsis, die frühzeitige Gabe von adäquaten Antibiotika, die Fokussanierung, die adäquate Gabe von Flüssigkeit und die klinische Reevaluation der Kreislauffunktion zusammen die Schlüsselelemente der Sepsistherapie darstellen [11).

EGDT-Zielparameter Im Rahmen der Sepsis kommt es oftmals zu relevanten kardiozirkulatorischen Störungen durch Vasodilatation und Einschränkung der myokardialen Pumpfunktion. Ein relevanter Teil intensivmedizinisch behandelter Patienten wird auf Grund der Katecholamintherapie mit einem zentralvenösen Katheter versorgt, so dass die Parameter zentralvenöser Druck und zentralvenöse Sauerstoffsättigung leicht erfasst werden können. Als Zielparameter der klassischen EGDT wurden der zentrale Venendruck, die zentralvenöse Sauerstoffsättigung (ScvO2) und der mittlere arterielle Blutdruck ausgewählt. Diese Parameter sollen Surrogate für die kardiale Vorlast, Pumpfunktion und Nachlast darstellen [21 ), um eine Steuerbarkeit im Sinne eines Regelkreises zur Verfügung zu haben. Dies führte zur Implementierung zahlreicher Protokolle mit Flussdiagrammen zur Entscheidungsfindung (z.B. ZVD 30% (entspricht einem Hb von ca. 10 g/dl oder 6 mmol/1) falls die ScvO2 innerhalb der ersten 6 h unter einen

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Wert von 70% fällt. Die ProCESS-Studie ergab einen signifikimt geringeren Transfusionsbedarf in den alternativen Studienarmen (siehe Tab. 2). Auch im weiteren Verlauf der Therapie erscheint ein geringerer Transfusionstrigger sinnvoll. Aktuelle Daten von Holst et al. zeigen, dass bei Patienten mit septischem Schock die Aufrechterhaltung eines Hämoglobinwertes von 9 g/dl (5,9 mmol/I) durch Transfusionen im Vergleich zu 7 g/dl (4,3 mmol/1) bei Patienten keinen Überlebensvorteil bringt [25]. Dies gilt auch für Patienten mit vorbestehender koronarer Herzkrankheit. Lediglich Patienten mit akuter Myokardischämie wurden aus der Studie ausgeschlossen, so dass für dieses Patientengut keine Aussage getroffen werden kann. Im Gegensatz zu diesen Ergebnissen empfehlen die derzeitigen Guidelines der Surving Sepsis Campaign bei hämodynamisch stabilen erwachsenen Patienten mit schwerer Sepsis noch generell die Einhaltung von Hämoglobinwerten zwischen 7 und 9 g/dl [3]. Die Auswahl des Zielwertes für den MAD 2:65 mmHg erfolgte im EGDT-Protokoll ebenfalls willkürlich. Es existieren keine Daten, die diesen Wert validieren. In einer aktuellen Arbeit an 776 Patienten mit septischem Schock und der Notwendigkeit zur Gabe von Katecholaminen wurden eine Gruppe von Patienten mit hohem MAD (80-85 mmHg) und eine Gruppe von Patienten mit einem niedrigen MAD (65-70 mmHg) unter Therapie verglichen. Um die erhöhten MAD-Werte zu erreichen, ist eine höhere Dosis an Katecholaminen notwendig. Zwischen beiden Gruppen fand sich kein Unterschied in der 28-Tage-Sterblichkeit (34% vs. 36.6%, n. s.) [26]. Sofern bei Patienten eine arterielle Hypertonie als Vorerkrankung bekannt war, zeigte sich in dieser Subgruppe ein hoher MAD vorteilhaft, dies reduzierte die Wahrscheinlichkeit der Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie [26). Als Nebenwirkung der Katecholamintherapie fand sich in der Gruppe mit hohem MAD eine Zunahme der Häufigkeit des Vorhofflimmerns. Möglicherweise profitieren Patienten mit einer bekannten arteriellen Hypertonie, die eine Sepsis erleiden, von einer intensivierten Vasopressortherapie. Jedoch ist hierzu eine individuelle RisikoNutzen-Abwägung notwendig. zusammenfassend lässt sich kein optimaler MAD-Grenzwert bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock festlegen, so dass auch dieser Zielparameter zu Steuerung einer Therapie nicht geeignet ist. Ein weiteres Zielkriterium der klassischen EGDT ist die Erreichung einer Urinausscheidung 2:0,5 ml/kg/h. Sofern ein prärenales Nierenversagen vorliegt, ist die Flüssigkeitszufuhr ein wesentliches Therapieelement, jedoch kommt es beim septischen Nierenversagen oft zu einer Kombination von intra- und prärenalem Versagen. Diese Kombination wird zu einer verminderten Urinproduktion führen. Die Steigerung der Volumen- und Vasopressortherapie wird jedoch durch die pulmonalen und katecholamintoxischen Nebenwirkungen limitiert. Die Gabe von Schleifendiuretika ist somit im Rahmen einer isolierten schweren Sepsis oder septischem Schock nicht indiziert. Die Urinproduktion erscheint daher ebenfalls nicht als geeigneter Zielparameter.

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Flüssigkeitstherapie Die ausreichende Flüssigkeitsgabe bei der Sepsis ist eng verknüpft mit der Art der lnfusionslösung. Die Lösungen der Wahl sind Kristalloide, welche in Mengen bis zu mehreren Litern infundiert werden. Hierbei bieten balancierte Lösungen den potentiellen Vorteil der Vermeidung einer hyperchlorämischen metabolischen Azidose [27,281, so dass beispielsweise Ringeracetatlösung zum Einsatz kommt. Traditionell wurden zur Aufrechterhaltung eines adäquaten onkotischen Drucks und des intravaskulären Volumens Kolloide verabreicht. Hierdurch sollte eine Volumenüberladung vermieden werden. HAES-Präparate sind im Rahmen einer lntensivtherapie nicht mehr zugelassen und beim Vorliegen einer Sepsis kontraindiziert. Als natürliches Kolloid ist Humanalbumin verfügbar, welches zusätzlich zum onkotischen Effekt unter anderen antioxidative und antiinflammatorische Eigenschaften besitzt [29), so dass es eine theoretische Rationale zur Infusion von Albumin bei Patienten mit Sepsis gab. Eine aktuelle Arbeit verglich die Verwendung von kristalloider lnfusionslösung mit oder ohne zusätzlicher Humanalbumingabe bei Patienten mit schwerer Sepsis (ALBIOS Studie). Das Ziel war die Erreichung eines Serumalbuminwertes von 30 g/I oder mehr. Die Gabe von Albumin verbesserte die Überlebensrate nicht [30). Auch die zugeführte Gesamtflüssigkeitsmenge unterschied sich zwischen den Gruppen nicht, jedoch hatten die Patienten der Albumingruppe höhere arterielle Blutdruckwerte, niedrigere Herzfrequenzen und geringere Gesamtflüssigkeitsbilanzen. Die Subgruppe der Patienten mit septischem Schock hatte eine höhere 90-d-Überlebensrate. Aus dieser verbesserten hämodynamischen Stabilisierung könnte die Empfehlung der Albuminsubstitution bei Patienten mit therapierefraktären septischen Schock abgeleitet werden, was jedoch eine Metaanalyse von insgesamt 16 Studien negiert [31). Die Behandlung mit Humanalbumin ist sicher und führt zu keiner renalen und pulmonalen Funktionsverschlechterung. Dies zeigte auch die SAFE-Studie, welche die Gabe von 4%-iger Albuminlösung untersuchte und in der Subgruppe der Patienten mit schwerer Sepsis einen Trend zu einem besseren Outcome erbrachte [32). Auch nach adäquater Flüssigkeitstherapie persistiert bei Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock häufig eine Tachykardie. Diese kann die myokardiale Dysfunktion während einer Sepsis aggravieren, so dass eine Herzfrequenzsenkung potentiell die Myokardfunktion bessern kann aber auch das Risiko der Verschlechterung von MAD und HZV birgt. Im Rahmen einer nicht-verblindeten Phase 2-Studie wurde bei Patienten mit septischem Schock und einer Herzfrequenz von 95/min oder mehr die Herzfrequenz durch die Gabe von Esmolol auf 80-94 /min verringert [33). Dies führte zu einer verringerten Sterblichkeit, so dass dieser Therapieansatz potentiell erfolgversprechend ist. Eine klinische Handlungsempfehlung kann man hieraus auf Grund der noch geringen Datenlage nicht ableiten.

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Eine aktuelle Arbeit mit retrospektiven Daten von 651 Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock zeigt, dass die frühzeitige Flüssigkeitsgabe (innerhalb von 3 h) mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit assoziiert war [34). Aus diesem Grund ist bei der hämodynamischen Stabilisierung durch Flüssigkeitstherapie schnelles Handeln sinnvoll und geboten.

