Refresher Course Aktuelles Wissen für Anästhesisten / Nr. 36. 19. - 22. Juni 2010, Nürnberg
 9783932653322, 3932653327

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Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung

Refresher Course Aktuelles Wissen für Anästhesisten Nr. 36 19. - 22. Juni 2010, Nürnberg

Herausgegeben von der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung

Aktiv Druck & Verlag GmbH

Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (DAAF) Schriftführung: Prof. Dr. med. T. Koch Direktorin der Klinik und Poliklinik für Anaesthesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Fetscherstraße 74 01307 Dresden Internet: www.uniklinikum-dresden.de E-Mail: [email protected]

ISSN 1431-1437 ISBN 978-3-932653-32-2 Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach Aktuelles Wissen für Anästhesisten: Refresher Course / hrsg. von der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung. ISSN 1431-1437 Nr. 36, Juni 2010, Nürnberg- (2010) ISBN 978-3-932653-32-2 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1%5 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach http://www.aktiv-druck.de ©

Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach 2010 Printed in Germany

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IV

Geleitwort

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Refresher Course auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) hat sich - neben den weiteren etablierten DAAF-Veranstaltungen und Repetitorien - zu einem der herausragenden Instrumente der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Sinne der Continuing Medical Education (CME) entwickelt. Auf dem DAC 2010 in Nürnberg wird der nunmehr 36. Refresher Course der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (DAAF) angeboten, der in bewährter Tradition eine breite Palette von aktuellen Themen beinhaltet und alle Bereiche von klinischer Anästhesie über die Intensivmedizin und Notfallmedizin bis zur Schmerztherapie abdeckt. Namhafte Referenten geben in zehn Sitzungen einen Überblick über den aktuellen Wissensstand unseres Fachgebietes und tragen somit maßgeblich zur Qualitätssicherung in unseren täglichen Aufgaben bei. Auch in diesem Jahr werden die Beiträge wieder in dem Ihnen vorliegenden Buchband zusammengefasst. Er soll interessierten Kolleginnen und Kollegen die Gelegenheit geben, die Themen nachzulesen, nachzuarbeiten und zu vertiefen. Ein besonderer Dank gilt den Referenten und Autoren, die sich neben ihren klinischen Verpflichtungen die Mühe gemacht haben, einen aktuellen Überblick über die Entwicklungen des Fachgebietes herauszuarbeiten. Mit ihrer Hilfe konnte wieder ein hochwertiger Weiterbildungsbeitrag geschaffen werden. Wir wünschen den Lesern viel Freude mit diesem Werk und hoffen, dass die vorgetragenen Aspekte in Ihrer täglichen Arbeit nutzbringende Anwendung finden.

Prof. Dr. med. Thea Koch - Präsidentin der DAAF -

Prof. Dr. med. Hans Anton Adams - Vizepräsident der DAAF -

V

Inhaltsverzeichnis

Der Lokalanästhesie-Zwischenfall J. BISCOPING . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Update rückenmarksnahe Regionalanästhesie weniger Nutzen, mehr Gefahr? P. KESSLER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . 11 Was ist Narkose? Mechanismen Anästhetika-induzierter Bewusstlosigkeit G. SCHNEIDER . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . 27 Neuromonitoring in der Anästhesie - was ist wichtig? J. W ALLENBORN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Erstversorgung des Neugeborenen F. EIFINGER, U. TRIESCHMANN, B. R OTH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1 TRALI und andere akute Transfusionsreaktionen L. GOUDEVA, H .-G . HEUFf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Neuroanästhesie H . THEILEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Herz-Kreislauf-Monitoring - Was ist Evidenz-basiert? D. A. REUTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Prinzipien der Antibiotikatherapie R. FüSSLE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . •

10 1

Therapie mit vasoaktiven Substanzen M. WESTPHAL, B. ELLGER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . 117 Aktueller Stand der Sepsis-Leitlinien G. MARX, F. M . BRUNKHORST . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Dysnatriämien bei Intensivpatienten M. LICHTWARCK-ASCHOFF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Akutversorgung von Patienten mit ischämischem Schlaganfall K. WEISSENBORN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1 Grundlagen der Hämostase: Physiologie, Pathophysiologie und klinisch-praktische Perspektiven R. E. SCHARF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Welcher PEEP für wen? G. HUSCHAK, T. BUSCH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209 VII

Postoperative Darmatonie M. K. HERBERT ...••........•..•.•........•..•..•..••..•...•.••••.•.. 217 Der Notfallplan des Krankenhauses H. A. ADAMS . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.. . . . . . . . . .... . . . . . . . . ...

225

MÜLLER . . . . . . . . . . • . . . • . . . . . . . • . . • . . . • • . . . . . • • • • • . . . • . . • . • . . • . •

255

Gefäßzugänge im Notfall M.

P.

Perioperative Schmerztherapie bei Kindern C. PHILIPPI-HÖHNE .•...•...•..••..••..••..••....

• .••..••.....••••••..

265

Nicht-Opioid Analgetika für die postoperative Analgesie - Update 2010

E.M.POGATZKI-ZAHN,P.K.~HN ...................................... 277

VIII

Verzeichnis der erstgenannten Autoren

BISCOPING, J., PROF. DR. Klinik für Anästhesie und Operative Intensivmedizin St. Vincentius-Krankenhäuser Steinhäuserstr. 18, 76137 Karlsruhe KESSLER, P., PROF. DR.

Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin Orthopädische Universitätsklinik Friedrichsheim gGmbH Marienburgstr. 2, 60528 Frankfurt SCHNEIDER, G., PROF. DR. Klinik für Anaesthesiologie Klinikum rechts der Isar der TU München Ismaninger Str. 22, 81675 München

J., DR. MED. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Leipzig, Liebigstr. 20, 04103 Leipzig W ALLENBORN,

U., DR. MED. Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin Uniklinik Köln Kerpener Str. 62, 50924 Köln

TRIESCHMANN,

HEUFf, H. G., PROF. DR. MED. Institut für Transfusionsmedizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover

H., PROF. DR. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden Fetscherstraße 74, 01307 Dresden THEILEN,

D., PROF. DR. MED. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistr. 52, 20246 Hamburg REUTER,

FüSSLE, R., PROF. DR. Institut für Medizinische Mikrobiologie Universitätsklinikum Gießen und Marburg Frankfurter Straße 107, 35392 Gießen

M., PROF. DR. MED. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin Universitätsklinikum Münster Albert-Schweitzer-Straße 33, 48149 Münster

WESTPHAL,

IX

G., UNiv.-PRoF. DR. MED. Klinik für Anästhesiologie Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30, 52074 Aachen

MARX,

M., PROF. DR. MED. Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin Klinikum Augsburg Stenglinstr. 2, 86156 Augsburg LICHTWARCK-ASCHOFF,

K., PROF. DR. MED. Klinik für Neurologie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover

WEISSENBORN

SCHARF, R. E., ÜNIV.-PROF. DR. MED. Institut für Hämostaseologie und Transfusionsmedizin Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf

G., DR. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Leipzig Liebigstr. 20, 04103 Leipzig HUSCHAK,

HERBERT, M. K., PROF. DR. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie der Universität Würzburg Oberdürrbacher Strasse 6, 97080 Würzburg ADAMS, H. A., PROF. DR. MED. Interdisziplinäre Notfall- und Katastrophenmedizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover MÜLLER,

M., DR.

Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und lntensivtherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden Fetscherstraße 74, 01307 Dresden HöHNE,

c., PROF. DR. MED.

Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Leipzig Liebigstr. 20, 04103 Leipzig POOATZKI-ZAHN, E., PROF. DR. MED. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Operative lntensivmedizin Universitätsklinikum Münster Albert-Schweitzer-Straße 33, 48149 Münster

X

Der Lokalanaesthesie-Zwischenfall J.

BISCOPING

Bei der weiten Verbreitung regionalanaesthesiologischer Techniken im klinischen Alltag unter Verwendung der verschiedenen kurz, mittellang und lang wirkenden Lokalanaesthetika könnten unter einem Lokalanaesthesie-Zwischenfall auch klinische Situationen verstanden werden, die der Technik des jeweiligen Verfahrens zuzuordnen sind. Im Folgenden werden jedoch diese Aspekte bewusst nicht dargestellt und diskutiert. Vielmehr ist es das Ziel des nachfolgenden Beitrags die klinische Situation der akuten, systemischen Toxizität durch Lokalanaesthetika sowie die Prinzipien ihrer Entstehung und den aktuellen Stand der Behandlung darzustellen. Da sich aus den physiko-chemischen Kenngrößen der Lokalanaesthetika neben ihren klinisch wünschenswerten Eigenschaften auch zwanglos die Effekte ableiten lassen, die im Zusammenhang mit dem Ausmaß und der Schwere der akuten Intoxikation stehen, ist es eingangs sinnvoll einige Aspekte darzustellen, die den zellulären Wirkmechanismus von Lokalanaesthetika charakterisieren. Durch grundlegende Untersuchungen in den 1960er Jahren konnte die LokalanaesthetikaWirkung an Nervenzellmembranen als reversible Blockade des schnellen Natrium-Einstroms identifiziert werden. Dabei wurde auch geklärt, dass nur die ungeladene Base die axonale Zellmembran durchdringt und, dem intrazellulären pH-Milieu entsprechend, erneut in eine geladene und eine ungeladene Form dissoziiert. Vom Axonplasma aus gelangt dann das Lokalanaesthetikum als hydrophiles Molekül in den inneren Anteil des Natrium-Kanals, wo es zur vorübergehenden Blockade des schnellen Natrium-Einstroms beiträgt. Neben diesem sogenannten hydrophilen Eintrittsweg in den Natrium-Kanal führten Untersuchungen mit Benzocain zur Hypothese eines zweiten, hydrophoben Eintrittsweges, der die ungeladenen Moleküle (Base) direkt aus der Membran in den Bereich ihrer Bindungsstelle führt (13, 14, 27). Die Einführung und Anwendung der Einzelkanal-Analyse im Sinne der „patch-clampTechnik" durch die Nobelpreisträger Neher und Sakmann hat vielfältige Möglichkeiten eröffnet, den molekularen Mechanismus der Lokalanaesthetika-Wirkung auf Zellebene intensiver zu untersuchen. Mit dieser revolutionären Technik in der Zellbiologie war es erstmals möglich, Ionen-Kanäle in erregbaren Membranen direkt nachzuweisen und bezüglich ihres Funktionssystems zu charakterisieren. Nachdem dann Ende der 1980er Jahre der Arbeitsgruppe um Vogel die Demyelinisierung von Nervenaxonen durch enzymatische Behandlung mit Kollagenase und Protease gelang, konnte insbesondere von diesen Untersuchern mittels der patch-clamp-Methode gezeigt werden, dass Lokalanaesthetika in der Lage sind, substanzspezifisch und unterschiedlich bestimmte Ionen-Kanäle zu blockieren (4). Mit der Kenntnis, dass Lokalanaesthetika als ionisierte Moleküle von der Innenseite der Zellmembran wirken, nachdem sie zuvor als ungeladene Moleküle die Zellmembran passiert haben, untersuchte diese Arbeitsgruppe mit der vorgenannten Technik die Wirkung von Bupivacain, Ropivacain, Etidocain, Tetracain, Lidocain, Mepivacain und Procain (3). Sie konnten dabei nachweisen, dass die eingesetzten Lokalanaesthetika nicht zu einer Veränderung der Leitfähigkeit des einzelnen Natrium-Kanals führen, sondern zu einer Verhinderung der Kanalöffnung, das sogenannte „gating". Letzteres ist eine Struktur in Form einer Schleuse, die den Kanal wahrscheinlich nach Maßgabe eines Spannungssensors öffnet oder schließt. Zur Blockade von 50% der jeweils untersuchten Natrium-Kanäle erwies sich in den Untersuchungen von Bräu et al. z.B. Bupivacain acht mal potenter als Lidocain (5).

1

Die blockierende Wirkung der Lokalanaesthetika wurde auch an anderen Ionen-Kanälen, wie Kalzium- und verschiedenen Kalium-Kanälen nachgewiesen. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die im Gegensatz zu Lidocain und anderen AmidLokalanaesthetika ausgeprägtere Blockade eines speziellen Kalium-Kanals durch Bupivacain und Ropivacain. Wegen seiner Eigenschaft des schnellen Öffnens und Schließens wurde dieser Ionen-Kanal als „Flicker-Kanal" bezeichnet. Er kommt vorwiegend in dünnen, schmerzleitenden Fasern vor und ist an der Generierung des Ruhepotenzials beteiligt. Diese nahezu Bupivacain- und Ropivacain-spezifische molekulare Eigenschaft der Blokkade des Flicker-Kanals könnte eine wesentliche Erklärung für die klinisch sehr geschätzte Differenzialblockade - Ausschaltung der Schmerzes bei erhaltener Motorik - von Bupivacain und Ropivacain sein. Eine Bedeutung für die akute, systemische Toxizität dieses Kanals ist unwahrscheinlich. Eine zunächst kontroverse, dann aber unser aktuelles Wissen entscheidend beeinflussende Diskussion um die Toxizität von Lokalanaesthetika kam in Gang, als Albright 1979 über mehrere Herzstillstände nach Regionalanaesthesien mit den lang wirkenden Lokalanaesthetika Etidocain und Bupivacain berichtete (1). Seiner Ansicht von erhöhter Kardiotoxizität dieser lang wirkenden Lokalanaesthetika wurde zwar anfänglich heftig widersprochen (22, 26), doch lagen bald eindeutige experimentelle Studien vor, welche die Ansicht Albrights bestätigten. So ergaben Untersuchungen an Schafen mit Bupivacain blutspiegelabhängige Arrhythmien, die nach multifokalen ventrikulären Extrasystolien oder ventrikulären Tachykardien zum Tod durch Asystolie führten, ohne dass eine Hypoxie oder Azidose vorlag. Für Lidocain ließen sich solche Effekte in lokalanaesthetisch aequivalenten Dosierungen nicht nachweisen (18). Experimente mit Lidocain und Bupivacain am isolierten Herzmuskel konnten diese Beobachtungen auch auf zellulärer Ebene erklären (6, 16). Während Lidocain schnell in den offenen Natrium-Kanal eindringt und ihn ebenso schnell wieder verlässt (,,fast in - fast out" drug), dringt Bupivacain zwar ebenso schnell ein, verlässt seine Bindungsstelle jedoch sehr viel langsamer (,,fast in - slow out" drug). Dies führt - besonders bei schneller Folge der Aktionspotenziale - zu einer Kumulation der Bupivacain-Konzentration am Wirkort. Die hohe Lipophilie der lang wirkenden Lokalanaesthetika ist im Wesentlichen für diese Rezeptor-Kinetik verantwortlich.

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Abb. 1: Zusammenhang zwischen myokardialem Aktionspotential und Besetzung der Natriumkanäle mit Lokalanaesthetika (6); die Kanalzustände sind mit R (rested), 0 (open), I (inactivated) gekennzeichnet.

2

Die Suche nach einem lang wirkenden Lokalanaesthetikum mit ähnlicher klinischer Wirksamkeit, aber reduzierter Toxizität gegenüber Bupivacain, wurde im Wesentlichen ausgelöst durch die Daten, die von Albright der FDA (US-Food and Drug Administration) mitgeteilt worden waren. Auch wenn diese Zwischenfälle überwiegend im Zusammenhang mit epiduraler Anwendung der Substanzen in der Geburtshilfe standen, so wurde aber auch über 14 schwere Zwischenfälle im nicht-geburtshilflichen Bereich berichtet. Von den 49 dokumentierten schweren Zwischenfällen endeten 21 tödlich. Die intensive fachliche Diskussion, die in der Folge weltweit geführt wurde, hat nicht nur in letzter Konsequenz zur Suche nach pharmakologischen Alternativen geführt, sondern auch zu einem strukturierteren Ablauf bei der Anwendung von Lokalanaesthetika. Vor allem in der Ausbildung wurde vermehrt darauf geachtet, dass und wie akute Toxizität durch Anwendung von Lokalanaesthetika, hier vor allem die versehentliche intravasale Injektion, verhindert oder zumindest frühzeitig erkannt werden kann. 1.

akzidentelle Intravasale Injektion

2.

akzidentelle Intravasale Injektion

3.

akzidentelle Intravasale Injektion

4.

Überdosierung (Resorption)

5.

Hypoxie, Azidose, Hypothermie

6.

Allergie (bei Amid-LA sehr selten)

Tab. 1: Ursachen der akuten Toxizität durch Lokalanaesthetika.

Merke: Die langsame und fraktionierte Injektion des Lokalanaesthetikums gibt dem Patienten die Möglichkeit, mit klinischen Symptomen einer leichten Intoxikation zu reagieren, bevor die gesamte, einen schweren Zwischenfall auslösende Dosis appliziert worden ist. Merke: Es gibt kein Verfahren der Regionalanaesthesie, bei welchem die Injektionsgeschwindigkeit in einem sinnvollen, positiven Zusammenhang mit dem Blockadeerfolg steht.

Auf der Suche nach pharmakologischen Alternativen zu dem klinisch sehr geschätzten Wirkprofil von Bupivacain (Blockadedauer, Blockadeintensität, Möglichkeit zur Differenzialblockade) wurden sogenannte Stereoisomere synthetisiert und geprüft, die letztlich zur klinischen Einführung von Ropivacain und Levobupivacain geführt haben. Die physiko-chemischen Eigenschaften, im Vergleich zu Lidocain, sind in Tabelle 2 dargestellt. Während sich Levobupivacain grundsätzlich darin nicht von Bupivacain unterscheidet, ist es vor allem die um 2/3 reduzierte Lipophilie (Verteilungskoeffizient), die Ropivacain bei ansonsten vergleichbarem klinischen Profil deutlich von Bupivacain unterscheidet. In einer Untersuchung an Meerschweinchenherzen mit Bupivacain, Ropivacain und Lidocain wurden die Zeitkonstanten zur Erholung des Natrium-Kanals von der substanzspezifischen Blockade ermittelt (2, 21). Diese betrug für Bupivacain 2,1 Sekunden, für Ropivacain 1,4 Sekunden und für Lidocain 0,2 Sekunden. Gleichsinnige Hinweise zur verringerten Kardiotoxizität von Ropivacain im Vergleich zu Bupivacain lassen sich auch aus Untersuchungen von Feldman und Mitarbeitern (9) ableiten.

3

Lidocain

Ropivacain

Bupivacain

Molekulargewicht

234

274

288

pK

7,7

8,1

8,1

2,9

10

94

95

Verteilungskoeff.

65

Proteinbindung(%)

Tab. 2: Vergleichende Darstellung der physiko-chemischen Eigenschaften von Lidocain, Ropivacain und Bupivacain. Bedeutsam ist vor allem die stark differierende Llpophilie gekennzeichnet durch den jeweiligen Verteilungskoeffizienten.

Eine neue Sichtweise und Erklärungsmöglichkeit für die kardiotoxischen Effekte von Lokalanaesthetika ergab sich durch die Möglichkeit, den mitochondrialen Stoffwechsel von isolierten Myokardzellen unter dem Einfluss verschiedener Lokalanaestetika zu untersuchen (28). Hierbei fanden sich Ergebnisse, welche in großer Kongruenz mit den Ergebnissen von Untersuchungen an Organ-Präparationen ( 11) oder klinischen Erfahrungen standen. Während Lidocain über weite Konzentrationsbereiche die mitochondriale ATP-Synthese nahezu nicht beeinflusst, war für Bupivacain ein deutlicher Einfluss bereits bei geringen Konzentrationen nachzuweisen, bei einer Konzentration von 3 µmol war die Syntheserate vollständig unterdrückt (Abb. 2). Für Ropivacain ließ sich bei gleicher Konzentration (3 µmol) nur eine im Mittel um 40% reduzierte Syntheserate gegenüber dem Ausgangswert nachweisen. Diese einerseits dosisabhängigen und andererseits sehr deutlich substanzspezifischen Einflüsse der Lokalanaesthetika auf die oxydative Phosphorylierung, und somit auf den mitochondrialen Energiestoffwechsel korrelieren verblüffend mit den experimentellen und klinischen Daten zur Kardiotoxizität dieser Substanzen.

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18-29

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30-39

40-49

50-59

60-69

70·79 >=80 Jahre

Abb. 1: Reduktion des Propofol-Gesamtverbrauchs in Abhängigkeit vom Lebensalter und mittels EEGgesteuerter Anästhesie (modifiziert nach Wilhelm et al. 2002) * = p 100/min ? Reifealter ? (> 37.SSW)

1

Erste Evaluation

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Warm halten Abtrocknen Absaugen Neutrale Kopfposition

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1

Atemfrequenz ? Herzfreqeuenz ? Hautkolorit ? Muskeltonus ?

2

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Kontinuierliche Überwachung von: -

HF< 60/min

Pulsoxymetrischer Sättigung (präduktal, ggf. zusätzlich postduktal)

Herzfrequenz Atemfrequenz Oszillometrischer Blutdruck

Blutgasanalyse, Blutzucker Körpertemperatur

4-- - --

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Alle 30 Sekunden überprüfen

Abb. 1: Neugeborenen-Reanimationsalgorithrnus in Anlehnung an ILCOR2 und unter Berücksichtigung von

3•4

1) Gestörte Adaptation - erste Massnahmen: Sind die o.g. Kriterien (1.-7) nicht oder nur teilweise erfüllt, so sollte die weitere Versorgung des reifen Neugeborenen unbedingt das Eröffnen bzw. Offenhalten der Atemwege zum Ziel haben. Oftmals ist mit der mangelnden Entfaltung der Lungen und der ungenügenden Rekrutierung, der bei Früh- und Neugeborenen per se reduzierten funktionellen Residualkapazität (FRC), eine gestörte respiratorische Adaptation vergesellschaftet (z.B. nach Sectio caesarea)3-5• Taktile Stimulation des Kindes (Abtrocknen) sowie oropharyngeales Absaugen können eine erste sinnvolle Maßnahme sein. Desweiteren ist darauf zu achten, dass das Neugeborene nicht in durchnässten Tüchern und Stoffwindeln verbleibt. Der Wärmeverlust durch Konduktion, Konvektion, Strahlung und Verdunstung ist, je unreifer das Neugeborene, erheblich und kann bei Frühgeborenen die gestörte Adaptation durch Bradykardieneigung, Laktatazidose sowie der Gefahr einer Hirnblutung verstärken. Die Überlebensrate z.B. von sehr kleinen Frühgeborenen (< 1500g Geburtsgewicht) ist signifikant von der Körperkerntemperatur abhängig. Dieser direkte Einfluß besteht, wenn auch in etwas geringerem Ausmaß, ebenso bei reifen Neugeborenen. Der Wärmeverlust sollte durch externe Heizstrahler sowie das Schließen von nahegelegenen Türen und Fen· stern reduziert werden 6 •

52

Einzige Ausnahme von diesem Vorgehen ist die induzierte Hypotherinie7 bei asphyktischen Neugeborenen (> 36.SSW) mit primärer Reanimationsbedürftigkeit (s.u.). Hier sollte eine aktive externe Wärmezufuhr unterbleiben. Zusätzlich erfolgt die Bestimmung der Herzfrequenz, Atemfrequenz sowie des Hautkolorit und der Mikrozirkulation. Die nachfolgende Tab. 1 gibt Anhalt über die N ormwerte bei reifen Neugeborenen: Körpergewicht:

2800 - 4300 g

Körperlänge:

46 - 58 cm

Kopfumfang:

32,5 - 36,5 cm

Herzfrequenz:

70 - 190 / min

Atemfrequenz:

22-40/min

Systolischer RR:

50 - 70mmHg

Diastolischer RR:

28 - 45 mmHg

Tab. 1: Normwerte des reifen Neugeborenen (10 - 90. Perzentile)

Die Herzfrequenz lässt sich während der ersten Lebensminuten leicht an Hand des Nabelschnurpulses ermitteln. Ein kurzer Griff an den Nabelschnuransatz lässt die Herzfrequenz sicher ermitteln. Danach erfolgt die auskultatorische Bestimmung. Alternativ sind neben der Arteria brachialis noch die Aa. femorales sowie die Aa. dorsalis pedis und radialis tastbar. Bei den beiden Letztgenannten ist ein sicheres Palpieren nicht immer möglich. Die Atemfrequenz lässt sich an Hand der Thoraxexkursion bzw. durch die teilweise deutlich hörbaren Atemgeräusche feststellen. Neugeborene benötigen zur Eröffnung und zum Offenhalten der Alveolen einen positiv-endexpiratorischen Druck (PEEP). Bei gestörter respiratorischer Adaptation in Folge eines Lungenkollapses oder sonstiger neonatologischer Grunderkrankungen (z.B. Surfactantmangel, Infektion u.a.) atmen Neugeborene reflektorisch gegen stärker verschlossene Ligamenti vocali. Dieser endogene Mechanismus erhöht den intrapulmonalen PEEP und stellt eine autoregulatorische Maßnahme des Neugeborenen zur Rekrutierung der FRC dar. Dieses Atmen gegen eine teilweise verschlossene Stimmritze bedingt auch die hörbaren Atemgeräusche wie exspiratorisches Giemen und Stöhnen sowie interkostale, subphrenische und xiphoidale Einziehungen. Sie sind u.a. Folge eines „weichen", nicht verknöcherten, thorakalen Skelettes, welches durch den erhöhten negativen intrapleuralen Druck als Folge vermehrter Atemarbeit entsteht. Besteht dieser Zustand über einen längeren Zeitraum, kann daraus ein spontaner Pneumothorax entstehen. Das Hautkolorit des Neugeborenen spiegelt nur bedingt den Sauerstoffgehalt des Blutes wider. Die intrauterine Sauerstoffsättigung des Feten liegt zwischen 70% bis 80%. Dieses ist u.a. durch die linksverschobene Sauerstoffbindungskurve des fetalen Hämoglobins bedingt. Bei Feten reicht ein p02 von 20mmHg aus, um eine Sättigung von ca. 50% zu erzielen. Postnatal kommt es infolge des Einsetzens der Lungenatmung zu einem drastischen Anstieg der arteriellen Sauerstoffspannung (p02 intrauterin: ca. 27-35mmHg, p02 postnatal: ca. 70-lOOmmHg). Durch regelwidrige postnatale Adaptation kann, z.B. als Folge erhöhten pulmonal-arteriellen Widerstandes durch einen Alveolarkollaps, die Lungendurchblutung vermindert sein. Bedingt durch den erhöhten pulmonalen Widerstand fließt ein Teil des venösen Blutes entsprechend dem geringeren Widerstands durch Shunts (offenes Foramen ovale, offenen Ductus arteriosus Botalli) an der Lungenstrombahn vorbei und vermischt sich mit Blut aus dem linken Ventrikel (Persistierende Fetale Zirkulation: PFC). Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass pulsoxymetrische Messungen bei kranken Neugeborenen präduktal, d.h. an der rechten oberen Extremität, erfolgen müssen. Nur hier ist eine orientierende Messung des aus der Lungenstrombahn gesättigten Blutes möglich. U.u. kann es erforderlich sein, die Sättigung prä- und postduktal zu 53

messen. Sollte sich eine Sättigungsdifferenz zwischen den beiden Meßpunkten zeigen, so ist von einem erhöhten pulmonalen Gefäßwiderstand auszugehen. Liegt trotz schlechter Sättigungswerte keine Sättigungsdifferenz vor, so spiegelt dieses primär die schlechte pulmonale Oxygenierung (z.B. Pneumonie, Lungenödem, Surfactantmangel u.a.) wider. Abb.2 zeigt eindrucksvoll eine prä- und postduktale Sättigungsdifferenz bei einem Neugeborenen mit ausgeprägtem PFC-Syndrom.

Abb. 2: Präduktal (rechte Thoraxapertur sowie rechte obere Extremität) erscheint das Hautkolorit im Vergleich zu postduktal „rosiger" und von besserer Sauerstoffsättigung.

Eine Blutdruckmessung ist bei Neugeborenen nur unter Zuhilfenahme spezieller Neugeborenenmanschetten und spezieller Meßgeräte möglich und sollte wegen des Zeitaufwandes der erweiterten Reanimation vorbehalten bleiben. Für alle o.g. Basisuntersuchungen steht nur ein begrenzter Zeitraum zur Verfügung. In aller Regel sollte nach ca. 30 Sekunden bei regelwidriger kardiorespiratorischer Adapation eine Aussage über die Herzfrequenz, die Atemfrequenz, das Atemmuster sowie die Oxygenierung des kranken Neugeborenen gemacht werden können. 54

2) Sauerstoffgabe: Es gibt zur Zeit keine ausreichende Evidenz für die Festlegung der optimalen Sauerstoffkonzentration zu Beginn oder im Rahmen einer Neugeborenenreanimation. Verschiedene Studien der letzten Jahre erwägen eine potentielle Schädigung von reinem Sauerstoff auf die Atemphysiologie und den zerebralen Kreislauf sowie Gewebsschädigung durch freie Sauerstoffradikale sowie die zelluläre Schädigung durch den eigentlichen Sauerstoffmangel selbst. Eine eindeutige Empfehlung lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht herleiten, jedoch scheint die Verwendung von Raumluft die Mortalität günstiger als die Verwendung von 100% Sauerstoff zu beeinflussen8- 10 • Wir empfehlen die Verwendung eines Sauerstoffmischers bzw. Sauerstoffblenders und beginnen i.d.R. mit der Gabe von 40 - 60% Sauerstoff. Dabei orientieren wir uns in der Steuerung der Sauerstoffkonzentration an den präduktalen pulsoxymetrischen Messwerten. Die Datenlage ist derzeit nicht ausreichend um ein Oxygenierungsziel zu definieren. Ziel sollte es jedoch sein, den Sauerstoff schnellstmöglich zu senken. Es sind jedoch auch Ausnahmen (pulmonaler Hypertonus u.a.) und andererseits (relative) Kontraindikationen für die Verwendung von Sauerstoff zu beachten: Hypoplastisches Linksherz-Syndrom, Linksherz-Obstruktionen, große links-rechts Shunt-Vitien, z.B. DORV (double outlet right ventricle), Mitralklappenatresie, hypoplastischer Aortenbogen, AV-Kanal, druckangleichender VSD. 3) Maskenbeatmung/ Intubation: Wenn nach den initialen Massnahmen (siehe 1.) keine ausreichende Spontanatmung vorhanden ist, hat die Belüftung und Entfaltung der Lungen oberste Priorität. Primäres Kriterium zur Beurteilung einer adäquaten Lungenentfaltung ist das Heben und Senken des Thorax. Sekundäres Kriterium ist die Verbesserung der Herzfrequenz, der Oxygenierung u.a. Vitalparameter. Die Maskenbeatmung sollte mit einem geeigneten Beatmungsbeutel durchgeführt werden. Hierzu gehört die Verwendung eines Sauerstoffreservoirs mit Sauerstoffanschluß, ein PEEP-Ventil sowie ein Überdruckventil, welches sich bei ca. 40mbar automatisch öffnet und manuell verschlossen werden kann. Zudem sind unterschiedliche Masken (Größe 00, 0, 1) vorzuhalten. Der optimale Beatmungsspitzendruck (PiP) kann nicht pauschal angegeben werden und orientiert sich an der thorakalen Exkursion. Falls vorhanden, sollte zur Rekrutierung der FRC ein continous-flow System angewendet werden. Hierbei wird über einen kurzen Zeitraum von etwa 20 Sekunden, eingestellt über den Gas-Flow, ein Spitzendruck von bis zu 25mbar über die Beatmungsmaske appliziert3 (z.B. Bubble-CPAP-System, Benveniste-Ventil, Neopuff™ u.a. ). Danach ist von einer ausreichenden Lungenrekrutierung auszugehen. Im Anschluß kann dann mit einer Maskenbeatmung oder CPAP-Atemunterstützung fortgefahren werden. Sollte ein solches System nicht vorhanden sein, so ist zu bedenken, dass herkömmliche Beatmungsbeutel dieses lange Inspirations-Plateau von 25mbar nicht aufrechterhalten können. Trotzdem sollte zunächst eine Beutelbeatmung erfolgen und das inspiratorische Plateau über 2 und 3 Sekunden aufrecht erhalten werden. Das PEEP-Ventil sollte auf mindestens 5mbar eingestellt werden. Im weiteren Verlauf liegt das inspiratorische Plateau dann bei einer Sekunde und einer Beatmungfrequenz von ca. 30/min. Eine Hypokapnie sollte dabei vermieden werden (Gefahr der zerebralen Ischämie). Das Neugeborene sollte sich hierzu in Rückenlage und Kopfmittelstellung befinden. Zur adäquaten Kopflagerung kann ein Handtuch unter die Schultern des Neugeborenen gelegt werden. Um die Atemwege bei einem hypotonen Neugeborenen zu eröffnen, kann der Esmarch-Handgriff oder ein oropharyngealer Tubus hilfreich sein. Eine suffiziente Mas55

kenbeatmung kann über einen größeren Zeitraum (>10 Minuten) eine ausreichende Oxygenierung sicherstellen, jedoch ist zu beachten, das das Legen einer Magensonde und das Entlüften des Magens im Verlauf einer längerfristigen Maskenbeatmung meistens erforderlich wird. Der Goldstandard zur Sicherung der Atemwege ist die Intubation, jedoch erfordert dies ein gewisses Maß an Übung und Erfahrung und sollte daher dem „Erfahrensten" obliegen. Zur Verfügung stehen Tuben unterschiedlicher Hersteller. Diese müssen in verschiedenen Größen (2.0, 2.5, 3.0, 3.5) vorgehalten werden. Bei reifen Neugeborenen ist i.d.R. die Tubusgrösse 3.0 zu wählen, wobei u.U. auch eine Reduktion in Erwägung gezogen werden muß (z.B. bei Mißbildungen, Ödem u.a.). Ggf. kann ein äußerer Druck auf den Kehlkopf die Einstellung unter laryngoskopischer Sicht erheblich verbessern. Zur Intubation sind cuftlose Tuben u.E. zu bevorzugen 11 , es werden aber auch gecuffte Tuben für Neugeborene angeboten 12 • Es ist überdies zu beachten, dass, je kleiner der Tubusdurchmesser ist, um so grösser die Gefahr einer Tubusobstruktion ist, insbesondere bei starker Sekretund Schaumbildung (z.B. RDS, Mekoniumaspiration u.a.). Wenn immer möglich, ist angewärmtes und angefeuchtetes Beatmungsgas zu verwenden. Wenn dies nicht möglich ist, sollte die Verwendung einer „feuchten Nase" zur Reduktion des exspiratorischen Wasserdampfverlustes angewandt werden. Die Tubustiefe und die zu verwendenden Tubusgrößen sind in Tabelle 2 dargestellt. Eine orale Intubation hat den Vorteil, dass sie schnell und meistens ohne Hilfsmittel wie z.B. einer Magill-Zange, durchgeführt werden kann. Hier sei jedoch erwähnt, dass die Fixierung und Tubusdislokation eine nicht zu unterschätzende Gefahr darstellt, da das „Tubusspiel" fixierungsbedingt einige Millimeter betragen kann. Alternativ kann eine Rachen-Tubus-Ventilation (Nasale Tubustiefe überprüfen, ca. 5cm) angewandt werden. Gewicht (g)

Tubustiefe (nasal in cm)

Tubusgröße 1D (mm)

500

7

2-2,5

1000

7,5

2,5

2000

8 - 10

2,5 - 3,0

3000

11

3,0 - 3,5

4000

11,5

3,5

Tab. 2: Nasale Tubustiefe bei reifen Neugeborenen

Zur endotrachealen Lagekontrolle sind die in Tab.3 aufgeführten Kriterien zu beachten: - sichtbare Stimmbänder? - symmetrische Thoraxexkursion? - Magenblase wird nicht prominent - seitengleiche Auskultation? - kein Flow-Geräusch über der Magenblase -Tubus-C02-Messung (z.B. Easy-cap•) positiv - Verbesserung der peripheren Sauerstoffsättigung - Verbesserung der Herzfrequenz

Tab. 3: Kriterien zur endotrachealen Lagekontrolle

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Neugeborene sind obligate Nasenatmer. Durch iatrogene Verlegung eines Nasenloches (z.B. Tubus, Magensonde u.a.) kann, ohne dass gleichzeitig eine ausreichende Ventilation gesichert ist, das Neugeborene in eine kritische Situation gebracht werden. Ggf. kann das Verwenden von verdünnter Oxymetazolin-Lösung zur Nasenschleimhautabschwellung hilfreich sein.

4. Herz-Druck-Massage und Defibrillation Bei einer persistierenden Herzfrequenz unter 60 Schlägen pro Minute wird bei Früh- und Neugbeborenen mit einer Herzdruckmassage begonnen, wenn trotz Sauerstoffzufuhr bzw. Maskenbeatmung und erfolgter Rekrutierung der FRC kein positiver Effekt auf die Herzfrequenz zu erkennen ist (maximal 15-30 Sekunden ventilieren, dann Herzfrequenz überprüfen). Der Druckpunkt sollte das untere Drittel des Sternums intermarnillär sein. Die Eindrücktiefe sollte ca. 1/3 des thorakalen Durchmessers betragen. Die Herzdruckmassage wird mit zwei Fingern durchgeführt. Das Neugeborene sollte auf einer festen Unterlage liegen. Das Verhältnis zwischen Herzdruckmassage und Maskenbeatmung beträgt 3: 1. Ziel sollte es sein, innerhalb einer Minute mindestens koordiniert 90 Herzdruckmassagen und 30 Beatmungshübe durchzuführen. Nach jeweils 30-60 Sekunden wird eine orientierende Überprüfung der Vitalparameter durchgeführt. Sollte die Herzfrequenz nicht mehr als 60 Schläge pro Minute betragen, wird die Herzdruckmassage bis zum Einsetzen einer eigenständigen höheren Herzfrequenz (>60/min) fortgeführt. Die Adrenalininjektion wird alle 1-3 Minuten wiederholt. Die Entscheidung über die Behandlung mittels Hypothermie (32-34°C über 72 Stunden) ist nachfolgend aufgeführt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der frühzeitige Beginn der Kühlung. Dieses schließt auch die Beendigung externer Wärmequellen (z.B. Wärmelampe) ein. Ein defibrillierbarer Rhythmus (Kammertachykardie, Kammerflimmern) wird nur sehr selten primär als Ursache eines Herz-Kreislaufstillstandes bei Neugeborenen angetroffen. Eine Defibrillation erfolgt standardisiert mit 4J/kg KG. Ein eigenständiger Algorithmus ist nicht vorhanden. Einschlusskriterien für die Hypothermiebehandlung (in Anlehnung an Horn et al.7): 1) asphyktische Neugeborene (>=36 SSW) definiert als: -10-Minuten-APGAR-Score = 16 mmol/1 im Nabelschnurblut oder sonstiger Blutprobe innerhalb der ersten Lebensstunde UND 2) Enzephalopathie mit abnormen Reflexmuster, muskulärer Hypotonie, Krampfanfällen, pathologisches EEG (HIE-Score nach Sarnatll)

5. Medikamentöse Reanimation Adrenalin: Bei einer Herzfrequenz < 60/min, die nicht auf eine adäquate Thoraxkompression und Ventilation ansteigt, ist der Einsatz von Adrenalin zu erwägen. Ist kein intravenöser oder intraossärer Zugang vorhanden, jedoch das Neugeborene endotracheal intubiert, so ist die endotracheale (e.t.) Gabe in einer Dosis von 0,lmg/kg durchzuführen. Die intravenöse 57

(i. v.) Applikation ist ansonsten der endotrachealen immer vorzuziehen. Für die intravenöse oder intraossäre Applikation wird eine Dosis von 0,0lmg/kg empfohlen. Eine Dosissteigerung erzielt keinen Nutzen. Bei Nichtansprechen wird diese Dosis entsprechend wiederholt gegeben. Offizielle Angaben über den Zeitraum, nachdem die Adrenalindosis wiederholt werden sollte, gibt es nicht. Eine repetitive Gabe bei Nichtansprechen erscheint nach ca. 1-3 Minuten sinnvoll. Bei Bradykardien kann Atropin in einer Dosis von 0,0lmg/kg infundiert werden (e.t. 0,lmg/kg). Stellt sich trotz Atropingabe und Sauerstoffzufuhr keine Steigerung der Herzfrequenz ein, so sollte auf weitere Gaben zu Gunsten von Epinephrin verzichtet werden. Volumenexpansion: Studien zur Volumenexpansion im Rahmen der Reanimation gibt es nicht. Die Volumensubstitution sollte aber mit isotoner Vollelektrolytlösung erfolgen. Die Initial-Dosis beträgt 10 - 20 ml/kg i.v., je nach Kreislaufsituation sollten Folge-Dosen bis max. 50 ml/kg erfolgen. Parallel bzw. nach hämodynamischer Stabilisierung können kolloidale Lösungen (10-20ml/kg) infundiert werden. Erythrozytenkonzentrate sollten erwogen werden, wenn nach 40 - 50 ml/kg kolloidaler und/oder kristalloider Lösungen keine Stabilisierung eintritt und/oder die Hb-Schwelle von< 12 g% unterschritten wird. Hypotone Infusionslösungen (z.B. Glucose 10%) sind zur Volumensubstitution ungeeignet und gefährlich. Durch die rasche Metabolisierung von Glucose, v.a. in Stresssituationen, bleibt freies Wasser zurück und kann bei entsprechender Menge eine hypotone Hyperhydratation begünstigen. Monitoring der Blutmetaboliten: Während der Reanimation ist es besonders wichtig, regelmässig den aktuellen Stand der Blutgase (i.d.R. kapillär) incl. Blutzucker und Laktat zu bestimmen (im Abstand von jeweils 5-10 Minuten). Diese engmaschige Kontrolle ist zum einen für den weiteren Verlauf der Reanimation von Bedeutung (Pufferung, Hypo-, Hyperventilation etc.) zum anderen für die zeitnahe Dokumentation der Wiederbelebung (Protokoll). Eine Hypoglykämie kann zusätzlichen zerebralen Schaden verursachen. Deshalb muss ebenfalls der Blutzucker engmaschig gemessen werden. Ein zusätzlicher Nutzen der Pufferung mit Natrimbikarbonat ist nicht belegt. Im Rahmen einer langandauemden Wiederbelebung (> 20-30min) kann dies jedoch erwogen werden. Natriumbikarbonat wird prinzipiell nur nach Kenntnis des Säure-Basen-Status appliziert (i.d.R. 6-8 mmol/kg KG). Auf die assoziierten Pathologien beim Schock des Neugeborenen sei hier besonders hingewiesen: Pneumothorax, Pneumomediastinum, Pneumopericard, Pleuraerguß und Pericarderguß. Die notfallmäßige Entlastung eines Pneumothorax erfolgt mit einer kleinen Venenverweilkanüle in Bülau-Position, d.h. 4. bis 5. interkostaler Raum in der vorderen Axillarlinie 14 • Die Diaphanoskopie erleichtert die Diagnose eines Pneumothorax. Beendigung der Reanimation: Sollte trotz maximaler mechanischer, medikamentöser sowie kardiopulmonaler Reanimationsmassnahmen kein eigenständiger Kreislauf zu erreichen sein, so kann eine Beendigung dieser maximalen Therapie nach frühestens 30 Minuten erwogen werden.

Zugangsarten: iv.- Zugang: Die rasche Anlage eines peripheren Venenverweilkatheters (PVK) gelingt nicht immer und ist umso schwieriger, je unreifer und hypotoner die Patienten sind. Insbesondere während einer Reanimation gestaltet sich die Anlage oftmals nicht einfach. Auf die Mög-

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lichkeit der endotrachealen Epinephrininstillation sei hier erneut hingewiesen. Als Punktionsstellen kommen Handrücken, Fußrücken, Kopfvenen (Verwechselung mit Arterien leicht möglich!) sowie Cubitalvenen in Frage. Abb. 3 zeigt die schrittweise Anlage eines PVK's. Infusionen sollten eine Osmolalität von 800 mosmol/1 nicht überschreiten. Dadurch könnten die Gefäßwände gereizt bzw. zerstört werden und die Infusionen paravenös laufen. Insbesondere die hyperosmolare Natriumbikarbonatlösung sollte nur verdünnt appliziert werden, wenn die Gabe über periphere Venen erfolgt.

Abb. 3: Anlage eines PVK bei einem Neugeborenen

Nabelvenenkatheter: Einen einfachen und zugleich zentralvenösen Zugang stellt der Nabelvenenkatheter dar. Hierbei ist unter sterilen Bedingungen die Nabelvene mit einem Katheter zu punktieren bzw. zu kanülieren. In Frage kommen 2 - 4 French Katheter. Bei reifen Neugeborenen sollte die Kathetertiefe 8-10 cm ab Nabelring nicht überschreiten. Der Katheter muss sich leicht anspülen lassen und es sollte Blut zu aspirieren sein. Ebenfalls kann die sichtbare Nabelvene seitlich mit einem großlumigen PVK punktiert werden, das Ende der „offenen" Nabelschnur zugebunden bzw. verschlossen und so die Nabelvene als „periphere" Vene genutzt werden. Bei allen Anlagen ist auf eine ausreichene Nabelschnurlänge zu achten und es muss steril gearbeitet werden. Es empfiehlt sich also, das Neugeborene nicht zu kurz (> 5cm) abzunabeln. Intraossärer Zugang: Die Anlage eines intraossären Zugangs ist immer an spezielle Kriterien gebunden, die allesamt erfüllt sein müssen: 1. frustraner iv-Anlage Versuch (mehr als 3 Versuche innerhalb 2 Minuten) unter Reani-

mation .illld 2. systemische Applikation von lebenserhaltenden Medikamenten unter Reanimation erforderlich .l.U1d 3. keine Nabelvenenkatheter-Anlage möglich

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Als Lokalisation kommt die proximale Tibia, sicher entfernt von der Wachstumsfuge zwei Finger unterhalb der Tuberositas ossis tibiae, in Betracht (Abb.4). Ein Aspirationsversuch ist nur in ca. 50% der Fälle positiv. Es können Druckinfusionen über diesen Zugang gegeben werden (bis zu 40 ml/rnin). Bei Frühgeborenen kann auch eine „Butterfly" verwendet werden (Abb. 5).

Abb. 4: Intraossärer Zugang an typischer Stelle bei einem Neugeborenen.

Abb. 5: Intraössarer Zugang bei einem Frühgeborenen mittels „Butterfly".

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Literatur l. 2.

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TRALI und andere akute Transfusionsreaktionen L. GOUDEVA, H.-G. HEUFf

Zusammenfassung Gegenstand dieses Beitrags sollen die wichtigsten akuten Transfusionsreaktionen sein: Transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz (TRAU), hämolytische Transfusionsreaktionen, febrile nicht-hämolytische Transfusionsreaktionen (FNHTR), Posttransfusionspurpura (PTP), Transfusionssepsis, und allergische anaphylaktische Reaktionen nach Transfusion. Die genannten akuten TR kommen trotz zahlreicher Fortschritte bei der Spenderauswahl, der Präparationstechnik der Blutprodukte und im klinischen Ablauf mit einer Frequenz von ca. 0,1 % aller Transfusionen vor. Mit Ausnahme der FNHTR kann jede dieser Reaktionen akut tödlich verlaufen. Jeder hämotherapeutisch tätige Arzt muss daher mit ihren klinischen Zeichen, Ihrer Ätiologie und Pathogenese und mit Sofortmaßnahmen zur Beherrschung dieser Komplikationen vertraut sein. Hinweise zur Dokumentation, zur Abklärung und zu den gesetzlichen Meldepflichten bei Transfusionsreaktionen runden den Beitrag ab.

Definitionen Blutprodukte sind Arzneimittel. Sie können kurzfristig oder langfristig unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) verursachen. Im Klinikalltag werden solche UAW vielfach als „Transfusionszwischenfälle" oder „Transfusionsreaktionen" angesprochen. Transfusionszwischenfälle (,,incidents") kommen durch Abweichungen von etablierten organisatorischen und/oder technischen und/oder medizinischen Standards zustande. Typische Beispiele für Zwischenfälle sind die inkorrekte Anforderung bzw. der inkorrekte Gebrauch von Blutkomponenten (z.B. fehlende Indikation), Fehler im immunhämatologischen Labor (z.B. Fehlbestimmung einer Blutgruppe, Fehlinterpretation einer Kreuzprobe), Verwechslungen von Patienten oder von Blutkomponenten (Station, OP, Labor) ohne/mit Fehltransfusion, Fehler bei der Anwendung von Blutkomponenten (z.B. Unterlassen oder Fehlinterpretation des Bedside-Tests, falsches Transfusionsbesteck), inkorrekte Kennzeichnung von Blutproben für immun-hämatologische Untersuchungen (z.B. Fehletikettierung), Verabreichung verfallener oder anderweitig ungeeigneter Blutprodukte. Im Gegensatz zu „Transfusionszwischenfall" versteht man unter „Transfusionsreaktion" ganz allgemein alle unerwünschte Ereignisse, die in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Transfusionsereignis (d. h. unmittelbar vor oder während der Transfusion bzw. höchstens einige Tage (bis zu 7, selten bis zu 21 Tage) danach beobachtet werden. Gegenstand dieses Beitrags sollen die wichtigsten akuten Transfusionsreaktionen (TR) sein: Transfusionsassoziierte Akute Lungeninsuffizienz (TRALI), hämolytische Transfusionsreaktionen, febrile nicht-hämolytische Transfusionsreaktionen (FNHTR), Posttransfusionspurpura, Transfusionssepsis und allergische anaphylaktische Reaktionen. Mit Ausnahme der febrilen, nicht-hämolytischen Transfusionsreaktion kann jede dieser Reaktionen innerhalb von Stunden bis (wenigen) Tagen tödlich verlaufen (siehe Abb. 1). Jeder hämotherapeutisch tätige Arzt muss daher mit ihren klinischen Zeichen, Ihrer Ätiologie und Pathogenese und mit Sofortmaßnahmen zur Beherrschung dieser Komplikationen vertraut sein. Langfristige unerwünschte Wirkungen der Bluttransfusion wie virale Infektionen, die Infektion mit pathologischen Proteinen (vCJK/BSE), die Transfusionshämosiderose oder die Graft versus Host Erkrankung sind nicht Gegenstand dieses Beitrags; Übersichten hierzu sind kürzlich erschienen ( 1, 2).

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R!aktionen Abb. 1: Transfusionsreaktionen mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf: Daten für Großbritannien und Nordirland, 1996-2008 bei ca. 36 Millionen Transfusionen (3) Legende: HTR=Hämolytische Transfusionsreaktion, TRALl=Transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz, ATR=Allergisch-anaphylaktische Transfusionsreaktion, DHTR=Verzögerte hämolytische Transfusionsreaktion; GvHD=Graft versus Host Disease; Bakt lnf=Bakterielle Kontamination eines Blutprodukts; PTP=Posttransfusionspurpura.

Inzidenz von Transfusionsreaktionen Akute TR kommen trotz zahlreicher Fortschritte bei der Spenderauswahl, der Präparationstechnik der Blutprodukte und im klinischen Ablauf mit einer Frequenz von bis zu 0,3% aller Transfusionen vor. Nur ein Bruchteil dieser TR ist mit nachfolgender Morbidität größeren Ausmaßes oder einem tödlichen Verlauf verbunden. Für Industriestaaten mit entwickeltem Gesundheitssystem liefert derzeit das SHOT Hämovigilanzsystem (SHOT: Serious Hazards of Transfusion) die umfassendsten und zuverlässigsten Zahlen zu Transfusionsreaktionen. Dieses Erfassungssystem besteht bereits seit den 1990er Jahren und ist Vorbild für ähnliche Systeme z.B. in Frankreich (e-FIT) bzw. für das im Aufbau begriffene Hämovigilanzsystem in Deutschland. SHOT arbeitet alle UE im Zusammenhang mit Transfusionen von 70-75% aller Krankenhäuser und anderer in Großbritannien und Nordirland transfundierenden Einrichtungen akribisch auf und publiziert diese Daten in jährlichen Berichten bezogen auf das Berichtsjahr und kumulativ (3). Aufgrund von Publikationen aus anderen Ländern ist davon auszugehen, dass insbesondere die SHOT Ergebnisse zu schwerwiegenden Transfusionsreaktionen mit oder ohne tödlichen Verlauf prinzipiell auf vergleichbare Länder der Europäischen Union übertragen werden können (3-6). Transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz (TRALI) Die Transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz (transfusion related acute lung injury: TRALI) hat sich in den letzten Jahren noch vor der ABO-Fehltransfusion zur häufigsten Ursache einer schwerwiegenden Transfusionsreaktion mit Todesfolge entwickelt. So wurden in einer intensivierten Beobachtungsstudie über 24 Monate (01/2006-12/2007) des Paul-Ehrlich-Instituts 44 TRAU-Reaktionen registriert, darunter 8 (18%) mit Todesfolge (7 nach Plasmatransfusionen, ein Fall nach BK-Transfusion [4]). In Abhängigkeit von den angewendeten Blutprodukten wurde für Deutschland die Häufigkeit für TRAU nach GFP Transfusion mit 1:66.000 (mit tödlichem Verlauf 1:285.000), nach EK-Transfusion mit 1:2.86 Mio, nach TK-Transfusion mit l :420.000 ermittelt. Eine aktuelle Studie aus den Niederlanden ergab für das Jahr 2006 eine TRAU Inzidenz von 64

1:29.000 Transfusionen, über den Untersuchungszeitraum von 01/2005 bis 06/2007 fanden sich 56 TRALI, hierunter 10 (18%) Todesfälle (5). Ähnliche Inzidenzen wurden auch aus Frankreich (6) und Nordamerika (USA) berichtet (7). TRALI ist definiert als Symptomen.komplex aus Dyspnoe und einer objektivierbaren Ateminsuffizienz, meist verbunden mit Temperaturanstieg und Blutdruckabfall. Typischerweise lassen sich radiologisch beidseitige Lungeninfiltrate ohne kardialen Befund nachweisen. Das Krankheitsbild manifestiert sich innerhalb von 6 Stunden nach Transfusionsbeginn. TRALI fällt vor allem bei Patienten auf, die kardial gesund sind. Bei Patienten mit kardialer Vorschädigung kann die Abgrenzung zum Lungenödem aufgrund hoher Volumenbelastung (Transfusion associated circulatory overload - TACO) schwierig bis unmöglich sein. • Schlagartiger Beginn während oder bis zu 6 Stunden nach Transfusion*, hauptsachlich nach Transfusion plasmareicher Produkte wie GFP und TK • Dyspnoe, Tachypnoe, Zyanose, klinisches Bild eines ARDS* mit Intubation und Beatmungspflichtigkeit in ca. 80% der Fälle • Radiologisch: Neuauftreten beidseitiger Lungeninfiltrate* • Sorgfältiger Ausschluss einer Volumenüberlastung* • Weitere Symptome (nicht immer vorhanden): Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Hypotension, Tachykardie, u. U. Schock Tab. 1: TRALI- klinische Symptome *TRALI Definition des European Hemovigilance Network (EHN [8])

TRALI wird durch aktivierte neutrophile Granulozyten hervorgerufen, die über ein pulmonales Capillary-Leak-Syndrom ein nicht-kardiales Lungenödem hervorrufen. Nach derzeitigem Verständnis werden zwei unabhängige pathophysiologische Mechanismen zur Auslösung einer TRALI-Reaktion diskutiert (9).

TRALI Thoraxbefund vor und 4 Stunden nach Transfusion

nach Abb. 2: TRAU-typischer Thoraxbefund

Beim Antikörper vermittelten Typ ("Immunogenes TRALI") spielen infundierte granulozytäreoderlymphozytäre(HLA-)AlloantikörperdesSpenders,diedurchSchwangerschaften oder Transfusionen induziert worden sind, eine entscheidende Rolle. Sie binden an die Granulozyten des Patienten und aktivieren diese. Seltener geht das Krankheitsbild von granulozytären bzw. lymphozytären Antikörpern des Empfängers aus, die infundierte Granulozyten des Spenders aktivieren. Die aktivierten Granulozyten adhärieren an das Endothel von Lungen.kapillaren. Dadurch kommt es zur Freisetzung von Zytokinen und zu einer Endothelzellschädigung mit Flüssigkeitsaustritt (proteinreiches Exsudat) ms 65

Lungengewebe (capillary leak syndrome) und nachfolgender Gewebsschädigung. Größere Operationen, bestehende Infektionen (insbesondere Pneumonien), Polytransfusion u. a. Faktoren begünstigen offenbar dieses Geschehen, sind aber keine zwingende Voraussetzung für das immunogene TRAU. Beim so genannten „Nicht-Immunogenen Trali" führen größere Operationen, bestehende Infektionen (insbesondere Pneumonien), Polytransfusion u. a. Faktoren über die Freisetzung von Entzündungsmediatoren zu einer vermehrten Adhärenz von Granulozyten an Endothelzellen der Lunge. Durch die Transfusion von gelagerten Blutprodukten (meist gegen Ende Ihrer Lagerzeit), die Erythrozyten oder Thrombozyten mit Lagerungsschäden enthalten (z.B. bei EK Anreicherung von Lysophosphatidylcholinen in der Erythrozytenrnembran und frei im Überstand, bei TK Anreicherung von CD40L in der Thrombozytenmembran und frei im Überstand), akkumulieren biologisch aktive Lipide, die die adhärenten autologen Granulozyten aktivieren. Dadurch kommt es zur Freisetzung von Zytokinen und zu einer Endothelzellschädigung mit Flüssigkeitsaustritt (proteinreiches Exsudat) ins Lungengewebe und Gewebsschädigung. Größere Operationen, bestehende Infektionen (insbesondere Pneumonien), Polytransfusion u.a. Faktoren sind also eine zwingende Voraussetzung für das nicht-immunogene TRAU im Sinne eines so genannten ,,two hit model" (10). In eine TRAU-Reaktion sind in der Mehrzahl der Fälle (ca. 60-70%) plasmareiche Blutkomponenten wie Gefrorenes Frischplasma oder Thrombozytenkonzentrate, zu etwa 30-40% aber auch Erythrozytenkonzentrate verwickelt (Zahlen für Deutschland 20062007 [4]). Der Frauenanteil unter den in TRAU Reaktionen verwickelten Spendern liegt bei >70%, der Anteil der Spender (ganz überwiegend Spenderinnen) mit leukozytären Antikörpern bei ca. 70-80%. Diesen die Hypothese des „lmmunogenen TRAU" bestärkenden Untersuchungsergebnissen stehen aber Befunde entgegen, die diesem Konzept widersprechen: die hohe TRAU-Frequenz der heute relativ plasmaarmen Erythrozytenkonzentrate (Plasmagehalt in der Regel 20 mmHg), Kollaps, Schock • diffuse Blutungsneigung (vor allem bei operativen Eingriffen) • Roter Urin • Nierenversagen (Oligurie, Anurie)

Labor • Rotes Serum • Hämoglobinurie • starker LOH-Anstieg (innerhalb von 24 Stunden nicht selten > 1.000 U/L) • schneller Abfall des Haptoglobins (oft unter die Nachweisgrenze) • Anstieg der Retentionsparameter • u. U. Azidose • u. U. Thrombozytenabfall, Parameter einer komplexen Gerinnungsstörung im Sinne einer DIC (Abfall des Fibrinogens, D-Dimere erhöht, u.a.)

Tab. 3: Symptomatik der akuten hämolytischen Transfusionsreaktion

Die hämolytische Transfusionsreaktion (HTR) tritt als Sofortreaktion während oder kurz nach der Transfusion von ABO-inkompatiblen Erythrozyten auf. Sehr selten kommt es aufgrund hoher Isohämolysintiter des Spenders (Titer > 500) auch im Rahmen von Gefrierplasma- oder Thrombozytentransfusionen zur Hämolyse. Die Inzidenz falsch zugeordneter Transfusionen wird mit bis zu 1: 12.000 (USA, New York 1992 [14]), damit assoziierter hämolytischer Ereignisse wird mit 1:33.000 (14) bis >1:200.000 (United K.ingdom, 2008 [3]) angegeben. Zahlen für Deutschland liegen nicht vor, aufgrund eigener Erfahrungen und persönlicher Berichte ist aber von einer Inzidenz in der Größenordnung von 1:30.000 Transfusionen für akute hämolytische TR auszugehen. Ursächlich sind fast immer komplementaktivierende ABO Isoantikörper vom Typ IgM im Sinne einer ABO-Fehltransfusion. Hämolytische Sofortreaktionen mit komplementaktivierenden lgM- (selten IgG-) Antikörpern aus anderen Blutgruppensystemen wie z.B. Anti-K (-Kell), Anti-Ika (-Kidd a), Anti-Lea (-Lewis a), Anti-Tja (-Tjay), Anti-Vel, AntiLan u.a. sind demgegenüber Raritäten. In diesen Fällen handelt es sich in der Regel nicht um Fehltransfusionen der Anwender, sondern meist um Fehler im serologischen Labor (Probenverwechslung im Labor, Fehldurchführung der Kreuzprobe im Sinne einer falsch

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negativen Kreuzprobe, Fehlinterpretation einer positiven Kreuzprobe, gepaart mit der Fehlinterpretation eines Antikörperbefundes). Die für die hämolytische Sofortreaktion ursächlichen Antikörper verursachen eine intravasale Hämolyse, sie aktivieren die Komplementkomponente Cl. Hierdurch wird die Komplementkaskade angestoßen, letztlich entsteht der „membrane-attack-complex" C5bC9, der ein regelrechtes Loch in die Erythrozytenmembran „stanzt". Einströmende Flüssigkeit lässt die inkompatiblen Erythrozyten akut zerplatzen. Dieser Prozess läuft mit rasender Geschwindigkeit ab. Fast alle inkompatiblen Erythrozyten werden in Sekunden bis Minuten bis allenfalls wenigen Stunden vernichtet. Dieser Pathomechanismus erklärt die stark eingeschränkten therapeutischen Möglichkeiten nach einer Fehltransfusion. Die Hämolyse kann praktisch nicht aufgehalten werden, da Plasmapherese und/oder Austauschtransfusion in der Regel zu spät kommen. Kortikosteroide kommen zwar zum Einsatz (siehe Tab. 4), stoppen aber nicht die Hämolyse, sondern beeinflussen allenfalls die Zytokin- und Histarninfreisetzung sowie die inflammatorischen Prozesse, die durch die Hämolyse in Gang gesetzt werden. Die therapeutischen Maßnahmen nach einer Fehltransfusion bzw. einer hämolytischen Sofortreaktion beschränken sich daher auf rein symptomatische Eingriffe, wobei sich das Ausmaß therapeutischer Maßnahmen nach dem Schweregrad der Hämolyse und der damit verbundenen Begleitsymptomatik richtet. Eine Auflistung therapeutischer Maßnahmen im Rahmen hämolytischer TR findet sich in Tabelle 4. Sofortmaßnahmen

• sofortige Beendigung der Transfusion unter Beibehaltung des venösen Zugangs (ggf. Legen eines zentralen Venenkatheters) • Sicherstellung der Blutkonserve und nach Möglichkeit von Blutproben vor und nach Transfusion, Feststellung der Menge des (fehl-)transfundierten Blutes, Klärung der Ursache der Fehltransfuion • Überwachung der Vitalfunktionen des Patienten: Blutdruck, Puls, Atmung, Urinausscheidung, Blutbild, Gerinnungsstatus, Blutgasanalyse (BGA) • Bei Hypotension Volumenzufuhr (Infusion von 1000 ml einer Vollelektrolytlösung, weitere Volumengaben je nach zentralvenösem Druck verabreichen) • Kortikosteroidgabe i.v. (mindestens 250 mg Methylprednisolon) Weitere Maßnahmen

• bei (drohendem) Nierenversagen: Urinausscheidung durch Volumengabe und Diuretika steigern, Dopamin in Nierendosis (1-3 µg/kg KG/Minute), bei persistierender Oligo-/Anurie Dialysebehandlung • bei (beginnendem) Schock: Natriumbicarbonat-Gabe nach BGA, bei Schock 1-3 ml einer 0,01%igen Adrenalin-Lösung langsam i.v. (5-10 µg/Minute), bei Herzstillstand werden 5-10 ml einer 0,01 %igen Adrenalin-Lösung i.v. injiziert. Ggf. sind Adrenalin-infusionen (10-100 ng/Minute) notwendig. • bei Zeichen der DIC: Heparingabe (z.B. unfraktioniertes Heparin, 2000 IE als Bolus i.v., danach 500 IE/ Stunde) • in besonders schweren Fällen (Fehltransfusion von großen Mengen inkompatibler Erythrozyten, z.B. ;;,; 6 EK und Zeichen protrahierter Hämolyse, z.B. bei niedrigen AK-Titem) kann ausnahmsweise eine Austauschtransfusion indiziert sein. Sonstige Maßnahmen

• Veranlassung einer serologischen Nachuntersuchung • Bereitstellung von kompatiblem Blut, falls erforderlich Tab. 4: Ärztliche Maßnahmen im Rahmen einer akuten hämolytischen Transfusionsreaktion

Es kann vorkommen, dass eine Fehltransfusion oligo- bis asymptomatisch verläuft und medizinisch folgenlos bleibt. In diesen glücklichen Fällen liegen entweder sehr niedrige (Titer 2°C auf >39°C führt, oft verbunden mit Tachykardie und (heftigem) Schüttelfrost • zu septischen Temperaturen (> 40°C) führt • trotz sofortiger ärztlicher Intervention (z.B. Abbruch der Transfusion) mit rascher oder weiterer klinischer Verschlechterung bis hin zum Präschock / Schock einhergeht. Differentialdiagnostisch muss dem venösen Zugang besondere Beachtung geschenkt werden. Periphere Venenverweilkatheter können aufgrund von Entzündungszeichen im Hautbereich häufig schon makroskopisch als bakteriell kontaminiert erscheinen. Bei zentralen Zugängen (Port, Hickmankatheter u.a.) muss vor allem bei längerer Verweildauer an eine bakterielle Kontamination gedacht werden. In jedem Fall von vermuteter Transfusionssepsis ist auch der Zustand des Patienten vor Transfusion relevant. Es muss immer geklärt werden, ob sich der Patient schon prätransfusionell in septischer Verfassung befand.

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Sofortmaßnahmen • Sofortige Beendigung der Transfusion unter Inspektion des venösen Zugangs (lnfektzeichen?), Beibehaltung des Zugangs nur, wenn dieser sicher ohne Befund ist; Entfernen eines auffälligen venösen Zugangs nach Möglichkeit erst nach Neuanlage eines weiteren Zugangs an anderer Stelle • Überwachung der Vitalfunktionen des Patienten: Blutdruck, Puls, Atmung, Temperatur, Urinausscheidung, Blutbild, Gerinnungsstatus, Blutgasanalyse · • Antibiotikatherapie des Empfängers: zunächst breite Abdeckung des Keimspektrums erforderlich; bei EK Substanzen, die auch gram negative Keime erfassen, bei TKAntibiotikaauch mit Staphylokokkenwirksamkeit, später nach Antibiogramm • ggf. Schockbehandlung

Weitere Maßnahmen • Sicherstellung, sorgfältige Inspektion (Minirisse, Gerinnsel, Verfärbungen?) und sorgfältiger Verschluss der Blutkonserve inklusive Transfusionsbesteck, Veranlassen getrennter Sterilitätskontrollen von Blutkonserve, ggf. anhängender Schlauchsegmente und Transfusionsbesteck • Blutkulturen des Transfusionsempfängers

Tab. 9: Äntliche Maßnahmen bei Verdacht auf Transfusionssepsis

Allergische und Anaphylaktische Reaktionen Allergische Reaktionen treten typischerweise unmittelbar nach Einleitung der Transfusion (aber auch noch bis zu 24 Stunden danach) auf. Sie beruhen auf Polymorphismen von Plasmaproteinen, wobei Antikörper des Transfusionsempfängers mit entsprechenden Antigenen des Spenders pathologische Antigen-Antikörperkomplexe bilden. Aufgrund des heute niedrigen Plasma-Gehalts von Erythrozytenkonzentraten sind Empfänger von GFP und TK häufiger betroffen. Die Symptome können sich auf die Haut (Urtikaria, Exanthem, Pruritus) beschränken, es kann aber darüber hinaus zu Symptomen wie Dyspnoe und Stridor kommen. Die fehlende Hypotonie grenzt die „reine" allergische TR vom Übergang zur allergisch-anaphylaktischen TR ab. Die Mehrzahl der Fälle ist nur mit einer harmlosen Urtikaria verbunden. Häufig beeinträchtigt der quälende Juckreiz die Patienten mehr als das makulopapulöse konfluierende Exanthem. Therapeutisch reicht in vielen Fällen ein Stopp der Transfusion aus. Antihistaminika und Kortikosteroide i. v. sind nur bei heftiger Hautreaktion mit nicht beherrschbarem Juckreiz indiziert. Bei Patienten, die auf Transfusionen wiederholt mit Urtikaria reagieren, kann vor der Transfusion die prophylaktische Applikation von Antihistaminika versucht werden. Gefürchtet sind zusätzliche kardiovaskuläre Reaktionen: Blutdruckabfall (~ 30 mm Hg innerhalb von 24 Stunden nach Transfusion) bis zum anaphylaktischen Kreislaufschock, oft begleitet von Bronchospasmus und Zyanose. Bei Ausbildung eines echten anaphylaktischen Kreislaufschocks muss man in erster Linie an das Vorliegen von Anti-IgA bei ausgeprägtem Mangel oder völligem Fehlen von lgA beim Transfusionsempfänger denken. Sofortmaßnahmen • Sofortige Beendigung der Transfusion, Feststellung der Menge des transfundierten Blutes • Überwachung der Vitalfunktionen des Patienten: Blutdruck, Puls, Atmung, Temperatur, Urinausscheidung, Blutbild, Gerinnungsstatus, Blutgasanalyse • 1-3 ml einer 0,Ol%igen Adrenalin-Lösung langsam i.v. (5-10 µg/Minute) , bei Herzstillstand werden 5-10 ml einer 0,0l%igen Adrenalin-Lösung i.v. injiziert. Ggf. sind Adrenalininfusionen über Perfusor (10-100 ng/Minute) notwendig. • Volumenzufuhr (Infusion von 1000 ml einer Vollelektrolytlösung, weitere Volumengaben je nach zentralvenösem Druck verabreichen) • Natriumbicarbonat-Gabe nach BOA • Doparnin in Nierendosis (l-3 µg/kg KG/Minute) • Kortikosteroidgabe i.v. (1000 mg Methylprednisolon)

Tab. 10:

Äntliche Maßnahmen bei anaphylaktischen allergischen Reaktionen

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Eine anaphylaktische allergische Reaktion ist in der Regel afebril und kann somit gegenüber einer anaphylaktoid verlaufenden FNHTR und einer Transfusionssepsis abgegrenzt werden. Zur Prophylaxe von Reaktionen bei Patienten mit bekanntem Anti-IgA bei IgADefizienz können gewaschene Erythrozytenkonzentrate zur Transfusion eingesetzt werden. Aufgrund des Plasmaanteils ist die Versorgung von Patienten mit Anti-IgA bei TK-Transfusionspflichtigkeit schwierig. In diesen Fällen kann ein Versuch mit plasmaarmen TK in so genannter Additivlösung erwogen werden.

