Refresher Course Aktuelles Wissen für Anästhesisten / Nr. 33. 05. - 08. Mai 2007, Hamburg
 9783932653230, 3932653238

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Deutsche Akademie für Ariästhesiologische Fortbildung

Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (DAAF) Schriftführung: PROF. DR. MED.

T.

KOCH

Direktorin der Klinik und Poliklinik für Anaesthesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Fetscherstraße 74 01307 Dresden Internet: www.uniklinikum-dresden.de E-Mail: [email protected]

ISSN 1431-1437 ISBN 978-3-932653-23-0 Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach Aktuelles Wissen für Anästhesisten: refresher course / hrsg . von der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung. ISSN 1431-1437 Nr. 33, Mai 2007 , Hamburg - (2007) ISBN 978-3-932653-23-0 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begrilndeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks , des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach http://www.aktiv-druck.de ©

Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach 2007 Printed in Germany

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PöTZSCH, B., PROF. DR.

Institut für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin Sigmund-Freud-Str. 25 , 53105 Bonn SCHMALZ, W., DR.

Stadtkrankenhaus Worms Gabriel-von-Seidl-Str. 81 , 67550 Worms SüMPELMANN, R., PROF. DR. Medizinische Hochschule Hannover Zentrum Anästhesiologie Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover THEILEN, H ., PD DR. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum der TU Dresden Fetscherstr. 74 , 01307 Dresden WAPPLER, F., PROF. DR. Lehrstuhl für Anästhesiologie II Kliniken der Stadt Köln Krankenhaus Köln-Mehrheim Ostmerheimer Str. 200, 51109 Köln

X

leichtes operatives Trauma: 6 ml/kg/h

[56]

mittleres operatives Trauma: 8 ml/kg/h schweres operatives Trauma: l 0 ml/kg/h schweres operatives Trauma: 10-15 ml/kg/h

[12, 97]

basal: 7 ml/kg/h; Eröffnung der Abdominalhöhle: lOml/kg/h

[60]

Tabelle 2: Beispiele für Empfehlungen aus Lehrbüchern und Übersichten zur intraoperativen Flüssigkeitssubstitution.

Die „klinische Erfahrung" zeigt jedoch, dass oftmals selbst große intravasal applizierte Flüssigkeitsmengen kaum in der Lage sind, eine klinisch manifeste Hypovolämie zu beheben. In solchen Fällen wird eine Verschiebung in den so genannten „Dritten Raum" angenommen und es werden, in der Hoffnung diesen Verlust ausgleichen zu können, in aller Regel Kristalloide infundiert [63, 91]. Ebenso glaubt man, durch großzügige Volumenapplikation, evtl. in Verbindung mit weiteren Nierenprotektiva, die Inzidenz des perioperativen akuten Nierenversagens zu senken zu können [31, 69]. Zusammenfassend wird perioperatives anästhesiologisches Handeln derzeit durch folgende Annahmen beeinflusst: 1. Präoperative Nüchternheit verursacht intravasale Hypovolämie. 2. Ein während Normovolämie intravasal applizierter Flüssigkeitsbolus ist eine geeignete Maßnahme zur Expansion des Blutvolumens. 3. Bei Eröffnung großer Körperhöhlen steigt der insensible Flüssigkeitsverlust stark an. 4. Flüssigkeitsverluste in den so genannten „Dritten Raum" sind proteinfrei. 5. Die erste Maßnahme bei Blutdruckabfall ist Volumengabe. 6. Eine reduzierte Urinausscheidung ist ein verlässlicher Indikator eines drohenden akuten Nierenversagens. In den letzten Jahren sorgten jedoch mehrere Studien für Verunsicherung. Sie beschrieben im Zusammenhang mit übermäßiger Volumenzufuhr während großer Abdominalchirurgie eine Steigerung der perioperativen Komplikationsraten. Diskutiert wurden z.B. eine gesteigerte Inzidenz des Lungenödems, eine reduzierte Darmmotilität, Anastomoseninsuffizienzen, Wundheilungsstörungen und Gerinnungsprobleme [10, 14, 17, 19, 34, 36, 46, 70, 76,105]. Befanden wir uns jahrzehntelang auf einem Irrweg?

Ziele dieses Refresher Courses Dieser Refresher Course zur perioperativen Flüssigkeitstherapie möchte den klinisch tätigen Anästhesisten bei einem wichtigen Teilaspekt seiner perioperativen Arbeit unterstützen, indem er Mythen entzaubert und Fakten liefert. Er konzentriert sich auf den erwachsenen, intemistisch gesunden Patienten (Status 1-11 nach der Risikoklassifikation der American Society of Anesthesiologists). Er beschäftigt sich nicht mit der Blutkomponententherapie. 1. Die Zielgröße der perioperativen Infusionstherapie wird definiert, 2. die Komponenten des perioperativen Flüssigkeitsverlustes werden dargestellt und 3. anhand wissenschaftlicher Daten quantitativ eingeordnet. 4. Aktuelle Informationen zur Physiologie der vaskulären Barriere sollen verdeutlichen, 2

warum die tatsächlichen Volumeneffekte unserer lnfusionslösungen die Erwartungen oft nicht erfüllen. 5. Es folgt ein abschließendes Beispiel für ein mögliches Infusionsregime beim erwachsenen, internistisch gesunden Routinepatienten. Der Teilnehmer soll in die Lage versetzt werden , seine individuelle Praxis der perioperativen Flüssigkeits- und Volumentherapie anhand der aktuellen Datenlage kritisch zu hinterfragen.

Perioperative Pathophysiologie der Flüssigkeitsräume Der Körper des Erwachsenen besteht zu etwa 60% aus Wasser, 1/ 3 davon (entsprechend etwa 15 1) befindet sich extrazellulär [30] . Diese Flüssigkeit verteilt sich in etwa zu 1/ 4 auf den Intravasalraum und zu ¼ auf das Interstitium. Chirurgischer Stress wird vom Körper in der Regel mit einer Kombination aus entzündlicher und endokrinologischer Reaktion beantwortet [22, 36, 104] , die im Wesentlichen das Ziel hat, die Flüssigkeitsräume des Körpers zu erhalten (z.B . durch die gesteigerte Sekretion von ADH [22, 104]). Eine oftmals zu beobachtende Abnahme der Diurese scheint somit als physiologische Reaktion während der unphysiologischen Rahmenbedingungen „Chirurgie" oder „Trauma" [97] durchaus sinnvoll zu sein . Wird einem normovolämen Patienten ein Flüssigkeitsbolus appliziert, kommt es zur Freisetzung von atrialem natriuretischem Peptid (ANP) [47 , 57, 96, 108] und dadurch zu einer erhöhten Natrium- und Wasserexkretion über die Niere [57 , 66, 108] . Auch andere wichtige hormonelle Regelkreise sind von den direkten [4, 5, 41] und indirekten [66] Auswirkungen eines Flüssigkeitbolus betroffen. Insgesamt scheint eine artifizielle Hypervolämie, beispielsweise als prä- oder intraoperativer Flüssigkeitsbolus, einer „Antagonisierung" der physiologischen Reaktion des Körpers auf chirurgischen Stress gleichzukommen. Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis?

Zielgrößen der lnfusionstherapie Wie bei jeder anderen medizinischen Therapie auch, ist es bei der perioperativen Infusionstherapie hilfreich, sich zunächst klar zu machen, was eigentlich erreicht werden soll. Es erscheint hierbei sinnvoll, zwischen „Flüssigkeitssubstitution" und „Volumentherapie" zu unterscheiden [ 109] . Flüssigkeitssubstitution Die Flüssigkeitssubstitution erfasst den gesamten verfügbaren Extrazellulärraum [109] . Dieser besteht aus Intravasalraum (ca. 1/ 4 ) und Interstitium (ca. 3/ 4). Der gesamte Extrazellulärraum ist, vereinfacht gesagt, für den Anästhesiologen perioperativ insofern von Bedeutung, als der lntravasalraum ein Teil davon ist und mit dem Interstitium im Gleichgewicht steht. In der Regel werden Kristalloide zur Flüssigkeitssubstitution eingesetzt. Sie werden von der Gefäßbarriere kaum zurückgehalten und verteilen sich daher nach intravasaler Infusion schnell in beiden Kompartimenten. Einsatzgebiet dieser Präparate ist demnach der Ersatz permanent, auch unter Normalbedingungen, vom Körper verlorener kolloidfreier Flüssigkeit, z.B. als Urin oder als Wasserdampf. Die perioperative Substitution dieser Verluste imitiert die Resorption von Wasser und Elektrolyten aus dem Gastrointestinaltrakt. 3

Volumentherapie Ziel der Volumentherapie ist die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung einer intravasalen Normovolämie, ohne gleichzeitiger Expansion des Interstitiums. Die Zielgröße der perioperativen Volumentherapie ist demnach nur ein Teil des Extrazellulärraumes, nämlich isoliert das Blutvolumen. Adäquate Volumenersatzstoffe sind Kolloide, sie verbleiben unter „Normalbedingungen" zum größten Teil intravasal und werden eingesetzt, wenn Flüssigkeit und kolloidosmotische Kraft plötzlich aus dem Intravasalraum verloren wurden, beispielsweise beim akuten Blutverlust. Die perioperative Substitution solcher Verluste soll also eine pathophysiologisch relevante, unter „Normalbedingungen" nicht auftretende lmbalance korrigieren. Perioperative Infusionstherapie als „Blindflug" Primäres Ziel des Anästhesiologen ist es, eine intravasale Hypovolämie zu vermeiden oder, wenn nötig, zu beheben. Leider können im klinischen Routinebetrieb die meisten Flüssigkeits- und Volumenverluste nicht exakt bestimmt werden. Auch die Zielgrößen der Therapie, das intravasale Blutvolumen und der Extrazellulärraum insgesamt, entziehen sich derzeit noch der routinemäßigen Quantifizierung. Dieses Problem versucht der Kliniker durch die Abschätzung der Verluste auszugleichen. Die daraus erstellte Bilanz ergibt das geschätzte Flüssigkeits- und Volumendefizit, das er mit einer möglichst adäquaten Substitutionstherapie beantworten muss.

Die korrekte Erstellung der perioperativen Flüssigkeitsbilanz Perioperative Verluste bestehen aus Perspiratio insensibilis (Wasserdampfverluste über Haut, Atemwege und Wundflächen), Urinproduktion, Exsudation aus chirurgischen Wunden, Blutverlusten und sogenannten Verlusten in den „Dritten Raum". Sie geschehen sowohl präoperativ (Perspiratio insensibilis und Urinproduktion) als auch intraoperativ (zusätzlich Exsudation aus chirurgischen Wunden, Blutverluste und Verluste in den ,,Dritten Raum"). Komponente

quantifizierbar?

Art

nein

Aüssigkeitsverlust

ja

Aüssigkeitsverlsut

nein

Volumenverlust

mit Einschränkungen

Volumenverlust

nein

???