Praxisempfehlung zur lnitialtherapie des septischen Schocks Da nach den Daten der ProCESS- und ARISE-Studie offensichtlich kein protokollbasiertes Vorgehen wie von Rivers et al. vorgeschlagen _benötigt wird, ist der Einsatz von Flussdiagrammen zu hinterfragen. Nichtsdestotrotz ist die Fixierung eines Therapieplanes für die lnitialphase des septischen Schocks sinnvoll. Sofern die Diagnose einer Sepsis gestellt wurde, sind die Antibiotikatherapie, Fokussanierung und Flüssigkeitsgabe umgehend notwendig. Unmittelbar vor der ersten Gabe des Antibiotikums werden zwei Paar Blutkulturen, Tracheal/Bronchialsekret, Urin und Wundabstriche entnommen. Wenn einliegende Katheter als Fokus wahrscheinlich sind, werden diese entfernt bzw. neu platziert. Sofern der Fokus klinisch nicht verifizierbar ist, wird eine bildgebende Diagnostik (Sonographie, Röntgen, Computertomographie) durchgeführt. Hiernach werden gegebenenfalls Kollegen weiterer Fachdisziplinen involviert. Die Auswahl des i.v.-Antibiotikums erfolgt nach der Tarragona-Strategie [15], welche ursprünglich für die Therapie der Ventilator assoziierten Pneumonie propagiert wurde und auch bei der antimikrobiellen Therapie anderer Foci angewandt wird (35). Sofern keine klinischen Zeichen einer Volumenüberladung vorliegen, wird innerhalb von 20 min 1 1 Ringeracetatlösung infundiert. Die kristalloide Flüssigkeitsgabe wird unter klinischer Kontrolle fortgeführt, so dass innerhalb der ersten 2 Stunden ca. 2,5 1 Ringeracetatlösung infundiert werden. Sofern unter der laufenden Flüssigkeitsgabe keine hämodynamische Stabilisierung gelingt wird die Gabe von Noradrenalin begonnen, um einen mittleren arteriellen Blutdruck von mindestens 65 mmHg zu erreichen. Die klinische Einschätzung des Patienten hat eine herausragende Bedeutung für die Beurteilung der Hämodynamik und einer möglichen Flüssigkeitsüberladung. Sofern der Flüssigkeits- und Vasopressorbedarf anhalten werden der Laktatwert unter der Flüssigkeitsgabe kontrolliert, das PiCCO®-Monitoring etabliert und bei unklarer hämodynamischer Instabilität eine Echokardiographie durchgeführt. Sollte es bei Laktatwerten >5 mmol/1 unter der Flüssigkeitsgabe zu einer Erhöhung der Laktatclearance kommen, ist von einer Volumenreagibilität auszugehen (36), so dass die Volumengabe fortgesetzt werden kann. Zur Diagnose eines ggf. anhaltenden Volumenmangels ist ein Lagerungsmanöver zur Autotransfusion (Anheben der Beine ohne Veränderung der Höhe des Druckaufnehmers der arteriellen Blutdruckmessung) ebenfalls einfach möglich. Bei vorhandenem PiCCO®-Monitoring wird

die Variation des Schlagvolumens (SW) zur Bestimmung einer möglichen Volumenreagibilität herangezogen. Sofern die SW > 12% ist, kann die Flüssigkeitszufuhr fortgesetzt werden. Auch mit einer transthorakalen Echokardiographie (TTE) kann der Füllungszustand der Ventrikel beurteilt werden. Insbesondere beim Aufeinandertreffen der Ventrikelwände ist von einem Volumenmangel auszugehen [24]. Es existiert keine konkrete Begrenzung der maximal zu infundierenden Flüssigkeitsmenge. Diese Begrenzung obliegt der klinischen Beurteilung, welche durch das erweiterte hämodynamische Monitoring ergänzt wird.

Zusammenfassung Die Messung der klassischen Zielparameter der EGDT und die hieraus abgeleiteten Interventionen sind kritisch zu hinterfragen. Es findet sich letztlich nach der Durchführung multizentrischer Studien aktuell kein Hinweis, dass die Erreichung festgelegter Zielparameter (Tab. 1) zu einer Outcomeverbesserung führt. Allerdings ist die EGDT damit nicht obsolet. Zentral bleiben als wesentliche Therapie die frühzeitige Erkennung einer Sepsis, die zeitgerechte kalkulierte Gabe von adäquaten Antibiotika mit Fokussanierung, die adäquate Gabe von Flüssigkeit und die engmaschige klinische Reevaluation der Kreislauffunktion (Abb. 3).

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Differenzierte Beatmung und kinetische Therapie bei ARDS Möglichkeiten und Grenzen Differentiated mechanical ventilation and positioning strategies in ARDS - possibilities and limits A. Güldner · P. M. Spieth · M. Gama de Abreu

Zusammenfassung Das Akute Lungenversagen (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) ist eine intensivmedizinische Krankheitsentität mit relativ hoher lnzidenz und sehr hoher Letalität. Die maschinelle Beatmung trägt zur Verhinderung eines letalen respiratorischen Versagens bei, kann jedoch selbst die Lungenschädigung verschlechtern (Ventilator lnduced Lung lnjury, VILi). Protektive Beatmungsmodi mit niedrigen Tidalvolumina (ca. 6 ml/kg, ideales Körpergewicht) vermindern die VILi und verringern die Letalität. Bei einigen Patienten kann eine weitere Reduktion der Tidalvolumina < 4 ml/kg (sog. ultraprotektive Beatmung) versucht werden, um die Lungenprotektion zu gewährleisten. Darüber hinaus scheinen die Patienten mit einem schweren ARDS von höheren positiven end-exspiratorischen Drücken (PEEP) zu profitieren. Die Anwendung von minimalen Tidalvolumina im Rahmen der Hochfrequenz-Oszillationsbeatrnung soll allenfalls bei lebensbedrohlicher Hypoxämie erwogen werden, da sie mit einer höheren Letalität als die konventionelle protektive Beatmung verbunden ist. Neue Beatmungsmodi, welche auf der Variabilität von Tidalvolumina beruhen (variable Beatmung), haben sich im Rahmen tierexperimenteller Arbeiten als Vorteilhaft im Sinne von Lungenfunktion und -Schädigung erwiesen, waren mit einer verbesserten Synchronie zwischen Patienten und Beatmungsgerät assoziiert, befinden sich aber noch in der Erprobungsphase. Neben der protektiven Beatmung mit reduzierten Tidalvolumina zeigten sich die langdauernde Bauchlagerung(> 12h/Tag) und möglicherweise die Anwendung von Muskelrelaxantien in den ersten 48 h als sinnvolle Begleitmaßnahmen zur Minimierung des Lungenschadens und Senkung der Letalität bei Patienten mit schwerem ARDS.

Schlüsselwörter: Akutes Lungenversagen - maschinelle Beatmung - Lagerungstherapie

Summary The acute respiratory distress syndrome (ARDS) represents an intensive care entity with still high incidence and mortality. Mechanical ventilation is the cornerstone of the therapy of ARDS, contributing to reduction of mortality due to respiratory failure. However, mechanical ventilation itself can worsen the lung injury in ARDS (ventilator induced lung injury, VILi). Protective mechanical ventilation modes with low tidal volumes (app. 6 mL/kg, predicted body weight) minimize VILi and lead to a reduction of mortality. Nevertheless, some patients may

still require a further reduction of the tidal volume < 4 mU kg (so-called ultraprotective mechanical ventilation), in order to assure lung protection. Patients with severe ARDS seem to further benefit from high positive end-expiratory pressure (PEEP). On the other hand, the use of minimal tidal volumes within a high-frequency oscillatory ventilation strategy can be associated with higher mortality, and should be reserved for patients with refractory threatening hypoxemia. New mechanical ventilation modes that are based on variation of tidal volumes (variable ventilation) have been shown to improve lung function and reduce lung damage in experimental studies, and were associated with better patient-ventilator synchrony, but are still under evaluation. Besides protective ventilation with low tidal volumes, the use of neuromuscular blocking agents in the first 48h and long lasting periods of prone positioning (> 12 h/day) are able to reduce lung injury and mortality in patients with severe ARDS.

Keywords: acute respiratory distress syndrome - mechanical ventilation - positioning

Einleitung Das akute Lungenversagen stellt eine der wichtigsten intensivmedizinischen Entitäten dar und wurde das erste Mal von Ashbaugh et al. 1967 beschrieben (1 ]. Das klinische Erscheinungsbild manifestiert sich in schwerer Dyspnoe und einer sauerstofftherapierefraktären Zyanose sowie einer Störung der Lungenmechanik. Zahlreiche experimentelle und klinische Arbeiten haben seit seiner Erstbeschreibung dazu beigetragen, Pathogenese und Pathophysiologie des ARDS besser zu verstehen, sowie vielfältige ventilatorische und nichtventilatorische Therapiestrategien zu untersuchen. Dennoch bleibt die Letalität des ARDS mit ca. 40% noch immer sehr hoch (2). Bisher konnte lediglich für die lungenprotektive Beatmung mit niedrigen Tidalvolumina und inspiratorischen Plateaudrücken sowie die Bauchlagerung ein Überlebensvorteil für die Patienten nachgewiesen werden [3]. Obwohl die mechanische Beatmung eine lebensnotwendige Intervention zur Sicherung des pulmonalen Gasaustausches im Rahmen des ARDS darstellt, birgt sie die Gefahr, eine Schädigung der Lunge neu zu induzieren bzw. einen vorbestehenden pulmonalen Schaden zu aggravieren. Dieses Phänomen wird als beatmungsinduzierte Lungenschädigung (Ventilator lnduced Lung lnjury-VIL/) bezeichnet [4]. Neben dem Lungenversagen

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induziert das ARDS häufig eine von der Lunge ausgehende systemische Entzündungsreaktion, die im Extremfall zu einem Multiorganversagen führen kann [5]. Ein beatmungsinduzierter fibrotischer Umbau des Lungenparenchyms im Sinne einer Defektheilung bewirkt im Zusammenspiel mit einer häufig auftretenden sog. critica/ illness polyneuropathy und critical illness myopathy (CIP/CIM) eine dauerhafte Einschränkung von körperlicher Leistungsfähigkeit und Lebensqualität [6] bei überlebenden des ARDS. Neben seiner medizinischen Bedeutung als häufig lebensbedrohliches Krankheitsbild stellen das akute Lungenversagen und die mit ihm verbundene Notwendigkeit zur mechanischen Beatmung auch einen wichtigen sozio-ökonomischen Faktor dar [7]. Die Aufwendungen zur Rehabilitation und Behandlung von Einschränkungen der körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit bei überlebenden des ARDS tragen erheblich zu den krankheitsbezogenen Kosten bei. Daraus lässt sich ableiten, dass der konsequenten und zielorientierten Therapie des ARDS aus medizinischer und ökonomischer Sicht eine entscheidende Bedeutung zukommt.