Transfusionsreaktionen - Qualitätssichernde Maßnahmen Allgemeine Maßnahmen

Bei jedem Verdacht auf eine TR sind folgende allgemein gültige Maßnahmen notwendig: • Unterbrechen, ggf. Abbrechen der Transfusion • Zugang belassen, symptomatische Therapie nach Klinik • Identitätssicherung des Patienten • Überprüfung der Identität der Blutprodukte, Kontrolle der Begleitdokumente zu den Blutprodukten • Beurteilung des Zusammenhangs mit der Transfusion • Dokumentation in der Patientenakte • Information des Klinik-Blutdepots und/oder des blutgruppenserologischen Labors der Klinik zur Veranlassung einer Nachuntersuchung zur Abklärung der TR • Probennahme für Laboruntersuchungen und unverzügliche Weitergabe zur Abklärung derTR

Dokumentation Die Dokumentation einer TR ist Aufgabe des transfundierenden Arztes. Die Symptomatik (ggf. auch Angaben zur Genese der TR) müssen in der Krankenakte und auf den Anforderungsdokumenten für nachfolgende Untersuchungen so protokolliert werden, dass die Klassifikation der Reaktion und symptomorientierte Nachuntersuchungen möglich sind und die Aufklärung der Reaktion insgesamt erleichtert wird. Abklärung einer Transfusionsreaktion Jede TR muss angemessen nachuntersucht werden. Folgende Materialien werden in der Regel zur Abklärung/Nachuntersuchung benötigt: • die betroffene(n) Blutkomponente(n) • prätransfusionelles Blut des Patienten, sofern vorhanden • posttransfusionelles Blut des Patienten ✓ 7 ,5 ml EDTA-Blut ✓ 7,5 ml Nativblut • stichwortartiger Transfusionsbericht mit Beschreibung der klinischen Symptomatik und Angabe der verabreichten Menge der verdächtigen Blutkomponente(n)

Die anfordernde Station erhält nach Abschluss der Untersuchungen einen Bericht über die Ergebnisse der Abklärung der Transfusionsreaktion. Dieser ist in der Patientenakte abzulegen. Falls organisatorische Mängel zur TR beigetragen haben, sind diese in Zusammenarbeit mit dem Transfusionsbeauftragten der Abteilung und dem Transfusionsverantwortlichen der Klinik abzustellen.

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Meldepflichten Es bestehen umfangreiche und detaillierte gesetzliche Meldepflichten, falls es im Rahmen einer Transfusion zu einem UE gekommen ist, dass als Transfusionsreaktion eingestuft wird. Diese Meldepflichten müssen im Qualitätssicherungssystem der Einrichtung der Krankenversorgung so eindeutig geregelt werden, dass keine Meldung übersehen/vergessen wird und sinnlose Doppelmeldungen vermieden werden. Prinzipiell muss der transfundierende Arzt jede TR gemäß § 16, Abs. 1 des Transfusionsgesetzes (TFG) folgenden Personen bzw. Institutionen melden: • Transfusionsbeauftragter der transfundierenden Abteilung • Transfusionsverantwortlicher der Einrichtung der Krankenversorgung • Sonstige nach dem Qualitätssicherungssystem (QSS) der Einrichtung zu informierende Personen (z.B. Qualitätsbeauftragter Hämotherapie, Studenplanbeauftragter, falls die Einrichtung der Krankenversorgung einen eigenen Blutspendedienst unterhält) Milde Transfusionsreaktionen können gebündelt in bestimmten zeitlich festgelegten Abständen (z.B. jährlich) gemeldet werden. Schwerwiegende TR müssen unverzüglich, d.h. spätestens innerhalb von 15 Tagen, gemeldet werden. Als „schwerwiegend" gelten TR, die • lebensbedrohlich sind oder tödlich enden • zu einer nachfolgenden stationären Aufnahme führen oder zur Verschlechterung eines Krankheitsbildes mit Verlängerung des stationären Aufenthaltes führen • zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Behinderung führen Neben den klinikinternen Meldewegen (Transfusionsbeauftragter, Transfusionsverantwortlicher, weitere Personen) gibt es gemäß § 16, Abs. 2 TFG auch externe Meldepflichten, und zwar gegenüber dem pharmazeutischem Unternehmen (in der Regel DRK - Blutspendedienst, staatlich-kommunaler Blutspendedienst oder private Firma [z.B. bei GFP], welches die Blutprodukte hergestellt hat) und bei schwerwiegenden TR gegenüber der Bundesoberbehörde für das Blutspendewesen, dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Langen. Falls die Abklärung/Nachuntersuchung der TR an den Hersteller der Blutkomponenten gekoppelt ist, ist eine automatische Information des Herstellers gegeben. Falls die Abklärung/Nachuntersuchung vom blutgruppenserologischen Labor der Einrichtung durchgeführt wird, muss im QSS festgelegt werden, wer den Hersteller über die TR und das Ergebnis der Nachuntersuchung unterrichtet. Die Information des PEI bei schwerwiegenden TR sollte grundsätzlich dem Transfusionsverantwortlichen vorbehalten sein. Dieser wird sich mit dem Qualitätsbeauftragten Hämotherapie der Einrichtung über Art und Zeitpunkt der Meldung abstimmen. Zur PEI-Meldung sind Formulare zu benutzen, die über die Homepage des PEI bezogen werden können: www.pei.de >Informationen für Ärzte und Apotheker > Meldeformulare. Für den klinischen Alltag sind drei Meldedokumente bedeutsam: Form Hla2 für die Initialmeldung und Form H2a bzw. H2c für den Abschlußbericht nach TR-Abklärung, wobei H2c ausschließlich für den Abschlußbericht nach einer TRALI Reaktion vorgesehen ist. • Form Hla2 (Formular für die initiale [,,unverzügliche"] Meldung) Meldung des Verdachts einer schwerwiegenden Transfusionsreaktion bei der Anwendung von Blutprodukten nach§ 16 TFG (lnitialmeldung) • FormH2a Bewertung des Verdachts einer schwerwiegenden Transfusionsreaktion bei der Anwen-dung von Blutprodukten nach§ 16 TFG (Abschluss der Initialmeldung Hla) • Form H2c Bewertung des Verdachts einer TRALI: Abklärung des Verdachts einer transfusionsassoziierten Lungeninsuffizienz bei der Anwendung von Blutprodukten gemäß § 63c AMG (Abschluss der Initialmeldung Hla).

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Abkürzungen AMG EK GFP . FNHTR Hb PTP QSS TFG TK TR TRAU UAW UE

Arzneimittelgesetz Erythrozytenkonzentrat Gefrorenes Frischplasma Febrile, nichthämolytische Transfusionsreaktion Hämoglobin Posttransfusionspurpura Qualitätssicherungssystem Transfusionsgesetz Thrombozytenkonzentrat Transfusionsreaktion Transfusionsassozüerte akute Lungeninsuffizienz Unerwünschte Arzneimittelwirkung Unerwünschtes Ereignis

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Neuroanästhesie H.

THEILEN

1. Einleitung Die Neuroanästhesie umfasst ein weites Spektrum anästhesiologischer Anforderungen, die die Betreuung einer Vielzahl unterschiedlicher elektiver neurochirurgischer Interventionen, aber auch von Notfalleingriffen mit potenziell lebensbedrohender Konsequenz erfordert. Der neurochirurgische Notfall bedeutet hier neben der Versorgung des Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma zudem die Betreuung von Patienten mit intrazerebralen Blutungen oder Subarachnoidalblutungen nichttraumatischer Genese, aber auch akuter intraspinaler Raumforderungen wie Blutungen oder Abszesse, die einer unverzüglichen operativen Intervention bedürfen. Die Notfallversorgung soll hier jedoch nicht Thema der aktuellen Betrachtungen sein. Elektive neurochirurgische Interventionen bedeuten in der Mehrzahl der Fälle Eingriffe mit intrakranieller Lokalisation. Aber auch Operationen im spinalen Bereich oder an peripheren Nerven sind Bestandteil des neurochirurgischen Spektrums. Das anästhesiologische Procedere bei diesen Patienten unterliegt jedoch nur marginal spezifischen neuroanästhesiologischen Überlegungen, kommt es doch im Rahmen des perioperativen Managements zu vielschichtigen Überschneidungen mit anderen operativen Fachbereichen wie der Traumatologie oder Orthopädie. Fachspezifische Besonderheiten werden nichtsdestotrotz im Verlaufe der Betrachtungen berücksichtigt werden. Die besondere Herausforderung der Neuroanästhesie liegt in der fachgerechten anästhesiologischen Betreuung bei intrakraniellen operativen Interventionen. Auch diese sind sehr vielschichtig, da sie kleine und zeitlich begrenzte Eingriffe wie die Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts bei Niederdruckhydrocephalus ebenso beinhalten wie zeitlich schwer kalkulierbare Operationen bei Resektion großer intrakranieller Tumoren mit ihren reichlichen Komplikationsmöglichkeiten. Insbesondere die großen intrakraniellen Interventionen unterliegen einer Vielzahl von potenziellen intra- aber auch postoperativen Komplikationen, deren Kenntnis unbedingte Voraussetzung ist, sie rechtzeitig zu erkennen und gegebenenfalls auch vermeiden oder zumindest zielgerichtet behandeln zu können. Thema dieser Übersicht soll deshalb in erster Linie die anästhesiologische Betreuung des Patienten während einer umfangreicheren intrakraniellen Operation mit begleitender osteoplastischer Trepanation sein. Dazu gehören neben der Himtumorresektion ebenso die operative Versorgung von Hirnarterienaneurysmen oder anderer intrakranieller Gefäßmissbildungen.

2. Physiologische Betrachtungen Um rechtzeitig bedrohliche Veränderungen im perioperativen Verlauf zu erfassen, ist die dezidierte Kenntnis der zerebralen Physiologie unabdingbare Voraussetzung. Letztlich kann das Gehirn v.a. durch ein pathologisch relevantes Perfusions- oder Sauerstoffantransportdefizit oder einen erhöhten unmittelbaren Druck auf die Neuronen geschädigt werden.

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2.1. Physiologie der zerebralen Durchblutung Zur Aufrechterhaltung einer physiologischen zerebralen Perfusion ist ein ausreichender zerebraler Perfusionsdruck (CPP) erforderlich. Der CPP wird ermittelt aus der Differenz des mittleren arteriellen Blutdruckes (MAP) und dem intrakraniellen Druck (ICP), der zumindest während der längerstreckigen Eröffnung der Dura mater nahezu bei 0-3 mmHg liegen wird. Die zerebrale Durchblutung ist unmittelbar an den metabolischen Bedarf des Hirngewebes angepasst und beträgt im Mittel ca. 50-60 ml/lOOg Hirngewebe/ min. Eine Vielzahl von Regulationsmechanismen ist darauf ausgelegt, diesen Wert konstant zu halten. Die zerebrale Autoregulation, die in den größeren zerebralen Arteriolen (ca. 100-200µm) abläuft, hat die Funktion, dass die zerebrale Durchblutung trotz Schwankungen des systemischen arteriellen Blutdruckes und damit des zerebralen Perfusionsdruckes weitgehend unbeeinflusst bleibt. In einem Bereich eines zerebralen Perfusionsdruckes von 50 - 150 mmHg bleibt durch rasche reflektorische Vasokonstriktion bzw. -dilatation dieser Arteriolen die zerebrale Perfusion konstant, da die Widerstandsveränderung in diesen Gefäßen eine ansonsten erhöhte Gewebsperfusion verhindert. Dieser Reflex wird nach aktuellen Kenntnissen durch myogene und metabolische Mechanismen kontrolliert (1). Fällt der CPP unter den unteren Wert des Autoregulationsbereichs, sinkt die Hirndurchblutung und es entsteht möglicherweise ein funktionelles neuronales Defizit und bei längerem Persistieren sogar ein irreversibler Hirngewebsschaden. Eine präoperativ längerfristig bestehende Hypertension ist in der Lage, das Autoregulationsplateau zu höheren Bereichen hin zu verschieben, was bei älteren Patienten besondere Beachtung finden sollte. Befindet sich der zerebrale Perfusionsdruck innerhalb der für den Patienten spezifischen Grenzen des Autoregulationsniveaus, kann von einem hinreichenden Perfusionsdruck ausgegangen werden. Jedoch unterliegt die Mikrozirkulation zusätzlich einer ausgesprochenen regionalen Heterogenität, die sich an dem metabolischen Bedarf der zu versorgenden Neurone und damit auch ihrer Aktivität ausrichtet. Neuronale Aktivität bedeutet unter physiologischen Bedingungen das vermehrte Auftreten von Aktionspotenzialen mit entsprechendem Kaliumausstrom, Verbrauch von ATP mit Erhöhung der lokalen Adenosinkonzentration im Hirngewebe und gesteigerter aerober Glykolyse mit vermehrter Bildung von C02• Insbesondere diese 3 Metabolite (K+, Adenosin und C02) sind ausgesprochen vasoaktive Substanzen in den kleinen zerebralen Arteriolen der präkapillären Mikrozirkulation. Eine Erhöhung der lokalen Konzentrationen hat eine rasche und konzentrationsabhängige Vasodilatation zur Folge. Eine Erniedrigung bedeutet dementsprechend eine Vasokonstriktion mit entsprechender Reduktion der Gewebsperfusion. So hat eine Reduktion des arteriellen p1CO2 um 60% eine ca. 40-50% Verminderung der Hirndurchblutung zur Folge, was ein relevantes Perfusionsdefizit bedeuten kann, wohingegen eine Verdoppelung des Wertes auch nahezu eine Verdoppelung der Hirndurchblutung nach sich zieht. Ausgebend von diesen Überlegungen wird deutlich, dass es keinen allgemein gültigen Wert geben kann, ab dem von einer pathologisch relevanten zerebralen Minderperfusion ausgegangen werden sollte. Allgemein wird zwar ein Wert von ca. 20ml/100g/min als hinreichend für einen noch ausreichenden Erhaltungsstoffwechsel der Neuronen betrachtet, was bedeutet, es kommt noch nicht zu Nervenzelluntergängen. Dieser Rückschluss ist jedoch unter Berücksichtigung der Heterogenität der Hirndurchblutung nur eingeschränkt gültig. Regionale Schädigungen sind auch bei höheren CBF-Werten nicht auszuschließen. 2.2. Intrakranieller Druck Der intrakranielle Druck (ICP) ist in einem gewissen Wertebereich lageabhängig, wird jedoch zwischen O und 15mmHg als physiologisch betrachtet. Bei Erhöhung des intrathorakalen Drucks z.B. beim Hustenstoß kann der Druck auch kurzfristig für Sekunden auf

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Werte über 30mmHg ansteigen, sinkt jedoch rasch wieder in den Norrnbereich ab. Von einem sicher pathologisch erhöhten ICP spricht man definitionsgemäß, wenn der intrakranielle Druck über mehr als 2min auf Werte über 20mmHg ansteigt. Da das intrakranielle Kompartiment aus Hirngewebe, Blut und interstitieller Flüssigkeit besteht, ist eine Erhöhung des ICP in der Regel eine Folge aus einer Zunahme des Hirngewebes (Hirntumor) des Blutvolumens (s.o.) oder des Volumens der intrazellulären Flüssigkeit (Hirnödem). Nicht berücksichtigt wird hier die Druckzunahme durch eine intrakranielle Blutung oder einen Hydrocephalus, die letztlich eine besondere Form der ICP-Erhöhung darstellen. Als besondere anatomische Komponenten zur Aufrechterhaltung eines konstanten Volumens der inrazellulären Flüssigkeit sind hier das Liquorsystem, was durchaus auch als Lymphsystem des Gehirns interpretiert werden könnte, als auch die sogenannte BlutHirn-Schranke zu nennen. Die Blut-Hirn-Schranke ist eine histologische Besonderheit des zerebralen Gefäßsystems. Die tight-junctions zwischen den Endothelzellen sind im Gegensatz zu fast allen anderen Geweben extrem fest konstruiert und verhindern fast vollständig eine unkontrollierte Wanderung selbst kleinster osmotisch wirksamer Bestandteile des Plasmas wie beispielsweise Natriumionen aus dem Gefäßlumen in das Interstitium des Gehirns. Erst eine Schädigung dieser Schranke durch traumatischen oder toxischen Einfluss führt über dann wirksame hydrostatische Druckgradienten zu einem unkontrollierten Einstrom von Plasmabestandteilen und Wasser, was zu einem Hirnödem und konsekutiv zu einem erhöhten Hirndruck führen kann.

3. Grundsätzliche Anforderungen der Neuroanästhesie Ausgebend von den genannten Überlegungen sollte die Narkose während der neurochirurgischen Intervention darauf ausgerichtet sein, physiologische Bedingungen soweit als möglich aufrecht zu erhalten. Drei zentrale Fragestellungen sind vom Anästhesisten zu berücksichtigen und sollten die Wahl des Narkoseverfahrens im Wesentlichen bestimmen: • Welches Narkoseverfahren bietet den sichersten perioperativen Verlauf? • Welche spezifischen Komplikationen sind beim vorliegenden Eingriff zu erwarten? • Welchen Einfluss kann ich mit meiner Narkoseführung darauf nehmen? Weitere Überlegungen sollten perioperativ für den Anästhesisten eine grundlegende Rolle spielen: • Die postoperative Vigilanzstörung ist eines der wichtigsten Zeichen einer relevanten Komplikation nach großen intrakraniellen Operationen. • Die postoperative Vigilanzstörung erfordert deshalb eine unverzügliche Diagnostik zum Ausschluss einer raschen operativen Interventionspflicht, z.B. bei einer Einblutung in das Hirnparenchym. • Die Narkoseführung sollte darauf ausgerichtet sein, die Möglichkeit einer narkosebedingten Vigilanzstörung auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Aus den genannten Überlegungen leitet sich zwingend ab, dass das gesamte anästhesiologische Procedere berechenbar bleiben muss, was bedeutet, dass eine postoperative Vigilanzstörung durch die Narkoseführung weitgehend ausgeschlossen sein sollte. Es muss berücksichtigt werden, dass eine Vigilanzstörung auch eine postoperative Komplikation im Sinne einer intrakraniellen Blutung, d.h. einer operativen Nachblutung, sein kann, was eine unmittelbare Diagnostik erforderlich macht. Hier ist das mit einer nicht unerheblichen Strahlenbelastung versehene zerebrale Computertomogramm (CCT) in der Regel Untersuchungsverfahren der Wahl. Die Anfertigung eines CCT wegen einer unzulänglichen Narkoseführung sollte weitgehend ausgeschlossen sein.

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3.1. Standardmonitoring der Neuroanästhesie bei großen intrakraniellen Eingriffen Die Überwachung des Patienten während der Operation sollte darauf ausgerichtet sein, zum einen die bereits angesprochenen physiologischen Bedingungen perioperativ so weit wie möglich aufrecht zu erhalten und zum anderen die Sicherheit des Patienten bei möglichen Veränderungen der zerebralen aber auch systemischen Homöostase zu gewährleisten. Neben dem Standardmonitoring (EKG, Pulsoximetrie) ist eine Blutdruckmessung mittels arterieller Katheterisierung zur kontinuierlichen Erfassung des Blutdruckes unerlässlich. Bereits bei der Eröffnung der Dura mater kann es neben rasch auftretenden Herzfrequenzänderungen, die sowohl als tachy- als v.a. auch als ausgeprägt bradykarde Episoden auftreten können, zu begleitenden sehr abrupt auftretenden Blutdruckänderungen kommen, die im weiteren Verlauf bei der Präparation wegen des besonders gut durchbluteten Gewebes auch zu erschwerter operativer Präparation führen, da Blutdruckanstiege eine vermehrte Blutungsneigung im Operationsareal zur Folge haben können. Bei der Präparation eines Hirnarterienaneurysmas kann es möglicherweise sogar zur Ruptur des pathologisch veränderten arteriellen Gefäßes mit konsekutiv deletären Konsequenzen kommen. Des Weiteren bietet der arterielle Katheter die Möglichkeit wiederholter Blutgasanalysen, um die endexspiratorische C02-Konzentration im Atemgas möglichst genau auf den arteriellen Partialdruck eineichen zu können, eine Normoglykämie sicherzustellen und die Hämoglobinkonzentration kontrollieren zu können. Die Messung des C02-Partialdruckes ist besonders wichtig, da, wie bereits beschrieben, die arterielle C02Konzentration relevante Auswirkungen auf die zerebrale Durchblutung aber auch den intrakraniellen Druck hat. Auch auf einen Blasenkatheter sollte man nicht verzichten, da neben der wiederholt nach Glucocorticoidbolus beschriebenen Hyperurese auch eine durch Präparation veränderte Hypophysenhinterlappenfunktion mit vermehrter ADHAusschüttung eine überschießende Ausscheidung zur Folge haben kann. Nicht zuletzt darf auch nicht vergessen werden, dass die nicht selten erforderliche intraoperative Applikation von Mannitol als Osmodiuretikum die Diurese unkalkulierbar steigert.

Zur Aufrechterhaltung einer adäquaten Hirnperfusion ist eine Normovolämie unbedingt anzustreben. Um den Volumenstatus überwachen zu können, sollte deshalb ein zentralvenöser Katheter (ZVK) zur Messung des ZVD angelegt werden. Der ZVK bietet zudem die Möglichkeit der sicheren Medikamentenapplikation, was bei Anwendung einer totalen intravenösen Anästhesie (TIVA) essentiell ist. Es ist zu beachten, dass der Patient nach Lagerung und Anwendung wärmeerhaltender Maßnahmen nur unzulänglich zugänglich ist und periphere Zugänge nur erschwert beobachtet werden können. Auch die prolongierte Applikation von Katecholarninen zur Behandlung eines zu niedrigen Blutdruckes über eine periphere Verweilkanüle ist mit Komplikationen behaftet. 3.2. Gibt es eine ideale Narkosefiihrung für neurochirurgische Interventionen? Die allgemeingültigen Anforderungen an ein ideales Narkoseregime sind weitgehend bekannt wie beispielsweise rasche Induktion und ebenso rasche Beendigungsmöglichkeit. Dabei ist in der Neuroanästhesie jedoch die rasche Beendigung der Narkosewirkung von besonderer Bedeutung, um ein postoperatives Vigilanzdefizit aufgrund des gewählten Anästhesieverfahrens unbedingt zu vermeiden. Wie bereits ausgeführt, kann dieses im unmittelbaren postoperativen Verlauf auch Zeichen einer umgehend zu therapierenden operativen Komplikation im Sinne einer intrakraniellen Nachblutung bedeuten. Allein die dadurch zu initiierende, i.d.R. radiologische Diagnostik würde den Patienten in einem erheblichen Maße belasten. Die pharmakologischen und physikalischen Eigenschaften der gegenwärtig gängigen Inhalationsanästhestika Sevo- und Desfluran erfüllen diese Anforderungen ebenso wie das zur TlVA gebräuchliche Propofol. In Hinsicht auf die analgetische Komponente der Narkoseführung können jedoch deutliche Unterschiede bei Verwendung von Fentanyl, Sufentanil und Remifentanil auftreten. Hierbei ist dem Remi-

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fentanil wegen seiner pharmakologischen Eigenschaften ein deutlicher Vorteil zuzusprechen. Aufgrund seiner organunabhängigen Metabolisierung sowie der darrvt verbundenen fehlenden Akkumulationstendenz ist die mit dem Opiat auch verbundene Vigilanzbeeinflussung sehr schnell nach Beendigung der Applikation nicht mehr vorhanden. Zudem bietet es im Gegensatz zu den bei Fentanyl üblichen repetitiven Gaben die Möglichkeit der kontinuierlichen Applikation, was neben der geringeren Gefahr der intraoperativen Wachheit beim in der Regel scharf eingespannten Patienten den Vorteil bietet, das reflektorische motorische Aktivitäten auf Schmerzreize, v.a. mit Kopfbewegungen, die für den Patienten in dieser Situation eine erhebliche Gefahr darstellen, sehr viel unwahrscheinlicher werden. Spezielle neuroanästhesiologische Anforderungen des Narkoseregimes zur ZNS-Protektion hat Duffy et al. zusammengefasst (2). Hier sind besonders zu nennen: • Kein Einfluss auf den ICP • Aufrechterhaltung des CPP • Aufrechterhaltung der Koppelung der Hirnperfusion an den metabolischen Bedarf • Erhaltung der zerebralen Autoregulation • Erhaltung einer intakten Blut-Hirn-Schranke • Keine Senkung der Krampfschwelle

3.2.1. Einfluss auf den ICP Petersen et al. untersuchten in einer Studie, in der vor der Eröffnung der Dura zur Messung des intraduralen Drucks eine Kanüle subdural platziert wurde, ob ein Unterschied zwischen Propofol, Isofluran oder Sevofluran, jeweils unter zusätzlicher Gabe von Fentanyl, nachweisbar ist (3). Er fand in seiner Untersuchung einen signifikant niedrigeren Druck unter Anwendung von Propofol. Dies ist durchaus nachvollziehbar, da Propofol in der Lage ist, die neuronale Aktivität und damit den zerebralen Metabolismus nachhaltiger zu senken, was eine entsprechende Reduktion des CBF mittels Vasokonstriktion und damit des zerebralen Blutvolumens zur Folge hat. Dieses Phänomen findet bei der Therapie des pathologisch erhöhten ICP vielfach Anwendung. Zu bemerken ist jedoch, dass in der hier angesprochenen Studie mit einer mittleren Propofoldosierung von mehr als 9mg/ kgKG/h eine sehr hohe Dosierung gewählt wurde. Zudem ist im Gegensatz zur reflektorischen Vasokonstriktion unter Propofoleinfluss eine vasodilatatorische Wirkung der Inhalationsanästhetika, insbesondere für Isofluran, wiederholt diskutiert worden. Bemerkenswert war, dass die gleichzeitig gemessene bulbärvenöse Sauerstoffsättigung unter Propofol trotz alledem auf eine deutlich höhere Sauerstoffausschöpfung hinwies, was die Frage aufwarf, ob es zumindest in dieser hohen Dosierung zu einer Veränderung der Koppelung von CBF und zerebralem Metabolismus kommt. Die Änderung des ICP infolge einer Hyperventilation war zumindest unter den genannten Inhalationsanästhestika vehementer als unter Propofol. Vergessen werden sollte auch nicht, dass bei hoher Propofoldosierung und längerer OP-Dauer auch intraoperativ bereits das Auftreten eines PropofolInfusionssyndromes als schwerwiegende Nebenwirkung beschrieben wurde (4). Postoperativ ist mit einem vermehrten Auftreten von ICP-Anstiegen zu rechnen. Durch den operativen Reiz besteht die Möglichkeit eines Gewebsödems, welches im Gegensatz zur Phase der Präparation mit Eröffnung der Dura nach Verschluss wesentlich eher zu einem pathologisch relevanten ICP-Anstieg beitragen kann. Deshalb sollte postoperativ nach Beendigung der Narkose sehr exakt auf klinische Zeichen eines erhöhten ICP wie Kopfschmerz, Vigilanzminderung, Übelkeit und Erbrechen geachtet werden. Kommt es intra- oder auch postoperativ zu einer Gewebsschwellung, können mit Mannitol i. v. oder diskreter Hyperventilation (p.C0 2 bei 32mmHg) verbesserte Verhältnisse geschaffen werden.

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Unter Berücksichtigung eines regelmäßig nach intrakranieller Intervention mindestens für 48h zu beobachteten Pneumocephalus ist es essentiell, auf Lachgas zur Narkoseführung zu verzichten. Hier kann es durchaus zu einer klinisch relevanten ICP-Erhöhung nach Verschluss der Dura und der Kalotte durch die bekannte Problematik der Lachgasdiffusion in luftgefüllte Hohlräume kommen. Erstaunlicherweise ist dies nicht nur bei Duraeröffnung infolge intrakranieller Eingriffe zu beobachten. Auch nach Eröffnung der Dura mater im spinalen Bereich kann diese Komplikation wegen postoperativ nachweisbarer intrakranieller Lufteinschlüsse auftreten (5).

3.2.2. Aufrechterhaltung eines ausreichenden zerebralen Perfusionsdruckes Der zerebrale Perfusionsdruck berechnet sich wie bereits ausgeführt aus der Differenz des mittleren arteriellen und des intrakraniellen Druckes. Eine korrekte Narkoseführung sollte sich, wie bereits oben ausgeführt, auf den einzelnen Patienten und seinen vorbestehenden individuellen Blutdruck ausrichten, um den patientenspezifisch notwendigen CPP während des Eingriffs nicht zu unterschreiten. Da der ICP, wie oben besprochen, zumindest während der intraoperativen Phase eher niedrig liegt, ist eine Unterschreitung eines adäquaten CPP eher systemischen Veränderungen mit konsekutiver Blutdruckerniedrigung zuzuschreiben, d.h. einem beispielsweise durch Anästhetika oder auch durch Volumenmangel verursachten Blutdruckabfall. Hier gelten unter Berücksichtigung der Annahme, dass Anästhetika in gebräuchlicher Dosierung keine pathologisch relevanten Veränderung des Autoregulationsverhaltens selbst induzieren, die allgemeingültigen Standards der Narkoseführung, d.h. der MAP während der Narkose sollte nicht mehr als 20% unter den vorbestehenden Normalwert des Patienten abfallen. Bisher konnte unter Verwendung der gängigen klinischen Dosierungen eine nachhaltige Veränderung der Autoregulation durch Anästhetika nicht nachgewiesen werden. Konkret bedeutet das, dass der MAP bei 80 mmHg beim sonst gesunden Patienten noch ausreichend sein sollte. 3.2.3. Erhaltung einer physiologischen Hirndurchblutungsregulation Die zerebrale Durchblutungsregulation sollte durch die Applikation der Narkosemittel nicht beeinflusst werden. Die Untersuchung dieser Fragestellung ist jedoch im Rahmen einer klinischen Studie nur indirekt möglich. Die meist verwendete Methode hierzu war bisher die transkranielle Dopplersonographie, mit der entweder unmittelbar die Blutflussgeschwindigkeit der Erythrozyten in den großen zerebralen Arterien gemessen und damit auf die Hirndurchblutungsverhältnisse geschlossen wurde, oder errechnete Parameter aus dem Verhältnis der Änderung der Blutflussgeschwindigkeiten nach kurzfristiger Manipulationen der zerebralen Blutzufuhr (Transient Hyperemic Response Ratio, THRR). Unmittelbare Messungen der Flussgeschwindigkeit zeigten, dass v.a. Isofluran eine deutliche Zunahme bei höheren MAC-Bereichen aufwies. Bei Desfluran und Sevofluran fielen die Steigerungen mit ca. 20% moderat aus, wohingegen bei Propofol eine deutliche Reduktion der Werte um mehr als 50% zu beobachten war (2,6,7). Messungen mit der THRR wiesen auch nach, dass unter Desfluraneinfluss nach kurzer Minderperfusion eine moderate Reduktion der CBF-Antwort auftrat, wohingegen unter Propofol eine Zunahme zu beobachten war. Ob dies eine Folge der unter Medikamenteneinfluss schon mit Vasodilatation (Desfluran) bzw. Vasokonstriktion (Propofol) veränderten vasoreaktiven Kapazität ist, kann nur gemutmaßt werden. Eine CBF-Reduktion um ca. 30-40% unter Propofol wurde auch durch fMRT-Untersuchungen bestätigt. Es gibt jedoch bisher keinen Hinweis auf eine pathologische Relevanz der CBF-Reduktion. Der Befund wird, wie bereits diskutiert, eher als reflektorische CBF-Minderung als Antwort auf die Senkung der neuronalen Aktivität und damit des neuronales Metabolismus interpretiert. 84

3.2.4. Erhaltung der Blut-Hirn-Schranken-Integrität Es gibt gegenwärtig keinerlei Hinweise auf eine Veränderung der Blut-Hirn-SchrankenFunktion durch die zurzeit etablierten Anästhetika. Rasmussen et al. konnten in einer Studie weder bei Iso- oder Sevofluran noch bei Propofol einen Einfluss auf eine potenzielle Hirnschwellung bei großen intrakraniellen Operationen als Zeichen einer gestörten Blut-Hirn-Schranke erkennen (8). 3.2.5. Keine Senkung der Krampfschwelle Da operative Manipulationen am Hirngewebe insbesondere bei der nicht selten bereits präoperativ bestehenden Krampfneigung eine Verstärkung der Krampfaktivität bedeuten kann, sollten Anästhetika diesbezüglich zumindest keine Senkung der Krampfschwelle bewirken. In Hinsicht auf Sevofluran gibt es gemäß einer Studie von Jääskeläinen et al. hierzu eindeutige Hinweise (9). Er konnte mittels EEG bei ansonsten himgesunden Patienten unter Sevofluran neu auftretende und konzentrationsabhängig zunehmende Veränderungen im Sinne einer epileptogenen Wirkung demonstrieren. Dies gelang bei Propofol in wesentlich geringerem Maße. Die bei Propofol beschriebenen „Seizure-like-phenomenas" werden im Gegensatz eher einer myoklonischen Aktivität zugeschrieben. Diskutiert wird lediglich, ob es während der Ausleitung und damit der Beendigung der Propofolzufuhr zu einer erhöhten Krampfneigung kommt. Es wirft sich die Frage auf, ob die unter Propofolzufuhr initial angehobene Krampfschwelle mit „Entzug" des nachgewiesen antikonvulsiv wirkenden Medikaments zu rasch wieder sinkt und damit möglicherweise vermehrt Krampfaktivität induziert wird - vergleichbar dem abrupten Absetzen sonstiger antikonvulsiver Pharmaka (10). Vergessen werden sollte nicht, dass der nicht selten indizierte Einsatz von Glucocorticoiden bereits zu einer Krampfschwellenerniedrigung beiträgt. Zu beachten ist, dass bei Nachweis einer Krampfaktivität diese unmittelbar zu behandeln ist, um Hirnschäden zu vermeiden.

4. Die Narkosebeendigung in der Neuroanästhesie Die allgemeinen Kriterien bei Beendigung einer Narkose sind auch in der Neuroanästhesie unbedingt einzuhalten. Normothermie ist wegen der Vermeidung einer Sympathikusaktivierung unerlässlich. Zudem ist das Shivering zeitweise nur schwer von einem Krampfgeschehen zu differenzieren. Pethidin sollte bei Shivering sehr zurückhaltend eingesetzt werden, da der Metabolit Norpethidin die Krampfschwelle senkt. Eine Hypertension ist zu vermeiden, da operative Eingriffe am reich perfundierten und dementsprechend mit Gefäßen reichlich versorgten Hirngewebe besonders schnell zu Nachblutungen führen können. Systolische Blutdrucke über 160mmHg sollten vermieden und ggf. mit kurzwirksamen Antihypertensiva (z.B. Urapidil i.v.) rasch gesenkt werden. Eine Hyperkapnie muss vermieden werden, da diese im Zusammenhang mit der durch operative Manipulation ggf. entstandenen Hirnschwellung zur Überschreitung einer kritischen Grenze des ICP beitragen kann - mit entsprechender pathologischer Relevanz. Deshalb sollte bei Narkoseausleitung auf ein „Hängenlassen" des Patienten mit konsekutivem P.CO2-Anstieg auch unbedingt verzichtet werden. Der Patient muss bis zur Wiedererlangung des Bewusstseins normokapnisch bleiben. Zudem senkt die Hyperkapnie die Shivering-Schwelle mit oben besprochener konsekutiver Problematik (11). Neben den allgemein infolge einer länger dauernden Narkose bestehenden postoperativen Komplikationen (Hypo- oder Hypertonie, Hypoxie, Shivering, Nausea etc.) können neurochirurgische Eingriffe auch spezifische Probleme während der postoperativen Phase 85

aufwerfen. Besonders zu nennen sind neurologische Defizite im Sinne von Vigilanzbeeinträchtigungen bis hin zum komatösen Patienten, das Auftreten von Krampfanfällen oder von lokalen neurologischen Ausfällen sensorischer bzw. motorischer Art. Wie bereits anfangs besprochen, können Vigilanzdefizite und Krampfanfälle, die meist als komplexfokale Anfälle in Erscheinung treten, nach neurochirurgischen Interventionen häufiger als üblich entstehen, zumal nicht selten bereits präoperativ eine erhöhte Krampfneigung aufgrund des intrakraniellen Befundes existiert. Oft werden die Anfälle begleitet durch Hypertonie und Hyperkapnie. De Santis beobachtete unmittelbar nach Beendigung der Narkose in 6-8% aller Patienten entsprechende Veränderungen. Auch eine präoperative Prophylaxe mit Phenytoin konnte die Inzidenz laut seiner Studie nicht senken (12). Magni et al. fanden in ihrer Untersuchung eine niedrigere Anzahl schwerer neurologischer Komplikationen und ein Unterschied zwischen Sevofluran/Fentanyl-Narkose im Gegensatz zu Propofol/Remifentanil wurde ebenso nicht beobachtet ( 13). Jääskeläinen et al. konnten bei 8 Probanden allerdings in BEG-Untersuchungen eindeutig Krampfaktivität unter Sevofluraneinfluss nachweisen, wohingegen Propofol im Vergleich dazu keine spezifischen BEG-Veränderungen induzierte (9). In einer Metanalyse konnte jedoch auch unter Propofoleinfluss zumindest „seizure-like-phenomena" nachgewiesen werden, d.h. es wurden, meist ohne begleitende und spezifizierende BEG-Untersuchung, Myoklonien beobachtet, die sich von Krampfphänomenen nicht sicher abgrenzen ließen (10). Besondere Bedeutung erhält dieser Befund wohl bei Änderungen der plasmatischen Konzentrationen von Propofol, also bei Ein- und Ausleitung. Ob diese Beobachtungen klinische Relevanz erlangen, ist jedoch bisher nicht abschließend geklärt. Ein eindeutiger Vorteil zugunsten Sevofluran oder Propofol als Hypnotikum lässt sich aus der aktuellen Studienlage jedenfalls nicht ableiten. Die Frage nach dem Sinn einer bereits präoperativ eingeleiteten Krampfprophylaxe ist nach gegenwärtiger Datenlage ebenfalls nicht sicher zu beantworten. Trotz der oben genannten Erfolglosigkeit in der Studie von de Santis et al. fand Temkin für Phenytoin in einer Metanalyse einen positiven Effekt im Gegensatz zu Carbamazepin oder Phenobarbital, die ohne Effekt blieben (14). Eine eigene Untersuchung konnte hingegen erstaunlicherweise hier einen Effekt durch die Gabe von Atropin zeigen. Es ist durchaus bekannt, dass Atropin vigilanzprotektive und antikonvulsive Eigenschaften besitzt. Überraschend war jedoch die Tatsache, dass die einmalige Gabe von Atropin, welches wegen Remifentanil induzierter Bradykardien am Beginn eines intrakraniellen Eingriffes gegeben wurde, in der Lage war, postoperative Vigilanzdefizite selbst nach mehrstündiger OP-Dauer nachhaltig zu reduzieren. Ist postoperativ ein Krampfgeschehen nachweisbar, sollte dieses mit Midazolam in lmgDosierungen kumulativ rasch durchbrochen und zur Aufrechterhaltung einer längeren antikonvulsiven Wirkung durch Lorazepam ergänzt werden. Dabei muss die Möglichkeit der Behandlung einer auftretenden respiratorischen Insuffizienz unbedingt gegeben sein.

5. Sofortige oder verzögerte Narkoseausleitung: Was geht besser? Letztlich können zwei unterschiedliche Ansätze diskutiert werden, die der Frage der postoperativen Vorgehensweise nach mehrstündigen neurochirurgischen und intrakraniell lokalisierten Interventionen nachgehen. Zum einen könnte der Patient mit Beendigung der Operation auf eine Intensivstation verlegt werden, um dort prolongiert und möglicherweise schonender nach erfolgter radiologischer Kontrolle ausgeleitet zu werden. Erst nach Anfertigung eines postoperativen Kontroll-Computertomograrnms ohne radiologische Zeichen eines intrakraniell erhöhten Druckes wird die Sedierung beendet und der Patient letztlich extubiert. Eventuell auftretende respiratorische Probleme, die sich als Hypoxie oder Hyperkapnie äußern und das Hirngewebe durchaus zu gefährden in der Lage sind, könnten durch diese Vorgehensweise vermieden werden. Andererseits ist es auch denkbar, 86

mit Beendigung der Operation unmittelbar die Anästhetikazufuhr zu beenden und die Narkose zu beenden. Dies hätte den entscheidenden Vorteil, die klinisch-neurologische Überwachung als beste aller Möglichkeiten zur Erkennung einer potenziellen Nachblutung rasch zur Verfügung zu haben. Bruder et al. konnten zeigen, dass die prolongierte Ausleitung auf der Intensivstation zumindest in Hinsicht auf Stressvermeidung keine Evidenz besitzt (15). Er wies nach, dass sowohl der Sauerstoffverbrauch als auch die Noradrenalinkonzentration im Blut bei verzögerter Extubation auf der Intensivstation höher waren als bei unmittelbarer Beendigung der Narkose im OP-Saal. Das Phänomen, dass die Beendigung der Narkose unmittelbar nach OP-Ende schonender verläuft, dürfte damit zu erklären sein, dass im OP-Saal für den Patienten ein Arzt und eine Person vom Pflegepersonal unmittelbar anwesend sind, wohingegen auf der Intensivstation der Arzt für mehrere Patienten verantwortlich ist und oft nicht sofort tätig werden kann, wenn der Patient extubiert werden könnte. Unter Berücksichtigung des zeitlichen Auftretens einer potenziellen Nachblutung, die i.d.R. in den ersten 6 Stunden nach OP-Ende eintritt (16), und der Möglichkeit, dass die klinisch-neurologische Überwachung hier als sensitivste Methode zur Erkennung des Problems gelten kann, ist die frühe Extubation sicher vorteilhaft.

6. Zusammenfassung Da die Überwachung des neurologischen Status des intrakraniell operierten Patienten das optimale Verfahren zur Erkennung postoperativer Komplikationen ist, sollte neben der frühen Extubation eine absolut berechenbare Narkose durchgeführt werden. Durch die anästhesiologische Vorgehensweise sollte möglichst keine postoperative Vigilanzminderung induziert werden. Zudem ist eine Krampfschwellensenkung zu vermeiden. Die gegenwärtig gängigen Verfahren unter Anwendung von Propofol oder Sevofluran als Hypnotika und Remifentanil als Analgetikum sind unter diesen Gesichtspunkten als gleichwertig zu betrachten. Desfluran kann ebenfalls verwendet werden, hat jedoch bei Applikation höherer Konzentrationen ( > 1 MAC) am ehesten einen unkalkulierbaren Einfluss auf die zerebrale Perfusion. Die Kenntnis der Physiologie der zerebralen Durchblutungsregulation ist unbedingte Voraussetzung einer sicheren Narkoseführung in der Neuroanästhesie. Auf die Anwendung von Lachgas sollte gänzlich verzichtet werden.

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Herz-Kreislauf-Monitoring - Was ist Evidenz-basiert? D. A.

REUTER

Die Überwachung von Herz- und Kreislauffunktionen mittels erweitertem hämodynamischem Monitoring schafft eine rationale Grundlage für die adäquate Therapie von Kreislaufinstabilität. Dies Vorgehen hat in der perioperativen und intensivmedizinischen Behandlung kritisch Kranker zentrale Bedeutung. Neben dem Basismonitoring, d.h. der Erfassung von Herzfrequenz, Blutdruck, EKG und der Pulsoxymetrie stehen zahlreiche weitere, zum Teil hochinvasive Überwachungsmethoden der Herz- und Kreislauffunktionen zur Verfügung. Hier gilt es, auf der einen Seite natürlich immer zwischen potentiellem Nutzen und verfahrensinherentem Risiko eines Überwachungsverfahrens abzuwägen. Auf der anderen Seite, nicht zuletzt auch aufgrund von zunehmendem Kostendruck in den Krankenhäusern, rückt immer häufiger die Frage nach Beurteilung des Nutzens im Sinne des gerechtfertigten Aufwandes auf der Basis der Erkenntnisse der sogenannten Evidence Based Medicine in den Fokus und trägt maßgeblich zur Indikationsstellung von erweitertem hämodynamischen Monitoring bei. Diese Übersicht setzt sich kritisch mit der prinzipiellen Frage nach dem Einsatz von (erweitertem) Herz-Kreislauf-Monitoring im intensivmedizinischen Arbeitsfeld unter Konditionen der Evidence Based Medicine auseinander. Dies geschieht 1) mit Blick auf den generellen Einsatz von Methodiken des erweiterten hämodynamischen Monitorings, welche Verwendung in der Intensivmedizin finden (Echokardiographie, ösophageales Doppler-Monitoring, Pulmonaliskatheter, transkardiopulmonale Indikatordilutionsverfahren). Es geschieht 2) mit Blick auf die Bedeutung der gängigen Routine-Parameter der Hämodynamik, bzw. der häufig eingesetzten Parameter des erweiterten hämodynamischen Monitorings (mittlerer arterieller Blutdruck, kardiale Füllungsdrücke, zentralvenöse Sättigung, Herzzeitvolumen) und 3) mit Blick auf die aus diesen Parametern abgeleiteten Behandlungsstrategien.

1. Was heißt Evidence Based Medicine? As physicians, we always have sought to base our decisions and actions on the best possible evidence. The ascendancy ofthe randomized trial heralded afundamental shift in the way that we establish the clinical bases for diagnosis, prognosis, and therapeutics. The ability to track down, critically appraise (jor its validity and usefulness), and incorporate this rapidly growing body of evidence into one's clinical practice has been named 'evidence based medicine'. Der Begriff „Evidence Based Medicine", wurde Anfang der 90er Jahre von David Sackett geprägt und beschreibt die Forderung, dass bei jeder medizinischen Behandlung patientenorientierte Entscheidungen ausdrücklich auf der Grundlage von empirischer Wirksamkeit getroffen werden. Interessant ist im übrigen, dass die deutsche Übersetzung und der seit Jahren feststehende Begriff „Evidenzbasierte Medizin" hier eigentlich widersprüchlich ist: Bedeutet „Evidence" im Englischen „Beweis" bzw. ,,Beleg", ist der Begriff „Evidenz" im Deutschen als „Offensichtlichkeit", also ein Umstand, der keines Beweises bedarf definiert. Evident ist vielmehr ein Sachverhalt, der unmittelbar und ohne besondere methodische Aneignung klar auf der Hand liegt. Daher findet in folgenden der originale, englische Begriff der „Evidence Based Medicine" Verwendung. Definiert man nun diese empirische Wirksamkeit bezüglich einer generellen hämodynamischen Überwachung kritisch kranker Patienten im Operationssaal und auf der Intensivstation als eine Verringerung der Letalität, so reduziert sich die Datenlage quasi auf null - denn hier wäre, nach den „puristischen" Kriterien der Evidence Based Medicine, eine

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große randomisierte Studie mit dem Titel „hämodynamisches Monitoring - vs. kein hämodynamisches Monitoring - Der Einfluss auf das Überleben" bei kritisch kranken Patienten im OP oder auf der Intensivstation zu fordern. Jedoch erübrigt sich natürlich diese prinzipielle Frage nach der Sinnhaftigkeit eines prinzipiellen hämodynamischen Monitorings beim kritisch kranken Patienten aus den gleichen, nachvollziehbaren Gründen, wie in dem vielzitierten Beitrag von Smith und Pell im British Medical Journal zur Frage, wie Evidenz-basiert der Einsatz von Fallschirmen zur Vermeidung von Tod und schwerer Verletzung bei Sprung aus großer Höhe, wie aus einem Flugzeug eigentlich ist - dass eine ausgeprägte Kreislaufinsuffizienz und somit konsekutive Mangelversorgung der Endorgane mit einem schlechteren Behandlungsergebnis assoziiert ist, liegt auf der Hand, ebenso wie der voraussichtliche Tod, wenn bei einem Sprung aus dem Flugzeug auf den Fallschirm verzichtet wird (1,2). Auch bei der perioperativen anästhesiologischen Versorgung liegt es aus gleichen Gründen auf der Hand, dass ein generelles hämodynamisches Monitoring unabdingbar ist - auch hier jedoch ohne Studien, die den harten Kriterien der Evidence Based Medicine entsprächen. Richtungweisend ist diesbezüglich eine Untersuchung aus dem Jahre 1989 von Tinker und Mitarbeitern, die anhand der Analyse von insgesamt 1175 Fällen aus den Jahren 1974-1988, die aufgrund der Frage, ob versicherungsrelevante Behandlungsfehler vorgelegen haben, von unabhängigen Gutachtern nachuntersucht wurden, zeigen konnten, dass nach Meinung der Gutachter mehr als 30% der stattgehabten Zwischenfälle mit zusätzlichem hämodynamischem Monitoring vermeidbar gewesen wären (3). Bei diesen 346 Fällen wäre nach gutachterlicher Meinung zum Beispiel durch den Einsatz der Pulsoxymetrie in 40%, bei Einsatz von Pulsoxymetrie und Kapnometrie in 51 % der Zwischenfall vermeidbar gewesen. Somit stellt sich nicht die Frage, ob, sondern vielmehr welche Parameter und welche Methoden des erweiterten hämodynamischen Monitorings sinnvollerweise hinsichtlich der Kriterien der Evidence Based Medicine bei kritisch kranken Patienten überwacht werden sollten, und wie diese in Therapiestrategien eingehen.

2. Bringt die Verwendung von Verfahren des erweiterten hämodynamischen Monitorings Behandlungsvorteile? In den letzen Jahrzehnten sind, sowohl für die perioperative hämodynamische Überwachung als auch zur Patientenüberwachung auf der Intensivstation neben dem klassischen Basismonitoring der Überwachung von Puls, Herzfrequenz, Blutdrücken und Elektrokardiogramm, zahlreiche neue Methoden vorgestellt und eingeführt worden. Herausragend waren hier mit Sicherheit die klinische Einführung der Pulsoxymetrie, der Echokardiographie (und hier für OP und Intensivstation insbesondere die transösophageale Echokardiographie), des Pulmonaliskatheters, der transkardiopulmonalen Thermo- oder Indikatordilutionsverfahren (PiCCO, LidCO), sowie der arteriellen Pulskonturanalyse. a) Pulsoxymetrie Das Prinzip der Pulsoxymetrie, entwickelt und vorgestellt bereits in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts, findet seit den 80er Jahren klinische Anwendung sowohl im OP als auch auf der Intensivstation und gehört heute de facto zum Standard-Monitoring. Die Ratio dahinter - frühes Erkennen einer Hypoxämie - liegt auf der Hand und führt zu einer breiten und kontinuierlichen Anwendung im OP und auf der Intensivstation. Betrachtet man diesen Einsatz jedoch puristisch mit den Augen der Evidence Based Medicine, nämlich nachgewiesene Outcome-Verbesserung durch den Einsatz der Pulsoxymetrie, so ist auch hier die Menge an - nach den Kriterien der Evidence Based Medicine belastbaren Daten erstaunlich gering. Eine Publikation der Cochrane Collaboration aus dem Jahre 2009 zum Thema „Pulsoxymetrie für das perioperative Monitoring" kommt nach formaler Analyse von 1326 Publikationen und einer letztlichen Auswertung von 5, 90

den formal-qualitativen Kriterien entsprechenden Studien zu der Schlussfolgerung, dass es keine Evidence dafür gibt, dass „Pulsoxymetrie das Outcome der anästhesiologischen Versorgung von Patienten beeinflusst und dass der Wert des perioperativen Monitorings mit Pulsoxymetrie daher fragwürdig sei im Verhältnis zu verbessertem, glaubwürdigem Outcome, Effektivität und Effizienz" (4). Auch wenn diese Datenanalyse ohne Frage formal sehr präzise nach den Bewertungskriterien der Evidence Based Medicine durchgeführt wurde, so überschreitet sie, legt man sie als primäre Entscheidungsgrundlage zugrunde, ob ein solches Monitoring indiziert ist oder nicht, evidentermassen, d.h. auf gut deutsch offensichtlich die sinnvollen Grenzen einer solchen Bewertung. b) Transösophageale Echokardiographie Die klinische Einführung der Echokardiographie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts stellt ohne Frage einen Meilenstein in der bettseitigen kardiovaskulären Diagnostik dar (5). Die intraoperative Anwendung, und hier vor allem der tranösophagealen Echokardiographie hat insbesondere in der Kardiochirurgie ihren festen, nicht mehr wegzudenkenden Platz gefunden. Hier gilt die transösophageale Echokardiographie als Gold-Standard zur Beurteilung des operativen Ergebnisses, was auch, wie im Rahmen großer Studien gezeigt, entscheidend das weitere operative Vorgehen beeinflusste (6). Auch im Rahmen von nicht-herzchirurgischen Operationen kommt die perioperative transösophageale Echokardiographie immer häufiger zur Überwachung der kardialen Funktion zum Einsatz. Eine kritische Datenanalyse der vielen hierzu publizierten Studien führte 1996 zu den „Practice Guidelines for perioperative transesophageal Echocardiography", welche für die TEE eine Indikation I ausspricht (7). Das heißt, die Datenlage unterstützt den Einsatz der transösophagealen Echokardiographie, da diese hilfreich ist, das Outcome der Patienten zu verbessern bei: • intraoperativer Evaluation akuter und lebensbedrohlicher hämodynamischer Instabilität • präoperativer Abklärung hämodynamischer Instabilitäten mit Verdacht auf ein thorakales Aortenaneurysma, eine Aortendissektion oder eine Aortenruptur • intraoperativer Beurteilung der Aortenklappenfunktion nach Eingriffen der Aortenklappe oder bei einer Aortendissektion zur Beurteilung der Funktion der Aortenklappe • lntensivpatienten mit unklarer Ätiologie einer hämodynamischen Instabilität, beim Verdacht auf eine Klappenfehlfunktion oder thrombembolischen Ereignissen

Eine Kategorie II Indikation, das heißt, die Studienlage der TEE ist nicht eindeutig; ihr Einsatz kann eventuell das Outcome der Patienten beeinflussen, wurde ausgesprochen für: • den Einsatz perioperativ bei Patienten mit erhöhtem Risiko für eine Myokardischämie oder einen Myokardinfarkt • die intraoperative Beurteilung der Klappenfunktion • die intraoperative Beurteilung kardialer Aneurysmen und bei Aneurysma-Eingriffen • die intraoperative Diagnose von Luftembolien während Kardiotomie, Herztransplantation und bei sitzenden neurochirurgischen Eingriffen • intraoperativ bei pulmonaler Embolektomie Weiter wird in den gemeinsamen Guidelines des American College of Cardiology und der American Heart Association in Zusammenarbeit mit der American Society of Cardiovascular Anesthesiologists aus dem Jahre 2007 für den perioperativen Einsatz der transöso91

phagealen Echokardiographie bei nicht-herzchirurgischen Eingriffen eine Kategorie HaEmpfehlung (der Benefit des Einsatzes überwiegt das Risiko, jedoch weitere Studien sind wünschenswert; es ist sinnvoll, die Prozedur durchzuführen) mit einem Level of Evidence C ausgesprochen für (8): •

den Notfall-Einsatz bei akuter, persistierender und lebensbedrohlicher hämodynamischer Instabilität

Es gibt also für die transösophageale Echokardiographie im Vergleich zu anderen Verfahren, die eine hämodynamische Beurteilung ermöglichen, eine sehr klare und unstrittige Empfehlung, diese bei Phasen der akuten hämodynamischen Instabilität sowohl perioperativ als auch intensivmedizinisch einzusetzen - jedoch letztlich auch mit einem erstaunlich niedrigen Level of Evidence. Insbesondere ist aber zu betonen, dass die transösophageale Echokardiographie hier ausschließlich als ein Werkzeug zur Akut-Diagnostik bewertet und empfohlen wird. Für den Einsatz als wirkliches Monitoring-Verfahren für die hämodynamische Überwachung über einen längeren Behandlungszeitraum hingegen ist die Echokardiographie nicht geeignet. c) Der ösophageale Doppler Das Prinzip der Bestimmung von Blutfluss mittels Ultraschall unter Ausnutzung des Doppler-Effekts fand in den 50er Jahren die erste klinische Anwendung. Es stand zunächst der perkutane parasternale bzw. suprasternale Zugangsweg, mit dem der Blutfluss in der thorakalen Aorta bestimmt werden konnte, im Vordergrund (9). 1971 folgte dann die erste Beschreibung einer transösophagealen Messung (10). Inzwischen sind verschiedene Monitore, welche mit einer relativ dünnen ösophagealen Sonde erlauben, das Herzzeitvolumen, sowie verschiedene weitere hämodynamische Parameter zu bestimmen, klinisch verfügbar. Betrachtet man die Datenlage aus dem Blickpunkt der Evidence Based Medicine, so sind für das Verfahren des ösophagealen Dopplers im Vergleich zu den übrigen Verfahren des erweiterten hämodynamischen Monitorings (die Ausnahme bildet hier die ausgesprochen große Datenlage zum Pulmonaliskatheter) inzwischen zahlreiche Studien mit dem Endpunkt einer Outcome-Verbesserung verfügbar. Interessant hierbei ist, dass diese Studien fast ausnahmslos aus Großbritannien kommen, wo diese Monitoring Technik im Vergleich zu anderen Ländern relativ stark verbreitet ist. Die überwiegende Anzahl der Studien beschäftigen sich mit der intraoperativen hämodynamischen Überwachung und Steuerung der Therapie mittels ösophagealem Doppler (11,12,13,14,15,16), zwei weitere Studien mit der postoperativen hämodynamischen Überwachung (17,18). Mit Ausnahme einer Studie (15) zeigten alle Untersuchungen im Vergleich zum Basismonitoring eine Verbesserung des Behandlungsergebnisses im Sinne eines signifikant kürzeren Intensiv-Aufenthaltes, bzw. einer signifikant verkürzten Krankenhaus-Liegezeit (19). Auch ein Review der Cochrane Library von 2008 beschäftigte sich mit dem Verfahren des ösophagealen Dopplers (hier ausschließlich mit der Steuerung der Volumentherapie bei operativer Versorgung von Schenkelhalsfrakturen), wobei in diese Analyse letztlich nur 2 (!) Studien Berücksichtigung fanden (20). Aus dem Blickwinkel der Evidence Based Medicine lässt sich für den Einsatz des ösophagealen Dopplers somit, zumindest in Bezug auf „weiche" Outcome Parameter, wie Liegezeiten auf der Intensivstation bzw. im Krankenhaus, ein Vorteil nachweisen. Jedoch ist hier anzumerken, dass die primäre Fragestellung bei allen diesen Studien war, ob durch die Einführung eines protokollisierten Behandlungsschemas, also eines standardisierten Behandlungsalgorithmus mit dem Ziel, das Herzzeitvolumen mittels intravasaler Volumengabe zu steigern, Outcome-Verbesserungen erzielt werden können. Im Rahmen dieser Studien wurde also vielmehr ein Behandlungskonzept zur zielgerichteten Therapie, sich ausrichtend an einer offenkundig physiologisch sinnvollen Zielvariablen (hier der aortale Blutfluss bzw. das Herzzeitvolumen) untersucht, denn der Einsatz eines bestimmten Monitoringverfahrens evaluiert.

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d) Der Pulmonaliskatheter Klinisch eingeführt im Jahre 1970 durch Swan und Ganz galt der Pulmonaliskatheter über Jahrzehnte hinweg als der Gold-Standard für das erweiterte hämodynarnische Monitoring sowohl perioperativ, als auch bei kritisch kranken Patienten (21,22). Da der Pulmonaliskatheter auch über viele Jahre hinweg letztlich die einzige, bettseitig zur Verfügung stehende Technik zur differenzierteren hämodynarnischen Beurteilung war, wurde sein Einsatz zum erweiterten hämodynarnischen Monitoring auch nicht ernsthaft in Frage gestellt. Dies änderte sich im Jahre 1996, als eine prospektive, multizentrische Observationsstudie, in die insgesamt 5735 intensivmedizinische Patienten eingeschlossen wurden, veröffentlicht und in der Folge höchst kontrovers diskutiert wurde (23). Verglichen wurde in der Connors-Studie das Überleben von kritisch kranken Patienten, bei denen im Rahmen ihrer intensivmedizinischen Behandlung ein Pulmonaliskatheter eingesetzt wurde, gegenüber Patienten, bei denen dies nicht der Fall gewesen war. Die Ergebnisse stellten die weltweit praktizierten Vorgehensweisen des erweiterten hämodynarnischen Monitorings mit dem Pulmonaliskatheter aufs heftigste prinzipiell in Frage: Denn sowohl bezüglich des 1 monatigen, des 2 monatigen, als auch des 6 monatigen Überlebens zeigten sich hochsignifikante Unterschiede zugunsten der Gruppe von Patienten, die nicht mit einem Pulmonaliskatheter instrumentiert wurden. Eine große Folgestudie aus dem Jahre 2003 von Richard an 676 Patienten mit ARDS, in der ebenfalls das Überleben von Patienten verglichen wurde, die im Laufe ihrer Behandlung mit einem Pulmonaliskatheter überwacht wurden, gegenüber denen, die dieses Monitoring nicht erhielten, konnte zwar keinen Überlebensnachteil, aber auch keinen Benefit für den Einsatz des Pulmonaliskatheters zeigen (24).

Weiter gestärkt wurden diese Befunde von den Ergebnissen der ESCAPE-Studie, die im Jahre 2005 veröffentlicht wurden. Auch hier, bei Patienten mit kongestiver Herzinsuffizienz konnte kein Behandlungsvorteil durch Einsatz des Pulmonaliskatheters gezeigt werden. (25). Schließlich folgten 2006 die Ergebnisse der so genannten PAC-Man Studie, einer randomisierten, kontrollierten Studie an insgesamt 1014 kritisch kranken Patienten auf 65 teilnehmenden Intensivstationen (26); auch hier zeigte sich kein Vorteil für die hämodynamische Überwachung mit dem Pulmonaliskatheter. Dass somit nach den Kriterien der Evidence Based Medicine keine Vorteile für den Einsatz des Pulmonaliskatheters bei der Behandlung kritisch kranker Patienten sprechen, spiegelt sich letztlich auch in zwei, den Analysen der Evidence Based Medicine folgenden Reviews aus den Jahren 2005 bzw. 2009 wieder (27,28). Auch in einem Konsensus-Papier, welches einer internationalen Experten-Diskussion zur Thematik des hämodynarnischen Monitorings bei kritisch kranken Patienten im Schock folgte, wurde, basierend auf dieser Datenlage, eine Klasse 1 Empfehlung gegen die Verwendung des Pulmonaliskatheters bei Patienten im Schock ausgesprochen, und dies mit dem höchsten Level of Evidence (29). e) Die transkardiopulmonale lndikatordilution und Pulskonturanalyse Die transkardiopulmonalen Dilutionsverfahren zum erweiterten hämodynamischen Monitoring sind, historisch gesehen, im Vergleich zum Pulmonaliskatheter, eigentlich die älteren Verfahren (22). Klinisch verfügbar wurde eine erste praktikable Anwendung in den 80er Jahren, der COLD Monitor, der transkardiopulmonale Farbstoff- (lndocyaningrün) und Thermodilution miteinander kombinierte (30). Heute klinisch in Gebrauch sind zwei Monitoring-Systeme, die beide jeweils mit der weiteren Monitoring-Technik der arteriellen Pulskonturanalyse kombiniert sind: zum einen die transkardiopulmonale Thermodilution (PiCCO), zum anderen die transkardiopulmonale Lithium-Dilution (LidCO). Zur Validierung der verschiedenen, mit diesen Systemen erhebbaren Parametern, das heißt für den PiCCO-Monitor insbesondere für die Bestimmung des Herzzeitvolumens, des globalen end-diastolischen Volumens, des extravaskulären Lungenwassers, der Schlagvolumen- und Pulsdruckvariation, sowie für den LidCO-Monitor für die Bestim-

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mung des Herzzeitvolumens gibt es über die letzten 20 Jahre zahlreiche Publikationen, welche die klinische Wertigkeit der einzelnen Parameter gewichten (s.u.) (22). Jedoch gibt es bisher nur wenige Untersuchungen, welche eine direkte Beeinflussung des klinischen Outcome im Sinne der Evidence Based Medicine durch Einsatz dieser Monitoring-Systeme analysieren. Pearse publizierte 2005 die Ergebnisse einer Studie an 62 chirurgischen Patienten, die postoperativ mittels Lithiumindikatordilution und Pulskontur überwacht wurden und einem zielgerichteten Behandlungsalgorithmus folgten (31 ). Im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigte die Studiengruppe reduzierte postoperative Komplikationen und einen kürzeren Krankenhausaufenthalt. Bei herzchirurgischen Patienten konnte Goepfert 2007 zeigen, dass durch die Verwendung von transkardiopulmonaler Thermodilution und einem auf den Parametern Herzzeitvolumen, globales end-diastolisches Blutvolumen und extravaskuläres Blutvolumen fußenden zielgerichteten Behandlungsalgorithmus die postoperative Beatmungszeit und das Erreichen von Verlegungskriterien von der Intensivstation verkürzt werden konnte (32). Ähnliche Daten bei herzchirurgischen Patienten, die ohne den Einsatz der Herz-Lungen-Maschine operiert wurden, zeigte Smetkin 2009 (33). Eine interessante Studie aus der neurochirurgischen Intensivmedizin veröffentlichten kürzlich Mutoh und Kollegen, die 50 Patienten nach Subarachnoidalblutung und Aneurysma-Clipping zielgerichtet anhand der Parameter des globalen end-diastolischen Volumens und des Herzzeitvolumens Geweils transkardiopulmonale Thermodilution) härnodynamisch therapierten (34). Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die mittels zentralvenöser Druckmessung, bzw. den Parametern Herzzeitvolumen und pulmonalarteriellem Okklusionsdruck (Pulmonaliskatheter) geführt wurden, analysierten sie Behandlungsverbesserungen. Dies äußerte sich als niedrigere Rate von postoperativen Vasospasmen und kardiopulmonalen Komplikationen in der Studiengruppe. Zu unterstreichen ist hierbei jedoch auch, dass bei diesen Studien nicht nur ein erweitertes härnodynamisches Monitoring, sondern insbesondere ein zielorientiertes härnodynamisches Behandlungskonzept eingesetzt wurde. Die Frage, ob der reine Einsatz der Parameter und Techniken ohne einen ex ante an Messwerten angelehnten Therapiealgorithmus eine Verbesserung des Behandlungserfolges im Sinne der Evidence Based Medicine ermöglicht, ist bisher unbeantwortet. Diese Frage ist - ähnlich zu den bereits beschriebenen Techniken - auch nicht zu erwarten. Eine Steuerungshilfe als Orientierung hilft nur demjenigen der wissentlich auf ein (Therapie )ziel zusteuert. Dies spiegelt sich auch in einer prospektiven Observationsstudie von Uchino aus dem Jahre 2006 wieder, in welcher der klinische Verlauf von kritisch kranken Patienten verglichen wurde, die entweder ein erweitertes hämodynamisches Monitoring mit einem Pulmonaliskatheter oder mit transkardiopulmonaler Thermodilution und Pulskonturanalyse erhielten, ohne jedoch jeweilige Therapieziele zu definieren (35). Das klinische Outcome war hier letztlich nicht beeinflusst von der Art des eingesetzten Monitoring per se.

3. Zielparameter der des erweiterten hämodynamischen Monitorings Lässt sich anhand des prinzipiellen Einsatzes eines bestimmten Monitoring-Verfahrens per se kein eindeutiger Vorteil in der Behandlungsqualität aufzeigen, so stellt sich natürlich die Frage, ob denn die Erfassung und Überwachung einzelner Parameter zu einer Verbesserung des Outcome, gemessen an den Kriterien der Evidence Based Medicine, beitragen. Neben EKG, Herzfrequenz, arteriellem Blutdruck und Pulsoxymetrie, also dem „Standard-Monitoring", werden eine Vielzahl an weiteren hämodynamischen Parametern bei kritisch kranken Patienten regelhaft erfasst und mit in die härnodynamische Beurteilung und in die Therapieentscheidungen eines kritisch kranken Patienten einbezogen. Hierzu zählen insbesondere die Bestimmung von Parametern der kardialen Vorlast, (also die Füllungsdrücke ZVD und PAOP), der Herzleistung (Herzzeitvolumen), sowie Parameter

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der Sauerstoff-Utilisation (zentrale bzw. gemischtvenöse Sauerstoffsättigung). Der Frage aber, inwieweit die Erfassung der einzelnen Parameter und deren Werte eigentlich Outcome-relevant sind, widmeten sich bisher erstaunlich wenige Studien. Varpula und Mitarbeiter veröffentlichten hier im Jahre 2005 eine observative Arbeit, in die 111 konsekutive Patienten mit der Diagnose „Septischer Schock" eingeschlossen wurden (36). Untersucht wurde hier, inwieweit die Parameter mittlerer arterieller Blutdruck, gemischtvenöse Sättigung, zentralvenöser Druck, pulmonalarterieller Oklusionsdruck, Herzzeitvolumen, oder das Serum-Laktat und deren Verlauf mit dem Outcome im Sinne der 30-Tage Letalität assoziiert waren. Als unabhängige Variablen, die mit diesem definierten Outcome signifikant assoziiert waren, identifizierten die Autoren in erster Linie den mittleren arteriellen Blutdruck, gefolgt von der Erfassung der gemischtvenösen Sättigung (mit einem Wert von unter 70% ), sowie den zentral venösen Druck. Im Folgenden sollen daher nun die am häufigsten verwendeten Parameter kritisch beleuchtet werden. Der mittlere arterielle Blutdruck Der invasiv gemessene arterielle Blutdruck und die Ansteuerung eines definierten mittleren arteriellen Drucks ist wahrscheinlich der am häufigste verwendete Zielparameter in der operativen Intensivmedizin - eine Umfrage unter herzchirurgischen Intensivstationen spiegelt dieses wieder (37). Die hämodynarnische Stabilisierung kritisch kranker Patienten wird in aller Regel primär am Aufrechterhalten eines bestimmten arteriellen Mitteldrucks beurteilt. Definierte Zielwerte werden in Behandlungsempfehlungen, wie beispielsweise den Empfehlungen der Surviving Sepsis Campaign, hier mit einem mittleren arteriellen Blutdruck von ~65 mmHg, angegeben (38). Ist die Erfassung des arteriellen Blutdrucks zur prinzipiellen Beurteilung der systemischen Zirkulation zunächst einmal - nicht zuletzt auch aus Ermangelung an Alternativen zur Messung der eigentlich relevanteren Größe, nämlich des Blutflusses - unstrittig, so ist die Datenlage, welcher mittlere Blutdruck den angestrebt werden sollte, erstaunlich dünn. In Bezug auf Patienten mit der Diagnose „septischer Schock" reduziert sich diese Datenlage auf zwei kleine Studien. LeDoux und Mitarbeiter publizierten im Jahre 2000 eine Studie an 10 Patienten im septischen Schock (39). Nach initialer Stabilisierung der Patienten mit Volumengabe (Zielparameter ein pulmonalarterieller Okklusionsdruck von 9 mmHg) und Katecholarninen erfolgte konsekutiv eine Steigerung des Blutdruckes mit Noradrenalin auf Werte von 75 mmHg und schließlich 85 mmHg. Neben der Makrohämodynarnik wurden jeweils systemisches Sauerstoff-Angebot, systemischer Sauerstoff-Verbrauch, gemischtvenöse Sättigung, Serum-Laktat, Parameter der regionalen Mikrozirkulation (Sauerstoff-Gehalt der Magenschleimhaut, kapillärer Blutfluss der Haut), sowie die Urinproduktion verglichen, ohne sich zu den verschiedenen angesteuerten Blutdrücken signifikant zu unterscheiden. Die Ergebnisse einer weiteren Untersuchung berichteten Bourgoin und Mitarbeiter, ebenfalls durchgeführt an Patienten mit der Diagnose „septischer Schock" (40). Nach initialer hämodynarnischer Stabilisierung und Therapie aller 28 Patienten über 4h auf einen mittleren arteriellen Blutdruck von 65 mmHg erfolgte eine Randomisierung entweder in die Gruppe, die als Zielwert für den mittleren arteriellen Blutdruck 65 mmHg beibehielt, oder in die Gruppe, in der der mittlere arterielle Blutdruck auf 85 mmHg mitte~s kontinuierlicher Gabe von Noradrenalin gesteigert wurde. In der Folge wurden zum einen Indices, die den Sauerstoff-Metabolismus widerspiegeln, wie systemisches Sauerstoff-Angebot, systemischer Sauerstoff-Verbrauch und Serum-Laktat Konzentrationen, sowie die Funktionsparameter der Niere (Serum-Kreatinin, Kreatinin-Clearance, Urinproduktion) beider Gruppen miteinander verglichen, ohne sich zwischen beiden Gruppen jedoch signifikant zu unterscheiden. Beide Studien kommen dementsprechend zu dem Ergebnis, dass bei der Behandlung von Patienten im septischen Schock, basierend auf diesen Daten, kein Unterschied zwischen einem angesteuerten mittlerer arteriellen Blutdruck im Bereich von 65 bis 85 mmHg besteht. 95

Auch wenn die Messung des arteriellen Blutdrucks als relativ einfach zu messender Surrogatparameter für die globale Perfusion in den meisten Fällen bei der Behandlung kritisch kranker Patienten (zu Recht) zum „Standard-Monitoring" gehört, so muss man doch festhalten, dass die Evidence dafür, an den Kriterien der Evidence Based Medicine festgemacht, relativ gering ist. Somit wird in dem 2006 veröffentlichten Konsensus-Papier für das hämodynamische Monitoring im Schock die kontinuierliche Messung des arteriellen Blutdrucks klar empfohlen, aber auch auf die niedrige Evidenz hingewiesen, was die Zielwerte anbelangt (29). Auch in den Surviving Sepsis Guidelines wird betont, dass der Zielwert „mittlerer arterieller Blutdruck" immer in Zusammenschau mit weiteren funktionellen Parametern der Perfusion und des Metabolismus, wie Nierenfunktion und SerumLaktat-Werten beurteilt werden muss (38).