Perspiratio insensibilis Urinproduktion Exsudation aus chirurgischen Wunden Blutverlust Verlust in den ,,Dritten Raum" Tabelle 3: Perioperativer Flüssigkeits- und Volumenverlust.

Problematischerweise können weder Perspiratio insensibilis noch der nur inkonstant auftretende Flüssigkeitsshift in den sogenannten „Dritten Raum" oder die aus Wunden exsudierte Menge an proteinreicher Flüssigkeit [51] im klinischen Alltag quantifiziert werden, an die Stelle exakter Messungen treten zwangsläufig Schätzwerte und ,,Erfahrung". Oft wird hierzu auf die eingangs vorgestellten Lehrbuchformeln zurückgegriffen [56, 64], denen nur selten verlässliche Quellen zugrunde liegen. Wir wollen im Folgenden die verbreiteten Annahmen zu diesen insensiblen Verlusten mit den korrespondierenden wissenschaftlichen Fakten vergleichen. 4

Kollektiv

Perspiratio insensibilis

Quelle

Erwachsener wach

0,5 ml/kg/h

[7, 101]

Erwachsener in Narkose

< 0,5 ml/kg/h

[88]

über eventeriertem Darm

zusätzlich 0,5 ml/kg/h

[54]

Säugling

2-3 ml/kg/h

[32)

Brand verletzter

1-2 ml/kg/h

[55)

Tabelle 4: Perspiratio insensibilis.

Dies bedeutet: - Erwachsene Routinepatienten haben zu OP-Beginn kein intravasales Defizit. - Die Perspiratio insensibilis ist während Allgemeinanästhesie gegenüber dem Wachzustand vermindert. - Große Baucheingriffe sind nicht in der Lage, die Perspiratio insensibilis relevant zu steigern. Warum kommt es aber im klinischen Alltag trotzdem oftmals zu Situationen, in denen sich der Patient intraoperativ hypovoläm präsentiert - und wie ist mit dieser Situation umzugehen?

Die Flüssigkeitsverluste in den sogenannten „Dritten Raum" Die Bezeichnung „Dritter Raum" ist eine historischer Ausdruck für ein Kompartiment, dem Flüssigkeitsverluste aus dem Kreislauf zugeschrieben wurden, die man sich nicht erklären konnte. Mythen zum „Dritten Raum" Über den „Dritten Raum" wird viel spekuliert. Er sei ein Flüssigkeitskompartiment, das weder zum funktionellen Extrazellulärraum noch zum Intrazellulärraum gehört und man ist sich nach wie vor nicht wirklich sicher, ob dieser Raum überhaupt existiert [73]. Falls doch, so befindet er sich „transzellulär" und entzieht sich jeglichen Regulationsmechanismen des Wasser- und Elektrolythaushaltes. Als Beispiele für derartige Flüssigkeitsansammlungen werden Ödeme, Sekrete des Magen-Darm-Traktes, Urin, der Liquorraum und das Augenkammerwasser angeführt [78]. Aber auch durch Gewebetraumatisierung kommt es nach einem neueren Lehrbuch zu Flüssigkeitsverschiebung in den „Third Space", ein int~rstitielles Ödem ist die Folge [91). Dieses Ödem, so ist man sich sicher, besteht nur aus Wasser und Elektrolyten. Als adäquate Therapie des damit einhergehenden intravasalen Volumenmangels wird daher isotone Kochsalzlösung angegeben [91]. Auch in einen anatomischen und einen nicht-anatomischen Anteil wurde der „Dritte Raumes" eingeteilt [13, 14]. Ersterer bezeichnet nach dieser Interpretation pathologische Flüssigkeitsansammlungen in Interstitium, Pleuraraum oder Peritoneum im Kontext von Trauma und großer Chirurgie und scheint sehr stark abhängig vom lnfusionsregime [ 14]. Letzterer besteht in einer nur fraglich nachweisbaren Abnahme des funktionellen, also an Austauschvorgängen teilnehmenden Anteils des Extrazellulärraumes [99] und soll im Folgenden nicht näher betrachtet werden. Insgesamt ist der „Dritte Raum" in der Literatur nur vage definiert und damit schwer fassbar. Offensichtlich verschwindet der Großteil der Flüssigkeit, die „perioperativ in den Dritten Raum verloren wird", ganz einfach im Interstitium. Wir werden den 6

Terminus „Dritter Raum" daher an dieser Stelle verlassen und uns im Folgenden ausschließlich auf die Fakten konzentrieren. Quantitative Fakten zum interstitiellen Raum Durch direkte Blutvolumenmessungen konnte belegt werden, dass es während großer Baucheingriffe oft zu einem zunächst unerkiärlichen Verlust von fast 4 1 Flüssigkeit aus dem Kreislauf kommt (Abbildung 1) [84]. Wie wir zuvor gesehen haben, kommt die an dieser Stelle oft strapazierte, aber quantitativ zu vernachlässigende Perspiratio insensibilis als „Übeltäter" nicht in Frage. Auch ein während großer Operationen regelhaft notierter Gewichtszuwachs zwischen 3 und 6 kg [21, 58, 72] deutet an, dass diese „verschwundene" Flüssigkeit noch im Körper sein muss. Offensichtlich hat hier ein Standardinfusionsregime zu einem interstitiellen Ödem von 41 geführt [84] . Die Literatur enthält darüber hinaus viele Hinweise, dass im Rahmen eines perioperativen Shiftes nach extravasal nicht nur Flüssigkeit, sondern auch Protein in relevantem Umfang die vaskuläre Barriere überquert [6, 80, 82, 107]. Aber auch unter „Normalbedingungen" scheinen sich die Proteinkonzentrationen in Kreislauf und Interstitium nicht nennenswert zu unterscheiden [1, 11, 45, 83, 85, 86]. 8000

6000

4000

2000 1 Ausfuhr (ml)

0 u, C Q)

Q)

-~ E

unsichtbar verlorenes Volumen (ml)

Einfuhr (ml)

... - E aJ :::, -

-2000

~~-

,a,~

0::

4000 1 -6000

1D

perioperativer Aüssigkeitsumsatz

J

Abbildung 1: Volumenstatus während großen chirurgischen Eingriffen unter einem „Standardinfusionsregime" (n = 13 , Blutvolumina per Double-Tracer-Technik direkt gemessen, Einfuhr = infundierte Kristalloide und Kolloide, Ausfuhr = Urinproduktion und Blutverlust). Es konnte ein perioperativer Verlust von annähernd 4 Litern Flüssigkeit aus dem Kreislauf notiert werden [82].

Wie aber ist dies möglich, wo doch die vaskuläre Barriere, erklärt nach dem allgemein anerkannten Prinzip von Starling, nur dann funktionieren kann, wenn ein ausgeprägter kolloidosmotischer Konzentrationsgradient Flüssigkeit im Gefäßsystem zurückhält (Abbildung 2) [50, 94]? Warum und wann kommt es zu diesem Shift in den interstitiellen Raum und damit zum Zusammenbruch dieser Barriere? Perioperative Pathophysiologie der vaskulären Barriere Schon seit langer Zeit ist bekannt, dass die endotheliale Oberfläche mit einer Glykokalyx ausgekleidet ist [59]. Ihre tatsächliche Ausdehnung in vivo jedoch blieb der Eletronenmikroskopie lange Zeit verborgen, jede herkömmliche Fixierungstechnik zerstört sie 7

hydrostatischer Druck: niedrig onkotischer Druck: niedrig ' l

T

c__

,

, hydrostatischer Druck: hoch onkotischer Druck: hoch

Intravasal raum C

Endothelzelle

Interstitium Abbildung 2: Die Formel nach Starling erklärt die Gefäßbarriere über einen kolloidosmotischen Gradienten zwischen dem intravasalen und dem interstitiellen Raum: F = Lp ((PG - Pi) - o(1r.c;-1t1)) F Filtrationsrate; Lp hydraulische Leitfähigkeit der Gefäßwand; Pa - P, hydrostatische Druckdifferenz zwischen dem Gefäßlumen [G] und dem Interstitium [I]; 1f 65 mm Hg; ZVD 10 - 14 mm Hg) 6 % HES 70/0,:5, 6 % HES 20010:S sowie SC-GEL 35 erhielten. Bei weitgehend vergleichbaren Volumina der Kolloide wurden keine signifikanten Unterschiede mitgeteilt. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Haisch et al. [52], die bei Patienten mit großen abdominalchirurgischen Eingriffen den Volumenersatz mit 6 % HES 130/0,4 und 4 % SC-GEL 30 bei einem Zielwert des ZVD von 10 - 14 mm Hg verglichen. Es wurden mittlere Volumina von 2.830 ml Gelatine- und 2.430 ml HES-Lösung benötigt und erneut kein signifikanter Unterschied mitgeteilt. Auch Innerhofer et al. [63] benötigten bei Patienten mit Kniegelenkersatz bei Zufuhr von 6 % HES 200/0,5 und 4 % SC-GEL 30 insgesamt vergleichbare Infusionsmengen. Diese Befunde wurden durch eine weitere Arbeitsgruppe bestätigt, die bei kardiochirurgischen Patienten einen vergleichbaren Volumeneffekt von 3:S % HS-GEL und 6 % HES 200/0,5 [142] bzw. von 6 % HES 130/0,4 und 4 % SC-GEL 30 [143] fanden.

Über diese vorwiegend intraoperativ gewonnenen Ergebnisse hinaus liegen auch einige Studien zum Volumeneffekt der Kolloide bei Sepsis vor. • Emest et al. [41] benötigten bei septischen Patienten zur Erzielung eines PAOP von 15 mm Hg doppelt soviel NaCl 0,9 % wie 5 % HA. NaCl 0,9 % erhöhte den EZR um das infundierte Volumen, wobei etwa 21 % im IVR bleiben und der größere Teil in das Interstitium gelangte. 5 % HA verteilte sich dagegen gleichmäßig auf IVR und Interstitium - was die Schrankenstörung belegt - und erhöhte den EZR um das Doppelte des zugeführten Volumens. Dieser auffällige Befund wurde von den Autoren als Abstrom aus dem IZR gedeutet. Insgesamt war der intravasale Volumeneffekt von 5 % HA trotz des offenkundigen Kapillarlecks größer als der des Kristalloids. • Marx et al. [101] fanden im Sepsismodell des Schweins im Vergleich von 4 % SC-GEL, 8 % SC-GEL, 6 % HES 200/0,5 und Ringer-Laktat in der KristalloidGruppe einen starken Rückgang des Plasmavolumens um 46 %, während das Plasmavolumen in der HES-Gruppe erhalten blieb und in den Gruppen mit 4 % SC-GEL und 8 % SC-GEL um 4 % bzw. 23 % anstieg. Der KOD stieg in den Kolloid-Gruppen im Unterschied zum Rückgang in der Kristalloid-Gruppe - an. Die Verschwinderate für HA aus dem IVR nahm in allen Gruppen deutlich zu, was das Kapillarleck beweist. Trotz des Kapillarlecks konnte in diesem Modell der KOD und das intravasale Volumen durch die zugeführten Kolloide erhalten bzw. gesteigert werden, was den zumindest teilweisen Verbleib der künstlichen Kolloide im IVR belegt. • Wiederum im Sepsismodell des Schweins [102] wurde dann im Vergleich von 6 % HES 200/0,5 und 6 % HES 130/0,42 der Albuminverlust aus dem IVR durch 6 % HES 130/0,42 stärker vermindert als durch 6 % HES 200/0,5. Beide Kolloide stabilisierten das Plasmavolumen und den KOD, was wiederum für ihren zumindest teilweisen intravasalen Verbleib spricht.