Definition Die im Jahr 2012 vorgestellte Berlin Definition [8] des ARDS hat die bis dahin gültige Definition der American-European Consensus Conference(AECC) abgelöst. Eine neue Definition wurde notwendig, da verschiedene Aspekte der AECC-Definition sich als zu ungenau für die Diagnosestellung bzw. die Einschätzung des Schweregrades erwiesen hatten. Hauptkritikpunkte waren dabei die eher willkürliche Unterscheidung von Acute Lung lnjury (ALi) und Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS) ausschließlich anhand der arteriellen Oxygenierung, ohne Berücksichtigung der aktuellen Beatmungseinstellungen, insbesondere des PEEP Niveaus, sowie die wenig exakte Definition des radiologischen Kriteriums „bilaterale Infiltrate". Außerdem kam dem pulmonalarteriellen Verschlussdrucks (Wedge-Druck) zum Ausschluss eines kardialen Lungenödems eine hohe Bedeutung zu. Durch die immer seltenere Verwendung pulmonalarterieller Katheter wurde der Wedge-Druck in der klinischen Praxis jedoch kaum noch gemessenen. Die Berlin Definition stellt, wie die AECC-Definition, eine Konsensusdefinition international führender Experten dar, wobei auf zahlreiche Unterschiede in der klinischen Praxis Rücksicht genommen werden musste. Die Berlin Definition besteht aus vier Kategorien: 1) Zeit: Zeitlicher Kontext des Auftretens der Symptome

innerhalb einer Woche nach bekannter Schädigung bzw. neu aufgetretenen oder verschlechterten respiratorischen Symptomen. 2) Thorax-Bildgebung: Bilaterale Verschattungen im ThoraxRöntgen oder Thorax-Computertomographie, welche nicht durch Pleuraergüsse, kollabierte Lungenareale oder Raumforderungen erklärbar sind.

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3) Ursache des Ödems: Respiratorisches Versagen, das nicht vollständig durch eine Herzinsuffizienz oder Flüssigkeitsüberladung erklärbar ist. liegen keine Risikofaktoren für ein ARDS vor, muss ein hydrostatisch bedingtes Lungenödem durch ein objektives Verfahren (z.B. Echokardiographie) ausgeschlossen werden. 4) Oxygenierung: Basierend auf der arteriellen Oxygenierung bei einem PEEP bzw. CPAP Niveau von 2: 5 cmH 20 wird zwischen einem milden ARDS (Pa0/F102 > 200 mmHg s 300 mm Hg), einem moderaten ARDS (Pa0/F102 > 100 mmHg s 200 mmHg) und einem schweren ARDS (PaO/ Fl02 < 100 mm Hg) unterschieden.

Epidemiologie Da bis zur Einführung der AECC Definition 1994 eine einheitliche Definition des akuten Lungenversagens fehlte und infolgedessen die diagnostischen Kriterien oft wechselten, schwankten die Daten zur lnzidenz des ARDS erheblich. Während in den USA lnzidenzen des ARDS von 75 Fällen pro 100.000 Einwohner und Jahr berichtet wurden, lag die lnzidenz in der ersten prospektiven Studie in Europa bei 3,5 Fällen pro 100.000 Einwohner und Jahr [9]. Unter Verwendung der AECC Definition 1994 als einheitlichem Diagnosekriterium wurden lnzidenzen von 13,5 Patienten pro 100.000 Einwohner und Jahr in Schweden, Dänemark und Island bzw. 58,7 Erkrankte pro 100.000 Einwohner und Jahr in den Vereinigten Staaten von Amerika gefunden (10]. Nach Einführung der lungenprotektiven Beatmung nach Publikation der ARDS Netzwerk Studie 2000 (11] sowie deren wachsendem Einsatz bei der Behandlung von Patienten ohne vorbestehendem ARDS zeigte sich bei Patienten auf der Intensivstation eine Reduktion der lnzidenz des ARDS von 8% im Jahr 2001 auf 4% im Jahr 2008 (12], wobei ein kausaler Zusammenhang vermutet wird. Neuere Studien zur lnzidenz des ARDS im Zeitalter der lungenprotektiven Beatmung finden eine lnzidenz von 5,9 bzw. 9,5 Fälle pro 100.000 Einwohner und Jahr (13, 14]. Die Daten zur Letalität des akuten Lungenversagens unterscheiden sich ebenfalls zwischen den geographischen Regionen, in denen die entsprechenden Patientenkollektive untersucht wurden, wobei die Unterschiede hierbei deutlich geringer ausfallen. Nach Einführung der lungenprotektiven Beatmung zeigen neuere Untersuchungen für Spanien eine Krankenhausletalität von 47,8% (14], für die Vereinigten Staaten eine Letalität innerhalb der ersten 30 Tage von 44%. Mit Ausnahme einzelner Untersuchungen in abgegrenzten geographischen Regionen, in denen sich ein Trend zur Reduktion der Letalität im Zeitverlauf nachweisen lässt, bleibt die Sterblichkeit des ARDS weltweit betrachtet weiterhin hoch. In Interventionsstudien betrug sie nur noch 36,2%, während für Observationsstudien im gleichen Zeitraum 44% ermittelt wurden. Noch fehlen jedoch epidemiologische Daten zum ARDS unter Berücksichtigung der Berlin Definition von 2012.

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Pathophysiologie und Pathogenese In der Ätiologie des ARDS können direkte bzw. indirekte Schädigungen unterschieden werden (Tab. 1). Unter direkten Ursachen versteht man eine in der Lunge initiierte Schädigung des Lungenparenchyms, während der Ursprung der Schädigung bei indirekten Ursachen abseits der Lunge liegt. Trotzdem weisen beide Formen gemeinsame Mechanismen auf. Die Schädigung der alveolo-kapillären Funktionseinheit im Rahmen eines inflammatorischen Prozesses ist das Schlüsselelement innerhalb der pathophysiologischen Mechanismen des akuten Lungenversagens. Aus dem Funktionsverlust der alveolo-kapillären Barriere resultiert ein nicht-hydrostatisches Niederdrucködem mit massivem Einstrom proteinreicher Ödemflüssigkeit in den interstitiellen und intraalveolären Raum [15]. Folge dieser Flüssigkeitseinlagerung in die Lunge ist eine schwere Störung des Gasaustausches durch Verminderung der Gasaustauschfläche und Verlängerung der Diffusionsstrecke der Atemgase. Die Inaktivierung von Surfactant durch Plasmaproteine führt zu einer Surfactandysfunktion, welche im Zusammenspiel mit dem erhöhten Eigengewicht der Lunge einen vermehrten Alveolarkollaps und damit die Ausbildung atelektatischer Lungenareale begünstigt. Im Rahmen des inflammatorischen Prozesses kommt es zu einer lokalen Aktivierung der Gerinnungskaskade in der pulmonalen Strombahn, welche lokale Mikro- und Makrothrombosen zur Folge hat und damit zu einer Erhöhung des pulmonalarteriellen Blutdrucks beiträgt. Folge dieser Prozesse sind eine Reduktion der pulmonalen Compliance, eine Abnahme der funktionellen Residualkapazität der Lunge, eine Zunahme des funktionellen Totraums, eine Erhöhung transpulmonaler Shuntvolumina und eine Verschlechterung des Ventilations-Perfusionsverhältnisses. Im Rahmen der hypoxämiebedingten pulmonalen hypoxischen Vasokonstriktion (HPV - Euler-Liljestrand-Mechanismus) steigt der pulmonalarterielle Blutdruck weiter und führt somit über eine Nachlasterhöhung zu einer akuten Druckbelastung des rechten Herzens. Dieser circulus vitiosus birgt die Gefahr der Ausbildung eines akuten Cor pulmonale mit konsekutivem Rechtsherzversagen. Tabelle 1 Ursachen des ARDS. Direkte Ursachen

Indirekte Ursachen

Pneumonie

Sepsis

Aspiration von Mageninhalt

Polytrauma

Trauma mit Lungenkontusion ·

Schock

Ertrinken bzw. Beinaheertrinken

Akute Pankreatitis

Inhalation von Rauch oder Gas

Kardiopulmonaler Bypass

Fettembolie

Disseminierte intravasale Gerinnung

Pneumonie

Verbrennungen Schädel-Hirn-Trauma Massivtransfusion

Histologisch lassen sich für das ARDS eine akute exsudative, eine proliferative und schließlich eine chronisch fibrotische Phase nachweisen. Das histologische Korrelat des ARDS wird dabei als diffuser Alveolarschaden (Diffuse Alveolar Damage - DAD) bezeichnet. Es zeigt sich, dass die inflammatorische Reaktion der Lunge dabei weitgehend unabhängig von der zugrundeliegenden Ursache des ARDS ist. Durch RemodelingVorgänge im Lungenparenchym im Sinne eines fibrotischen Umbaus kommt es zu teils bleibenden Einschränkungen der Lungenfunktion bei überlebenden des ARDS.