Die kardialen Füllungsdrücke zentraler Venendruck und pulmonalarterieller Okklusionsdruck Über Jahrzehnte galten die Messung der kardialen Füllungsdrücke - für das rechte Herz der zentrale Venendruck als Approximierung des rechtsatrialen Füllungsdruckes, bzw. der der pulmonalarterielle Okklusionsdruck (PAOP) als Maß für den linksatrialen Füllungsdruck als der Gold-Standard zur Quantifizierung der kardialen Vorlast und als Zielparameter zur Steuerung der intravasalen Volumentherapie. Somit finden sich beide Parameter in zahlreichen Therapie-Empfehlungen zur hämodynamischen Stabilisierung bei kritisch kranken Patienten, am prominentesten sicherlich in den Empfehlungen der Surviving Sepsis Campaign, wobei hier Zielwerte von 8-12 mmHg für den ZVD, und- in den Guidelines des American College of Critical Care Medicine von 2004 - für den PAOP von 12-15 mmHg angegeben werden (38,41). Interessant auch hier ist die Tatsache, dass es in der Literatur nur sehr wenige Daten gibt, die diese Therapie-Empfehlungen zum Erreichen von diesen Zielwerten tatsächlich untermauern. Für die Zielwerte des ZVD wird die Rivers-Studie von 2001 als Rationale für die Empfehlung hinterlegt (42). Jedoch ist hier der Zielwert ZVD 8-12 mmHg sowohl in der Studien- als auch in der Kontrollgruppe das therapeutische Ziel gewesen, eine Überprüfung dieses Parameters und des vorgegebenen Zielwertes fand also nicht statt. Die Empfehlung des Zielwertes PAOP 12-15 mmHg stützt sich auf eine singuläre Studie von Packman und Rackow aus dem Jahre 1983 an 15 Patienten im Schock (43). Vielmehr ist die Datenlage, dass weder der ZVD noch der PAOP, als Absolutwert verwendet, zur Steuerung einer Volumentherapie mit dem Ziel der Vorlastverbesserung in der Situation einer hämodynamischen Instabilität geeignet sind, inzwischen eindeutig. Die Vielzahl an Studien, die bei verschiedensten Patientenkollektiven aufzeigten, dass sich weder mit dem ZVD noch mit dem PAOP die hämodynamische Antwort auf eine Volumengabe (also eine Volumenreagibilität) verlässlich einschätzen lässt, wurden in zwei Übersichtsarbeiten, 2002 von Michard, bzw. 2007 von Marik eindrücklich dargestellt (44,45). Die klinische Konsequenz, dass eine strikte Orientierung an diesen Zielwerten zu potentiell gravierenden Fehlentscheidungen führen kann - eine Volumenüberladung trotz niedriger Füllungsdrücke, bzw. eine untherapierte Hypovolämie trotz hoher Füllungsdrücke - zeigte Osman sehr eindrücklich 2007 in einer Studie an 96 Patienten mit Sepsis (46). Zahlreiche Studien belegen vielmehr, dass bei beatmeten Patienten dynamische Parameter, wie Pulsdruck- oder Schlagvolumenvariation, bzw. volumetrische Parameter, wie die Bestimmung der linksventrikulären end-diastolischen Fläche mittels Echokardiographie bzw. des globalen end-diastolischen Volumens mittels transkardiopulmonaler Thermodilution wesentlich verlässlicher die Frage der Volumenreagibilität bzw. der Bestimmung der Vorlast ermöglichen (47,48,49).

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Messung des Herzzeitvolumens Bis zur Einführung des Pulmonaliskatheters war eine klinisch praktikable Messung des Herzzeitvolumens bei kritisch kranken Patienten im Sinne eines erweiterten Monitorings in der klinischen Routine nicht möglich. Auch nach Einführung des Pulmonaliskatheters gab es keine belastbaren Daten, die belegen würden, dass das Monitoring des Herzzeitvolumens und die primäre Verwendung dieses Parameters als Ziel das Behandlungsergebnis bei kritisch kranken Patienten auf der Intensivstation oder in der perioperativen Versorgung verbessern würden (s.o). Vielmehr zeigten singuläre Studien, die diesen Parameter im Konzept der Etablierung „supranormaler Werte des Sauerstoff-Angebotes" zentral verwendeten, eine Verschlechterung des Outcomes bei kritisch kranken Patienten (50). Mit Entwicklung und klinischer Einführung zunehmend minimal-invasiver und einfacher zu handhabender Methoden, wie des ösophagealen Dopplers, der transkardiopulmonalen Indikatordilutionsverfahren, der arteriellen Pulskonturanalyse und anderer Verfahren rückte dieser Parameter in den letzten 15 Jahren mehr in den Fokus des Interesses. Jedoch bleibt auch hier zu betonen, dass eine Studie, die sich an den formalen Kriterien der Evidence Based Medicine messen ließe, mit der Hypothese, dass die Überwachung des Herzzeitvolumens das Outcome verbessern würde, bisher nicht existiert. Aber In zahlreichen Studien, in denen ein zielgerichtetes härnodynarnisches Behandlungskonzept mit Hilfe eines erweiterten härnodynarnischen Monitorings perioperativ oder auf der Intensivstation untersucht wurde, stellte die Messung des Herzzeitvolumens und dessen Optimierung einen zentralen Faktor dar (11-20,31-34). Insbesondere die zahlreichen Studien, die mittels des ösophagealen Dopplers durchgeführt wurden und somit im Rahmen des so erweiterten Monitorings als primären Zielparameter die Steigerung des aortalen Blutflusses bzw. des Herzzeitvolumens durch Vorlast-Optimierung definierten, zeigten, wie bereits ausgeführt, Verbesserungen in den „weichen" Outcome-Parametern, wie Reduktion postoperativer Komplikationen und Verkürzung von Liegezeiten auf der Intensivstation bzw. im Krankenhaus (11-20).

Messung der Zentralvenösen Sättigung Die Messung der zentralvenösen Sättigung als Surrogatparameter für die Balance _zwischen Sauerstoff-Angebot und Sauerstoff-Verbrauch beim kritisch kranken Patienten hat spätestens nach Publikation der Studie von Rivers im Jahre 2001 einen zentralen Stellenwert eingenommen. Der Großteil der kritisch kranken Patienten erhält im Rahmen der Behandlung einen zentralvenösen Zugang, somit ist die Messung der zentralvenösen Sättigung, diskontinuierlich mittels Blutgasanalysen oder kontinuierlich mittels spezieller Katheter technisch einfach möglich. Eine niedrige zentralvenöse Sättigung ist ein wichtiges Warnsignal für eine für den aktuellen Bedarf unzureichende systemische SauerstoffVersorgung, wie sie z.B. im septischen Schock. Rivers konnte so in seiner monozentrischen Studie an Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock zeigen, dass eine „aggressive" Kreislauftherapie, Algorithmus-gesteuert anhand der Parameter mittlerer arterieller Blutdruck, zentralvenöser Druck (beide Ziele sowohl in der Studien - als auch in der Kontrollgruppe identisch) und zentral venöse Sättigung (>70% ), initiiert innerhalb der ersten 6 Stunden nach Diagnosestellung die 28-Tage Letalität von 46.5 auf 30.5% senken konnte. Dass die Überwachung dieses Parameters bei der Behandlung von Hochrisikopatienten sinnvoll ist, wird auch von Studien aus der perioperativen Medizin unterstrichen (31, 33, 51). Aus dem Blickwinkel der Evidence Based Medicine erscheint somit aus der Überwachung der zentral venösen Sättigung ein Behandlungsvorteil zu erwachsen. Jedoch gilt auch hier, dass die primäre Fragestellung bei den zugrunde liegenden Studien, die diesen Behandlungsvorteil zeigen konnten, sich vor allem auf die Einführung eines protokollisierten, zielgerichteten, sich an physiologisch sinnvollen Zielen orientierenden und früh greifenden Behandlungsschemas fokussierte und nicht der Einsatz eines bestimmten Monitoring-Verfahrens im eigentlichen Vordergrund stand.

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Fazit Daten, die den formalen Kriterien der Evidence Based Medicine entsprächen, eine klare und eindeutige Empfehlung zur Verwendung eines speziellen Verfahrens oder Parameters des sogenannten erweiterten hämodynamischen Monitorings bei der Behandlung kritisch kranker Patienten auszusprechen, gibt es nicht. Als formale Empfehlungen lassen sich folgende Punkte festhalten: 1) Bei Patienten auf der Intensivstation sollte ein Pulmonaliskatheter nicht routinemäßig eingesetzt werden und 2) die transösophageale Echokardiographie sollte zur differentialdiagnostischen Abklärung der ungeklärten schweren und persistierenden hämodynamischen Instabilität eingesetzt werden. 3) Der zentrale Venendruck und der pulmonalarterielle Okklusionsdruck sind ungeeignet a) zur Quantifizierung der kardialen Vorlast und somit b) zur Steuerung einer Volumentherapie. Insgesamt gilt, dass ein Monitoring-Werkzeug per se nie die Behandlungsqualität verbessern kann, sondern nur ermöglichen kann, dass ein geeignetes Therapiekonzept umgesetzt werden kann. Perioperativ ist zu empfehlen 4) frühzeitig den Blutflusses über Optimierung des Volumenstatus und der zentralvenösen Sättigung zu steuern. Prinzipiell jedoch sind aber auch hier - bei der Frage des Stellenwerts der Überwachung der Herz- und Kreislauffunktion beim kritisch kranken Patienten - die Grenzen des Prinzips der Evidence Based Medicine, bzw. der Form, wie sie heute häufig propagiert wird mit dem scheinbar geradezu bedingungslosen Stützen auf kontrollierte, randomisierte Studien und Meta-Analysen kritisch anzumerken: Wir werden auch weiter beim Springen aus großer Höhe Fallschirme benutzen, ohne auf das Ergebnis einer randomisierten Studie hierzu zu warten. David Sackett formulierte dies sehr eingängig wie folgt:

„Evidence Based Medicine ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz.für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der Evidence Based Medicine bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung. " Sackett DL. Münch. med. Wschr. 139; 644-645, 1997

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28. 29.

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99

35.

36. 37.

38.

39. 40.

41.

42.

43. 44. 45. 46. 47. 48.

49. 50. 51.

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Prinzipien der Antibiotikatherapie R. FüSSLE

Einleitung Bei Intensivpatienten sind Infektionen um ein Vielfaches häufiger als bei anderen Patienten. Diese Komplikationen sind für sie oft lebensbedrohlich, sie verschlechtern die Prognose, verlängern den Aufenthalt auf der Intensivstation und führen zu erheblichen Mehrkosten. Antibiotika sind daher bei Intensivpatienten von essentieller Bedeutung und öfter notwendig als bei anderen Patienten (1-3). Der häufige und oft unkritische Einsatz von Antibiotika wird jedoch als eine wichtige Ursache für die zunehmenden Resistenzen betrachtet, die insbesondere auf Intensivstationen bedrohliche Ausmaße annehmen (4,5). Eine fehlerhafte Anwendung von Antibiotika begünstigt diese Entwicklung. Nach einer Studie (SARI) an 43 deutschen Intensivstationen, erhält jeder Intensivpatient im Durchschnitt mehr als ein Antibiotikum pro Tag während des Aufenthaltes auf der Intensivstation (6,7). Multiresistente grampositive (MRSA; MRSE, VRE) und gramnegative Erreger (ESBL-produzierende Enterobakterien, multiresistente Pseudomonaden), gegen die nur noch wenige Antibiotika wirksam sind, stellen auf vielen Intensivstationen ein immer größer werdendes Problem und eine neue Herausforderung für die Therapie dar (8,9). Es müssen daher alle Anstrengungen unternommen werden um durch eine rationale Anwendung von Antibiotika den Verbrauch auf das notwendige Maß zu beschränken und den Selektionsdruck für multiresistente Erreger zu vermindern. Spontane Mutationen bei Bakterien, welche die Resistenz gegen ein Antibiotikum zur Folge haben, sind seltene Ereignisse. Von wesentlich größerer Bedeutung ist die Selektion dieser Mutanten durch Antibiotika, welche die empfindlichen Erreger eliminieren und den resistenten Erregern einen Überlebensvorteil verschaffen. Die ständige Anwendung der gleichen Antibiotikasubstanzen bei vielen Patienten, wie das bei einer empirischen Therapie auf vielen Stationen üblich ist, steigert den Selektionsdruck (4,8). Ziel sollte es daher sein, durch Fortbildung/Ausbildung und Zusammenarbeit mit Mikrobiologie, Infektiologie und Pharmakologie die Diagnostik und Therapie von Infektionen zu optimieren und alle Maßnahmen auszuschöpfen, um Resistenzentwicklungen und Keimselektionen nach Möglichkeit zu vermeiden.

Grundsätze bei der Anwendung von Antibiotika Gezielte/kalkulierte Therapie/Interventionstherapie Die Anwendung von Antibiotika kann entweder „gezielt" erfolgen, d. h. nach Erregernachweis und Resistenztestung, oder ,,kalkuliert" (empirisch), d. h. nach der Erregerwahrscheinlichkeit (1,2,10). Bei lebensbedrohlichen Infektionen (Sepsis, Pneumonie) steht keine Zeit zur Verfügung um den Erregernachweis abzuwarten, es muss möglichst rasch mit einer kalkulierten Interventionstherapie begonnen werden (Tarragona Strategie, 11). Bei Patienten mit Sepsis steigt beispielsweise das Risiko zu versterben mit jeder Stunde ohne suffiziente Antibiotikatherapie um 7,6 % (12,13) Hier muss die Interventionstherapie so früh wie möglich beginnen und so breit gewählt werden, dass mit diesem „Erstschlag" möglichst alle in Frage kommenden Erreger getroffen werden. 101

Die empirische Therapie orientiert sich, außer an der klinischen Situation der Patienten und dem Risiko eventueller Vorerkrankungen, am typischen Erregerspektrum für die jeweilige Infektion, dem Wirkungsspektrum der Antibiotika und der lokalen Resistenzsituation. Auch weitere Eigenschaften der Antibiotika, z. B. Gewebepenetration an den Infektionsort, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, sowie die Organfunktionen des Patienten (Nieren-, Leberfunktion) sollten berücksichtigt werden (siehe Tab. 1). Gelingt es den Erreger nachzuweisen sollte die Therapie angepasst werden, d. h. evtl. mit weniger breit wirksamen Antibiotika fortgeführt werden (Deesakalation) (2,4). Wie lange eine Antibiotikatherapie fortgeführt werden muss, richtet sich nach der klinischen Situation. In der Regel kann die Behandlung bei immunkompetenten Patienten 2-4 Tage nach deutlicher klinischer Besserung bzw. Entfieberung beendet werden. Bei akuten Infektionen (z. B. Pneumonie, Pyelonephritis, Otitis media) genügt in den meisten Fällen eine Therapiedauer von 7-10 Tagen. Haben sich Erreger jedoch in Regionen etabliert, die von Medikamenten schlecht zu erreichen sind oder haben sich bereits Mikroabszesse gebildet, verlängert sich die Behandlungsdauer auf mehrere Wochen (z. B. Endokarditis, Osteomyelitis, chronische Nephritis, Hirnabszesse).

1

Erreger

Patient

Antibiotikum

Erregerspektrum (ambulant, nosokomial)

Klinische Situation/Risiko

Wirkungsspektrum

Prädisponierende Vorerkrankungen

Nebenwirkungen

Organfunktionen

Gewebepenetration

Alter

Pharmakologische Daten

Lokale Resistenzsituation

Schwangerschaft

Tab. 1: Kriterien für die Wahl des Antibiotikums.

Erregerspektrum

Das Erregerspektum variiert stark, je nachdem ob die Infektion ambulant oder nosokomial erworden wurde. Während das Erregerspektrum und die Empfindlichkeit gegen Antibiotika bei ambulant erworbenen Infektionen „ vorhersehbar" ist, spielen bei nosokomialen Infektionen häufiger resistente nosokomiale Erreger eine Rolle. Die Wirksamkeit von Antibiotika gegenüber nosokomialen Erregern hängt stark vom lokalen Resistenzspektrum ab, über das jede Station zeitnah von ihrem Mikrobiologen unterrichtet werden sollte. Gerade bei nosokomialen Infektionen ist der Erregernachweis daher wichtig und sollte in jedem Falle angestrebt werden. Er dient nicht nur zur Anpassung der Therapie beim individuellen Patienten, sondern ist auch Voraussetzung für die Früherkennung multiresistenter Keime und dient als Grundlage für lokale Erreger- und Resistenzstatistiken, an denen sich wiederum die kalkulierte Therapie orientiert. Wichtig: Bei der kalkulierten Therapie nosokomialer Infektionen lokales Erreger- und Resistenzspektrum beachten!

1

Antibiotikakonzentration am Infektionsort

Es sollten Antibiotika gewählt werden, mit denen am Infektionsort ausreichende Konzentrationen erreicht werden. Mit allen Antibiotika lassen sich ausreichende Serum- und Gewebespiegel in gut durchblutetem Gewebe erreichen. In manche Organe (z. B. Kno102

eben, Prostata, Meningen) diffundieren Antibiotika unterschiedlich (Tab. 2). Große Moleküle, z. B. Glykopeptide (Vancomycin, Teicoplanin), diffundieren schlechter in manche Kompartimente (Liquor, Knochen). Kleine Moleküle, z. B. Fosfomycin haben hier Vorteile. Manche Antibiotika reichem sich in bestimmten Geweben an, wie Cindamycin und . Chinolone in Knochen, oder erreichen hohe Konzentrationen in bestimmten Zellen wie den Phagozyten, was Makrolide und Chinolone in der Bekämpfung von intrazellulär überlebensfähgien Bakterien besonders erfolgreich macht (2,3,10). Schlecht durchblutetes, insbesondere nekrotisches Gewebe und Abszesse, sind für Antibiotika kaum erreichbar (z.B. Diabetischer Fuss, nekrotisierende Fasziitis). Solche Herde sind durch Antibiotika nicht zu sanieren. Hier ist die chirurgische Intervention mit der Beseitigung sämtlicher Nekrosen die wichtigste und entscheidende Massnahme. Präparate

Lunge

Galle

Leber

Knochen

Liquor*

Urin

++

++

+

++

Penicilline

++

++

Cephalosporine

++

++ l)

++

+/++ 2)

++3)

Carbapeneme

++

++

++

++

++

++

Chinolone

++

++

++

++

+

++ ++

Aminoglykoside

+

+

+

+

(+)

Fosfomycin

++

++

++

++

++

++

Glykopeptide

++

++

++

(+)

(+) 4)

++

Linezolid

++

++

Rifampicin

++

++

+

++

Clindamycin Doxycyclin

++

++

++

++

++

++

++

0

+

++

++

+

++

++

Tab. 2: Gewebepenetration verschiedener Antibiotika. *) bei Meningitis; ++ = gute Penetration, + = mäßige Penetration, (+) schlechte Penetration, 0 = keine Penetration. l) Ceftriaxon, 2) Cephalosporine Gruppe 3, 3) · außer Ceftriaxon, 4) Teicoplanin keine Liquorgängigkeit.

Wirkungstyp

Manche Antibiotika wirken bakterizid, manche bakteriostatisch, bei einigen ist die Wirkung vom Erreger abhängig (Tab. 3). Antibiotika mit bakterizider Wirkung töten in Abhängigkeit von der eingesetzten Konzentration innerhalb von 18 - 24 h > 99,9 % der Bakterienpopulation des lnokulums ab. Bakteriostatisch wirksame Antibiotika erzeugen eine Wachstumshemmung und langsame Verminderung der Erreger. Antibiotika, die in die Proteinsynthese eingreifen, wirken meist bakteriostatisch (z.B. Cotrimoxazol, Tetracycline), Antibiotika mit Angriffsziel Zellwand wirken meist bakterizid (Penicilline, Cephalosporine, Carbapeneme). Der Wirkungstyp wird jedoch auch von anderen Faktoren beeinflusst, z. B. Konzentration des Antibiotikums am Infektionsort, Bakteriendichte, Wachstumsphase der Erreger, Einwirkdauer des Antibiotikums. Bei manchen Antibiotika . ist der Wirkungstyp abhängig von der Erregerspezies. So wirkt z. B. Linezolid bakteriostatisch gegen Staphylokokken und Enterokokken, entfaltet aber eine bakterizide Wirkung gegen Streptokokken. Chloramphenicol wirkt bakterizid gegen Haemophilus, Meningokokken und Pneumokokken, aber bakteriostatisch gegen Enterobakterien. Tetracycline und Clindamycin wirken gegen die meisten Keime bakteriostatisch, jedoch bakterizid gegen Clostridium perfringens (siehe Tab. 3). Makrolide (Erythromycin, Azithromycin) wirken bakterizid gegen Streptococcus pneumoniae und Streptococcus pyogenes (14).

103

Wirkt eine bakterizide Substanz sowohl gegen ruhende als auch auf proliferierende Keime wird sie als absolut bakterizid eingestuft. Wenn nur proliferierende Keime abgetötet werden handelt es sich um eine degenerativ bakterizide Wirkung. Bei leichteren Infektionen und Patienten mit intaktem Immunsystem sind bakteriosttisch wirksame Medikamente ausreichend. Das Immunsystem der Patienten ist in der Lage, die reduzierten Keime zu beseitigen. Bei schweren lebensbedrohlichen Infektionen und immungeschwächten Patienten gilt bisher die Empfehlung, bakterizide Substanzen anzuwenden. Neuere Studien , z. B. zur Therapie von MRSA-lnfektionen, in denen Linezolid (bakteristatisch) im Vergleich zu Vancomycin (bakterizid) vergleichbar oder wirksamer war, stellen diese prinzipielle Regel jedoch in Fage (15, 16). Bakterizid

Wirkung abhängig von Erreger

Bakteriostatisch

Penicilline

Chloramphenicol

Chloramphenicol

Cephalosporine

Azitbromycin

Sulfonamide

Carbapeneme

Erythromycin

Cotrimoxazol

Aminoglykoside

Linezolid

Tetracycline

Chinolone

Clindamycin

Clindamycin

Rifampicin

Linezolid

Vancomycin

Tigecyclin

Daptomycin

Makrolide

Tab. 3: Wirkungstyp von Antibiotika

Pharmakodynamik Um eine optimale Wirksamkeit zu erreichen, müssen pharmakologische Daten berücksichtigt werden. Die minimale Hemmkonzentration (MHK) ist die Konzentration eines Antibiotikums, welche unter standardisierten Bedingungen innerhalb von 18-24 h den Erreger am Wachstum hemmt. Durch die minimale bakterizide Konzentration (MBK) wird innerhalb von 6-24 h die initiale Keimzahl um 99,9 % reduziert. Ein Keim gilt als sensibel, wenn die MHK eines Antibiotikums in einem Bereich liegt, der durch Applikation untoxischer Dosen am Infektionsort erreicht werden kann. Um wirksam zu sein müssen am Infektionsort Antibiotikakonzentrationen erreicht werden, die oberhalb der MHK des Erregers liegen. Bei Betalaktamantibiotika ist es unerheblich, wie viel höher als die MHK die Antibiotikakonzentration im Gewebe ist. Entscheidend ist die Zeitdauer (T > MHK). Die Antibiotikaspiegel sollten möglichst lange (> 40 % der Zeit) oberhalb der MHK liegen. Spiegel um mehr als das 2-4fache der MHK zeigen keine gesteigerte Wirksamkeit. Daher werden diese Substanzen i.d.R. über den Tag verteilt in mehreren Dosen verabreicht. Ausnahmen sind Betalaktarnantibiotika mit sehr langer HWZ (z. B. Ceftriaxon 12 h), die deshalb als Einmaidosis verabreicht werden können (3,14). Bei manchen Antibiotika (Aminoglykoside, Chinolone) ist der Serum-Spitzenspiegel im Verhältnis zur MHK des Antibiotikums ausschlaggebend für die Wirksamkeit (Cmax/ MHK). Sie entfalten die beste antimikrobielle Effektivität, wenn kurzfristig hohe Konzentrationen am Wirkort erreicht werden. Günstig ist insbesondere, wenn das Verhältnis Cmax/MHK größer 10 ist. Diese Antibiotika zeigen einen postantibiotischen Effekt, der vom Spitzenspiegel abhängt. Um einen möglichst hohen Spitzenspiegel zu erreichen, müssen von diesen Substanzen möglichst hohe Einzeldosen (Einmaigabe oder zweimal täglich) verabreicht werden (siehe Tab. 4). 104

Bei vielen Antibiotika ist die Effektivität abhängig vom Verhältnis der Substanzmenge im Serum zur MHK des Erregers (AUC24 h/MHK). AUC= area under the curve, d. h. die Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve als Maß für die Substanzmenge im Körper (3,10). Pharmakologische Paramenter

Antibiotika

T > MHK

Penicilline, Cephalosporine, Carbapeneme, Clindamyicin, Makrolide

AUC 24/ MHK

Aminoglykoside, Chinolone, Azithromycin, Tetracycline, Vancomycin

Cmax/MHK

Aminoglykoside, Chinolone

Tab. 4: Antimikrobielle Wirksamkeit in Abhängigkeit von phannakokinetischen und phannakodynamischen Faktoren

Patientenfaktoren Bei der Wahl des Antibiotikums müssen verschiedene Patientenfaktoren berücksichtigt werden. Maßgeblich ist der Schweregrad der Erkrankung (z. B. drohende Sepsis, Pneumonie) und das Risiko durch prädisponierende Vorerkrankungen (Immundefizienz, Diabetes, Cortisontherapie). Weitere Faktoren: Bei Allergien verbieten sich die als Allergen bekannten Wirkstoffgruppen. Im Entwicklungsalter können bestimmte Antibiotika Schäden anrichten. Tetracycline sind erst ab 9 Jahren zulässig wegen Veränderungen am Knochen und Gelbfärbung der Zähne, Chinolone ab 18 Jahren wegen der Gefahr von Störungen der Knorpelentwicklung. In der Schwangerschaft sind nicht alle Antibiotika zugelassen. Unbedenklich sind Penicilline, Cephalosporine und Erythromycin. Da Antibiotika entweder über Niere oder Leber und Galle ausgeschieden werden, ist die Dosierung an die Nieren- bzw. Leberfunktion anzupassen, um toxische Nebenwirkungen durch Überdosierung zu vermeiden. Das ist insbesondere wichtig bei Antibiotika, bei denen Überdosierungen gravierende Nebenwirkungen hervorrufen, z. B. Vancomycin, Aminoglykoside (nephrotoxisch, ototoxisch). Da diese Substanzen vorwiegend renal ausgeschieden werden, muss die Dosierung bzw. das Dosierungsintervall an die Nierenfunktion (Kreatinin-Clearance) angepasst werden, am besten nach Spiegelbestimmung im Serum. Patienten mit Niereninsuffizienz sollten keine Antibiotika erhalten, welche die Niere weiter schädigen (z. B. Aminoglykoside, Vancomycin). Bei Patienten mit Leberinsuffizienz, erhöhten Transarninasen sollten Antibiotika vermieden werden, die hauptsächlich über Leber/Galle ausgeschieden werden oder hepatotoxisch sind (z. B.Clindamycin, Metronidazol, Azole, Rifampicin, Ceftriaxon). Wichtig: Eine Antibiotikatherapie sollte immer individuell an den Patienten angepasst erfolgen und die klinische Situation, Risikofaktoren, Vorerkrankungen, Organfunktionen oder Unverträglichkeiten berücksichtigen!

105

Interpretation mikrobiologischer Befunde Erregemachweis und Antibiogramm dienen zur Diagnosestellung, Anpassung der Therapie, Aufdeckung von Infektionsherden und sind die Voraussetzung zur Erkennung multiresistenter Erreger. Sie sind keine Aufforderung zur Antibiotikatherapie ! Nicht nur Keime der physiologischen Flora, auch potentiell pathogene Keime können als Besiedelungen ohne klinische Relevanz auftreten, z. B. in Bronchialsekret, Urin. Unabhängig davon wie wohlklingend und eindrucksvoll die Namen der nachgewiesenen Keime sind: die Notwendigkeit zur Therapie richtet sich ausschließlich nach der klinischen Manifestation. Die „Therapie" von Besiedelungen ist sinnlos und schädlich im Hinblick auf die Selektion resistenter Keime. Bereitet es Schwierigkeiten, zwischen Besiedelung und Infektion zu unterscheiden so kann eine Quantifizierung hilfreich sein. Eine Infektion entsteht nach Anhaftung und Vermehrung der Erreger, d. h. je größer die Keimzahl ist umso wahrscheinlicher ist eine Infektion. Die Relevanz geringer Keimmengen ist kritisch zu beurteilen, außer in Materialien, die im gesunden Zustand steril sein müssen (z. B. Liquor, Blut, Punktate u.a.). Wichtig: Nur klinisch manifeste Infektionen mit Antibiotika therapieren, keine Besiedelungen!

Kombination von Antibiotika Sinnvolle Kombinationen Durch die Kombination verschiedener Antibiotika können positive Effekte bewirkt werden: 1) Erweiterung des Wirkungsspektrums z. B. Kombination von Antibiotika gegen gramnegative und Antibiotika gegen grampositive Erreger, gegen aerobe und anaerobe Keime bei kalkulierter lnitialtherapie. 2) Synergistische Wirkung: z. B. Betalaktamantibiotika und Aminoglykoside. Die Wirkung dieser Antibiotika in Kombination ist größer als die Summe der Einzelwirkungen. 3) Verzögerung von Resistenzentwicklungen: bei Erregern, die gegen einzelne Antibiotika rasch resistent werden (z. B. Tuberkulosebakterien, Pseudomonaden), können Antibiotikakombinationen die Resistenzentwicklung verzögern. 4) Inaktivierung von Betalaktamasen: einige der zahlreichen bakteriellen Betalaktamasen haben eine höhere Affinität zu Betalaktamase-Inhibitoren als zu den Antibiotika. So werden diese Enzyme von den Inhibitoren inaktiviert und das Antibiotikum kann seine Wirkung entfalten ohne von den Enzymen zerstört zu werden. Darauf beruhen die Kombinationspräparate von Breitspektrumpenicillinen mit einem BetalaktamaseInhibitor. 5) Synthesehemmung bakterieller Toxine: z. B. Clindamycin beim Toxic-Schock-Syndrom. Clindamycin greift in den Proteinstoffwechsel von Bakterien ein und verhindert beispielsweise die Produktion von Toxic-Schock-Toxinen bei Staphylokokken oder Streptokokken. Es wird daher bei Verdacht auf Toxic-Schock-Syndrom bevorzugt als Kombinationspartner eingesetzt. Bei der Kombination von Antibiotika ist es sinnvoll, Substanzen mit unterschiedlichem Angriffsziel zu kombinieren, z. B. Betalaktamantibiotika (Zellwand) mit Aminoglykosiden (Ribosom) oder Chinolonen (DNA). 106

Unsinnige Antibiotika-Kombinationen Es macht keinen Sinn, Antibiotika mit identischem Wirkungsspektrum zu kombinieren. Daher ist es unnötig, zur Therapie aerob/anaerober Mischinfektionen z. B. Carbapeneme oder Breitspektrumpenicilline/Betalaktarnase-Inhibitor (Ampicillin/Sulbactarn, Amoxicillin/Clavulansäure, Piperacillin/fazobactarn) mit Metronidazol zu kombinieren, da diese Substanzen selbst eine ausgezeichnete Wirksamkeit gegen anaerobe Keime besitzen. Carbapeneme (z. B. Imipenem/Cilastatin) sollten nicht mit anderen Betalaktamantibiotika kombiniert werden. Sie induzieren in gramnegativen Bakterien die Produktion chromosomal kodierter Betalaktamasen, welche andere Betalaktamantibiotika (außer Carbapenemen) inaktivieren (17). Die Induktion wird ca. 12 Stunden nach Absetzen des Carbapenems wieder eingestellt, so dass im Anschluß an eine Therapie mit Carbapenemen durchaus wieder andere Betalaktamantibiotika verabreicht werden können. Antibiotika mit gleichem Angriffsziel können sich gegenseitig behindern. So sollten z. B. nicht Clindamycin und Makrolide kombiniert werden, die beide an der SOS Untereinheit der bakteriellen Ribosomen angreifen. Ein alter Grundsatz besagt, dass Antibiotika die auf Bakterien während ihrer Vermehrungsphase wirken (z. B. Betalaktamantibiotika) nicht mit bakteriostatisch wirksamen Antibiotika kombiniert werden sollten, welche die Keime an der Vermehrung hindern. Neuere klinische Studien belegen in einigen Fällen, z. B. zur Therapie von ambulant erworbener Pneumonie mit einer Kombination von Betalaktam-Antibiotikum plus Makrolid, die bessere Erfolge zeigt als die Monotherapie ( 18) , dass diese Regel keine grundsätzliche Gültigkeit hat (Siehe auch Abschnitt „Wirkungstyp").

Ursachen für Therapieversagen Bleibt der gewünschte Therapieerfolg aus, können verschiedene Ursachen vorliegen. Außer einer in-vitro Unwirksamkeit des Antibiotikums kann eine sekundäre Resistenzentwicklung unter der Therapie, ein Erregerwechsel oder die Unterdosierung des Antibiotikums verantwortlich sein (siehe Tab. 5). Auch eine unzureichende Konzentration des Antibiotikums am Infektionsort kann zum Therapieversagen führen, z. B. bei schlecht durchblutetem Gewebe, Nekrosen, Empyemen, Abszessen, bei Fremdkörpern oder Plastik-assoziierten Infektionen. Hier ist neben der Antibiotikatherapie die chirurgische Sanierung, bzw. die Entfernung oder der Austausch des Implantates unerlässlich. Grundsätzlich sollte jede Antibiotikatherapie nach 2-4 Tagen reevaluiert werden. Bei unzureichendem Therapieerfolg sind neben der Änderung oder Erweiterung der antimikrobiellen Therapie mikrobiologische Kontrollen angezeigt. Liegt nach den Untersuchungen ein Keimwechsel oder eine sekundäre Resistenzentwicklung vor, muss die Therapie entsprechend angepasst werden. Wichtig: Antibiotika werden nicht ausreichend in schlecht durchblutetes oder nekrotisches Gewebe transportiert. Die chirurgische Sanierung ist hier von entscheidender Bedeutung !

107

In-vitro Unwirksamkeit des Antibiotikums Resistenzentwicklung unter der Therapie Erregerwechsel Unterdosierung Unzureichende Konzentration am Infektionsort (Abszess, Empyem, nekrotisches oder schlecht durchblutetes

Gewebe) Tab. 5: Ursachen für die Unwirksamkeit einer Antibiotikatherapie.

Multiresistente Problemkeime auf Intensivstationen Multiresistente Erreger nehmen insbesondere auflntensivstationen immer mehr zu. Während der Anteil von grampositiven Keimen (MRSA, VRE) in den letzten Jahren in Deutschland auf relativ hohem Niveau gleich geblieben ist (MRSA: 20-25 % im Krankenhaus, 30-35 % auf Intensivstationen), nehmen gramnegative Keime (ESBL-produzierende Enterobakterien, Pseudomonaden) in erschreckendem Ausmaß weiter zu (7,8,9) Das erfordert neue Therapiestrategien, welche diese Erreger bei Risikopatienten bei der empirischen Therapie erfassen bzw. ihre Selektion vermeiden (18,19).

MRSA (Methicillin!Oxacillin resistente Staphylococcus aureus)

MRSA haben sich in Krankenhäusern aber auch im ambulanten Bereich (Pflege-, Altenheime) ausgebreitet. Reservoir sind kolonisierte Personen (meist Nase, Rachen, Haut), die nur dann erkranken, wenn sie Risikofaktoren oder Eintrittspforten für die Erreger aufweisen (Wunden, Katheter, Beatmung, Dialyse u.a.). Eine Übertragung auf andere Patienten kann nur durch Einhaltung strikter Hygiene- (Händedesinfektion!) und Isolierungsmaßnahmen vermieden werden. MRSA sind durch Veränderung ihres Penicillinbindeproteins 2 (PBP2) resistent gegen alle derzeit im Handel befindlichen Betalaktamantibiotika und können i.d.R. nur mit wenigen Antibiotika therapiert werden. Eine Antibiotikatherapie ist nur bei klinisch manifester Infektion indiziert. Besiedelungen werden nur durch lokale Applikation dekontaminierender Substanzen saniert, z. B. Hautwaschungen mit desinfizierenden Substanzen oder bei nasaler Besiedelung mit Mupirucin-Salbe, die mehrmals täglich in die Nase eingebracht wird. Bei Beatmungspatienten ist eine Sanierung meist erst nach Entfernung des Tubus zu erreichen. Therapie-Optionen: Glykopeptide (Vancomycin, Teicoplanin), Linezolid, Tigecyclin (eingeschränkte Zulassung), Kombinationen mit Fosfomycin, Rifampicin; (Testung erforderlich), Daptomycin (eingeschränkte Zulassung), Quinupristin/Dalfopristin (in Deutschland nicht zugelassen, siehe Tab. 6).

MRSE (Methicillin!Oxacillin resistente Staphylococcus epidermidis) Koagulase-negative Staphylokokken, z. B. Staphylococcus epidermidis, sind wenig pathogene Keime der physiologischen Hautflora. Sie sind von Bedeutung bei Plastikassoziierten Infektionen (Katheter, Drainagen, Implantate), da sie sich besonders gut an Polymere anhaften und vermehren können, wobei sie zusammen mit Schleimsubstanzen einen typischen Biofilm bilden, in dem sie sich der Wirkung von Antibiotika und dem Angriff von Phagozyten entziehen. Koagulase-negative Staphylokokken sind sehr häufig (> 80 % ) resistent gegen Oxacillin u.a. Betalaktamantibiotika. Wegen ihrer geringen Virulenz sind sie wesentlich weniger gefährlich als Staphylococcus aureus. Eine Antibiotikatherapie, die oft die zusätzliche Entfernung oder den Ersatz des infizierten Plastikteils 108

erfordert, ist nur bei klinischer Manifestation notwendig. Bei Besiedelungen ist keine Therapie oder Isolierung erforderlich. Therapie-Optionen: Glykopeptide (Vancomycin, Teicoplanin), Linezolid, Tigecyclin (eingeschränkte Zulassung), Kombinationen mit Fosfomycin, Rifampicin; (Testung erforderlich), Daptomycin (eingeschränkte Zulassung), Quinupristin/Dalfopristin (in Deutschland nicht zugelassen, siehe Tab. 6). Präparate

MRSA

MRSE

VRE

Vancomycin

++

++

0

Teicoplanin

++

++

0

Linezolid

++

++

++

Fosfomycin

++ 1)

++ 1)

0

Rifampicin

++ 1)

++1)

+ 1)

Tigecyclin 2)

++

++

++

Daptomycin3)

++

++

Quinupristin/Dalfopristin4)

++

++

++

Tab. 6: Reservepräparate für multiresistente grampositive Erreger. ++ = gute Wirksamkeit, + = mäßige Wrrksamkeit, 0 = keine Wirksamkeit. 1) zur Kombination nach Testung; 2) Zulassung für komplizierte Wund- und Weichteilinfektionen, komplizierte intraabdominelle Infektionen; 3) Zulassung für Haut- und Weichteilinfektionen, Endokarditis, Bakteriämie. Nicht zur Therapie von Pneumonie geeignet; 4) in Deutschland nicht zugelassen, Nebenwirkungen beachten!

VRE (Vancomycin-resistente Enterokokken)

Enterokokken (E.faecalis, E.faecium) kommen in der physiologischen Darmflora vor. Sie sind fakultativ pathogen, d. h. wenn sie in andere Organe gelangen, können sie Infektionen verursachen. Enterokokken haben eine natürliche Resistenz gegenüber vielen Antibiotika. Darüberhinaus haben insbesondere Stämme von E. faecium ein Resistenzgen erworben, das sie auch gegen Glykopeptide (Vancomycin, Teicoplanin) resistent macht. Ein wichtiger Beitrag zur Selektion dieser multiresistenten Stämme ist die häufige Anwendung von Vancomycin in der Humanmedizin, z.B. bei MRSA-Infektionen, oder die orale Applikation bei Clostridium difficile assoziierter Diarrhoe (CDAD). Infektionen durch VRE entstehen meist endogen von der Darmflora ausgehend. Am häufigsten sind Harnwegsinfektionen, Peritonitis oder Katheterinfektionen. Therapie-Optionen: Linezolid, Tigecyclin (eingeschränkte Zulassung), Quinupristin/Dalfopristin (in Deutschland nicht zugelassen), nach Testung Chloramphenicol, Rifampicin (siehe Tab. 6).

Multiresistente Enterobakterien

Viele Spezies aus der Familie der Enterobacteriaceae (gramnegative, fakultativ anaerobe Dannkeime) haben frühzeitig gelernt durch Produktion von Betalaktamasen einen Teil der Betalaktam-Antibiotika zu inaktivieren. Einige Spezies, z.B. Enterobacter, produzieren eine sogenannte AmpC Betalaktamase, die sie befähigt auch Acylureidopenicilline und Cephalosporine der Gruppe 3 (Cefotaxim, Ceftriaxon, Ceftazidim) mit Ausnahme von Cefepim zu inaktivieren. Betalaktamase-Inhibitoren wie Tazobactam, Clavulansäure oder Sulbactam sind dagegen wirkungslos. Solche Stämme können außer mit Carbapenemen auch mit Cefepim, Chinolonen, Aminoglykosiden oder Tigecyclin therapiert werden. 109

In den letzten Jahren haben nun einige Enterobakterien, insbesondere E.coli und Klebsiellen, die Fähigkeit erworben, sogenannte Breitspektrum-Betalaktamasen (extended spectrum betalactamase == ESBL) zu produzieren, die alle Reservecephalosporine, Acylureidopenicilline/Betalaktamase-lnhibitor-Kombinationen inaktivieren. Die einzigen dagegen wirksamen Betalaktam-Antibiotika sind Carbapeneme(lmipenem/Cilastatin, Meropenem, Ertapenem). Dieses Problem besteht in Südeuropa, Asien, Großbritannien schon seit mehreren Jahren. Nun breiten sich solche Stämme zunehmend auch in Deutschland aus. Die genetische Information für die Resistenz ist häufig auf Plasmiden gespeichert, was eine horizontale Übertragung auch auf Bakterien anderer Spezies möglich macht, z.B. innerhalb der Darmflora. Besonders Stämme, die eine CTX-M-Betalaktamase produzieren, breiten sich auch im ambulanten Bereich aus. Oft sind zusätzliche Resistenzgene vorhanden, z. B. gegen Aminoglykoside, Chinolone, Tetracycline, so dass diese multiresistenten Erreger häufig nur noch durch Carbapeneme oder Tigecyclin therapierbar sind. Infektionen entstehen meist endogen ausgehend von der Darmflora. Diese Erreger können unbemerkt auf andere Patienten übertragen werden, was meist erst bemerkt wird, wenn sie zu Infektionen geführt haben. Eine systemische Antibiotikatherapie ist nur bei klinisch manifester Infektion indiziert. Die Übertragung dieser Keime auf andere Patienten sollte jedoch durch Einhaltung strikter Hygiene- und Isolierungsmaßnahmen (eigene Toilette bei mobilen Patienten) vermieden werden. Therapie-Optionen: Carbapeneme (lmipenem/Cilastatin, Meropenem, Ertapenem), Tigecyclin (eingeschränkte Zulassung), evtl. Fosfomycin (Testung erforderlich). Andere Antibiotika (außer Betalaktamantibiotika) nach Testung (20). Bei vermehrten Infektionen durch ESBL-produzierende Enterobakterien ist eine Zunahme des Carbapenem-Verbrauchs unumgänglich. Wie in der Literatur beschrieben, geht die Zunahme des Carbapenem-Verbrauchs jedoch häufig mit einer Zunahme von Carbapenem-resistenten Pseudomonas aeruginosa einher (21,22) sowie einer Selektion von Stenotrophomonas maltophilia oder Burkholderia, die primär gegen Carbapeneme resistent sind.

Carbapenem-resistente Enterobakterien Vereinzelt werden auch in Deutschland Carbapenem-resistente Enterobakterien, insbesondere Klebsiellen, beobachtet, die in anderen Ländern bereits verbreiteter auftreten. Als eine Ursache für diese Resistenz wird die Produktion von Carbapenemasen oder der Verlust von Poren beschrieben (23). Therapie-Optinonen: Tigecyclin (eingeschränkte Zulassung), andere Antibiotika (nach Testung), Colistin (Colistin == PolymyxinE). Colistin ist zur systemischen Anwendung wegen seiner toxischen Nebenwirkungen in Deutschland nicht zugelassen. Ist es die einzige Therapiealtemative kann es bei Problemfällen aus dem Ausland bezogen werden (24,25).

Multiresistente Nonjermenter (Pseudomonas, Acinetobacter) Nonfermenter sind anspruchslose Feuchtkeime, die sich in Feuchtquellen (Waschbecken, Luftbefeuchter, lnfusionslösungen, Inhalatoren u.a.) vermehren und als nosokomiale Infektionskeime eine Rolle spielen. Wichtigster Vertreter ist Pseudomonas aeruginosa, der über eine breite Palette von Pathogenitätsmechanismen verfügt und primär nur gegen wenige Antibiotika empfindlich ist (Aminoglykoside, Chinolone, Piperacillin, Ceftazi110

dim, Aztreonam, Cefepim, Imipenem/Cilastatin, Meropenem). Unter einer Therapie entwicklen diese Keime sehr schnell sekundäre Resistenzen. Ihr großes Chromosom befähigt sie zu fast allen Resistenzmechanismen über die Bakterien verfügen, z. B. BetalaktamaseProduktion, Verschluß von Membranporen oder Multidrug-Effluxpumpen, mit denen sowohl Carbapeneme als auch Chinolone nach draußen befördert werden. Um Resistenzentwicklungen vorzubeugen, sollte bei lebensbedrohlichen Infektionen eine Kombinationstherapie, (z. B. Betalaktam plus Aminoglykosid, Chinolon), gewählt werden. Therapie-Optionen: Ceftazidim, Cefepim, Carbapeneme (lmipenem/Cilastatin, Meropenem) jeweils evtl. plus Tobramycin; Ciprofloxacin. Bei multiresistenten Stämmen ist mitunter nur noch Colistin wirksam, das wegen seiner toxischen Nebenwirkungen in Deutschland nicht zugelassen ist. Bei Problemfällen kann es aus dem Ausland bezogen werden (24,25). Wichtig: Erregernachweis und Resistenztestung sind wichtige Voraussetzung zur Früherkennung multiresistenter Erreger, zur Steuerung der individuellen Therapie und zur Erfassung der lokalen Resistenzsituation!

Screening-Methoden zum Nachweis multiresistenter Erreger

Um die Ausbreitung von multiresistenten Erregern auf den Stationen zu verhindern ist die Einhaltung strikter Hygienemaßnahmen unverzichtbar. Je früher ein besiedelter/infizierter Patient erkannt wird umso effektiver können Hygiene- und Isolierungsmaßnahmen zur Anwendung kommen. Daher macht es Sinn, Risikopatienten (z. B. Verlegung aus anderen Krankenhäusern, Pflegeheimen) bei Aufnahme auf Besiedelungen mit multiresistenten Keimen zu untersuchen: MRSA: Nasenabstriche, Rachenabstriche. ESBL, VRE: Analabstriche oder Stuhl. Mit modernen molekularen mikrobiologischen Methoden können die Erreger innerhalb weniger Stunden in den Proben nachgewiesen und besiedelte Patienten erkannt werden. Bei gehäuftem Auftreten multiresistenter Erreger kann frühzeitig eine Anpassung der empirischen Therapie erfolgen. Bisher gibt es allerdings keine verbindlichen Empfehlungen oder Leitlinien zum Screening bei multiresistenten gramnegativen Erregern.

Selektionsdruck und Collateral damage Antibiotika wirken nicht nur gegen die zu bekämpfenden Infektionserreger sondern auch gegen nützliche Keime der physiologischen Flora. Je nach Wirkungsspektrum selektionieren sie z. B. in der Darmflora bestimmte Erreger, die dann den Patienten besiedeln, zu Infektionen führen oder auf andere übertragen werden können. Dieses Geschehen wird als ,,Collateral damage" bezeichnet (26). Je einseitiger und häufiger die gleichen Antibiotikagruppen angewendet werden um so größer ist der Selektionsdruck, den sie ausüben. So selektionieren z. B. Cephalosporine Enterokokken und AmpC- oder ESBL-produzierende Enterobakterien in der Darmflora der Patienten. Die häufige Anwendung von Vancomycin hat zur Zunahme von Vancomycin-resistenten Enterokokken (VRE) geführt; die häufige Anwendung von Carbapenemen hat die Selektion von Carbapenem-resistenten Pseudomonaden oder Stenotrophomonas zur Folge (26,27).

111

Nach Studien ist der Selektionsdruck, den einzelne Antibiotika ausüben, unterschiedlich groß. Als Antibiotika, deren häufiger Einsatz mit einem besonderen Risiko an Keimselektion einhergeht, gelten vor allem Cephalosporine und Fluorchinolone (26). Bei einem gehäuften Auftreten multiresistenter gramnegativer Bakterien sollten diese Präparate reduziert werden. Außerdem ist der Selektionsdruck abhängig von der Gesamtmenge der eingesetzten Antibiotika. Da es auf Intensivstationen nur eingeschränkt möglich ist, den Antibiotikaverbrauch zu reduzieren, ist es wichtig, möglichst „abwechslungsreich" mit Antibiotika zu therapieren. Erhalten viele Patienten eine Therapie entsprechend den bei ihnen nachgewiesenen Erregern, tritt dieser Effekt automatisch ein. Jeder Patient erhält entsprechend seinem Erreger unterschiedliche Substanzen. Dieser Effekt sollte auch bei der kalkulierten Therapie berücksichtigt werden. Bei empirischen Therapieschemata ist die Gefahr der Selektion größer, je länger und häufiger die gleichen Substanzen angewendet werden. Daher ist es wichtig, von einseitigen Schemata abzuweichen und die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Antibiotika durch „Antibiotika-Mixing" zu nutzen, d. h. Patienten möglichst mit unterschiedlichen Antibiotika behandeln. Eine andere Möglichkeit der Abwechslung ist das Antibiotika-Cycling. Dabei erfolgt ein zeitabhängiger Wechsel unterschiedlicher Therapieregimes mit verschiedenen antimikrobiellen Substanzen, wobei am Ende wieder mit der Ausgangssubstanz begonnen wird (28).

Wichtig: Selektionsdruck vermeiden! Keine einseitigen Therapieschemata anwenden. Möglichst „abwechslungsreich" therapieren, z.B. Antibiotika-Mixing, AntibiotikaCycling!

Antibiotika-assoziierte Diarrhoe Eine der häufigsten Nebenwirkungen vieler Antibiotika sind gastrointestinale Störungen. Durchfall assoziiert mit einer Antibiotikatherapie kann unterschiedliche Ursachen haben. Zum einen fördern manche Antibiotika die Darrnmotilität (Erythromycin) oder es kommt zu einer Störung der Darmflora mit unvollständiger Verdauung der Kohlenhydrate, was einen osmotischen Durchfall zur Folge haben kann. Nur ca. 30 % der Durchfälle im Verlauf einer Antibiotikatherapie sind durch Selektion von Clostridium difficile bedingt. Diese sporenbildenden anaeroben Bakterien kommen bei ca. 10 % der Erwachsenen in der Darmflora vor. Sie sind gegen die meisten Antibiotika unempfindlich. Wird die übrige Darmflora durch Antibiotika zerstört, können sie sich ungehemmt vermehren und genügend Zytotoxine produzieren, um die Darmschleimhaut zu schädigen (29). Je nach Schweregrad entsteht eine Clostridium difficile assoziierte Diarrhoe (CDAD) oder Clostridium difficile assoziierte Colitis mit oder ohne Pseudomembranen (Pseudomembranöse Colitis). Eine CDAD kann durch alle Antibiotika ausgelöst werden, sowohl bei oraler als auch bei parenteraler Gabe. Das Risiko für eine CDAD ist bei den einzelnen Antibiotika jedoch unterschiedlich groß (siehe Tab. 7). Die Symptome treten meist bereits während der Therapie auf (7-10 Tage nach Beginn), können aber auch erst Wochen nach Beendigung der Antibiotikatherapie ausgelöst werden. In den letzten zwei Jahren haben sich virulentere Stämme ausgebreitet (Ribotyp 027 ), die mehr Toxine produzieren, häufiger zu schweren Krankheitsverläufen, auch mit tödlichem Ausgang, führen und bei denen eine geringere Infektionsdosis zur Auslösung der Erkrankung ausreicht, d. h. sie sind leichter übertragbar. Ein Problem ist die nosokomiale Übertragung von Sporen. Das Risiko ist besonders

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hoch im Umfeld von Erkrankten, die große Mengen von Sporen mit dem Stuhl ausscheiden. Etwa 20 % der Patienten entwickeln einige Wochen nach der Erstinfektion ein Rezidiv, das entweder durch Neuinfektion oder durch Sporen zustande kommt, welche bei der Antibiotikatherapie nicht erfasst werden, da Antibiotika nur gegen vegetative Bakterien wirksam sind, nicht gegen Sporen. Die Diagnose erfolgt durch Toxinnachweis im Stuhl. Therapie: nach Möglichkeit das auslösende Antibiotikum absetzen. Bei leichten Fällen Metronidazol (oral oder i.v.) oder Vancomycin oral für 10-14 Tage. Bei schweren Verläufen sollte Vancomycin oral bevorzugt werden. l.Rezidiv: Vancomycin oral für 2-3 Wochen, 2. Rezidiv: Vancomycin (für 7 Wochen, intermittierend, ausschleichend) evtl. plus Metronidazol. Beachten: Die CDAD-Therapie mit Vancomycin muss immer oral erfolgen, da die Substanz ausschließlich renal eliminiert wird und ausreichende Spiegel im Darm nur bei oraler Gabe erreicht werden (10). Neue Therapieoptionen: Vancomycin plus Rifampicin; Linezolid, Tigecyclin, Daptomycin, zeigen in vitro eine gute Wirksamkeit gegen Clostridium difficle. Klinische Studien liegen jedoch bisher nicht vor (30,31 ). Hoch

Mittel

Gering

Clindarnycin

Cotrimoxazol

Chinolone

Aminopenicilline

Carbapeneme

Makrolide

Cephalosporine Gruppe 2 oder 3 oral

Tetracycline

Aminoglykoside Zytostatika

Tab. 7: Risiko von Antibiotika für CDAD.

Strategien zur Optimierung der Antibiotikatherapie Die Gründe für übermäßigen oder fehlerhaften Gebrauch von Antibiotika auf Intensivstationen sind meist Unsicherheit oder Kenntnislücken der Mitarbeiter. Diese Mängel können durch verschiedene Maßnahmen verbessert werden (32). •







Infektiologische Schulungen: regelmäßige Fortbildungen bzw. Fallvorstellungen schärfen das Bewusstsein für die Infektionsproblematik und fördern den Erfahrungsaustausch Guidelines: schriftliche Guidelines, basierend auf den Empfehlungen von Fachgesellschaften und der lokalen Resistenzsituation, geben insbesondere weniger erfahrenen Ärzten wichtige Entscheidungshilfen. Computergestützte Informationssysteme: sie vermitteln Personen-unabhängig Expertenwissen und unterstützen den Entscheidungsprozess. Auf den operativen Intensivstationen des Universitätsklinikums Gießen wurde ein solches wissensbasiertes Informationssystem (Wizard) gemeinsam von lntensivmedizinem, Mikrobiologen und der anästhesiologisch-intensivmedizinischen Arbeitsgruppe .,Klinisches Datenmanagement in Anästhesiologie und Intensivmedizin" entwikkelt. Der Einfluss des Therapieassistenten auf das Verordnungsverhalten von Antibiotika wurde in Studien überprüft. Über das Wizard-System ordneten die Ärzte in 60 % der Fälle eine adaequate Therapie an, nach konventioneller Methode nur bei 37 % . Außerdem wurden mit dem Wizard Begleiterkrankungen bei der Therapiewahl signifikant häufiger berücksichtigt (33). Teamwork mit Mikrobiologen/lnfektiologen/Pharmakologen: Durch enge Zusammenarbeit zwischen lntensivmedizinem und Mikrobiologen können viele der oben genannten Maßnahmen umgesetzt werden. Das kann beispielsweise

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durch regelmäßige Infektionsvisiten auf den Stationen geschehen, bei denen mikrobiologische Befunde, diagnostisches und therapeutisches Vorgehen besprochen werden. Das fördert den gegenseitigen Informationsaustausch von dem beide Seiten profitieren. Auf den operativen Intensivstationen des Universitätsklinikums Gießen finden solche Infektionsvisiten seit 20 Jahren regelmäßig statt und haben auf beiden Seiten positive Auswirkungen bewirkt (1,34). Durch die Zusammenarbeit können außerdem multiresistente Erreger frühzeitig erkannt und ihre Ausbreitung eingeschränkt werden. Durch das Monitoring der lokalen Resistenzsituation werden Resistenzverschiebungen und Keimselektionen frühzeitig erkannt und es können Gegenmaßnahmen getroffen, z. B. Therapieschemata aktuell verändert werden. Bei Kleinraumepidemien führen epidemiologische Untersuchungen zur Aufklärung des Infektionsweges und zur Lokalisation der Infektionsquelle. Wichtig: Eine rationale Antibiotikatherapie ist die beste Voraussetzung zur Vermeidung von Resistenzen. Dazu trägt ein gut funktionierendes Teamwork von lntensivmedizinem und Mikrobiologen bei.

FAZIT Antibiotika sind für infektionsgefährdete Intensivpatienten essentiell. Da in Zukunft immer mehr ältere oder immunsupprimierte Patienten mit hohem Infektionsrisiko behandelt werden müssen, wird die Notwendigkeit von Antibiotikatherapien weiter zunehmen. Von Seiten der Industrie sind Entwicklungen von Antibiotika mit neuen Wirkungsmechanismen, insbesondere gegen gramnegative Bakterien, in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Wir müssen daher versuchen, die uns zur Verfügung stehenden Substanzen zu erhalten. Um Resistenzentwicklungen zu vermeiden oder auf ein Mindestmass zu beschränken ist ein rationaler Umgang mit Antibiotika die beste Voraussetzung. Dieses Ziel kann am ehesten erreicht werden durch die enge Zusammenarbeit von Intensivmedizinern, Mikrobiologen, lnfektiologen und Pharmakologen (Tab. 8). •

Erregernachweis und Resistenztestung anstreben



Lokales Erreger- und Resistenzspektrum beachten (zeitnahe Auswertungen!)



Bei Wahl des Antibiotikums beachten: Wrrkungsspektrum der Antibiotika, Gewebespiegel, Infektionsort, Patientenfaktoren (z. B. Klinische Situation, Organfunktion)



Infektion absichern (Fieber, CRP-Anstieg, Infiltrate sind nicht immer durch Infektionen bedingt)



Nur klinisch manifeste Infektionen therapieren, keine „Besiedelungen"



Selektionsdruck vermindern: ,,abwechslungsreich" therapieren (nicht immer gleiche Substanzgruppen einsetzen, Antibiotika-Cycling, Antibiotika-Mixing)



Therapie nach 2 - 4 Tagen reevaluieren



Nach Mikrobiologischer Kontrolle Therapie anpassen (Deeskalation, Erregerwechsel, Resistenzentwicklung)



Guidelines für die Station erstellen (orientiert an lokaler Resistenzsituation)



Optimierung der Therapie durch „Teamwork" mit Experten (Mikrobiologen, Infektiologen, Pharmakologen)

Tab. 8: 10 Regeln für die rationale Anwendung von Antibiotika

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116

Therapie mit vasoaktiven Substanzen M. WESTPHAL, B.

ELLGER

Einleitung Die moderne lntensivmedizin ermöglicht das Überleben schwerer Krankheiten bzw. Traumen, die noch vor wenigen Jahren tödlich verlaufen sind. Auch wenn primär häufig nur ein Organsystem geschädigt ist, wird sekundär vielfach auch die Funktion anderer Organsysteme beeinträchtigt. Neben kurativen Interventionen (z.B. Revaskularisierung, Antibiotikatherapie, operative Sanierung) bestehen die Aufgaben des Intensivmediziners unter anderem darin, dieses „sekundäre Organversagen" zu verhindern, bzw. zu therapieren und Organfehlfunktionen zu unterstützen um Zeit bis zur Heilung der Grunderkrankung zu gewinnen. Ein klinisches Dilemma besteht jedoch darin, dass die meisten intensivmedizinischen Interventionen unerwünschte Wirkungen mit sich bringen, so dass die Intensivmedizin per se zu Komplikationen führt, die wiederum intensive medizinische Therapie notwendig machen. Somit kann ein circulus vitiosus entstehen. Der Einsatz vasoaktiver Substanzen die in der Therapie der hämodynamischen Insuffizienz eingesetzt werden ist Thema dieses Übersichtsartikels. Da die Frage, wann ein Patient hämodynamisch instabil ist und vermeintlich vasoaktive Substanzen braucht (s. Abbildung 1) nicht leicht zu beantworten ist, wird in diesem Übersichtsartikel auf einige Surrogatparameter zur klinischen Einschätzung der Hämodynamik des Patienten eingegangen sowie eine Auswahl der klinisch gebräuchlichen vasoaktiven Substanzen charakterisiert und deren Wirkspektrum kritisch dargestellt.

(Mal-) Distribution des Blutflusses (z.B. SIRS/Sepsis) Volumen

Kardiogen

lnotropikum lnodillatator Vasopressor

Volumen lnotropikum

Abbildung 1: Übersicht über Ursachen hämodynamischer Instabilität und Differenzialeinsatz von kardiovaskulär wirksamen Substanzen.

Kritische Anmerkungen zum Einsatz vasoaktiver Substanzen Nach einer Tibiafraktur wird man das Behandlungskonzept so wählen, dass die Fraktur zunächst ruhiggestellt wird, um eine Heilung zu ermöglichen. Während ein Waldlauf in der Initialphase der Behandlung nicht sinnvoll erscheint, kann dieser im Rahmen der Rehabilitation (nach Konsolidierung der Fraktur) durchaus in das Therapiekonzept einfließen. Trivial ist die Einsicht, dass der initialen Frakturheilung die Bewegung nicht 117

förderlich sein wird, auch wenn ein laufender Patient prinzipiell einen guten Eindruck macht. Eine Brille mag sicherlich die Sehrkraft erhöhen, steckt aber ein Splitter im Auge und schränkt den Visus ein, so erscheint es unmittelbar plausibel, erst den Splitter zu entfernen, das Auge steril abzudecken und eine Heilung abzuwarten, bevor eine Brille zum Verbessern der Sehkraft angepasst wird. Ähnlich ist es auch mit dem kardiovaskulären System: Das Konzept zur Therapie einer gestörten myokardialen Funktion, z.B. nach Myokardinfarkt, sollte zunächst auf das Beheben der zugrunde liegenden Ursache ziehlen, also z.B. auf der Revaskularisation. Durch Entlastung des Herzens sollte seine Rekonvaleszenz ermöglicht werden, also z.B. durch systematisches Senken der Nachlast und Optimieren der Vorlast. Das Herz durch Inotropika zu Höchstleistungen anzuspornen mag zwar auf dem Monitor neben dem Intensivtherapiebett Surrogatparameter der kardiovaskulären Funktion kurzfristig „verbessern", ob aber dem Patienten mit kritischer myokardialer Sauerstoffversorgung geholfen wird, ist mehr als fraglich, da die Medikamente meist den Sauerstoffbedarf des Herzens erhöhen und Arrythmien verursachen können. Kortikoide stabilisieren in der Sepsis den Blutdruck und ermöglichen das Entwöhnen von Vasopressoren, verursachen aber potenziell eine Dysregulation der Glukosehomöostase, Wundheilungsstörungen und Polyneuropathien. Intensivmediziner müssen sich stets vergegenwärtigen, dass die klinisch zur Verfügung stehenden vasoaktiven Substanzen nicht kurativ wirken und potenziell unerwünschte, deletäre Arzneimittelwirkungen entfalten können. Sie dürfen folglich nur passager zur Stabilisierung des Patienten eingesetzt werden, um Zeit zu gewinnen und sekundären Organdysfunktionen vorzubeugen, bis eine kurative Therapie greift. Merke: Wir können von den eingesetzten Substanzen keinen Therapieerfolg erwarten, vielmehr müssen die Substanzen und ihre Dosierung so ausgewählt werden, dass sie möglichst effektiv in der individuellen Situation wirken und dabei möglichst wenige Nebenwirkungen verursachen. Der Einsatz von kardiovaskulär wirksamen Substanzen ist keine kurative Intervention!

Monitoring bei hämodynamischer Instabilität Die notwendige Diagnostik bei hämodynamischer Instabilität stützt sich auf eine Vielzahl von Surrogatparametern, die erst in der Zusammenschau einen Aufschluss über den hämodynamischen Zustand liefern. Vorsicht ist geboten bei der Formulierung von Zielparametern der Therapie. Der Zielwert für einen Surrogatparameter, der für eine Patientengruppe sinnvoll erscheint, kann bei einer anderen Pathologie deletär sein. Als Beispiel sei hier der Patient in der Sepsis genannt, bei dem ein Herzzeitvolumen (HZV) von 8 bis 10 1/min als therapeutisches Ziel sinnvoll sein kann und, als Gegenbeispiel, der Patient im kardiogenen Schock, bei dem man mit einem weit geringeren HZV zufrieden sein sollte. Bei einem herzgesunden Patient sollte eine gemischtvenöse Sauerstoffsättigung von 50 % Anlass zur Besorgnis geben; bei einem Patienten mit einer chronischen Herzinsuffizienz im Stadium NYHA III ist eine gemischtvenöse Sauerstoffsättigung von 50 % mehr als zufriedenstellend. ,,Normwerte" oder Zielgrößen der Surrogatparameter müssen also immer vor dem individuellen Hintergrund des Patienten betrachtet werden. Ein Hauptziel des eingesetzten Monitorings der hämodynamischen Insuffizienz ist die Differenzierung zwischen kardialer und vaskulärer Pathologie, die zur hämodynamischen Insuffizienz eines Patienten beitragen. Zum Screening der Patienten und zur Routineüberwachung sind der klinische Eindruck und nicht-invasiv erhobene Variablen ausreichend. Hilfreich sind z.B. die Beurteilungen des neurologischen Zustand, der Pulsfrequenz, des Blutdrucks, der Urinausscheidung, der Hauttemperatur und der Hautfeuchtigkeit. Ein invasives Monitoring ist häufig zur Dia118

gnostik, als Verlaufsparameter und zur Therapiekontrolle einer Kreislaufinsuffizienz sinnvoll (s. Abbildung 2) [1]. Bei allem hämodynamischen Monitoring darf die Suche nach der primären Ursache der hämodynamischen Insuffizienz und ihre kausale Therapie jedoch nicht außer Acht gelassen werden.

Merke: Wichtig sind die Suche nach einem septischen Fokus und die frühzeitige zielgerichtete Antibiotikatherapie. Wird ein invasives Monitoring notwendig, so ist das Verfahren individuell so zu wählen, dass die patientenspezifische Fragestellung hinreichend genau beantwortet werden kann. Da jedes Verfahren Risiken und Limitationen hat, ist eine generelle Empfehlung nach dem Prinzip „jeder lntensivpatient braucht einen zentralvenösen Katheter (ZVK), eine invasives Blutdruckmessung, ein Echo und einen Pulmonaliskatheter (PAK)" nicht sinnvoll. Eine invasive Blutdruckmessung bringt wenige Komplikationen mit sich und kann wichtige Informationen über den Volumenstatus (systolic pressure variation, SPV) und den Perfusionsdruck geben, so dass die Indikation großzügig gestellt werden sollte. Der ZVK hat vor allem eine Bedeutung für die Gewinnung von zentralvenösen Blutproben und bietet zusätzlich die Möglichkeit, hochwirksame Pharmaka zu applizieren. Der diagnostische Wert des zentralvenösen Drucks (ZVD) liegt eher in der Abschätzung des kardialen Rückwärtsversagens oder der (postoperativen) Perikardtamponade als in der Diagnostik eines Volumenmangels [2]. Da er aber für die medikamentöse Therapie z. T. notwendig ist, sollte auch hier die Indikation großzügig gestellt werden [3;4].

Herzleistung und systemischer Sauerstofftransport Ein Abschätzen der Herzleistung kann durch die gemischtvenöse (Sv02) oder zentralvenöse Sauerstoffsättigung (ScvO2) relativ gut erfolgen, da sie die Balance zwischen Sauerstoffangebot (DO2) und Sauerstoffverbrauch (VO2) repräsentiert. Aufgrund zahlreicher Einflussgrößen (z. B. arteriovenöses Shunting, Hämoglobin, Herz-Zeit-Volumen (HZV), O2-Sättigung) sollte die regionale Perfusion jedoch unbedingt im Zusammenhang mit laborchemischen und organspezifischen Zusatzparameter evaluiert werden, insbesondere bei hyperdynamer Kreislaufsituation mit Maldistribution des Blutflusses. Die Echokardiographie liefert wenig invasiv neben globalen Parametern von Herzleistung (linker und rechter Ventrikel, intravaskulärer Füllungszustand) und systemischer und pulmonaler Zirkulation auch die Möglichkeiten zur Diagnostik morphologischer Pathologien (Klappendysfunktionen, segmentale Wandbewegungsstörungen, Lungenarterienembolie); allerdings erfordert sie die Hand eines geübten Untersuchers. Der apparative Aufwand, vor allem wenn das Verfahren als „online" Verlaufsmonitoring verwendet wird, limitieren die Anwendung [5]. Auch wenn die gewonnene Information weniger umfassend ist, mag hier der PAK einfacher und ebenso sicher zu verwenden sein, vor allem wenn seine Indikation sorgfältig gestellt wird und die gewonnene Information in der Zusammenschau mit anderen Parametern evaluiert wird [6]. Merke: Monitoring heilt den Patienten nicht, bringt aber mögliche Komplikationen mit sich! Daher ist das hämodynamische Monitoring der individuellen Situation des Patienten anzupassen und ständig neu zu überdenken.