Klinische Empfehlungen Gefäßzugänge und Kontrolle der Volumentherapie •

Leistungsfähige Gefäßzugänge sind Voraussetzung einer suffizienten Volumenzufuhr. Zur präklinischen Versorgung von Patienten im manifesten hypovolämischen Schock sind mindestens zwei großlumige Venenzugänge erforderlich. Es werden Venen an den oberen Extremitäten, die V. jugularis extema oder ggf. auch die V. femoralis punktiert, die eine ausreichende Flussrate gewährleisten. 43







Zu den vorrangigen Maßnahmen bei der klinischen Erstversorgung [5] gehört die Anlage eines Mehrlumen-ZVK mit hoher Flussrate (z.B. Trilumenkatheter mit 2 x 12 G und 1 x 16 G), der eine adäquate Volumenzufuhr und darüber hinaus die Bestimmung des ZVD und der zentralvenösen sO2 erlaubt. Eine invasive arterielle Druckmessung zur Schlag-zu-Schlag-Überwachung des Kreislaufs und (ggf. wiederholten) arteriellen BGA wird innerklinisch so früh wie möglich angelegt, ohne dass die Arterienpunktion die Versorgung des Patienten wesentlich verzögern darf. Ein Schockzustand wird durch die arterielle Messung nicht gebessert und muss kausal angegangen werden. Atmungsabhängige Schwankungen der arteriellen Druckkurve weisen auf einen Volumenmangel hin (Volumenmangelkurve; Abb. 5). Auch bei hohem Handlungsdruck ist auf die Einhaltung der hygienischen Grundregeln zu achten. Dies gilt für periphervenöse Zugänge (korrekte Hautdesinfektion, Abklebung und Fixierung, blutfreie Verschraubung der Verbindungen) und insbesondere für invasivere Maßnahmen wie die Anlage eines ZVK in Seldinger-Technik. Schockpatienten sind potentiell immungeschwächt und dürfen keiner vermeidbaren Antigenlast ausgesetzt werden.

Neben der klinischen Beobachtung des Patienten, dem Verhalten von Blutdruck und Herzfrequenz sowie wiederholten Rb-Bestimmungen dient zunächst der ZVD zur Abschätzung des intravasalen Volumenstatus sowie der rechtsventrikulären Vorlast und Compliance. Der klinische Zielwert beträgt 5 - 10 mm Hg; zur Optimierung des HZV (z.B. bei chronischer Rechtsherzbelastung) können höhere Werte erforderlich sein. Eine erweiterte Kreislaufüberwachung mittels TTE, TEE, Pulskonturanalyse oder Pulmonalarterienkatheter ist im Rahmen der Volumenersatztherapie nur in Ausnahmesituationen erforderlich, wenn durch adäqaute Volumenzufuhr keine Stabilisierung erreicht werden kann.

Akute Hämodilution und kritische Interventionsgrenzen Die Transportkapazität des Kreislaufs für Sauerstoff hängt hauptsächlich von der aktuellen Rb-Konzentration und dem daran chemisch gebundenen Sauerstoff, dem physikalisch gelösten Sauerstoff und dem HZV ab. Darüber hinaus sind Größe und Geschwindigkeit des Blutverlustes sowie die Kompensationsfähigkeit von Kreislauf und Atmung limitierend. Bei strikter Normovolämie kann das Sauerstoff-Angebot an die Gewebe in einem bestimmten Bereich auch ohne Zufuhr von Sauerstoff-Trägem gesichert werden; eine allgemeine Erhöhung des Sauerstoff-Angebots durch Hämodilution ist jedoch nicht möglich [ 161]. Der entscheidende Ansatz in der Therapie des hypovolärnischen Schocks ist daher zunächst die Sicherung der Normovolämie durch rasche Zufuhr von Volumenersatzmitteln im Sinne der kontrollierten Hämodilution, um eine adäquate Steigerung des HZV und damit ein ausreichendes Sauerstoff-Angebot an die Gewebe zu ermöglichen. Eine im Ausnahmefall sinnvolle permissive Hypotension bei unstillbarer Blutung [1, 5) wird hier nicht näher erörtert. Rechnerisch kann ein Hb-Wert von 1,5 g/dl bei intaktem Myokard, physiologischer Koronarreserve, Normovolämie und Hyperoxie (FiO 2 1,0) noch kompensiert werden [162) . Limitierend ist die Sauerstoff-Versorgung des Myokards und nicht die des ZNS, da das koronare Gefäßbett die größte arteriovenöse Sauerstoff-Differenz (avDO 2) aufweist. Bei extremer Hämodilution wird neben dem verbleibenden Sauerstoff-Angebot auch die Dilutionsazidose und drohende Laktazidose bedeutsam - eine Azidose senkt die 44

Abb. 5: Atmungsabhängig undulierende arterielle Druckkurve bei Volumenmangel (Volumenmangelkurve).

SVR und damit den arteriellen Druck und beeinträchtigt die Katecholamin-Wirkung [162] . Im Einzelfall ist die Kompensationsfähigkeit des Organismus auch bei Normovolämie von vielen zusätzlichen Faktoren abhängig, so dass die Definition kritischer Interventionsgrenzen für die Zufuhr von Blutkomponenten schwierig ist. Die Zufuhr von Blutkomponenten soll jedoch restriktiv erfolgen [120], wobei neben der Beachtung bestimmter Laborparameter strikte Normovolämie vorausgesetzt wird und Vorerkrankungen wie eingeschränkte kardiopulmonale Reserve, stenosierende Gefäßprozesse oder COPD zu beachten sind. Insgesamt werden für Patienten im hypovolämischen Schock folgende Interventionsgrenzen und Maßnahmen empfohlen [ 1, 112]: • Bei einem Hb-Wert < 7 g/dl ist die unverzügliche Transfusion von ErythrozytenKonzentraten (EK) - zur Zufuhr von Sauerstoff-Trägem - erforderlich, während bei einem Hb-Wert > 10 g/dl die Transfusion nur in Ausnahmefällen indiziert ist. Stets sind engmaschige Kontrollen erforderlich und die klinische Gesamtsituation mit ihrer Blutungsdynamik (unversorgte Blutungsquelle, erwartbare Blutverluste) vorausschauend zu beachten. • Die Transfusion von Gefrierplasma (GFP) - zur Substitution der plasmatischen Gerinnungsfaktoren - ist bei einer Restaktivität dieser Faktoren von 30 - 40 % erforderlich. Als Anhalt können eine Verlängerung der PTT auf das l ,5fache des Normalwerts und ein Abfall des Quick-Werts (bzw. Anstieg der INR), der AT IIIAktivität und der Fibrinogen-Konzentration sowie der Thrombozyten-Zahl um mehr als 50 % dienen. Da dieser Grenzbereich - insbesondere bei Massivtransfusion, vorbestehender Antikoagulation sowie anderweitiger manifester Blutungsneigung schwer zu erfassen ist, wird klinisch unter den genannten Umständen häufig nach 4 EK eine Einheit GFP transfundiert und die Relation bei anhaltender Blutung bis auf 1 : l gesteigert. Lyophilisiertes Humanplasma ermöglicht eine rasche Initialtherapie, weil es nicht aufgetaut werden muss. • Die Indikation zur Transfusion von Thrombozyten-Konzentraten (TK) - zur Substitution der zellulären Gerinnungskomponente - hängt von der Ursache des 45







Thrombozyten-Mangels bzw. der Thrombozyten-Funktionsstörung ab. Bei manifester Blutung oder Gerinnungsstörung ist bei einer Thrombozyten-Zahl < 50.000/µ1 die Transfusion von TK zwingend indiziert, während Konzentrationen> 100.000/µl regelmäßig keine Substitution erfordern. Eine Vormedikation mit ThrombozytenAggregationshemmern, die klinische Gesamtsituation und logistische Aspekte können eine frühere Transfusion erfordern. Eine Verdünnungskoagulopathie ist keine Indikation zur isolierten Zufuhr von AT III , da die pro- und antikoagulatorischen Faktoren durch Zufuhr von GFP ausgewogen ersetzt werden können. Ausnahmen sind Patienten mit - sehr seltenem - angeborenem AT III-Mangel sowie eine gegenüber dem Quick-Wert deutlich verminderte AT IIIAktivität. Rekombinanter F Vlla dient in Ausnahmesituationen mit vital bedrohlicher diffuser Blutung - und nach Herstellung von Normothermie, pH-Ausgleich und Sicherung eines ausreichenden plasmatischen Gerinnungspotentials - als Ultima Ratio. Die Wirkung erfolgt im Komplex mit dem Tissue factor (F III, Gewebsthromboplastin) und damit bevorzugt am Ort der Gewebeläsion; als wichtige Nebenwirkung sind koronare und zerebrale Thrombosen beschrieben. Zum Erhalt der Gerinnungsfunktion ist vorrangig auf Normothermie und AzidoseAusgleich zu achten - diese Parameter werden in ihren negativen Auswirkungen auf die Gerinnung häufig unterschätzt.

Das Idealkonzept

Die genannten Interventionsgrenzen können zu einem didaktischen Idealkonzept mit Zuordnung der einzusetzenden Substanzen zusammengefügt werden: • Volumenverluste bis etwa 30 % erfordern ausschließlich die Aufrechterhaltung der Normovolämie durch Zufuhr von künstlichen Kolloiden sowie Kristalloiden. • Akute Volumenverluste ab etwa 40 % (entsprechend etwa 9 g/dl Hb) erfordern zusätzlich die Substitution der Sauerstoffträger durch Zufuhr von EK. • Akute Volumenverluste über 60 - 70 % erfordern darüber hinaus die Substitution der plasmatischen Gerinnungsfaktoren durch GFP oder lyophilisiertes Humanplasma. • Akute Volumenverluste über 80 % erfordern letztlich auch die Substitution der zellulären Gerinnungskomponente durch Zufuhr von TK.