Beatmungsinduzierte Lungenschädigung Obwohl die mechanische Beatmung für die meisten ARDS Patienten eine lebensnotwendige Intervention darstellt, um einen suffizienten pulmonalen Gasaustausch und eine adäquate Gewebeoxygenierung sicherzustellen, kann Beatmung auch per se eine Schädigung der Lunge induzieren bzw. aggravieren und zur Ausbildung einer beatmungsinduzierten Lungenschädigung (VILi) führen [4]. Die Hauptschädigungsmechanismen bestehen in den schädlichen Einwirkungen hoher Atemzugvolumina (Volutrauma), hoher Beatmungsdrücke (Barotrauma) und dem zyklischen Kollaps/Wiedereröffnen atelektatischer Alveolarregionen (Atelectrauma). Diese drei physikalischen Schädigungsfaktoren führen zu einer pulmonalen inflammatorischen Reaktion (Biotrauma) [16]. Dabei können endotheliale, epitheliale sowie extrazelluläre Bestandteile der alveo-kapillären Einheit betroffen sein. Schäden am Endothel erhöhen dessen Permeabilität und begünstigen die Ausbildung eines interstitiellen bzw. alveolären Ödems. Verletzungen des Alveolarepithels schränken dessen Fähigkeit ein alveoläres Ödem abzubauen ein und reduzieren die Neusynthese von Surfactant. Die Fragmentierung der extrazellulären Matrix verstärkt die inflammatorische Reaktion im Lungenparenchym. Allerdings bleibt die inflammatorische Reaktion meist nicht nur auf das Lungenparenchym beschränkt, vielmehr kann es über eine Translokation von Pathogenen zu einer systemischen inflammatorischen Reaktion bis hin zur Ausbildung eines Multiorganversagens kommen. Bei Thorax- und abdominalchirurgischen Patienten konnte gezeigt werden, dass eine nicht-protektive Beatmung mit dem Auftreten postoperativer pulmonaler Komplikationen assoziiert ist [17], aber es ist zur Zeit nicht bekannt, ob dies auch anderen chirurgischen Populationen zutrifft.

Beatmungstherapie Die maschinelle Beatmung stellt das wichtigste Instrument in der Therapie des ARDS dar. Dennoch beträgt nach vier Wochen Beatmung die Überlebenswahrscheinlichkeit von ARDSPatienten noch 30 bis 40% [18]. Die sog. lungenprotektive Beatmung, welche aus Reduktion der Atemzugvolumina (ca. 6 ml/kg, ideales Körpergewicht), Limitierung der Beatmungsdrücke (Plateaudruck < 30 cmH 20) und Anwendung von positiv end-exspiratorischem Druck (PEEP) besteht, ist das einzige Ver-

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fahren, das bisher zu einer signifikanten Reduktion der Letalität im akuten Lungenversagen führen konnte (11].

Protektive Beatmung mit sehr kleinen Tidalvolumina (Ultraprotektive Beatmung)

Für die Einstellung des PEEP während der maschinellen Beatmung beim ARDS wurden verschiedene Verfahren empfohlen. Das ARDS Network hat eine Tabelle vorgeschlagen, welche eine Kombination von PEEP und FIO 2 vorschreibt, um einen inspiratorischen Plateaudruck < 30 cmH 2O bei noch ausreichender Oxygenierung (PaO2 von 55 bis 80 mmHg) zu erreichen (11).

Trotz der Anwendung von protektiven Tidalvolumina im Bereich von 4 bis 6 ml/kg (ideales Körpergewicht) kann nicht immer gewährleistet werden, das~.. keine erhöhten Beatmungsdrücken bei Patienten mit einem schweren ARDS entstehen, die einen beatmungsinduzierten Lungenschaden verursachen. Einer computertomographischen Studie zufolge können überblähte Lungenareale trotz der Beatmung nach dem Protokoll des ARDS Network noch vorhanden sein (27]. Dieses Phänomen ist auf ein vergleichsmäßig geringes end-exspiratorisches Lungenvolumen (auch als Baby lung bekannt) zurückzuführen und häufig mit einem inspiratorischen Plateaudruck "" 28 cmH 2 O assoziiert [27]. Um eine Lungenschädigung durch erhöhten mechanischen Stress zu vermeiden, kann eine weitere Reduktion der Tidalvolumina erforderlich sein.

Bei der Strategie der sog. offenen Lunge, welche als Open Lung Approach bekannt ist, wird zunächst ein Lungenrekrutierungsmanöver durchgeführt, um möglichst alle kollabierte Lungenarealen zu eröffnen. Danach wird der PEEP stufenweise vermindert und nach dem PEEP-Wert gesucht, der eine Maximierung des PaO2 bzw. der Dehnung des respiratorischen Systems ermöglicht. Dieses Konzept wurde erstmals 1992 durch Lachmann vorgestellt (19] und in der Studie von Amato 1998 angewendet (20). Für beide Konzepte, den Open lung Approach und die PEEP/FlO2 Tabelle des ARDS Networks (11 ), konnte eine Verbesserung des klinischen Outcomes nachgewiesen werden.

Stellenwert von Lungenrekrutierungsmanövern und hohem PEEP Die optimale PEEP-Einstellung bei der Beatmung von ARDSPatienten wird noch immer kontrovers diskutiert. Amato et al. fanden unter Anwendung einer lungenprotektiven Beatmung mit individuell austitrierten, relativ hohen PEEP-Niveaus eine Letalitätsreduktion [201, erbrachte eine Studie des ARDS Networks zum Vergleich einer hoch- und niedrig-PEEP-Strategie keinen Überlebensvorteil (21 ). Im Jahr 2008 wurden in kurzer Folge zwei große multizentrische, randomisierte, klinische Studien zur Anwendung von PEEP bei der Beatmung von ARDS-Patienten publiziert. Sowohl in der Studie von Meade et al. (22), als auch in der von Mercat et al. (23] ließen sich keine signifikante Unterschiede hinsichtlich der Letalität nachweisen, allerdings wiesen beide Studien eine bessere Oxygenierung, bessere Lungenmechanik und weniger Rescue-lnterventionen in den Gruppen mit hohen PEEP nach [22,23] . Diese Aussagen werden durch einen aktuellen Cochrane-Review zum selben Thema unterstützt (24). In einer weiteren Metaanalyse wurde jedoch gezeigt, dass bei Patienten mit einem schweren ARDS ein Überlebensvorteil mit höheren PEEP Werten erreicht werden kann [25). Aufgrund des größeren Patientenkollektivs und dem sich daraus ergebenden höheren Evidenzlevel gilt die lungenprotektive Beatmung nach dem Konzept des ARDS Net-

works [1 1), d.h. nach der Tabelle mit niedrigem PEEP/ FI0 2 als klinischer Standard, wobei Patienten mit einem schweren ARDS am ehesten von hohen PEEP Werten profitieren

[25).

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In einer Studie an ARDS Patienten, die mit Tidalvolumina von 6 ml/kg beatmet wurden und damit inspiratorische Plateaudrücke von 28-30 cmH 2 O erreichten, führte die Reduktion der Tidalvolumina bis auf inspiratorische Plateaudrücke < 28 cmH 2O zu einer Senkung von lnflammationsmarkern in der Lunge (28). Um die resultierende Hyperkapnie zu vermindern, musste die C02-Elimination durch ein extrakorporales Gasaustauschverfahren häufig unterstützt werden. Die Strategie der Reduktion von Tidalvolumina unter den vom ARDS Network vorgeschlagenen Bereich wird in der Literatur „ultraprotektive Beatmung" genannt. Dabei werden häufig Tidalvolumina < 4 ml/kg (ideales Körpergewicht) (auch „ultrakleine" Tidalvolumina genannt) verwendet, wobei die Kombination mit einem extrakorporalen Gasaustauschverfahren zur Unterstützung der C02-Elimination notwendig ist. In einer klinischen Studie an Patienten mit ARDS führte die ultraprotektive Beatmung zu einer schnelleren Entwöhnung vom Beatmungsgerät als die protektive Beatmung nach dem ARDS Network [29). Trotz des vielversprechenden Konzepts der ultraprotektiven Beatmung konnte bisher keine relevanten OutcomeVorteile dieser Strategie gezeigt werden. Daher kann keine allgemeine Empfehlung für diese Therapie ausgesprochen werden.