119

Klinische Ziele und Endpunkte zur Behandlung des Kreislaufversagens Das Kreislaufversagen ist durch ein Versagen der Mikrozirkulation mit konsekutiver Kompromittierung von Sauerstoffversorgung und Organnutrition sowie einer Einschränkung des Abtransports von Stoffwechselendprodukten charakterisiert, in dessen Folge es zu Zell- und Organschäden kommt. Ultimatives Ziel der hämodynamischen Therapie ist es deshalb, die Gewebedurchblutung wieder herzustellen und den zellulären Metabolismus zu normalisieren. Hierfür ist es unmittelbar notwendig, zu differenzieren, in welchem Maß ein myokardiales Pumpversagen oder eine Maldistribution des Blutflusses bei ausreichender Herzleistung zu dem kritischen Zustand beiträgt.

Myokardiales Pumpversagen Das myokardiale Pumpversagen ist keine eindeutige Diagnose, sondern ein Zustandsbild, bei dem das Herz nicht genügend Blut in Menge oder Geschwindigkeit so im Körper zirkulieren lassen kann, dass der aktuelle Bedarf an Stoffwechsel- und Energiesubstraten für Organe und Körpergewebe gedeckt wird. Es kann akut bei sonst herzgesunden Patienten (z.B. Myokardinfarkt, Myokarditis, postoperativ) oder auf dem Boden einer kardiovaskulären Grunderkrankung auftreten. Pathophysiologisch sind die häufigsten Gründe für eine myokardiale Schädigung die koronare Herzerkrankung, die arterielle Hypertonie, Herzklappenfehler sowie unterschiedliche Formen der Kardiomyopathie; weniger häufig sind Perikardtamponade, Herzrhythmusstörungen, pulmonale Hypertonie, Lungenarteirenembolie, fehlerhafte Flüssigkeitsbilanzierung und hypertensive Krisen. Durch eine erhöhte Ausschüttung endogener Katecholamine kann es akut zur Tachykardie (> 110 Schläge/min) und erniedrigtem HZV (Cardiac Index = CI < 2,2 L/min/m2) bei gleichzeitig erhöhtem systemischen Gefäßwiderstand (SVR, als Surrogat für myokardialen Wandstress > 1.000 dyn·sec·cm-5) kommen (sog. Acute Low Cardiac Output Syndrome; ALCOS). Häufig ist die arterielle Laktatkonzentration erhöht (> 2 mmol/1), die Diurese vermindert (< 0,5 ml/kg/h) und der Blut-pH reduziert(< 7,35). Pathophysiologisch und klinisch wird das erheblich verringerte HZV mit vermindertem Blutauswurf in die arterielle Strombahn (,,Vorwärtsversagen") vom Rückstau des Blutes mit mangelhafter Entleerung einer oder beider Herzkammern (,,Rückwärtsversagen") unterschieden. Der myokardiale Energie- und Sauerstoffverbrauch hängt direkt von der Nachlast ab. Die Nachlast des Ventrikels entspricht der Wandspannung, die aufgebracht werden muss, um das Schlagvolumen auswerfen zu können. Sie steigt nach dem Laplace-Gesetz mit dem Durchmesser des Ventrikels und verhält sich umgekehrt proportional zur Wanddicke. Für den versagenden Ventrikel, der auf der Druck-Volumenkurve im Bereich des Plateaus arbeitet und für eine Volumenzunahme keine Leistungssteigerung erwirtschaften kann, gilt, dass sich die Wandspannung durch eine Erhöhung der Vorlast erhöhen kann, da das endsystolische Ventrikelvolumen ansteigt. Der versagende Ventrikel kann durch Erhöhung der Vorlast seine Leistung nicht steigern; bei erhöhen der Vorlast nimmt dann lediglich die Wandspannung aufgrund eines erhöhten intraventrikulären Volumens zu. Eine Erhöhung der Vorlast kann also unmittelbar zur Erhöhung der Nachlast und damit, ohne das HZV zu steigern, zum erhöhten myokardialen Energie-und Sauerstoffverbrauch führen. Der erhöhte Vasomotorentonus und damit der erhöhte SVR, der sich im ALCOS einstellt, ist ein weiterer Faktor, der die myokardiale Wandspannung beeinflusst. Ein schwer geschädigtes Myokard wird demnach durch eine Reduktion der Nachlast entlastet, in dessen Folge der myokardiale Sauerstoff- und der Energieverbrauch sinken. 120

Therapie der myokardialen Insuffizient Das kompromittierte Myokard profitiert von einer unmittelbaren Nachlastsenkung. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen unter Umständen im Vergleich zur „normalen" Situation deutlich niedrigere systemische Blutdrücke akzeptiert werden, wenn der koronare und der zerebrale Perfusionsdruck nicht kritisch unterschritten werden sollen. In der Regel ist ein arterieller Mitteldruck (MAP) von 60 mm Hg ausreichend, solange es keine kritischen Strömungshindernisse in der koronaren, zerebralen oder gastrointestinalen Strombahn gibt. Es ist jedoch schwierig, Messwerte als Zielparameter für die Therapie der akuten myokardialen Insuffizienz anzugeben, da der ideale Blutdruck bzw. das optimale HZV situationsabhängig ist und bis dato nicht definiert ist. Es ist davor zu warnen, um jeden Preis eine „normale" Hämodynarnik aufrecht zu erhalten. Wird ein Patient mit kritischer Myokardperfusion mit Inotropika zur Erhöhung des HZV und mit Vasopressoren zur Erhöhung des MAP behandelt, so resultiert eine erhöhte Herzarbeit (Kontraktilität, Vorlast und Nachlast steigen), die mit erhöhtem Arrythmierisiko, erhöhtem VO2 und vermindertem DO 2 assoziiert ist. In dieser Situation sollte vielmehr Wert auf eine Myokardprotektion gelegt werden, um eine Dekompensation zu verhindern. Die kausale Therapie des akuten Herzversagens orientiert sich an der zugrunde liegenden Erkrankung. Bei einem Myokardinfarkt erfolgt beispielsweise die Akut-PTCA (Verfahren der Wahl) oder die Thrombolyse. Bei der Lungenarterienembolie mit konsekutivem Rechtsherzversagen erfolgt die Thrombolyse oder Thrombektomie. Die erhöhte Nachlast, die Tachykardie, die eingeschränkte Kontraktilität und die neurohumorale Entgleisung stellen die Ziele der Pharmakotherapie dar. Fast immer ist bei akutem Herzversagen eine balancierte Therapie aus der Applikation positiv inotroper Substanzen, Frequenzkontrolle, Volumenmanagement und Nachlastsenkung notwenig. Die Therapie muss von einer ständigen Re-Evaluierung des Patienten und seiner Reaktion auf Änderungen und Anpassungen des Therapieregimes begleitet werden. Detaillierte Algorithmen sind in entsprechenden Leitlinien der Fachgesellschaften veröffentlicht [7]. Merke: Das Therapieprinzip der myokardialen Insuffizienz besteht aus einer Verbesserung der myokardialen Sauerstoffbilanz, unter anderem durch Optimieren der Vorlast und Senken der Nachlast.

Distributiver Schock Im septischen Schock, als Prototyp des distributiven Schocks, bewirkt eine systemische Inflammation eine Vasoplegie und damit einen erniedrigten systemvaskulären Widerstand, eine erhöhte Kapillarpermeabilität, zelluläre/metabolische Entgleisungen und Perfusionsstörungen auf mikrovaskulärer Ebene, wie z.B. das Eröffnen arterio-venöser Shunts [8]. Die Alterationen in der Makrohämodynarnik entsprechen jedoch nicht den Veränderungen in der Mikrozirkulation. Die Maldistribution des Blutflusses kann folglich trotz normalem oder erhöhtem HZV und MAP zur inadäquaten Organdurchblutung und -nutrition führen. Auch wenn es nicht zu erwarten ist, dass eine derart komplexe Pathologie ausschließlich durch eine Verbesserung der (Makro-)Hämodynarnik zu korrigieren ist, orientiert sich die organunterstützende Therapie in praxi hauptsächlich an Zielvariablen, die die globale Perfusion widerspiegeln (z. B. MAP und HZV). Die Beurteilung der (mikro-)regionalen Perfusion erfolgt anhand einer Reihe von Surrogatparametern (Diurese, ,,capillary refill", Laktat, Blut-pH, ScVO/SvO2, BE, Bilirubin, Transaminasen, Kreatinin, Harnstoff, Lipase, Amylase, Kreatinkinase, Troponin und Gerinnung) oder methodisch, z. B. mit Hilfe der gastralen Tonometrie, Mikrodialyse oder sublingualen Kapnometrie erfolgen, wobei die letztgenannten Verfahren für den klinischen Routine-Einsatz (noch) nicht etabliert sind [9]. Da die Interpretation der aufgezeigten Variablen bzw. 121

Methodiken durch Störgrößen und/oder pathophysiologische Veränderungen in der Sepsis erschwert ist, ist es sinnvoll, nicht Absolutwerte als Basis für das Therapiekonzept zu benutzen, sondern Veränderungen im Verlauf zu analysieren. In einer randomisierten klinischen Studie von Rivers und Mitarbeitern konnte gezeigt werden, dass durch eine frühzeitige, an Zielparametern orientierte Kreislauftherapie von septischen Patienten (innerhalb der ersten sechs Stunden nach Klinikaufnahme) das Outcome verbessert werden kann (,,Early goal directed therapy"). Durch aggressive Volumensubstitution, Vasopressoren und Inotropika wurden die Zielparameter ZVD 8 - 12 mm Hg, MAP ~ 65 mm Hg und eine ScvO2 ~ 70% bei einem Hämatokrit von mindestens 30 % angestrebt. Durch dieses schnelle, zielgerichtete Vorgehen wurde die Krankenhaussterblichkeit im Vergleich zur Standardtherapiegruppe von 46,5 % auf 30,5 % reduziert [10). Zumindest in der Initialphase des maldistributiven Schocks ist davon auszugehen, dass die Myokardfunktion normal und das HZV relativ hoch ist, so dass zum Therapieprinzip neben der Volumentherapie vor allem vasopressorisch wirkende Substanzen und ggf. lnotropika gehören [11).

Volumentherapie Für einen sicheren klinischen Einsatz kardiovaskulär wirksamer Substanzen, vor allem Vasopressoren, muss ein Volumendefizit ausgeglichen werden, um eine „vasokonstriktormaskierte Hypovolärnie" zu verhindern. lntravaskuläre Flüssigkeitsdefizite können durch kristalloidale oder kolloidale Lösungen und bei Indikation durch Blutprodukte ausgeglichen werden. Im maldistributiven Schock können 6 - 10 Liter kristalloidale Lösungen oder 2 - 4 Liter kolloidale Flüssigkeiten innerhalb der ersten 24 Stunden erforderlich sein. Durch eine derart aggressive Intervention ist es oftmals möglich, nicht nur die myokardiale Performance und den Sauerstofftransport zu verbessern, sondern ebenso die anaerobe Stoffwechsellage in eine aerobe zu konvertieren. Da Flüssigkeitsüberladungen ebenfalls zu kardiopulmonalen Komplikationen führen können, wird (je nach Indikation) eine intermittierende Bolusgabe von 250 - 500 ml kristalloidaler oder kolloidaler Lösung mit kurzfristiger Evaluation der Therapieeffekte empfohlen. Der Therapieerfolg kann auch hier wieder nur in der Zusammenschau wichtiger klinischer Parameter wie z. B. der Veränderungen von Herzfrequenz (HF), HZV, MAP, ScvO2 oder SvO2 , Oxygenierung, Laktat und Stundendiurese evaluiert werden. Während kardiale Füllungsdrücke (ZVD, PAWP) schlechte Parameter zur Abschätzung des Volumenstatus sind, scheinen die „systolic pressure variation" (mit dem Atemzyklus assoziierte Undulation des arteriellen Drucks) und echokardiographisch ermittelte Parameter valider zu sein [12). Obwohl bis dato kein optimaler Hämoglobin-Wert definiert worden ist, erscheint 7 g/dl als Transfusionstrigger gerechtfertigt zu sein [13).

Kardiovaskulär wirksame Substanzen Die Anforderungen an kardiovaskulär wirksame Medikamente sind komplex und zum Teil (in Abhängigkeit von der zu Grunde liegenden Pathologie) konträr (Abbildung 3). Um über die Differenzialindikationen für die Anwendung von kardiovaskulär aktiven Substanzen entscheiden zu können, ist eine detaillierte Kenntnis der Rezeptorwirkungen der verwendeten Pharmaka im Organismus eine essentielle Voraussetzung. Die wichtigste in der Medizin eingesetzte Gruppe sind die adrenergen Substanzen.

122

Das ideale kardiovaskuläre Therapeutikum •Redistri>ution des BkrtfkJsses zu den Vllalorganen

-------< o()ptinale Beeinflussung der Mikromulation vitaler Organe

•Keine AuslOsung von Herzrhythmusstcrungen •Keine Tachyphylaxie •Rascher Beginn und Beendigung der Wirbarnkeit (kurze HWZ) •Drekt wirksam und nicht durch Freisetzung biogener Amine •Kolll)atibilität mit anderen vasoaktiven Medikamenten.

Myokardiales Pumpversagen: lnotropika -Erhöhung des Schlagvolumens durch verbesserte systolische Funktion •Verbesserung der diastolischen Relax8tion (positive Lusilropie)

•Au!reclrtemalung des myokardialen Sauerstoffgleichgewichts

Maldistributiver Schock: Vasopressoren •Erhöhung des MAP •Erhöhung des vaskulären Widerstandes •Kein verstärktes steriovenöses Shunting -Keine Verminderung von HZV und DO 2

-stabiisierung des mittleren und diastolischen Blutdrucks zur Erflaltung des koronaren Blutflusses •Keine Vasokonstlikton .Positive Beeinflussung des Preload •Senkung des Afterload auf beiden Seiten -Mininaler positiv cl11011owuper Effel(t

Abbildung 2: Anforderungen an die ideale kardiovaskulär aktive Substanz (MAP: mittlerer arterieller Druck, HZV: Herzzeitvolumen, 002: Sauerstoffangebot).

Adrenerge Substanzen Adrenerg wirkende Pharmaka werden in Katecholamine oder direkt wirkende Sympathornimetika (= Adrenorezeptoragonisten mit überwiegend postsynaptischem Angriffspunkt) und Nichtkatecholamine oder indirekt wirkende Sympathomimetika (präsynaptischer Angriffspunkt) eingeteilt. Letztere setzen aufgrund struktureller Ähnlichkeit Noradrenalin aus den Vesikeln noradrenerger Neurone frei. Adrenerge Substanzen lösen ihre Wirkungen über die Stimulierung von Adrenozeptoren aus, während die nichtadrenergen Substanzen ähnliche klinische Wirkungen haben, jedoch den Rezeptor umgehen.

Adrenorezeptoren a-Rezeptoren a 1-Rezeptoren befinden sich postsynaptisch und vermitteln primär die Kontraktion in den glatten Gefäßmuskelzellen der Arteriolen sowie von Haut, Uterus, Bronchiolen und Intestinaltrakt. Neuere Studien weisen auf die Existenz von a-Rezeptoren am Herzen hin. Sie steigern auf noch ungeklärte Weise die Kontraktilität des Herzens, ohne die HF dabei zu erhöhen. a 2-Rezeptoren befinden sich vorwiegend präsynaptisch und halten über einen FeedbackMechanismus die Freisetzung des Noradrenalins in relativ engen Grenzen. Postsynaptische a 2-Rezeptoren sind an der glatten Gefäßmuskulatur lokalisiert, wo sie wie die a 1-Rezeptoren eine Vasokonstriktion verursachen. Weiterhin findet man sie an der Längsmuskulatur des Magen-Darm-Trakts (Erschlaffung), im Fettgewebe (Hemmung der Lipolyse), im Pankreas (Hemmung der Insulinfreisetzung), in Thrombozyten (Aggregationssteigerung), in Mastzellen (Steigerung der Degranulation) und in der Medulla oblongata (Sensibilisierung des Barorezeptorenreflexes). a 2-adrenerge Substanzen bewirken durch Eröffnung langsamer Ca2+-Kanäle den Einstrom von Ca2+ aus dem Extrazellulärraum in das Zytosol, was letztlich via Aktivierung der Mysosinleichtkettenkinase zur Vasokonstriktion führt. 123

ß-Rezeptoren Für den ß-Rezeptor fungiert zyklisches 3' ,5' -Adenosinmonophosphat (cAMP) als intrazellulärer Mediator. Durch die Bindung des Katecholamins mit dem B-Rezeptor wird die Adenylatcyclase (AC) aktiviert. Die AC katalysiert die Konversion von ATP zu cAMP, und cAMP überführt inaktive Proteinkinasen in aktive Kinasen, die ihrerseits durch Phosphorylierung inaktive Enzyme in aktive Enzyme umwandeln (z.B. Phosphorylasen, Triglyceridlipasen) et vice versa. cAMP wird schließlich durch Phosphodiesterasen (PDE) zu inaktiven Metaboliten (AMP) hydrolysiert. Die zelluläre Antwort der Phosphorylierung ist gewebespezifisch: Nach Stimulierung von 6 1-Rezeptoren an der Herzmuskelzelle wird durch die Phosphorylierung von Kanalproteinen der Ca2•-Influx gesteigert. Die erhöhte zytosolische Ca2•-Konzentration ist die Ursache der positiv inotropen, chronotropen und dromotropen aber auch der negativ lusitropen Wirkungen der ß-Sympathomimetika. Der transmembranöse Ca2•-F1ux spielt ferner eine wichtige Rolle in der Regulation der Gefäßkontraktilität. Hier verursacht die ß-Rezeptoren-Stimulation und damit die Aktivierung der AC eine Vasorelaxation. Der Grund liegt in einer Aktivierung zellulärer Komponenten, die die Ca2+-Eliminierung aus dem Zytosol steigern. An der Niere führt die Stimulierung von BI-Rezeptoren zu gesteigerter Freisetzung von Renin aus juxtaglomerulären Zellen. Die Aktivierung von 6 2-Rezeptoren ist mit einer Erschlaffung der glatten Muskulatur von Gefäßen, Uterus, Bronchiolen, MagenDarm- und Urogenitaltrakt verbunden. Die Toleranzentwicklung nach chronischer Katecholamingabe wird durch Reduktion der a- und ß 1-Adrenozeptorendichte sowie einer potenziellen Konfigurationsänderung (Down-Regulation) verursacht. Durch die Alterationen der ß1-Population wird die Wirkung der B1-Agonisten, z. B. Dopamin und Dobutamin, sukzessive vermindert.

Dopaminrezeptoren DA 1-Rezeptoren findet man postsynaptisch im glatten Gefäßmuskel. Sie vermitteln renale, koronare, zerebrale, hepatische und mesenteriale Vasodilatation. DAz-Rezeptoren sind präsynaptisch lokalisiert und inhibieren die Noradrenalinfreisetzung. Stimulation der präsynaptischen DA-Rezeptoren führt zu einer Abnahme des Gefäßtonus und damit zu einer passiven Vasodilatation. Verschiedene DA-Rezeptor-Subtypen sind ebenfalls im Hypothalamus und den Basalganglien vorhanden.

Katecholamine Zu den häufig eingesetzten Katecholaminen zählen: Noradrenalin, Dopamin, Dobutamin, Adrenalin und Dopexamin. Die relative Wirkstärke an den verschiedenen Adrenozeptoren wird in Abbildung 3 schematisch dargestellt. Katecholamin

Dosis [µg/kg/min]

81

82

81

82

Noradrenalin

0,01-3

+++

+++

++

+

Dopamin

Dobutamin Adrenalin

Dopexamin

+

0-3

DA1

D~

++

++

3-5

+

+

+++

++

+++

+++

>5

+++

+

+++

+

+++

+++

2-20

+

+++

+++

0,02-0,05

+

+

++

++

0,05-0,2

++

++

+++

+++

> 0,2

+++

+++

+++

+++

+

+++

++

+

0,5-1

Abbildung 3: Wirkungsprofil von Katecholarninen auf a- und ß-Adrenorezeptoren und auf Doparninrezeptoren (DA) in Abhängigkeit von der Dosierung.

Noradrenalin Da Noradrenalin eine höhere Affinität zu a- als zu ß-Rezeptoren besitzt, stehen die Effekte der a-adrenergen Stimulation im Vordergrund. Noradrenalin (HWZ ca. 3 min) führt via a 1-Adrenorezeptorstimulation zu einer Konstriktion der Arteriolen und damit zu einem deutlichen Anstieg des peripheren Gefäßwiderstands. Der positiv chronotrope Effekt von Noradrenalin wird durch eine Reflexbradykardie (Stimulation der Barorezeptoren) abgeschwächt, so dass es nur zu einer geringfügigen Erhöhung der HF kommt. Während das HZV durch Noradrenalin um 10 - 20 % und das Schlagvolumen (SV) um 10 - 15 % erhöht werden, kommt es in klinisch üblichen Dosierungen zu keiner wesentlichen Veränderung der pulmonalen Hämodynamik. Wird eine Normovolärnie sichergestellt, so bewirkt Noradrenalin keine Schädigung von Organsystemen. Indikation: Der Einsatz von Noradrenalin ist gerechtfertigt, wenn andere Therapieverfahren, insbesondere repetitive Volumengaben, keinen ausreichenden Blutdruck sicherstellen. Da Noaradrenalin in einer Dosierung von 0,01 - 3 µg·kg· 1·min- 1 den arteriellen Druck signifikant erhöht, ohne dabei den systemischen und mikroregionalen Blutdruck (cave: Normovolärnie) signifikant zu drosseln, gilt es derzeit als Katecholamin der Wahl zur Behandlung des vasoplegischen (Sepsis, Anaphylaxie) Schocks [14]. Die Kombination mit Dobutamin ist besonders bei Vorliegen einer Hypotension in Assoziation mit einem erniedrigten HZV sinnvoll, da Dobutamin das HZV erhöht und zu einer Verbesserung der mikrovaskuären Perfusion führen kann [15].

125

Noradrenalin wird titriert, um eine suffiziente Perfusion der vitalen Organe zu erreichen. In der Sepsis scheint ein MAP von 65 mm Hg ausreichend zu sein; höhere Blutdruckwerte scheinen keinen Nutzen zu bringen [16; 17]. Während der Applikation von Noradrenalin (bzw. generell von Vasopressoren) sollten Surrogatparameter für eine adäquate Gewebeperfusion intermittierend evaluiert werden.

Dopamin Die kardiovaskulären Wirkungen von Doparnin sind komplex, da dieses Katecholamin dosisabhängig nicht nur a- und ß-Rezeptoren, sondern auch DA-Rezeptoren stimuliert. Doparnin ist die biochemische Vorstufe von Noradrenalin und bewirkt zusätzlich eine Freisetzung von Noradrenalin aus sympathischen Nervenendigungen im Herzen. In der Peripherie wird dieser Effekt durch die Aktivierung präsynaptischer D~-Rezeptoren (Inhibition der Noradrenalinfreisetzung) aufgehoben. Doparnin wird innerhalb weniger Minuten metabolisiert und erhöht, vor allem in niedriger Dosis, spezifisch den renalen, mesenterialen, koronaren und zerebralen Blutfluss durch Aktivierung postsynaptischer DA 1-Rezeptoren. Trotzdem muss aufgrund einer Umverteilung des nutritiven Blutflusses mit einer Verschlechterung der Oxygenierung der besonders hypoxiegefährdeten Mukosa des Darmes oder der renalen äußeren Medulla gerechnet werden. Die Wirkung von Doparnin ist individuell schwer vorher zu sagen. In niedriger Dosierung (0,5 - 3 µg·kg· 1·min·1) wird vor allem eine direkte renale Vasodilatation beobachtet. Hierbei scheint es grundsätzliche Unterschiede zwischen gesunden Probanden und schwer kranken Patienten zu geben. Obwohl Doparnin in experimentellen und klinischen Studien an gesunden Probanden in niedriger Dosierung den renalen Blutfluss, die glomeruläre Filtration und die Diurese verbesserte, gibt es keinen Hinweis darauf, dass Doparnin die qualitative Nierenfunktion verbessert bzw. einen renoprotektiven Effekt vermittelt. In einer klinischen Untersuchung an 328 Patienten mit systemischer Inflammation und früher renaler Dysfunktion konnte gezeigt werden, dass eine niedrig-dosierte Doparnininfusion (,,Doparnin in Nierendosis", 2 µg/kg/min) zu keiner Verbesserung der qualitativen Nierenfunktion führt [18]. Die Ergebnisse einer aktuellen Metaanalyse, in der Daten von 854 Patienten berücksichtigt wurden, veranschaulichen, dass (niedrig-dosiertes) Doparnin a) kein akutes Nierenversagen verhindert, b) kein akutes Nierenversagen therapiert und c) nicht die Notwendigkeit einer Dialyse beeinflusst [19]. Bei kritisch kranken Patienten gibt es deshalb keine Indikation, Doparnin in „Nierendosis" zu infundieren. Gegenstand der Diskussion ist, ob Doparnin in niedriger Dosierung die Transplantatfunktion nach Nierentransplantation positiv beeinflusst. Die hämodynarnischen Effekte bei mittlerer Dosierung (bis zu 5 µg/kg/min) werden durch ß 1-Stimulation hervorgerufen und führen zu gesteigerter myokardialer Kontraktilität und Erhöhung des HZV. Ein Anstieg der HF über 10% weist auf eine Hypovolämie hin. In diesem Dosisbereich bewirkt Doparnin eine minimale, durch ß2-Rezeptoren vermittelte, Vasodilatation. Doparnin führt in höherer Dosierung (> 5 µg/kg/min) zur a-Stimulation und damit zur peripheren Vasokonstriktion. Weiterhin kann Doparnin bei Patienten mit erhöhtem pulmonalarteriellem Verschlussdruck durch Erhöhung des venösen Rückflusses zu einem weiteren Anstieg führen. Neben Herzrhythmusstörungen und schwerwiegenden Tachykardien sind ebenso Doparnin-assoziierte Aggravationen des pulmonalen rechts-links Shunts beschrieben worden [20]. Schon in niedriger Dosis führt Doparnin zur kompletten, reversiblen Suppression der hypothalarnisch-hypophysären Regulation. Das resultierende Bild einer als Low-T3-Syndrom bekannten Schilddrüsendysfunktion und eines Hyposomatotropismus tragen dazu bei, den im Rahmen kritischer Krankheit exzessiven Hyperkatabolismus weiter zu verstärken. Unter anderem durch eine Unterdrückung der Prolaktinsekre126

tion wirkt Dopamin immunsuppressiv. Organdysfunktionen und eine verzögerte Rekonvaleszenz können die Folgen sein [21]. 1

Indikation für Dopamin: Keine [22).

Adrenalin Adrenalin (HWZ ca. 2 min) ist der Prototyp der sympathomimetisch wirkenden Substanzen. Die kardiovaskulären Effekte beruhen auf einer dosisabhängigen direkten Stimulation der a- und ß-Rezeptoren. Adrenalin beschleunigt die Überleitung zwischen Sinusknoten und Vorhof und begünstigt die Reizbildung außerhalb des Sinusknoten (Ektopie). Wenn Adrenalin die Herzfrequenz innerhalb physiologischer Bereiche erhöht, verkürzt es die Systole mehr als die Diastole und führt so zu einem Anstieg der diastolischen Perfusion des Myokards. Obwohl Adrenalin den koronaren Blutfluss steigern kann, erhöht es den myokardialen VO2 , so dass es besonders beim kritisch kranken Patienten zu einem Missverhältnis zwischen DO2 und VO2 kommen kann. Adrenalin führt durch die Aktivierung von 8 2-Rezeptoren der Bronchialmuskulatur zur Bronchodilatation und verursacht selbst in einer niedrigen Dosierung von 0,03 µg/kg/min eine renale Vasokonstriktion. Andererseits kann Adrenalin bei Patienten mit erniedrigtem HZV den renalen Blutfluss durch Steigerung des HZV anheben. Durch gesteigerte Glukoneogenese in der Leber und dosisabhängige Inhibition der Insulinfreisetzung erhöht Adrenalin via 8 1-Rezeptoren die Plasmaspiegel von Glukose, Laktat und freien Fettsäuren. Adrenalin führt bei septischen Patienten zwar zu einem signifikanten Anstieg des MAP, begünstigt jedoch auch das Auftreten von Tachykardien, Extrasystolie und Vasokonstriktion im Splanchnikusgebiets. In der Sepsis ist Adrenalin nicht kausal mit einer Verschlechterung der Prognose der Patienten verbunden und kann als vasoaktive Substanz der zweiten Wahl eingesetzt werden [23]. Mit einer Bolusinjektion von 2 - 10 µg bei Erwachsenen erzielt man eine Erhöhung von Myokardkontraktilität, HZV, Blutdruck und Herzfrequenz für ca. 1 - 5 Minuten. Indikation: Adrenalin ist das Medikament der ersten Wahl bei der Anaphylaxie und während der kardiopulmonalen Reanimation. Auch beim schwierigen Weaning von der extrakorporalen Zirkulation oder beim septischen Schock kann Adrenalin indiziert sein.

Dobutamin Dobutamin (HWZ 2,4 min) ist ein synthetisches Katecholamin, das 8 1-, 82- und a 1-adrenerge Rezeptoren stimuliert. Die größte Affinität übt Dobutamin allerdings an den myokardialen 8 1-Rezeptoren aus. Eine langfristige Dobutarnin-lnfusion führt zu einer „Down-Regulation" 8 1-adrenerger Rezeptoren und zur Tachyphylaxie. Aufgrund der ß-Stimulation kann Dobutamin Tachykardien und Arrhythmien verursachen. Dobutarnin reduziert die Vor- und Nachlast effektiver als Doparnin. Im Gegensatz zu Doparnin kann Dobutamin die gastrale Mukosaperfusion sowie Nierenfunktion und Diurese, wahrscheinlich durch eine Erhöhung des HZV, verbessern. Indikation: Dobutarnin wird vorzugsweise bei Patienten mit vermindeter Linksherzfunktion, erniedrigtem HZV, erhöhten linksventrikulären Füllungsdrücken und peripherer Hypoperfusion (z. B. zum Steigern der renalen und gastrointestinalen Perfusion) eingesetzt.

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Vorsicht ist bei arterieller Hypotonie und Hypovolämie geboten, da der systemische Gefäßwiderstand unter Dobutarnininfusion potenziell sinken kann. Es mehren sich die Hinweise, dass die Verwendung von Dobutamin im kardiogenen Schock zwar das HZV verbessern kann, aufgrund einer schlechteren Sauerstoffbanlance und einer hohen Inzidenz von Arrythmien letztlich das Outcome der Patienten negativ beeinflusst [24]. Generell muss man Katecholamine im kardiogenen Schock wohl mit großer Zurückhaltung als ,,letzte Rettung, wenn nichts mehr geht" einsetzen. Merke: Dobutamin hat seine Indikation vor allem in der Therapie der peripheren Hypoperfusion im maldistributiven Schock.

Dopexamin Dopexamin ist das synthetische strukturelle Analogon von Dopamin mit 82-adrenerger und dopaminerger (DA 1 > D~) Aktivität. Es hat schwache ß 1- und keine a-adrenerge Aktivität. Dopexamin steigert das HZV, führt zu einem Abfall des peripheren Gefäßwiderstandes mit Anstieg des renalen und mesenterialen Blutflusses. Bei Patienten mit erniedrigtem HZV und Stauungsherzversagen steigert Dopexamin in einer Dosis von 0,5 - 1 µg/kg/min das HZV und die HF und führt zu einem korrespondierenden Abfall des diastolischen Drucks und des periphervaskulären Widerstandes. Da die Tachyphylaxie von Katecholaminen vorwiegend durch eine abgeschwächte ß 1-Wirkung charakterisiert ist und Dopexamin vorwiegend ß 2-Rezeptoren stimuliert, besitzt Dopexamin theoretische Vorteile gegenüber Dopamin. Indikation: Dopexamin wird vor allem in der Therapie des Rechtsherzversagens und der pulmonalen Hypertonie eingesetzt. Dabei führt Dopexamin zu einer besseren Entlastung des rechten Ventrikels als intravenös infundiertes Prostazyclin. Da Dopexamin als Monotherapeutikum zu Hypotension und Tachykardie führt, wird es bei septischen Patienten in der Regel mit einem Vasokonstriktor kombiniert. Die Hemmung der Hypophysenvorderlappenhormone, wie für Dopamin beschrieben, scheint für Dopexamin (aufgrund der geringeren D~-Wirkung) nicht im gleichen Ausmaß zuzutreffen.

Non-adrenerge Substanzen Phosphodiesterasehemmer Der positiv inotrope Wirkungsmechanismus erfolgt durch Hemmung der PDE m an der Zellmembran. Dadurch wird der Abbau von cAMP gehemmt, so dass erhöhte cAMPPlasmaspiegel die Folge sind. Dies resultiert in einer positiven lnotropie mit direkter venöser und arterieller Dilatation (Inodilatatoren: KontraktilitätT, Vorlast!, Nachlast!) [25]. Phosphodiesterasehemmer reduzieren die myokardiale Wandspannung und vermindern die Sauerstoffaufnahme trotz der Erhöhung der Myokardkontraktilität. Die intravenöse Applikation führt bei Patienten mit kongestivem Herzversagen zu einer Senkung des PAWP und zu einer Steigerung des HZV und verbessert außerdem die diastolische Relaxation des Herzens (positive Lusitropie). Unter Phosphodiesterasehemmern kommt es jedoch häufig zu Herzrhythmusstörungen.

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Dosierung: Amrinon (HWZ 2 - 3 h):

kontinuierlich 5 - 10 µg/kg/min (evtl. 0,75-1,5 mg/kg Bolus) Enoximon (HWZ 1 - 2 h): kontinuierlich 1,25 - 7,5 µg/kg/min (evtl. 0,25 -0,5 mg/kg Bolus) Milrinon (HWZ ca. 1 h): kontinuierlich 0,375 - 0,75 µg/kg/min (evtl. 25 - 50 µg/kg Bolus) Nebenwirkungen: Arterielle Hypotonie (cave: vorbestehende Hypovolämie!), Tachykardie, ventrikuläre und supraventrikuläre Rhythmusstörungen, Perikarditis, Übelkeit und Erbrechen, Leberfunktionsstörungen, Thrombozytopenie. Bei ausgeprägter Arterieller Hypotension ist zusätzlich zur Volumengabe evt. kurzfristig die Gabe eines a-Agonisten (z. B. Noradrenalin) erforderlich. Die Wirkdauer kann bei Niereninsuffizienz verlängert sein. Indikation: Kurzfristiger Einsatz bei Herzinsuffizienz mit peripherer Hypoperfusion mit und ohne Kongestion, vor allem wenn Diuretika und Vasodilatatoren ineffektiv sind. Phosphodiesterasehemmer sind aufgrund Inotropiesteigerung auch bei Patienten mit ß-Rezeptor-Downregulation wirksam. Ob ihre Verwendung, anders als die der Katecholamine, auch mit einem verschlechterten Outcome im kardiogenen Schock assoziiert ist, ist noch nicht hinreichend geklärt [26]. Deshalb ist Zurückhaltung bei der Indikationsstellung angebracht. Merke: Vorsicht beim Einsatz von Katecholaminen und Phosphodiesterasehemmem bei der myokardialen Insuffizienz.

Kalziumsensitizer Die Kalziumsensitizer (z.B. Levosimendan = Simdax,z) führen zu einer verstärkten Empfindlichkeit der kardialen Myofilamente gegenüber der sie umgebenden Ca2+-Ionen und damit zu einer Zunahme der myokardialen Kontraktilität. Die systolische Myokardfunktion wird ohne eine Steigerung des Energieverbrauchs verbessert [27]. Da im Unterschied zu den Katecholaminen keine erhöhten intrazellulären Ca2+-Spiegel auftreten, kommt es nicht zur diastolischen Dysfunktion. Die inotrope Wirkung wird durch eine Inhibition der PDE III verstärkt. Kalziumsensitizer vermitteln durch Inhibition ATP-sensitiver K+Kanäle eine generalisierte Vasodilatation und eine verminderte Kalziumsensitivität in den vaskulären glatten Muskelzellen; hierdurch sinken Pre- und Afterload. Durch die Ökonomisierung der Herzarbeit, eine verbesserte myokardiale Perfusion und eine Protektion der myokardialen Mitochondrien scheinen die Kalziumsetisizer antiischämische Effekte zu haben. Dosierung: Die Eliminationshalbwertszeit von Levosimendan beträgt etwa 1 Stunde, die seines aktiven Metaboliten OR-1896 jedoch 70 - 80 Stunden. Die Therapie wird häufig mit einem intravenösen Bolus von 6 - 24 µg/kg begonnen und dann mit einer kontinuierlichen Infusion von 0,05-0,2 µg/kg/min weitergeführt. Bei höheren Dosierungen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen (s.u.), ohne dabei zusätzliche positive Effekte zu vermitteln. Im Vergleich zu Katecholaminen wirkt Levosimendan relativ schwach positiv inotrop und muss ggf. mit anderen kardiovaskulär wirksamen Substanzen kombiniert werden. Die Kombination mit niedrig dosiertem Dobutamin kann die positive inotrope Wirkung potenzieren. Um eine übermäßige Vasodilatation zu therapieren, ist eine Kombination mit Noradrenalin sinnvoll [28].

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Unerwünschte Arzneimittelwirkungen: Relevante Nebenwirkungen einer Therapie mit Levosimendan, wie Blutdruckabfall und Tachykardien, sind durch die generalisierte Vasodilatation bedingt. Schwerwiegende Herzrhythmusstörungen wie ventrikuläre Extasystolen, ventrikuläre Tachykardien und Vorhofflimmern sind sehr selten. Weitere Nebenwirkungen bei einer chronischen Therapie sind Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. 1Indikation: ALCOS mit systolischer und diastolischer Dysfunktion.

Im Gegensatz zu den im klinischen Alltag weitaus gebräuchlicheren Katecholaminen konnte für Levosimendan im kardiogenen Schock ein Überlebensvorteil nachgewiesen werden [29;30]. Der hohe Preis der Substanz erklärt wahrscheinlich die geringe Verbreitung von Kalziumsensitizern in der täglichen Praxis. Da Levosimendan ein relativ schwaches Inotropikum ist, kann es die konventionelleren Medikamente whrscheinlich nicht ersetzen, sondern lediglich sinnvoll ergänzen. Erste Studienergebnisse weisen darauf hin, dass Levosimendan auch in der Therapie der septischen Kardiomyopathie vorteilhaft gegenüber Dobutamin sein könnte [31;32].

Vasopressin und Terlipressin Arginin-Vasopressin (AVP), auch als antidiuretisches Hormon (ADH) bekannt, ist ein Nonapeptid, das als Prohormon in den magnozellulären Kerngebieten des Nukleus supraopticus und Nukleus paraventricularis des Hypothalamus synthetisiert wird. An Neurophysine als Trägerproteine gebunden wird es über den Tractus hypothalamo-hypophysialis in den Hypophysenhinterlappen transportiert, wo es in Granula in den Axonendigungen gespeichert wird. Die Regulation der AVP-Freisetzung erfolgt rezeptorgebunden via osmotische und nicht-osmotische Stimuli, wie z. B. Erhöhung der Plasmaosmolalität, Hypovolärnie und arterielle Hypotension. Spezifische Vasopressinrezeptoren (V 1-Rezeptoren) sind in glatten Gefäßmuskelzellen lokalisiert; ihre Stimulation bewirkt eine Vasokonstriktion. V2-Rezeptoren befinden sich in den renalen Sammelrohren. Die Aktivierung von V2-Rezeptoren bewirkt den Einbau vorgefertigter Wasserkanäle (Aquaporin-2-Kanäle) in die luminale Sammelrohrmembran, wodurch eine Wasserrückresorption bewirkt wird [33]. In der multizentrischen „Vasopressin and Septic Shock Trial" (VASST) wurde der Einsatz von Vasopressin bei Patienten mit schwerer Sepsis prospektiv evaluiert. In dieser Untersuchung verbesserte AVP zwar nicht das Überleben des Gesamtkollektivs, war aber bei Patienten mit weniger stark ausgeprägter Schocksymptomatik und niedrigerem Noradrenalinbedarf mit einem Überlebensvorteil assoziiert [34]. Eine post hocAnalyse suggeriert, dass Patienten, die AVP erhalten, gleichzeitig mit niedrig dosierten Kortikosteroiden behandelt werden sollten, da dieser Therapieansatz (im Gegensatz zur AVP-Monotherapie) die Sterblichkeit vermindert [35]. Ebenso wurde berichtet, dass der Einsatz von AVP das Voranschreiten einer Nierendysfunktion bei Patienten mit erhöhtem Risiko, ein Nierenversagen zu entwickeln, verminderte [36]. Aus zahlreichen experimentellen und klinischen Untersuchungen geht hervor, dass die progrediente Sepsis mit einem relativen AVP-Mangel assoziiert ist und das kardiovaskuläre System hypersensibel gegenüber exogenem AVP sowie dessen synthetischen Analogon Terlipressin (Triglycyl-Lysin-Vasopressin; TP) reagiert. Bei septischen Patienten steigert die exogene Zufuhr von AVP und TP zuverlässig den peripheren Gefäßwiderstand und infolgedessen den Blutdruck. Dies ist gerade dann von Bedeutung, wenn die Hypotension, wie es in der Sepsis häufig der Fall ist, mit einer verminderten Ansprechbarkeit der Gefäße gegenüber Katecholaminen einhergeht. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass AVP bei autonomer Insuffizienz möglicherweise das HZV und das DO2 senkt. Dadurch besteht die Gefahr der Minderversorgung von Organsystemen, was gerade in der Sepsis, die per se mit einem erhöhten metabolischen Umsatz assoziiert ist, kritisch zu 130

bewerten ist. Ferner konnte in tierexperimentellen Untersuchungen nachgewiesen werden, dass hohe, vasoaktive AVP-Dosen zwar den systemischen Blutdruck erhöhen, jedoch den mikrovaskulären Blutfluss stark kompromittieren. Klinische Studien weisen darauf hin, dass AVP nicht als Ersatz für konventionelle Vasopressoren eingesetzt werden. AVP kann jedoch in niedriger Dosierung (0,01 - 0,067 U/min) im Sinne einer Hormonersatztherapie als Ergänzung dienen [37]. Tierexperimentelle Untersuchungen lassen vermuten, dass die Kombination mit inotrop wirksamen Substanzen vorteilhaft sein könnte [38]. In einer aktuellen klinischen Pilotstudie konnte gezeigt werden, dass die „first line-Therapie" mit niedrig dosiertem AVP und TP die Hämodynamik in Patienten mit septischem Schock und adäquater Flüssigkeitstherapie zuverlässig stabilisiert. Im Vergleich zur Standardtherapie mit Noradrenalin war insbesondere der Einsatz von TP mit einer besseren hämodynamischen Stabilität und einer tendenziell verminderten Nierendysfunktion assoziiert [39]. Dosierung: Aufgrund der kurzen HWZ von 10 min (bis 35 min) wird AVP in der Regel kontinuierlich in einer konstanten Infusionsgeschwindigkeit von 0,01 - 0,04 U/min (,,Hormonersatztherapie") infundiert. TP kennzeichnet sich durch eine HWZ von ca. 6 Stunden und wird deshalb meistens intermittierend als Bolus ( 1 mg) appliziert, kann jedoch auch kontinuierlich verabreicht werden.

Alternativen für die Zukunft Stickstoffmonoxid (NO) spielt eine entscheidende Rolle in der Regulation des mikrovaskulären Blutflusses. In der Sepsis wird es vermehrt aus Arginin durch die induzierbare Stickstoffmonoxidsyntethase (iNOS) gebildet. Hohe NO-Konzentrationen führen zur Vasoplegie und negativen Inotropie. Obwohl der arterielle Blutdruck nach Applikation von NO-Inhibitom effektiv gesteigert wird, führte L-Arginin-Methyl-Ester (L-NAME) in einer aktuellen Studie bei Patienten im septischen Schock zu einem verschlechterten Outcome [40]. Metaraminol wirkt auf vaskuläre Adrenorezeptoren direkt sympathomimetisch, hat aber auch indirekte sympatomimetische Eigenschaften. Es ist ähnlich effektiv wie Noradrenalin. Das Neurohormon Endothelin ist der stärkste Vasokonstriktor der zurzeit bekannt ist. Außerdem wirkt Endothelin proarrythmogen, stimuliert die Freisetzung von Zytokinen, erhöht die vaskuläre Permeabilität und ist ein Mediator einer ischämischen renalen Schädigung. Patienten im kardiogenen Schock haben erhöhte Spiegel dieses Hormons. Tezosentan, ein Endothelin Rezeptorantagonist, führt zur erhöhten myokardialen Kontraktilität und zur verminderten Inzidenz von Arrythmien. Ob die Substanzen positiv für das Outcome der Patienten sind, wird zur Zeit in klinischen Studien untersucht [41; 42]. Vasodilatatoren, vor allem Nitrate und Natriumnitropussid, werden zur Vasodilatation und Nachlastsenkung im kardiogenen Schock eingesetzt. Nesiritide, ein Analogon des Brain Natriuretic Peptide (BNP), ist hier ähnlich effektiv. Die Verwendung von Nesiritide ist sicher, ob sein relativ hoher Preis durch ein verbessertes Outcome gerechtfertigt, ist Gegenstand aktueller Kontroversen [43]. Der Einsatz von Hämoglobinderivaten könnte im distributiven Schock sinnvoll sein, da durch einen NO-bindenden Nebeneffekt die Hämodynamik stabilisiert werden kann. Diese vielversprechende Therapieoption wird gegenwärtig klinisch evaluiert.

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Die Wahl des „geeigneten" Vasopressors Noch bis vor wenigen Jahren existierte das Dogma, dass der klinische Einsatz von Noradrenalin als Vasopressor aufgrund negativer Auswirkungen auf die Gewebedurchblutung um jeden Preis zu vermeiden sei. Bei normovolämen Patienten können wir uns von diesem Dogma verabschieden, da Noradrenalin nach aggressiver Volumentherapie nicht zur Verschlechterung einer Organperfusion oder zur Beeinträchtigung von Organfunktionen führt [44]. Noradrenalin ist effektiver und sein Effekt besser vorherzusagen als die Wirkung von Dopamin [45]. Dopamin führt in der Sepsis nicht zu einer verbesserten Organperfusion; Noradrenalin, ggf. in Kombination mit Dobutamin erscheint hier effektiver zu sein [46]. Wahrscheinlich ist das umfassende Profil unerwünschter Wirkungen (endokrine Störungen, Immunsuppression [471) dafür verantwortlich, dass der Gebrauch von Dopamin gegenüber anderen Vasopressoren eine erhöhte Mortalität verursacht [48;49]. Obwohl aktuelle US-amerikanische Guidelines immer noch einen Platz für Dopamin in der Vasopressortherapie vorsehen, jedoch wirkungsvolle „bessere" Alternativen verfügbar sind, raten die Autoren vor dem Hintergrund aktueller Literatur von seinem Einsatz dringend ab. Merke: Dopamin ist nicht renoprotektiv! Sein Einsatz verhindert kein Nierenversagen oder eine Hypoperfusion eines anderen Organsystems, sondern führt zu mehr Herzrhythmusstörungen im Vergleich zu Noradrenalin. Da Adrenalin keine eindeutigen Vorteile der Kombinationstherapie Noradrenalin/Dobutamin bietet, aber eventuell eine Organperfusion vermindert und den myokardialen Sauerstoffverbrauch erhöht, sollte die Anwendung nur bei Therapierefraktärität gegenüber anderen Vasokonstriktoren erfolgen [23; 50]. Vasopressin kann in Kombination mit Dobutamin und Noradrenalin in der Sepsis eingesetzt werden, wenn durch Noradrenalin in hoher Dosis keine ausreichende Stabilisierung der Hämodynamik erreicht werden kann. Merke: Nach Sicherstellen einer Normovolämie ist Noradrenalin der Vasopressor der Wahl zur Stabilisierung des systemischen Blutdrucks bei septischen Patienten. Die Kombination von Noradrenalin mit Dobutamin ist sinnvoll, um eine simultane Steigerung von MAP und HZV zu bewirken.

Kortikosteroide Da es im Rahmen einer progredienten Sepsis zur relativen Nebennierenrindeninsuffizienz mit konsekutiver Verschlechterung der hämodynamischen Insuffizienz kommen kann, erscheint es rational, Kortikosteroide zu verabreichen, um eine hormonale Homöostase zu re-etablieren. Da die Kortisolbestimmung im Plasma und somit auch ein ACTH-Test bei kritisch kranken Patienten zur Zeit nicht ausreichend valide durchgeführt werden kann, können weder Kortisolspiegel noch ACTH-Test als diagnostisches Hilfsmittel zur Diagnosesicherung der (relativen) Nebennierenrinden-Insuffizienz bei dieser Patientengruppe empfohlen werden. Während die hochdosierte Gabe von Methylprednisolon von 4 x täglich 30 mg/kg mit keinem Überlebensvorteil im septischen Schock assoziiert ist und Komplikationen wie Wundheilungsstörungen und Neuropathien vermehrt auftreten (hochdosierte Kortikoidtherapie ist obsolet!), erscheint niedrig dosiertes Hydrokortison von potenziellem therapeutischen Nutzen zu sein. In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass durch die Gabe von Hydrokortison (240 mg über 7 Tage) bei Patienten im septischen Schock die Katecholamininfusion bei stabilisiertem Blutdruck reduziert werden kann. Ob die Patienten trotz dieses vom Intensivmediziner gerne gesehenen unmittelbaren Effektes im Sinne eines Überlebensvorteils profitieren, ist jedoch fraglich. Eine

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2008 publizierte multizentrische Studie [51) zeigte, dass Patienten, die Hydrokortison im septischen Schock erhielten, weder im Sinne eines Letalitätsvorteils, noch eines Morbiditätsvorteils profitieren, auch wenn das Weaning der Vasopressoren schneller erfolgte. Die aktuellen Leitlinien zur Therapie des septischen Schocks empfehlen deshalb einen zurückhaltenden Einsatz von Hydrokortison [23). Da Kortikoide bei Patienten mit ausreichender Nebennierenfunktion möglicherweise mehr Schaden als Nutzen bringen können [52) und hohe Plasmakortisolspiegel mit schlechteren Überlebenschancen einher gehen, sollte die generelle, undifferenzierte Kortikoidgabe bei hämodynamisch instabilen Patienten unterbleiben. Wenn Hydrokortison eingesetzt wird, so sollte es über mindestens 7 Tage gegeben werden, um die Wahrscheinlichkeit eines Wiederauftretens eines septischen Schocks zu verringern. Merke: Auch wenn der Katecholaminbedarf nach Hydrokortisongabe sinkt und sich der Blutdruck stabilisiert, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Kortikoide ihre eigenen Nebenwirkungen haben! Ob Patienten im septischen Schock von Hydrokortison im Sinne eines Überlebensvorteils profitieren, ist derzeit ungewiss und Gegenstand aktueller Untersuchungen.

Fazit für die Praxis Für die effektive Kreislauftherapie eines Patienten mit arterieller Hypotonie ist ein zielgerichtetes, schnelles Vorgehen wichtig, das sich an Variablen der systemischen und regionalen Perfusion orientiert. Da die Therapie mit Inotropika und vasoaktiven Substanzen lediglich symptomatisch ist und das Krankheitsbild potenziell negativ beeinflussen kann (cave: myokardialer Sauerstoffverbrauch), muss immer versucht werden, die Ursache der Erkrankungen zu behandeln und die Medikamente nur zum Überbrücken eines kritischen Zustandes zu applizieren. Ist eine myokardiale Insuffizienz Grund einer hämodynamischen Entgleisung, so kann mit Inotropika sowie Vor- und Nachlastsenkern therapiert werden. Levosimendan hat als einziges lnotropikum positive Effekte auf die Krankheitsprognose und erscheint gegenüber klassischen Katecholaminen und Inodilatatoren Voreile zu bieten. Im maldisributiven Schock stellt - nach suffizienter Volumentherapie - Noradrenalin den Vasopressor der ersten Wahl dar. Bei vermindertem HZV bzw. erniedrigter Scv02 ist die Gabe von Dobutamin, ggf. in Kombination mit Noradrenalin, indiziert. Dopamin hat als „Renoprotektivum" oder Vasopressor keine Indikation in der intensivmedizinischen Therapie. Die Indikation zur Applikation von Hydrokortison zur hämodynamischen Stabilisierung sollte sehr zurückhaltend gestellt werden. Der Einsatz von niedrig dosierten Vasopressinanaloga erscheint sinnvoll, wenn sich die Hämodynamik nicht durch konventionelle Vasopressoren stabilisieren lässt. Wenn AVP eingesetzte wird, sollte zeitgleich niedrig dosiertes Hydrokortison verabreicht werden.

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135

Aktueller Stand der Sepsis-Leitlinien G. MARX UND F. M. BRUNKHORST

Vorbemerkung In der Sepsistherapie wird zwischen den kausalen antirnikrobiellen bzw. operativ-interventionellen Maßnahmen zur Herdsanierung, sowie den elementaren supportiven (organbezogenen) intensivmedizinischen Standardmaßnahmen und adjunktiven (potentiell zusätzlichen) therapeutischen Ansätzen unterschieden. Auf die wichtigsten dieser evidenzbasierten supportiven und adjunktiven Therapiemaßnahmen wird im folgenden Beitrag eingegangen. Eine ausführliche Bewertung erfolgt in der von der Deutschen SepsisGesellschaft (DSG) initiierten 1. Revision der S2K-Leitlinien zur „Diagnose und Therapie der Sepsis", welche im 2. Quartal 2010 erscheinen werden. Die Autoren der Revision sind: K. Reinhart, F.M. Brunkhorst, H.-G. Bone, J. Bardutzky, C.-E. Dempfle, ff.Forst, P. Gastmeier, H. Gerlach, M. Gründling, S. John, W. Kern, G. Kreymann, W. Krüger, P. Kujath, G. Marggraf, J. Martin, K. Mayer, A. Meier-Hellmann, M. Oppert, C. Putensen, M. Quintel, M. Ragaller, R. Rossaint, H. Seifert, C. Spies, F. Stüber, N. Weiler, A. Weimann, K. Werdan und T. Welte. In diesem Artikel wird folgendes Graduierungssystem verwendet. Empfehlungsgrade A Mindestens 2 Studien mit Evidenzgrad I B Eine Studie mit Evidenzgrad I C Nur Studien mit Evidenzgrad II D Mindestens 2 Studien mit Evidenzgrad III E Level IV oder Evidenzgrad V

Evidenzgrade 1a Systematische Übersicht über randomisierte kontrollierte Studien (RCT) Ib Eine RCT (mit engem Konfidenzintervall)

1c Alle-oder-Keiner-Prinzip lla Systematische Übersicht gut geplanter Kohortenstudien llb Eine gut geplante Kohortenstudie oder eine RCT minderer Qualität llc Outcomestudien, ökologische Studien llla Systematische Übersicht über Fallkontrollstudien lllb Eine Fallkontrollstudie IV Fallserien oder Kohorten- bzw. Fallkontrollstudien minderer Qualität V Expertenmeinung ohne explizite Bewertung der Evidenz oder basierend auf physiologischen Modellen/ Laborforschung

Diagnose der Sepsis Das bisherige Scheitern neuer Therapieansätze zur Behandlung der schweren Sepsis und des septischen Schocks ist eng mit den Defiziten einer frühzeitigen und differenzierten Diagnosemöglichkeit verbunden. Der Zeitpunkt der Diagnose und damit die frühzeitige Initiierung therapeutischer Massnahmen ist jedoch die entscheidende Determinante der hohen Letalität (1 ). Sowohl im prähospitalen als auch im intrahospitalen Verlauf der Erkrankung vergehen häufig mehrere Stunden bis Tage bis zur Diagnose und adäquaten kausalen, supportiven und adjunktiven Behandlung auf der Intensivstation. Daher bestehen Bemühungen, die Sepsisdiagnose weiterzuentwickeln. So wurde in Analogie zu der TMN-Klassifikation maligner Tumoren ein Klassifikationssystem für die Sepsis vorgeschlagen, welches Patienten auf der Grundlage von Prädisposition ("P"), Infektion ("I"), inflammatorischer Reaktion ("R") und Organdysfunktion ("O") nach ihrem Risiko strati137

fiziert (Tabelle 1). Während die innerhalb dieses Konzeptes vorgeschlagenen meisten genomischen (z.B. SNP's), mikrobiellen (PCR-Mikrobiologie) und multiplen molekularen und biochemischen Parameter zur Risikostratifizierung noch Gegenstand der klinischen Forschung sind, sind einige der vorgeschlagenen Marker bereits in klinischen Studien untersucht bzw. in die klinische Routine implementiert (2). Gegenwart

Zukunft

Vorerkrankungen

Genetische Polymorphismen

Kulturen

Mikrobielle Produkte: Toxine, bakterielle DNA

Response

SIRS,CRP

Biomarker: 11-6, PCT, ...

Organdysfunktion

Scores: SOFA, MODS, ...

Apoptose, .zellstress, Hypoxie

Prädisposition Infektion

Tabelle 1: PIRO-Konzept der 2001 SCCM/ESICM/ACCP/ATS/SIS International Sepsis Definitions Conference. Mod. nach (2).

Blutkulturen Die Bakteriämie galt lange als conditio sine qua non der Sepsisdiagnose. Blutkulturen sind jedoch in nur maximal 30% positiv (3), die Rate beträgt im klinischen Alltag - ausserhalb von kontrollierten Studienbedingungen - lediglich knapp 10% (4). Der mikrobiologische Nachweis einer Infektion ist gerade bei antibiotisch vorbehandelten Patienten problematisch. Positive Befunde können einer Kolonisation oder Kontamination entsprechen, welche keine klinische Relevanz haben. In bis zu 35% kann trotz Anwesenheit eines klinisch offensichtlichen Fokus und einer nach klinischen Kriterien wahrscheinlichen Sepsis diese mikrobiologisch nicht gesichert werden (5). Eine Erregeridentifizierung mittels Methoden der Polymerase-Kettenreaktion (PCR), wie Multiplex-PCR (Identifizierung einer begrenzten Anzahl von Erregern) und BreitbandPCR (Identifizierung aller Erreger) ist eine vielversprechende Alternative und wird gegenwärtig in klinischen Studien untersucht. Empfehlungen für die klinische Praxis können aus den bisherigen Ergebnissen jedoch noch nicht abgeleitet werden, da viele Fragen zur Sensitivität und Spezifität, zeitnahen Verfügbarkeit, Resistenztestung und Kosten bisher offen sind (6). Nach wie vor gilt bisher daher immer noch, dass bei klinischem Verdacht auf eine Sepsis bzw. Vorliegen eines oder mehrerer der folgenden Kriterien: Fieber, Schüttelfrost, Hypothermie, Leukozytose, Linksverschiebung im Differentialblutbild bzw. Neutropenie Blutkulturen zum Nachweis der Infektion und der Erregerresistenz (Antibiogramm) abzunehmen sind. Blutkulturen müssen nach adäquater Hautdesinfektion über eine periphere Venenpunktion erfolgen. Aufgrund des zweifach höheren Kontaminationsrisikos sollten Blutkulturen nur in Ausnahmefällen über einen zentralen Venenkatheter bzw. einen arteriellen Zugang abgenommen werden. Für die Befüllung der Kulturflasche (mindestens 10 ml) muss eine sterile Nadel benutzt werden. Es sollten 2 bis 3 Kulturen (jeweils aerobes und anaerobes Blutkulturpärchen) entnommen werden. Blutkulturen müssen schnellstmöglich vor Einleitung einer antimikrobiellen Therapie abgenommen werden (7). --+ Empfehlung Grad B Sepsismarker Ein wichtiger Risikofaktor für das Entstehen von infektions-assoziierten Organdysfunktionen ist neben einer inadäquaten Gewebeperfusion oder Gewebeoxygenierung die systemische Inflammation. Diese bewirkt zahlreiche Veränderungen im zellulären Stoff138

wechsel immunkompetenter und parenchymatöser Zellen (Induktion von pro- und antiinflammatorischen Mediatoren (IL-lß, IL-2, IL-6, IL-8, TNF-a; IL-10, G-CSF) und Metaboliten (NO, Neopterin, Bildung von oxidativen Radikalen (ROS), Änderung der immunologischen Reaktivität (HLA-DR), Synthese von Proteinen und Funktionsproteinen (Procalcitonin, CRP, andere akute Phase-Proteine), Induktion von Apoptose). Parameter, die mit der Stärke der Inflammationsreaktion korrelieren, und heute in der klinischen Diagnostik eingesetzt werden, sind im wesentlichen Interleukin 6 (Interleukin-8), Procalcitonin, und - mit Einschränkungen - CRP. Die Qualität vieler dieser Studien ist jedoch eingeschränkt: Fallberichten, bzw. Kohortenstudien mit kleinen Fallzahlen erlauben keine klaren Schlussfolgerungen. Charakteristisch ist auch, daß unterschiedliche Sepsisdefinitionen herangezogen werden und die Assoziation der Parameter mit dem täglichen klinischen Verlauf nicht erfolgt, was die Widersprüche einiger Studienergebnis· se erklärt. Procalcitonin Procalcitonin (PCT) ist das 13kDa Prohormon von Calcitonin und wird unter normalen Bedingungen von den C-Zellen der Schilddrüse gebildet. Lediglich das mature Hormon Calcitonin wird nach endopeptidatischer Spaltung in die Blutbahn sezerniert. PCT ist im Plasma weit unter 7 Tage

6.01

Antibiotikavortherapie mit Antibiotika mit schmalem Spektrum

13.46

Vorbehandlung mit Breitbandantibiotika

4.12

Tabelle 3: Risikofaktoren für den Erwerb multiresistenter Erreger (modifiziert nach: 18)

Bei Vorliegen einer schweren Sepsis oder eines septischen Schocks muss breit und hochdosiert behandelt werden (bei Nieren- oder Leberinsuffizienz sind die genannten Dosen entsprechend anzupassen). Dazu stehen grundsätzlich drei Substanzgruppen zur Verfügung (Tabelle 4). Unter Berücksichtigung lokaler Resistenzmuster sollte ein Pseudomonas-wirksames Antibiotikum zur Anwendung kommen (7): ►

Piperacillin (3x4g)+/- Beta-Laktamaseinhibitor



ein pseudomonaswirksames Cephalosporin (Ceftazidim oder Cefepime, je 3-4x2 g)



ein pseudomoaswirksames Carbapenem (Imipenem oder Meropenem, je 3-4xl g)

-+

Empfehlung Grad E

Tabelle 4: geeignete Antibiotika zur kalkulierten Initialtherapie der schweren Sepsis

Die Pseudomonas wirksamen Fluorchinolone (Ciprofloxacin 3x400 mg oder Levofloxacin 2x500 mg) werden aufgrund der Resistenzentwicklung vor allem im gram negativen Bereich nicht mehr als empirische Initialtherapie empfohlen. Zur gezielten Therapie bei nachgewiesener Sensibilität des Erregers sind sie jedoch nach wie vor gut geeignet. Fluorchinolone sollten aufgrund der steigenden Resistenzlage bei Enterobacteriacae und Pseudomonas als Monotherapie nicht verwendet werden (7). -+ Empfehlung Grad E Intraabdominelle Sepsis Bei intraabdomineller Sepsis, bei der grundsätzlich auch anaerobe Erreger und bei längerem Intensivaufenthalt auch Enterokokken eine Rolle spielen können, decken Carbapeneme und die Piperacillin/Inhibitorkombination das gesamte Spektrum ab. Cephalosporine und Fluorchinolone sind weder Anaerobier- noch Enterokokkenwirksam, sie sollten zumindest mit Metronidazol kombiniert werden. Bei den genannten Cephalosporinen muss darauf geachtet werden, dass Ceftazidim und Cefepim gram negativ gleich effektiv sind, Ceftazidim im gram positiven Bereich jedoch deutlich unterlegen ist (19) Pneumogene Sepsis Bei pneumonischer Sepsis spielen weder Anaerobier noch Enterokokken eine wesentliche Rolle, alle vier genannten Substanzen können als Monotherapie zum Einsatz kommen. Bei ambulant erworbenen Infektionen können jedoch atypische Erreger wie Mykoplasmen und vor allem Legionellen eine Rolle spielen, Betalaktame müssen deshalb mit einem Makrolidantibiotikum kombiniert werden, wodurch zudem die Pneumokokkenwirksarnkeit der Betalaktame verbessert wird (20)

Bei Sepsis infolge einer ambulant erworbenen Pneumonie sollte eine Kombination aus Betalaktam-Antibiotika und Makrolid verwendet werden (7). -+ Empfehlung Grad B

143

Urogenitale Sepsis Bei Urogenitalsepsis sind grundsätzlich alle genannten Antibiotika einsetzbar. Substanzen, die bereits in einer vorherigen Therapie innerhalb der letzten Wochen benutzt wurden, sind zu meiden. Dies gilt insbesondere für Auorchinolone. Mono- versus Kombinationstherapie Die Frage, inwieweit die in allen Leitlinien empfohlene Kombinationstherapie von Betalaktamen und Aminoglykosiden einer Monotherapie überlegen ist, ist umstritten. Beide Substanzgruppen haben einen synergistischen Effekt, von einer Kombinationstherapie hat man sich eine Verringerung des Selektionsdrucks und damit eine niedrigere Resistenzrate versprochen. Zwei Metaanalysen (21, 22) zur gram negativen Sepsis konnten jedoch keinen Überlebensvorteil für die kombiniert behandelten Patienten nachweisen. Ganz im Gegenteil erhöhten die Aminoglykoside die Komplikationsrate (akutes Nierenversagen) signifikant. Allerdings reichen die Daten nicht aus, um eine Monotherapie mit Betalaktamen bei Pseudomonas - oder Acinetobacterinfektionen uneingeschränkt empfehlen zu können. Beide Metaanalysen beruhen jedoch ausschließlich auf Studien, in denen die Aminoglykoside - wie früher üblich - unterdosiert und dreimal täglich eingesetzt wurden. Heute gilt die einmal tägliche Gabe (5-7 (-10] mg/kg Körpergewicht für Gentamycin und Tobramycin, 25-30 mg/kg KG für Arni.kacin) als Standarddosierung, weil sie bei gleicher Effektivität nebenwirkungsärmer ist als die dreimalige Gabe. Aufgrund der Nebenwirkungsproblematik sollten die Aminoglykosidtherapie nach 3-5 Tagen beendet werden (Ausnahme: Sepsis bei Endokarditis). Viele Zentren bevorzugen aufgrund mangelnder Alternativen eine solche Kombinationsmöglichkeit. Über die Kombination von Betalaktamen und Auorchinolonen liegen erste Ergebnisse vor. In einer kürzlichen multizentrischen, randomisierten Studie zum Stellenwert einer antibiotischen Monotherapie mit Meropenem versus einer Kombinationstherapie mit Meropenem und Ciprofloxacin bei Patienten mit Ventilator-assoziierter Pneumonie, konnte kein Vorteil der Kombinationstherapie aufgezeigt werden (23). Dieses könnte jedoch auf die bei Ciprofloxacin ausgeprägte Resistenzsituation und die Schwäche im gram positiven Bereich zurückzuführen sein. SepNet führt seit November 2007 eine randomisierte, kontrollierte Studie bei 600 Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock durch, um die Effektivität einer Kombinationstherapie bestehend aus Meropenem und Moxifloxacin gegenüber einer Monotherapie mit Meropenem zu überprüfen (24). MRSA In den USA wird in der empirischen Initialtherapie von Patienten mit Sepsis eine MRSA wirksame Kombinationstherapie mit Glykopeptiden empfohlen. Für Deutschland kann dieses gegenwärtig nur empfohlen werden, wenn die Wahrscheinlichkeit einer MRSA Infektion aufgrund der epidemiologischen Situation (hohe Prävalenz an MRSA auf dieser Station, räumliche Nähe zu MRSA infizierten Patienten, bekannte Kolonisation mit MRSA) einer Intensivstation sehr hoch ist. Hauptproblem ist, dass man zwar häufig MRSA (vor allem im Atemwegsmaterial) nachweist, die Kolonisierung mit diesem Keim jedoch nur bedingt prädi.ktiv für eine septische Infektion mit diesem Erreger ist. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass eine Monotherapie mit Glykopeptiden bei allen Gewebsinfektionen (schwere Haut- und Weichteilinfektion, Osteomyelitis) nur eingeschränkt wirksam ist, da Glykopeptide aufgrund ihrer Molekülgröße schlecht gewebspenetrabel sind und die Erreger-Erradi.kation aufgrund der langsamen Bakterizidie unzureichend ist.

Bei dringendem Verdacht auf MRSA-lnfektion sollte eine MRSA-wirksame Therapie (Glykopeptid-Monotherapie oder in Kombination mit Rifampicin, Fusidinsäure oder Fosfomycin - oder Oxazolidinon) eingeleitet werden (7). - Empfehlung Grad E 144

Supportive Therapie I : Kreislauftherapie Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock weisen ein absolutes bzw. relatives intravasales Volumendefizit auf. Ursächlich hierfür sind eine Umverteilung des zirkulierenden Blutvolumens durch venöses Pooling sowie ein Verlust von intravasaler Flüssigkeit durch eine erhöhte Kapillarpermeabilität. Die früher gebräuchliche Unterscheidung eines hypo- bzw. hyperdynamen Schocks ist heute nicht mehr üblich. Ersterer ist Ausdruck eines intravasalen Volumenmangels und kann durch adäquate Volumensubstitution vermieden werden. Eine Ausnahme stellen Patienten dar, die aufgrund einer primär eingeschränkten myokardialen Funktion - trotz ausreichendem Flüssigkeitsangebot kompensatorisch nicht in der Lage sind, einen hyperdynamen Kreislauf zu entwickeln. Die pathophysiologischen Veränderungen sind in erster Linie durch eine eingeschränkte myokardiale Pumpleistung und einen erniedrigten peripheren Gefäßwiderstand gekennzeichnet. Sie stehen einer gesteigerten Anforderung an das kardiozirkulatorische System entgegen, denn aufgrund der metabolischen Veränderungen im Rahmen der Sepsis muss ein gesteigerter Substratbedarf gedeckt werden. Der Erniedrigung des peripheren Gefäßwiderstands kann in gewissen Grenzen durch eine kompensatorische Steigerung des Herzminutenvolumens Rechnung getragen werden. Eine ausreichende Kompensation (adäquate Gewebeperfusion und Oxygenierung) wird in der Regel jedoch nicht erreicht. Prinzipielle hämodynamische Ziele Ziel der hämodynamischen Stabilisierung ist das Erreichen eines adäquaten zellulären Sauerstoffangebots unmittelbar nach Diagnosestellung der schweren Sepsis bzw. des septischen Schocks. Der Stellenwert einer frühen Kreislauftherapie konnte eindrucksvoll von Rivers et al. belegt werden (25): Patienten, bei denen in den ersten 6 h nach Beginn der schweren Sepsis bzw. des septischen Schocks mittels eines einfachen Therapiealgorithmus eine zentralvenöse O 2-Sättigung (ScvO2) >70% angestrebt wurde, hatten im Vergleich zu Patienten, bei denen dieser Parameter nicht erhoben wurde, eine deutlich höhere Überlebensrate. Maßnahmen zur initialen Stabilisierung der Hämodynamik Der in der Studie von Rivers et al. angewandte Algorithmus beinhaltet alle Maßnahmen, die eine Erhöhung des O 2-Angebots und damit eine Verbesserung des nutritiven Blutflusses an die peripheren Organe bewirken: ► ►

Volumentherapie zur Verbesserung der myokardialen Vorlast und damit Erhöhung des Herzzeitvolumens (HZV), Verabreichung von positiv inotropen Substanzen (Dobutamin) zur Erhöhung des

HZV, ► ►

Transfusion von Erythrozyten zur Erhöhung der O2-Transportkapazität und Verabreichung von Vasopressoren zur Verbesserung des Perfusionsdrucks.