Differenzialindikationen der Flüssigkeits- und Volumenersatzmittel

All~emeine Empfehlungen Insbesondere bei Zufuhr höherer Volumina - etwa bei septischen Patienten und Schwerbrandverletzten - sollen nur balancierte VEL mit Zusatz von Azetat und ggf. zusätzlich von Malat verwendet werden, die sowohl eine Chlorid-Überladung mit negativen Auswirkungen auf die Nierenfunktion als auch eine Dilutionsazidose vermeiden. Sowohl Ringer-Laktat-Lösung als auch konventionelle Elektrolytlösungen und Trägerlösungen für Kolloide sollen allenfalls noch bei geringem Infusionsbedarf verwendet und insgesamt besser vermieden werden. Allgemeines Ziel der Kreislauftherapie [1] ist ein SAP> 90 mm Hg bei einer HR < 100/min. Bei Patienten mit SHT ist zur Sicherung eines ausreichenden CPP ein SAP > 120 mm Hg anzustreben. Bei permissiver Hypotension ist ein SAP von 70 - 80 mm Hg (oder ein MAP > 50 mm Hg) anzustreben. 46

Hämorrha&ischer und traumatisch-hämorrhai:ischer Schock Bei Patienten im hämorrhagischen und traumatisch-hämorrhagischen Schock steht die unverzügliche Wiederherstellung eines ausreichenden intravasalen Volumens im Vordergrund, sofern nicht bei unstillbarer Blutung die permissive Hypotension indiziert ist [1, 5]. •





Der Volumenersatz erfolgt vorrangig mit künstlichen Kolloiden, weil diese im Vergleich zu Kristalloiden über eine längere intravasale Verweildauer mit höherer Volumenwirkung verfügen. Besonders geeignet sind 10 % HES 130/0,42 in balancierter VEL oder auch 6 % HES 130/0,4, weil ihre MVW die schnelle Auffüllung des Kreislaufs ermöglicht und negative Gerinnungseffekte wegen der hohen HEMD (3 g/kg KG/d) klinisch kaum relevant werden. Bei Erreichen der HEMD von HES 130 ist bei Patienten mit akutem Volumenmangel regelmäßig der Einsatz von GFP oder lyophilisiertem Humanplasma indiziert. Darüber hinaus kann ein nach Erreichen der HEMD von HES 130 anhaltendes Volumendefizit durch Zufuhr von Gelatine-Lösungen ersetzt werden, sofern nicht bereits die Indikation zur Transfusion von EK gegeben ist. Ältere HES-Präparationen sollen wegen der höheren Gerinnungseffekte möglichst vermieden werden. Die negativen renalen Effekte von HES treten in der initialen Behandlungsphase des hämorrhagischen und traumatischhämorragischen Schocks in den Hintergrund, weil es zunächst um die schnellstmögliche Wiederherstellung des renalen Perfusionsdrucks bei anderweitig meist noch nicht bedrohter Nierenfunktion geht. Bei schwerster Hypotonie ist die initiale Zufuhr hyperosmolarer bzw. hyperosmolarhyperonkotischer Lösungen indiziert, an die sich unverzüglich die Infusion kolloidaler und kristalloider Lösungen anschließen muss. Kristalloide - in Form balancierter VEL - werden nach initialer Auffüllung des Kreislaufs mit Kolloiden im weiteren Verlauf etwa im Verhältnis 1 : l zu den Kolloiden eingesetzt, um das interstitielle Defizit infolge des Flüssigkeitsabstroms in den IVR auszugleichen. Ein ausschließlicher Volumenersatz mit Kristalloiden ist wegen der Gefahr der interstitiellen Überwässerung mit den entsprechenden Folgen für die allgemeine Gewebeoxygenierung und insbesondere für den pulmonalen Gasaustausch und den intraabdominellen Druck abzulehnen.

Hypovolämischer Schock im eni:eren Sinne Bei Patienten mit hypovolämischem Schock im engeren Sinne und noch ausreichender Kreislauffunktion - z. B. erhaltener Ansprechbarkeit - sind protrahiert entstandene Volumendefizite sukzessive und nicht schlagartig zu ersetzen [l]. •



• •

Der Flüssigkeits- und Volumenersatz erfolgt durch vorsichtige Zufuhr von balancierten VEL. Insbesondere bei alten Patienten mit eingeschränker kardialer Reserve besteht die Gefahr der intravasalen Volumenüberladung. Kolloidale Lösungen kommen allenfalls zur initialen Therapie einer schwersten Hypotonie zum Einsatz. Da es sich um Patienten mit bedrohter Nierenfunktion handelt, ist eine Gelatine-Lösung zu verwenden. Die Verwendung hyperosmolarer bzw. hyperosmolar-hyperonkotischer Lösungen ist wegen des vornehmlich interstitiellen Flüssigkeitsdefizits kontraindiziert. Wegen der häufigen koexistenten Elektrolyt-Störungen ist eine engmaschige Kontrolle dieser Parameter erforderlich.

47

Traumatisch-hypovolämischer Schock Bei Patienten mit ausgedehnten Verbrennungen oder Verätzungen und einer VKOF > 10 % besteht grundsätzlich Schockgefahr [ 1]. Im betroffenen Areal ist der Plasmaverlust in das Interstitium in den ersten 8 h nach dem Trauma am stärksten und nimmt in den folgenden 8 - 24 hab. Ab 30 - 40 % VKOF tritt außerhalb der nicht direkt betroffenen Areale ein generalisiertes eiweißarmes Ödem als Folge eines SIRS mit Abfall des KOD auf. Die Berechnung des Volumenbedarfs mittels Parkland-Formel nach Baxter (4 m1 x kg KG x % VKOF/24 h) ist insbesondere für Katastrophensituationen geeignet, wobei nur zweit- und drittgradige Verbrennungen einbezogen und die Hälfte der errechneten Menge in den ersten 8 h nach dem Trauma infundiert werden soll. Das errechnete Volumen stellt eine Schätzung zur Einleitung der Schocktherapie dar, die sich in der Folge am tatsächlichen Bedarf (Urinproduktion, Hämatokrit) orientieren muss. Infolge der sympathoadrenergen Reaktion auf den Volumenmangel und die frühzeitige Mediatoren-Freisetzung sind SAP, HR und ZVD keine verlässlichen Indikatoren des Volumenstatus. Die HR liegt trotz ausreichender Vorlast häufig über 100/min, während - insbesondere bei jungen Patienten - der SAP auch bei Volumenmangel erhöht sein kann. • Die initiale Volumensubstitution des eigentlichen Verbrennungstraumas erfolgt mit balancierten VEL, die als mobilisierbare Base Azetat und ggf. zusätzlich Malat enthalten. • Beginnend etwa 8 h nach dem Trauma wird eine Anhebung des KOD angestrebt, die neben der weiteren hämodynamischen Stabilisierung zur Rückresorption der Verbrennungsödeme beitragen soll. Dazu wird vorwiegend 20 % HA benutzt, um damit gleichzeitig den Albuminverlust über die Verbrennungswunde [90, 150] zu ersetzen. Dieses Vorgehen ist jedoch ebenso wie der Verzicht auf den Einsatz künstlicher Kolloide nicht validiert. Bei Brandverletzten mit schwerwiegenden Begleitverletzungen und entsprechenden Volumenverlusten erfolgt die initiale Kreislaufstabilisierung mit künstlichen Kolloiden sowie ggf. mit hyperosmolaren bzw. hyperosmolar-hyperonkotischen Lösungen wie bei Patienten mit traumatisch-hämorrhagischem Schock. Septischer Schock Wesentliche Ursachen des septischen Schock [1] sind der Flüssigkeitsverlust in das Interstitium infolge erhöhter Gefäßpermeabilität (Kapillarleck), die periphere Vasodilatation mit verminderter SVR bei sinkender kardialer lnotropie sowie zusätzliche Volumenverluste in den dritten Raum (z. B. Ileus). Es besteht ein ausgeprägter intravasaler Volumenmangel, der in der Akutphase einen Volumenersatz von mehreren Litern erfordern kann. Primäres Ziel der Kreislauftherapie des septischen Schocks ist die Wiederherstellung eines ausreichenden zirkulierenden Blutvolumens, um eine suffiziente kardiale Vorlast mit adäquatem HZV zu ermöglichen. Vasokonstriktorische (Noradrenalin) und positiv-inotrope Substanzen (Dobutamin, ggf. Adrenalin) werden erst eingesetzt, wenn trotz optimierter Vorlast ein unzureichender MAP (unterer Grenzwert etwa 65 mm Hg) persistiert.

48

Die Art des Volumenersatzes ist umstritten. Kolloide können infolge des Kapillarlecks in das Interstitium übertreten, dort Flüssigkeit binden und so das interstitielle Ödem verstärken, während Kristalloide sich a priori gleichmäßig auf IVR und Interstitium verteilen. • Für den Volumenersatz beim septischen Schock mit Kapillarleck wird der Einsatz balancierter VEL empfohlen; die Zufuhr soll so lange erfolgen, wie sich das HZV damit steigern lässt. • Bei vital bedrohlicher Hypotonie ist initial auch die rasche Zufuhr von GelatineLösungen oder auch von hyperosmolar bzw. hyperosmolar-hyperonkotischen Lösungen indiziert. • HA hat keinen Einfluss auf die Kapillarpermeabilität [99] und ist vor allem aus Kostengründen nicht indiziert. Wegen der negativen Niereneffekte ist der Einsatz von HES bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock zu vermeiden. Sonstige Schockformen

• Bei Patienten mit kardialem Schock [l] gilt ein ZVD < 10 mm Hg (ggf. ein PAOP
75 Jahre) und jüngeren Patienten(< 40 Jahre) sowie Frauen und Diabetikern ist die Schmerzsymptomatik häufig atypisch. Das Risikoprofil des Patienten (Diabetes, Hypertonie, Hyperlipoproteinämie, Nikotinabusus, positive Familienanamnese, Geschlecht, Lebensalter und Niereninsuffizienz) sowie vorausgegangene Ereignisse (Z.n. Koronarintervention bzw. aortokoronarer Bypassoperation) erhöhen die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer KHK und damit auch für ein ACS (16). Differenzialdiagnose des Thoraxschmerzes Vom ACS lassen sich anamnestisch eine pulmonale Erkrankung wie z.B. eine Pneumonie oder Pleuropneumonie mit atemabhängigen Schmerzen, Fieber, Husten und Auswurf, oder z.B. eine akute Lungenembolie mit plötzlich auftretender Luftnot, atemabhängigen Schmerzen und Herzrasen unterscheiden. Bewegungsabhängige Schmerzen, die durch eine Klopf- oder Druckschmerzhaftigkeit im Thorax- und Wirbelsäulenbereich auslösbar sind, weisen auf eine Erkrankung des Bewegungsapparates hin. Differenzialdiagnostisch schwieriger ist die Abgrenzung einer gastro-intestinalen Erkrankung (Refluxösophagitis, Gastritis, Ulcus ventriculi oder duodeni, Cholezystitis), da insbesondere der Hinterwandinfarkt mit seiner Schmerzausstrahlung in den Oberund Mittelbauch sowie gegebenenfalls auch in den Rücken eine ähnliche Beschwerdesymptomatik auslösen kann. Thorakaler Vernichtungsschmerz mit teils dynamischer Schmerzausbreitung und möglicher „Zweizeitigkeit" (erneut auftretende Schmerzsymptomatik nach fast schmerzfreiem Intervall) lässt differenzialdiagnostisch an eine akute Aortendissektion denken (78) (siehe Tabelle 1).