Hochfrequenz-Oszillationsbeatmung (H FOV) Eine Sonderform der maschinellen Beatmung von ARDSPatienten stellt die Hochfrequenz-Oszillationsbeatmung (HFOV) dar. Theoretisch bietet die Anwendung minimaler Tidalvolumina mit Reduktion von inspiratorischen Plateaudrücken und Minimierung des Lungenkollapses während HFOV die optimalen Voraussetzungen für die Beatmung von ARDSPatienten im Sinne der Verminderung von VILi. Große klinische Studien konnten jedoch keine Vorteile der HFOV nachweisen. In der OSCILLATE-Studie, welche insgesamt 548 Patienten un-

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tersucht hat, wurde eine höhere Letalität in der HFOV-Gruppe im Vergleich zur konventionellen protektiven Beatmung nach dem ARDS Network festgestellt [30]. Darüber hinaus wiesen Patienten der HFOV-Gruppe einen höheren Bedarf an vasoaktiven Substanzen, Analgosedierung und Muskelrelaxantien auf. Eine weitere Studie mit insgesamt 795 Patienten [31] konnte keinen Überlebensvorteil der HFOV-Beatmung gegenüber der konventionellen protektiven Beatmung mit reduzierten lidalvolumina nachweisen, wobei die Patienten der HFOV-Gruppe einen höheren Bedarf an Muskelrelaxantien aufwiesen.

Aufgrund der vorliegenden Studien sollte die Anwendung der HFOV-Beatmung sowie einer extrakorporalen Membranoxygenierung beim ARDS kritisch betrachtet und allenfalls im Fall einer refraktären Hypoxämie bei erhöhten Beatmungspitzendrücken erwogen werden.

Kontrollierte versus assistierte Beatmung in der Frühphase des ARDS Die maschinelle Beatmung kann grundsätzlich in kontrollierte und assistierte Formen eingeteilt werden. Bei der kontrollierter Beatmung werden lidalvolumina und respiratorische Frequenz vom Beatmungsgerät, d.h. ohne Rücksicht auf Spontanatmungsaktivität, festgelegt, während bei assistierter Beatmung eine gewisse Anpassung der zu applizierenden Beatmungsdrücke bzw. -volumina anhand der Atemanstrengungen des Patienten vorgenommen wird. Bereits kurze Zeiträume von ca. 18 Stunden kontrollierter Beatmung können in einer Kraftminderung des Zwerchfells durch Proteolyse und Atrophie resultieren [32]. Diese lässt sich jedoch durch Aufrechterhaltung der Spontanatmungsaktivität vermindern [33]. In tierexperimentellen Modellen des milden bis moderaten ARDS ist die frühe Induktion der Spontanatmungsaktivität mit positiven Effekten auf Lungenfunktion, Gasaustausch, Beatmungsdauer und Hämodynamik [34,35], sowie mit einer Reduktion des Lungenschadens und -lnflammation assoziiert [34]. Im Gegensatz dazu scheint die Spontanatmungsaktivität während eines tierexperimentellen schweren ARDS mit einer Verschlechterung der Lungenfunktion und erhöhtem Lungenschaden sowie lnflammation verbunden zu sein [36]. Bei Patienten mit einem schweren ARDS konnte gezeigt werden, dass die Unterdrückung der Spontanatmungsaktivität durch Muskelrelaxanzien in den ersten 48h mit einem verbesserten Gasaustausch [37,381 und sogar einem Überlebensvorteil verbunden war (381, wobei als mögliche Mechanismen eine Asynchronie des Patienten mit dem Beatmungsgerät, ein erhöhter Sauerstoffverbrauch und das Phänomen von Kollaps/ Wiedereröffnung von Lungenbezirken ·postuliert wurden.

Assistierte versus nicht-assistierte Spontanatmungsaktivität In der Beatmung unterscheidet man grundsätzlich zwischen assistierten und nicht-assistierten Formen. Bei assistierten

Modi wird die inspiratorische Anstrengung des Patienten vom Gerät erfasst und mit einem vorgegebenen Druck bzw. Volumen unterstützt. Der Unterstützungsdruck wird bei Pressure Support Ventilation (PSV) und Pressure- bzw. VolumeAssist-Control-Ventilation (V-ACV/P-ACV) unabhängig von der inspiratorischen Anstrengung des Patienten erzeugt. Im Gegensatz hierzu wird der Unterstützungsdruck bei Proportional Assist Ventilation (PAV) und Neurally Adjusted Ventilatory Assist (NAVA) proportional zur inspiratorischen Anstrengung unterstützt. Nicht-assistierte Beatmungsmodi gewährleisten völlig eigene Spontanatmung, wobei der Patient Beginn, Atemtiefe und Ende des Spontanatemzyklus bestimmt, jedoch sind Mischformen mit Unterstützung von inspiratorischen Anstrengungen durchaus möglich. In der Regel sorgt ein definiertes Minutenvolumen für die Sicherung der Oxygenierung, wie beispielsweise unter Biphasic Positive Airway Pressure (BIPAP) und Airway Pressure Release Ventilation (APRV). Bei diesen in Deutschland verbreiteten Beatmungsmodi resultieren die kontrollierten Atemzyklen aus dem Wechsel zwischen zwei unterschiedlichen Druckniveaus. Zusätzlich kann abhängig von der liefe der Analgosedierung auf beiden Druckniveaus sowie während des Wechsels zwischen diesen Niveaus Spontanatmung stattfinden. Der besondere Vorteil der nicht-assistierten Spontanatmungsaktivität besteht darin, dass aufgrund erhöhter Kontraktionsaktivität des Zwerchfells der transpulmonale Druck in den dorsalen Lungenarealen, welche beim ARDS am ehesten kollabiert sind, höher als bei assistierter Spontanatmung ist. Somit findet eine Umverteilung der Ventilation zugunsten der dorsalen Lungenbezirke mit homogenerer Verteilung des Tidalvolumens statt [35].

Trotz der hier aufgeführten positiven Effekte der Spontanatmungsaktivität, insbesondere bei nicht-assistierter inspiratorischer Anstrengung, lässt sich aufgrund der aktuellen Datenlage ableiten, dass bei Patienten mit schwerem ARDS eine Muskelrelaxation und kontrollierter Beatmung innerhalb der ersten 48h, d.h. in der Frühphase des ARDS, eher angestrebt werden sollte, während Patienten mit mildem bis moderatem ARDS eher von der Spontanatmungsaktivität [33] profitieren.

Neue Konzepte in der assistierten Beatmung beim ARDS Die Gruppe um Suki konnte in verschiedenen Studien nachweisen, dass zufallsvariierte lidalvolumina zu einer Verbesserung der Oxygenierung und Lungenmechanik führen [39,401. In einer theoretischen Arbeit wies diese Gruppe nach, dass das Ausmaß der Variabilität von entscheidender Bedeutung ist und definierte einen Bereich der optimalen Variabilität (in ihrer Studie ca. 7% Standardabweichung um den mittleren Atemwegsdruck) [41]. Diese Form der Beatmung bezeichneten sie als noisy ventilation bzw. variable Beatmung. In der Abbildung 1 wird das Prinzip

Differenzierte Beatmung und kinetische Therapie bei ARDS - Möglichkeiten und Grenzen · A. Güldner • P. M. Spieth • M. Gama de Abreu

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Refresher Course

Nr. 41

Aktuelles Wissen für Anästhesisten

Mai 2015 • Düsseldorf

Abbildung 1

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Obwohl die aktuelle Datenlage aus experimentellen und klinischen Studien durchaus positive Effekte von variabler Beatmung bezüglich Lungenfunktion, Lungenschädigung und Synchronie nachweist, liegen nur unzureichende klinische Daten vor, um einen eindeutigen Vorteil dieses neuen Konzeptes gegenüber der konventionellen protektiven Beatmung zu belegen. Darüber hinaus steht dem Arzt die variable Beatmung nur als assistierte Spontanatmung (Variable PS) zur Verfügung.

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Zeitlicher Verlauf von Flow und inspiratorisches Volumen während konventioneller volumenkontrollierter Beatmung (schwarze Kurven) und variabler volumenkontrollierter Beatmung (graue Kurven). Die inspiratorische Zeit bei variabler volumenkontrollierter Beatmung wird nach dem Zufallsprinzip moduliert, um die Tidalvolumina zu variieren, wobei die respiratorische Frequenz konstant bleibt.

der variablen Beatmung anhand von Flow und Atemwegdruck vs. Zeit-Kurven näher erläutert. Die variable Beatmung erwies sich nicht nur in Bezug auf Gasaustausch und Lungenmechanik, sondern auch hinsichtlich der Surfactantsynthese als vorteilhaft [40]. Auch die Gruppe um Gama de Abreu konnte in einem tierexperimentellen Modell des moderaten ARDS zeigen, dass die Variation des lidalvolumens während sowohl der Strategie des ARDS Networks, als auch im Rahmen des Open Lung Approach zu einer Reduktion der Lungenschädigung führt [42].