Stellenwert der einzelnen Interventionen In der Rivers-Studie wurden die genannten Interventionen entlang eines vorgegebenen Algorithmus mit dem Ziel, eine ScvO2>70% zu erreichen, angewandt. Die Schlussfolgerung aus dieser Studie kann deshalb auch nur sein, dass das dieses Bündel von Interventionen, Interventionen, welche die ScvO2 nicht berücksichtigen, überlegen ist. Über den Stellenwert der einzelnen Maßnahmen des Bündels kann jedoch keine Aussage gemacht werden.

145

Hämodynamische Zielkriterien und hämodynamisches Monitoring Die hämodynamischen Zielparameter, die in der Kontrollgruppe der Rivers-Studie verwendet wurden (ZVD 8-12 mmHg, MAP >65 mmHg, Diurese >0,5 ml/kg/h), werden auch in den Empfehlungen der „Surviving Sepsis Campaign" benannt (26). Zur frühen hämodynamischen Stabilisierung wird ein Bündel von folgenden hämodynamischen Zielkriterien empfohlen: - ZVD > 8 bzw.> 12 mmHg unter mechanischer Beatmung - MAP > 65 mmHg - Diurese > 0,5ml/kg/Std - zentralvenöse Sauerstoffsättigung (ScvO2) > 70% - Laktat < 1,5 mmoVl bzw. Abfall des Laktats -+ Empfehlung Grad C* *Siehe Referenz (27)

Allerdings wurden diese Zielparameter in beiden Interventionsgruppen der Studie in gleicher Weise angewandt. Insbesondere ist die Begrenzung auf einen oberen Zielwert für den ZVD problematisch, da dieses Vorgehen bei Patienten mit erhöhten intrathorakalen oder -abdominellen Drücken zu erheblichen Fehleinschätzungen des Volumenstatus führen kann. Zur Einschätzung der myokardialen Vorlast sind volumetrische Parameter (z. B. intrathorakales Blutvolumen oder enddiastolisches Volumen) den klassischen Füllungsdrücken überlegen. Ob ein erweitertes hämodynamisches Monitoring grundsätzlich notwendig ist, ist unklar. Am besten untersucht ist derzeit die Frage, ob ein hämodynamisches Monitoring mittels eines Pulmonalarterienkatheters sinnvoll ist. Eine Metaanalyse, die insgesamt 11 Studien (davon 3 an Patienten mit Sepsis oder ARDS) berücksichtigte, konnte keinen Vorteil bezüglich einer derartigen Maßnahme aufzeigen (28). Das prinzipielle Anstreben eines sehr hohen (supranormalen) O 2-Angebots mittels des Einsatzes hochdosierter Katecholamine kann nicht empfohlen werden (29). Eine Erhöhung des O2-Angebots sollte individuell entschieden werden und ist immer dann gerechtfertigt, wenn Zeichen einer peripheren Minderversorgung bestehen (ScvO 2 9,0 µg/dl hat keine prognostische Bedeutung. Die Inter-Assay-Varianz der Kortisolbestimmungen variiert erheblich. Biologisch aktiv ist lediglich das freie Kortisol (10% des Gesamt-Kortisols). Die verfügbaren Assays messen jedoch das an Globulin und Albumin gebundene Kortisol, wodurch bei hypalbuminämischen Patienten falsch niedrige Kortisolkonzentrationen gemessen werden können. Hydrokortison in einer Dosierung von 200 - 300 mg/Tag kann als Bolus 3-4 x täglich . oder als Dauerinfusion verabreicht werden, wobei eine kontinuierliche Infusion bevorzugt werden sollte (z.B. Vermeidung von Hyperglykämien). Nach Einstellung der Hydrokortison-Behandlung wurden hämodynamische und immunologische rebound-Phänomene beschrieben. Eine ausschleichende Beendigung der Therapie nach klinischem Ermessen wird daher empfohlen. Q Intensivierte Insulintherapie Die bisher publizierte Datenlage zum Stellenwert einer intensivierten Insulintherapie (IIT) beim nicht-diabetischen Intensivpatienten mit dem Ziel, eine Glukosekonzentration . auf normoglykämischem Niveau (80-110 mg/dl bzw. 4,4-6, 1 mmol/1) zu etablieren, werfen zahlreiche Fragen auf. In einer Ende August 2008 publizierten Metaanalyse (43), in der die Ergebnisse von 29 randomisierten Studien mit insgesamt 8432 eingeschlossenen Patienten analysiert wurden, zeigte sich kein Unterschied in der Krankenhaussterblichkeit zwischen Patienten, welche mit oder ohne eine „tight glycemic control" (TGC), d.h. mit einer IIT (Zielwerte 80-110 mg/dl) oder einer moderaten Kontrolle der Hyperglykämie (Zielwerte 6,1 mmol/1]) wird bei Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock nicht empfohlen (33). Bei erhöhten Blutzuckerwerten sollte daher zunächst die parenteral zugeführte Glukosemenge evtl. reduziert und die Indikation einer evtl. bestehenden Medikation mit Glukokortikosteroiden überprüft werden. Bei Patienten mit bereits manifester schwerer Sepsis bzw. septischen Schock, bei älteren Patienten (>60 Jahre), bei intemistischen Patienten und bei Patienten mit ansonsten hoher Krankheitsschwere besteht ein erhöhtes Risiko für eine Hypoglykämie bei der Anwendung einer Insulintherapie in der Intensivmedizin. Vermutlich ist das Risiko schwerer Hypoglykämien durch eine liberale intravenöse Insulintherapie geringer. Ob eine liberalere Einstellung der Blutglukose vorteilhaft ist, ist derzeit nicht bekannt. Eine engmaschige initial ( 1-2 stündliche) bettseitige Kontrolle der 151

Blutglukose ist jedoch auch hier zwingend erforderlich. Die Messung der Glukosekonzentration im Vollblut gehört u.a. wegen ihrer Abhängigkeit vom aktuellen Hämatokrit zu den komplexesten Laborbestimmungen bei intensivmedizinischen Patienten (44). Aufgrund der mangelnden Präzision (Variationskoeffizient bis >20%) und geringen Sensitivität im hypoglykämischen Messbereich der gegenwärtig verfügbaren Messgeräte zur Bestimmung der Glukosekonzentration im Vollblut, sollten nur Geräte zur Anwendung kommen, welche die sichere und frühzeitige Detektion einer Hypoglykämie gewährleisten (45). Nach aktuellen Studien ist das Ausmass der intraindividuellen Variabilität der Blutglukosekonzentration bei kritisch kranken Patienten offenbar ein wichtigerer prognostischer Index als das arithmetische 24-Stundenmittel (46). Die Notwendigkeit möglichst engmaschig Informationen über die Glukosekonzentration zu erhalten, unterstreicht wie wichtig kontinuierliche Messverfahren in Zukunft sein könnten. Diese Verfahren befinden sich derzeit bereits in einem fortgeschrittenen Zustand der Entwicklung. ~ rekombinantes aktiviertes Protein C (rhAPC) Die Rationale für den Einsatz für rhAPC basiert auf 2 kontrollierten randomisierten Studien (PROWESS) weitere Daten zur Sicherheit basieren auf nicht randomisierten Studien, die nach der Zulassung erfolgten (ENHANCE (47) und Registerstudien). Die PROWESS Studie, welche frühzeitig wegen Wirksamkeit gestoppt wurde, zeigte eine 6.1 %ige absolute Reduzierung der 28 Tagesterblichkeit. In der Subgruppenanalyse zeigte sich, dass Patienten mit höherem Sterberisiko (APACHE II Score >25 oder mit Mehrfachorganversagen) stärker von der Substanz profitieren als Patienten mit geringerem Sterberisiko. Subgruppenanalysen legen auch nahe, dass Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie und hohem Sterberisiko am meisten von der Substanz profitieren, während bei Patienten mit chirurgischen Eingriffen und nosokomialen Pneumonien die Letalitätsreduktion durch rhAPC geringer ist. Bei der statistischen Analyse, z.B. in einer Cochrane Analyse, o.g. Studien wurde insgesamt eine signifikante Heterogenität festgestellt. Dieses Ergebnis unterstreicht die Notwendigkeit einer sorgfältigen Indikationstellung und es wurde die Durchführung einer weiteren prospektiven plazebo-kontrollierten Studie empfohlen, um die Ergebnisse der PROWESS-Studie zu bestätigen. Diese Studie wird gegenwärtig durchgeführt (PROWESS-Shock): Es wird in der randomisiert und placebo-kontrolliert überprüft. ob die Gabe von rh-aPC gegen Placebo bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischen Schock mit Multiorganversagen vorteilhaft ist.

Bei Patienten mit schwerer Sepsis und hohem Sterberisiko wird der Einsatz von rhAPC für Patienten empfohlen, welche keine Kontraindikationen für rhAPC aufweisen. -+ Empfehlung Grad C (27)

Nebenwirkungen von rhAPC: Aufgrund der Beeinflussung der Gerinnung und der Fibrinolyse durch rh-aPC erhöht sich das Blutungsrisiko oder ein bestehendes Blutungsrisiko kann gesteigert sein. Wichtige Kontraindikationen sind aktive innere Blutungen (einschließlich des ZNS), der Einsatz sonstiger gerinnungsaktiver Medikamente (höherdosiertes Heparin und ThrombozytenAggregationshemmer), schwere chronische Lebererkrankungen, eine Thrombozytenzahl < 30.000/µl, selbst wenn die Thrombozytenzahl durch Transfusionen angehoben wurde, das Vorliegen einer Schwangerschaft, die Überempfindlichkeit gegenüber rh-aPC, einem der Hilfsstoffe oder bovinem Thrombin (kann in Spuren aus dem Herstellungsprozess vorhanden sein), der Einsatz sonstiger gerinnungsaktiver Medikamente (höherdosiertes Heparin und Thrombozyten-Aggregationshemmer), ein höhtes Blutungsrisiko z.B. Operation vor< 12 h oder gastrointestinale Blutung innerhalb der letzten 6 Wochen, Risiko einer zerebralen Blutung, Traumapatienten mit Kontusionen oder Verletzungen viszeraler Organe, Ösophagusvarizen. 152

Während der 28-tägigen Studienperiode war die Inzidenz schwerer Blutungen im Rahmen der PROWESS Studie in der Behandlungsgruppe mit 3,5 % deutlich höher als in der Kontrollgruppe mit 2,0 %. Die Inzidenz zerebraler Blutungen während der 28-tägigen Studienperiode betrug 0,2% in der rh-aPC - Gruppe und 0,1 % in der Placebogruppe. In der offenen Folgestudie ohne Kontrollgruppe (ENHANCE) wurde bei den 2375 Patienten mit schwerer Sepsis oder septischen Schock während der 28-tägigen Studienperiode rhaPC Gabe eine erhöhte Blutungsrate im Vergleich zur PROWESS-Studie festgestellt (6,5% versus 3,5%) und eine höhere Rate an intrakraniellen Blutungen (1,5% versus 0,2%). Q Antithrombin (III) Eine hochdosierte Therapie mit Antithrombin führte in einer Phase-III Studie nicht zu einer Senkung der 28-Tage-Letalität bei Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock (48).Möglicherweise wird die fehlende Wirksamkeit von Antithrombin bei Patienten mit schwerer Sepsis durch eine Begleitbehandlung mit Heparin verursacht. Unter Antithrombin ist das Blutungsrisiko erhöht.

Eine Be1-ndlung mit Antithrombin wird nicht empfohlen. -+

Empfehlung Grad B

Q Selen Zur Gabe von Selen (allein oder in Kombination mit anderen Antioxydantien) liegen zehn Studien mit kleiner Fallzahl und unterschiedlichen Indikationen vor. Eine Metaanalyse, die neun dieser Studien beinhaltete, zeigte einen signifikanten Letalitätsunterschied zugunsten von Selen (49). Eine kürzlich veröffentlichte randomisierte Studie mit kleiner Fallzahl und hoher initialen Selen-Gabe zeigte jedoch keinen Letalitätsunterschied auf (50). Zur endgültigen Klärung der Wirksamkeit von Selen ist eine große multizentrische randomisierte multizentrische Studie erforderlich.

Der Einsatz von Selen in der Behandlung von Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock kann erwogen werden (33). Q Immunglobuline In eine jüngste Metaanalyse (51) wurden 27 Studien mit Immunglobulinen (ivlg) einbezogen. Sie ist die einzige, in der die Studien getrennt für Erwachsene und Neugeborene ausgewertet und zusätzlich Untergruppen für Studien mit IgM angereicherten Immunglobulinen (ivlgGAM) und reinen IgG Immunglobulinen (ivlgG) gebildet wurden. Bei den Erwachsenen ergaben 8 Studien, die mit ivlgGAM an 560 Patienten durchgeführt wurden, ein gepooltes relatives Sterberisiko von 0,64 (95% CI 0,54 - 0,84). Dagegen betrug der gepoolte Effekt von 7 Studien, die mit ivlgG an 932 Patienten durchgeführt wurden, 0,85 (95% CI 0,73-0,99). Zur endgültigen Klärung der Wirksamkeit von ivlgGAM ist jedoch eine große multizentrische randomisierte Studie erforderlich (52).

Der Einsatz von ivlgGMA in der Behandlung von erwachsenen Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock kann erwogen werden (33).

Interessenkonflikt: GM: Der Autor hat wissenschaftliche Kooperationen mit folgenden Firmen: BBraun Melsungen AG, Edwards Life Sciences, Serumwerlce Bernburg, Hutchinson Technologies, Pulsion Medical Systems, Masimo, Ely Lilly. Der Autor hat Honorare für Vorträge und Beratertätigkeiten von folgenden Firmen erhalten: BBraun Melsungen AG, Edwards Life Sciences, Serumwerke Bernburg, Hutchinson Technologies, Pulsion Medical Systems, Masimo, Ely Lilly, Bayer und Wyeth. FMB: Der Autor hat wissenschaftliche Kooperationen und Honorare für Vorträge und Beratertätigkeiten von der Firma Brahms erhalten.

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Dysnatriämien bei lntensivpatienten M. LICHTWARCK-ASCHOFF

„ Die Konstanz des milieu interieur ist erste Voraussetzung jeder freien und unabhängigen Existenz" (Claude Bernard)1

"Everything about sodium imbalance is complex except its definition .. " (T.R.Harrison)

Inhalt Dysnatriämien sind krankhafte Veränderungen der Natrium-Konzentration. In ihnen spiegeln sich Störungen des Wasserhaushalts wider. Beim Intensivpatienten ist in der Regel gleichzeitig der Natriumbestand verändert. Dysnatriämien signalisieren Änderungen der osmotischen Umwelt der Zellen und des Zellvolumens. Sie sind die häufigste Elektrolytstörung bei Intensivpatienten und bei stationären Patienten. Obwohl der Organismus, wohl wegen der Bedeutung des Zellvolumens für Struktur und Funktion der Organe, über erstaunlich robuste Verteidigungssysteme gegen osmotische Störungen verfügt, erhöhen Dysnatriämien die Mortalität von Intensivpatienten. Im Folgenden finden Sie Anmerkungen zu den folgenden Bereichen: 1) Die Häufigkeit von Dysnatriämien 2) Die Bedeutung der Natriumkonzentration für das Zellvolumen 3) Grundsätze für die Behandlung der Dysnatriämie 4) Anisoosmotische Volumenveränderungen und die Hirn-Nierenachse 5) medulläre Tonizität und ADH-Wirkung, osmotische und nicht-osmotische Stimuli der ADH-Sekretion 6) Natriumkonzentration und Natriumbestand 7) Hyponatriämie 8) Hypernatriämie

1) Wie häufig sind Dysnatriämien? Haben sie überhaupt klinische Bedeutung? Hyponatriämie (aNatriumkonzentration[Na+] 150 mmol/1) auf der ICU. Fünfmal soviel Patienten (62, entsprechend 48%) mit auf der ICU erworbenen Hypernatriämie verstarben im Vergleich zu einer Gruppe 260 normonatriämischer Patienten „matched by ICU-type and exposure" (27 Patienten, entsprechend 10%). Die Patienten mit Hypernatriämie waren schwerer krank, es bestand eine Assoziation zur Grundkrankheit (Sepsis, Trauma), begleitenden Stoffwechselentgleisungen (Hypokaliämie, Hypercalciämie, Hyperglykämie) und renaler Dysfunktion, aber auch unabhängig von Grund,- und Begleiterkrankung erhöhte die Hypernatriämie das Risiko zu sterben. Entgegen der üblichen Annahme, Hypernatriämien seien immer auf einen relativen Wassermangel zurückzuführen fand sich, dass zwar 2/3 der hypernatriämischen Patienten (80 entsprechend 62%) eine negative Flüssigkeitsbilanz von ca. - 30 mL/kg/d hatten, dass aber immerhin 1/3 (50 entsprechend 38%) eine positive Füssigkeitsbilanz hatten (ca. 72 rnl/kg/d). In ungefähr einem Drittel der Patienten ging der Hypernatriämie eine Periode der Hyponatriämie voraus bzw. folgte ihr. Dysnatriämien sind ein häufiges Symptom bei lntensivpatienten und ein unabhängiger Prädiktor deutlich erhöhter Sterblichkeit. Warum allerdings Dysnatriämien die Sterblichkeit erhöhen ist derzeit unklar.

2) Natrium - das Strukturion unseres Organismus Das Zellvolumen wird in erster Linie vom Wassergehalt der Zelle bestimmt. Da die Zellwand der Säugetiere (wie vieler anderer Lebewesen) für Wasser durchlässig ist, ist es nicht die Stabilität der Zellwand, die das Wasser innerhalb der Zelle festhält und damit für die Konstanz des Zellvolumens sorgt. Dafür sind andere Mechanismen verantwortlich, die auch dafür zuständig sind, dass Wasser aus dem Intrazellulärraum (IZR) der Zelle in den Extrazellulärraum (EZR) gelangt, und umgekehrt. Der wichtigste Mechanismus für die Konstanz des Zellvolumens ist die Aufrechterhaltung eines osmotischen Gleichgewichts zwischen IZR und EZR, sowie, falls notwendig, dessen gezielte Veränderung, um den Transport von ~O über die Aquaporin-Kanäle zu induzieren. Der hydrostatische Druck der aufgewendet werden muss, um die Bewegung des Wassers in den Raum mit der höheren Teilchenkonzentration zum Stillstand zu bringen wird osmotischer Druck genannt und nach van 't Hoff berechnet: An=RTACi wobei ~ die osmotische Druckdifferenz, R die Gaskonstante, T die absolute Temperatur und ACi die Konzentrationsdifferenz der gelösten Teilchen über die semipermeanble Membran hinweg ist. Die durch osmotische Konzentrationsdifferenzen erreichbaren 158

Drücke, die für den Stofftransport in die Zelle und aus ihr heraus zur Verfügung stehen, sind eindrucksvoll: Eine Osmolalität2 von 280 mosm/kg (das entspricht der normalen Osmolalität im Plasma) übt einen Druck von ca. 5409 mmHg aus! Da der Stofftransport auf der zellulären Endstrecke somit von osmotischen Druckgradienten übernommen wird, sind die energetischen und „konstruktiven" Anforderungen an das Herzkreislaufsystem deutlich geringer. Das osmotische Gleichgewicht zwischen IZR und EZR und damit das Zellvolumen ist durch zweierlei Prozesse bedroht: 1) Isoosmotische Volumenveränderungen: Die Anhäufung von Produkten des Stoffwechsel führt intrazellulär ständig zu einem Anstieg der Osmolalität. Osmotisch wirksame Teilchen müssen durch zahlreiche Mechanismen aus der Zelle transportiert werden; seltener ist der Fall, dass sich die intrazelluläre Osmolalität vermindert. Ein Beispiel für isoosmotische Volumenveränderung ist die posttraumatische Schwellung von Hirnzellen durch intrazelluläre Akkumulation von Na+, Cl· und anderen osmotisch wirksamen Teilchen. 2) Anisoosmotische Volumenveränderungen: Extrazelluläre Veränderungen der Osmolalität bedrohen die Homöostase des Zellvolumens von außen. Eine der Hauptaufgaben der Niere besteht darin, das „innere Milieu" (die Größe des EZR und seine Osmolalität) konstant zu halten. Während die meisten Körperzellen durch eine funktionierende Nierentätigkeit vor anisoosmotischen Volumenveränderungen geschützt sind, gibt es einige wichtige Ausnahmen, bei denen Zellen in der Verteidigung ihres Volumens auf sich selber gestellt sind: Zellen des Gastrointestinaltrakts haben ständigen Kontakt mit Nahrung, die eine andere Osmolalität als ihr Zellinneres und das Plasma besitzt; die Zellen des Nierenmarks sind einer extrazellulären Osmolalität von bis zu 1400 mosmol/kg ausgesetzt. Da Natrium das entscheidende Ion des EZR ist, übernimmt es praktisch die Rolle des „Strukturions" unseres Organismus. In erster Linie ist es die Natriumkonzentration, die das Zellvolumen determiniert. So bedeutet eine niedrige Plasma-Na+-Konzentration (PNa) nicht nur relativ mehr extrazelluläres H20 als Na+ sondern zugleich eine Tendenz zum Zellödem, während eine hohe PNa nicht nur verhältnismäßig weniger Hp als Na+ im Extrazellulärraum signalisiert sondern zugleich die Tendenz zur Zellschrumpfung. Jede Veränderung des osmotischen Gradienten zwischen EZR und IZR bedroht das Zellvolumen - die Zelle reagiert darauf mit 2

„Osmolarität" bezieht die Anzahl osmotisch wirksamer Partikel auf das Volumen (mosm/Liter), ,,Osmolalität" auf die Masse (mosm/Kilogramm H,O). Das Volumen einer Flüssigkeit ändert sich mit der Temperatur, die Masse nicht, die Osmolalität ist daher temperaturunabhängig. Weitere Begriffe: Osmolyte (oder Osmole), die auf ein spezielles Kompartiment beschränkt sind, bestimmen dessen Volumen: Na• das des EZR, K• das des IZR = ,,effektive Osmole". Osmolyte, deren Konzentration auf beiden Seiten der ZellIZR nicht= ,,ineffektive" membran gleich sind (wie etwa Harnstoff) beeinflussen die Wasserbewegung EZR Osmole. Effektive Osmolarität = ,,Tonizität". Die Osmolalität des Plasmas (in mosm pro kg H,0): Posm :::: 2 x PN• + 2 x PK + [Blutzucker]/18 + Harnstoff/6 (die Faktoren /6 bei Harnstoff und /18 bei Glukose entstehen durch Umrechnung von mg/dl in die Einheit mmol): Normalwert : 280 - 290 mosm/kg Da Harnstoff osmotisch (praktisch) nicht wirksam ist, ergibt sich die effektive Poom :::: 2 X PN, + 2 x P K+ Glukose/18. Da sich Po,m nur um etwa 1 mmol/1 pro 62 mg/dl Glukose ändert, und der Beitrag des Kaliums sehr klein ist, gilt bei Normoglykämie effektive P oom :::: 2 X P Na Tägliche Ausscheidung von Osmolen: U..,. x Urinvolumen/24 h

=

159

a) einer Art Sofortreaktion, die innerhalb von Sekunden einsetzt, wenn sich der osmotische Gradient ändert (z.B.: droht durch ein Absinken der extrazellulären PNa ein Zellödem, schleust die Zelle K+ und CI· aus. Droht durch Anstieg der extrazellulären P Na eine Zellschrumpfung schleust sie K+Cl· und Na+CI· ein). Da eine starke Veränderung der intrazellulären [Na+] und [K+] die Zellfunktionen stört oder unmöglich macht, setzt zusätzlich eine b) IAngzeitreaktion ein. Diese nimmt 2-3 Tage bis zu ihrer vollen Ausbildung in Anspruch und besteht darin, die Konzentration intrazellulärer organischer „Osmolyte" entsprechend anzupassen. In Säugetierzellen finden sich drei Klassen von Osmolyten: Polyole (Sorbitol und Myo-Inositol); einfache Aminosäuren und ihre Derivate (Taurin, Alanin und Prolin), sowie Methylamine (Betain und Glycerylphosphorylcholin). Je nachdem, ob die extrazelluläre PNa hoch oder niedrig ist, werden zur Aufrechterhaltung des physiologischen Osmolalitätsgradienten OsmoIyte freigesetzt und gebildet oder ausgeschleust und gebunden. Organische OsmoIyte haben eine zentrale Rolle bei der Verteidigung des Zellvolumens und funktionieren unter anderem deswegen als allgemeine Zytoprotektiva. 3 Schematisch kommt es also zu folgenden Abläufen: Hypematriämie: P Na ft • Tendenz zur Zellschrumpfung - Ausstrom von ~O -+ Mobilisierung der intrazellulären Volumenverteidigung durch Einschleusen von Na+Cl· und K+Cl· sowie -+Bildung von Osmolyten (Taurin etc) Hyponatriämie: PNa~ .. Tendenz zum Zellödem„ Einstrom von ~O -+ Mobilisierung der intrazellulären Volumenverteidigung durch Ausschleusen von K +CI· sowie -+ Reduktion der Osmolyte Auf die Bildung von Osmolyten bzw. die Verringerung ihrer Konzentration haben wir keinen unmittelbaren therapeutischen Zugriff. Diese Verteidigungslinie der Zelle gegenüber Dysnatriärnien ist aber deshalb von größter Bedeutung, weil wir uns immer dann, wenn wir vor der Frage stehen, ob wir eine Dysnatriärnie behandeln müssen, auch darüber Rechenschaft abgeben müssen, ob die Zellen schon genügend Zeit hatten, ihr „Osmolytprogramm" anzuwerfen, und ob wir und wie wir ggf. die zelleigenen Kompensationsmechanismen stören.

3

Eine (deneit noch ganz spekulative) Möglichkeit wie die Störung der Volumenhomöostase durch Dysnatriämien die Sterblichkeit erhöht, könnte in folgendem Weg bestehen: Zellschwellung hemmt die Glykolyse und erhöht den Stoffdurchsatz durch den Pentosephosphat-Weg. Das wiederum erhöht die NADPH-Produktion und schließlich auch die Glutathion-Produktion, einem wichtigen Antioxidans der Zelle. Umgekehrt reduziert eine Schrumpfung der Zelle die Menge des antioxidativ wirkenden Glutathions. Das bedeutet: Eine Schwellung der Zelle erhöht, eine Schrumpfung der Zelle erniedrigt die Resistenz gegenilber oxidativem Stress. Da eine Zellschrumpfung zugleich die Aktivität der NADPH-Oxidase und deswegen die Bildung intrazellulären 0 2- verringert, sinkt auch die antibakterielle Aktivität der Leukozyten. Gewebsverbände, die sich in einem relativ hypertonen Milieu behaupten milssen - dazu gehören die Zellen der renalen Medulla , s.u. - sind deshalb für Infektionen leichter zugänglich. Aber nicht nur die Rekrutierung und Funktion der Leukozyten, die Phagocytose sind Mechanismen deren Funktionieren vom Zellvolumen abhängt. Ebenso ist die Fähigkeit zum programmierten Zelltod infizierter Zellen vom Volumen dieser Zellen abhängig. Diese Apoptose führt aber nicht nur zum Zelltod sondern ist zugleich eine notwendige Methode, sich intrazellulärer Erreger zu entledigen. Über die Veränderung des Zellvolumens könnten Dysnatriämien also die Abwehrlage verändern - was beitragen könnte zu erklären, warum sie die Sterblichkeit erhöhen. 20.Lang F (2007) Mechanisms and significance of cell volume regulation. J Am Coll Nutr 26:613S-623S

160

3) Grundsätze für die Behandlung der Dysnatriämie Normabweichungen von PNa sind meistens deutlich harmloser als die therapeutischen Anstrengungen, PNa in den Normbereich zurückzuführen. Dies gilt vor allem für die Hyponatriämie (PNa 12% ist ein SIADH sehr wahrscheinlich für FEHamsäure < 8 % ist ein SIADH ausgeschlossen und ein relativer oder absoluter Volumenmangel anzunehmen. Bei gesunden normovolämischen Probanden ist FEHamsäure =10 %. Beim, eher seltenen, echten zerebralen Salzverlustsyndrom gehen Na+ und Harnsäure auch schon im proximalen Tubulus verloren und FEHamsäure > 12%. Zur Differentialdiagnose gegenüber dem SIADH gehören vor allem der Volumenmangel beim zerebralen Salzverlust (Patienten mit SIADH sind normovoläm bis hypervoläm) und die hohe Na+-Ausscheidung in 24/h beim zerebralen Salzverlust. Berücksichtigt werden müssen natürlich Medikamente die, unabhängig vom Volumenstatus, die Harnsäureausscheidung erhöhen, darunter, als wichtigste, Probenecid und Losartan. l) Pseudohyponatriämie (PN, l P..., normal) a. Hyperlipidämie, Hyperproteinämie b. Echte Hyponatriämie, dabei aber P..., normal z.B. durch hohen Harnstoff oder Alkohol 2) P N l P t (=Substanzen, die sich, zumindest zeitweise, auf den Extrazellulärraum beschränken) a. Hype";ilykämie b. Mannit 3) absoluter Volumenmangel (Blutung, Verluste in den 3. Raum etc.) 4) ,,relativer" Volumenmangel(= vermindertes „effektives zirkulierendes" Volumen) a. arterielle Unterfüllung durch geringes Herzzeitvolumen (Herzinsuffizienz, zugleich Ödeme!) b. arterielle Vasodilatation (z.B.: Leberzirrhose) 5) Primär positive Wasserbilanz (und sekundärer Na•-Verlust) Nicht-osmotische ADH-Freisetzung (vgl. nächste Tabelle) 6) Primär negative Na•-Bilanz a. i.d.R. iatrogen (z.B. Zufuhr von Flüssigkeit ohne oder mit wenig Na+ und Nichtberücksichtigung renaler und nicht-renaler Na•-Verluste) b. primäre Polydipsie Tabelle: Übersicht über Ursachen für eine Hyponatriämie

171

Syndrom der appropriaJenAntidiurese (SaADm "'ADH ft ft aus nicht-osmotischen (aber „physiologischen") Gründen=U.... >P.,.. - (intravasaler) Volumenmangel - venöse Stauung und arterielles Volumen - arterielle Vasodilatation (Leberzirrhose) - starke Schmerzen - Angst, Übelkeit, Erbrechen

3 (Herzinsuffizienz)

Syndrom der inappropriaJen Antidiurese (SiADH) • ADHftft ohne „sinnvolle" physiologische Stimuli= U,_>P._ • ZNS-Verletzungen • Neoplasien, TBC • ADH-Analoga: Desmopressin, Oxytocin • Medikamente, die die Freisetzung von ADH ft bzw. seine renale Wirkung verstärken Carbamazepin Chlorpropramid Cyclophosphami Nikotin Ecstasy Morphium Clofibrat Tryzyklische Antidepressiva Serotonin-Reuptake-Hemmer Mirtazapin Omeprazol Phenothiazine Orale Antidiabetika Methylxanthine (Theophyllin) • Medikamente, die die renale Prostaglandinsynthese 3--+ ADH-Wirkung ft NSAID ASS Interferon • Antineoplastische Therapien - möglicherweise über Übelkeit und Erbrechen

Tabelle: Hohe ADH-Spiegel bei Hyponatriämie (= ohne osmotischen Stimulus für eine ADH-Freisetzung)

Frage : Woher kommt das 0berschOSSige H2O?

Hyponatlllmle • P,_ < 136 Nein

Akut behandeln

1 Thiazid-Diuretika

1-----B----i

Wirksames ADH? (• U_,> P...,)

Frage : Wo:r kommt das überschüssige AOH?

t

l

Nicht-renale Verluste oOiarrhoe oVerbrennung

Effektives Endokrine Ursachen zirkulierendes oHyphsenlnsufflzien Volumen ,a. oNNR-lnsufflzlenz oabs. oHypothyreoidismus ' - - - - - - - ' - - - - ' 1 Volumenmangel oHerzinsufflzienz oleberzlrrhose Neu bewerten LA'~------------------,

Na•Verlust)

Osmodiuretika

(Tonizitätsgradient SammelrohrMedullaU)

SiADH

In Erprobung: ADH-RezeptorAntagonisten (,.Vaptane"), Wert für Intensivpatienten derzeit unklar (siehe Anmerkung)

Druckdiurese?

Flüssigkeitsrestriktion (erwäge: Furosemid, Fludrokortison (0.1-0.4 mg/d)

Anmerkung: Seit kurzem existieren Vasopressin-V2-Rezeptor-Antagonisten, sog. Vaptane als therapeutische Option bei „euvolämen" Hyponatriämien (vom SIADH-Typ), also etwa der mit Ödemen einhergehenden Herzinsuffizienz oder bei der Leberzirrhose. Vaptane sind kontraindiziert bei „hypovolämisch, hyponatriämischen" Zuständen (renale und nicht-renale Na+-Verluste, Thiazidtherapie z.B.). Wie weit sie für Intensivpatienten therapeutische Bedeutung haben, kann derzeit noch nicht gesagt werden. Literatur: Schrier RW, Gross P, Gheorghiade M, Berl T, Verbalis JG, Czerwiec FS, Orlandi C; SALT Investigators. Tolvaptan, a selective oral vasopressin V2-receptor antagonist, for hyponatremia. N Engl J Med. 2006 Nov 16;355(20):2099-112. Quittnat F, Gross P. Vaptans and the treatment of water-retaining disorders. Semin Nephrol. 2006 May;26(3):234-43 Gross P. Treatment ofhyponatremia. Intern Med. 2008;47(10):885-91.

8) Hypernatriämie Vorgehen bei Hypernatriämie PNa > 144 mmoVL Während hinter der Hyponatriämie des Intensivpatienten meistens ein ADH-Problem steckt, ist die Hypematriämie meistens durch ein Bilanzproblem (zuviel 8zO im Verhältnis zum Na+ verloren, und/oder zuviel Na+ zugeführt) hervorgerufen. (Die wichtigste Ausnahme von dieser Faustregel ist der Diabetes insipidus, DI). Zur Erinnerung: PNa> 144 mmol/1 bedeutet: Der IZR ist kontrahiert, die Zellen haben eine Tendenz zum Schrumpfen, die Erhöhung des Na+-ßestandes gegenüber dem Hp im EZR ist in der Regel auf einen renalen H2O-Verlust zurückzuführen, oft besteht eine Polyurie.

173

Ursachen für PN.> 144 mmol/1 Faustregel: Zu einer Hypematriämie gehört immer auch ein Problem der "2O-Aufnahme oder der (übermäßigen) "2O-Ausscheidung. l. Netto-Hp-Verlust a. Verminderte Hp-Aufnahme i. Durstmechanismus gestört (jeder einigermaßen bewußtseinsklare Patient, der bei PN > 144 nicht über Durst klagt hat ein ZNS-Problem!), bei älteren Patienten sind die Osmorezeptoren allerdings auch ohne ZNS o. psychiatrische Erkrankung schon weniger empfindlich ii. Kein freier Zugang zu "20 b. erhöhter Hp-Verlust i. renal: zentraler DI, nephrogener DI, osmotische Diurese (durch Harnstoff oder Glukose), Vasopressinase ii. gastrointestinal: Erbrechen (GI-Verluste sind meistens hypoton!) iii. Verluste über die Haut: Schwitzen, hohes Fieber c. Hp- Shift in den intrazellulär-Raum (Netto „Zugewinn" intrazellulärer Partikel, die Wasser aus dem EZR-Raum ziehen: z.B. bei Rhabdomyolyse und bei Krämpfen. Dies ist die einzige Situation, in der PNa > 144 keine Tendenz zum Schrumpfen der 7.elle sondern zum 7.ellödem signalisiert) 2. Netto- ,,Zugewinn" an Na+ a. Lösungen die in Bezug auf Na+ hyperton sind b. Lösungen, deren [Na+] höher ist als UN•' wenn gleichzeitig eine osmotische (Harnstoff, Glukose) oder eine Wasserdiurese besteht 0

Klinisch wichtige Schritte 1. Schritt: Wie schnell und wie drastisch hat sich der Netto-Zugewinn an Na+ und/oder der "2O-Verlust ereignet? (Bei chronischer PNa-Erhöhung haben die Zellen ihre Osmolytkonzentration schon erhöht, die PNa darf dann nur noch behutsam gesenkt werden und jedenfalls um nicht mehr als 10 mmol/l/24h) 5 2. Schritt: Hat der Patient eine ZNS-Pathologie? 3. Schritt: Ist die renale Antwort auf die Hypematriämie adäquat.

5

Für den Korrekturbedarf an elektrolytfreiem H,O und der Geschwindigkeit der Korrektur gelten analoge Überlegungen wie bei der Hyponatriämie. Für eine erste Abschätzung des intrazellulären H,O-Defizits stehen unterschiedliche Formeln zur Verfügung, relativ einfach und praktikabel ist folgende: Die Veränderung von P N, durch I Liter Na-haltige Infusionslösung = {[Na•] der zu infundierenden Lösung aktuelle PN,}/{Liter Gesamtkörper-H,O + l} 1. Adrogue H, Madias N (2000 ) Hypematremia. N Engl J Med 342:1493-1499. Dabei ist das GesamtkörperH,O mit 144 mmol/L

--!

Ist die hypothalamische Antwort adäquat?

Ist die Diurese-Menge adäquat reduziert um H20 zurückzugewinnen?

U.,,m> P... ( • wiri 800 mosmol/Tag)

Antwort auf die Gabe von z.B. Desmopressin

-

Keine Veränderung von Diurese oder u_

Osmotische Diurese durch oGlukose, Harnstoff, Mannit oErhöhte Na• und K+ -Ausscheidung ( auch bei geringer Tonizität der Medulla)

Nephrogener OI (Krea-Clearance u.a. Nierenfunktionstests ansc-hlielen

Abbildung 6: Schema der wichtigsten diagnostischen Schritte bei der Hypernatriämie.

Dazu noch einige Hinweise: Auf PN.ft scheidet die Niere unter ADH-Einfluss maximal konzentrierten Urin aus. Zum Beispiel: Sollen die 900 mosm der „typical Western diet" mit der maximalen Uosm von 1200 mosm/kg ausgeschieden werden, ist das adäquate (minimale) Urinvolumen: 900/1200=0,75 lffag. (Mit dem Alter sinkt allerdings die maximal erreichbare medulläre Tonizität und damit die maximale Uosm und das minimale Urinvolumen zur Ausscheidung das täglichen osmolaren loads steigt.) Scheidet der Patient sein minimales Urinvolumen aus? Oder mehr als das? Dann muss die Ursache in der medullären Tonizität oder der ADH-Signalkette gesucht werden. Die führenden Ursachen für PNa> 144 mmol/1 sind: • zentraler oder (selten) nephrogener Diabetes insipidus • osmotische Diurese (ausgelöst durch Schleifendiuretika) • therapeutische Fehler in der Na+-Hp-Bilanz (häufig ist dieser „Fehler" schwer vermeidbar - wenn Patienten die zu Beginn der Therapie, etwa der einer Sepsis, viel Volumen erhalten haben und jetzt durch Schleifendiuretika eine negative Volumenbilanz angestrebt wird (werden muss), kommt es in der Regel zur Hypematriärnie • Kortison6 • Rhabdomyolyse, Krämpfe

6 Das Gen, das für die ADH-Herstellung kodiert, besitzt eine Region, die auf Glukokortikoide reagiert: Glukokortikoide erniedrigen die Expression von ADH-mRNA. 24.Sheridan A (2005) The clinical application of recent advances in salt and water physiology. In: Nephrology Rounds at: http://www.nephrologyrounds.org/cgi-bin/ templates/body/archives.cfm?displaySectionlD=335. Abgesehen von einer möglichen mineralokortikoiden Wirkung (abhängig vom Präparat) kann deshalb unter Kortisongabe eine Hypernatriämie entstehen, die durch einen relativen ADH-Mangel mit bedingt ist. Zu unterscheiden ist zwischen primärer und der sekundärer Nebennierenrinden- (NNR-) Insuffizienz. Die primäre NNR-Insuffizienz (ausgeprägter Glukokortikoid- und Mineralokortikoidmangel) führt zum Salzverlust und zur Hypovolämie. Diese Hypovolämie stellt einen nichtosmotischen Stimulus zur ADH- Sekretion dar, es resultiert eine Hyponatriämie. Zusätzlich besteht in etwa 2/3 der Fälle eine Hyperkaliämie. Bei Patienten mit sekundärer NNR-lnsuffizienz (isolierter Glukokortikoidmangel) besteht in der Regel eine Euvolämie, damit entfällt der nichtosmotische ADH-Stimulus. Dass dennoch vermehrt ADH ausgeschüttet und eine Hyponatriämie induziert wird, liegt möglicherweise am Wegfall der oben erwähnten inhibitorischen Wirkung der Glukokortikoide auf die ADH-Freisetzung. Eine Hypematriämie unter Kortison wäre die Umkehrung dieses Mechanismus.

175

Daraus ergeben sich zugleich die Behandlungsoptionen: 1) Erfassung der Na+-Bilanz und, soweit das jeweils überhaupt möglich ist, Ersatz der Na+-haltigen Urinverluste durch Na+ freie (z.B. Glukose 5%-Lösung) oder Na+arme (,,Halbelektrolytlösung") Flüssigkeit 3) Vasopressin beim zentralen Diabetes insipidus 4) Wenn möglich: Behandlung der Niereninsuffizienz, wenn das konservativ nicht möglich ist, muss gelegentlich auch zur Behandlung schwerster Hypernatriämien beim Intensivpatienten ein (zeitweises) Nierenersatz-Verfahren in Erwägung gezogen werden 5) Behandlung der zugrundeliegenden Ursache (Krämpfe, Rhabdomyolyse etc)

Klinische Tips • Entgegen der allgemeinen Annahme führen Schleifendiuretika bei Intensivpatienten in der Regel eher zur Hypernatriämie als zur Hyponatriämie. • Entwickelt sich beim Versuch eine negative Flüssigkeitsbilanz mit Schleifendiuretika zu erreichen eine u.U. gefährliche Hypernatriämie (PN, > 160) ist ein Nierenersatzverfahren, bei dem, anders als mit Schleifendiuretika, P Na und HzO getrennt verändert werden können, eine bedenkenswerte Alternative. • Zum Ausgleich eines akuten Volumenmangels (etwa im hämorrhagischen Schock) kommen Lösungen mit mindestens plasmaisotonem Na+ -Gehalt in Frage (Blut, Frischplasma balanzierte und nicht-balanzierte Na-Lösungen). Patienten mit einem Volumenmangel, der sich über längere Zeit entwickelt hat, sind oft, wegen der volumenmangelbedingten, nicht-osmotischen ADH-Sekretion, hyponatriäm (Beispiel: Ileus). Auch in dieser Situation stehen nur Lösungen mit mindestens plasmaisotonem Na+ -Gehalt als therapeutische Option zur Verfügung. Ist der Volumenmangel rasch und erfolgreich behoben, dann entfällt auch der Stimulus zur ADH-Ausschüttung. Deswegen (und wegen der unvermeidlichen Zufuhr großer Mengen von Na+) kann P Na gefährlich schnell ansteigen. Die Zufuhr kleiner Dosen von ADH-Analoga (2 -4 µg Desmopressin kontinuierlich iv über 8 h) kann da hilfreich sein. Eine ähnliche Situation kann entstehen wenn andere nicht-osmotische ADH-Stimuli (anhaltendes Erbrechen, Angst, starke Schmerzen, Stress) plötzlich wegfallen. • Während bei der akuten symptomatischen Hyponatriämie die Behandlung des „Symptoms Hyponatriämie" ganz im Vordergrund steht, kommt es bei der Hyponatriämie, die sich über > 48 h entwickelt und die kein neurologische Symptome zeigt, vor allem darauf an, die zugrunde liegende Ursache herauszufinden und wenn möglich zu behandeln. • Während und durch einen Krampfanfall kann P Na wegen Wasserverschiebung in die Zelle akut um •15 mmol/L steigen. Man darf deshalb eine vorangegangene Hyponatriämie als Ursache des Krampfanfalls noch nicht deswegen ausschließen, weil PNa normal zu sein scheint. • Junge Patienten werden bei Hyponatriämie rascher symptomatisch, weil sie (noch) mehr Hirnzellen haben als ältere Patienten. • Patienten mit NNR-Insuffizienz haben meistens eine Hyperkaliämie und eine niedrige UK. 1/3 der Patienten mit NNR-Insuffzienz haben keine Hyperkaliämie! • Bei Patienten mit chronischer Hyponatriämie kann auch zusätzlich eine akute Komponente bestehen • Die Angaben, wie schnell eine Hyponatriämie korrigiert werden soll, dürfen nicht so verstanden werden, als muss die Korrektur so schnell gehen sondern: es darf nicht schneller korrigiert werden. Bei Patienten mit Hyponatriämie und Hypokaliämie oder schlechtem Ernährungszustand, Katabolie soll eine Korrekturrate von PNa + 4 mmolffag nicht überschritten werden. 176

Für die Kitteltasche: Diagnostische Tools bei Dysnatriämien • Anamnese . Na+ und H20 - Bilanz . p oam/Uo,m . UNa; UK• Krea-Clearance • Fraktionelle Harnsäure-Ausscheidung (FEHamsäun: = ([UHamsäun:] x PKrea)/(UKrea x[P11ams11un:1)] xlOO FEHamsäun: > 12% SIADH; < 8 % 0 SIADH, abs/relativer Volumenmangel?

1. Hyponatriämie

Frage : Woher kommt das llberschOssige H,O?

Hyponatriämie - P111 < 136

Nein

1 Thlazid-Diuretika

Akut behandeln

t

~ Wirksames ADH? (-U...,> P...,) Frage : Wo:r kommt das OberschllSsige ADH?

l

t

Nicht-renale Ver1uste oDiarrhoe oVerbrennung

Neu bewerten

< 8'6

Effektives zirkulierendes Volumen+ oabs. Volumenmangel oHerzinsufflzienz oleberzirrhose

Endokrine Ursachen oHyphseninsufflzien oNNR-lnsufflzienz oHypothyreoidismus

Salzvertust oZerebral orenal oErbrechen

1

r--d--, L.:'..J i Polydipsie ±H20Ausscheidung AOKunabhängig gestört •Stark hypoosmolare Ernährung •Primäre Polydipsie •Nierenversagen (Krea-Clearance?)

LA"'----------------~

+

Fraktionelle Hamsäureausscheldung

Hohe ADH-Spiegel bei Hyponatriämie (= ohne osmotischen Stimulus für eine ADHFreisetzung) ADHftft aus nicht-osmotischen =U->P"""

• (intravasaler) Volumenmangel • Heninsuffizienz; Lebenirrhose • starke Schmenen • Angst, Übelkeit, Erbrechen

ADHftft ohne „sinnvolle" physiologische Stimuli =U >P"""

ZNS-Verletzungen • Neoplasien, TBC • ADH-Analoga: Desmopressin, Oxytocin • Medikamente, die ADHlfl: • Carbamazepin • Chlorpropramid • Cyclophosphamid • Nikotin • Ecstasy • Morphium • Clofibrat • tryzykJische Antidepressiva • Serotonin-Reuptake-Hemmer • Mirtazapin • Omeprazol • Phenothiazine • orale Antidiabetika • Methylxanthine (Theophyllin) • NSAID • ASS • Interferon • Antineoplastische Therapien (z.B. Vincristin)

....

DD: UNJ - Herz-,oder Leberinsuffizienz, Polydipsie, nicht-renale Na+-Verluste, abs/ relativer Volumenmangel// UN.ft: Diuretika, zerebraler, renaler Salzverlust, SIADH, primäre NNR-Insuffizienz, Hypophyseninsuffizienz

177

2. Hypernatriiimie Zusätzlich erfassen:

oW,egen (H 20-Deflzit?)

Hypernatriämie • PNa > 144 mmol/L

oExtraleUular-Raum

(Hämodynamik, Indikatoren des Volumenstatus) oU..,.

Ist die hypothalamische Antwort adäquat?

Ist die Diurese-Menge adäquat reduziert um H20 zurückzugewinnen?

Uosm> P0 sm (= wirksames ADH vorhanden oPositive Na•-Bilanz oNegative H20-Bilanz (beabsichtigte Negativbilanzierung, nicht-renale H20verluste) oH20-Shi~ in die Zellen (Rhabdomylose, Krämpfe) Diurese.&,

u.sm+ zentraler DI

Nein Werden viel Osmole ausgeschieden (Faustregel: > 800 mosmol/Tag)

Antwort auf die Gabe von z.B. Desmopressin

-

Keine Veränderung von Diurese oder U..,.,

Osmotische Diurese durch oGlukose, Harnstoff, Mannit oErhöhte Na• und K+ -Ausscheidung ( auch bei geringer Tonizität der Medulla)

Nephrogener DI (Krea-Clearance u.a. Nierenfunktionstests anschlie&en

Hauptursachen: • zentraler DI; • osmotische Diurese (Schleifencliuretika) • (therapeutische) Na+· t8zO""" -Bilanz • Kortison • Rhabdomyolyse, Krämpfe

178

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Akutversorgung von p at1enten . mit ischäm•ischem Schlaganfall K. W EISSE~BOR\

Der _Schlaganfall ist die dritthäufioste .,...10desursache und d' h" fi • e sc l1\\ env1eoende Behinderu . E ie • au igste Ursache r··ur . b ng un f\\ achsenenalte · d anfall-Inz1denz steiot init dem Leb 1 . _r in er westlichen Welt. Die Schlago ensa ter: so sind in der G rNeuerkrankungen pro Jahr pro 100000 M ruppe ~er 55 - 64-jährigen 300 7-1-j ährigen 800 (Kolomi nsk) -Rabas et a/;~~~en iu erwarten, m der Gruppe der 65 Yerbesserte Primärproph\ laxe zeiot J·ed h " b). ie in den vergangenen Jahrzehnten .J b oc Ouen ar lanosam w· k d . 0 euerk.rankungen sinkt (Rothwell ?00 . . ir ung. enn die Zahl der ) D. N - 4 · 1es 0 11t 1nsbesond f' d' ... gruppen. Die schwenvieoenden AUS''·1·rku o_ S ere ur ie JUngeren Alters. b noen eines chlaoanf 11 h \\'end1g. neben der Prophylaxe auch die Ak~tth . k .e . a. es mac en es aber noterapie ont1nu1erhch zu verbessern. H

Diagnose des ischämischen Schlaganfalls Die ~uttherapie b~g~~nt mit der Diagnosestellung. Eine akut einsetzende einseitioe Schwache o~er Se_ns1b11Itätsstörung im Gesicht, Arm oder Bein oder eine flüchtige eins:it1ge Blindheit spncht für eine Ischämie im vorderen Stromgebiet. Schwindel Übelkeit und Erbrechen. Doppelbilder, Ataxie, Dysarthrie, Hemianopsie - gegebenenfalis verbunden rrut sensiblen und motorischen Ausfällen - sind charakteristisch für eine Ischämie im hinteren Hirnkreislauf. Flüchtige Symptome sind kein Grund zur Entwarnung, sondern müssen im Gegenteil als \Varnhinweis auf einen drohenden Infarkt angesehen werden, und verlangen die gleiche diagnostische Abklärung wie stattgehabte Infarkte. Das Risiko, innerhalb einer Woche nach dem Auftreten einer TIA (transitorisch ischämischen Attacke) einen Infarkt zu erleiden. liegt bei ca. 8 % (Coull et al. 2004, Giles et al. 2006, Johnston et al. 2000). Besondere Wachsamkeit ist bei kurzfristig rezidivierenden TIAs im Basilaris-Versorgungsgebiet geboten. da sie einen Basilarisverschluss bei vorbestehender Basilarisstenose ankündigen können (Stichwort: Basilarisstottem). Patienten mit TIA-Symptomatik sollten in jedem

Fall in eine Klinik eingewiesen werden. Wenngleich eine akute fokale neurologische Symptomatik in der Mehrzahl der Fälle durch eine cerebrale Ischämie bedingt ist. müssen vor Einleitung einer Therapie differentialdiagnostische Überlegungen angestellt werden. Die im Alltag wichtigste Differentialdiagnose des Schlaganfalls ist die Hypoglykämie, die in gleicher Weise akut fokale Symptome wie eine Aphasie oder eine Hemiparese auslösen kann: Entsprechend muß ~e'. jedem Patienten. der mit einer akuten neurologischen ~ymptomatlk auffalhg "lfd. u~.,e0 hend der Blutzuckerspiegel bestimmt werden. Am haufigsten wird man die H) P el)_k ämie in der Differentialdiagnose zum Schlaganfall in der Gruppe der_ Typ 11-~tabcu~er sehen. Für Patienten mit Sulfonylhamstoff-Therapie sind Situationen._'° denen ihre _N~~runosaufnahme reduziert ist. ihre Medikation aber nicht angepasst wtrd. besonders 0nSIe . . p · ft ·m Rahmen von Nta en.ch So werden Hyoolykämien bei diesen auenten o i . . H~ lb e S lf lh ~toffe eine hn°e a korel · Darm-Infektionen oder peri-operativ beobachtet. Da u ony ams_ . ' e • d·r ·t haben reicht ein einmalioer Blutzuckerausgleich bei diesen Patienten in c ~ 0 ,vertsze1 • h GI ko ~eoabe kann es

n;;mpt:rne \~mme''.·

Regel nicht aus. Nach initialer ~ü~!l~~:gt~~d~;:::ir:t~:::r wa~ durchaus erneut zur Hypoglykam . b 1· ~ h„ Urs·1che der neurolo2.1 chen

r h 1 Geoenbeweis :oegen eme meta o isc l: '" ' . ... . dann gelegent 1c a s .e . hl 0 , f- 11 fehl~edcutet wird. Kontinuierliche Symptomatik und als Hmwe1s auf :m~n Sc aeban: 11" (;llten vor die em Fehler ,chütBlutzuckerbestimmungen unter tauonarer Beo ac tu ::zen (Windebank & Feldman 2001 ). 1 1

Auch Hyperglykämien können mit einer akut einsetzenden fokalen neurologischen Symptomatik einhergehen. Manche Patienten mit Hyperglykämie entwickeln akut eine zumeist einseitige Chorea, die charakteristischerweise mit Signalveränderungen im kontralateralen Striatum sowohl in der CCT als auch im cranialen MRT vergesellschaftet ist (Hemichorea-Hemiballismus-Syndrom bei Hyperglykämie). Als Ursache der CCT- und MRT-Auffälligkeiten wird eine Hyperviskosität angenommen, die zu einem lokalen vasogenen Ödem führt. Kemspinspektroskopische Untersuchungen zeigten einen Anstieg der lokalen Myo-Inositol- und Cholin-Konzentration. Die Symptomatik kann bis zu einer Woche anhalten. Die Blutzuckerspiegel müssen nicht exzessiv erhöht sein. In einem kürzlich publizierten Bericht über 7 Patienten mit Hemichorea-Hemiballismus-Syndrom bei Hyperglykämie lag der Blutzucker zwischen 13,5 und 57,3 mmol/l und die Serumosmolarität zwischen 304 und 337 mmol/l (Kandiah et al. 2009). Weitere metabolische Störungen, bei denen mit einer fokal-neurologischen Symptomatik gerechnet werden kann, sind die Urämie (Wang et al. 1998), die thyreotoxische Krise und die hepatische Enzephalopathie (Cadranel et al. 2001). Gelegentlich ist es im Alltag schwierig, zwischen einem akuten Schlaganfall und einer Todd 'sehen Parese zu unterscheiden. Hier kann die Anamnese von entscheidender Bedeutung sein, dennoch ist weitere Diagnostik notwendig. Tritt zunächst z.B. eine Halbseitensymptomatik und direkt im Anschluß ein epileptischer Anfall auf, muß man bei danach anhaltender Halbseitensymptomatik davon ausgehen, dass keine Todd'sche Parese vorliegt, sondern eine cerebrale Ischämie oder Blutung, und die entsprechende Diagnostik forcieren. Ist der Anfall das Initialsymptom und es bleibt nach Sistieren des Anfalles eine neurologische Herdsymptomatik bestehen, kann klinisch nicht zwischen funktioneller und struktureller Hirnschädigung differenziert werden, und es muß ebenfalls umgehend weitere bildgebende Diagnostik erfolgen.

Bildgebung bei akutem ischämischem Schlaganfall Derzeit gibt es lediglich eine spezifische zugelassene Therapie des akuten ischämischen Schlaganfalls: die Lysetherapie mit rtPA (Hacke et al. 1995; NINDS rtPA Study Group 1995). Voraussetzung für die Anwendung von rtPA ist der Ausschluß einer intracraniellen Blutung als Ursache der klinischen Symptomatik. Dies bedeutet, dass bei Patienten mit einem Schlaganfall grundsätzlich und so schnell wie möglich eine bildgebende Diagnostik erfolgen muß. Zum Blutungsausschluß reicht eine craniale CT-Untersuchung aus. In etwa 2/3 der Fälle sind auch ischämische Infarkte bereits innerhalb weniger Stunden nach Beginn der Symptomatik in der CCT mittels sogenannter Frühinfarktzeichen wie verstrichene Sulci, einer Hypodensität des Gewebes im Seitenvergleich, einer Aufhebung des Kontrastes zwischen Caudatuskopf und Capsula intema oder einer verwaschenen MarkRinden-Grenze erkennbar (Latchaw et al. 2009). Eine sichere Infarktdemarkierung in der CCT ist bei Hemisphäreninfarkten jedoch erst nach 24 h zu erwarten. Infarkte im Bereich des Hirnstammes können auch zu diesem Zeitpunkt noch dem Nachweis entgehen. Die Kemspintomographie (MRT) ist wesentlich empfindlicher. Ischämische Infarkte zeigen sich innerhalb von Minuten nach Beginn der Symptomatik in diffusions-gewichteten Aufnahmen. Mittels der Gradienten-Echo-Sequenz können akute Parenchymblutungen und Thromben nachgewiesen werden. Bei Anwendung dieser Sequenz ist die MRT ebenso sensitiv wie die CCT für akute Parenchymblutungen. Sie zeigt darüber hinaus das Vorliegen sogenannter Mikroblutungen an, die in der CCT nicht nachweisbar sind (Kidwell et al. 2004).

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l~far~tfrüh1:iche~ im CCT__in mehr ~ls 1/3 des Mcdiastromgebictes gelten al Kontraind1katton. geben die Durchfuhrung einer Lystherapie (Schellinger et al. 2003). Wie der

Nachweis vo_n vorausgegangenen Mikroblutungen in der MRT bei der Entscheidung für oder g~gen eine Thrombolysetherap1e berücksichtigt werden sollte, ist derzeit noch nicht ab~chhessend gekl~rt. Nachgewiesen wurde, dass da5 Vorliegen von~ .5 l\Jikroblutungcn keine Bedeutung fur das Auftreten von Blutungskotn plikattoncn unter Thrombolyse hat (Boulander et al. 2006). Ob das Blutungsrisiko steigt, wenn Patienten mit mehr als 5 Mikroblutungen lysiert werden, ist noch unklar. Die Vetfügbarkeit der einzelnen Methoden entscheidet momentan noch über den diaonostischen Weg im Einzelfall. Bei der MehrLahl der Patienten wird eine CCT als Erstu~tersuchung nach dem Ereignis durchgeführt. Dies dürfte sich aber langfristig ändern, da die Vetfügbarkeit von MRT-Geräten in den Kliniken steigt, die Untersuchungs7ettcn, die für die sogenannten „Schlaganfallsequenzen" benötigt werden, sinken, und die Information. die mit der MRT gewonnen werden kann, weit über der der CCT liegt. Die Thrombolysestudien haben keine Gefäßdiagnostik vor Einschluss der Patienten in die Studie gefordert. Entsprechend erfolgt auch die Thrombolysetherapie im Alltag in aller Regel ohne Nachweis oder genaue Lokalisation eines Gefiißverschlusses. Mittlcrwe1lc gibt es allerdings Hinweise, dass die systemische Thrombolysetherapie bei peripheren Gefäßverschlüssen effektiver ist als bei proximalen, und dass möglicherweise die intraarterielle Thrombolyse oder mechanische Rekanalisation die bessere Alternative für Verschlüsse der größeren proximalen Gefäße ist (Rubiera et al. 2006). Für Einrichtungen, die sowohl die systemische Lyse als auch die intraarterielle Lyse oder mechanische Rekanalisation anbieten können, wird daher empfohlen, in die Akut-Diagnostik die Darstellung der hirnversorgenden Gefäße mittels CT-Angiographie oder MRT-Angiographie mit aufzunehmen, um jene Patienten zu identifizieren, die eher von interventionellen Methoden profitieren könnten, und die Therapie entsprechend auszurichten (Wintermark et al. 2008: Albers et al. 2008).

Thrombolysetherapie des akuten ischämischen Schlaganfalls · · bi'sher fu"r die intravenöse Lysetherapie beim Schlaganfall ?ugclassenc D as e1nz1ge . . , .. 3 s d , Thrombolytikum ist Alteplase. Zugelassen ist die Therapie innerhalb ~er e~stc~ ~ ~n t:~ nach Beginn der Symptomatik. Seit Publikation der ECA~S III-Stud1e, d1e cmcn 400 mg/dl, eine PTT-wirksame Heparinisierung innerhalb der vorausgegangenen 24 Stunden oder eine Marcumarisierung mit Quick-Werten unterhalb von 50%, sowie ein K.rampfanfall zu Beginn der Symptomatik. Die systemische Lysetherapie wird mit 0,9 mg rtPA pro Kilogramm Körpergewicht durchgeführt. 10 % der Gesamtdosis werden als Bolus appliziert, die Restdosis als Kurzinfusion über 1 Stunde. Die Maximaldosis beträgt 90 mg. Die häufigste Komplikation der systemischen Lysetherapie sind Blutungen. Gefürchtet sind insbesondere intracerebrale Blutungen, wobei hier das Ausmaß der Blutungen von einigen wenigen petechialen Einblutungen in den Infarkt bis zu einer raumfordemden Parenchymblutung reichen kann. Symptomatische hämorrhagische Transformationen der Infarkte nach Lysetherapie wurden nach den Ergebnissen einer kombinierten Analyse mehrerer Lysestudien bei 5.9 % der lysierten Patienten im Vergleich zu 1.1 % der nicht lysierten Patienten gesehen. Asymptomatische hämorrhagische Transformationen wurden bei 2,9 % (NINDS-Studie) bis zu 36,8 % (ECASS II) der Patienten beschrieben. Neben den hämorrhagischen Transformationen des Infarktgebietes treten selten auch spontane Blutungen in das Hirngewebe ausserhalb der von der Ischämie betroffenen Region auf. Identifizierte Risikofaktoren für das Auftreten von hämorrhagischen Transformationen des Infarktes nach Lysetherapie sind das Alter des Patienten, der Schweregrad des Infarktes bzw. die Größe des Infarktgebietes, ausgedehnte Frühinfarktzeichen, hoher Blutdruck und ein Diabetes mellitus (Thanvi et al 2009). Neben den intracraniellen Blutungen treten selbstverständlich auch systemische Blutungen unter der Lysetherapie auf, die jedoch selten zu einer schweren Beeinträchtigung des Patienten führen (NINDS r-TPA stroke trial, NEJM 1995). Seltener als Blutungen in Folge der Lysetherapie sind systemische sekundäre Embolien. Hier liegen bisher kaum systematische Analysen vor, jedoch Einzelfallberichte über frühe cerebrale Sekundärinfatkte oder auch Herzinfarkte unter der Lysetherapie (Derex et al. 2001, Georgiadis et al. 2006). Basilarisverschluß Eine besondere Situation in der Akutversorgung von Schlaganfallpatienten stellt der Verschluss der Arteria basilaris dar. Diese Verschlüsse beruhen zu mindestens einem Drittel auf vorbestehenden arteriellen Stenosen und kündigen sich häufig durch das oben erwähnte „Basilarisstottem" an. Die Prognose unbehandelter Basilarisverschlüsse ist extrem schlecht. Die Mortalität liegt bei ca. 90%. Aus diesem Grund wurde die Lysetherapie bei Basilarisverschlüssen trotz der initialen Misserfolge der Lysetherapie (mit Streptokinase) im vorderen Stromgebiet kontinuierlich weiter verfolgt. Die erste erfolgreiche i.v.-Lyse bei Basilarisverschluss wurde 1981 von Zimmermann et al. berichtet, die erste erfolgreiche intra-arterielle Lyse bei Basilarisverschluss von Zeumer et al. 1982. Bis vor wenigen Jahren wurde die intra-arterielle Lysetherapie bei Basilarisverschlüssen favorisiert. Eine Vergleichsstudie zur Evaluierung von intraarterieller versus intravenöser Lyse wurde jedoch ebenso wenig wie für die Lysetherapie im vorderen Stromgebiet durchgeführt. In einer Serie von 50 Patienten, die mit i.v.-Lyse behandelt wurden, hatten Lindsberg et al. (2004) vergleichbare Ergebnisse erzielt, wie sie aus anderen Fallserien nach i.a.-Lyse abzulesen waren. Eine kürzlich publizierte Analyse der Ergebnisse einer prospektiv zusammengestellten Fallserie, die auf Daten von 592 Patienten mit Basilarisverschlüssen in 27 Zentren europaweit basiert, legt den Schluß nahe, dass insbesondere Patienten, die bei Aufnahme noch mässiggradige neurologische Symptome aufweisen, von einer i.v.-Lyse eher profitieren als von einer i.a.-Lyse. Bei Patienten, die mit schweren neurologischen Ausfällen eingeliefert wurden, ergab sich kein Unterschied im Outcome in Abhängigkeit von der Behandlungsstrategie (Schonewille WJ et al. 2009). Obwohl

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dic~c Er~ebn~sse_ methodisch bedingt noch nicht als Bewei1., für die Überlegenheit der i. v.Ly~~ bet Bas1lc.t~1sve1~sch_luss angesehen \Verden können, unterstul/cn 60 Jahre)

Gl691A-Mutation im F V-Gen (Faktor V „Leiden")

Hyperhomocysteinärnie

Immobilisation

G20210A-Mutation im F II-Gen (Prothrombin-Mutation)

Erhöhte Aktivitäten / Konzentrationen von:

Operationen

4G/5G Mutation im PAI-1-Gen (4G/5G-Deletion/Insertion)

Faktor I (Fibrinogen)

Pille und Hormonersatztherapie

C677T-Mutation im MTHFR-Gen

Faktorll

Schwangerschaft und Wochenbett

CI0034T-Mutation im Fg-y-Gen

Faktor VII

Thrombosen in der Vorgeschichte

Antithrombin-Mangel

Faktor VIII:C

Tumorkrankheit

Protein C-Mangel

Faktor IX

Antiphospholipid-Syndrom

Protein S-Mangel

Faktor XI

Myeloproliferative Syndrome

Dysfibrinogenärnie

von-Willebrand-Faktor

Tab. 2 Risikokonstellationen und Risikodeterminanten bei venöser Thrombogenese. Bei den meisten Patienten wird eine venöse Thrombose erst durch das Zusammentreffen expositioneller und dispositioneller Risiken ausgelöst (aus: Scharf et al. [29]). Fg-y=Fibrinogen-Gamma-Kette, MTHFR=MethylentetrahydrofolatReduktase, PAl-l=Plasminogen-Aktivator-Inhibitor 1.

Ursachen der venösen Thrombogenese können Veränderungen des Blutflusses (Stase), Veränderungen der Venenwandung (Entzündungsprozesse) oder Veränderungen der ,,Blutzusammensetzung" mit gesteigerter Gerinnungsneigung (Hyperkoagulabilität) sein. Diese Virchowsche Trias ist unvermindert aktuell und hat durch Aufldärung molekularer Mechanismen, die eine Hyperkoagulabilität hervorrufen, ihre Bestätigung erfahren. Gewichtung genetischer Risikofaktoren Kongenitale Mangelzustände an Antithrombin, Protein C oder Protein S bedingen ein hohes Thromboserisiko [25]. Demgegenüber ist dieses Risiko bei heterozygoter Faktor V „Leiden"- oder Prothrombin G20210A-Mutation moderat. Die Präsenz eines hereditären Risikofaktors allein löst keinesfalls eine tiefe Venenthrombose aus. Basierend auf der Virchowschen Trias beruht die Ätiologie venöser Thromboembolien nach aktuellem Verständnis vielmehr auf dem multifaktoriellen und multikausalen Zusammenwirken erworbener und genetischer Risikofaktoren und daraus resultierender Gefährdungspotentiale. Exemplarisch für diesen Synergismus ist die Interaktion zwischen genetischen Risikofaktoren und Schwangerschaft. Rolle genetische Risikofaktoren am Beispiel der Schwangerschafts-Thrombosen Bei Patientinnen mit venöser Thromboembolie (VTE) während vorausgegangener Schwangerschaft haben wir die Prävalenzen genetischer Risikofaktoren ermittelt [30]: eine Faktor V „Leiden"-Mutation bestand bei 43.7% der Patientinnen mit VTE gegenüber

204

7.7% bei gesunden Frauen (rel. Risiko 9.3), eine Prothrombin-Mutation bei 17% der Patientinnen gegenüber 1.3% (rel. Risiko 15.2). Die Kombination beider Mutationen wurde bei 9.3% der Patientinnen, hingegen bei keiner Frau ohne VTE gefunden (geschätztes rel. Risiko 107). Diese Daten lieferten die Grundlage, erstmals eine statistisch gesicherte Abschätzung der individuellen Thrombosegefährdung während Schwangerschaft und Puerperium vorzunehmen (Tabelle 3). Konstellation

Thromboserisiko

Kein genetischer Risikofaktor

0.07 %

1:1500

Faktor V „Leiden" -Mutation (heterozygot)

0.25 %

1:400

Prothrombin G20210A-Mutation (heterozygot)

0.33 %

1:300

Faktor V „Leiden"- und Prothrombin O20210-Mutation (jeweils heterozygot) in Kombination

5.0 %

1:20

Tab. 3 Thromboserisiko in der Schwangerschaft und Postpartalphase bei genetisch determinierten thrombophilen Einzel- oder Kombinationsdefekten. Statistisch gesicherte Abschätzung der Thrombosegefährdung (aus Gerhardt et al. [30]).

Liegt kein genetisch determinierter thrombophiler Risikofaktor vor, ist von einer Thromboseinzidenz von 1: 1500 Schwangerschaften auszugehen. Bei heterozygotem Faktor V „Leiden" oder heterozygoter Prothrombin G20210A-Mutation muss mit 1 Thrombose auf 400 bzw. 300 . Schwangerschaften gerechnet werden. Das absolute Thromboserisiko ist also niedrig. Hingegen steigt bei kombiniertem Vorliegen beider thrombophiler Mutationen in heterozygoter Konstellation das Thromboserisiko überproportional auf ca. 1 thromboembolisches Ereignis bei jeder 20. Schwangerschaft an (Tabelle 3). Die Interaktion mehrerer Risikofaktoren wirkt sich also nicht additiv, sondern multiplikativ auf das Thromboserisiko aus. Angesichts der hohen Prävalenz kombinierter Defekte von ca. 1 auf 1000 Individuen hat dieses Ergebnis besondere Relevanz. Zugleich stützen die Resultate das Konzept einer multikausalen Genese schwangerschaftsassoziierter Thrombosen als Folge einer Interaktion kombinierter Defekte bzw. als Folge des Zusammentreffens expositioneller und dispositioneller Risiken.