• •





Kardiovaskuläre Erkrankungen: - (Tachykarde) Rhythmusstörung - Perimyokarditis, Myokarditis - akute Aortendissektion Pulmonale Erkrankungen: - Lungenembolie, Pleuritis, Pleuropneumonie, Pneumothorax Nerven- und Skeletterkrankung: - HWS- und BWS- Syndrom, Thoraxtrauma, Interkostalneuralgie, Tietze-Syndrom (kosto-chondrale Gelenkschmerzen), Zoster-Neuralgie, Myositis Gastrointestinale Erkrankungen: - Refluxösophagitis, Hiatushernie, akute Gastritis, Ulkus ventrikuli/duodeni, Cholezystitis, Cholangitis, Pankreatitis Vegetative- und psychische Erkrankung: - Psychovegetative Dystonie, Panikattacken, Palpitationen

Tabelle 1: Differenzialdiagnose zum ACS [nach 38].

Bei der klinischen Untersuchung gibt es keinen für die Angina pectoris typischen pathologischen Befund. Die körperliche Untersuchung dient vor allem der Abgrenzung des ACS gegenüber anderen relevanten Ursachen. Beim Nachweis eines systolischen oder systolisch-diastolischen „schabenden Reibegeräusches" sternalnah, muss differenzialdiagnostisch zum ACS an eine akute Perimyokarditis gedacht werden. Bei einseitig abgeschwächtem Atemgeräusch und hypersonorem Klopfschall in Verbindung mit plötzlicher Atemnot und Thoraxschmerzen ist ein Pneumothorax in Erwägung zu ziehen. Zusätzlich erlaubt die körperliche Untersuchung die Erfassung einer arteriellen 111

Hypertonie bzw. den Nachweis von Zeichen einer Hypercholesterinämie (Xanthome, Xanthelasmen).

Elektrokardiographie Eine ganz zentrale Stellung, sowohl bei der Diagnosefindung als auch bei der Risikostratifizierung, nimmt beim ACS das EKG ein. Daher sollte innerhalb von 10 Minuten prästationär durch den Notarzt und stationär in der Notaufnahme ein 12-Kanal-EKG geschrieben werden. Wiederholungen sind nach jeder Schmerzepisode sowie zur Kontrolle nach 6- 12 Stunden notwendig. Das 12-Kanal-EKG ist die Schlüsseluntersuchung für die Bewertung des ACS. Bei der EKG-Beurteilung des akuten Koronarsyndroms ohne ST-Hebung hat eine STStreckensenkung von> 0.1 mV in zwei oder mehr Ableitungen den höchsten diagnostischen und prognostischen Stellenwert [19, 49, 71, 81]. Weniger Spezifität und eine geringere prognostische Bedeutung besitzt eine T-Wellen Inversion von > 0.1 mV [37]. Gelegentlich können tief negative T-Wellen in den Brustwandableitungen einen Hinweis auf eine proximale Stenose des RIVA oder sogar auf eine hochgradige Hauptstammstenose geben. Klassische Befunde eines ST-Streckenhebungsinfarktes sind ST-Streckenelevationen von~ 0.1 mV in mindestens zwei zusammenhängenden Extremitätenableitungen oder von~ 0.2 mV in mindestens zwei zusammenhängenden Brustwandableitungen. Der rein posteriore Myokardinfarkt kann im 12-Kanal-EKG mit den üblichen Brustwandableitungen nur durch das indirekte Zeichen der spiegelbildlichen ST-Streckensenkung in den präkordialen Ableitungen VI bis V3 erkannt werden. Eine ergänzende Erweiterung der Wilson-Ableitungen nach lateral und dorsal (V7 - V9) kann die ST-Elevation im posterioren Bereich nachweisen. Bei elektrokardiographischem Verdacht auf einen Hinterwandinfarkt ergibt eine signifikante ST-Elevation in r V4 (rechtsventrikuläre Ableitung Wilson V4) den Nachweis einer rechtsventrikulären Beteiligung. Die Indikation zur Reperfusionstherapie besteht zum einen beim Nachweis der beschriebenen ST-Streckenhebungen, zum anderen beim (vermutlich neu aufgetretenem) Linksschenkelblock mit infarkttypischer Angina pectoris [ 15 ,28]. Mit der Größe der vom Untergang bedrohten Muskelmasse korreliert das Ausmaß der ST-Streckenhebungen und die Anzahl der von der ST-Streckenhebung betroffenen Ableitungen. Nach einer Lyse-Therapie bzw. einer perkutanen Intervention erlaubt der Verlauf (nach 45 - 60 Minuten) der initialen ST-Streckenhebungen, Aussagen zum Erfolg der Therapie und damit zur Prognose des Patienten [76]. Die prähospitale bzw. prästationäre EKG-Beurteilung durch einen qualifizierten Arzt hat beim akuten Koronarsyndrom oberste Priorität, da das EKG die wichtigste Grundlage aller weiteren Behandlungsentscheidungen darstellt. Wichtig ist, dass ein unauffälliges EKG ein ACS nicht ausschließt.

Enzymdiagnostik (biochemische Marker) Enzym-/Markerbestimmungen stellen beim akuten Koronarsyndrom einen weiteren Baustein in der Diagnostik dar. Der Nachweis einer Troponinerhöhung im Serum 112

Patient mit klinischen Zeichen und Symptomen eines ACS

r~I__

1_2_-K_an_al_-E_kg_~l7

ST-Hebung

Andere EKG-Veränderungen (oder normales EKG)

~

0, 1 mV In mindestens 2 zusammenhängenden Extremitätenableltungen und/oder :a 0,2 mV In mindestens 2 zusammenhängenden Brustwandableitungen oder {vennutlich) neuer Linksschenkelblock

STEMI

Hohes Risiko

Niedriges Risiko

ST-streckensenkung > 0.1 mV Hämodynamische Instabilität Rhythmusinstabilität Refraktäre Angina

Keine Hochrisikomerkmale

Diabetes mellib.ls

Reperfusionstherapie

NSTEMI, wenn Troponin erhöht

Instabile AP, wenn Tropon in negativ bleibt

Abb.1: Klassifikation des akuten Koronarsyndroms [nach 6).

als Hinweis auf einen Untergang von Herzmuskelzellen, nimmt eine zentrale Position in der Diagnostik und in der Prognosebeurteilung bei Patienten mit ACS ein (siehe Abbildung 1). Die Kreatinin-Kinase (CK und das Isoenzym CK-MB) stellen ebenfalls Marker der Zellnekrose dar [72], Troponin T und Troponin I sind jedoch hinsichtlich Sensitivität und Spezifität überlegen [31, 48]. Um bei Patienten mit IAP eine Troponinkonversion, d.h. den Übergang von troponinnegativen zu troponinpositiven Befunden und damit auch den Übergang von der IAP zum NSTEMI zu erfassen, muss eine Troponinbestimmung beim ersten Patientenkontakt und eine zweite Messung im Zeitfenster 6 - 12 Stunden nach der Aufnahme erfolgen. Infarktunabhängige Erhöhungen von Troponin T und I finden sich bei Patienten mit Niereninsuffizienz (Kreatinin > 2,5 mg/dl) und Myokardzellschädigungen anderer Genese wie z.B.: Myokarditis, Lungenembolie, dekompensierte Herzinsuffizienz, hypertensive Krise, Contusio cordis, Transplantatabstoßung etc. [32, 53, 57, 77]. Bei Patienten mit einem ST-Streckenhebungsinfarkt im EKG und typischer Angina pectoris darf wegen der zeitlichen Dringlichkeit von Reperfusionsmaßnahmen das Ergebnis einer Enzymdiagnostik, die frühestens 2 Stunden nach Infarktbeginn positiv wird, nicht abgewartet werden. Im Verlauf eines Infarktes kann die Messung der CK-MB Werte hilfreich sein, um einen Rezidiv- oder Zweitinfarkt zu erkennen. Auch die Infarktgröße lässt sich aus der max. CK/CK-MB abschätzen. Die traditionelle Definition des Herzinfarktes der WHO ist mehr als 20 Jahre alt [66]. Definiert wurde der Herzinfarkt durch das Auftreten von mindestens 2 der nachfolgend genannten 3 Charakteristika: typische Angina-pectoris-Beschwerden ST-Streckenhebungen im EKG pathologischer Anstieg kardialer Enzyme im Serum(> 2 x Normalwert). Herzinfarkt bedeutet heute irreversible Nekrose von Myokardzellen. Da die Freisetzung von Troponinen mit einer irreversiblen Zellnekrose gleichzusetzen ist, basiert die 113

neue lnfarktdefinition der ESC und ACC/ AHA Consensus Konferenz auf diesen neuen biochemischen Parametern. Gleichzeitig ist die Troponinbestimmung zur Identifikation von Patienten mit erhöhtem Komplikationsrisiko besonders hilfreich (86]. Zur definitiven Myokardinfarkdiagnose muss der positive Troponinnachweis (Hauptkriterium für die Diagnose eines Myokardinfarktes) mit mindestens einem der beiden nachgenannten Merkmale gekoppelt sein: - typische Angina pectoris oder - infarkttypische EKG-Veränderungen.

Andere diagnostische Verfahren Bildgebende Verfahren wie die Computertomographie oder kardiale Magnetresonanztomographie sind zur Koronardiagnostik und Risikostratefizierung beim akuten Koronarsyndrom derzeit nicht validiert und zur Routinediagnostik des Myokardinfarktes sicherlich nicht erforderlich. Die Echokardiographie kann zur Entscheidungsfindung hinzugezogen werden, indem sie zusätzlich diagnostische bzw. differenzialdiagnostische Informationen liefern kann, wenn sie zeitnah und qualifiziert zur Verfügung steht. Inbesondere bei Diskrepanzen zwischen EKG und Klinik kann eine echokardiographische Untersuchung mit dem Nachweis oder Ausschluss von Wandbewegungsstörungen hilfreich sein. Beim nicht beschwerdefreien Patienten ist das Belastungs-EKG kontraindiziert. Die Koronarangiographie ist nach wie vor der Gold-Standard der Diagnose und Schweregradbeurteilung der KHK. Die Indikation zur perkutanen oder operativen Revaskularisation basiert auf koronarangiographischen Befunden.