Variable Druckunterstützungsbeatmung (Variable Pressure Support) Das Grundprinzip der variablen Druckunterstützungsbeatmung ( Variable Pressure Support - Variable PS) basiert auf der Appl ikation unterschiedlich hoher Druckunterstützungsniveaus, die unabhängig von der inspiratorischen Anstrengung des Patienten erfolgen [43]. Bei festgelegtem mittleren Unterstützungsdruck und festgelegter Variabilität dieses Unterstützungsdrucks resultieren von Atemzug zu Atemzug unterschiedliche Beatmungsdrücke und -volumina sowie respiratorische Frequenzen. In tierexperimentellen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die Variable PS im Vergleich zur herkömmlichen PSV den Gasaustausch und Lungenfunktion verbessert und die Lungenschädigung reduziert [44]. Diese Effekte waren am ehesten auf eine Umverteilung der Lungenperfusion in die besser belüfteten nicht-abhängigen Lungenareale und Reduktion des mittleren transpulmonalen Drucks zurück zuführen [45]. Darüber hinaus konnte in einer klinischen Studie gezeigt werden, dass Variable PS im Vergleich zu PSV mit einer besseren Synchronie zwischen Patienten und Beatmungsgerät verbunden ist [46].

96

' Bauchlagerung und kinetische Lagerungstherapie In den letzten Jahren wurden verschiedene Beatmungsstrategien und kinetische bzw. Lagerungstherapieverfahren im Rahmen von klinischen Studien evaluiert. Einige dieser Studien wurden multizentrisch durchgeführt, womit die Basis für eine evidenzbasierte Behandlung des Patienten mit ARDS geschaffen wurde. Eine multizentrische Studie konnte zeigen, dass der Einsatz der Bauchlage in der Frühphase des moderaten bis schweren ARDS (PaO/FIO2 < 150 mmHg) zu einer Reduktion des relativen Letalitätsrisikos in den ersten 28 Tagen um ca. 50% führt (32,8% in Rückenlage vs. 16% in Bauchlage) [47]. Hervorzuheben ist jedoch, dass die Bauchlage pro Patient viermal für jeweils ca. 17 Stunden angewendet wurde. Darüber hinaus war die Bauchlage mit einer Reduktion der Mortalität nach 90 Tagen (41 % vs. 23,6%), einer schnelleren Entwöhnung des Beatmungsgeräts (Ventilation-free days) and Tagen 28 (10 vs. 14 Tage) und 90 (43 vs. 57) sowie einer höheren Rate an erfolgreichen Extubationen nach 90 Tagen (65% vs. 80,5%) verbunden [47] . Somit bestätigte diese Studie die Ergebnisse einer Metanalyse, welche einen Vorteil der Beatmung in Bauchlage im Vergleich zur Rückenlage bezüglich des Letalitätsrisikos bei Patienten mit einem schweren ARDS suggerierte [48]. In einer Untersuchung an 40 Patienten mit ARDS führte die Anwendung von sitzenden und halbsitzenden Positionen, d.h. von Oberkörperhochlagerung zwischen 45% und 60%, zu einer signifikanten Verbesserung der Oxygenierung [49]. Obwohl die kontinuierliche und automatische axiale Rotationstherapie als Alternative zur Bauchlagerung suggeriert wird, konnte keine klinische Studie einen relevanten Endpunkt dieser Therapien im Sinne von Outcome nachweisen [50]. Daher soll die axiale Rotationstherapie im Rahmen des ARDS nur dann erwogen werden, wenn Kontraindikationen zur Bauchlagerung bestehen. Eine entsprechende S2-Leitlinie der DGAI zur Lagerungstherapie befindet sich zur Zeit in Überarbeitung. Die aktuelle Datenlage lässt ableiten, dass bei ARDS Patienten mit einem PaO/FIO2 < 150 mmHg, die ansonsten kein Kontraindikationen aufweisen, die Bauchlage bereits in der Frühphase des ARDS über mindestens 12 bis 18 Stunden täglich angewendet werden soll. Im Fall von Kontraindikationen zur Bauchlagerung können andere Formen der kinetischen Lagerungstherapie erwogen werden.

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Differenzierte Beatmung und kinetische Therapie bei ARDS - Möglichkeiten und Grenzen · A. Güldner · P. M. Spieth • M. Gama de Abreu

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Aktuelles Wissen für Anästhesisten

Refresher Course Nr. 41 Mai 201 5 · Düsseldorf

Qualitätsindikatoren in der lntensivmedizin Quality indicators in intensive care medicine L. Martin· G. Marx

Zusammenfassung Ein modernes Qualitäts- und Risikomanagement ist ein entscheidender Bestandteil der Hochleistungsmedizin. Zur Qualitätssicherung müssen spezifische Kriterien und Kennzahlen definiert sein, die Leistungen qualitativ und quantitativ bewerten können. Ein Grundproblem dabei ist die Translation theoretischer Überlegungen in die praktische Anwendung. Definierte Qualitätsindikatoren verhelfen diesem Problem zu Transparenz, indem sie repräsentativ die Wirklichkeit von Kernprozessen des Arbeitsalltags messbar reflektieren. Für die lntensivmedizin gibt es hierzu Untersuchungen in unterschiedlichen Ländern, in denen die differenten Gesundheitssysteme unterschiedliche Rahmenbedingungen bieten. Für Deutschland wurde 2010 die erste Version der 1O intensivmedizinischen und evidenzbasierten Qualitätsindikatoren durch ein Expertengremium der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie ·und lntensivmedizin (DGAI) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung lntensivmedizin und Notfallmedizin (DIVI) verabschiedet und publiziert. 2013 erfolgte im Rahmen der geplanten Geltungsdauer eine Überarbeitung und Anpassung. Die 10 intensivmedizinischen Qualitätsindikatoren bilden die Kernprozesse des intensivmedizinischen Alltags ab: Beatmung, antiinfektive Therapie, Analgesie, Sedierung, DelirBehandlung, Ernährung, Hygiene, kontrollierte Hypothermie, Angehörigenmanagement und Personalbesetzung. Durch diese Indikatoren ist es möglich, Qualität in der lntensivmedizin zu erfassen und zu beurteilen. In diesem Kapitel sollen die 1O intensivmedizinischen Qualitätsindikatoren für Deutschland unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnislage aufgezeigt werden.

Schlüsselwörter: Qualitätsindikatoren -Qualitätsmanagement - lntensivmedizin - Behandlungsqualität

Summary Quality and risk management is a key element of high-end medicine. To assure quality it is necessary to define specific criteria and operating figures to be able to assess the efforts qualitatively and quantitatively. The leading problem is the transfer of theory to practice. Here, defined quality indicators can help to reflect one's daily core processes. In the field of intensive care medicine studies of quality indicators have been performed in several countries with different health systems. The Germany Society for Anesthesia and Intensive Care Medicine (DGAI) and the German lnterdisciplinary Association for Intensive Care and Emergency Medicine (DIVI) published

Qualitätsindikatoren in der lntensivmedizin • L. Martin · G. Marx

the first version of the 10 intensive care and evidence based quality indicators for Germany in 2010. They were reevaluated in 2013 when their validity time expired after two years. The 10 German quality indicators reflect the core processes of day-today routine care of intensive care medicine: ventilator therapy, anti-infective therapy, analgesia, sedation, management of delirium, nutrition, hygiene, controlled hypothermia, management of relatives as weil as staff management. The quality indicators are measurements, which represent surrogate markers that indirectly map quality. This chapter focuses on the 10 German quality indicators based on the current evidence.

Keywords: quality indicators - quality management- intensive care medicine - Outcome

Einleitung Für die Behandlung kritisch kranker Patienten in Bereichen mit höchster Prozess- und Kommunikationsdichte, wie Operationseinheiten oder Intensivstationen ist ein modernes Qualitäts- und Risikomanagement ein unverzichtbarer Bestandteil der Hochleistungsmedizin [1 ). Die Qualität der Versorgung der Patienten hängt dabei maßgeblich von einer adäquaten und zeitgerechten Behandlung ab, die dem aktuellen Stand medizinischen Wissens (evidenzbasierte Medizin) entspricht [2]. Die Verpflichtung von Krankenhäusern zur internen und externen Qualitätssicherung ist in §135a und §137 des Sozialgesetzbuchs 5. Buch (5GB V) geregelt. Zur Qualitätssicherung müssen spezifische Kriterien und Kennzahlen definiert sein, die intensivmedizinische Leistungen qualitativ und quantitativ bewerten. Hierzu tragen die Qualitätsmerkmale Information, Kommunikation und Transparenz maßgeblich bei. Für den Bereich lntensivmedizin stehen derzeit das Peer-ReviewVerfahren, der aktualisierte Kerndatensatz lntensivmedizin, einzelne Benchmarkprojekte (KISS [31 Daten, SARI [41) sowie das modulare Zertifikat lntensivmedizin der DGAI zur Qualitätskontrolle und -Sicherung zur Verfügung. Zusätzlich soll über die Bildung regionaler Netzwerke ein hoherVernetzungsgrad auf lokaler Ebene erreicht werden [2]. Eines der Grundprobleme liegt dabei in der Translation von theoretischen Überlegungen in die praktische Anwendung. Da das Qualitätsmanagement sich oftmals als etwas Praxisfernes und Bürokratisches präsentiert, scheint es den klinischen Alltag durch Papierkrieg und Formalitäten zusätzlich zu belasten ohne praxisrelevanten Einfluss auf Alltagsprozesse zu haben. Diese

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Problematik lässt sich auf jeweils zwei Fragen zur Theorie und Praxis in der lntensivmedizin reduzieren [5]: Theorie: • liegen Therapiestandards und individualisierte Therapiekonzepte vor? • Sind die Prinzipien der Behandlung/Behandlungsstandards evidenzbasiert, d.h. gibt es ein leitlinienkonformes Behandlungsgerüst?