Hämorrhagische Diathesen Angeborene Thrombozytopathien und hereditäre Mangelzustände bestimmter Gerinnungsfaktoren sind Raritäten und spielen im klinischen Alltag (außerhalb spezialisierter Zentren) eine untergeordnete Rolle. Anders verhält es sich mit dem von-WillebrandSyndrom, der häufigsten vererbbaren Bluterkrankheit (Prävalenz 0.8 bis 1.3%). Neben hereditären Formen werden zunehmend Patienten mit erworbenem von-WillebrandSyndrom diagnostiziert, z.B. bei Aortenklappenstenose (s. oben). Das von-Willebrand-Syndrom (vWS) wird die durch quantitative und/oder qualitative Veränderungen des von-Willebrand-Faktors (vWF) hervorgerufen. Pathophysiologisch können Defizienz oder Defekt des vWF je nach Art und Schweregrad eine Erniedrigung der FVIII:C-Aktivität und Störungen der Plättchenadhäsion und -aggregation bedingen (s. oben). Definitionsgemäß handelt es sich um einen plasmatischen Hämostasedefekt, der klinische Phänotyp entspricht aber einer Plättchenfunktionsstörung (Schleimhautblutungen, Petechien, Neigung zu Hämatomen). Zur Klassifikation werden quantitative Störungen (Typ 1: vWF vermindert; Typ 3: vWF nahezu fehlend) und qualitative Defekte (Typ 2 mit zahlreichen Varianten) unterschieden [8]. Kritisch kann gerade ein mildes vWS Typ 1 sein, das unter Alltagsbedingungen symptomarm verläuft, aber bereits z.B. bei Zahnextraktion zu erheblicher Blutung führt. Diagnostisch ergibt sich zudem das Problem, dass mit üblichen Suchtests ein vWS nicht ausreichend erfasst wird: weder eine 205

normale aPTT noch ein normaler FVIII:C schließen ein vWS aus. Erforderlich ist ein Hämostaseprofil mit Bestimmung der In-vitro-Blutungszeit (PFA-Technik) sowie der Aktivität und Konzentration des vWF. Eine exakte Klassifikation macht Zusatz- und Spezialuntersuchungen (z.B. vWF-Multimeranalyse) erforderlich. Prophylaxe und Akutbehandlung: Desmopressin (DDAVP, Minirin®) bei Typ 1, vWF-haltige Plasmakonzentrate (Haemate P®) bei Typ 2 und Typ 3. Zusätzliche Gabe eines Antifibrinolytikums (Tranexamsäure, Cyklokapron®). Zu Einzelheiten wird auf Übersichten [5, 8] verwiesen.

Primäre Hämostasestörungen Hauptursache unerwarteter Blutungskomplikationen in der klinischen Praxis sind - außer dem von-Willebrand-Syndrom - erworbene Thrombozytenfunktionsstörungen [9]. Sie sind am häufigsten medikamentös bedingt [3, 5]. Der pharmakologische Wirkmechanismus der wichtigsten antithrombozytären Substanzen ist in Abb. 8 schematisch dargestellt. Neben den „Klassikern" wie Azetylsalizylsäure (ASS), Thienopyridinen (Clopidogrel, z.B. Iscover®, Plavix®; Prasugrel, z.B. Efient®; Ticlopidin, z.B. Tiklyd®), der Vielzahl nichtsteroidaler Antirheumatika und den GPilb-Illa-Rezeptorantagonisten sind für über 250 Pharmaka, Nahrungsmittel, Gewürze, Diäten und Vitamine Hemmeffekte auf die Plättchenfunktion bekannt.

Agonisten-induzierte Plättchenaktivierung

Kollagen, Thrombin, Scherstress, ADP, TXA2, Adrenalin

R

ADP

Metaboliten

f-1:fflbi ufüfl i==::::::::1----~f-1=1:ffld#Sffl • iifflfü.fü,■

Prasugrel Clopdogrel Ticlopidin

1Aggregation 1

Abb. 8 Plättchenfunktionshemmende Substanzen und ihr Wirkmechanismus (aus: Scharf [9]).

Nicht unterschätzt werden sollte die antithrombozytäre Wirkung von ß-Laktam-TypAntibiotika (z.B. Penicilline und Cephalosporine). Sie können Blutungen verstärken oder auslösen. Dies gilt insbesondere bei kritisch Kranken mit latenten Hämostasestörungen, die kompensiert bleiben, solange die Plättchenfunktion nicht medikamentös beeinträchtigt wird. Neben pharmakologischen Effekten sind es bestimmte Erkrankungen, die häufig mit Hämostasestörungen einhergehen und zu Blutungen führen. Hierzu zählen: 206

• Urämie, bei der kleine toxische Stoffwechselprodukte mit plättchenfunktionshemmender Wirkung vorhanden sind [9); • Leberzirrhose, bei der schwere Blutungen auftreten, wenn verminderte Aktivitäten der Gerinnungsfaktoren, Dysfibrinogenämie, Thrombozytopenie und Plättchenfunktionsdefekte gleichzeitig auftreten und durch gestörte Clearancefunktion des retikuloendothelialen Systems noch aggraviert werden können [1, 3]; • akute Leukämien, myeloproliferative und myelodysplastische Syndrome mit dysfunktionellen Plättchenpopulationen (infolge klonaler Proliferation abnormer Megakaryozyten) [9); • monoklonale Gammopathien und antithrombozytäre Autoantikörper [9); • kardiopulmonaler Bypass und Hämodialyse, bei denen die Thrombozyten künstlichen Oberflächen ausgesetzt werden mit dem Resultat einer Aktivierung und Degranulierung zirkulierender Plättchen (,,exhausted platelets") [l, 9).

Zur Häufigkeit primärer Hämostasedefekte sind die Ergebnisse der eingangs zitierten prospektiven Studie von Koscielny et al. aufschlussreich [3]. Diese Autoren untersuchten über 5600 konsekutive (unselektionierte) Patienten (Alter: 17-87 Jahre) vor elektiven Operationen (Fragebogen zur Blutungsanamnese und standardisiertes Test-Panel zum Hämostase-Screening einschließlich In-vitro-Blutungszeit-Bestimmung mittels PFA100). Eine negative Blutungsanamnese hatten 89% der Patienten, in der Gruppe mit Blutungsanamnese (11 %) war bei 256 von 628 Patienten das Labor-Screening auf einen Hämostasedefekt positiv (41 % ). Die detaillierte Untersuchung dieser 256 Patienten ergab Plättchenfunktionsdefekte in 73%, Koagulopathien in 0.8% und kombinierte Hämostasestörungen in 26.2% (mit einem hohen Anteil an Patienten mit von-Willebrand-Syndrom). Unter 187 Patienten mit primären Hämostasedefekten fand sich bei 87% eine Medikamenten-induzierte Plättchenfunktionsstörung [3]. Diese Ergebnisse illustrieren insgesamt klinisch wichtige Aspekte: • Erworbene Plättchenfunktionsdefekte sind viel häufiger als vermutet. • In der Mehrzahl liegt eine medikamentös induzierte Plättchenfunktionsstörung vor. • Das Screening auf primäre Hämostasedefekte erfordert adäquate Labortests (z.B. PFA). • Plättchenzählung und Gerinnungstests (aPTT, Prothrombinzeit nach Quick) sind ungeeignet, um Plättchendefekte zu detektieren. • Echte Gerinnungsstörungen sind, wie dokumentiert (2 von 256 Patienten), wesentlich seltener als gemeinhin angenommen.

Schlussbemerkungen Die Resultate der Studie [3] unterstreichen, dass wir in der klinischen Praxis zumeist Hämostasestörungen begegnen. Mit „Gerinnungsstörungen" sollten also nur die (seltenen) Abweichungen bezeichnet werden, auf die der Begriff auch wirklich zutrifft. In Anbetracht der demographischen Entwicklung dürften beide Facetten eines gestörten Hämostasesystems, Thrombosen und Blutungen, ein Problem bleiben [17]. Dies betrifft die mit zunehmendem Alter steigende Inzidenz venöser und arterieller Thrombosen ebenso wie die Blutungskomplikationen unter intensivierter antithrombotischer Behandlung oder Sekundärprophylaxe. Strategien, die ausschließlich antithrombotisch, nicht aber antihämostatisch wirken, sind entworfen, entsprechende Substanzen aber noch nicht verfügbar [17, 18]. 207

Literaturverzeichnis l.

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208

Welcher PEEP für wen? G.

HUSCHAK,

T.

BUSCH

1. Einleitung Die Anwendung eines positiven endexspiratorischen Druckes (engl. positive endexpiratory pressure, PEEP) bedeutet, dass bei der Exspiration ein definierter Atemwegsdruck, der höher als der atmosphärische Druck ist, nicht unterschritten wird. Während die Bezeichnung PEEP vorwiegend bei kontrollierten Beatmungsmodi Verwendung findet, wird der Terminus CPAP (kontinuierlicher positiver Atemwegsdruck, engl. continuous positive airway pressure) häufig mit Spontanatmungsformen assoziiert. Der Atemwegsdruck liegt bei kontrollierter Beatmung in der Regel während des gesamten Atemzyklus über dem PEEP-Niveau, bei assistierter Beatmung oder Spontanatmung kann er aber auch niedrieger sein. Abbildung 1 zeigt typische entsprechende Zeitverläufe.

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Abbildung 1: Druck-Zeit-Kurven bei Applikation von PEEP unter kontrollierter Beatmung (oberer Teil) und Spontanatmung im CPAP-Modus ohne Druckunterstützung (unterer Teil)

2. Grundlagen Hinsichtlich der Generierung eines PEEP existieren prinzipiell zwei Möglichkeiten: Der extrinsische PEEP (ePEEP), der über ein Beatmungsgerät oder separates Ventil appliziert wird und der intrinsische PEEP, welcher sekundär nach inkompletter Exspiration durch die Akkumulation von Ausatemluft entsteht (engl.: air trapping, gas trapping, dynarnic hyperinflation). Die letztgenannte Art wird auch als auto-PEEP oder intrinsicher PEEP (iPEEP) bezeichnet. Dieser iPEEP wird üblicherweise nicht am Beatmungsgerät angezeigt, ist jedoch am Verlauf der Flusskurve leicht erkennbar (Abbildung 2). Es zeigt sich hierbei zu Beginn der nächsten Inspiration ein noch nicht sistierender Flow. Im Falle einer inhomogenen Ventilation der Lunge kann der iPEEP jedoch auch in Abwesenheit von Flow am Ende der Expiration vorhanden sein. Ein iPEEP kann auch durch eine maschinelle Beatmung mit inversem Zeitverhältnis der Inspiration/Exspiration zustande kommen. Häufiger jedoch ist eine Erhöhung der exspiratorischen Flow-Resistance auf Grund

209

einer Atemwegserkrankung, durch Schleim oder den Endotrachealtubus selbst. Der iPEEP kann - wie auch der ePEEP - eine Erhöhung der funktionellen Residualkapazität (FRC) und eine alveoläre Rekrutierung bewirken. Hieraus kann bei Beatmung mit einem inversem 1/E-(Inspiration/Exspiration)-Verhältnis eine verbesserte Oxygenierung resultieren. Jedoch kann dieser iPEEP auch schnellen Veränderungen. zum Beispiel durch Schleimretention, unterliegen. Auf eine deutliche Steigerung eines iPEEP kann eine signifikante Rechtsherzbelastung folgen (1). Weiterhin kann ein solch ansteigender iPEEP die Spontanatembemührungen des Patienten behindern, was zu einer Desynchronisierung mit dem Respirator führen kann (2).

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Abbildung 2: Durch eine zu kurze Exspirationszeit kommt es zur unvollständigen Ausatmung (erkennbar am noch nicht sistierenden Flow zu Beginn der nächsten Inspiration, Pfeil). Dies führt zum Airtrapping und zur Generierung eines intrinsischen PEEP.

Die Generierung eines ePEEP geschieht üblicherweise durch ein Druckbegrenzungsventil, welches in den Exspirationsschenkel des Respirators integriert ist. Die Exspiration endet, wenn der eingestellte ePEEP-Level erreicht ist. Im einfachsten Fall kann ein Ventil auf den Exspirationsauslass eines Beatmungsbeutels aufgesteckt werden. Bei manchen Ausführungen verstellt sich durch Drehen des Ventils ein Federmechanismus, welcher das ePEEP-Niveau verändert. Im folgenden Text wird die Abkürzung PEEP im Sinne vom ePEEP verwendet.

3. Veränderungen während einer Anästhesie Eine Allgemeinanästhesie ist häufig mit einer Verringerung der FRC verbunden. Dieser Vorgang wird sowohl durch die Rückenlagerung als auch durch die mit der Einleitung der Anästhesie verbundene Relaxierung bedingt (3). Hierdurch kann die FRC um bis zu 50 % abfallen. Insbesondere sind hiervon adipöse Patienten betroffen (4). Sofern die FRC einen kritischen Wert unterschreitet, kommt es zum Verschluss der kleinen Atemwege. Dieses Volumen wird als Verschlusskapazität bezeichnet (engl. closing capacity, CC). Ein Teil der Alveolen und Bronchioli verschließt sich bei Erreichen der CC auf Grund radiärer Rückstellkräfte. Vereinfachend sind die Kräfte, welche ein Offenhalten bewirken, bei höheren Lungenvolumina größer. Die Verschlusskapazität steigt mit dem Alter an und gleicht sich ungefähr im 44. Lebensjahr der FRC von liegenden Patienten an (5). Wenn nun die FRC auf einen Wert kleiner als die CC abfällt, kommt es zum Kollaps von Lungenarealen, welche aber trotzdem weiterhin vom pulmonalen Blutfluss perfundiert werden. Dies führt zur Generierung eines intrapulmonalen Shunts gefolgt von einer Beeinträchtigung der arteriellen Oxygenierung, sofern nicht der aleveoläre Sauerstoffpartialdruck durch eine Erhöhung der FiO2 (inspiratorische Sauerstoffkonzentration) angehoben wird. Da die CC mit zunehmendem Alter ansteigt, ist ~eser Effekt altersabhängig (6). 210

Verschlossene Lungenareale unterliegen je nach der Zusammensetzung des eingeschlossenen Gasgemisches und dem Ventilations-/Perfusions-Verhältnis der einzelnen Alveolen einer Atelektasenbildung durch Resorption (Resorptionsatelektase). Zusätzlich kommt es zur Ausbildung von Kompressionsatelektasen (Eigengewicht der Lunge, Relaxation des Zwerchfells mit kranialer Verlagerung, intraabdominelle Druckerhöhung). Bereits bei der Narkoseeinleitung entstehen bei fast allen erwachsenen Patienten Atelektasen (7). Diese sind maßgeblich für die mögliche Entwicklung intraoperativer Gasaustauschstörungen verantwortlich (8). Durch die Einstellung eines PEEP kann die Atelektasenbildung vermindert werden. Jedoch bewirkt dies vor allem bei lungengesunden Patienten nicht unbedingt eine wesentliche Verbesserung des Gasaustauschs (9, 10), da es parallel zur Verbesserung der alveolären Ventilation auch zu einer Zunahme von Lungenarealen mit hohen Ventilations/-Perfusionsverhältnissen (engl. High VNQ) kommen kann (11, 12). Außerdem ist bei Lungengesunden wegen des initial geringen Shunt-Anteils keine wesentliche Verbesserung der Oxygenierung zu erwarten; die Anwendung des PEEP wirkt hier aber präventiv dem alveolären Kollaps entgegenwirken.

4. Ventilatorassoziierter Lungenschaden während Intensivtherapie Insbesondere hohe Beatmungsdrückedrücke zusammen mit großen Tidalvolumina sind während maschineller Beatmung für die Ausbildung eines ventilatorassoziierten Lungenschadens mitverantwortlich (13). In den meisten Fällen entsteht ein perivaskuläres Ödem, dessen Ausmaß stark von der Höhe des applizierten Spitzendruckes abhängt. Je nach Druckhöhe kann sich hierdurch auch ein ausgeprägtes alveoläres Ödem entwickeln. Weiterhin kommt es insbesondere an den Grenzflächen zwischen ventilierten und nicht ventilierten Arealen während eines Atemzyklus zur Einwirkung von Scherkräften. Hierdurch kann sich ebenfalls ein proteinreiches Ödem bilden. Für diese Schädigung wurde der Begriff Atelektrauma geprägt. Da ein PEEP in der Lage ist, das zyklische Verschließen und Wiedereröffnen von Alveolen zu verhindern, kann PEEP grundsätzlich lungenprotektiv wirken. Andererseits erhöht der PEEP den Beatmungsdruck und kann in ventilierten Lungenbereichen zur Überdehnung führen. Im Rahmen des beatmungsassoziierten Lungenschadens spielen weitere Faktoren wie zum Beispiel Inflammation, Biotrauma und Lipidperoxidation eine Rolle. Um die negativen Auswirkungen einer Beatmung zu minimieren wurde das Konzept von "lungenprotektiven" Beatmungsstrategien entwickelt. Ihre wesentlichen Bestandteile sind die Beatmung mit kleinen Tidalvolumina (6-8 ml pro kg ideales Körpergewicht) und eine Druckbegrenzung (ggf. Akzeptanz einer permissiven Hyperkapnie), die Wahl eines adäquaten PEEP und gegebenenfalls die Wiedereröffnung atelektatischer Lungenareale in der Frühphase einer Lungenschädigung durch Rekrutierungsmanöver sowie Lagerungsmanöver zusammen mit frühzeitiger Initiierung von Spontanatmung (14). Auch ein solches Beatmungsregime bleibt letztlich invasiv, so dass der Begriff der "lungenprotektiven Beatmung" nicht unbedingt mit der Unschädlichkeit einer solchen maschinellen Beatmung verbunden ist.

5. Auswahl des PEEP Das PEEP-Niveau ist normalerweise einer der ersten Parameter, die zu Beginn einer maschinellen Beatmung eingestellt werden. Die Unterscheidung zwischen lungengesunden Patienten während einer Anästhesie bei elektiven Eingriffen und Patienten mit Lungenschädigung auf der Intensivstation ist essentiell. Im Folgenden werden diese beiden Patientengruppen näher betrachtet. 211

5.1. Lungengesunder Patient

Es wird oft eine PEEP-Einstellung von 5-8-(10) cmHp verwendet. Warum? Trotz der oben genannten Überlegungen gibt es momentan für oder gegen die standardmäßige Applikation eines PEEP beim lungengesunden Patienten keine wissenschaftliche Evidenz. Es ist diskutiert worden, ob beim Lungengesunden ein "physiologischer PEEP" auf der Basis der Glottisfunktion (15) existiert, welcher durch die Herstellung eines sicheren Atemwegs aufgehoben wird. Dies führte zur Empfehlung der Applikation niedriger PEEP- Werte von 3 bis 5 cmHp im Sinne eines "physiologischen PEEP". Eine Verbesserung der Oxygenierung ergibt sich dabei allerdings nicht in jedem Fall. Andererseits scheint die Anwendung eines niedrigen PEEP-Levels von 5-10 cmHp auch keine klinisch relevanten negativen Auswirkungen zu haben. Diese Aussage gilt für nicht selektierte, lungengesunde Patienten. So zeigte sich in einer Arbeit, welche die Auswirkungen der Erhöhung des PEEP von O auf 10 cmHp bei normalgewichtigen (BMI < 25 kg/m2) und fettsüchtigen Patienten (BMI > 40 kg/m2) untersuchte, eine Verbesserung der respiratorischen Funktion der adipösen Patienten, jedoch nicht bei den norrnalgewichtigen Patienten (9). Die Applikation eines PEEP von 5 cmHp scheint auch bei Kindern ohne negative Auswirkungen zu sein, wobei dieses PEEP-Niveau in der Regel nicht ausreicht, die Verringerung der FRC während einer Anästhesie zu verhindern (16). Bei der Applikation eines geringen PEEP (5-10 c~O) ohne vorhergehendes Recruitmentmanöver zeigte sich beim Lungengesunden während Allgemeinanästhesie eine geringere Verbesserung des Gasaustauschs als nach Recruitment (17). Hinsichtlich der Ausbildung von Atelektasen gibt es Hinweise, dass diese auch in der postoperativen Zeit persistieren und durchaus die Erholung beeinträchtigen können (18). Trotzdem steht der Nachweis aus, dass Recruitmentmanöver zur Verringerung von Atelektasen die Kürze des Krankenhausaufenthaltes und das Outcome verbessern können (19). Sofern sich aber intraoperativ eine akute Oxygenierungsstörung auf der Basis einer Atelektasenbildung entwickelt, ist ein Recruitmentmanöver, gefolgt von einer Erhöhung des PEEP, auf jeden Fall sinnvoll. Hierbei ist auf eine Normovolämie zu achten, da andernfalls relevante Blutdruckabfälle und Bradykardien drohen. Zusammenfassend gibt es für oder gegen die Beatmung lungengesunder Patienten mit PEEP bislang keine Evidenz. Die Anwendung eines niedrigen PEEP-Levels von 5-10 cmHp ist bislang ohne klinisch relevante negative Auswirkungen geblieben. Jedoch ist die Unterscheidung von intensivmedizinisch behandelten Patienten und von Patienten mit einem höheren pulmonalen Risiko wichtig. Insbesondere bei Adipösen, bei Patienten mit erhöhten intraabdominellen Drücken und bei Patienten mit Lungenversagen ist ein differenzierteres Vorgehen mit einem meist höheren PEEP-Level notwendig. Dies kann soweit gehen, dass auch intraoperativ ein für die Intensivtherapie geeignetes Beatmungsgerät verwendet werden muss, da nicht alle Narkoseapparate ausreichend hohe PEEP-Level zulassen. 5.2. Lungenversagen

Die Anwendung eines adäquaten PEEP ist ein essentieller Bestandteil der Behandlung von Patienten mit akutem Lungenversagen (engl. acute lung injury, ALi) und schwerem akutem Lungenversagen (engl. acute respiratory distress syndrome, ARDS). In Kombination mit maschineller Beatmung unter Verwendung kleiner Tidalvolumina, Bauchlagerung, frühzeitigen Rekrutierungsmanöver, restriktivem Flüssigkeitsmanagement und antibiotischer/chirurgischer Fokussanierung wird hierbei versucht, die Oxygenierung bei Hypoxämie zu verbessern (20). 212

Charakteristisch für die ödematös veränderten Lungen von ARDS-Patienten ist die Inaktivierung von Surfactant. Die dadurch bedingte Erhöhung der alveolären Wandspannung führt zur Bildung von Atelektasen. Zusätzlich wird der Alveolarkollaps durch die Gravitationskräfte in den ödematösen, schweren Lungenabschnitten, durch das Gewicht des Mediastinums sowie durch einen erhöhten intraabdominellen Druck verstärkt. Um die Alveolen offen zu halten und einen atemzyklischen Kollaps zu vermeiden, ist daher ein PEEP in der Größenordnung dieser kompressiven Kräfte notwendig. Hierdurch wird eine relevante Verbesserung der arteriellen Oxygenierung möglich. Die Frage ist nun: Wie hoch soll der PEEP sein? Die Wahl des richtigen PEEP ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten, und die Bandbreite an Konzepten zur optimalen Einstellung ist groß. Neben der Berücksichtigung atemmechanischer Grundlagen, wie zum Beispiel von Druck-Volumen-Schleifen, kommen empirische Herangehensweisen unter Einbeziehung des Oxygenierungsstatus in Betracht. Während zu niedrige PEEP-Niveaus einen Kollaps der Alveolen nicht verhindern, überdehnen zu hohe PEEPNiveaus Lungenareale, die relativ wenig geschädigt (und somit nur geringen kompressiven Kräften ausgesetzt) sind. Die Ermittlung des individuell geeigneten PEEP kann anhand der Druck-Volumen-Beziehung des Patienten erfolgen. Graphisch erscheint der inspiratorische Schenkel dieser Druck-Volumen-Beziehung als sigmoide Kurve aus drei Teilen: einem flachen Beginn mit ansteigender Compliance, einem geraden Verlauf mit etwa konstant größter Compliance und einem Bereich mit abnehmender Compliance in hohen Druckbereichen. Auf dieser Kurve lassen sich zwei Punkte identifizieren, die durch die Steigungsänderung der Kurve (bzw. der Compliance) charakterisiert sind: 1) der untere Umschlagspunkt (engl. lower inflection point, LIP oder Pfl••) und 2) der obere Umschlagspunkt (engl. upper inflection point, UIP). Während bei Beatmungsdrücken unterhalb des LIP eine Derekrutierung stattfindet, kommt es bei Drücken oberhalb des UIP zur Überdehnung ventilierter Lungenareale. Ein PEEP-Niveau knapp oberhalb des LIP in Kombination mit einem unterhalb des UIP begrenzten Atemwegsspitzendruck verhindert den alveolären Kollaps und vermindert gleichzeitig das Risiko für Volu- bzw. Barotraumen - dieser Wert wird als idealer PEEP bezeichnet (21). Die Methode ergab in den klinischen Studien von Amato et al. (21) und Ranieri et al. (22) bei ARDS-Patienten gut übereinstimmende Werte von 16 ± 1 cmHp bzw. 15 ± 3 cmHp. In beiden Studien wurde ein PEEP von 15 cmHp eingestellt, wenn der untere Inflektionspunkt nicht eindeutig identifiziert werden konnte. Für den UIP wurde in der Studie von Ranieri et al. ein Wert von 32 ± 4 cmH2O angegeben. Zusammenfassend liegt aus unserer Sicht das ideale PEEP-Niveau knapp oberhalb des LIP, wobei der Atemwegsspitzendruck unterhalb des UIP bleiben soll. So wird der alveoläre Kollaps verhindert und das Risiko für Volu- und Barotrauma gesenkt. Druck-Volumen-Kurven lassen sich im klinischen Alltag leider häufig nicht ermitteln. In solchen Fällen ist die Titration des PEEP nach dem klinischen Erfolg (sichtbar an der Verbesserung der Oxygenierung) eine weitere Möglichkeit zur individuellen Adjustierung. Dabei sollte der PEEP unter gleichbleibenden hämodynarnischen Bedingungen und bei unveränderter Einstellung der maschinellen Beatmung schrittweise soweit variiert werden, bis sich sowohl die größtmögliche Zunahme der statischen Compliance als auch der Oxygenierung ergeben. Dabei sollte man von einem erhöhten PEEP-Niveau ausgehen, das sich beispielsweise nach einem Recruitmentmanöver ergibt, und nachfolgend versuchen, dieses sukzessive abzusenken. Dieses Vorgehen ist nach unserer Erfahrung einer tabellarischen Zuordnung des PEEP zur FiO2 - wie sie beispielsweise in einer Studie des ARDS-Networks realisiert wurde (23) - überlegen. Eine multizentrische Studie zur 213

.

Untersuchung eines hohen versus niedrigen PEEP bei ARDS-Patienten (Einstellung des PEEP in Abhängigkeit der FiO2 nach einer Tabelle) zeigte keine Letalitätsunterschiede (24). Jedoch fanden Amato et al. einen Überlebensvorteil bei Kombination kleiner Tidalvolumina (6 ml/kg) und der Anwendung eines idealen PEEP, welcher nach einer quasi statisch gemessenen Druck-Volumen-Kurve eingestellt wurde, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die mit konventionellen Tidalvolumina (12 ml/kg) und niedrigerem PEEP beatmet wurde (25, 26). Zur Ermittlung einer solchen quasi statischen Druck-Volumen-Kurve muss bei beatmeten Patienten die normale Beatmung unterbrochen werden. Von den drei möglichen Methoden (Supersyringe, Okklusionstechnik, Low-Flow-Manöver) ist im klinischen Alltag das Niedrig-Fluss-Manöver praktikabel. Die entsprechende Software ist in modernen Respiratoren integriert (Abbildung 3). Beim Niedrig-Fluss-Manöver wird ein konstanter, niedriger Atemgasfluss (3-6-9 1/min) appliziert, welcher zu einer Inflation der Lunge führt. Die durch den Atemwegswiderstand bedingten Druckverluste sind hierbei vernachlässigbar (27). Vom Arzt müssen die Parameter minimaler und maximaler Atemwegsdruck (P,tart und P timi,), der Gasfluss und das maximal applizierte Volumen vorgegeben werden. Diese Vorgaben sind relevant, da sonst zum einen keine aussagekräftige Kurve generiert werden kann, aber auch die Gefahr eines Volu- oder Barotraumas besteht. Idealerweise können dann an der ermittelten Druck-Volumen-Kurve der LIP und UIP ermittelt werden. Die Einstellung des PEEP soll nun knapp oberhalb des LIP zusammen mit einem Spitzendruck unterhalb des UIP eingestellt werden. Ein Beispiel zeigt die Abbildung 3. Sofern im Verlauf der Therapie Dekonnektionen vom Beatmungsgerät notwendig werden (z. B. Transport mit anderem Respirator), ist ein PEEP-Verlust möglichst zu vermeiden, z. B. durch kurzzeitige Anlage einer Tubusklernme. 01 0214



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Abbildung 3: Ermittlung einer Low-Flow Druck-Volumen-Kurve. Eingestellt wurden ein Anfangsdruck von 5 cmH,O, ein Spitzendruck von 29 cmH,O, ein Flow von 6 1/min und ein Volumenlimit von 750 ml. Der untere Inflektionspunkt (Beginn des Abschnitts konstanter Cornpliance bzw. Steigung der Kurve) befindet sich etwa bei 8 cmH20. Nach Ermittlung dieses P-V-Loops wurde der PEEP auf 10 cmH,O verringert. Respirator: Evita lnfinity® VSOO, Dräger Medical Deutschland GmbH

214

6. Zusammenfassung Die Unterscheidung zwischen der Einstellung eines PEEP bei der Beatmung lungengesunder Patienten während einer Anästhesie und bei Patienten mit einer Lungenschädigung (zum Beispiel ARDS-Patient auf der Intensivstation) ist essentiell. Während es bei lungengesunden Patienten aktuell keine Evidenz für oder gegen die routinemäßige Anwendung eines PEEP gibt, sollte jedoch bei adipösen Patienten und bei Patienten mit erhöhtem intraabdominellen Druck bereits ab der Narkoseeinleitung ein PEEP appliziert werden. Sofern intraoperativ eine ausgeprägte Einschränkung des Gasaustausches auftritt, sollte ein Rekrutierungsmanöver erwogen werden. Um Blutdruckabfälle und Arrhythmien zu vermeiden, ist ein solches Rekrutierungsmanöver erst nach Herbeiführung einer Normovolämie durchzuführen. Bei Patienten mit ALi oder ARDS gehört die Anwendung eines PEEP bei der maschinellen und auch manuellen Beatmung zum Standard einer lungenprotektiven Beatmungsstrategie. Die Beatmung mit einem adäquaten PEEP schützt vor einem alveolären Kollaps. Es kommt bei einer signifikanten Anzahl von Patienten zur relevanten Verbesserung der Oxygenierung und zur Reduktion des intrapulmonalen Rechts-Links-Shunts. Das ideale PEEP-Niveau liegt unter Berücksichtigung der mechanischen Lungeneigenschaften knapp oberhalb des LIP, wobei der Atemwegsspitzendruck unterhalb des UIP bleiben soll - so wird der alveoläre Kollaps verhindert und das Risiko für Volu- und Barotrauma gesenkt.

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Postoperative Darmatonie M. K.

HERBERT

Trotz moderner Fast track-Verfahren kann es bei einzelnen Patienten zu einer ausgeprägten postoperativen Darmatonie kommen, insbesondere nach abdominalchirurgischen Eingriffen. Ein besonders schwieriges Problem stellt häufig die Beeinträchtigung der Magen-Darm-Motilität bei Intensivpatienten nach Operationen dar [1]. Nahezu die Hälfte der beatmeten Intensivpatienten haben eine Hypomotilität des Magenantrums, eine beeinträchtigte Magenentleerung und eine Störung des intestinalen Motilitätsmusters [1-3]. Die Hemmung der Magen-Darm-Motilität beruht postoperativ auf vielfältigen Ursachen und kann je nach betroffenem Magen-Darm-Abschnitt unterschiedliche Ausprägung und Intensität annehmen. Außer dem ausbleibenden Stuhlgang, einem allgemeinen Unwohlsein und geblähten Abdomen kann die beeinträchtigte Magen-Darm-Motilität auch zu Sekundärkomplikationen führen. Der Einschränkung der enteralen Ernährung durch den gehemmten Vorwärtstransport kommt eine besondere Bedeutung zu, da die enterale Ernährung ein wichtiger Faktor beispielsweise für das Outcome und die Länge der intensivmedizinischen Behandlung darstellt [4,5]. Erschwerend kommt hinzu, dass die pharmakologische Therapie der gestörten Magen-Darm-Motilität bei Intensivpatienten häufig unzureichend oder gar erfolglos ist, was wiederum vielfältige Gründe haben kann [6]. Für das Studium von Details zur Pathophysiologie der gestörten Magen-Darm-Motilität postoperativ und bei Intensivpatienten wird auf zwei aktuelle Übersichten verwiesen [6,7].

Regulation der Magen-Darm-Motilität Die Magen-Darm-Motilität wird durch viele interagierende Kontrollsysteme gesteuert. Hierzu zählen das zentrale, autonome und enterische Nervensystem, die Schrittmacherzellen im Gastrointestinaltrakt (Interstitial Cells of Cajal, ICCs ), die glatten Muskelzellen und endokrinen Zellen [8]. Während das enterische Nervensystem die Kontraktion der glatten Muskelzellen der im Magen-Darm-Trakt längs und ringförmig angeordneten Muskulatur reguliert, haben das Zentralnervensystem und das autonome Nervensystem nur einen modulierenden Effekt auf den Vorwärtstransport. Die Neurone des enterischen Nervensystems sind vom Ösophagus bis zum analen Sphincter internus in zwei großen Plexus angeordnet, dem Plexus myentericus zwischen der Längs- und Ringmuskulatur und dem Plexus submucosus zwischen der Ringmuskulatur und der Mukosa. Im Plexus myentericus finden sich hauptsächlich inhibitorische und exzitatorische Motorneurone, deren Funktion von sensorischen Neuronen (intrinsic primary afferent neurons) und Interneuronen gesteuert wird. Die Transmitter exzitatorischer Motorneurone sind Acetylcholin, Substanz P und Serotonin, die der inhibitorischen Motorneurone Stickstoffmonoxid (nitric oxide, NO), Vasoactive Intestinal Peptide (VIP), Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP), Adenosin, Galanin und Dynorphin.

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Motilitätsmuster im Magen-Darm-Trakt Die Motilität im Magen-Darm-Trakt weist zwei Muster auf, die sich grundlegend unterscheiden. Nach der Nahrungsaufnahme gibt es die postprandiale Motilität und Stunden später die interdigestive (=Nüchtem-)Motilität [9]. Die interdigestive Motilität beginnt im Antrum des Magens und verläuft bis zum distalen Ileum in sogenannten Migrating Motor Complexes (MMCs). Diese sind Motilitätsmuster, die in drei Phasen eingeteilt werden: Phase I, die Periode der Inaktivität (45-60 min), Phase II, die irregulärer Kontraktionen (30-45 min) und Phase III bestehend aus regulärer, propulsiver Aktivität (15 min). Die interdigestive Motilität (MMC) wird initiiert von nichtneuronalen Schrittmacherzellen, den ICCs, die ein im Verlauf des Magen-DarmTrakts unterschiedlich dichtes Netzwerk bilden und über gap junctions mit den glatten Darmmuskelzellen in Verbindung stehen. Die Nüchtemmotilität hat die Aufgabe den Darm von Nahrungsresten und unverdaulichen Bestandteilen zu reinigen und das Bakterienwachstum in Schach zu halten (housekeeper function). Die Nüchtemmotilität wird reguliert durch das endogene Peptid Motilin, das an entsprechende Motilinrezeptoren im Gastrointestinaltrakt bindet. Eine funktionierende Nüchternmotilität ist für das endoluminale Milieu von essentieller Bedeutung und die Grundvoraussetzung dafür, dass nach Nahrungsaufnahme ein propulsiver Vorwärtstransport (postprandiale Motilität) einsetzt. Die postprandia/e Motilität setzt ein nach der Aufnahme von Nahrung in den Magen und besteht aus der gastralen Akkomodation (Speicherfunktion), einer langsamen Magenentleerung, einer stationären Motilität in Form segmentaler Kontraktionen und Pendelbewegungen sowie der propulsiven Peristaltik des Dünndarms, die allerdings nur über relativ kurze Strecken abläuft. Die Motilität des Dickdarms weist keine Peristaltik auf, sondern besteht aus Massenbewegungen aus dem Colon ascendens über das Colon transversum in das Colon descendens. Physiologischerweise kann im Colon auch Retroperistaltik auftreten, mit der der Darminhalt zurück ins Colon ascendens verbracht wird, um dann wieder propulsiv in das Colon descendens oder Sigma transportiert zu werden. Die Ausscheidung der Faeces über das Rektum ist ein kompliziert regulierter Vorgang, bei dem viele neuronale und muskuläre Mechanismen interagieren und die sehr fein aufeinander abgestimmt sind.

Normale Magen-Darm-Motilität und Anzahl von Darmentleerungen Ein funktionierender Vorwärtstransport des Chymus aus dem Magen in das Duodenum, durch den Dünn- und Dickdarm und die Speicherung der Faeces im Sigma bzw. Rektum entzieht sich unserer bewussten Wahrnehmung. Erst wenn der Vorwärtstransport beeinträchtigt oder gehemmt ist, treten klinische Symptome auf, die auf diese Störungen hinweisen. Postoperatives Erbrechen kann ein Hinweis auf eine Magenentleerungsstörung sein, Ausbleiben von Stuhlgang zeigt lediglich an, dass sich der Enddarm nicht entleert. Für die Beurteilung der Funktionsfähigkeit der dazwischen liegenden Abschnitte des Dünn- und Dickdarms gibt es kein ausfähiges Monitoring. Beim Intensivpatienten zeigt sich eine beeinträchtigte Magenentleerung anhand eines vermehrten Rückflusses von Mageninhalt (gastrales Residualvolumen) über eine nasogastrale Sonde. Normalerweise sezerniert der Magen innerhalb von 24 Stunden etwa 1-1,5 l Magensaft, die bei intakter Pylorusfunktion und normaler, koordinierter Magenmotilität diesen bis auf eine kleine Restmenge verlassen würden. So zeigt ein Rückfluss von Mageninhalt über eine nasogastrale Sonde in den Ablaufbeutel von bis zu 500 rnl an, dass die Magenentleerung beeinträchtigt und nicht vollständig ist, aber andererseits etwa die Hälfte bis Zweidrittel der sezernierten Magensaftmenge den Magen verlassen. Nimmt die Rückflussmenge innerhalb von 24 Stunden auf etwa 700-1000 rnl zu, so deutet dies auf eine erheblich behinder218

te Magenentleerung hin. Eine Bilanzierung der gastralen Rückflussmenge in kürzeren Zeitintervallen als 12 Stunden wird häufig praktiziert, um frühzeitig auf Magenentleerungsstörungen aufmerksam zu werden. Solch kurze Bilanzierungsintervalle sind in der klinischen Routine aber wenig sinnvoll, da die Magensaftsekretion nicht gleichmäßig über den 24-Stunden-Tag erfolgt und sich der Magen nicht kontinuierlich, sondern portionsweise entleert. Empfohlene Vorgehensweise. Der Ablaufbeutel der Magensonde wird alle 4-6 Stunden für 10-15 min unter das Magenniveau gehängt und das kumulative gastrale Residualvolumen nach 24 Stunden abgelesen.

Physiologische Stuhlgangfrequenz

In Untersuchungen an gesunden Menschen hat sich gezeigt, dass die Frequenz der Darmentleerung individueller Personen von 1-2 x täglich bis hin zu einer Darmentleerung alle 3 Tage schwanken kann. Diese Variabilität wird als physiologisch angesehen.

Hemmung der Magen-Darm-Motilität durch Pharmaka Opioide Die Hemmung der Magen-Darm-Motilität ist eine typische Nebenwirkung der Opioide. Intraoperativ verabreichte Opioide haben je nach Menge und pharmakologischen Eigenschaften des Opiats eine Hemmwirkung in der postoperativen Phase. Auch in der lntensivtherapie führen Opioide zu einer Hemmung der Magenentleerung und Darmmotilität. Sedativa, Narkotika Narkotika und Sedativa sind bei einer Allgemeinanästhesie und in der Intensivmedizin, insbesondere bei beatmeten Patienten, unverzichtbar. Diese haben eine hemmende Wirkung auf die Darmmotilität. Katecholamine, «-adrenerge Agonisten Alle Katecholamine haben eine hemmende Wirkung auf die Darmmotilität, jedoch mit unterschiedlicher Potenz der einzelnen Substanzen [10]. Clonicvn und in noch stärkerem Maße Dexmedetomidin hemmen dosisabhängig die Magen-Darm-Motilität, wobei die Hemmwirkung des Dexmedetomidins der von Opioiden vergleichbar ist [11].

Pharmakologische Therapie der gehemmten Magen-Darm-Motilität Aufgrund der begrenzten Anzahl motilitätsfördernder Pharmaka und kontrollierter klinischer Studien, empfiehlt sich auf der Basis der vorhandenen Daten sowie pathophysiologischer und pharmakologischer Abwägungen das nachfolgend beschriebene Vorgehen [6]. Mit dem gezielten Einsatz von properistaltischen Maßnahmen wird man üblicherweise bei einem länger zu erwartenden Intensivaufenthalt schneller beginnen als in der postoperativen Phase auf einer Allgemeinstation. Hier wird in der Regel erst bei Dyskomfort des Patienten mit Abführmaßnahmen begonnen. Prinzipiell wäre aber auch hier der frühzeitige Einsatz von Basismaßnahmen zu empfehlen.

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1. Frühzeitiger Einsatz von Basismaßnahmen Laxantien Verabreichung von Laxantien bei allen Patienten ab dem 2. Tag, spätestens ab dem 3. Tag nach Aufnahme auf die Intensivstation. 1. Wahl 2. Wahl

3. Wahl

Bisacodyl Bisacodyl N atriumpicosulfat Magnesiumsalze

10-20 mg 10-20 mg 10-20 mg 0,1 mg/kg KG

rektal als Supp. oral /enteral oral /enteral oral /enteral

Einlauf, Klysmen Die Anwendung von Einläufen und Klysmen kann täglich erfolgen. Die Wirkweise beruht auf der Auslösung von enterischen neuronalen Reflexen, die die Defäkation begünstigen. Durch Änderung der Zusammensetzung der Irrigationsflüssigkeit und Zusatz von Laxantien ist bislang keine bessere Wirksamkeit nachgewiesen. 2. Zielgerichtete, spezifische Therapie Steigt trotz Anwendung der Basismaßnahmen das gastrale Residualvolumen auf etwa 500 ml und mehr an oder hatte der Patient seit etwa 3-4 Tagen keinen Stuhlgang und/oder zeigt Symptome eines behinderten Vorwärtstransports (z.B. geblähtes Abdomen), ist mit zielgerichteten, spezifischen Therapiemaßnahmen zu beginnen.

• Gestörte Magenentleerung 1. Wahl Erythromycin 3 x 100 mg/Tag 2. Wahl Metoclopramid 10 mg 30-40 mg 3. Wahl Domperidon • Gestörte Magenentleerung und Darmatonie 1. Wahl Erythromycin 3 x 100 mg/Tag i. v. dann 12-24 h später Kombination von 10-30 mg i.v. Metoclopramid 0,5-1,5 mg i.v. + Neostigmin



Darmatonie ohne Magenentleerungsstörung Kombination von 10-30 mg i.v. Metoclopramid i.v. 0,5-1,5 mg + Neostigmin

maximal 3 Tage i. v. i.v. oral /enteral

in 250 ml NaCl 0,9% Infusionsdauer 1-2 h

in 250 ml NaCl 0,9% Infusionsdauer 1-2 h

3. Supportive Therapiemaßnahmen Polyethylenglycol (PEG) Macrogol 3350

20-30 gffag enteral 3 x 3 mgffag Naloxon bis 3 x 12 mgffag 12 mg Methy lnaltrexon (Ret. Oxycodon plus ret. Naloxon 10 mg/5 mg

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oral / in 250 ml Wasser gelöst oral / in 50 ml Wasser gelöst enteral s.c. oral)

Allgemeine Überlegungen zum Gebrauch properistaltischer Maßnahmen 1. Wenn möglich, Reduktion oder Verzicht auf Medikamente mit motilitätshemmender Wirkung auf den Magen-Darm-Trakt, z.B. Opioide, Benzodiazepine, a-adrenerge Agonisten (Clonidin), Katecholamine. 2. Zur Reduktion von Opioiden und/oder Benzodiazepinen (Midazolam) den Einsatz von Ketamin und/oder Propofol erwägen. 3. Frühzeitiger und konsequenter Einsatz von Basismaßnahmen, z.B. Laxantien, Einlauf, Klysma. 4. Eine pharmakologische Stimulation pro Tag. 5. Die Dosierung prokinetisch wirksamer Substanzen sollte nicht über die angegebenen Mengen gesteigert werden, da bei Überdosierung die Gefahr der iatrogenen Motilitätshemmung droht.

6. Sind prokinetische Pharmaka bei wiederholter Anwendung, z.B. nach 3 Tagen, wirkungslos, einen Tag ohne pharmakologische Stimulation verstreichen lassen. 7. Supportive Therapieoptionen erwägen, z.B. Macrogol 3350 oral/enteral, Naloxon oral/ enteral, Methylnaltrexon s.c. (Methylnaltrexon ist allerdings für die postoperative und intensivmedizinische Indikation nicht zugelassen). 8. Konsequente Therapie einer Hyperglykämie (behindert Magenentleerung). 9. Ausgleich von Elektrolytimbalancen, z.B. Hypo- und Hyperkaliämie. 10. Ausgleich von endovasalem Volumenmangel (Gefahr der intestinalen Minderperfusion).

Eine Kontraindikation für die Anwendung properistaltisch wirksamer Pharmaka ist der Verdacht auf einen mechanischen Ileus. Cave: Die Gabe eines wasserlöslichen Röntgenkontrastmittels (z.B. Gastrografm) über eine enterale Sonde ist ein bisweilen praktiziertes Verfahren zur Stimulation gastrointestinaler Motilität. Das Wirkprinzip beruht auf der osmotischen Aktivität des Röntgenkontrastmittels, die Wirksamkeit wird als gut eingestuft. Es wird aber nicht zur Anwendung dieser Methode geraten, da • Röntgenkontrastmittel teuer sind, • Röntgenkontrastmittel für diese Indikation nicht zugelassen sind, • bei akzidenteller Aspiration sich das Kontrastmittel in der Lunge befindet, dort wahrscheinlich lange verweilt und Spätfolgen nicht absehbar sind, • andere osmotisch wirksame Substanzen, z.B. Macrogol 3350, zur Verfügung stehen, preiswerter und zudem für diese Indikation zugelassen sind.

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Wirkweise propulsiv wirksamer Pharmaka und Rationale für deren Anwendung

Bei der Komplexität der neuronalen und nichtneuronalen Regulationsmechanismen der Motilität der verschiedenen Abschnitte des Magen-Darm-Trakts wäre es illusorisch anzunehmen, dass eine einzige pharmakologische Substanz in der Lage sein könnte, ihre properistaltische Aufgabe in allen Abschnitten gleichermaßen zufriedenstellend zu erfüllen. Zudem gibt es vergleichsweise wenige Pharmaka, die klinisch zur Verbesserung des Vorwärtstransports eingesetzt werden können (siehe Tabelle 1). Hinzu kommt, dass kürzlich einige Subtanzen vom Markt genommen und ursprünglich erfolgversprechende pharmazeutische Entwicklungen gestoppt wurden. Wirkmechanismus

Wirkstoff

Präparat

Laxans

Bisacodyl Natriumpicosulfat

z.B. Dulcolax z.B. Laxoberal

Polyethylenglycol Macrogol 3350

z.B. Movicol

Magnesiumsalz

z.B. diverse Präparate

Motillnrezeptoragonlst

Erythromycin

z.B. diverse Präparate

Prokinetikum

Metoclopramid Domperidon

z.B. Paspertin, Metoclopramid z.B. Motilium

Opiatrezeptorantagonlst

Naloxon Naloxon + Oxycodon Methylnaltrexon

z.B. Narcanti, Naloxona z.B. Targin z.B. Relistor

Cholinesteraselnhibitor

Neostigmin

z.B. Prostigmin

Tabelle 1: Motilitätsfördemde Pharmaka

Laxantien, Bisacodyl und Natriumpicosulfat Die Rationale für den frühzeitigen Einsatz von Laxantien, speziell von Bisacodyl und Natriumpicosulfat, als Basismaßnahme zur Stimulation der Darmmotilität ist u.a., die gestörte Wasser- bzw. Sekretionshomöostase des Darms postoperativ und unter Intensivbedingungen zu optimieren [6]. Normalerweise nimmt der Dünndarm endoluminal täglich etwa 7-8 l endogene und exogen zugeführte Flüssigkeit auf, wovon endogen der größte Anteil von Epithelzellen des Dünndarms sezerniert wird. Es gibt Hinweise dafür, dass postoperativ und unter intensivmedizinischen Bedingungen und unter der Wirkung von Opioiden die Flüssigkeitssekretion des Darms deutlich reduziert ist [17]. Die sekretagog und antiabsorptiv wirkenden Laxantien Bisacodyl und Natriumpicosulfat unterstützen den physiologischen Prozess der Flüssigkeitssekretion im Dünndarm und stimulieren direkt die intestinale Motilität (Details s. [6,7]). Die Anwendung von Bisacodyl als Suppositorium hat den Vorteil gegenüber der oralen Applikation, dass die abführende Wirkung bereits nach etwa 30-60 min eintritt, da der enterohepatische Kreislauf umgangen wird. Magnesiumsalze Magnesiumsalze steigern u.a. die Freisetzung von Cholecystokinin und somit die Flüssigkeitsakkumulation und Dünndarmmotilität. Magnesiumsalze werden in sehr variablen Dosierungen verabreicht, von 0,1 mg/kg KG bis zu einer Gesamtmenge von 15 g pro Applikation. Die empfohlene Dosierung ist 0,1 mg/kg KG, da die höher dosierte und länger dauernde Magnesiumanwendung zu einer beachtlichen Resorption von Magnesium führt und das Risiko von Nierentoxität mit sich bringt.

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Polyethylenglycol (PEG ), Macrogol 3350 Polyethylenglycol ist ein osmotisches Laxans, das in Wasser gelöst und getrunken wird. In Wasser gelöstes Polyethylenglycol hat den Vorteil, dass es dem Darm kein weiteres Wasser entzieht, die Chymus- bzw. Faecesmenge vergrößert, nahezu unverändert den gesamten Magen-Darm-Trakt passiert und nach 1-2 Tagen ausgeschieden wird [6,7]. Erythromycin Das Makrolidantibiotikum Erythromycin stimuliert die gastrale und intestinale Motilität durch Bindung an Motilinrezeptoren auf enterischen Neuronen und glatten Muskelzellen [6,7]. Außerdem verstärkt es den Verschlußdruck des unteren Ösophagussphinkters durch Stimulation cholinerger Neurone. In einer Metaanalyse bestätigte sich, dass der Effekt von Erythromycin auf die Magenentleerung besser ist als bei anderen Prokinetika [12]. Erythromycin sollte intravenös in einer Dosierung von dreimal 100 mg pro Tag als Kurzinfusion verabreicht werden. Die intravenöse Verabreichung ist für die Magenentleerung besser wirksam als die orale Gabe. Das exogen zugeführte Erythromycin substituiert den endogenen Mangel an Motilin und bringt MMCs in Gang. Dies ist mitunter bereits nach einer oder in der Regel nach wenigen Eryrthromycinapplikationen der Fall, so dass sich die Magenentleerung deutlich verbessert und das gastrale Residualvolumen abnimmt. Dies erklärt auch die Empfehlung, Erythromycin nur drei Tage zu geben. Einschränkung: Erythromycin hat keinen positiven Effekt auf den postoperativen Ileus [13]. Metoclopramid Metoclopramid ist ein Antagonist an Dopaminrezeptoren (D2), ein Partialrezeptoragonist am 5-HT4 Rezeptor und ein schwacher Antagonist an vagalen und zentralen 5-HT3 Rezeptoren [6]. Die Aktivierung der 5-HT4 Rezeptoren verstärkt die Freisetzung von Azetylcholin aus enterischen Motorneuronen. Diese Azetylcholinfreisetzung bewirkt den prokinetischen Effekt von Metoclopramid im Magen-Darm-Trakt. Der motilitätsfördernde Effekt von Metoclopramid ist weitgehend auf den oberen MagenDarm-Trakt beschränkt, indem es den unteren Ösophagussphinkterverschlussdruck erhöht, antrale Kontraktionen und die Motilität des Dünndarms stimuliert, die antropyloroduodenale Koordination verbessert, aber keinen klinisch signifikanten Effekt auf die Kolonmotilität hat. Bei kritischkranken Patienten beschleunigt Metoclopramid den gastrointestinalen Transit und verbessert die Toleranz enteraler Ernährung, hat aber keinen Effekt auf den Verlauf des postoperativen Ileus [6,7]. Domperidon Domperidon entfaltet seine prokinetische Wirkung am Magen-Darm-Trakt ebenfalls durch Blockade peripherer Dopaminrezeptoren. Es verbessert die Peristaltik im Ösophagus und die Magenentleerung durch eine verbesserte Magenmotilität und antroduodenale Koordination der_Bewegungsabläufe. Domperidon ruft keine nennenswerten extrapyramidalen Symptome hervor, da es die Blut-Hirn-Schranke nahezu nicht permeiert [6]. Neostigmin · Neostigmin ist ein reversibler Acetylcholinesteraseinhibitor, der vorübergehend die Acetylcholinkonzentration an den Darmmuskelzellen erhöht und somit die intestinalen Kontraktionen verstärkt. Die klinische Wirksamkeit von Neostigmin als Monosubstanz zur Verbesserung der Magen-Darm-Motilität wird kontrovers beurteilt. Die Rationale für die Kombination von Neostigmin mit einer Substanz, die Azetylcholin freisetzt, ist, dass bei fehlender Freisetzung von Azetylcholin im Darm (z.B. durch Opioide) Neostigmin wirkungslos bleibt. 223

Naloxon Die Hemmung der Magen-Darm-Motilität durch Opioide beruht auf deren Bindung an und Aktivierung von enterischen Opioidrezeptoren, während die analgetische Wirkung hauptsächlich über µ-Opioidrezeptoren im Gehirn vermittelt wird. Demzufolge ist sinnvoll, den Opioidrezeptorantagonisten Naloxon auf enteralem Wege an den Ort der Hemmung im Magen-Darm-Trakt zu bringen, um dort gezielt die inhibitorische Wirkung der Opioide am Plexus myentericus aufzuheben. Allerdings ist die Menge Naloxon, die enteral zur Antagonisierung der intestinalen Motilitätshemmung verabreicht werden muss, groß und empirisch ermittelt. Hierzu waren Naloxonmengen von 3x 3 mg bis zu 3x 12 mg pro Tag erforderlich. Seit wenigen Monaten steht Oxycodon in Kombination mit Naloxon (Targin) zur Verfügung. Ob diese orale Darreichungsform des Opiats plus Opiatantagonist einen Nutzen postoperativ und in der Intensivmedizin hat, wird sich in Zukunft zeigen. Methylnaltrexon Methylnaltrexon ist ein quartemärer µ-Rezeptorantagonist, der die Blut-Hirn-Schranke nicht durchdringt, allerdings auch eine geringe orale Bioverfügbarkeit hat. Die subcutane Injektion von Methylnaltrexon antagonisiert die opiatbedingte Motilitätshemmung im Magen-Darm-Trakt ohne dass die Analgesie abgeschwächt wird. Methylnaltrexon steht seit kurzem für die klinische Anwendung zur Verfügung, ist allerdings noch nicht für die postoperative und intensivmedizinische Anwendung zugelassen, sondern nur für die Verwendung in der Palliativmedizin [6].

Literatur 1. 2. 3.

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Der Notfallplan des Krankenhauses H. A.ADAMS

Zusammenfassung Der Notfallplan des Krankenhauses besteht aus einem Basisplan und einem Anhang. Im Basisplan werden die Grundlagen, der Notfallbetrieb bei externen Gefahrenlagen und der Notfallbetrieb bei internen Gefahrenlagen in dem für das Gesamtverständnis erforderlichen Umfang dargestellt. Der Anhang enthält die speziellen Arbeitsunterlagen wie funktionsbezogene Alarmanweisungen, Alarmierungsunterlagen, Materiallisten, Lagepläne sowie interne und externe Anlagen. Der Notfallplan ist sicherheitsrelevant und vertraulich zu behandeln. Externe Gefahrenlagen sind der Massenanfall von Verletzten oder intoxikierten Patienten, Allgemeingefährliche Infektionskrankheiten und ABC/CBRN-Gefahrenlagen; interne Gefahrenlagen sind Brände und Umweltgefahren, der Ausfall der Kommunikationseinrichtungen, Stromversorgung und Wasserversorgung sowie sonstige Ausnahmesituationen (Bombendrohung, Amoklauf, Geiselnahme usw.). Bei einem Notruf über ein bestimmtes Alarmtelefon entscheidet ein definierter erfahrener Arzt über die Aktivierung des Plans; das Krankenhaus geht damit vom Regelbetrieb in den Notfallbetrieb mit drei Alarmstufen über. Die zweigliedrige Führungsstruktur besteht aus der Krankenhaus-Einsatzleitung mit administrativ-organisatorischen Aufgaben und der nachgeordneten Medizinischen Einsatzleitung für die unmittelbare Patientenversorgung. Für jede externe und interne Gefahrenlage und Alarmstufe sind der Personal- und Materialeinsatz sowie der organisatorische Ablauf in den Grundzügen festgelegt. Von einer suffizienten Notfallplanung kann jedoch nur gesprochen werden, wenn die Vorgaben regelmäßig aktualisiert und in Abständen praktisch erprobt werden. Darüber hinaus ist eine Basisautarkie des Krankenhauses erforderlich, um die Funktionstüchtigkeit auch unter widrigen Umständen zu sichern.

Rahmenbedingungen und Determinanten Problemstellung und Szenarien

Die meisten Krankenhäuser verfügen über einen Notfallplan, auch Alarm- und Einsatzplan oder Katastrophenplan genannt, dessen Bedeutung nicht immer voll erkannt wird [l, 2]. Zuweilen wird ein Plan erstellt und abgelegt, ohne dass eine laufende Aktualisierung oder übungsmäßige Prüfung erfolgt. Eine solche Verdrängung unangenehmer Fakten und ihrer Konsequenzen ist nicht auf die Krankenhauslandschaft begrenzt. Einschlägige Ereignisse der Vergangenheit haben jedoch vielerorts zu einem Umdenken geführt und die diesbezügliche Vigilanz erhöht - das Interesse nimmt sowohl bei den zuständigen Behörden als auch bei den Krankenhäusern zu [3, 4, 5, 6]. Grundsätzlich dient der Notfallplan der bestmöglichen Versorgung von Patienten, die bei externen Gefahrenlagen (Großschadensereignissen und Katastrophen) in das Krankenhaus gebracht werden, sowie der Rettung von Patienten und Mitarbeitern und der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs bei internen Gefahrenlagen. Beispiele für externe Gefahrenlagen sind: •

Das Zugunglück von Eschede im Jahr 1997 [7], aber auch begrenzte Ereignisse wie der Busbrand auf der Autobahn A 2 im Jahr 2008 [8], 225



terroristische Bombenanschläge, in Europa zuletzt in den Jahren 2004 in Madrid [9) und 2005 in London [10), • die immer wieder heraufbeschworene Gefahr einer allgemeingefährlichen Infektionskrankheit oder Pandemie und • ABC-Gefahrenlagen wie der Sarin-Anschlag in der U-Bahn von Tokio im Jahr 1995 [11]. Auch ein ausgedehnter und anhaltender Ausfall der Stromversorgung [12] oder eine längere Hitzeperiode [13] können die Krankenhäuser vor Herausforderungen stellen. Beispiele für interne Gefahrenlagen sind: • Der Brand in der Universitätsklinik Mainz im Jahr 1988 [14) und eine Reihe weiterer Krankenhausbrände, • das Elbehochwasser im Jahr 2002 mit Evakuierung der Universitätsklinik Dresden [15, 16], • die Evakuierung des Bundeswehrkrankenhauses Ulm wegen einer Bombendrohung im Jahr 2007 [17]. Eine Evakuierung wegen eines herannahenden Wirbelsturms [18] oder ein Amoklauf im Krankenhaus sind bislang gottlob ausgeblieben, aber nicht auszuschließen. Notfallmedizinische Herausforderungen und Konzepte

In Vorbereitung der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde bundesweit die Versorgung von mehr als 1.000 Verletzten nicht nur geplant, sondern vielerorts - so in Hannover mit 620 Verletztendarstellern - auch geübt [19). Diese Planungen und Übungen haben zusammen mit weiteren notfallmedizinischen Entwicklungen zu einer Änderung der präklinischen Versorgungstaktik beigetragen: Aus dem Widerstreit von „scoop and run" und „stay and play" ist zunehmend ein „ work and go " [20] geworden. Dieser Paradigmenwechsel ist nicht auf Großschadensereignisse und Katastrophen beschränkt; er gilt mit aller Konsequenz auch für den vital bedrohten Einzelpatienten - sei es mit einem Polytrauma, einem ST-Hebungsinfarkt oder einem Schlaganfall. Notfall- wie Katastrophenmedizin konzentrieren sich präklinisch zunehmend auf die unverzügliche Herstellung der Transportfähigkeit und damit auf die Sicherung von Oxygenierung und Kreislauf sowie die Analgesie, um den Patienten mit erhaltenen Vitalfunktionen und geschützt vor Folgeschäden unverzüglich in eine geeignete Klinik zu bringen - weitergehende Maßnahmen können dort unter grundsätzlich besseren Bedingungen erfolgen. Das im deutschsprachigen Raum etablierte Notarzt-System wird damit nicht überflüssig; vielmehr ist zu erwarten, dass die Einbindung notärztlicher Kompetenz die Ergebnisse im Vergleich mit einem sog. Paramedic-System verbessert [21]. Dem Postulat des „ work and go" können sich die Krankenhäuser gerade bei Großschadensereignissen und Katastrophen nicht entziehen. Der Verzicht auf die Nutzung aller klinischen Ressourcen, etwa im Sinn eines präklinischen „stay and play" in behelfsmäßigen Einrichtungen wie einem Behandlungsplatz [22], wäre geradezu sträflich und gilt in Ländern mit entsprechenden leidvollen Erfahrungen als obsolet [23]. Dabei ist unstrittig, dass so lange wie möglich an der gezielten Verteilung der Patienten mit dem Ziel der definitiven Versorgung im aufnehmenden Krankenhaus festzuhalten ist. In jeder Region ist jedoch früher oder später der Punkt erreicht, der diese Art der Verteilung nicht mehr zulässt und die Krankenhäuser zur äußersten Anspannung aller Kräfte ggf. weit über das normale Maß hinaus - zwingt.

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Ziel der rettungsdienstlichen Einsatztaktik im Großschadens- und Katastrophenfall ist die enge Vernetzung aller präklinischen und klinischen Ressourcen [24, 25, 26]. Dieser Herausforderung können die Krankenhäuser nur bei suffizienter Notfallplanung gerecht werden. Neben der Vorbereitung auf externe Gefahrenlagen ist ein Notfallplan auch im Eigeninteresse der Krankenhäuser wichtig, um bei internen Gefahrenlagen adäquat reagieren zu können. Rechtsgrundlagen

Die Krankenhaus-Gesetzgebung zählt, ebenso wie die für Rettungsdienst und Katastrophenschutz, zum Zuständigkeitsbereich der Bundesländer. In jedem Bundesland sind daher spezielle Gesetze und Verordnungen zu beachten. Das rheinland-pfälzische Landesgesetz über den Brandschutz, die Allgemeine Hilfe und den Katastrophenschutz vom 2. November 1981 (zuletzt geändert am 5. April 2005) verpflichtet die Krankenhäuser im§ 22, Alarm- und Einsatzpläne zu erstellen, die Unterstützungsmöglichkeiten durch niedergelassene Ärzte und Hilfsorganisationen zu berücksichtigen sowie notfallbedingte Behandlungskapazitäten innerhalb des Krankenhausbereichs vorzubereiten [27]. Dagegen ist in Niedersachsen derzeit keine explizite Rechtsgrundlage vorhanden; hier kann allenfalls hilfsweise auf einen Passus im Rettungsdienstgesetz zurückgegriffen werden - gemäß § 6 (3) NRettDG [28] gewährleisten die Träger der Krankenhäuser, dass der Rettungsleitstelle (RLS) laufend die verfügbaren Behandlungskapazitäten gemeldet werden. Die für die Notfallplanung unverzichtbare Erfassung persönlicher Daten der Mitarbeiter - dies sind die privaten Telefonanschlüsse im Mobilfunk- und Festnetz sowie die Wohnadresse - ist rechtlich unbedenklich, solange die datenschutzrechtlichen Vorgaben und die Beteiligungsrechte der Personal- bzw. Mitarbeitervertretung gewahrt werden. Hier ist an die praktische Vernunft zu appellieren: Die Alarmierung stützt sich in erster Linie auf das Mobilfunknetz; bei dessen Ausfall infolge Abschaltung oder Überlastung muss auf das Festnetz und letztlich auf den Einsatz von Meldern zurückgegriffen werden. Gefährdungsanalyse und allgemeiner Lösungsansatz

Jedes Krankenhaus muss durch eine spezifische Gefährdungsanalyse den für die eigene Notfallplanung erforderlichen Rahmen definieren. Während ein Fachkrankenhaus sich ggf. auf die Vorbereitungen für interne Gefahrenlagen - wie einen Brand - beschränken kann, ist jedes Akutkrankenhaus unabhängig von seiner Größe verpflichtet, sich darüber hinaus auf externe Gefahrenlagen - etwa mit einem Massenanfall von Patienten - vorzubereiten. Wegen der vielfältigen Interaktionen mit allen Bereichen hat es sich bewährt, den Notfallplan in einer ständigen Arbeitsgruppe (AG-Notfallplan) zu erarbeiten und fortzuentwickeln. Unter Leitung des Katastrophenschutzbeauftragten des Krankenhauses gehören der AG bewährte Vertreter des ärztlichen, Pflege- und technischen Dienstes sowie der Verwaltung an. Wichtig ist die enge Zusammenarbeit mit der Katastrophenschutzbehörde, der Feuer227

wehr, den Rettungsdiensten und der RLS, die frühzeitig in die Planungen einzubeziehen sind. Nur so ist es möglich, die präklinischen und klinischen Ressourcen bei externen und auch internen Gefahrenlagen optimal zu vernetzen. Der Notfallplan kann abteilungsbewgen oder funktionsbezogen erstellt werden. Die in kleinen Krankenhäusern noch mögliche abteilungs- oder bereichsbezogene Struktur setzt die laufende Schulung der Mitarbeiter der einzelnen Bereiche voraus, was in großen Einrichtungen rasch an Grenzen stößt. Hier ist eine funktionsbezogene Struktur vorteilhaft sie beruht auf der konsequenten Schulung einer Führungsmannschaft, die im Einsatzfall bestimmte Funktionen übernimmt und die übrigen Mitarbeiter führt und anleitet. Diese Führungsmannschaft besteht im Kern aus den Mitgliedern der AG-Notfallplan. Ein funktionsbezogener Aufbau des Notfallplans mit Konzentration auf einen Führungskreis minimiert den Einweisungs- und Änderungsbedarf, erhöht die Professionalität und ist auch für kleinere Krankenhäuser zu empfehlen. Für jeden Funktionsträger ist - geordnet nach Gefahrenlagen und Alarmstufe - eine spezielle Alarmanweisung (AA) erforderlich. Die Alarmanweisungen sind weitgehend einheitlich aufgebaut und bestehen aus folgenden Abschnitten: •

Grundlagen

• •

Auftrag Durchführung

Medizinische Einsatzleitung mit Zusammensetzung, Stützpunkt, Ausstattung, Führung und speziellen Führungsmitteln (wie im zugehörigen Kapitel des Notfallplans). Patientenversorgung mit Personal, Material und organisatorischem Ablauf (wie im zugehörigen Kapitel des Notfallplans). mit Unterstellung und Weisungsbefugnissen. mit Punktaufzählung, mitgeltenden Unterlagen, Checkliste und Anlagen (Lagepläne und Formulare).

Die Alarmanweisungen enthalten alle für den Funktionsträger relevanten Informationen und ermöglichen die rasche Übernahme der jeweiligen Funktion. Bei hohem Handlungsdruck genügt auch das Abarbeiten der Checkliste. Nachfolgend wird die allgemeine Struktur eines Notfallplans am Beispiel des Plans der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) dargestellt [2], in den die Musterplanungen des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe [3] sowie der Länder Niedersachsen [4] und Rheinland-Pfalz eingeflossen sind. MHH-spezifische Bezeichnungen sind weitgehend durch allgemeine Benennungen ersetzt. Der Plan der MHH - mit 122 Alarmanweisungen - ist in seinen Grundzügen problemlos auf kleinere Krankenhäuser übertragbar und steht in einer Software-Version zur Erstellung und laufenden Nutzung eines individuellen Notfallplans zur Verfügung [29].

228

Der Notfallplan - Grundlagen mit Regelungen für alle Gefahrenlagen Zielsetzung, allgemeiner Aufbau und Verteilung Zielsetzung Wie bereits dargestellt, dient der Notfallplan • der bestmöglichen Versorgung von Patienten, die bei externen Gefahrenlagen (Großschadensereignissen und Katastrophen) in das Krankenhaus gebracht werden, sowie • der Rettung von Patienten und Mitarbeitern und der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs bei internen Gefahrenlagen. Zu • • • •

den externen Gefahrenlagen zählen: Massenanfall von Verletzten (MANV), Massenanfall intoxikierter Patienten (INTOX), Allgemeingefährliche Infektionskrankheiten (INFEKT), ABC/CBRN-Gefahrenlagen (ABC).

Zu den internen Gefahrenlagen zählen: • Brände und Umweltgefahren, • Ausfall der Kommunikationseinrichtungen, • Ausfall der Stromversorgung, • Ausfall der Wasserversorgung, • Ausfall der Heizungsanlage, • sonstige Ausnahmesituationen wie Bombendrohung, Auffinden verdächtiger Gegenstände, Amoklauf, Geiselnahme und andere direkte Personengefährdungen. Allgemeiner Aufbau Um die Übersicht und Lesbarkeit des Notfallplans zu erleichtern, enthält der Basisplan in den Kapiteln • Grundlagen - gültig für alle Gefahrenlagen (Tab. 1), • Notfallbetrieb bei externen Gefahrenlagen (Tab. 2), • Notfallbetrieb bei internen Gefahrenlagen (Tab. 3) nur die für das Gesamtverständnis notwendigen Angaben. •

Zielsetzung, allgemeiner Aufbau und Verteilung



Aktivierung des Notfallplans



Führungsstruktur - Gliederung - Krankenhaus-Einsatzleitung - KEL - Medizinische Einsatzleitung - MEL - Spezielle Führungsmittel der KEL, MEL und sonstiger Funktionsträger



Allgemeine Organisation - Alarmstufen - Allgemeiner Personal- und Materialeinsatz - Interne Alarmierung und Information der Mitarbeiter - Externe Alarmierung der Mitarbeiter



Sonstige allgemeine Regelungen



Verkehrsregelung und Gebäudesicherung



Unterstützung durch externe Einsatzkräfte

Tab. 1: Notfallplan - Grundlagen mit Regelungen für alle Gefahrenlagen.