Risikostratifizierung Grundlage einer rationalen Therapie des akuten Koronarsyndroms muss die Risikostratifizierung mittels einer gezielten Diagnostik sein. Weist die Anamnese, das Vorhandensein von Risikofaktoren und die klinische Untersuchung auf eine koronare Ursache der Symptomatik hin, ist die erste diagnostische Maßnahme, sowohl im Notarzteinsatz als auch in der Notaufnahme, die Anfertigung eines 12-Kanal-EKG's. Wenn das EKG typische ST-Streckenhebungen zeigt, oder ein vermutlich neu aufgetretener Linksschenkelblock mit infarkttypischer Symptomatik besteht, sollte in Abhängigkeit von lokalen Gegebenheiten, eine sofortige Reperfusionstherapie angestrebt werden. Wenn sich im initialen EKG keine ST-Streckenhebung zeigt, müssen biochemische Marker zur Risikostratifikation herangezogen werden. Der Troponin-Bestimmung kommt dabei heute unter den Risikoprädiktoren die größte Bedeutung zu. Neben der Troponinerhöhung charakterisieren ein - persistierender Thoraxschmerz - eine ST-Senkung(> 0.1 mV) im EKG - eine hämodynamische Instabilität (z.B. Schock) - eine Rhythmusinstabilität (Kammerflimmern, -flattern, VT) - und der Diabetes mellitus den Patienten mit einem deutlich erhöhten Risiko für Tod/Myokardinfarkt innerhalb von 30 Tagen [8]. 114

Da bei Patienten mit hohem Risiko (,,Hoch-Risiko"-Gruppe) eine erhöhte Gefahr für eine rasche Progression bis hin zum Herzinfarkt und Tod besteht, sollte bei diesen Patienten eine frühe invasive Abklärung und - bei entsprechender Indikation - auch eine interventionelle oder operative Revaskularisation möglichst sofort (< 2,5 Stunden) [60], spätestens aber innerhalb von 48 Stunden nach Schmerzbeginn erfolgen [11, 76]. Patienten ohne oben genannte Risikomerkmale (,,Niedrig-Risiko"-Gruppe) können nach wiederholt durchgeführtem 12-Kanal-EKG und Troponin-Kontrollen einer nichtinvasiven Diagnostik (z. B. Belastungstest) und einer konservativen Therapie zugeführt werden. Bei der Risikostratifizierung spielen folgende begleitenden Faktoren zusätzlich eine wichtige Rolle [5, 56, 70] - Alter < 65-70 Jahre - bereits bekannte KHK - stattgehabter Myokardinfarkt - frühere PCI oder Bypass-Operation - chronische Herzinsuffizienz - Lungenödem - neues Systolikum (Mitralklappeninsuffizienz) - Erhöhung der Entzündungsparameter - BNP in höheren Quartilen - Niereninsuffizienz. Basierend auf den oben aufgeführten Kriterien, können die Patienten mit ACS generell in 3 Risiko-Gruppen eingeteilt werden. Patienten mit ST-Streckenhebung bzw. neuem Linksschenkelblock (STEMI-Gruppe), Patienten ohne ST-Streckenhebung aber mit Troponin-Erhöhung (NSTEMI-Gruppe) und Patienten ohne ST-Streckenhebung und ohne Troponin-Erhöhung (Gruppe der instabilen Angina).

THERAPIE DES AKUTEN KORONARSYNDROMS

Ziele der Therapie des ACS sind -

Schmerzlinderung Verkürzung der Dauer des kompletten thrombotischen Gefäßverschlusses durch eine schnelle und lang anhaltende Wiedereröffnung des Infarktgefäßes Verhinderung von Thrombuswachstum und von Embolisationen beim inkompletten Gefäßverschluss Verhinderung eines größeren Myokardverlustes und damit Erhalt der linksventrikulären Funktion Beherrschung rhythmogener Komplikationen [52].

Erstmaßnahmen Zu den Erstmaßnahmen gehört ein sofortiges und kontinuierliches Rhythmusmonitoring, die frühest mögliche Ableitung eines kompletten 12-Kanal-EKG's, die Gabe von Sauerstoff über eine Nasensonde/Maske (4 - 8 Liter/min) und die Anlage einer peripheren Verweilkanüle. Bei unkompliziertem lnfarktverlauf sind zentral venöse Zugänge nicht indiziert. Zu den weiteren Erstmaßnahmen gehört die Herz-Lungen-Auskultation, die Blutdruckmessung und die Lagerung des Patienten mit 30° angehobenem Oberkörper [7] (siehe Tabelle 2). 115

-

Lagerung mit 30° angehobenem Oberkörper Herz-Lungen-Auskultation Peripher-venöser Zugang (keine i.m.- Injektion) RR-Messung 12-Kanal-EKG EKG-/Rhythmus-Monitoring

Tabelle 2: Erstmaßnahmen beim ACS [nach 38).

Akutbehandlung Die Beseitigung von ischämischen Brustschmerzen, die den myokardialen Sauerstoffbedarf erhöhen, ist ein kausales Behandlungsprinzip. Die Gabe von Nitraten (0.4 - 0.8 mg Glyceroltrinitrat als Spray oder als Zerbeißkapsel sublingual) stellt eine effektive Behandlung bei ischämischem Brustschmerz dar. Unter Blutdruckkontrolle kann die Dosis in Abständen von wenigen Minuten bei Bedarf mehrfach wiederholt werden. Da Glyceroltrinitrat eine Dilatation der venösen Kapazitätsgefäße, der Koronarien und in geringem Ausmaß auch der peripheren Arterien bewirkt, sind Nitro-Präparate besonders sinnvoll für Patienten mit akuter linksventrikulärer Insuffizienz. Kontraindiziert sind Nitro-Präparate bei systolischen Blutdruckwerten unter 90 mm Hg, insbesondere dann, wenn gleichzeitig eine Bradykardie bei höhergradiger SA- oder AV-Blockierung besteht. Der Einsatz von Nitraten ist ferner kontraindiziert beim akuten Hinterwandinfarkt mit V. a. eine rechtsventrikuläre Beteiligung, da unter diesen Bedingungen ein gravierender Abfall des Blutdruckes und der Herzauswurfleistung auftreten kann. Die Wirkung der "Akut-Nitrate" hält ca. 20 Minuten an und die Applikation kann im stationären Bereich intravenös erfolgen (1 - 6 mg/h z.B. bei schwerer Linksherzinsuffizienz) [7, 38]. Opiate, vor allem Morphin, sind bei nitrorefraktärem Schmerz in wiederholten Einzeldosen von 3 - 5 mg intravenös indiziert. Bis zur weitgehenden Schmerzfreiheit kann in Abständen von einigen Minuten eine wiederholte Gabe erfolgen. Da Morphin ebenso wie die Nitrate zu einer Dilatation der venösen Kapazitätsgefäße beiträgt, kann es bei Patienten mit Lungenstauung einen zusätzlichen Nutzen haben [7]. Morphin sollte in den genannten wiederholten Einzeldosen nur bei der gesicherten Diagnose eines STEMI verabreicht werden, da ansonsten eine Differenzialdiagnostik des Thoraxschmerzes (z.B. Aortendissektion) und eine weiterführende Risikostratifizierung erschwert bzw. nicht mehr möglich ist. Grundsätzlich zu unterlassen sind intramuskuläre Injektionen. Vagale Reaktion Unter einem erhöhten Vagotonus und in der Frühphase des Infarktes kann man Übelkeit, Erbrechen und symptomatische Bradykardien beobachten. Antiemetika wie Metoclopramid sind bei Übelkeit, aber auch bei morphinbedingtem Erbrechen indiziert. Mit kleinen Dosen von Atropin (z.B. 0.5 mg i.v.) können reaktive Sinusbradykardien therapiert werden [7]. Beta-Rezeptoren-Blocker Patienten mit ACS, die hämodynamisch stabil sind, sollten frühzeitig mit intravenösen Beta-Rezeptoren-Blockern behandelt werden [6] . Beta-Rezeptoren-Blocker stellen wegen ihrer effektiven Frequenzsenkung und negativen lnotropie wirksame antiischämische Medikamente dar. Schon sehr früh konnte gezeigt werden, dass i.v. applizierte Beta-Rezeptoren-Blocker die Inzidenz von Kammerflimmern bei Patienten mitACS vermindern konnten [29, 87]. Sofern keine Kontraindikationen vorliegen, sollte die Thera116

pie mit einem lang wirksamen Beta-Rezeptoren-Blockerz. B. Metoprolol 5 mg intravenös eingeleitet werden. Die Therapie kann in der Folgezeit oral fortgesetzt werden. Ziel der Beta-Rezeptoren-Blocker Gabe ist das Erreichen einer Herzfrequenz von 50 - 60 S/min .. Kontraindikationen für Beta-Rezeptoren-Blocker sind Hypotension, Bradykardie, AV-Block 11. 0 und IIl. 0 , mäßige bis schwere Herzinsuffizienz und schweres Asthma bronchiale [75] (siehe Tabelle 3). • •

• • • • • •

Sauerstoff-Nasensonde/-Maske (4 - 81/ min) Nitrate: Glyceroltrinitrat I - 2 Hub (0,4 - 0,8 mg s.l.) evt. wiederholt u.U. Infusion I - 6mg/ h bei schwerer Linksherinsuffizienz (Cave RR < 90 mm Hg und/ oder höhergradiger AV- Block) Morphin 3 - 5 mg i.v., ggf. wiederholt bis Schmerzfreiheit Bei vagaler Reaktion Atropin 0,5 mg i.v., ggf. wiederholt Bei Übelkeit/ Erbrechen Antiemetika (z.B. Metoclopramid) Bei Tachykardie (trotz Schmerzfreiheit und fehlenden Zeichen der Linksherzinsuffizienz) langwirksamer ß-Blocker (z.B. Metoprolol 5 mg langsam i.v.) Azetylsalizylsäure: ASS (>250 mg i.v.) Heparin: 70 U/kg i.v. max. 5000 U Bolus i.v. oder Enoxaparin: 30 mg i.v. +I mg/kg s.c.

Tabelle 3: Primärtherapie bei ACS [nach 38].

Kausale Therapie Ein kausaler Therapieansatz beim akuten Koronarsyndrom orientiert sich an der Pathophysiologie. Zum einen gilt es bei einem inkomplettem Gefäßverschluss ein Thrombuswachstum bzw. eine Embolisation in die Gefäßperipherie zu verhindern. Zum anderen muss bei einem komplett verschließenden Thrombus versucht werden, diesen möglichst rasch zu beseitigen, um eine unbehinderte Durchblutung wieder herzustellen. Konzepte für NSTEMI und STEMI Da bei einem Nicht-ST-Hebungsinfarkt der Thrombus das Gefäß nicht komplett verschließt, müssen die therapeutischen Bemühungen so ausgerichtet sein, dass ein kompletter Verschluss und damit ein weiteres Fortschreiten des thrombotischen Geschehens durch gezielte antikoagulatorische Maßnahmen verhindert wird. Beim ST-Hebungsinfarkt liegt pathophysiologisch meist ein kompletter Gefäßverschluss vor. Ganz im Vordergrund steht also die schnelle Wiedereröffnung, da nur in den ersten 2 - 4 Stunden nach dem kompletten Gefäßverschluss relevante Myokardanteile vor einer Nekrose geschützt werden können. Als Maßnahmen stehen zum einen Medikamente in Form von Thrombozytenaggregationshemmem, Thienopyridinen und Antithrombinen, zum anderen Katheterinterventionstechniken und medi~amentöse Reperfusionsmaßnahmen in Form einer Lysetherapie zur Verfügung. In Ausnahmefällen kann auch eine akute Bypassoperation indiziert sein. Vom erstbehandelnden Arzt, sei es der Notarzt oder der Arzt in der Notaufnahme, erfordert das Spektrum an therapeutischen Möglichkeiten und die Zeitabhängigkeit der Wirksamkeit der Maßnahmen, klare Vorstellungen zur Akut-Diagnostik und die Festlegung entsprechender Behandlungsstrategien.