10 intensivmedizinische Qualitätsindikatoren. Nummer

Hauptindikator

1

Tägliche multiprofessionelle klinische Visiten mit Dokumentation von einem oder mehreren Tagesziele

2

Monitoring von Sedierung, Analgesie und Delir

3

l ungenprotektive Beatmung

Praxis: • Ist der klinische Alltag so organisiert, dass Fehler bestmöglich vermieden werden? • Bekommt der Patient in der Regel das, was wir glauben, bzw. das was wir erzielen möchten?

4

Weaning und andere Maßnahmen zurVermeidung von ventilatorassoziierten Pneumonien

Qualitätsindikatoren verhelfen diesem Kernproblem der Translation von Theorie zur Praxis zu Transparenz, indem sie repräsentativ die Wirklichkeit von Kernprozessen des Arbeitsalltags messbar reflektieren. Sie dienen dabei dem internen und externen (z.B. durch Peer-Review) Qualitätsma~agement.

lntensivmedizinische Qualitätsindikatoren Nach dem Modell von Donabedian wird die Qualität in Struktur-, Prozess- und Ergebnis(Outcome)-Qualität klassifiziert [6]. Qualitätsindikatoren bilden die Dimension von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität ab. Ein Indikator kann dabei mehrere Dimensionen gleichzeitig abbilden und soll den Umsetzungsgrad von Inhalten in eine mathematisch darstellbare Form bringen . Ohne Indikator gibt es keinen „Check" im sogenannten PDCA-Zyklus (,,plan-do-check-act) [2]. Struktur- und Prozessindikatoren können dabei nur dann als valide Indikatoren angesehen werden, wenn sich eine positive Auswirkung auf das Ergebnis nachweisen lässt. Damit die genutzten Indikatoren akzeptiert werden, sollten sie den Anforderungen der RUMBA-Regel entsprechen. Die Anforderungen an Indikatoren nach der RUMBA-Regel lassen sich wie folgt beschreiben [5]: • Relevant für das Problem • Understandable (verständlich formuliert) • Messbar, mit hoher Zuverlässigkeit und Gültigkeit • Behaviourable (veränderbar durch das Verhalten) • Achievable and feasible (Erreichbar und durchführbar). Für die lntensivmedizin gibt es Untersuchungen zu Qualitätsindikatoren in unterschiedlichen Ländern, in denen die differenten Gesundheitssysteme unterschiedliche Rahmenbedingungen bieten [7]. Die erste Version der intensivmedizinischen Qualitätsindikatoren für Deutschland wurde im Jahr 2010 durch die Fachgesellschaften verabschiedet und publiziert [5] . In Anpassung an die aktuelle Evidenzlage wurden sie zuletzt 2013 überarbeitet (Tab. 1) [8]. Sie bilden die Kernprozesse des intensivmedizinischen Alltags ab: Beatmung, antiinfektive Therapie, Analgesie, Sedierung, Delir-Behandlung, Ernährung, Hygiene, kontrollierte Hypothermie, Angehörigenmanagement und Personalbesetzung. Im Folgenden soll auf die 10 intensivmedizinischen Qualitätsindikatoren näher eingegangen werden:

100

Tabelle 1

5

Frühzeitige und adäquate Antibiotikatherapie

6

Therapeutische Hypothermie nach Herzstillstand

7

frühe enterale Ernährung

8

Dokumentation von strukturierten Angehörigengesprächen

9

Händedesinfektionsmittelverbrauch (BQS Indikator 2010)

10

Leitung der Intensivstation durch einen Facharzt mit Zusatzbezeichnung lntensivmedizin, der keine anderen klinischen Aufgaben hat, Präsenz eines Facharztes mit Zusatzbezeichnung lntensivmedizin in der Kernarbeitszeit und Gewährleistung der Präsenz von intensivmedizinisch erfahrenem ärztlichem und pflegerischem Personal über 24h.

1. Tägliche multiprofessionelle Visiten Bei dem ersten intensivmedizinischen Qualitätsindikator handelt es sich um einen Struktur- bzw. Prozessindikator, der im Rahmen der Revision der Indikatoren 2013 erstmals aufgenommen wurde. Die tägliche Festlegung von Zielen für die kommenden 24h wurde bereits im Jahre 2013 von Pronovost beschrieben [9]. Um die komplexen Versorgungsprozesse durch wechselnde Teams multipler Professionen in der lntensivmedizin zu gewährleisten, sind präzise Kommunikationsstrukturen von Nöten, um mehrmals täglich die Vielzahl von Informationen verlässlich weiterzugegeben. Dabei verbessert die tägliche multiprofessionelle Visite (mindestens bestehend aus ärztlichen und pflegerischen Teammitgliedern) zum einen die Kommunikation der an der Behandlung beteiligten Professionen auf einer Intensivstation und zum anderen die Behandlungsqualität durch die Vermeidung von Komplikationen sowie die effektivere Umsetzung von geplanten Maßnahmen (9]. Hierbei können Checklisten verwendet werden, die folgende Punkte beinhalten sollten [8]: • Abstimmen der Kommunikation (Konsile/Angehörige/ weiterbehandelnde Einrichtungen) • Therapieziele/Therapiezieländerung • Ziele zur Analgesie, Sedierung und Delir-Management • Beatmung/Weaning/Atemtherapie • KreislaufiFlüssigkeitshaushalt • Ernährung • Infektionsmanagement • Antwort auf die Frage der Notwendigkeit von Kathetern und anderen invasiven Verfahren

Qualitätsindikatoren in der lntensivmedizin • L. Martin • G. Marx

Aktuelles Wissen für Anästhesisten

Refresher Course Nr. 41 Mai 201 5 · Düsseldorf



• •

und niedrigen inspiratorischen Plateaudrücken ( 30 km/h • Fußgänger-/Zweirad-Kollision • Ejektion eines Insassen • Tod eines Insassen.

Update Schockraum-Management · M. Roessler

Spezielles/ maximales Team

111 1

überregionales Traumazentrum UMG Schockraum-Alarmierungsschema

135

Mai 2015 · Düsseldorf

Abbildung lb Stufe Grün Potentiell Schwerstverletzter - priklinisch stabil Auf Grund des Unfallhergangs / der Unfallkinetik sofortige Diagnostik und Überwachung erforderlich Präsenz: Unfallchirurgie FA/ FA-Standard + Fachpflege Anästhesiologie FA/ FA-Standard + Fachpflege Diagn. Radiologie FA, -Standard + MRTA Auf Anforderung weitere Disziplinen

Stufe Gelb Schwerstverletzter - Intervention erforderlich Patient unter präklinischen Maßnahmen stabil, aber mit dringendem Verdacht oder Anzeichen auf schwere Verletzungen, z.B.: •

SHT mit Bewusstseinseintrübung



Thoraxtrauma mit V. a. Pneumothorax oder respiratorische Insuffizienz



Bauchtrauma mit V. a. Organverletzung bei hämodynamischen Auffälligkeiten

Präsenz:

Unfallchirurgie Anästhesiologie Neurochirurgie Allgemeinchirurgie Diagn. Radiologie Neuroradiologie

FA/ FA-Standard +Assistent+ 2 Fachpflege FA / FA-Standard + Assistent + Fachpflege FA / FA-Standard FA/ FA-Standard FA / FA/ FA-Standard + MRTA FA/ FA-Standard+ MRTA

Auf Anforderung: FA/ FA-Standard Thorax-Herz-Gefäß-Chirurgie und weitere Fachdisziplinen Stufe Rot Vital bedrohter Schwerstverletzter - präklinisch instabil, akute Intervention erforderlich Patient mit offensichtlichen schweren Verletzungen, unter präklinischen Maßnahmen nur mangelhafte oder fehlende Stabilisierung der Vitalparameter möglich, z.B.: Hämodynamik instabil, ggf. Reanimation erforderlich •

Hirndrucksymptomatik mit drohender Einklemmung Schwere respiratorische lnsufiizienz

• Präsenz:

Patienten mit akuter Verschlechterung während des Transports bei initial stabilen Vitalparametern Unfallchirurgie Anästh esiologie Neurochirurgie Allgemei nchirurgil' Thora~-Herz-Gefäl\chirurgie Diagn. Radiologie Neuroradiologie

Oberarzt + FA + Assistenzarzt + 2 x Fachpflege Oberarzt + FA + Assistenzarzt + 2 x Fachpflege Oberarzt/ FA Oberarzt/ FA Oberarzt/ FA FA+ MRTA FA+ MRTA

Facharztpräsenz bis Eintreffen Oberarzt Auf Anforderung: Oberarzt/ FÄ weiterer Fachdisziplinen im Bereitschaftsdienst Logistik: Bereitschaft für notfallmäl~ige operative Intervention: lntensivbeatmungsgerät, Level-1 bereitstellen, Blutbank informieren, sofortige erweiterte Diagnostik vorhalten, Bereitschaft für interventionelle radiolo~ische Maf~nahmen. ©M. Roessler Ampelschema zur Schockraumalarmierung UMG.