229



Massenanfall von Verletzten - MANV - MANV-Alarmstufe I - ebenso MANV-Alarmstufe II und MANV-Alarmstufe III > Personal > Material > Organisatorischer Ablauf



Massenanfall intoxikierter Patienten - INTOX - INTOX-Alarrnstufe I - ebenso INTOX-Alarmstufe II und INTOX-Alarmstufe III > Personal > Material > Organisatorischer Ablauf



Allgemeingefährliche Infektionskrankheiten - INFEKT - Grundlagen - Vorgehen bei Einzelpatienten - INFEKT-Alarmstufe I - ebenso INFEKT-Alarmstufe II-III > Versorgungsbedarf und allgemeine Maßnahmen > Personal > Material > Organisatorischer Ablauf



ABC/CBRN-Gefahrenlagen - ABC - Grundlagen - Not-Dekontamination bei unkoordinierter Einlieferung -ABC-Alarmstufe 1-III > Versorgungsbedarf und allgemeine Maßnahmen > Allgemeiner Ablauf > Personen-Dekontaminationsplatz > Versorgung in der MHH

Tab. 2: Notfallplan - Notfallbetrieb bei externen Gefahrenlagen. ABC = Atomar, Biologisch, Chemisch; CBRN = Chemisch, Biologisch, Radiologisch, Nuklear.



Allgemeine Regelungen - Geltungsbereich - Allgemeine Aufgaben der MEL und KEL bei internen Gefahrenlagen



Brände und Umweltgefahren - Alarmierung - Menschenrettung - Schadensbekämpfung und weitere Maßnahmen



Ausfall der Kommunikationseinrichtungen - Ausfall der Telefonanlage - Ausfall der Piepseranlage - Ausfall der EDV-Anlage



Ausfall der Stromversorgung - Rahmenbedingungen - Allgemeine Maßnahmen



Ausfall der Wasserversorgung - Rahmenbedingungen - Allgemeine Maßnahmen



Ausfall der Heizungsanlage - Rahmenbedingungen - Allgemeine Maßnahmen



Sonstige Ausnahmesituationen - Bombendrohung - Auffinden verdächtiger Gegenstände - Amoklauf, Geiselnahme und andere direkte Personengefährdungen

Tab. 3: Notfallplan - Notfallbetrieb bei internen Gefahrenlagen.

230

Die weiteren, für die Arbeit im Notfallbetrieb erforderlichen Unterlagen sind im Anhang zum Basisplan zusammengestellt: • Alarmanweisungen (AA), • Alarmierungsunterlagen mit Personallisten (PL) und Alarmgruppenbündeln (AB), • Materiallisten (ML), • Lagepläne (LP), • Interne Anlagen (IA), z. B. Raumatlas der MHH, • Externe Anlagen (EA), z. B. Dienstanordnungen (DAO) der Feuerwehr. Zusätzlich enthält der Anhang Anmerkungen und Erläuterungen, um Personen, die nicht an der Erstellung des Plans beteiligt waren und sich einarbeiten müssen, ein besseres Verständnis zu ermöglichen, sowie ein Glossar, ein Abkürzungs- und ein Literaturverzeichnis. Verteilung Der Notfallplan ist sicherheitsrelevant und daher vertraulich zu behandeln. Durch begrenzte Verteilung wird darüber hinaus der Änderungsaufwand minimiert. Eine lediglich elektronische Vorhaltung scheidet aus Sicherheitsgründen aus. Die Verteilung mit Aufbewahrungsort bzw. die Zugangsberechtigung sind zu dokumentieren, ebenso die Einweisung in den Plan. •





Die Einsatzleitungen (siehe unten) und der Katastrophenschutzbeauftragte verfügen über einen Rechner bzw. eine CD mit dem Gesamtplan (Basisplan und alle Anhänge) sowie ein Druckexemplar des Basisplans mit den unmittelbar einsatzrelevanten Anhängen; darüber hinaus können sie den Gesamtplan ohne Personallisten passwortgeschützt im Intranet einsehen. Änderungen sind nur durch den Katastrophenschutzbeauftragten möglich. Das übrige Führungspersonal (Abteilungs- und Bereichsleitungen usw.) erhält auf Wunsch einen Zugang zu einem passwortgeschützten Intranetbereich ohne Personallisten. Für alle Mitarbeiter sind die Alarmierungswege und bestimmte Grundstrukturen wie Sammelplätze und Kinderbetreuung im Intranet herausgehoben dargestellt, damit sie sich mit den Grundzügen des Plans vertraut machen können.

Aktivierung des Notfallplans

Ein durchgehend besetztes Alarmtelefon im Bereich der Zentralen Notfallaufnahme (ZNA) dient als Meldekopf für alle Hilfeersuchen bei externen und internen Gefahrenlagen. Von dort gelangt das Hilfeersuchen an einen definierten erfahrenen Arzt - in der MHH an den diensthabenden Oberarzt der Unfallchirurgie. Bei internen Gefahrenlagen wie Bränden und Umweltgefahren sind die Feuerwehr (Notruf 112) und die Technische Leitwarte unverzüglich parallel zu alarmieren; bei direkter Personengefährdung zuerst die Polizei (Notruf 110). Der zuständige Arzt entscheidet, ob die externe oder interne Gefahrenlage den Übergang vom Regelbetrieb auf den Notfallbetrieb mit Aktivierung des Notfallplans erfordert. Ggf. veranlasst er die erforderlichen Erstmaßnahmen über einen Alarmierungskopf - in der MHH ist dies die Technische Leitwarte. 231

Führungsstruktur

Gliederung Die Einrichtung von zwei Führungsebenen mit • Krankenhaus-Einsatzleitung (KEL) und • Medizinischer Einsatzleitung (MEL) ermöglicht die Trennung der allgemeinen, administrativ-organisatorischen Aufgaben von den patientennahen, unmittelbar medizinischen Aufgaben. Sie wird auch für kleinere Krankenhäuser empfohlen.

Krankenhaus-Einsatzleituni: - KEL Der KEL obliegt die administrativ-organisatorische Führung bei externen und internen Gefahrenlagen. Dazu ist die KEL befugt, jeden Mitarbeiter nach den jeweiligen Erfordernissen einzusetzen. Die KEL wird vom Ärztlichen Direktor geführt; die genuinen Mitglieder sind in Tab. 4 dargestellt. Darüber hinaus sind der KEL lageabhängig zugeordnet: • Leiter Apotheke o. V. (alle externen Gefahrenlagen), • Leiter Institut für Transfusionsmedizin o. V. (MANV), • Fachberater A-Gefahrenlagen - Bevollmächtigter Strahlenschutz o. V., • Fachberater B-Gefahrenlagen - Beauftragter Biologische Sicherheit o. V., • Fachberater C-Gefahrenlagen und Intoxikation - Leiter Institut für Toxikologie o. V., • Vertreter des Personalrats, • weiteres Stabspersonal (Einsatztagebuchführer, Telefonist, Fahrer, Melder usw.), • Verbindungspersonen der öffentlichen Gefahrenabwehr (Feuerwehr, Polizei). Funktion Person

Aufgabe/Leitung

Leiter KEL Äntlicher Direktor o. V.

Gesamtleitung und Äntlicher Dienst

Stv. Leiter KEL Katastrophenschutzbeauftragter o. V.

Stv. Gesamtleitung und allgemeine Fachberatung

Leiter Administration Verwaltungsdirektor o. V.

Administration, Technik und allgemeine Logistik

Leiter Krankenpflege Geschäftsführung Krankenpflege o. V.

Pflegedienst

Leiter Technik Leiter Technik o. V.

Technik

Leiter Logistik Leiter Logistik o. V.

Allgemeine Logistik, Medizinprodukte, Verbrauchsmaterial, Verpflegung

Lagebildführer Sicherheitsbeauftragter o. V.

Lagebild, Betten- und OP-Kapazität, Einsatztagebuch (mit Alarmierung)

Koordinator Bettenkapazität

Ermittlung und Verteilung der freien und freizumachenden Normal- und Intensivbetten

Pressesprecher

Öffentlichkeitsarbeit, Angehörigenbetreuung und interne Information

Tab. 4: Genuine Mitglieder der Krankenhaus-Einsatzleitung (KEL).

Als Standort der KEL dient ein abgesetzter und vorbereiteter Raum mit ausreichenden Fernmeldeverbindungen usw. Darüber hinaus ist ein Ausweichquartier definiert.

232

Aufgaben der KEL sind: • Festlegung der Alannstufe und Alarrnierung der Mitarbeiter, • Lagebildführung und Dokumentation mit Personenauskunftsstelle, • Verkehrsregelung und Gebäudesic~erung, • Ermittlung der freien und freizumachenden Normal- und Intensivbetten, • Öffentlichkeitsarbeit und Angehörigenbetreuung, • Sicherstellung der Logistik (insbesondere Medikamente, Blutprodukte, Material, Verpflegung sowie spezielle EDV-Leistungen), • Zusammenarbeit mit externen Führungsstäben, insbesondere Koordination der Verlegung von Patienten in Zusammenarbeit mit der RLS und dem Katastrophenschutzstab, • Einrichtung eines Schichtbetriebs und Personalersatz, • Demobilisierung mit Übergang vom Notfallbetrieb zum Regelbetrieb . Medizinische Einsatzleitung - MEL Der MEL obliegen die unmittelbare Patientenversorgung und die entsprechenden technischen Maßnahmen bei externen und internen Gefahrenlagen. Die MEL untersteht der KEL. Die MEL wird vom Ärztlichen Leiter vom Dienst (ÄLvD) geführt; die genuinen Mitglieder sind in Tab. 5 dargestellt. Darüber hinaus sind der MEL lageabhängig zugeordnet: • Sichtungsärzte, • Leiter der Behandlungsbereiche für Patienten der einzelnen Sichtungskategorien [30], • Verteiler Notfallmedikamente (für Morphin, Fentanyl, Esketarnin, Midazolam usw.), • weitere Mitarbeiter (Führungsassistent, Schreiber, Melder usw.) zur Unterstützung, • Verbindungspersonen der öffentlichen Gefahrenabwehr (Feuerwehr, Polizei). Person

Aufgabe/Leitung

Ärztlicher Leiter vom Dienst (ÄLvD)

Führung MEL und Ärztlicher Dienst

Pflegedienstleitung vom Dienst (PDLvD)

Pflegedienst und direkte Unterstützung des ÄLvD

Techniker der Betriebsführung vom Dienst (TvD)

Technik

Registrator

Aufnahme- und Erkennungsdienst

Lagebildführer

Erstellung und Führung des Lagebilds Dokumentation im Einsatztagebuch

OP-Koordinator Abgestellt in den Zentral-OP

Ermittlung und Verteilung der freien und freizumachenden OP-Kapazität

Tab. 5: Genuine Mitglieder der Medizinischen Einsatzleitung (MEL).

1 Die

MEL verfügt über einen definierten Stützpunkt mit Ausweichquartier.

Die Führung - als ÄLvD - obliegt • bei Massenanfall von Verletzten dem Direktor der Klinik für Unfallchirurgie o. V., • bei Massenanfall intoxikierter Patienten dem Direktor der Klinik für Pneumologie o. V., 233



bei Allgemeingefährlichen Infektionskrankheiten dem Direktor der Klinik für Immunologie und Rheumatologie o. V., • bei ABC/CBRN-Gefahrenlagen dem Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin o. V., • bei internen Gefahrenlagen dem Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin o. V. Der jeweilige Klinikdirektor wird bis zu seinem Eintreffen vom diensthabenden Oberarzt (OAvD) oder einem sonstigen OA vertreten.

1Alle Föhrungskräfte

sind eindeutig - z. B. mit grüner Weste - zu kennzeichnen.

Spezielle Führungsmittel der KEL. MEL und sonstiger Funktionsträger Spezielle interne Führungsmittel

• •

• •

Auslöseberechtigt sind der OAvD Unfallchirurgie, der diensthabende Mitarbeiter der Leitwarte sowie die KEL und MEL. Die interne Alarmierung und Information erfolgt - neben Telefon und Piepseranlage - vorzugsweise durch eine Intranet-Blitzmeldung und zusätzlich durch eine NotfallSMS auf die dienstlichen Mobilfunktelefone. Von bestimmten Rechnern aus werden vorbereitete Meldungen versendet. Es werden Codewörter - bedarfsweise Klartext verwendet. Einern Codewort ist stets der Begriff „Hagelschauer" vorangestellt, um die Situation eindeutig dem Notfallbetrieb zuzuordnen (Tab. 6). Bestimmte Bereiche können von der Pforte aus über eine Durchsage erreicht werden. Auch hier werden Codewörter - bedarfsweise Klartext - verwendet. Die Infotafel kann für Informationen zur Verkehrsregelung und Personenlenkung usw. genutzt werden. Es sind Standardtexte vorbereitet, die von der Leitwarte aktiviert werden.

Spezielle externe Verbindungen und Führungsmittel

• •

In einem etwas abgesetzten Bürobereich sind Anschlüsse für eine Telefon-Hotline vorbereitet. Über die zuständige Katastrophenschutzbehörde kann eine Rundfunk- und Fernsehmeldung - z. B. zur allgemeinen Alarmierung der Mitarbeiter - veranlasst werden. Anmeldeberechtigt ist die KEL. • ,.Hagelschauer - MANV" für Massenanfall von Verletzten • .,Hagelschauer - INTOX" für Massenanfall von intoxilderten Patienten • ,,Hagelschauer - INFEKT" für allgemeingefährliche Infektionskrankheiten • .,Hagelschauer - SONNENBRAND" für ABC/CBRN-Gefahrenlagen • .,Hagelschauer - SCHMETTERLING" für Räumung gefährdeter Bereiche • ,.Hagelschauer - WUNDERTÜTE" für Bombendrohung und Auffinden verdächtiger Gegenstände • ,,Hagelschauer - SCHIMANSKI" für Amoklauf und Geiselnahme usw.

Tab. 6: Codewörter für die interne Alannierung über Intranet-Blitzmeldung und Notfall-SMS.

234

Allgemeine Organisation

Alarmstufen Externe Gefahrenlagen

Die Abstufungen können nur krankenhausspezifisch definiert werden. Von den Alarmstufen kann lagebedingt - insbesondere in Abhängigkeit vom Versorgungsbedarf - abgewichen werden. Bei Massenanfall von Verletzten (MANV) und Massenanfall intoxikierter Patienten (INTOX) gelten in der MHH folgende Alarmstufen: • Alarmstufe I weniger als 20 Patienten, • Alarmstufe II 20 - 100 Patienten, • Alarmstufe III mehr als 100 Patienten. Bei allgemeingefährlichen Infektionskrankheiten (INFEKT) gelten wegen der räumlichen Gegebenheiten in der MHH zwei Alarmstufen: • Alarmstufe I bis 20 Patienten, • Alarmstufe II-III mehr als 20 Patienten. Bei ABC/CBRN-Gefahrenlagen (ABC) gilt wegen der besonderen organisatorischen Anforderungen nur eine Alarmstufe: • Alarmstufe I-III ohne definierte Patientenzahl. Nach Maßgabe des Versorgungsbedarfs ist die Einschränkung oder Einstellung des Regelbetriebs erforderlich. Es ist darauf zu achten, dass die stationären Patienten sowie eingelieferte Notfallpatienten nicht betroffener Fachgebiete angemessen versorgt werden. Interne Gefahrenlagen

Bei internen Gefahrenlagen gelten folgende Alarmstufen: • Alarmstufe I Lokale Maßnahmen, • Alarmstufe II Teilräumung oder Teilausfall von Bereichen, • Alarmstufe III Räumung, Evakuierung oder Totalausfall ganzer Gebäude. Nach Maßgabe des Schadensbilds ist die Einschränkung oder Einstellung des Regelbetriebs erforderlich und die RLS vom ÄLvD zu informieren. Es ist darauf zu achten, dass die stationären Patienten nicht betroffener Bereiche sowie eingelieferte Notfallpatienten angemessen versorgt werden. Allgemeiner Personal- und Materialeinsatz Externe Gefahrenlagen



Bei Alarmstufe I werden die Patienten durch planmäßig anwesende und ggf. nachalarmierte Mitarbeiter der primär betroffenen Disziplinen in deren Arbeitsbereichen versorgt. Im Einzelfall - bei Anforderung über die RLS - kann eine Unterstützung durch Einsatzkräfte der Feuerwehr und des Rettungs- und Sanitätsdienstes erfolgen. Aus der KEL werden informiert oder lageabhängig alarmiert: Leiter KEL, Stv. Leiter KEL, Leiter Administration, Leiter Technik, Pressesprecher oder deren Vertreter. Die MEL wird vollzählig alarmiert. 235





Bei Alarmstufe II wird das nach Alarmstufe I eingesetzte Personal durch planmäßig anwesende und nachalarmierte Mitarbeiter von Nachbardisziplinen unter Nutzung erweiterter Räumlichkeiten verstärkt. Im Einzelfall - bei Anforderung über die RLS kann eine Unterstützung durch Einsatzkräfte der Feuerwehr und des Rettungs- und Sanitätsdienstes erfolgen. KEL und MEL werden vollzählig alarmiert. Bei Alarmstufe III werden alle personellen und materiellen Ressourcen auf die Sicherung der Vitalfunktionen und die Herstellung der stationären Behandlungs- oder Transportfähigkeit der Notfallpatienten konzentriert. Die MHH dient als Erstversorgungsklinik (EVK) für die Region Hannover und wird planmäßig von Einsatzkräften der Feuerwehr und des Rettungs- und Sanitätsdienstes unterstützt. KEL und MEL werden vollzählig alarmiert.

Interne Gefahrenlagen



• •

Bei Alarmstufe I sind nur Mitarbeiter im unmittelbar beteiligten Bereich betroffen. Aus der KEL werden informiert oder lageabhängig alarmiert: Leiter KEL, Stv. Leiter KEL, Leiter Administration, Leiter Technik, Pressesprecher oder deren Vertreter. Die MEL wird vollzählig alarmiert. Bei Alarmstufe II sind alle Mitarbeiter der beteiligten Bereiche betroffen; sie werden ggf. durch Nachbarbereiche unterstützt. KEL und MEL werden vollzählig alarmiert. Bei Alarmstufe III werden lageabhängig alle personellen und materiellen Ressourcen eingesetzt. KEL und MEL werden vollzählig alarmiert.

Interne Alarmierung und Information der Mitarbeiter Die interne Alarmierung und Information erfolgt - neben Telefon und Piepseranlage - vorzugsweise durch eine Intranet-Blitzmeldung sowie zusätzlich durch eine Notfall-SMS auf die dienstlichen Mobilfunktelefone (siehe oben).

Externe Alarmierung der Mitarbeiter Die externe Alarmierung erfolgt telefonisch auf Basis dezentral zu erstellender und aktuell zu haltender Personallisten (PL). • Die auslöseberechtigten Mitarbeiter sind eindeutig definiert. • Die Überwachung - im Einzelfall auch die Auslösung - der externen Alarmierung obliegt der KEL. • In der Alarmstufe I werden die erforderlichen Mitarbeiter über die PL der Bereiche einzeln telefonisch alarmiert. • In den Alarmstufen II und III werden die erforderlichen Mitarbeiter grundsätzlich über ein Alarmrufsystem mit externem Telefonserver alarmiert. Dazu sind drei Alarmgruppenbündel für das Basispersonal (Alarmierung bei allen externen und internen Gefahrenlagen) sowie das erweiterte Zentrum Chirurgie bzw. Zentrum Innere Medizin definiert. • Im Ausnahmefall kann die Alarmierung durch Rundfunk- und Fernsehdurchsage sowie durch Melder erfolgen.

Sonstige allgemeine Regelungen • •

Zur Identifizierung ist der Beschäftigtenausweis sichtbar zu tragen. Zugangswege und zusätzliche Parkzonen sind definiert. Wegen des absehbaren Mangels an Parkraum sind die Mitarbeiter gebeten, sich bei Benutzung eines Kfz möglichst von einer zweiten Person bringen zu lassen.

236

• • •

Die Mitarbeiter versorgen sich selbständig mit Bereichskleidung und suchen - sofern nicht vorrangige Aufgaben zu erledigen sind - bestimmte Sammelplätze auf. Mitgebrachte Kinder werden in der Kinderstube von der Ehrenamtlichen Krankenhaushilfe betreut. Auf Entscheidung der KEL werden Ruhezonen eingerichtet.

Verkehrsregelung und Gebäudesicherung • •

Für bestimmte Gefahrenlagen ist eine Verkehrsregelung durch Ausschilderung usw. vorbereitet. Für bestimmte Gefahrenlagen sind das Sperren der Nebeneingänge und Kontrollen an den Haupteingängen vorbereitet.

Unterstützung durch externe Einsatzkräfte Bei MANV- oder INTOX-Alarmstufe III sowie im Einzelfall wird die MHH durch Einsatzkräfte der Feuerwehr und des Rettungs- und Sanitätsdienstes verstärkt. Lageabhängig kommen ein Löschzug Rettung (LZ Rett), Einheiten der Technischen Aufbauhilfe (TAH) und die Klinik-Unterstützungsgruppe (KUG) zum Einsatz. • Ein LZ Rett - Einsatzstärke 12 Personen mit technischer sowie medizinischer Qualifikation als Rettungsassistent und entsprechender Ausstattung - kann wenige Minuten nach Alarrnierung eintreffen und dient der technischen und ggf. auch medizinischen Unterstützung. • Die der MHH planmäßig zugeordneten TAB-Kräfte der Feuerwehr - Einsatzstärke etwa 80 Personen mit technischer Qualifikation - können etwa 30 min nach Alarrnierung eintreffen und dienen der allgemeinen technischen und organisatorischen Unterstützung, hier insbesondere beim Aufbau und Betrieb der zusätzlichen Behandlungsbereiche sowie bei der Gebäudesicherung. • Die der MHH planmäßig zugeordnete DLRG-Komponente der Klinik-Unterstützungsgruppe (KUG) - Einsatzstärke etwa 20 Personen mit medizinischer Qualifikation als Rettungs- und Sanitätspersonal und entsprechender Ausstattung - kann 30 - 60 min nach Alarrnierung eintreffen und dient der allgemeinen medizinischen und ggf. auch technischen Unterstützung, im weiteren Verlauf insbesondere der Versorgung von Patienten der Sichtungskategorie (SK) III (leichtverletzt oder -geschädigt). • Die der MHH planmäßig zugeordnete KUG - Einsatzstärke etwa 50 Personen mit Notärzten, Rettungs- und Sanitätspersonal sowie Sanitätsmaterial - kann etwa 90 min nach Alarrnierung eintreffen und betreibt einen in die Liegenschaft der MHH integrierten Behandlungsplatz (BHP). Bei ABC/CBRN-Gefahrenlagen Alarmstufe 1-III wird auf dem Parkdeck vor dem Eingang der Poliklinik ein Dekontaminationsplatz der Feuerwehr aufgebaut. Die Anrückwege für TAH und KUG zum Meldekopf in der MHH sind permanent verdeckt ausgeschildert; die Schilder müssen lediglich aktiviert werden. Die Aufgaben und die Führungs- und Unterstellungsverhältnisse sind abgesprochen, erprobt und schriftlich fixiert.

237

Der Notfallplan - Notfallbetrieb bei externen Gefahrenlagen Massenanfall von Verletzten - MANV

Grundlagen und allgemeine Vorbereitungen Der Massenanfall von Verletzten [31] ist die wahrscheinlichste externe Gefahrenlage und wird beispielhaft genauer dargestellt. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 20 % der Normal- und Intensivbetten verfügbar zu machen sind; als mittlerer Zeitbedarf für einen Notfalleingriff sind 60 min angesetzt [32].

MANV III - Modul-Nr. 01

Basismodul-MEL

02 Doku-Labor 1 Bereich SK IV

03 Basisversorgung 1 04 Beatmung 1 05 Chir. Versorgung 1 06 Doku-Labor 2 07 Basisversorgung 2 08 Beatmung 2 09 Chir. Versorgung 2 10 Schienen 1 11

Decken 1

12 Basisversorgung 3 13 Beatmung 3 14 Chir. Versorgung 3 15 Schienen 2 16 Basisversorgung 4 17 Decken 2 18 Basisversorgung 5

~~!"?-Ji~ --!l-"rl--

4 Bereich SK I und II BHP KUG

19 Decken 3 20 Basisversorgung 6 51

Technik außen

52 Technik innen 53 Technik Sauerstoff Sichtungspunkt II

Tragenuntergestelle

III

Normtragen

IV

Tragenfahrgestelle

V

Sauerstoff-Zylinder Bereich SK III

Eingang Poliklinik

Eingang ZNA

Abb. 1: Verteilungsplan der Notfallmodule für MANV-Alarmstufe III. SK = Sichtungskategorie.

238

Während bei Alarmstufe I nur die ZNA (Sektor 1) genutzt wird, treten bei Alarmstufe II angrenzende Räume (Sektor 2) und bei Alarmstufe III weitere Bereiche - in der MHH eine große Flurzone mit etwa 100 Tragenplätzen (Sektor 3) - hinzu (Abb. 1). Die Flurzone dient als BHP der KUG; dazu wird sie mit einem Sichtungspunkt, Platznummern, Infusionsleinen und einer Sauerstoff-Versorgung (10 große Zylinder mit je 4 Abgabestellen) ausgestattet (Abb. 2). Das Material steht im Materiallager Katastrophenschutz (KatSLager) in Notfallmodulen bereit und wird planmäßig auf dauerhaft gekennzeichnete Plätze verteilt (Abb. 3).

Abb. 2: Zur Aufnahme von Notfallpatienten vorbereitete Flurzone in der MHH - Übung vom 22.08.2009.

239

1;,,

Basismodul• MEL

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0

1

Abb. 3: Einsatzbereites Notfallmodul; dariiber ist die Platznummer zu erkennen.

Regelungen für MANV-Alarmstufe m Personal Die Patienten werden unter äußerster Anspannung aller Kräfte vom gesamten Personal der MHH versorgt. Die MHH wird planmäßig von Einsatzkräften der Feuerwehr (TAH) und des Rettungs- und Sanitätsdienstes (DLRG, KUG) unterstützt. Es werden Behandlungsteams - regelmäßig bestehend aus Operateur, Anästhesist und Pflegekräften - zur kontinuierlichen Versorgung eines Notfallpatienten der SK I und SK II gebildet. Personalwechsel nach der Patientenübernahme sind zu vermeiden. 240

Material Die Versorgung der Patienten erfolgt mit dem in der ZNA vorhandenen Material sowie mit den im KatS-Lager der MHH bereitstehenden Notfallmodulen. Bei Bedarf werden die im KatS-Lager des Bundes gelagerten Infusionen, Medikamente und Medizinprodukte zur Versorgung der Patienten herangezogen. Die weitere Versorgung mit Medikamenten und Medizinprodukten erfolgt aus den internen Apotheken- und Lagerbeständen sowie ggf. über Kliniklieferanten und Nachbarkliniken; die weitere Versorgung mit Op-Sets über die Sachzentralen. Die Gesamtverantwortung für die Anschlussversorgung liegt bei der KEL. Grundsätzlicher organisatorischer Ablauf Für MANV-Alarmstufe III sind 16 AA vorbereitet (Tab. 7). Der grundsätzliche organisatorische Ablauf ist wie folgt:

• • • • • • • • • •

AA-3.3-01

ÄLvD MEL - MANV-Alarmstufe III

AA-3.3-02

PDLvD MEL - MANV-Alarmstufe III

AA-3.3-03

TvD MEL - MANV-Alarmstufe III

AA-3.3-04

Registrator MEL - MANV-Alarmstufe III

AA-3.3-05

Aufnahme- und Erkennungsdienst - MANV-Alarrnstufe III

AA-3.3-06

Lagebildführer MEL - MANV-Alarrnstufe III

AA-3.3-07

OP-Koordinatoren MEL - MANV-Alarmstufe III

AA-3.3-08

Sichtungsärzte - MANV-Alarmstufe III

AA-3.3-09

Behandlungsteams - MANV-Alarrnstufe III

AA-3.3-10

Einsatzleiter TAH - MANV-Alarmstufe III



AA-3.3-11

Einsatzleiter DLRG - MANV-Alarrnstufe III

• • • • •

AA-3.3-12

Ärztlicher Leiter KUG - MANV-Alarmstufe III

AA-3.3-13

Leiter Bereich SK III - MANV-Alarrnstufe III

AA-3.3-14

Leiter Bereich ZMK-Klinik - MANV-Alarrnstufe III

AA-3.3-15

Leiter psychosoziale Versorgung - MANV-Alarmstufe III

AA-3.3-16

Leiter Bereich SK IV - MANV-Alarrnstufe III

Tab. 7: Alarmanweisungen (AA) für Massenanfall von Verletzten (MANV)-Alarmstufe III. Für die Alarmstufe I sind 11 und für die Alarmstufe II sind 13 AA erforderlich. Abkürzungen (siehe auch Text): MEL = Medizinische Einsatzleitung; ÄLvD = Ärztlicher Leiter vom Dienst; PDLvD = Pflegedienstleitung vom Dienst; TvD = Techniker der Betriebsführung vom Dienst; TAH = Technische Aufbauhilfe; DLRG = Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft; KUG =Klinik-Unterstützungsgruppe; SK = Sichtungskategorie; ZMK =Zahn-Mund-Kiefer.





• •

Im Flur der Poliklinik wird ein Behandlungsbereich mit dem im KatS-Lager-MHH deponierten Material ausgerüstet, das von Mitarbeitern der ZNA bereitzustellen und vom Technischen Dienst - jeweils unter Mithilfe der TAH-Kräfte - anzubringen ist. Bis zur Herstellung der Arbeitsbereitschaft der KUG sind deren Aufgaben vornehmlich von Ärzten der nichtoperativen Kliniken und vom Pflegedienst der Normalstationen zu übernehmen. Die KUG rückt über einen rückwärtigen Eingang an und richtet den BHP im Flur der Poliklinik. Die Patienten werden über den Eingang der Poliklinik aufgenommen. Im vorderen Bereich der Wartezone der Poliklinik werden sie vom Aufnahme- und Erkennungs241





• • •





• • •



dienst erfasst und von einem besonders erfahrenden OA der Klinik für Unfallchirurgie gesichtet. Bei Bedarf erfolgt eine parallele Sichtung durch mehrere Oberärzte. Es sind Aufnahmesets mit Notetiketten, Armband, Beutel für Patientengut, Patientenverlaufsbogen, Material zur Blutentnahme sowie Anforderungskarten für Laborleistungen und Blutkomponenten usw. vorbereitet. Ziel der ersten klinischen Sichtung ist es, die Notfallpatienten der SK I und SK II unverzüglich der Behandlung und die Patienten der SK III und SK IV einer getrennten Versorgung zuzuführen. Notfallpatienten der SK l und SK II werden unverzüglich einem Behandlungsteam der MHH übergeben und von diesem kontinuierlich versorgt. Personalwechsel nach der Patientenübernahme sind zu vermeiden. Falls kein Team verfügbar ist, werden Notfallpatienten der SK I und SK II auf den BHP der KUG übernommen, dort kontinuierlich versorgt, fortlaufend gesichtet und schnellstmöglich einem Behandlungsteam der MHH zugewiesen. Die Erstversorgung zur Sicherung und Erhaltung der Vitalfunktionen erfolgt in der ZNA und bestimmten Bereichen der Poliklinik. Die Diagnostik erfolgt in den üblichen Bereichen und ist zeitlich zu minimieren. Die operative Versorgung erfolgt in allen regulären OP-Bereichen. Nach Maßgabe der verfügbaren Behandlungsteams sind ggf. weitere Eingriffsräume zu aktivieren. Die OP-Säle sind möglichst fachspezifisch zu nutzen. Freimachen und Zuweisen der OPKapazitäten obliegen den OP-Koordinatoren der MEL in Abstimmung mit dem ÄLvD. Ziel der chirurgischen Notfallversorgung (damage control surgery) ist die Sicherung der Vitalfunktionen und der Schutz vor Folgeschäden mit Herstellung der stationären Behandlungsfähigkeit in der MHH bzw. der Transportfähigkeit in regionale und überregionale Weiterversorgungskliniken. Leichtverletzte Patienten der SK III werden im hinteren Bereich der Wartezone der Poliklinik gesammelt und dort bis zur definitiven Versorgung von Ärzten und Pflegepersonal der nichtoperativen Kliniken und von der DLRG-Komponente der KUG versorgt. Patienten, die in Lokalanästhesie versorgt werden können, werden - möglichst im Sammeltransport mit Fahrzeugen der DLRG-Komponente - in die ZahnMund-Kieferklinik (ZMK-Klinik) gebracht und dort durch Mitarbeiter des Zentrums Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde chirurgisch versorgt. Als Aufnahme- und Sichtungszone dient ein bestimmter Foyerbereich. Psychisch traumatisierte und somatisch weitgehend unverletzte Patienten sowie sonstige Betroffene werden in der Psychiatrischen Tagesklinik und ggf. weiteren abgesetzten Bereichen durch Mitarbeiter des Zentrums für Seelische Gesundheit versorgt. Hoffnungslose Patienten der SK N werden in einem abgesetzten Bereich von Ärzten und Pflegepersonal der nichtoperativen Kliniken und Seelsorgern palliativ versorgt. Das Freimachen von Normal- und Intensivbetten obliegt der KEL; die spezielle Zuständigkeit liegt beim Koordinator Bettenkapazität. Die Entlassung oder externe Verlegung von Patienten erfolgt - koordiniert durch die KEL - über einen abgesetzten Nebenausgang. Apparativ zu überwachende sowie beatmete Patienten werden bis unmittelbar vor dem Abtransport auf eine definierte Station übernommen, die von anderen Patienten geräumt wird. Für die überbrückende Versorgung der Patienten wird die Station durch Anästhesieteams, ersatzweise lnternistenteams, verstärkt. Die Anfahrt der abtransportierenden Rettungsmittel erfolgt über eine Nebenzufahrt. Angehörige werden in einem abgesetzten Hörsaal betreut. Verantwortlich ist die KEL.

242

Massenanfall intoxikierter Patienten - INTOX

Vorbereitungen und Ablauf entsprechen weitgehend dem Vorgehen bei Massenanfall von Verletzten. Wiederum sind Behandlungsteams - hier bestehend aus Internist, Anästhesist und Pflegekräften - zur kontinuierlichen Versorgung eines Notfallpatienten zu bilden. Allgemeingefährliche Infektionskrankheiten - INFEKT

Krankheiten und allgemeines Vorgehen Zu den allgemeingefährlichen Infektionskrankheit [33] zählen z.B. • Pandemische Influenza-Infektion mit gehäuft schweren Verläufen, • Severe Acute Respiratory Syndrome (SARS), • Virusbedingtes Hämorrhagisches Fieber (VHF), • Lungenpest, • Lungenmilzbrand und • Pocken. Die konkrete Gefährdung von Patienten und Mitarbeitern durch allgemeingefährliche Infektionskrankheiten ist kaum abschätzbar, und es muss jederzeit mit dem Auftreten bislang unbekannter Erreger gerechnet werden. Zur Sicherung der allgemeinen Arbeitsfähigkeit ist bei einem Massenanfall von Infektionspatienten die Einrichtung einer besonderen Aufnahmezone, einer besonderen Behandlungswne und einer besonderen Verlegezane erforderlich. •

• •

Das notwendige Schutzniveau für die Mitarbeiter wird vom ÄLvD - in Abstimmung mit der Leitung des Bereichs Krankenhaushygiene und ggf. weiteren Stellen - festgelegt. Aus Gründen des Selbstschutzes sind nur die zwingend erforderlichen Mitarbeiter einzusetzen. Die festgelegten Hygieneregeln - Schutzausrüstung, Schleusenbenutzung, Wegetrennung usw. - sind strikt zu beachten und von allen Führungskräften durchzusetzen.

Vorgehen bei Einzelpatienten Bei Einlieferung eines Einzelpatienten mit Verdacht oder Nachweis einer allgemeingefährlichen Infektionskrankheit erfolgt die Versorgung im Bereich der ZNA nach folgenden Grundsätzen: •

Unverzügliche vorläufige Isolierung des Patienten im Rettungsmittel oder in der ZNA,

• • • • • •

Schutz der Mitarbeiter mit bereit liegenden Infektionsschutzsets, Sicherung der Vitalfunktionen, nach Möglichkeit unverzüglicher Transport in die Bernhard-Nacht-Klinik Hamburg, falls kein Transport erfolgt, definitive Isolierung auf der Infektionsstation, Isolierung von direkten Kontaktpersonen, ggf. Verschluss der ZNA-Räume und Einrichtung eines Ausweichbetriebs.

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INFEKT-Alannstufe I Bei INFEKT-Alarmstufe I werden die Patienten auf der Infektionsstation versorgt. Der spezielle Alarmierungsumfang ist lagegerecht festzulegen. Die Zugangs- und Wegetrennung mit reinen und unreinen Bereichen sowie die Quarantänebereiche der Mitarbeiter sind definiert. INFEKT-Alannstufe II-III Bei Erschöpfung der räumlichen Möglichkeiten der Infektionsstation wird INFEKTAlarmstufe II-III ausgelöst und die ZMK-Klinik als Infektionsbau genutzt. Der spezielle Alarmierungsumfang ist lagegerecht festzulegen. Auch hier sind die Zugangs- und Wegetrennung mit reinen und unreinen Bereichen sowie die Quarantänebereiche der Mitarbeiter definiert. ABC/CBRN-Gefahrenlagen - ABC

Not-Dekontamination bei unkoordinierter Einlieferung Der Kontakt eines Patienten mit einem • A Atomaren Gefahrstoff/Kampfmittel im weiteren Sinne, z. B. einer Strahlenquelle oder „schmutzigen Bombe", • B Biologischen Gefahrstoff/Kampfmittel, z. B. Milzbrandsporen, Chemischen Gefahrstoff/Kampfmittel, z. B. einem Haut-, • C Lungen- oder Nervenkampfstoff ist häufig nicht direkt erkennbar [3; 34; 35). Anhaltspunkte für eine entsprechende Exposition - neben anarnnestisch-lagebedingten Hinweisen - sind: • Allgemein Mehrere Patienten mit gleichartigen Symptomen, Atemnot, Schock. • A Schwäche, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Erythem. • B Fieber, Erbrechen, Durchfall, Blutungen, Hautausschlag, Husten, Hämoptyse, Augenmuskelähmungen, Schluckbeschwerden. • C Koma, Krämpfe, Miosis, Hypersalivation, Husten, Bronchospasmus, Hautschäden. Grundsätze für den ersten, behelfsmäßigen Schutz des Personals und die Not-Dekontamination beim unkoordinierten Eintreffen kontaminierter Patienten sind: • Unverzügliche vorläufige Isolierung des Patienten in der ZNA, • Schutz der Mitarbeiter mit Infektionsschutzsets, • Sicherung der Vitalfunktionen, zuvor ggf. Spot-Dekontamination, • unverzügliche Not-Dekontamination des Patienten, • Minimierung der Exposition (Abstand halten, Kontaktzeit minimieren), • fernhalten unbeteiligter Personen, • Absperrung des potentiell kontaminierten Bereichs, • Isolierung von direkten Kontaktpersonen, • geordnete endgültige Dekontamination des Patienten und aller Kontaktpersonen durch Fachpersonal, • ggf. Verschluss der ZNA-Räume und Einrichtung eines Ausweichbetriebs.

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ABC-Alarmstufe 1-III Versorgungsbedarf und allgemeine Maßnahmen

Bei ABC-Alarmstufe 1-III dient die MHH als ABC-Versorgungsklinik für koordiniert eingelieferte Patienten: • Die Anzahl der zu versorgenden Patienten ist nicht definiert. • Die Feuerwehr betreibt vor dem Eingang der Poliklinik einen Dekontaminationsplatz zur Dekontamination von Personen bzw. Verletzten (Dekon-P, Dekon-V). • Die MHH wird lagegerecht durch Einsatzkräfte der Feuerwehr (TAH) und des Rettungs- und Sanitätsdienstes (DLRG, KUG) unterstützt. Al/gemeiner Ablauf

Die Patienten werden unter Beachtung folgender Grundsätze versorgt: • Das notwendige Schutzniveau für die Mitarbeiter wird vom ÄLvD - in Abstimmung mit der Einsatzleitung der Feuerwehr und den Fachberatern der KEL - festgelegt. • Aus Gründen des Selbstschutzes werden nur die zwingend erforderlichen Mitarbeiter eingesetzt. • Kontrolle aller eintreffenden Patienten auf Kontamination durch Einsatzkräfte der Feuerwehr. • Bei Bedarf Dekontamination auf dem Dekon-Platz in Verantwortung von Feuerwehr und Rettungsdienst. Der Standort des Dekon-Platzes sowie die Verkehrsführung sind definiert und vorbereitet (Abb. 4). • Im Einzelfall kann die Patientenversorgung auf dem Dekon-Platz durch Mitarbeiter der MHH - in lagegerechter Schutzkleidung - unterstützt werden. • Aufnahme nach abgeschlossener Dekontamination über den Eingang der Poliklinik. • Klinische Versorgung in der MHH durch die führende Fachdisziplin je nach Schädigung durch A , B- oder C-Gefahrstoffe/Kampfmittel.

Abb. 4: Vor einem Eingang der MHH aufgebauter Personen-Dekontaminationsplatz.

245

Der Notfallplan - Notfallbetrieb bei internen Gefahrenlagen Allgemeine Regelungen

Allgemeine Auf.gaben der MEL und KEL bei internen Gefahrenlagen

Grundsatz Bei direkten Personengefährdungen wie Bränden oder Geiselnahmen obliegt die Einsatzleitung der Feuerwehr bzw. der Polizei. Den Anordnungen der entsprechenden Einsatzleiter ist Folge zu leisten; die Einsatzleiter sind nach Kräften zu unterstützen.

Aufgaben der KEL Die KEL ist bei internen Gefahrenlagen insbesondere für die administrativ-organisatorische Führung im protrahierten Notfallbetrieb verantwortlich. Dazu zählen • Ausfall der Kommunikationseinrichtungen, • Ausfall der Stromversorgung, • Ausfall der Wasserversorgung, • Ausfall der Heizungsanlage, • Koordination der externen Verlegung von Patienten.

Aufgaben der MEL Die MEL ist bei internen Gefahrenlagen insbesondere für die Durchführung der Erstmaßnahmen bis zum Eintreffen weiterer Hilfe - hier insbesondere der Feuerwehr und Polizei - oder die Übernahme der Führung durch die KEL verantwortlich. Dazu zählen vor allem Gefahrenlagen mit direkter Personengefährdung wie • Brände und Umweltgefahren, • Bombendrohung, • Auffinden verdächtiger Gegenstände, • Amoklauf, Geiselnahme und andere direkte Personengefährdungen. Das Material zur technischen Unterstützung bei internen Gefahrenlagen (Bergetücher, Beleuchtungsmaterial, Schilder usw.) ist in einem Notfallmodul zusammengestellt. Brände und Umweltgefahren

Alarmierung Bei Bränden und Umweltgefahren - wie der Freisetzung eines Gefahrstoffs, aber auch bei Sturm, Erdbeben oder Überflutung - ist unvenüglich für die Alarmierung zu sorgen: • Feuermelder betätigen und Mitarbeiter im Arbeitsbereich warnen. • Feuerwehr - Notruf JJ2 - und Leitwarte alarmieren. • Notfallmeldung ruhig und klar abgeben und durch Wiederholung bestätigen lassen: - Wer meldet? Name und Funktion - Wo brennt es? Gebäude, Ebene, Raum, ggf. Bereich Kune Beschreibung des Schadensumfangs - Was ist geschehen? - Wie ist die Lage? Zahl der gefährdeten Personen, Schadstoffe usw. - Warten auf Rückfragen! Nicht unaufgefordert auflegen • Bei automatischem Feueralarm sind Personen im eigenen Bereich zu warnen und zu versuchen, die Ursache - unter Beachtung der Eigensicherung - zu ermitteln.

246



Der Mitarbeiter der Leitwarte alarmiert die Feuerwehr über Notruf 112 und zusätzlich den OAvD Unfallchirurgie. Der OAvD Unfallchirurgie legt die Alarmstufe fest und alarmiert oder informiert lageabhängig die MEL und KEL.

Menschenrettung • • • • • • •

Menschenrettung geht vor Schadensbekämpfung. Mitarbeiter zur Hilfeleistung zusammen halten und Mitarbeiter in abgelegenen Arbeitsbereichen warnen. Brennende Personen mittels Feuerlöscher oder Löschdecke usw. ablöschen und Hitzespeicher (verbrannte Kleidung, Schmuck) entfernen. Möglichst etagengleiche (horizontale) Räumung in den nächsten Rauchabschnitt. Verrauchte Bereiche ggf. durch Unterkriechen überwinden. Keine Aufzüge benutzen. Es gelten die speziellen Anweisungen der Bereiche mit Angabe der Rettungswege sowie von internen und externen Sammelstellen.

Schadensbekämpfung und weitere Maßnahmen • • • • • • • • •

Ausbreitung von Feuer, Rauch und Schadstoffen verhindern - Türen und Fenstern schließen. Entstehungsbrand unter Beachtung der Eigensicherung mit Feuerlöscher usw. bekämpfen; ggf. Feuerlöscher aus Nachbarbereichen herbeiholen. Brandbekämpfung zur Eigensicherung möglichst mit mehreren Personen vornehmen. Verbleib der Patienten dokumentieren. Patienten in ungefährdeten Bereichen strikt auf die Zimmer verweisen. Unbefugte Personen aus dem Gefahrenbereich fernhalten. Akten und sonstige Befunde sowie ggf. Patientengut und weitere Sachwerte bergen. Eintreffende Feuerwehr über die Lage informieren und deren Anweisungen befolgen. KEL, MEL und Feuerwehr können die Räumung gefährdeter Bereiche direkt vor Ort oder durch Intranet-Blitzmeldung und Notfall-SMS auf die dienstlichen Mobilfunktelefone anordnen.

Ausfall der Kommunikationseinrichtungen

Ausfall der Telefonanlage Rahmenbedingungen

Hier sind die technischen Rahmenbedingungen für die externen und internen Verbindungen sowie die Reserveoptionen definiert. Allgemeine Maßnahmen bei Ausfall der externen Verbindungen

• •



Lagegerechte interne und externe Alarmierung und Information gemäß AA. Information der RLS über Mobilfunktelefon, dass an die MHH gerichtete Anrufe auf einen Nebenanschluss der RLS umgeleitet werden. Die Funktionstüchtigkeit der Umleitung ist über Mobilfunktelefon zu prüfen; bei zusätzlichem Ausfall des Mobilfunknetzes wird ein Melder eingesetzt. Unverzüglicher Transport eines Arztes zur RLS, um dort die Bearbeitung der eingehenden Anrufe zu unterstützen. 247



Sicherung der externen Verbindung durch Aufbau einer Minimalkommunikation zur RLS über das Mobilfunknetz oder interne Reserveoptionen (1. externe Rückfallebene). Ersatzweise Aufbau einer Sprechfunkverbindung zwischen KEL und RLS über einen Einsatzleitwagen (ELW; 2. externe Rückfallebene).

Al/gemeine Maßnahmen bei Ausfall der externen und internen Verbindungen • •

• •







Lagegerechte interne und externe Alarmierung und Information gemäß AA. Information der RLS über Mobilfunktelefon, dass an die MHH gerichtete Anrufe auf einen Nebenanschluss der RLS umgeleitet werden. Die Funktionstüchtigkeit der Umleitung ist über Mobilfunktelefon zu prüfen; bei zusätzlichem Ausfall des Mobilfunknetzes wird ein Melder eingesetzt. Unverzüglicher Transport eines Arztes zur RLS, um dort die Bearbeitung der eingehenden Anrufe zu unterstützen. Sicherung der externen Verbindung durch Aufbau einer Minimalkommunikation zur RLS über das Mobilfunknetz oder interne Reserveoptionen (1. externe Rückfallebene). Ersatzweise Aufbau einer Sprechfunkverbindung zwischen KEL und RLS über einen ELW (2. externe Rückfallebene). Erstellung einer vorbereiteten Erfassungsliste der Mobilfunktelefone der Diensthabenden und sonstiger Funktionsträger (1. interne Rückfallebene). Die Kommunikation wird über ein Mobilfunktelefon bei der KEL - als zentrale Meldestelle - koordiniert, dessen Nummer über eine Intranet-Blitzmeldung bekannt gegeben wird. Zur Entlastung des Mobilfunknetzes sind die Mitarbeiter durch Intranet-Blitzmeldung aufzufordern, sich kurz zu fassen und auf private Gespräche über Mobilfunktelefon zu verzichten. Bei Ausfall des Mobilfunknetzes infolge Überlastung oder externer Abschaltung der Zelle wird ein vorbereitetes Funknetz aktiviert (2. interne Rückfallebene). Bei allen Funkern werden Melder eingeteilt und bei den Einsatzleitungen gelagerte Meldezettel benutzt. Als weitere Kommunikationsmöglichkeiten sind lagegerecht das Intranet (E-Mail) und die Rohrpostanlage zu verwenden. Es ist eine genaue Absprache zwischen den beteiligten Stellen erforderlich, damit die Informationen nicht ins Leere laufen.

Ausfall der Piepseranlage Die Erreichbarkeit und Verfügbarkeit der Diensthabenden und sonstiger Funktionsträger wird erheblich beeinträchtigt und bestimmte Alarme fallen aus. • Lagegerechte interne Alarmierung und Information gemäß AA. • Erstellung einer vorbereiteten Erfassungsliste der Mobilfunktelefone der Diensthabenden und sonstiger Funktionsträger in den relevanten Bereichen. • Im Übrigen müssen die Diensthabenden und sonstigen Funktionsträger ihre Erreichbarkeit über eine zuverlässige Telefonverbindung im Festnetz sicherstellen. • Die auf die Piepseranlage angewiesenen Alarme sind über Mobilfunktelefone zu kompensieren.

Ausfall der EDV-Anlage Die externe und interne Kommunikation über Internet und Intranet ist nicht mehr verfügbar. Davon sind insbesondere die Patientendokumentation, die Anforderung und Abrufbarkeit von Labor- und Röntgenleistungen sowie das Konsilwesen betroffen. • Lagegerechte interne Alarmierung und Information gemäß AA. • Aufnahme und Entlassung von Patienten sowie Eingriffe usw. sind vorläufig in Papierform zu dokumentieren. 248





Die Anforderung von Labor-, Röntgen- und Konsilleistungen muss telefonisch oder in Papierform über Fax, Rohrpostanlage oder Melder erfolgen. Gleiches gilt für die Mitteilung der Ergebnisse. Die Anforderungen sind auf das unbedingt Notwendige zu beschränken. Es ist eine genaue Absprache zwischen den beteiligten Stellen erforderlich, damit die Informationen nicht ins Leere laufen. Nach Behebung der Störung sind die zwischenzeitlich angefallenen Daten im EDVSystem nachzutragen.

Ausfall der Stromversorgung

Rahmenbedingungen Hier sind die Rahmenbedingungen einschließlich der Stromversorgungsnetze und Reserveoptionen definiert. Bei längerfristigem Stromausfall wird die Brennstoffversorgung der Dieselaggregate in Zusammenarbeit mit der Feuerwehr als Katastrophenschutzbehörde sichergestellt. Allgemeine Maßnahmen • • • • • •

Lagegerechte interne Alarmierung und Information gemäß AA. Sicherung der Vitalfunktionen akut lebensbedrohter Patienten bei Ausfall von Beatmungs- und Narkosegeräten usw. Aufschieben nicht-dringlicher Eingriffe. Bei unaufschiebbaren Eingriffen Ausweichen in nicht betroffene Bereiche gemäß vorbereiteter Stromversorgungslisten. Reduzierung des Stromverbrauchs - in betroffenen und nicht betroffenen Bereichen alle verzichtbaren Stromverbraucher abschalten. Ggf. Räumung oder Evakuierung von Bereichen oder Gebäuden.

Ausfall der Wasserversorgung

Rahmenbedingungen Hier sind die Rahmenbedingungen einschließlich Reserveoptionen definiert. Allgemeine Maßnahmen • • • • • •

Lagegerechte interne Alarmierung und Information gemäß AA. Nach Möglichkeit Wasservorrat anlegen. Wasserverbrauch reduzieren. Aufschieben nicht-dringlicher Eingriffe. Bei unaufschiebbaren Eingriffen Ausweichen in nicht betroffene Bereiche. Ggf. Evakuierung von Bereichen oder Gebäuden.

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Ausfall der Heizungsanlage Rahmenbedingungen Hier sind die Rahmenbedingungen einschließlich Reserveoptionen definiert. Allgemeine Maßnahmen • • • • • •

Lagegerechte interne Alarmierung und Information gemäß AA. Schließen von Fenstern und Türen zum bestmöglichen Wärmeerhalt. Ausgabe von Decken usw. Aufschieben nicht-dringlicher Eingriffe. Bei unaufschiebbaren Eingriffen Ausweichen in nicht betroffene Bereiche. Ggf. Evakuierung von Bereichen oder Gebäuden.

Sonstige Ausnahmesituationen Bombendrohung •

• • • •



Bei Entgegennahme einer telefonischen Bombendrohung den Anrufer zunächst ausreden lassen und danach ruhig und detailliert nach einem im Intranet hinterlegten Merkblatt befragen, um möglichst viele Informationen zu gewinnen. Sofort Notizen machen. Panik vermeiden - keine laute Weitergabe der Bombendrohung und keine unüberlegten Aktionen. Erst nach Aufnahme der Bombendrohung Alarmierung des OAvD Unfallchirurgie und der Leitwarte. Der OAvD Unfallchirurgie legt die Alarmstufe fest und alarmiert Polizei, MEL, KEL und ggf. Feuerwehr und RLS. Nach Entscheidung ÄLvD, Leiter oder Stv. Leiter KEL allgemeine Alarmierung und Information der Mitarbeiter durch Intranet-Blitzmeldung und Notfall-SMS auf die dienstlichen Mobilfunktelefone. Das weitere Vorgehen wird lageabhängig vom Einsatzleiter der Polizei in Absprache mit dem ÄLvD und dem Leiter KEL festgelegt.

Auffinden verdächtiger Gegenstände • • • •



Panik vermeiden - keine laute Weitergabe der Beobachtung und keine unüberlegten Aktionen. Alarmierung des OAvD Unfallchirurgie und der Leitwarte. Der OAvD Unfallchirurgie legt die Alarmstufe fest und alarmiert Polizei, MEL, KEL und ggf. Feuerwehr und RLS. Nach Entscheidung ÄLvD, Leiter oder Stv. Leiter KEL allgemeine Alarmierung und Information der Mitarbeiter durch Intranet-Blitzmeldung und Notfall-SMS auf die dienstlichen Mobilfunktelefone. Das weitere Vorgehen wird lageabhängig vom Einsatzleiter der Polizei in Absprache mit dem ÄLvD und dem Leiter KEL festgelegt.

250

Amoklauf, Geiselnahme und andere direkte Personengefährdungen Alarmierung

• • •

Sofortige Alannierung der Polizei über Notruf 110, danach des OAvD Unfallchirurgie und der Leitwarte. Der OAvD Unfallchirurgie legt die Alarmstufe fest und alarmiert Polizei, MEL, KEL und ggf. Feuerwehr und RLS. Nach Entscheidung des OAvD Unfallchirurgie allgemeine Alannierung und Information der Mitarbeiter durch Intranet-Blitzmeldung und Notfall-SMS auf die dienstlichen Mobilfunktelefone.

Weitere Maßnahmen

• • • •

Panik vermeiden - keine unüberlegten Aktionen. Eigenschutz beachten und die Umgebung warnen. Sich selbst und andere durch Einschließen in Sicherheit bringen und im verschlossenen Raum zusätzlich Deckung suchen. Im Einzelfall den Amokläufer durch Einschließen isolieren. Die Einsatzleitung und alle weiteren Maßnahmen obliegen der Polizei. Die polizeiliche Einsatztaktik ist grundsätzlich wie folgt: Bei Amoklauf unverzügliche Unschädlichmachung des Täters durch die ersten verfügbaren Einsatzkräfte; bei Geiselnahme Kontaktaufnahme mit dem Täter und De-Eskalation durch spezielle Einsatzkräfte.

Praktische Umsetzung und Erprobung

Der Notfallplan muss realitätsnah in Übungen erprobt werden [19]; gleichzeitig wird damit das Problembewusstsein geweckt und die Aufmerksamkeit der nicht unmittelbar an der Notfallplanung beteiligten Mitarbeiter geschärft. In der MHH wurden seit dem Jahr 2005 folgende Szenarien geübt: •

2005

• •

2005 2006



2007

• •

2008 2009

Massenanfall von Verletzten; nach Explosion in einem Hochhaus wurden 100 Verletzte im Rahmen des EVK-Konzepts in der MHH versorgt. Aufbauübung eines Dekontarninationsplatzes zur Dekon-P und Dekon-V. Aufbauübung als EVK und Aufnahme von 54 C-Kampfstoff-Verletzten nach Dekon-V. Gleichzeitige Aufnahme von neun Schwerbrandverletzten aus einem Großraum-Rettungswagen mit Unterstützung durch einen LZ Rett. Ausfall der Telefonanlage im Rahmen von Umbauarbeiten der Anlage. Aufbauübung mit TAH und KUG.

Die bei den Übungen gewonnenen, oft frappierenden Erkenntnisse wurden kontinuierlich in den Notfallplan eingearbeitet. Ausblick

Erst durch suffiziente Notfallplanung wird ein Krankenhaus seinem Versorgungsauftrag in vollem Umfang gerecht - dies betrifft sowohl die allgemeine Daseinsvorsorge für die Bevölkerung als auch die Sicherheit der aufgenommenen Patienten. Die Notfallplanung bindet durch die organisatorischen Vorbereitungen einschließlich der laufenden Aktualisierung personelle Ressourcen und erfordert darüber hinaus einen gewissen materiellen 251

Aufwand - die damit verbundenen Kosten können derzeit jedoch kaum geltend gemacht werden. Während viele Krankenhäuser diese Lasten schon traditionsgemäß tragen, führt der steigende Kostendruck mit zunehmendem Verzicht auf interne Fähigkeiten zu neuen Risiken, die sich gravierend auf die Notfallplanung auswirken können. In absehbarer Zeit könnte es den Krankenhäusern an der Basisautarkie fehlen, die sie unter widrigen Umständen - etwa bei anhaltender Extremwetterlage mit Zusammenbruch des Straßenverkehrs - funktionstüchtig erhält. Zu dieser Basisautarkie zählen • die ausreichende Bevorratung mit Medikamenten und Medizinprodukten im Hause, • das Erbringen von Notfall-Laborleistungen im Hause, • eine Möglichkeit zur hausinternen Instrumentenaufbereitung, • eine Möglichkeit zur zumindest überbrückenden hausinternen Speisenversorgung, • die hausinterne Mindestversorgung mit Wäsche und sonstigen Gebrauchsgütern. Ein klarer Rechtsrahmen könnte helfen, dass die Krankenhäuser - bei allem schon heute vorhandenen Engagement - mit diesen Problemen nicht allein gelassen werden.

Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

13.

14. 15.

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253

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Gefäßzugänge im Notfall M.P.

MÜLLER

Fallbeispiel: Eine 27jährige Patientin wurde zur Entzugstherapie bei langjährigem Heroinabusus in eine psychiatrische Klinik (Universitätsklinik) aufgenommen. Sie war schwanger (33. Schwangerschaftswoche), routinemässig wurde bei Aufnahme eine CTG-Untersuchung vorgenommen. Hier zeigte sich eine tiefe Dezeleration mit anhaltender fetaler Bradykardie. Durch den diensthabenden Gynäkologen wurde die Indikation zur Notsectio gestellt, die Patientin wurde in den Kreißsaal-OP gebracht und das Notsectioteam alarmiert. Bei Eintreffen des Anästhesieteams war die Patientin noch nicht mit einem Gefäßzugang versorgt. Mehrfache Versuche der Anlage eines periphervenösen Zuganges (Arme, Beine, V. jug. externa) scheiterten, der diensthabende Oberarzt der Anästhesie wurde hinzugerufen. Auch die Anlage eines zentralvenösen Katheters in Lokalanästhesie war frustran, letztendlich gelang die Punktion einer Vene am linken Oberarm mit einer 220 Kanüle. Durch die mißlungenen Versuche der Anlage eines Gefäßzuganges verzögerte sich der Operationsbeginn um circa 15 Minuten. Wie wären Sie vorgegangen? Periphervenöser Zugang Der periphervenöse Zugang stellt eine für den Geübten einfache, vergleichsweise wenig invasive und schnell anwendbare Technik für die Etablierung eines Gefäßzugangs dar. Einige Aspekte der Technik sollen hier näher beleuchtet werden und vor allem auch der Vergleich zum zentralvenösen und intraossären Zugang gezogen werden. Bis 2004 haben die Leitlinien für die Reanimation noch die endotracheale Gabe von Adrenalin empfohlen, sofern ein Gefäßzugang noch nicht etabliert ist [l]. Seit 2005 wird auf Grund der schlechten und im individuellen Fall unvorhersehbaren Resorption und Wirksamkeit von endotracheal appliziertem Adrenalin empfohlen, möglichst schnell einen venösen oder intraossären Zugang zu etablieren [2]. Neben den typischen Punktionsstellen an den Extremitäten bietet sich im Rahmen der Reanimation besonders auch die Vena jugularis externa an. Diese ist bei kardialen Ursachen eines Kreislaufstillstands häufig gestaut und daher einfach punktierbar. Meist kann hier eine großlumige Verweilkanüle platziert werden. In Notfallsituationen ist die Auswahl der geeigneten Größe von Bedeutung. In Tabelle 1 sind die Flußraten für periphervenöse Kanülen angegeben. Rechnet man mit der Notwendigkeit aggressiver Volumentherapie oder besteht die Notwendigkeit zur Massivtransfusion, so sollten frühzeitig mehrere großlumige Zugänge gelegt werden. Auch sollten bei noch unklarem Verletzungsmuster nach Trauma mehrere Gefäßzugänge gelegt werden, um bei plötzlicher Kreislaufinstabilität schnell reagieren zu können und um im Falle der Dislokation einer Venenverweilkanüle beim Transport oder Umlagern auf einen anderen Zugang zurückgreifen zu können.

255

Farbcode

Blau

Rosa

Grün

Weiß

Grau

Orange (Braun)

Außendurchmesser in Gauge

22

20

18

17

16

14

Innendurchmesser in mm

0,6

0,8

1,0

1,1

1,3

1,7

Außrate (ml/min)

36

61

96

128

196

343

Tabelle 1: Außraten verschiedener Venenveiweilkanillen. Gauge ist eine amerikanische Einheit, die in der Drahtherstellung veiwendet wurde und auch heute noch für den Außendurchmesser von Kanülen vetwendet wird. Größere Zahlen entsprechen kleineren Durchmessern.

Bereits seit einigen Jahren sind Venenverweilkanülen verfügbar, bei denen durch einen Schutzmechanismus die Gefahr der Nadelstichverletzung minimiert werden kann. Beim Herausziehen der Stahlnadel aus der Verweilkanüle schnappt eine Schutzkappe aus Stahl über die Spitze. Der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften hat gemeinsam mit dem Ausschuss für Biologische Arbeitsstoffe die BG-Regel 250 erarbeitet, die von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in die Technischen Regeln für Biologische Arbeitsstoffe (TRBA) übernommen wurden. Diese schreibt für Tätigkeiten der Schutzstufe 2, zu denen auch die Anlage von Gefäßzugängen zählt, den Schutz der Beschäftigten - soweit technisch möglich - durch geeignete sichere Arbeitsgeräte vor [3]. Hierzu zählen Kanülen, bei denen eine geringere Gefahr von Stichverletzungen besteht. Die Anlage des periphervenösen Zuganges beansprucht meist wenig Zeit. In einer Untersuchung mit amerikanischen Paramedics wurde die benötigte Zeit für die Anlage eines venösen Zuganges inklusive Blutabnahme vom Abziehen der Schutzkappe von der Kanüle bis zum Abschluß durch die Fixierung gemessen [4]. Bei Traumapatienten wurden im Mittel 2,2 Minuten und bei nicht traumatisierten Patienten 2, 7 Minuten benötigt. Die Erfolgsraten bei der Anlage periphervenöser Zugänge sind - bis auf spezifische Patientenkollektive - hoch. Neben Adipositas sind mit schwieriger Punktion assoziiert häufige vorherige Venenpunktionen (intravenöse Medikation, Drogenabusus) sowie die bestimmte Vormedikationen, welche die Venenverhältnisse beeinträchtigen (Corticoide, Chemotherapie). In den letzten Jahren wurden einige Studien durchgeführt, die sich mit der ultraschallgestützten Punktion peripherer Venen bei Patienten mit schwierigen Venenverhältnissen beschäftigten. Constantino und Mitarbeiter untersuchten an Patienten mit mindestens drei Fehlpunktionen peripherer Venen durch Pflegepersonal in der Notaufnahme die Punktion mittels Ultraschall und verglichen die Erfolgsrate mit der konventionellen Punktion der Vena jugularis externa [5]. Die ultraschallgestützte Punktion peripherer Venen am Arm war in 84% erfolgreich, dem stand eine Erfolgsrate von nur 50% bei der Punktion der Vena jugularis externa gegenüber. Der Zeitbedarf für die ultraschallgestützte Punktion wurde mit 8,9 min (6,1 - 11,8 min) angegeben und unterschied sich nicht signifikant vom Zeitbedarf für die Punktion der externen Jugularvene (8, 1 min [4,9 - 11,3 min]). Bei frustraner periphervenöser Punktion in zeitkritischen Notfallsituationen muss schnell auf ein anderes Verfahren gewechselt werden. Im anfänglichen Fallbeispiel war die Indikation zur Notsectio durch eine anhaltende fetale Bradykardie gegeben. In diesem Fall ist das Ergebnis abhängig von dem Zeitpunkt der Entwicklung des Kindes und somit indirekt von dem Zeitbedarf für die Narkoseeinleitung. Insofern wäre es sinnvoll gewesen, ähnlich wie bei der Reanimation nach kurzer Zeit bzw. zwei Fehlpunktionen auf eine alternative Technik auszuweichen. Hier hätte sich aufgrund des geringen Zeitbedarfs insbesondere der intraossäre Zugang angeboten.

Zentralvenöser Zugang Der zentralvenöse Katheter (ZVK) bietet einige Vorteile gegenüber periphervenösen Zugängen, so unter anderem die Möglichkeit, Medikamente herznah zu applizieren und 256

Medikamente zu geben, die bevorzugt nicht über periphere Venen gegeben werden, so zum Beispiel Elektrolytkonzentrate und Glucose. Auch können über Schleusen Herzschrittmachersonden oder Pulmonalarterienkatheter eingeführt werden, über ShaldonKatheter kann dialysiert werden. Der Nutzen und das Risiko einer ZVK-Anlage in der Notfallsituationen muss allerdings kritisch bewertet werden - einige Aspekte sollen hier erörtert werden. Soll in einer Notfallsituation schnell Volumen gegeben werden, ist die mögliche Flußrate des Zugangs entscheidend. Entsprechend dem Gesetz von Hagen-Poiseuille ist der Volumenstrom einer homogenen viskösen Flüssigkeit durch ein Rohr bei laminarer Strömung proportional der 4. Potenz des Radius und umgekehrt proportional der Länge. Dementsprechend steigt bei doppeltem Innendurchmesser und gleicher Katheterlänge die Flußrate auf das sechzehnfache. Ein dreilumiger ZVK (7,5 Fr) mit 30 cm Länge bietet über das distale 14G Lumen nur eine Flußrate von 50 ml/min, während eine 14G Venenverweilkanüle eine Infusion mit 343 ml/min erlaubt. Werden hohe Infusionsraten benötigt, so bieten sich großlumige ZVK an; beispielsweise können über einen doppellumigen 12Fr-Katheter (20 cm Länge) über die beiden Lumen 315 bzw. 350 ml/min infundiert werden. Die häufigsten Punktionsorte für zentralvenöse Zugänge im Notfall sind die V. jugularis int., die V. subclavia, die V. anonyma (V. brachiocephalica) sowie die V. femoralis, seltener auch die V. jugularis ext. Zentrale Venenzugänge über periphere Venen sind mittlerweile unüblich und zumindest in Notfallsituationen auf Grund der niedrigen Infusionsraten (Katheterlänge) nicht indiziert. Komplikationen Prinzipiell besteht die Gefahr von Fehlpunktionen und Läsionen benachbarter Strukturen, so vor allem der A. carotis bei Punktion der V. jugularis interna. Auch Schlaganfälle nach Punktion zählen bei diesem Zugangsweg zu den (selteneren) Komplikationen. Bei Punktion auf der linken Halsseite ist prinzipiell der Ductus thoracicus gefährdet. Bei der Punktion der V. jugularis int., der V. anonyma sowie der V. subclavia besteht die Gefahr des Pneumothorax, weshalb bei Fehlpunktion möglichst nicht auf die andere Halsseite ausgewichen werden sollte. Erfolgt eine ZVK-Anlage bei Patienten mit einseitigem Thoraxtrauma, so sollte wegen der potentiellen Gefahr des beidseitigen Pneumothorax möglichst auf der verletzten Seite punktiert werden. Vor allem bei der Punktion der V. subclavia besteht das Risiko der Luftembolie. Dieses kann durch Kopftieflage reduziert werden. Nicht zu vernachlässigen ist die Gefahr der Kathetersepsis. Es wird gefordert, bei der Anlage des Zentralvenenkatheters steril vorzugehen. Raad zeigte, dass bei Verwendung von sterilen Handschuhen, Mütze, Mundschutz, Kittel und Lochtuch die Rate an Katheter-assoziierten Infektionen signifikant niedriger ist als bei der Beschränkung auf sterile Handschuhe und Lochtuch [6]. Auch die Punktionsstelle scheint Einfluß auf die Infektionsrate zu haben, für den Zugang über die Vena subclavia ist ein im Vergleich zur Vena jugularis interna niedrigeres Infektionsrisiko beschrieben [7]. Die höchste Infektionsrate wurde bei dem Zugang über die Vena femoralis gefunden. Ein routinemäßiges Wechseln von Zentralvenenkathetern zur Reduktion der Infektionen bringt keinen Erfolg. Klare Empfehlungen, einen in einer Notfallsituation und nicht unter ganz sterilen Bedingungen gelegten ZVK zu ersetzen, gibt es nicht. Allerdings sollte in zeitkritischen Notfallsituationen immer kritisch überlegt werden, ob ein anderer Zugangsweg für die Gabe der ersten Medikamente ausreichend ist und die ZVK-Anlage später erfolgen kann. Eine weitere Komplikation stellt die arterielle Fehlpunktion dar. Bei unbemerkter arterieller Punktion und Dilatation des Gefäßes können schwerwiegende Blutungen ausgelöst werden. Die Häufigkeit arterieller Fehlpunktion wird für die Punktion der V. jug. int. mit bis zu 10,6% angegeben und ist erheblich höher als bei der Punktion der V. subclavia [8,9]. Katheterfehllagen werden in 9% der Fälle [8,10] für die V. subclavia und in 5% [8] bzw. 1,4% [10] der Punktionen für die V. jug. int. gefunden. Die Pneumothorax-Häufigkeit 257

wird für den Jugularis interna Zugang mit 1,2% und für den Subclavia Zugang mit 1,4% angegeben. [8] Der Unterschied zwischen den beiden Techniken ist nicht signifikant. Bedacht werden muss hierbei, dass in den Studien nicht zwischen ZVKs unterschieden wird, die in Notfallsituationen gelegt wurden und ZVKs, die elektiv angelegt wurden. Leider gibt es auch keine kontrollierten randomisierten Studien, die die verschiedenen Zugangswege hinsichtlich ihrer Komplikationen vergleichen. Ein Ansatz, die Komplikationsraten bei der ZVK-Anlage zu senken, ist die Punktion unter sonographischer Kontrolle. Nicht zuletzt durch die zunehmende Verbreitung der Ultraschallgeräte in Notaufnahmen und OP-Sälen gibt es mittlerweile in vielen Kliniken die Möglichkeit, diese Technik regelmäßig anzuwenden. Der Vorteil gegenüber der Punktion anhand von „Landmarken" liegt auf der Hand. Die Punktion unter Sicht soll benachbarte Strukturen, vor allem arterielle Gefäße, schonen. Karakitsos führte eine Studie an 900 Patienten einer Intensivstation durch, bei denen ein ZVK angelegt wurde und die randomisiert ultraschallgestützt bzw. konventionell punktiert wurden. Die ultraschallgestützte Punktion war in 100% der Fälle erfolgreich, die Punktion nach Landmarken nur bei 94% der Patienten. Die Häufigkeit von Fehlpunktionen der A. carotis war bei ultraschallgestützter Punktion mit 1, 1% gegenüber 10,6% (Punktion nach Landmarken) deutlich niedriger. In der Ultraschall-Gruppe kam es seltener zur Ausbildung von Hämatomen (0,4% vs. 8.4% ), es wurde kein Pneumothorax gefunden (Landmarken-Gruppe: 2,4%) [9]. In der zitierten Studie war der Zeitbedarf für die Punktion für die ultraschallgestützte ZVK-Anlage signifikant geringer als bei der konventionellen Punktion. Diese Daten sind allerdings kritisch zu beleuchten. Hier wurde die Netto-Zeit für die Punktion gemessen, welche die Vorbereitungszeit des Ultraschallgerätes nicht beinhaltete. Bei einer unkomplizierten konventionellen Punktion könnte der Zeitbedarf von der Indikation zur Anlage eines ZVK bis zum fertig fixierten Katheter durchaus geringer ausfallen als bei der ultraschallgestützten Punktion. Leidel und Kollegen untersuchten in einer Studie bei innerklinischen Schockraumversorgungen die Zeit von der Entnahme des ZVK-Sets aus dem Notfallwagen bis zur Gabe des ersten Medikaments über den ZVK. Hier wurden 9,9 ± 3,7 min gemessen. In der gleichen Studie wurde ebenso die benötigte Zeit für die Anlage eines intraossären Zugangs gemessen, diese lag bei 2,3 ± 0,8 min. In Notfallsituationen muss der antizipierte Zeitbedarf unter Berücksichtigung aller nötigen Vorbereitungsmaßnahmen mit in die Entscheidung für den Zugangsweg bzw. die Technik einfließen.