117

Reperfusionstherapie beim Nicht-ST-Hebunesinfarkt bzw. bei der instabilen Aneina pectoris Eine fibrinolytische Behandlung ist ohne ST-Hebung im EKG nicht indiziert [74) .

„Hoch-Risiko"'-Gruppe Bei der „Hoch-Risiko"-Gruppe (Definition s.o.) war der optimale Zeitpunkt der Katheterintervention lange Zeit unklar. Einerseits führt die antithrombotische Vorbehandlung mit GP-llb/Illa-Rezeptor-Antagonisten zu einer Reduktion der Thrombuslast und damit vermutlich zu einer deutlichen Verminderung des Risikos einer Koronarintervention [43). Andererseits steigt selbst unter optimierter antithrombozytärer Therapie das Risiko von Tod und Myokardinfar~t um etwa 1% pro Behandlungstag. Die daher von einigen Kardiologen favorisierte Strategie mit sogenanntem „cooling", bei der die Patienten zunächst über einen längeren Zeitraum mit GP-llb/llla-RezeptorAntagonisten bis zur endgültigen invasiven Abklärung und Therapie vorbehandelt wurden, konnte im Rahmen einer Studie aus dem Jahre 2003 entkräftet werden. In dieser Studie erwies sich die sofortige Intervention (< 2,5 Stunden) der Strategie mit einer Intervention nach Vorbehandlung (2 - 3 Tage) als überlegen [60). Zwei Studien aus den Jahren 2003 und 2005 [17 , 94) bestätigten diese Dringlichkeit allerdings nicht. Die derzeitige Datenlage lässt aber nicht den Schluss zu , bei Patienten der Hochrisiko-Gruppe die geplante Katheterintervention hinauszuzögern, um durch eine verlängerte antithrombotische Vorbehandlung die Thrombuslast zu reduzieren. Studien mit Abciximab bzw. Eptifibatide zeigen, dass das Risko einer Koronarintervention mit Stentimplantation bei Patienten der „Hoch-Risiko"-Gruppe nach einer Vorbehandlung mit ASS, Clopidogrel, UFH und einem GP-Ilb/Illa-Rezeptor-Antagonisten nicht höher ist als bei Patienten mit stabiler Angina pectoris [23 , 24, 63, 90, 91).

„Niedrig-Risiko"-Gruppe Im Kollektiv der „Niedrig-Risiko"-Patienten (Definition s.o.), die laborchemisch keine Hinweise auf eine Myokardnekrose zeigen und auch keine weiteren Risikomerkmale aufweisen, kann zur Klärung der Dringlichkeit einer Katheterintervention eine lschämiediagnostik durchgeführt werden. In unklaren Fällen ist allerdings immer eine Katheterdiagnostik zur definitiven Klärung des Koronarstatus erforderlich (Abb. 2) . Akutes Koronarsyndrom mit ST-Hebuni: Die Letalität bei Patienten mit ST-Hebungs-Infarkt beträgt innerhalb der ersten 24 Stunden 30 - 50% [44] . Die Sterblichkeit hängt im Wesentlichen von der Größe des minderperfundierten bzw. infarzierten Myokardareals, von der Komorbidität des Patienten und vom Zeitintervall zwischen Schmerzbeginn und effektiver Revaskularisation ab. Somit ist es für den Patienten von überragender Bedeutung, dass unverzüglich die Diagnose gestellt und so früh wie möglich mit der Revaskularisationstherapie begonnen wird. Grundsätzlich stehen zwei Möglichkeiten der Revaskularisation zur Verfügung - die systemische Thrombolysetherapie und - die percutane Katheterintervention.

Prästationäre Fibrinolyse Beim akuten ST-Streckenhebungsinfarkt bzw. beim vermutlich neu aufgetretenen Links118

1NSTEMI / IA~ sofort

ASS, Clopidogrel, UFH hohes Risiko früh-lnvaslve Strategie

niedriges Risiko konservative Strategie

!invasive Diagnostik !

Belastungstest

sofort (< 2,5 Std.) zunächst kein GPI

früh (< 48 Std.) „upstream" GPI

(Eptlflbatld / Tlroflban)

PCI +/- GPI

PCI mit GPI

PCI +/-GPI

(Abclxlmab / Eptlflballd)

(Eptlflbatld / Tlroflban)

(Abclxlmab / Eptlllbatld)

Konservative Therapie

Abb. 2: Periinterventionelle antithrombotische Therapie bei NSTEMI-IAP-Patienten nach Risikostratifikation. Enoxaparin kann bei Hochrisiko-Patienten verabreicht werden , wenn eine frühinvasive Therapiestrategie nicht verfolgt wird [modifiziert nach 76].

schenkelblock, ist die Wirksamkeit der Fibrinolyse bis zu 12 Stunden nach Symptombeginn belegt. Der Effekt der Fibrinloyse ist zeitabhängig (10], wobei in den ersten 2 - 4 Stunden nach Schmerzbeginn ein exponentieller Wirksamkeitsverlust der Lysetherapie besteht und nach der 4. Stunde die Wirksamkeit linear abfällt. Nach mehr als 12 Stunden ist nur noch ein unwesentlicher Überlebensvorteil durch die Thrombolyse nachweisbar. Um die Effektivität der Thrombolyse zu steigern, sollte eine zeitliche Vorverlagerung der Behandlung in die Prähospitalphase angestrebt werden. Durch die Verlagerung der STEMI-Diagnostik in den Notarztwagen, kann in Abhängigkeit von reginonalen Gegebenheiten ein Zeitgewinn von der Diagnosestellung bis zum Lysebeginn zwischen 30 und 130 Minuten, im Mittel 60 Minuten, im Vergleich zur intrahospitalen Lyse erreicht werden (59]. Beim Vergleich der prä- und der intrahospitalen Fibrinolyse ergab sich nach einer Metaanalyse eine signifikante Senkung der Sterblichkeit zugunsten der prähospitalen Lyse (26]. In den Studien ließ sich, wie schon oben erwähnt, eine direkte Beziehung zwischen dem Ausmaß des Zeitgewinns durch die prähospitale Fibrinolyse und dem klinischen Nutzen nachweisen (54]. In den ersten 3 Stunden nach Schmerzbeginn ist die Thrombolyse besonders wirksam und einer primären PCI bezüglich der Letalitätsreduktion gleichwertig (12, 80]. Der Nutzen der prähospitalen Lyse ist also umso größer, je größer der zu erwartende Zeitgewinn gegenüber einer intrahospitalen Reperfusionstherapie ist. Insbesondere bei Transportzeiten von mehr als 60 Minuten bzw. einem maximalen Zeitverlust der primären PCI gegenüber Fibrinolyse von mehr als 90 Minuten, sollte die prähospitale Thrombolyse, im Vergleich zur primären PCI, die bevorzugte Therapieoption darstellen. Kontraindikationen (siehe Tabelle 4) für die prähospitale Lyse entsprechen den üblichen Empfehlungen, die auch für die intrahospitale Lyse gelten [88, 93]. 119

Indikationen

St-Streckenhebung

~

0,1 mV in~ 2 zusammenhängenden Extremitäten-

und/oder~ 0,2 mV in~ 2 zusammenhängenden Brustwandableitungen oder LSB mit infarkttypischer Symptomatik Absolute Kontraindikationen

Relative Kontraindikationen

Schlaganfall in den letzten 6 Monaten (hämorrhagisch zeitunabhängig)

TIA in den letzten 6 Monaten

Trauma, Operation, Kopfverletzung innerhalb der letzten 3 Wochen

Schwangerschaft

Neoplasma oder neurologische ZNSErkrankung Magen-Darm-Blutung innerhalb des letzten Monats bekannte Blutungsdiathese dissezierendes Aortenaneurysma

Dicumarol-Therapie nicht-komprimierbare Gefäßpunktion therapierefraktäre Hypertonie (> 180 mm Hg) aktives Ulcusleiden floride Endokarditis fortgeschrittene Lebererkrankung traumatische Reanimationsmaßnahmen

Tabelle 4: Indikationen und Kontraindikationen zur Thrombolyse-Tberapie [nach 39].

Vorteile der Fibrinolyse

Die fibrinolytische Therapie kann ohne großes Sicherheitsrisiko unter Beachtung der Kontraindikationen prästationär eingesetzt werden. Die Therapie ist überall und jederzeit ohne größeren logistischen Aufwand verfügbar. Der durchschnittliche Zeitgewinn der prästationären Fibrinolyse beträgt 60 Minuten. Zukünftig ist nicht mit einer wesentlichen Verbesserung der fibrinolytischen Therapie zu rechnen, sodass versucht werden sollte, das Intervall zwischen Symptom und Therapiebeginn zu verkürzen. Die prähospitale Lysetherapie erfüllt diese Forderung, wobei mit den Bolusplasminogenaktivatoren (Reteplase und Tenekteplase) auch im Notarztwagen zu applizierende Substanzen zur Verfügung stehen. Probleme der Fibrinolyse

Unverändert besitzt die fibrinolytische Therapie eine limitierte Effektivität mit einer TIMI-Patency (s.u.) nach 60 - 90 Minuten von etwa 60 %, mit einer Reokklusionsrate von 5 - 10 % und mit einer Komplikationsrate intracerebraler Blutungen von 0.5 - 1%. Patienten die eine längere Symptomdauer (> 3 Stunden) und ein erhöhtes Risiko für eine intracerebrale Blutung (Alter über 75 Jahre und/oder Hochdruck) aufweisen, sollten einer akuten Herzkatheterdiagnostik und interventionellen Therapie in entsprechend erfahrenen Zentren zugeführt werden. Primäre Koronarintervention (Primäre PCI)

Die primäre PCI wird definiert als Intervention im Infarktgefäß, innerhalb von 12 Stunden nach Symptombeginn. Ziel der notfallmäßigen Koronarangiographie ist die definitive Diagnosesicherung, wobei sich in bis zu 90% der Fälle ein thrombotisch verschlossenes Koronargefäß nachweisen lässt [18].