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al. [4) soll das Schockraumteam für kritisch kranke Patienten aus einem Facharzt bzw. Oberarzt mit profunden notfall- und intensivmedizinischen Kenntnissen, einem Assistenzarzt und zwei Pflegekräften der Notfallaufnahme bestehen. Dieses Personal muss über entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zur Stabilisierung der Vitalfunktionen notwendig sind. Solange die Zusatzweiterbildung Notfallmedizin noch nicht existiert, sollte die Qualifikationsvoraussetzung für den Facharzt die Zusatzbezeichnung „lntensivmedizin" sein (4).

nahme über den Schockraum darstellen. Dies ist verständlich, da gleichlautende Diagnosen mit oder ohne vitale Bedrohung einhergehen können. Beispielhaft sei eine gastrointestinale Blutung genannt, die als Sickerblutung, aber auch als aktive Blutung mit drohender Exsanguination auftreten kann. Gleiches gilt für die Diagnose Apoplex, hinter der sich sowohl ein ischämischer Insult mit motorischer Aphasie ohne Paresen, aber auch eine intrakranielle Massenblutung mit dekompensiertem Hirndruck verbergen kann.

Ebenso gibt es keine allgemeingültigen Empfehlungen, welche Erkrankungen oder Zustände eine Indikation für eine Auf-

Da die Arbeitsdiagnose, unter der ein Patient eingeliefert wird, nicht die definitive Diagnose sein muss, erscheint es

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sinnvoll, die Aufnahme über einen Schockraum analog zum Notarzt-Indikationskatalog (61 zu regeln. Das bedeutet, dass entweder bereits eine Diagnose gestellt werden konnte, die eine Aufnahme über den Schockraum bedingt, z.B. ein STEMI (ST-Elevation Myocardial lnfarction, ST-Hebungsinfarkt), oder dass Störungen der Vitalfunktionen zur Aufnahme über den Schockraum führen (Tab. 3). Weil die stetig steigende Zahl von Patienten in den Notfallaufnahmen [1 5] zu sog. ,,Overcrowding"-Phänomenen führt, werden Sichtungssysteme (,, Triage"-Systeme) zur möglichst schnellen Identifikation von vital bedrohten Patienten eingesetzt. Die beiden in Deutschland am häufigsten eingesetzten Systeme sind das Manchester-Triage-System (MTS) [14] und der Emergency Severity Index (ESI)

[26, 27]. •



Beim Manchester-Triage System werden 200 Indikatoren (Diskriminatoren) in 50 Ablaufkarten zu unterschiedlichen Beschwerdekomplexen zusammengefasst. Mit Hilfe von allgemeinen und speziellen Indikatoren wird der Patient einer Dringlichkeitsstufe aus 5 Gruppen zugeordnet (Tab. 4, Abb. 2). Patienten der Gruppe 1 und ggf. der Gruppe 2 sollen über den Schockraum aufgenommen werden. Beim ESI werden in der ersten Stufe intubierte, pulslose, nicht ansprechbare Patienten oder solche mit Atemstillstand in Kategorie 1 eingeteilt. Alle anderen Patienten, deren Zustand hochriskant ist, werden der Kategorie 2 zugewiesen. Im weiteren Prozess werden die Patienten anhand ihres eingeschätzten Ressourcenbedarfs der Notfallaufnahme in die Stufen 3 - 5 eingeteilt. Patienten der Kategorie 1 und ggf. der Kategorie 2 sollen über den Schockraum aufgenommen werden (Abb. 3).

Die Scores haben eine ausreichende Reliabilität und Validität [23] - dies aber nur, wenn die Mitarbeiter in der Anwendung geschult sind und evtl. systematische Schwächen der Systeme verstehen.

Teamarbeit im Schockraum Teamleitung Laut der S3-Leitlinie zur Behandlung Schwerverletzter [22] gibt es keine belastbare Evidenz dafür, dass das Konzept eines „Traumaleaders" dem der Führung durch eine interdisziplinäre Führungsgruppe überlegen ist oder vice versa. Auch gibt es keine Hinweise darauf, dass die Zuordnung eines „Traumaleaders" zu einem bestimmten Fachgebiet (Unfallchirurgie, Chirurgie, Anästhesie) einen Einfluss auf das überleben des Patienten hat [22]. Gleichwohl konnte gezeigt werden, dass durch einen Teamleiter die Behandlungsabläufe und die Behandlungsergebnisse verbessert werden können [3, 13]. Der statt des „Traumaleaders" vorgeschlagene „Teamkoordinator" [1] soll die Abläufe organisieren, für die Verfügbarkeit der

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Tabelle 3 ABCDE-Schema für Aufnahmeindikationen in den Schockraum, siehe auch [4, S]. A - Beeinträchtigung des Atemweges (Airway) - A-Problem • Fremdkörperaspiration (Kinder) • Schwellung im Bereich der Atemwege (Quincke-Ödem) • Obstruktion der Atemwege durch Tumor (Zungengrund/ Larynx-Karzinom) • Tumorarrosionsblutung • Präklinische Atemwegssicherung mit supraglottischem Atemweg • Schwieriger Atemweg (ggf. auch durch Verletzung der Halswirbelsäule) B - Beeinträchtigung der Atmung/ Beatmung (Breathmg)B-Problem • Akute respiratorische Insuffizienz mit Indikation/ bereits initiierte nichtinvasive Beatmung - hypoxämisch (AF > 25/min, Sp02 < 95% trotz Sauerstoffgabe) - hyperkapnisch (pH < 7,35, paCO2 > 45 mm Hg) • lnvasive Beatmung • Pneumothorax/ Spannungspneumothorax C - llccintr;khtigung der Hämodynamik (Circulation! - C-Problem • Schock: hypovolämisch, kardiogen, distributiv (anaphylaktisch, neurogen, septisch) • Z. n. / Z. b. Reanimation • STEMI, N-STEMI (z.B. echokardiographisch gesichert) • Herzrhythmusstörungen (SVT, VT, AV-Block 0 11- 0 111) D - Störungen der Bewusstseinslage /01sability) - D-Problem • Akute qualitative oder quantitative Bewusstseinsstörung, vor allem unklarer Genese • Akuter ischämischer Apoplex • Intrakranielle Blutung (SAB, ICB) • Intoxikation mit Bewusstseinsstörung E - Exploration/ Evaluation der Umgebungsfaktoren rExposure .' Environement)- E-Problem • Hypothermie (akzidentell oder krankheitsbedingt) • SKAMEL-Schema abgeleitet vom SAMPLE-Schema: Symptome - Krankheiten - Medikation - Ereignisse vor dem Krankheitseintritt- Letzte Nahrungsaufnahme (SAMPLE = Symptoms -Allergies - Medication - Past Medical History- Last Oral lntake - Events prior to incident / environement - Risk Factors).

AF = Atemfrequenz, AV = atrioventrikulär; ICB = lntracranielle Blutung; paCO2 = arterieller Kohlendioxidpartialdruck; SAB = Subarachnoidalblutung; SpO, = pulsoyxmetrisch bestimmte arterielle Sauerstoffsättigung; STEMI = ST-Elevation Myocardial lnfarction, ST-Hebungsinfarkt; N-STEMI = Non-STEMI; SVT = supraventrikuläre Tachykardie; VT = ventrikuläre Tachykardie.

Tabelle4 Gruppen des Manchester-Triage-Systems (MTS). Gruppe

Farbe

Bezeichnung

Maximale Wartezeit

1

I\Clf

\1>tort

() ,\\111t1lt'll

3

Gelb

Dringend

30 Minuten

4

Grün

Normal

90 Minuten

5

Blau

N1d1t dringend

120 Minuten

lli'

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Abbildung2

N

ORANGE

N



GELB

Mäßiger Schmerz/ Unstillbare kleine Blutung? Bericht über Bewußtlosigkeit/ Anhaltendes Erbrechen/ Heißer Erwachsener/

1 N

GRÜN

Jüngerer leichter Schmerz/ Überwärmt/ Jüngeres Problem?

Generelle Indikatoren des Manchester-Tri~ge-Systems (MTS). www.ersteinschaetzung.de/content/beispieldiagramme-mts

diagnostischen und therapeutischen Ressourcen sorgen, das Zeitmanagement beachten und bis zur definitiven Verlegung des Patienten vom Schockraum in den OP oder auf die Intensivstation ununterbrochen anwesend sein.

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Der Teamkoordinator im Schockraum muss in der Versorgung kritisch kranker Patienten besonders erfahren sein und ein interdisziplinäres Team führen können (Tab. 5).

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Tabelle 5

Abbildung 3

Anforderungsprofil für einen Teamleiter in Schockraum (17, 19, 20]. lntubiert, apnoeisch, pulslos? oder Nicht ansprechbar?

-

Ja

1 Nein



Hochrisiko-Situation? oder Verwirrt, lethargisch, desorientiert? oder Starke Schmerzen, Unwohlsein?

7



Welchen

Gefahrenzone

Ressourcenbedarf hat der PatienU

Vitalzeichen

Zwei und mehr - Ja-.

Alter

Plus AF

8J.

>180 >160 >140 >100

Ja

_J

>50 >40 >30 >20

Keine - - - - - -

Tabelle 6 Prinzipien des Crisis-Resource-Managements (1 1].

1. Antizipation und Planung Ja

Generell: Sa02