Intraossärer Zugang Die Technik des intraossären (10) Zugangs wurde bereits 1922 beschrieben und bis zur Entwicklung von Venenverweilkanülen auch regelmäßig praktiziert. Zunehmende Verbreitung erfährt der IO Zugang seit der Publikation der internationalen Leitlinien für die Reanimation von 2000. Diese empfahlen die Anlage eines intraossären Zugangs bei der Reanimation von Kindern, sofern ein periphervenöser Zugang nicht in kurzer Zeit etabliert werden kann [11]. Mittlerweile favorisieren die Empfehlungen noch eindeutiger den intraossären Zugang bei der Reanimation von Kindern bis zur Pubertät. Dieser Zugangsweg wird vor allem bei der Asystolie und bei der pulslosen elektrischen Aktivität (PEA) als erste Wahl angegeben, da hier die sofortige Gabe von Adrenalin indiziert ist [12]. Bei Kindern mit Asystolie oder pulsloser elektrischer Aktivität hat der intraossäre Zugang Vorrang vor anderen Gefäßzugängen Lo und Reynolds publizierten kürzlich eine Studie, in der 105 Ärzte in der Pädiatrie zu den in verschiedenen klinischen Szenarien bevorzugten Zugangstechniken befragt wurden [13]. Für ein Fallbeispiel eines Kindes mit Bronchiolitis und Dehydratation im 258

Zustand des kardiorespiratorischen Stillstandes bevorzugten nur 51 % der Befragten den intraossären Zugang. Der Anteil der Ärztinnen und Ärzte, die den 10 Zugang als erste Wahl angaben, war in der Gruppe der Befragten, die bereits ein- oder mehrmals eine intraossäre Kanüle gelegt hatten, signifikant höher als in der Gruppe derer, die über keine Erfahrung in dieser Technik verfügten. Grundlagen lntraossäre Kanülen werden üblicherweise in große Röhrenknochen mit ausreichend weitem Markraum, alternativ auch in Beckenknochen oder Sternum eingebracht. Der ideale Punktionsort liegt an einem gut zugänglichen Ort (Extremitäten) und möglichst dicht unter der Haut. Die proximale Tibia stellt die häufigste Punktionsstelle dar (Abbildung 1). Bei Erwachsenen wird ein Querfinger medial und proximal der Tuberositas tibiae, bei Kindern ein Querfinger medial und distal der Tuberositas tibiae punktiert. Die Punktion distal der Tuberositas tibiae soll bei Kindern die Verletzung der Epiphysenfuge verhindern. Alternativ kann die Tibia auch distal zwei Querfinger oberhalb des Malleolus lateralis punktiert werden.

Abbildung 1: Punktion mit der EZ-IO Bohrmaschine für den intraossären Zugang an der proximalen Tibia. Punktionsort bei Erwachsenen ein Querfinger medial und etwas kranial der Tuberositas tibiae (schwaner Punkt).

Ein weiterer möglicher Punktionsort liegt am proximalen Humerus zwei Querfinger unterhalb der Verbindungslinie zwischen Processus coracoideus und Acromion (Abbildung 2).

259

Abbildung 2: Punktion am proximalen Humerus mit Bone lnjection Gun (BIG). Aufsuchen der Punktionsstelle: Mit Daumen und Zeigefinger werden Processus coracoideus und Akromion markiert, die Punktion erfolgt zwei Querfinger distal der gedachten Verbindungslinie

Abbildung 3: Jamshidi Nadel (links; Baxter Healthcare Corporation) und Dieckmann Nadel (rechts; Cook Medical) für die intraossäre Punktion.

260

Prinzipiell kann auch das Sternum für die Anlage eines intraossären Zugangs punktiert werden, hierfür gibt es spezielle Punktionsnadeln (FAST 1 Intraosseous Infusion System). Diese Technik kann bei Erwachsenen und bei Kindern ab 12 Jahren angewandt werden, zeichnet sich aber durch eine niedrigere Erfolgsrate aus und dauert etwas länger als die anderen Techniken für den l0-Zugang [14]. Seltenere Applikationsorte sind distaler Radius und Ulna sowie Os Ilium. Früher wurden intraossäre Nadeln verwendet, die manuell in den Knochen eingebracht werden (z.B. Dieckmann Nadel, Jamshidi Nadel) (Abbildung 3). Seitdem die Richtlinien für die Reanimation von 2005 auch für Erwachsene die Anlage eines intraossären Zugangs empfehlen, sofern nicht in adäquater Zeit ein intravenöser Zugang etabliert werden kann, finden zunehmend Systeme Verbreitung, die ein leichtes Einbringen der Nadeln mittels batteriebetriebener Bohrmaschine oder Schußapparat ermöglichen. Für die EZ-IO Bohrmaschine (Vidacare, Shavano Park, Texas/ USA) (Abbildung 1) sind drei verschiedene Nadeln (15G - 15 mm Länge für Patienten zwischen 3 und 39 kg, 15G - 25 mm Länge für Patienten ab 39 kg oder 15G - 45 mm Länge für langen Abstand zwischen Haut und Knochen an der Punktionsstelle) verfügbar, der Kraftaufwand ist im Vergleich zur manuellen Punktion minimal. Die Bohrmaschine enthält eine Einmalbatterie, die für 750 Anwendungen konzipiert ist. Zu den Investitionskosten von derzeit 240 € kommen 80 € pro Nadel. Damit liegen die Kosten deutlich über denen für manuell einzubringende Nadeln. Die Bone Injection Gun (,,B.1.G.", Waismed, PerSys Medical Company, Houston, Texas/ USA) verfügt über einen Federmechanismus, mittels dessen die Nadel in den Knochen geschossen wird. Das System steht für Kinder (rot, 18G) und Erwachsene (blau, 15G) zur Verfügung. Vor der Anwendung wird die Eindringtiefe (Tabelle 2) eingestellt, das Gerät senkrecht zur Haut angesetzt und nach Entfernen des Sicherungsstiftes ausgelöst (Abbildung 2). Das komplette System kann nur einmal angewendet werden und kostet knapp 75 €. Erwachsene

Kinder (6-12 Jahre)

Kinder (0-6 Jahre)

Proximale Tibia

2,5cm

1,5 cm

0,5 - 0,7 cm (0-3 J.), 1,0 - 1,5 cm (3-6 J.)

Distale Tibia

2cm

1,0cm

0,75 - 1,0 cm

Proximaler Humerus

2,5cm

1,5 cm

Nicht empfohlen

Tabelle 2: Eindringtiefen für die intraossäre Punktion mit Bone Injection Gun (BIG) bei Erwachsenen und Kindern.

Komplikationen Mögliche Komplikationen der intraossären Punktion beinhalten die Infektion bzw. Osteomyelitis. Leider existieren keine aktuellen größeren Studien zur Häufigkeit dieser Komplikation, man geht aber von einer Häufigkeit von unter 1% aus. Wichtig zur Vermeidung von Infektionen ist nicht nur ein möglichst steriles Vorgehen, sondern auch die Begrenzung der Liegedauer der Kanüle auf maximal 24 Stunden. Häufig liegen den Punktionssets auch Patientenarmbänder bei, auf denen die Zeit der Punktion dokumentiert wird. Sobald adäquate Gefäßzugänge etabliert sind und die intraossäre Nadel nicht mehr benötigt wird, muss sie entfernt werden. Bei Fehlpunktionen kann eine Injektion unmöglich sein, wenn die Spitze nicht im Markraum liegt. Ebenso sind subkutane oder intramuskuläre Fehllagen möglich. Bei Injektion von Medikamenten wie Barbituraten oder Glucose besteht die Gefahr der Ausbildung von Nekrosen. Weitere mögliche Komplikationen sind das Kompartmentsyndrom nach Extravasation, Frakturen bei der Punktion bzw. Mehrfachpunktion sowie Verletzungen der Epiphysenfuge. Insgesamt ist die Komplikationsrate sehr niedrig. Calkins zeigte in einer Studie, dass Soldaten nach Einweisung und Videodemonstration mit dem EZ-IO System, der Bone Injection Gun sowie manuellen 1O-Nadeln an Leichen eine Erfolgsrate von 94-97% hatten [15].

261

Intraossäre Medikamentengabe, Infusion und Blutabnahme Alle Medikamente, die intravenös gegeben werden, können auch über den intraossären Zugang appliziert werden. In einer Tierversuchsstudie konnten nach intraossärer Gabe von Thiopental bei Hühnern keine histopathologischen Änderungen nachgewiesen werden [16]. Von Hoff zeigte in einer anderen Studie, dass die maximale Konzentration von Morphin und die Zeit von Applikation bis zum Erreichen des maximalen Konzentration bei intraossärer Gabe vergleichbar der periphervenösen Applikation sind [ 17]. Ein wesentlicher Nachteil des intraossären Zugangs im Vergleich zum periphervenösen und auch zentralvenösen Zugang sind die erheblich niedrigeren erzielbaren Flußgeschwindigkeiten. Diese liegen bei 17 ml/min für die proximale Tibia und 41 ml/min für den proximalen Humerus (jeweils mittels Druckinfusion) und sind ähnlich denen eines venösen Zugangs mit einer 22G Nadel. Bei Kindern können so Volumenboli noch in adäquater Zeit gegeben werden, bei Erwachsenen reichen die Flußraten für eine aggressive Volumentherapie oder Massivtransfusion nicht aus. Aus dem intraossären Zugang kann Blut für die Blutgruppenbestimmung sowie für die Kreuzprobe entnommen werden [18]. Im Tierversuch konnte gezeigt werden, dass pHWert und pCO2 der Proben aus einem intraossären Zugang bei der Reanimation innerhalb der ersten 15 Minuten denen aus gemischvenösen Blutproben entsprechen [19]. Eine andere Studie an Schweinen fand vergleichbare Werte für die Konzentrationen von Natrium, Kalium, Magnesium, Kalzium, Laktat, Glukose und Hämoglobin in Blutproben aus zentralvenösen und intraossären Zugängen bei vorhandenem Kreislauf und kurz nach Kreislaufstillstand. Allerdings wurden im Verlauf der Reanimation Unterschiede zwischen den Abnahmeorten gefunden. Auch verfälscht die Gabe von Medikamenten und Infusionen über den intraossären Zugang die Werte [20].

Über den intraossären Zugang können alle Medikamente in der gleichen Dosierung wie bei der intravenösen Gabe appliziert werden. Blutabnahmen aus dem IO Zugang können bei kritischen Patienten für die Blutgruppentestung und Kreuzproben, außerdem für die Bestimmung von Hämoglobin, Glukose und Kalium verwendet werden. In dem Fallbeispiel mit missglücktem periphervenösen Zugang bei der Notsectio hätte die Narkoseeinleitung über einen intraossären Zugang erfolgen können. Die Tibia ist bei der Sectio schlecht zugänglich, sinnvoll wäre die Anlage des Zugangs am proximalen Humerus. Dieser ist nicht durch Tücher abgedeckt und für das Anästhesieteam gut zugänglich. Auch sind die Flußraten an diesem Punktionsort die am höchsten.

Zusammenfassung Der periphervenöse Zugang ist die am häufigsten angewandte Technik und in vielen Notfallsituationen adäquat. Wichtig ist das Anlegen einer ausreichenden Zahl von venösen Zugängen unter Beachtung der Zeit (Fehlpunktionen!). Es sollten nur noch Sicherheitskanülen verwendet werden, die das Risiko von Nadelstichverletzungen erheblich minimieren. Bei zeitkritischen Notfällen muss rechtzeitig an einen Wechsel der Technik gedacht werden. So wird bei der Reanimation von Kindern beispielsweise nach spätestens 3 Versuchen oder 90 Sekunden empfohlen, einen intraossären Zugang zu legen. Diese Technik ist sehr einfach und komplikationsarm. Da die Technik mittlerweile auch bei Erwachsenen Patienten zum Standard gehört, sollten Systeme wie die EZ-IO Bohrmaschine oder die Bone Injection Gun vorgehalten werden, die ein einfaches und schnelles Einbringen der Nadel ermöglichen.

262

Der zentralvenöse Zugang bietet gegenüber intravenösen und intraossären Zugängen einige wesentliche Vorteile, allerdings verbunden mit einer höheren Komplikationsrate bis hin zu lebensbedrohlichen Komplikationen. Notfallmedizinisch relevant ist die ZVKAnlage vor allem nach einem "Erstangriff'' mittels peripherem Venenzugang oder intraossärem Zugang. Sofern verfügbar kann die Punktion mittels Ultraschall erfolgen, um die Wahrscheinlichkeit von Fehlpunktionen zu reduzieren.

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263

Perioperative Schmerztherapie bei Kindern C. PHILIPPI-HÖHNE

Einleitung Die perioperative Schmerztherapie bei Kindern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert. Es herrscht jedoch trotz aller Fortschritte große Unsicherheit, die zu einem Vorenthalten oder zu einer unzureichenden Schmerztherapie führt. Schmerzen müssen unabhängig vom Alter der Patienten aus ethischen und medizinischen Gründen effektiv behandelt werden. Es ist bekannt, dass bereits Früh- und Neugeborene Schmerzen wahrnehmen können. Da die deszendierenden inhibitorischen Nervenfasern im Hinterhorn des Rückenmarks noch nicht ausgereift sind, kann die Schmerzwahrnehmung sogar intensiver als bei Erwachsenen sein. Starke Schmerzzustände können bei Kindern zu Stress und Verhaltensänderungen führen. Durch die weit verbreitete Verwendung der schnell an- und abflutenden volatilen bzw. kurzwirksamen intravenösen Anästhetika ist die Bedeutung der postoperativen Schmerztherapie noch weiter gestiegen: Aufgrund der kurzen Aufwachphase können Schmerzen viel früher wahrgenommen werden, deshalb ist eine effektive und präventive Schmerzdämpfung besonders wichtig. Die Schmerztherapie ist außerdem schwieriger, wenn Kinder bereits länger anhaltende starke Schmerzen hatten. Als Ursachen wird die Sensibilisierung des Rückenmarkes bei repetitiven starken Schmerzreizen angesehen, die die Schmerzschwelle herabsetzen.

Schmerzmessung

Die regelmäßige Erfassung und Dokumentation von Schmerzen im Aufwachraum oder auf den Kinderstationen ist eine wichtige Voraussetzung zur Verbesserung der Versorgung von Kindern mit akuten und chronischen Schmerzen. Bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern bis zum 4. Lebensjahr können Fremdbeurteilungsskalen zur Schmerzmessung verwendet werden (z.B. KUSS, Tab. 1). Ab dem 4. Lebensjahr können Kinder häufig ihre Schmerzen schon selbst einschätzen, z.B. mit der bekannten Smiley- Skala (Abb. 1). Spätestens ab dem 8. Lebensjahr haben Kinder eine gute Vorstellung von Zahlen und Dimensionen, so dass auch numerische Skalen (NRS, 0 =keine Schmerzen, 10 =stärkste Schmerzen) oder visuelle Analogskalen verwendet werden können. Bei zu hohen Schmerzwerten (KUSS bzw. NRS > 4) sollten klare Algorithmen vorgehalten werden, wie die Schmerzbehandlung verbessert werden kann [u.a. 1].

265

Weinen

Gesichtsausdruck

Rumpfhaltung

Beinhaltung

Motorische Unruhe

Gar nicht

0

Stöhnen, Jammern, Wimmern

1

Schreien

2

Entspannt, lächelnd

0

Mund verzerrt

1

Grimassieren

2

Neutra!

0

Unstet

1

Aufbäumen/Krümmen

2

Neutra!

0

Strampelnd, tretend

1

An den Körper gezogen

2

Nicht vorhanden

0

Mäßig

1

Ruhelos

2

0-10*

Gesamt

Tab. 1. Schmerzmessung bis zum 4. Lebensjahr: Kindliche Unbehagens- und Schmerzskala (KUSS, [2]) * Analgetischer Therapiebedarf beginnt mit vier Punkten

Abb. 1: Smiley- Skala, anhand derer Kinder ab dem vierten Lebensjahr ihre Schmerzen selbst einschätzen können.

Multimodale Therapieansätze

Die für eine effektive und altersgerechte Schmerztherapie bei Kindern erforderlichen Wirkstoffe und Verfahren sind inzwischen in ausreichender Zahl bekannt und bewährt. Die wichtigsten Wirkstoffgruppen sind Nicht-Opioid-Analgetika, Opioide und Lokalanästhetika. Anhand des WHO-Stufenschemas (Tab. 2) sollten die Wirkstoffgruppen eingesetzt werden. WHO Stufe 1

WHO Stufe 2

WHO Stufe 3

WHO Stufe4

Nicht-Opioide

Nicht-Opioide +

Nicht-Opioide +

Weiterführende Behandlung

Schwache Opioide

Starke Opioide

NSAID

Tramadol

Piritramid

Bupivacain

Metamizol

Nalbuphin

Morphin

Ropivacain

u.a. Lokalanästhetika

Paracetamol Ketamin

Tabelle 2. Wrrkstoffgruppen / Wirkstoffe und derer Einsatz anhand des WHO-Stufenschemas

Nicht-Opioid-Analgetika, z.B. Paracetamol, sind als Monotherapie bei stärkeren Schmerzen nicht ausreichend wirksam, so dass sehr häufig zusätzlich Opioide eingesetzt werden müssen. Opioide werden auch bei Kindern am besten bedarfsadaptiert pfleger- oder patientenkontrolliert verabreicht.

266

Die Bedeutung der lokal- und regionalanästhesiologischen Verfahren hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Anders als bei Erwachsenen werden sie bei Kindern meistens in einer Allgemeinanästhesie angelegt. Dadurch sinkt bereits intraoperativ der Bedarf an systemischen Analgetika und nach der Operation können die Kinder mit geringen oder ohne Schmerzen aufwachen. Durch eine Kombination von Wirkstoffen mit verschiedenen Wirkmechanismen werden die analgetischen Wirkungen optimiert und die unerwünschten Wirkungen minimiert (multimodale Schmerzbehandlung). In vielen Fällen ist es deshalb günstig, bei einem Patienten mehrere Verfahren gleichzeitig anzuwenden, z.B. zunächst ein Nicht-Opioid-Analgetikum, intraoperativ ein lokales oder regionales Verfahren und postoperativ bei Bedarf zusätzlich Opioide. Aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit und Sicherheit ist es hilfreich, wenn man sich auf wenige Präparate aus jeder Wirkstoffgruppe beschränkt [3]. Kinder haben große Angst vor punktionsbedingten Schmerzen, deshalb sollen Analgetika bei Kindern immer schmerzfrei, also bei liegendem Zugang intravenös, oder oral bzw. rektal, keinesfalls aber subkutan oder gar intramuskulär appliziert werden.

Nicht-Opioid- Analgetika Paracetamol ist trotz intensiver Diskussion das am weitesten verbreitete Analgetikum in dieser Gruppe [u.a. 4]. Nach rektaler Applikation ist die Resorption verzögert (Stunden) und sehr variabel. Deshalb hat es sich bewährt, beim perioperativen Einsatz von Paracetamol dieses bereits präoperativ oral oder rektal zu verabreichen. Mit einer ausreichenden Initialdosis (z.B. 40 mg/kg KG) rektal kann Paracetamol als Basisanalgetikum eingesetzt werden. Paracetamol hat folgende Nachteile: geringe Effektivität Lebertoxizität trotz propagierter Tagesmaximaldosen (100 mg/kg KG bei rektaler Applikation> 3. Lebensmonat) ist Paracetamol die häufigste Ursache von medikamenten-induzierter Leberinsuffizienz im Kindesalter. Einnahme im ersten Lebensjahr führt möglicherweise zur erhöhten Häufigkeit von Asthma bronchiale, Rhinokonjunktivitis oder Ekzemen [5]. Die antiemetische Therapie mit 5-HT3-Antagonisten hemmt die Wirkung von Paracetamol [6]. Dosisempfehlung Paracetamol intravenös (Perfalgan® ) Kinder> 10 kg: 15 mg/kg KG alle 4 -6 h, Tagesmaximaldosis 60 mg/kg KG Kinder < 10 kg: 7 ,5 mg/kg KG alle 6 h, Tagesmaximaldosis 30 mg/kg KG Dosisempfehlung Paracetamol rektal Säugling < 3 Monate: 20 mg/kg KG (loading 3 Monaten: 35-40 mg/kg KG (loading Hämatom • akzidentelle intravasale Injektion => Herzrhythmusstörungen, Krampfanfälle • motorische Blockade der unteren Extremitäten bei höherer Lokalanästhetikakonzentration • Infektion => bisher ein Fallbericht nach single-shot Injektion 272

1

Als langwirksame Lokalanästhetika stehen in Deutschland Bupivacain und Ropivacain für die Kaudalanästhesie zur Verfügung. Es existiert eine große Anzahl von Studien mit der Fragestellung, welches dieser Medikamente von Vorteil ist. zusammenfassend kann gesagt werden, dass 0,2% Ropivacain bei single-shot zur Kaudalanästhesie Anwendung analgetisch äquipotent zu 0,25% Bupivacain ist. Tendenziell gibt es nach Bupivacain häufiger motorische Blockaden, die jedoch stark konzentrationsabhängig sind (unterschiedliches Studiendesign). Bei Gabe von 0,125% Bupivacain treten motorische Blockaden bei gleicher Analgesiedauer äußerst selten auf. In einigen klinischen Untersuchungen wurden Ropivacain und Bupivacain mit Levobupivacain verglichen, wobei mit allen drei Lokalanästhetika eine suffiziente Analgesie erzielt wurde [16]. Das S-Enanatiomer Levobupivacain scheint in Tiermodellen und bei gesunden Erwachsenen eine geringere kardiale und ZNS Toxizität aufzuweisen, die Erfahrungen in der Kinderanästhesie sind gering. Es ist in Deutschland aktuell nicht mehr im Handel. Mit welcher Menge an Lokalanästhetikum welche Blockhöhe erreicht wird, ist in Tab. 5 dargestellt. Höhe des sensiblen Blocks

Menge [ml/kg KG]

sakral

0,5-0,7

lumbal und sakral

1-1,2

tief thorakal, lumbal und sakral

bis 1,5

Tab. 5: Menge (ml/kg KG) des Lokalanästhetikums (0,2% Ropivacain oder 0,125% Bupivacain) zur Kaudalanästhesie für die entsprechende Höhe des sensiblen Blocks/ Operationsgebietes

Adjuvanzien zur Kaudalanästhesie Der Einsatz von Adjuvanzien soll die Wirkdauer der Regionalanästhesie verlängern. Dafür stehen zur Kaudalanästhesie verschiedene Medikamente zur Verfügung (Tab. 6), auf deren Vor- und Nachteile im Folgenden eingegangen wird.

Adrenalin kann durch Vasokonstriktion potentiell die Resorption des Lokalanästhetikums verzögern, was jedoch bei der Kaudalanästhesie kaum nachweisbar ist. Zudem treten möglicherweise Symptome des A. spinalis anterior Syndroms bei höherer Dosierung auf. Bei epiduraler Regionalanästhesie sollte jedoch Adrenalin als Testdosis verwendet werden, um eine versehentliche intravasale oder intraossäre Injektion frühzeitig zu erkennen. Diese würde sich in einem raschen Anstieg der Herzfrequenz und der T-Welle im EKG bemerkbar machen. Clonidin als Zusatz führt bei der Kaudalanästhesie zu einer Verlängerung der Analgesiedauer um 3-6 h und wird aufgrund seiner geringen Nebenwirkungen häufig verwendet [17]. Der Wirkmechanismus ist weiterhin nicht vollständig geklärt. Clonidin interagiert mit spinalen und supraspinalen a2- Rezeptoren, supprimiert die Freisetzung der Substanz P aus den spinalen nozizeptiven Neuronen und vermindert die Reizweiterleitung in peripheren Aö- und C-Nervenfasern. Eine potentielle, dosisabhängige Sedierung tritt postoperativ auch bei niedriger Dosierung auf und wird von den Eltern und Kindern als angenehm empfunden. Die Dosisempfehlung sollte jedoch nicht überschritten werden, da es sonst zur Bradykardie kommen kann. Bei Früh- und Neugeborenen und auch Säuglingen erhöht Clonidin epidural außerdem die 273

Apnoegefahr und sollte deshalb erst ab dem 8-12 Lebensmonat eingesetzt werden. Die Grenze in der eigenen Klinik liegt bei 10 kg KG, anhand der Literatur ist derzeit keine Evidenz möglich. Neurotoxische Nebenwirkungen sind nach Anwendung von Clonidin nicht beschrieben. (S)-Ketamin hat analgetische Effekte (NMDA-Rezeptor-Antagonist, µ-Rezeptor-Agonist und Natriumkanalinteraktion) und kann, mehr als Clonidin, die Wirkdauer der Kaudalanästhesie deutlich verlängern [17]. Bekannt sind psychomimetische Nebenwirkungen bei hoher Dosierung und das Auftreten eines Nystagmus. Die Frage der Neurotoxizität von (S)-Ketarnin ist in vielen Modellen untersucht worden und konnte bisher nicht abschließend geklärt werden. In einer aktuellen Untersuchung an einem Tiermodell konnten nach repetitiver intrathekaler Gabe von konservierungsmittelfreiem (S)-Ketamin histologisch Zeichen der Neurotoxizität nachgewiesen werden [18]. So kann derzeit für (S)-Ketarnin keine Empfehlung gegeben werden [19). Morphin hat den Vorteil der langen Analgesiedauer bis zu 24 h nach Einzelgabe epidural/

kaudal mit einer Ausbreitung bis in thorakale Segmente. Demgegenüber stehen jedoch einige Nebenwirkungen: Übelkeit, Erbrechen, Hamretention, Pruritus, Atemdepression v.a. bei Früh-, Neugeborenen und Säuglingen. Deshalb sollte sich der Einsatz auf größere chirurgische Eingriffe beschränken, die obligatorisch eine postoperative Überwachung nach sich ziehen. Ein epidurales Katheterverfahren steht als Alternative bei entsprechenden Voraussetzungen zur Verfügung (s.u.). Weitere Adjuvanzien, wie Neostigmin, Midazolam oder Tramadol, haben aufgrund der geringen Wirkungsverlängerung bzw. des Nebenwirkungsprofils bisher keinen Einzug in den klinischen Alltag gefunden. Wirkstoff

Dosierung

Adrenalin (als Testdosis)

1:200 000

Clonidin

2-3 µg/kg KG

(S)-Ketamin

0,25-0,5 mg/kg KG

Morphin

50 µg/kg

Tab. 6: Adjuvanzien zur Kaudalanästhesie und Dosierungen [u.a. 17]

Epiduralkatheter

1

Epidurale Katheterverfahren können bei Kindern bis zum 6. Lebensjahr von kaudal, in jedem Alter aber auch lumbal eingesetzt werden. Zur korrekten Positionierung kann die sonographische Lagekontrolle hilfreich sein [20]. Das gilt erst recht, wenn der Katheter thorakal platziert werden soll. Kaudale Epiduralkatheter können bei Früh-, Neugeborenen und Säuglingen angewendet werden, sollten jedoch Spezialisten in Kliniken mit kinderanästhesiologischem Schwerpunkt vorbehalten sein. Wegen der anatomischen Nähe zu Anus und Windelbereich ist das Infektionsrisiko bei Kaudalkathetem erhöht. Deshalb sollte der Katheter nach Anlage getunnelt und die Liegedauer soweit als möglich begrenzt werden [21]. Für Säuglinge und Kinder sind Kaudalkathetersets verfügbar. Zur kontinuierlichen Infusion können bei Säuglingen 0,2 mg/kg KG/h Ropivacain 0,1 % und bei älteren Kindern 0,4 mg/kg KG/h Ropivacain 0,1 % verabreicht werden. Die epidurale Applikation des hydrophilen Morphin (Dosis 50 µg/kg KG in 2-5 ml NaCl) über einen kaudalen oder lumbalen Zugang führt zu einer langanhaltenden Analgesieaus274

1

breitung bis in thorakale Segmente. Die lipophilen Opioide Fentanyl und Sufentanil sind im Vergleich deutlich kürzer wirksam als Morphin und verteilen sich nach epiduraler Applikation nicht so weit nach rostral wie Morphin. Die Wahrscheinlichkeit einer postoperativen Atemdepression ist aus diesem Grund niedriger und der analgetische Effekt stärker segmental begrenzt. Die lipophilen Opioide können die Analgesiequalität einer epiduralen Lokalanästhetikaapplikation verbessern. Übelkeit, Erbrechen, Hamverhalt, Juckreiz und Atemdepression treten nach epiduraler Opioidapplikation häufiger auf.

Peniswurzelblock und Wundinfiltration Der gezielte Einsatz peripherer Nervenblockaden kann eine gute postoperative Analgesie bei gleichzeitig geringer Komplikationsrate gewährleisten und zur Zufriedenheit der Kinder und Eltern beitragen. Ausführlich beschreibt Jöhr in seinem Beitrag [22] die verschiedenen Techniken, so dass hier nur auf den häufig eingesetzten Peniswurzelblock und die Wundinfiltration eingegangen wird, da diese beiden Verfahren in jeder Klinik eingesetzt werden können und keiner besonderen Ausstattung bedürfen. Peniswurzelblock Der Peniswurzelblock (PWB) ermöglicht eine optimale Analgesie nach Zirkumzision oder nach Hypospadiekorrektur (bis zu 24h). Die beiden Penisnerven liegen etwa bei 2 und lO Uhr auf beiden Seiten der dorsalen Mittellinie. Sie werden an der Basis des Penisschafts im subpubischen Raum blockiert. Die Einstichstellen der Nadel befinden sich knapp unterhalb der Symphyse ungefähr 0,5-1 cm seitlich der Mittellinie (je nach Größe des Patienten). Eine dünne Nadel (25 G oder 27 G) wird in leicht kaudaler und medialer Richtung vorgeschoben. Nach Durchstechen der Haut können mehrere leichte Widerstände überwunden werden (oberflächliche und tiefe Schicht der Abdominalfaszie ), bis sich die Nadelspitze im subpubischen Raum befindet. Dabei kommt es sehr selten zur Punktion der A. dorsalis penis, die häufiger nach medianer Einmalpunktion auftritt. Die subpubische Injektion mittels zweier paramedianer Punktionen ist eine einfach zu erlernende und sichere Methode [u.a. 14]. Für den PWB werden 0,2 ml/kg KG eines Iangwirksamen Lokalanästhetikums injiziert, wobei 0,5% oder 0,75% Bupivacain und 1% Ropivacain ähnlich gut geeignet sind. Beim PWB darf Adrenalin nicht als Zusatz verwendet werden, da lschämiegefahr im Endstromgebiet besteht. Wundinfiltration An eine Wundinfiltration mit einem Iangwirksamen Lokalanästhetikum sollte zur postoperativen Analgesie immer gedacht werden. Es ist ein sicheres Verfahren bei allen oberflächlichen, peripheren Eingriffen. Es sollten 0,5 ml/kg KG Ropivacain 0,2% oder 0,2 ml/ kg KG Bupivacain 0,5% zum Einsatz kommen.

275

Literatur 1. 2. 3. 4. 5.

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Nicht-Opioid Analgetika für die postoperative Analgesie Update 2010 E. M.

POGATZKI-ZAHN UND P.

K.

ZAHN

Nicht-Opioid Analgetika für die postoperative Analgesie Update 2010 Nicht-Opioid Analgetika (NOPA) werden im Rahmen der multimodalen postoperativen Analgesie in Kombination mit Opioiden und Regionalanästhesieverfahren eingesetzt oder zur Behandlung leichter postoperativer Schmerzen als alleiniges Analgetikum verwendet. Gute Dienste leisten NOPA auch zur Therapie operativ bedingter Begleitschmerzen, wie z.B. die durch Lagerung bedingten Schulterschmerzen bei thoraxchirurgischen Eingriffen. In dem vorliegenden Übersichtsartikel sollen vor allem neue Informationen hinsichtlich der Wirkmechanismen, Nebenwirkungen und klinischen Einsatzmöglichkeiten von NOPA im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie dargestellt werden.

Multimodale Analgesie und NOPA Der Einsatz von NOPA im Rahmen einer balancierten, multimodalen perioperativen Schmerztherapie (meist in Kombination mit einer patientenkontrollierten Analgesie mit i.v.-verabreichten Opioiden (PCIA)) ist wohl zum gängigsten Analgesiekonzept der letzten Jahre geworden. Durch eine Kombination verschiedener Analgetika soll zum einen deren analgetische Wirkung verbessert und zum anderen das Auftreten von Nebenwirkungen einzelner Analgetika (insbesondere Opioide) durch eine Dosisreduktion vermindert werden. Unselektive traditionelle nichtsteroidale Antirheumatika (tNSAR) verbessern im multimodalen Analgesiekonzept die postoperative Schmerztherapie und führen zu einer Reduktion von Opioidverbrauch und der Inzidenz opioid-induzierter Nebenwirkungen (1,2). Obwohl für selektive COX-2 Inhibitoren bisher nur einzelne Untersuchungen vorliegen, scheinen auch diese Substanzen eine sinnvolle Ergänzung im Rahmen der multimodalen Analgesie darzustellen (1,3,4). Der perioperative Einsatz von Paracetamol reduziert zwar moderat den Opioidverbrauch, bewirkt aber keine Verbesserung der Analgesie oder eine Reduktion opioid-bedingter Nebenwirkungen, sodass der klinische Nutzen von Paracetamol im multimodalen Analgesiekonzept perioperativ als gering eingeschätzt wird (5). Auch Metamizol scheint zu deutlichen Opioideinsparungen besonders bei viszeral-chirurgischen Eingriffen zu führen (6), allerdings fehlen aufgrund des regional begrenzten Einsatzgebietes ausreichende Daten hinsichtlich des klinischen Nutzens im Rahmen eines multimodalen Analgesiekonzeptes.

Paracetamol Risiken und Nebenwirkungen Paracetamol erfreut sich als NOPA bei der Therapie postoperativer Schmerzen großer Beliebtheit und gilt als universal einsetzbares Basisanalgetikum für das gesamte operative Spektrum. Dies beruht trotz seiner schwachen analgetischen Wirksamkeit und geringen therapeutischen Breite nicht zuletzt auf den verschiedenen zur Verfügung stehenden Applikationsformen von Paracetamol sowie einem günstigen Nebenwirkungsprofil bei Einhaltung entsprechender Dosisgrenzen (7 ,8). Gerade über diese Dosisgrenzen und das

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seit Jahren bekannte Risiko des akuten Paracetamol-induzierten akuten Leberversagens ist erneut eine Diskussion entbrannt. In den USA und in Großbritannien gehört die Paracetamolüberdosierung zu einem der führenden Ursachen für ein akutes Leberversagen und etwa 26.000 Patienten müssen in den USA jährlich aufgrund von Paracetamolüberdosierungen (50% davon sind akzidentiell bedingt z.B. aufgrund der unwissentlichen Einnahme von Kombinationsmedikamenten die u.a. Paracetamol enthalten) stationär aufgenommen werden - davon versterben ca. 450 Patienten jährlich im akuten Leberversagen (9). Dabei kann schon eine regelmäßige tägliche Dosis von 7g/fag Paracetamol zu einem akuten Leberversagen führen (10). Ob die bisher empfohlene Tageshöchstdosierung von 4g/fag hinsichtlich einer Leberschädigung sicher ist, wurde durch eine neuere Studie von Watkins et al. angezweifelt (11). So konnten die Autoren bei der Verabreichung von 4g/fag Paracetamol für 14 Tage bei 31-44% der Teilnehmer am Ende des Untersuchungszeitraums im Vergleich zu einer Plazebogruppe einen deutlichen Anstieg der Leberwerte feststellen, der auf eine Leberzellschädigung hinweist. Die Ergebnisse von Watkins et al. sowie anderer Untersucher müssen dringend durch weitere kontrollierte Studien geprüft werden, um herauszufinden, ob unsere gegenwärtige Dosierungsvorgabe für Paracetamol zumindest hinsichtlich einer potentiellen Leberschädigung sicher ist. Ob Patienten, die zusätzlich Antikonvulsiva bzw. Tuberkulostatika einnehmen, sich in einem reduzierten Ernährungszustand befinden oder einen chronischen Alkoholabusus betreiben, ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Paracetamol-induzierten akuten Leberversagens haben, ist bisher noch nicht sicher bewiesen (9). Neben dem bekannten Paracetamol bedingten Leberversagen sind weitere potentielle klinisch relevante Nebenwirkungen beschrieben und durch aktuelle Studienergebnisse wieder in den Fokus gerückt worden. So wurden in den letzten 10 Jahren Ergebnisse unterschiedlicher Studien publiziert, die eine Verbindung zwischen einer erhöhten Inzidenz von Asthma sowie anderer allergischer Erkrankungen und der Einnahme von Paracetamol vor Geburt, im Kindes- und Erwachsenenalter zeigen konnten (12). Grundlage für Untersuchungen hinsichtlich einer Korrelation zwischen der Einnahme von Paracetamol und einer erhöhten Inzidenz von Asthma war die Beobachtung, dass in englischsprachigen Ländern neben dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Paracetamol auch gleichzeitig die höchste Prävalenz an Asthma weltweit beobachtet werden konnte (13). Gleichzeitig haben sowohl die Inzidenz an Asthma in den letzten 40-50 Jahren als auch die Häufigkeit des Paracetamolverbrauchs deutlich zugenommen - Paracetamol ist mittlerweile die am häufigsten verabreichte Substanz bei Kindern weltweit. Etwa 6 Studien konnten zeigen, dass die Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft zu einem leichten Anstieg von Ekzemen und Asthma bronchiale im Kindesalter (6.-7. Lebensjahr s.u.) führte. In einer großen multizentrischen Untersuchung (72 Zentren aus 31 Ländern) wurde ein etwa 40-50% erhöhtes Risiko für Asthma, Rhinokonjunktivitiden und Ekzemen bei 6-7 Jahre alten Kindern, die in früher Kindheit (1.-2. Lebensjahr) Paracetamol eingenommen hatten, beobachtet (14). In der gleichen Studie wurde ebenfalls berichtet, dass auch die Einnahme von Paracetamol bei 6-7 Jahre alten Kindern im Vergleich zu Kindern ohne Paracetamolmedikation dosisabhängig zu einer 1,6 bis 3,2fach erhöhten Inzidenz an moderatem bis schwerem Asthma zu erkranken führte (12,14). Eine große Fallkontrollierte Studie in Großbritannien konnte auch bei Erwachsenen mit einer regelmäßigen Einnahme von Paracetamol eine erhöhte Inzidenz für die Erkrankung an Asthma feststellen (15). Diese Ergebnisse wurden durch die „Global Allergy and Asthma European Network case-control study" an 12 europäischen Zentren bestätigt, die im Vergleich zur seltenen Einnahme von Paracetamol ein bis zu 3fach höheres Risiko für Asthma bei Patienten mit regelmäßiger Paracetamolapplikation beobachteten (16). Weitere Beobachtungsstudien in den USA (17) und Dänemark (18) zeigten eine dosisabhängige Verbindung zwischen der Paracetamoleinnahme und dem Risiko an Asthma oder Allergien wie Rhinitis oder Ekzemen zu erkranken. 278

Die zugrundeliegenden Mechanismen, die durch eine regelmäßige Einnahme von Paracetamol zu einem erhöhten Risiko für Asthma oder anderen allergischen Erkrankungen führen könnten, sind bisher nicht endgültig geklärt. Die Einnahme von Paracetamol führt zu einer Verminderung von Gluthation, das eine wichtige Rolle als Schutzmechanismus gegen gefährliche Antioxidantien darstellt (19). Sauerstoffradikale führen zu einer gestörten Epithelschicht und Mukusproduktion in der Lunge, verursachen eine gesteigerte Kontraktion der glatten Muskulatur und erhöhen die Bronchialreaktivität sowie verändern die Beta-adrenerge Funktion - dies sind alles Effekte, die zur Pathogenese von Asthma gehören und durch ein gut funktionierendes System an Antioxidantien wie dem Gluthation vermieden werden könnten (12). Natürlich müssen kontrollierte Studien die Ergebnisse dieser großen Beobachtungsstudien bestätigen und konkretisieren, welche Einnahmehäufigkeit oder Paracetamoldosierungen ein deutlich erhöhtes Risiko für Asthma oder andere allergische Erkrankungen darstellen könnten. Zusammenfassend haben sich die entsprechenden Institutionen in Großbritannien und anderen europäischen Staaten dazu entschlossen, die rezeptfreie Abgabe von Paracetamol auf eine Höchstmenge von 15g pro Patient zu reduzieren. In Deutschland darf seit dem 1. April 2009 maximal lüg Paracetamol pro Patient rezeptfrei abgegeben werden. Akutelle Empfehlungen der FDA im Rahmen eines Expertenpanels (Juni 2009), die allerdings bisher noch nicht in eine entsprechende Richtlinie umgesetzt wurden, schlagen sogar vor, die zu empfehlende Tageshöchstdosierung bzw. die Einzeldosierung von Paracetamol auf 3,2 gffag bzw. 625 mg pro Gabe zu reduzieren (20). Die Arbeitsgruppe Kinderanästhesie empfiehlt im Rahmen einer Stellungnahme vom Januar 2009, dem effektiveren lbuprofen bei Kindern - falls möglich (lbuprofen ist ab dem 3. LM bzw. Paracetamol schon von der Geburt an zugelassen) - perioperativ den Vorzug vor Paracetamol zu gegeben (21). Wirkmechanismen von Paracetamol und mögliche klinische Konsequenzen Paracetamol wird ähnlich wie das Metamizol seit vielen Jahrzehnten zur Behandlung von leichten bis moderaten Schmerzen oder zur Fiebersenkung eingesetzt, ohne dass uns die genauen Wirkmechanismen bekannt sind. In den letzten Jahren setzte sich dabei die Überzeugung durch, dass Paracetamol vor allen Dingen im Bereich des zentralen Nervensystems u.a. an Neuronen des Rückenmarkshinterhorns und bestimmten Gehirnarealen seine analgetische Wirkung entfaltet (22,23). Dafür sprechen eine gute Liquorgängigkeit des Paracetamols, hohe Paracetamolkonzentrationen im Liquor nach systemischer (oraler, iv.) Applikation sowie ein schwacher peripher-antiinflammatorischer Effekt des Paracetamols (22-24). Offenbar greift dabei das Paracetamol an verschiedenen Rezeptorsystemen an, um seine analgetische Wirkung umzusetzen. Im einzelnen wird vermutet, dass Paracetamol: a. die serotonerge-deszendierende Hemmung an lnterneuronen des dorsalen Rückenmarks steigert. Verschiedene tierexperimentelle Ergebnisse konnten zeigen, dass Paracetamol seinen zentralen analgetischen Effekt durch eine Interaktion mit spinalen 5-HT3 Rezeptoren bewirkt (25). In Übereinstimmung mit diesen Ergebnissen zeigten Untersuchungen an Probanden, dass die i.v. Gabe spezifischer 5-HT3 Rezeptorantagonisten, wie sie häufig zur Prophylaxe und Therapie von postoperativer Übelkeit und Erbrechen verwendet werden, zu einer Blockade der analgetischen Wirkung von _Paracetamol führen (26). Hierbei handelt es sich um eine Beobachtung, deren klinische Relevanz noch bei Patienten im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie bewiesen werden muss. b. zur indirekten Aktivierung von Cannabinoid CB 1 Rezeptoren im dorsalen Rückenmark oder Gehirn führt (27) c. die spinale NO-Produktion hemmt oder indirekt spinale NMDA oder Substanz P Rezeptoren blockiert

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d. die Aktivität des COX-2 Enzyms im dorsalen Rückenmark hemmt. Dabei scheint das pharmakologische Profil des Paracetamols dem von selektiven COX-2 Hemmern wie Etoricoxib oder Celecoxib zu ähneln (geringe GI-Nebenwirkungen, keine direkte Hemmung der Thrombozytenfunktion) e. die Aktivität des COX-2 Enzyms im peripheren Nervensystem hemmt. Hinz et. al. (28) zeigten in Blutuntersuchungen bei gesunden Probanden eine deutliche permanente Hemmung der COX-2 Konzentration von 60-80% bei einer 4xlg/fag Gabe von Paracetarnol (Vergleich Celecoxib etwa 70% und Rofecoxib etwa 60% COX-2 Hemmung bei Einmalgabe). Diese wurde - im Gegensatz zur COX-1 Hemmung in klinisch relevanten Plasmakonzentrationen erreicht und weist auf eine selektive COX-2 Hemmung durch Paracetarnol hin. Ob diese interessanten Ergebnisse auch bei postoperativen Patienten oder Patienten mit einer chronisch-entzündlichen Erkrankung zutreffen bzw. relevant für die Paracetarnolwirkung sind, muss noch überprüft werden. Ein möglicher analgetischer Effekt von Paracetarnol durch die Hemmung einer weiteren COX-Isoform, dem sogenannten COX-3 Enzym (29), gilt mittlerweile als sehr unwahrscheinlich (24,30). Zunächst wurde COX-3 nur bei Nagetieren gefunden und mittlerweile gehen die meisten Untersucher davon aus, dass es sich dabei um eine Splice Variante von COX-1 handelt und nicht um ein neue COX-lsoform (27). Aus diesen möglichen Wirkmechanismen von Paracetamol lassen sich zwei klinische relevante Ergebnisse hervorheben, die allerdings durch weitere kontrollierte randomisierte Untersuchungen belegt werden müssen. Erstens könnte die regelmäßige Gabe von HT3 Blockern zur Prophylaxe oder Therapie von postoperativer Übelkeit oder Erbrechen (PONY) zu einer Verminderung oder Blockade der Wirkung von Paracetamol führen. Allerdings zeigten Jokela et. al. in einer Vorveröffentlichung, dass die antiemetische Gabe von Odansetron direkt postopertiv den analgetischen Effekt von Perfalgan nicht beeinflusst hat. Zweitens besteht bei einer selektiven COX-2 Hemmung durch Paracetamol, die vergleichbar mit Celecoxib oder Rofecoxib zu sein scheint, die Möglichkeit, dass auch Paracetarnol bei Risiko-Patienten zu kardiovaskulären Komplikationen führen könnte (28,31). Schon 1989 berichteten Green et al. (33) über eine Paracetamol-induzierte, COX-2 abhängige Prostazyklin (PGl2) Hemmung. Dubach et al. (34) berichteten, dass die Einnahme von Phenazetin, dem Ausgangsstoff von Paracetarnol, zu einer erhöhten lnzidenz kardiovaskulärer Ereignisse führte. Neuere Untersuchungen von Forman et al. (35) (männliche Patienten) und Chan et al. (36) (weibliche Patienten) beobachteten, dass die regelmäßige Einnahme (>22Tage/Monat) von Paracetamol ein vergleichbares Risiko für eine Blutdruckerhöhung wie bei der Einnahme von tNSAR beinhaltet. Zusätzlich zu einer COX-2 bedingten Hemmung von Prostazyklin könnte auch der relativ hohe Natriumgehalt in Paracetarnol-Brausetabletten zu einer (möglichen, s.o.) Blutdruckerhöhung beitragen (37,38); 500 mg Paracetarnol als Brausetablette enthalten 380-400 mg Natrium - das entspricht dem Äquivalent von lg Kochsalz. Eine erhöhte Salzzufuhr steht nachweislich in Verbindung mit Hypertonie (39) und deshalb empfehlen verschiedene internationale Gesundheitsorganisationen und die WHO eine limitierte Salzzufuhr von höchstens 5g (entspricht 2g Natrium). Eine weitere beachtenswerte Nebenwirkung von Paracetamol ist die Verstärkung der antikoagulatorischen Wirkung des Vitamin K-Antagonisten Warfarin (Coumadin). Dabei führt möglicherweise die therapeutische Dosis von 4xlg/fag Paracetamol bereits nach 4-10 Tagen zu einer verstärkten Wirkung von Warfarin und zu einem signifikanten Anstieg des INR (International Normalized Ratio) um einem Punkt (40,41). Damit steigt bei 30-50% der Patienten unter einer gemeinsamen Therapie mit Warfarin und Paracetamol der INR über 3,5 und bedeutet ein deutlich erhöhtes Blutungsrisiko. Obwohl der Pathomechanismus dieser Interaktion noch nicht vollständig geklärt werden konnte wird 280

vermutet, dass entweder ein verminderter Metabolismus von Warfarin oder eine verminderte Produktion der Faktoren II, V, VII für die gesteigerte antikoagulatorische Wirkung von Warfarin verantwortlich ist. Weiterhin ist nicht geklärt, ob die Wirkung anderer Vitamin K-Antagonisten durch die gemeinsame Gabe von Paracetamol ebenfalls gesteigert wird - allerdings kann aufgrund der möglichen Pathomechanismen vermutet werden, dass eine Interaktion zwischen Paracetamol und auch anderen Vitamin K-Antagonisten vorhanden ist.

Metamizol Risiken und Nebenwirkungen In etwa 70% der deutschen Kliniken wird Metamizol alleine oder im Rahmen eines multimodalen Analgesiekonzeptes zur Behandlung postoperativer Schmerzen eingesetzt (42). Von Vorteil sind die fehlende hepatische und gastrointestinale Toxizität. Als Nebenwirkungen können Hypotonie, Überempfindlichkeitsreaktionen und die medikamenteninduzierte Agranulozytose auftreten (43). Bei allergischen Ereignissen handelt es sich meist um eine IgE vermittelte anaphylaktische Reaktion vom Sofort-Typ mit einer Inzidenz von 1:5000 (i.v. Gabe) bis 1:150.000 (orale Gabe). Vereinzelt wurden auch verzögerte T-Zell vermittelte anaphylaktische Reaktionen beschrieben (43,44). Eine ausgeprägte Hypotension tritt vor allem bei der parenteralen Applikation von Metamizol durch einen dosis- und applikationsgeschwindigkeitsabhängigen Widerstandsverlust der glatten Muskulatur auf. Ein negativ inotroper Effekt durch Metamizol wurde nicht beobachtet (Cardiac Index kann um ca. 10% bei parenteraler Metamizolgabe sinken). Vorsicht ist bei geriatrischen Patienten geboten, da durch eine höhere Bioverfügbarkeit von Metamizol auch die orale Gabe zu einer ausgeprägten Hypotension führen kann (43). Die Inzidenz für eine in der Regel leichte Hypotension nach Metamizolgabe liegt bei 1:5000 und für einen schweren behandlungswürdigen Blutdruckabfall bis hin zum vasodilatatorischen Schock bei 1:50.000. Daher ist bei der parenteralen Gabe von Metamizol auf die langsame kontinuierliche Applikation (> 1 ml/min; z.B. Kurzinfusion über 20-30 min) zu achten und auf Bolusinjektionen zu verzichten (7,45). Eine gefürchtete Komplikation bei der Einnahme von Metamizol ist das Auftreten einer medikamenten-induzierten Agranulozytose. Dabei werden zwei Formen der Agranulozytose unterschieden (46-49).

Typ /: zeit- und dosisunabhängig - allergisch-immunologisch vermittelt: Dabei kommt es zu einer Hemmung der Granulopoese oder der 'Zerstörung von neutrophilen Granulozyten (häufigste Ursache für arzneimittelinduzierte Agranulozytose) Bei der Agranulozytose handelt es sich um eine Störung der Anzahl neutrophilen Granulozyten. Die Pathogenese ist eine Bindung von Metamizol an die Membran von neutrophilen Granulozyten und nachfolgende Initialisierung einer Antigen-Antikörper Formation. Diese induzierte immunologische Antwort führt zur Zerstörung peripherer und im Knochenmark befindlicher Granulozyten Eine Agranulozytose liegt per definitionem vor, wenn die Leukozytenzahl < 0,5x109/l sinkt. Hinzu kommen Fieber oder andere Infektionszeichen. Typ II: zeit- und dosisab.hängig - toxische Reaktion mit variablen Blutbildveränderungen Diese eher seltene Ursache einer arzneimittelinduzierten Agranulozytose führt zu einer direkten graduellen 'Zerstörung des Knochenmarks und somit u.a. auch der Granulopoese. Eine Typ II Agranulozytose tritt deutlich später auf als bei Typ /. 281

Eine medikamenten-induzierte Agranulozytose wird neben Metamizol auch durch andere Substanzen ausgelöst. Insgesamt besteht die jährliche lnzidenz einer Substanz-induzierten Agranulozytose in Europa zwischen 1,6 und 9,2 Fällen pro 1 Millionen Einwohner (USA: 2,4-15,4 / Millionen Einwohner). Die Inzidenz steigt mit dem Alter (mehr Substanzen werden eingenommen) und tritt bei Frauen doppelt so häufig auf wie bei Männern (längere Lebenserwartung). In den letzten Jahren wurden unterschiedliche Häufigkeiten für die Metamizol-induzierte Agranulozytose beschrieben. Für diese unterschiedlichen Ergebnisse werden nicht zuletzt verschiedene Falldefinitionen in den Studien, ein möglicherweise lokal unterschiedliches Bevölkerungsrisiko sowie die Dauer der Therapie und die Art der Applikation verantwortlich gemacht (46-52). Insgesamt kann aber auch nach neueren epidemiologischen Untersuchungen davon ausgegangen werden, dass die lnzidenz einer Metamizol-induzierten Agranulozytose zwischen 0,5-1 / 1 Mio Einwohner und Jahr bestehen bleibt (lnzidenz an GI Blutungen durch NSAR: 160/1 Mio. Einwohner und Jahr). Eine Agranulozytose tritt besonders häufig bei langfristiger Applikation auf. Neben symptomatischer Therapie mit Glukokortikoiden und Antibiotika führte die erfolgreiche Therapie mit Granulozyten stimulierendem Faktor (G-CSF) und/oder Granulozytentransfusionen zu einer reduzierten Mortalität bei Risikopatienten und Patienten mit Sepsis von 16% auf 8 %. Neben den klinisch relevanten Nebenwirkungen sollten bei dem Einsatz von Metamizol die entsprechenden Kontraindikationen beachtet werden. • •

• •

Hepatische Porphyrie Glukose-6-phosphatdehydrogenase-Mangel o Hämolytische Anämie mit renaler Dekompensation o Prävalenz Deutschland: 0,14-037% o Prävalenz Asien, Afrika, Südeuropa: 3-35% Säuglinge unter 3 Monaten o Knochenmarkschäden Keine Applikation während Schwangerschaft und Stillzeit o Hämolytische Anämie bei Säuglingen o Nierenversagen und Polihydramnion

Wirkmechanismen von Metamizol und deren klinische Relevanz Vergleichbar mit Paracetamol wird Metamizol seit vielen Jahrzehnten im Bereich der postoperativen Schmerztherapie eingesetzt, ohne dass die genauen pathophysiologischen Wirkmechanismen endgültig geklärt wurden. Metamizol ist ein sogenanntes „Prodrug", das nach oraler Einnahme durch den sauren Magensaft zu dem Hauptmetaboliten 4-Methyl-amino-antipyrin (MAA) hydrolisiert und absorbiert wird (53). Der analgetische Effekt von Metamizol erklärt sich wahrscheinlich sowohl aus der Beeinflussung des peripheren als auch des zentralen Nervensystems. Die wirksamen Metabolite des Metamizol sind gut liquorgängig, erreichen schnell hohe Konzentrationen im Liquor und könnten durch eine Modulation des endogenen Opioidsystems oder der Hemmung von NMDARezeptoren oder COX-Enzymen im Gehirn oder dorsalen Rückenmark analgetische Effekte bewirken. Gleichzeitig haben verschiedene experimentelle Untersuchungen gezeigt, dass systemisch oder lokal appliziertes Metamizol über die Hemmung peripherer Kaliumkanäle oder der COX-Enzyme die Verarbeitung von Schmerzen auch im peripheren Nervensystem beeinflusst (54,55). Eine auch für das Metamizol diskutierte Hemmung eines spezifischen COX-3 Enzyms spielt für den analgetischen Wirkmechanismus beim Menschen keine Rolle. Offensichtlich ist Metamizol auch in der Lage, die Thromboxankonzentration zu senken und somit zu einer 3-6 h anhaltenden Einschränkung der Thrombozytenfunktion zu füh282

ren - die klinische Relevanz dieser temporären Thrombozytenfunktionsstörung ist bisher nicht endgültig geklärt (56,57). In einer kürzlich erschienenen Studie konnte weiterhin gezeigt werden, dass es durch die Gabe von Metamizol und anderen Pyridinderivaten zu einer deutlichen Einschränkung der plättchenhemmenden protektiven Aspirinwirkung kommt, sodass eine gemeinsame Anwendung von Aspirin und Metarnizol z.B. bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen kritisch gesehen werden muss (58). Auch diese wichtigen Ergebnisse müssen durch weitere randomisierte-kontrollierte Studien auf ihre klinische Relevanz überprüft werden.

Selektive und nicht selektive NSAR Die Entwicklung spezifischer COX-2 Hemmer bewirkte zwar eine Reduktion GI-Nebenwirkungen, führte aber nicht zuletzt aufgrund kardiovaskulärer Risiken zu kritischen Diskussionen hinsichtlich des Einsatzes im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie. In diesem Zusammenhang wurden Rofecoxib (September 2004; kardiovaskuläre Komplikationen), Valdecoxib (April 2005, unklare Inzidenz kardiovaskulärer Komplikationen und lebensbedrohliche Hautreaktionen) sowie Lumiracoxib (November 2007; hepatotoxische Nebenwirkungen) vom Markt genommen. Sowohl unselektive traditionelle NSAR (tNSAR) als auch selektive COX-2-Hemmer (Coxibe) werden für die Therapie leichter bis mittelstarker postoperativer Schmerzen eingesetzt. Alle NSAR haben eine ähnliche NNT (,,number needed to treat") von 2-4 und weisen bei einer Erhöhung der Dosierung über die NNT-bezogene optimale Dosierung einen analgetischen „Ceiling-Effekt" auf, sodass für NSAR wie auch für andere NichtOpioid Analgetika Höchstdosen empfohlen werden, die nicht überschritten werden sollten (59,60). Risiken und Nebenwirkungen Im Vordergrund steht die Diskussion über kardiovaskuläre Nebenwirkungen von tNSAR und COX-2 Hemmem. Mittlerweile muss davon ausgegangen werden, dass sowohl die chronische Einnahme von tNSAR als auch von selektiven COX-2 Hemmem mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen assoziiert ist (61,62). Inwieweit auch eine kurzzeitige perioperative Einnahme von tNSAR oder COX-2 Hemmem dieses Risiko erhöht, ist bisher nur in wenigen Studien untersucht worden. Sowohl Ott et al. (63) als auch Nussmeier et al. (64) haben bei kardialen Hochrisikopatienten, die sich einer koronaren Bypass-Operation unterzogen, zeigen können, dass COX-2 Hemmer auch das kurzfristige Auftreten thromboembolischer Komplikationen deutlich erhöht. Allerdings ist bei der Bewertung dieser Untersuchungen zu bedenken, dass eine gesteigerte Thrombozytenfunktion durch kardiopulmonalen Bypass oder reduzierte Aspirin-Wirkung das Risiko für thromboembolische Ereignisse weiterhin erhöhen kann. Im Gegensatz hierzu fand die gleiche Arbeitsgruppe (65) in einer randomisierten Untersuchung, dass die kurzzeitige Einnahme von Parecoxib bei Patienten, die sich ausgedehnten nicht-kardiochirurgischen Eingriffen unterzogen, nicht zu einem erhöhten Risiko kardiovaskulärer Komplikationen führte. Dabei litt allerdings die Mehrzahl der untersuchten Patienten nicht unter kardiovaskulären Erkrankungen (75 Jahre, Ulkusanamnese, Einnahme oraler Glukokortikoide oder Antikoagulantien) verzichtet werden. Selektive COX-2 Hemmer haben ein besseres Risikoprofil für gastrointestinale Nebenwirkungen, sollten aber bei vorbestehender Magenschädigung und Magenulzera aufgrund der Induktion von Wundheilungsstörungen nicht verwendet werden (74). Im Gegensatz zu den Ergebnissen älterer Untersuchungen konnten große epidemiologische 286

Übersichtsarbeiten zeigen, dass die Einnahme von niedrig dosierter Aspirin den Vorteil von COX-2 Hemmern gegenüber tNSAR hinsichtlich einer geringeren Inzidenz gastrointestinaler Komplikationen nicht aufhebt (62).

Wund und Frakturheilung

Prostaglandine (besonders PGE2 und PGE4) spielen eine wichtige Rolle bei Knochenheilung durch die Aktivierung von Osteoblasten und der Stimulierung bzw. Migration von neutrophilen Granulozyten sowie einer gesteigerten Angiogenese im Frakturbereich (83,84). Unterschiedliche tierexperimentelle Untersuchungen konnten zeigen, dass die kurz- und besonders die langfristige Gabe sowohl von tNSAR wie Indometacin, Ibuprofen, Ketorolac oder Tenoxicam als auch von selektiven COX-2 Hemmern zu einer deutlichen Behinderung der Knochenheilung nach einer Fraktur führen (85,86). Allerdings scheint eine kurzfristige Gabe von NSAR nach dem Absetzen der Substanz nur eine reversible Knochenheilungsstörung darzustellen. Außerdem scheinen die durch tNSAR und COX-2 Hemmer ausgelösten Frakturheilungsstörungen sowohl von der Dosis als auch der Applikationsdauer der entsprechenden Substanzen abhängig zu sein. Eine kurzfristige Gabe, wie sie für die postoperative Analgesie angewendet wird, scheint im Tierexperiment zu einer deutlich geringeren bzw. keinen Beeinflussung der Knochenheilung zu führen (86). Leider liegen bisher nur wenige Ergebnisse über die Wirkung von tNSAR und COX-2 Hemmern auf die Frakturheilung bei Patienten vor. Im Rahmen der Applikation von tNSAR wie lbuprofen, Diclofenac oder Indometacin wurden bei Patienten nach Wirbelsäulenoperationen (87 ,88), Femurschaftfrakturen (89) oder Acetabulumfrakturen nach- . haltige Störungen der Knochenheilung beobachtet (90). Sculean et al. (91) zeigten, dass die 14-tägige Gabe von Rofecoxib (25 mg/d) bei einer kieferchirurgischen Operation zu keinen Knochenheilungsstörungen führte. Meunier et al. (92) fanden bei Patienten nach Knieendoprothetik keine Störung der Prothesenfestigkeit unter einer dreiwöchigen Gabe von 2x200 mg Celecoxib. Hinsichtlich der Sicherheit von COX-2 Hemmern sind aber noch weitere und größere prospektive Untersuchungen notwendig um den Einfluss auf die Knochenheilung beurteilen zu können. Im Gegensatz zu den unerwünschten Störungen der Knochenheilung werden tNSAR seit längerer Zeit zur Prophylaxe heterotoper Ossifikationen bei Beckenfrakturen eingesetzt. Dieses Dilemma zwischen erwünschter Knochenheilung und gleichzeitiger Vermeidung heterotoper Ossifikationen beobachteten Burd et al. (90) bei Patienten mit kombinierter Acetabulum- und Femurschaftfraktur. Sie berichteten in dieser retrospektiven Untersuchung sowohl über eine erwartete gute Ossifikationsprophylaxe aber gleichzeitig auch eine gestörte Knochenheilung der Femurschaftfrakturen durch die Gabe von tNSAR. Ob bei der Verwendung von COX-2 Hemmern, die ebenfalls eine gut Ossifikationsprophylaxe gewährleisten (93), die gleichen Probleme auftreten, muss wie oben schon erwähnt in prospektiven Studien untersucht werden.

Zusammenfassung Aus den vorliegenden Ergebnissen scheint die Verwendung von Paracetamol als „first line" NOPA für die postoperative Schmerztherapie bei geringer Effektivität im Einsatz der balancierten multimodalen Analgesie und der geringen therapeutischen Breite nicht mehr gerechtfertigt zu sein. Besonders aber die erneute Diskussion über die geeignete Dosierung und die verschiedenen neueren Nebenwirkungen wie der möglichen erhöhten Inzidenz von Asthma bei Kindern und Erwachsenen, dem erhöhten Risiko für Hypertonie 287

oder kardiovaskulärer Komplikationen durch eine mögliche selektive COX-2 Hemmung müssen unbedingt durch kontrollierte randornisierte Untersuchungen geprüft werden. Bei der Verwendung von Metarnizol stehen mittlerweile nicht die Agranulozytose, sondern die besonders durch die systernische Gabe von Metarnizol induzierte Hypotension und allergische Reaktionen als Nebenwirkungen im Vordergrund. Mögliche Auswirkungen auf die Thrombozytenfunktion und Aspirinwirkung spielen möglicherweise bei der Entscheidung über den Einsatz von Metarnizol eine Rolle. Traditionelle NSAR und Coxibe scheinen als Bestandteil der balancierten-multimodalen postoperativen Schmerztherapie sowohl die Analgesie zu verbessern als auch opioidbedingte Nebenwirkungen zu reduzieren. Sie sind hier dem Paracetamol deutlich überlegen. Allerdings müssen im Rahmen des Einsatzes für die postoperative Schmerztherapie besonders die bekannten kardiovaskulären (tNSAR und Coxibe) und gastrointestinalen Nebenwirkungen (tNSAR) sowie mögliche neue Komplikationen wie Frakturheilungsstörungen (tNSAR, ggf. Coxibe) beachtet werden. Bei gleicher analgetischer Wirkstärke sollte im Rahmen einer Risiko-Nutzenabwägung selektiven COX-2 Inhibitoren der Vorzug vor tNSAID für den Einsatz in der multimodalen postoperativen Schmerztherapie gegeben werden (94,95).

288

Erwachsene

Paracetamol

00

Dosis

Max. Tagesdosis

Zugelassen

Kontraindikationen (KI)

bekannte Unverträglichkeit gegen Paracetamol Schwere Leberinsuffizienz Schwere Niereninsuffizienz (rel. Kl) Alkoholabusus und chronische Mangelernährung (rel. KI)

lg alle 6 Stunden

4g

>10 kgKG: 15 mg/kg (1,5 ml/kg) alle 6 Stunden reife Neugeborene und Säuglinge < 10 kg KG:,5 mg/kg (0,5 ml) alle 6 Stunden

60 mg/kg

ab Geburt

oral/ rektal'

lg alle 6 Stunden

4g

15-25 mg/kg alle 6 Stunden

Klein- und Schulkinder: 90 mg/kg (max. 4 x 1000 mg) Säuglinge: 75 mg/kg Reife NG: 60 mg/kg FG>34 SSW: 45 mg/kg FG< 34 bis 30 SSW: 25 mg/kg

Ab Geburt



lg alle 6 Stunden

4-6g

10-15 mg/kg

60-80 mg/kg

> 1 Ll

Hämatopoesestörungen (Leukopenie, Granulozytopenie) Asthma Multiple Allergien (Pyrazolonallergie) Porphyrie Glukose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel Kinder vor dem 3. Lebensmonat Schwangerschaft und Stillzeit (mögliche Störung der Hämatopoese, Vorzeitiger Verschluss des Ductus Botalli)

Nichtretardierte Galenik: 3x50 mg/d

2 mg/kg/d

1 mg/kg/d

oral 6 Ll rektal >15 Ll

Ulzera im Magen-Darm-Trakt/Anamnese chronischer Magen-Darm-Beschwerden Schwere Niereninsuffizienz oder Leberinsuffizienz Schwere Herzinsuffizienz Volumenmangel/Schock Asthma/COPD Alter > 65 Jahre Akute hepatische Porphyrie Schwangerschaft und Stillzeit

3

Metamizol

J.V.

Diclofenac (Voltaren*)

oral/ rektal

Tabelle: Fortsetzung auf Seite 14 '-0

Max. Tagesdosis

i.v.

Retardierte Galenik: 2 x 75 mg/d

N

Kinder

N

8

Tabelle: Fortsetzung von Seite 13 200-800 mg Alle 6-8 Stunden

40 mg/kg/d

lbuprofen (z.B. Nurofen• Saft für Kinder)

oral

Parecoxib (Dynasta~)

i.v.

Etoricoxib (Arcoxia•)

oral

90(-120)mg 1120mg alle 24 Stunden

ab 18U

Celecoxib

oral

100-200 mg

1 400 mg

ab 18U

4 (

Celebrex•)

1 2400mg

15-10 mg/kg alle 8 Stunden

oral> 3LM rektal

>6U 20 40 mg i.v. 12 stdl.

80 mg/d

ab 18 Ll

I Aktives peptisches Ulkus oder akute gastrointestinale Blutung Koronare Herzerkrankung und Herzinsuffizienz (NYHA II-IV) Akute und chronische Niereninsuffizienz (Krea Clearance < 30 ml/min) Schwere Leberfunktionsstörung (Albumin