120

Nachfolgende Ziele werden bei der interventionellen Therapie verfolgt: - Vollständige Wiedereröffnung des verschlossenen Koronargefäßes mittels Dilatation und Stentimplantation. Dabei wird die Qualität des wiederhergestellten Blutflusses - ob ungehindert, verzögert oder gar nicht - nach der Thrombolysis Myocardial Infarction (TIMI) Studien-Graduierung in 4 Stufen (TIMI O - 3) eingeteilt [89]. - Zeitgleiche Beseitigung der zugrundeliegenden Stenose bzw. der Plaqueruptur. - Frühzeitige Kenntnis des kompletten Koronarstatus, insbesondere bei koronarer Mehrgefäßerkrankung, sodass die weitere Therapie (PCI und/oder Bypass-Operation) frühzeitig geplant werden kann. Indikationen zur Primärdilatation In allen unklaren diagnostischen Situationen und bei Kontraindikation zur Fibrinolyse, sind eine notfallmäßige Koronarangiographie und die primäre Dilatation die einzige Option zur Diagnosesicherung und Reperfusion [55, 101]. Bei Patienten im kardiogenen Schock empfiehlt sich ebenfalls die Katheterintervention als vorangige Maßnahme, da die Ergebnisse der Fibrinolyse beim Schock schlecht sind. Bei Patienten mit persistierenden Beschwerden, insbesondere aber bei Patienten im Schock, wird wegen der schlechten Prognose eine Intervention noch bis zu 36 Stunden nach Symptombeginn empfohlen [45, 46, 92], sollte aber so früh wie möglich durchgeführt werden. Primäre PCI als Routinestrategie (Primärdilatation versus Fibrinolyse) Innerhalb der ersten 3 Stunden nach Symptombeginn ist die thrombolytische Therapie eine gute Alternative zur primären PCI, da in diesem Zeitraum beide Reperfusionsstrategien ähnlich effektiv bezüglich der Reduktion der Infarktgröße und der Mortalität sind (s.o.). Der wesentliche Grund, die primäre PCI der Fibrinolyse innerhalb der ersten 3 Stunden nach Schmerzbeginn vorzuziehen, ist die Vermeidung eines Schlaganfalles [76].

Zahlreiche kleinere randomisierte Studien zum Vergleich der Primärdilatation mit der Fibrinolyse innerhalb der 4. - 12. Stunde nach Symptombeginn, konnten den Vorteil der primären Katheterintervention gegenüber der Lysetherapie belegen [2, 12, 35, 80, 98]. Eine Metaanalyse der verfügbaren Daten aus diesen Studien aus dem Jahre 1997 konnte einen Überlebensvorteil für die Primärdilatation belegen [97]. Eine neue Metaanalyse aus dem Jahre 2003 zeigt eine Reduktion der Infarktsterblichkeit durch PCI, im Vergleich zur Fibrinolyse, um absolut 2%, relativ 25%, die im Langzeitverlauf erhalten bleibt [50]. Ferner führt die PCI, im Vergleich zur Fibrinolyse, zur Senkung des Schlaganfallrisikos um absolut 1% . Dies ist auf die Vermeidung von Hirnblutungen zurückzuführen. Das Reinfarktrisiko wird ebenfalls durch die PCI, im Vergleich zur Fibrinolyse, um mehr als die Hälfte gesenkt [62, 102]. Durch Registerdaten mit über 100.000 Patienten konnten die oben genannten Ergebnisse der randomisierten Studien bestätigt werden [100].

Medikamentöse Begleitmaßnahmen Gerinnungshemmende Therapie In den letzten Jahren ist die gerinnungshemmende Therapie durch neue antithrombotische und plättchenhemmende Substanzen bereichert worden. Der Umfang der Literatur zu neuen Studienergebnissen wird immer umfangreicher, sodass versucht wird, die wesentlichen Erkenntnisse zusammenzufassen und in einer komprimierten Form darzustellen.

121

Thrombozytena22re1:ationshemmer Acetylsalicylsäure (ASS) ist ein irreversibler und hochwirksamer Hemmstoff der thrombozytären Cyclooxygenase. Wenn ASS bei Krankenhausaufnahme in einer Dosis von 75 - 325 mg verabreicht wurde, konnte in mehreren großen randomisierten Studien an Patienten mit ACS eine wesentliche Reduktion der Sterblichkeit nachgewiesen werden [36, 47]. Wenn ASS noch früher, d. h. prästationär gegeben wurde, konnte in einigen Studien eine zusätzliche Sterblichkeitssenkung belegt werden [30]. Patienten ohne regelmäßige ASS-Einnahme sollten eine Sättigungsdosis von 250 - 500 mg, am besten intravenös (Wirkungseintritt nach 3 Minuten), erhalten.

Eine Dosierung von 100 mg täglich dürfte in der Dauertherapie ausreichend sein [67]. Clopidogrel inhibiert die durch ADP (Adenosintriphosphat) induzierte Thrombozytenaktivierung [14]. Bei einer Sättigungs-Dosis von 300 mg ist mit einem Wirkungseintritt nach ca. 6 Stunden und bei einer Sättigungsdosis von 600 mg mit einem Wirkungseintritt nach ca. 3 Stunden zu rechnen. In der Dauertherapie ist eine tägliche Gabe von 75 mg ausreichend.

Die Leitlinie des „European Resusciation Council" empfiehlt bei allen Formen des ACS die frühzeitige Gabe von ASS und Clopidogrel, unabhängig vom geplanten therapeutischen Procedere [6]. Bei Patienten mit instabiler Angina pectoris oder einem NSTEMI ist Clopidogrel in der Regel als Basis-Medikation sofort zu geben. Dies gilt sowohl für den Fall, dass eine konservative Therapie geplant ist, als auch für die Situation in der eine PCI vorgesehen ist. Nach der Akut-Phase wirken sich 75 mg/Tag Clopidogrel über mindestens 9 Monate günstig aus [99]. Falls bei Patienten mit STEMI eine primäre PCI mit Stenting durchgeführt wird, sollte Clopidogrel gegeben werden. Eine Initialdosis von 600 mg erhalten Patienten sofort nach erstem medizinischen Kontakt als Vorbehandlung [76]. Patienten bis zum 75. Lebensjahr mit STEMI, die mit Fibrinolyse, ASS und Heparin behandelt wurden [69], profitierten ebenfalls von der zusätzlichen Gabe von Clopidogrel (300 mg Startdosis gefolgt von 75 mg täglich). Falls eine koronare Bypass-Operation notwendig werden sollte, wird wegen des erhöhten Blutungsrisikos empfohlen, Clopidogrel - wenn möglich - mindestens 5 Tage präoperativ zu pausieren. Thrombininhibitoren

Heparin ist ein indirekter Thrombininhibitor, der neben Acetylsalicylsäure zusätzlich sowohl bei der Fibrinolyse, insbesondere bei Gabe der neueren Bolus-PlasminogenAktivatoren, als auch bei der primären PCI eingesetzt wird. Vorteile des unfraktionierten Heparins (UFH) sind - die schnelle Kontrollmöglichkeit der Gerinnungsaktivität durch Bestimmung der aPTT (= aktivierte partielle Thromboplastinzeit) oder der ACT (= activated clotted time) - die gute Antagonisierbarkeit der Heparinwirkung und - die kurze Halbwertszeit.

122

Nachteile des unfraktionierten Heparins (UFH) sind - der variable antithrombotische Effekt aufgrund einer starken Plasmaproteinbindung und damit ein im Einzelfall schwer voraussagbarer antikoagulatorischer Effekt - die fehlende Hemmung von Thrombus-gebundenem Thrombin - die Notwendigkeit der Wirkungskontrolle durch Bestimmung der aPTT oder der ACTund - die Gefahr einer Heparin induzierten Thrombozytopenie (HIT).

UFH hemmt Faktor Xa und Thrombin gleichermaßen. UFH sollte bei der Lysetherapie mit einem initialen Bolus von 60 IE/kg gegeben werden, wobei eine Dosis von max. 4000 IE nicht überschritten werden sollte, da sich mit der Reduzierung des initialen Heparin-Bolus die Rate schwerer Blutungskomplikationen reduzieren lässt [33]. An den Bolus schließt sich eine Heparin-Infusion von 12 IE/kg/h (max.1000 IE/h) über 48 Stunden an. Nach 3, 6, 12, 24 und 36 Stunden sollten Gerinnungskontrollen erfolgen, um eine Über- oder Unterdosierung zu vermeiden (Ziel: aPTT 1,5 - 2 fache der Norm, 60 - 70 s) Bei der primären PCI werden nach einem initialen Bolus von 5000 IE Heparin weitere Dosen ACT-gesteuert verabreicht (s.u.). Niedermolekulare Heparine (LMWH = low molecular weight heparine) hemmen überwiegend Faktor Xa.

Dosis: z.B. Enoxaparin lmg/kg KG zweimal täglich subcutan Vorteile der LMWH sind - ein besser vorhersagbarer antikoagulatorischer Effekt - eine geringere Thrombozytopenierate - die Möglichkeit der subcutanen Injektion in gewichtsadaptierter Dosis und - die fehlende Notwendigkeit einer Laborüberwachung. Nachteile der LMWH sind - die bisher noch erschwerte Kontrollmöglichkeit bei Blutungen durch die Messung von Anti-Faktor Xa und - die eingeschränkte Möglichkeit der Antagonisierung.

Bei Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz ist bei der Gabe von LMWH unbedingt eine Dosisanpassung notwendig [79]. Unfraktioniertes versus niedermolekulares Heparin beim NSTEMI Bei Patienten mit NSTEMI / IAP stellt die Frühbehandlung mit LMWH (Enoxaparin) die bevorzugte Therapieoption zusätzlich zu ASS dar, wenn keine interventionelle Strategie geplant ist.

Sollte innerhalb der ersten 24 - 48 Stunden nach Symptombeginn eine Reperfusionstherapie vorgesehen sein, sollte unfraktioniertes Heparin gegeben werden. Der optimale Zielwert der aPTT beträgt dann 60 - 70 s. Auf einen Wechsel zwischen unfraktioniertem Heparin und niedermolekularem Heparin (LMWH) sollte unbedingt verzichtet werden, da ein Wechsel zu gehäuften Blutungskomplikationen führen kann [27]. 123

Unfraktioniertes versus niedermolekulares Heparin bei STEMI Bei der Fibrinolysetherapie von Patienten unter 75 Jahren ohne relevante Nierenfunktionsstörung, sind LMWH eine akzeptable Alternative zur Gabe von UFH. Das LMWH Enoxaparin zeigte keine Verbesserung der frühen Patency, führte aber im Vergleich mit UFH zu einer Verringerung der Reokklusions- und Reinfarktrate [68, 84). Für ältere Patienten ergab sich eine Zunahme der intracerebralen Blutungen unter Enoxaparin, sodass diese Substanz nur bei Patienten unter 75 Jahren gegeben werden sollte [95). UFH wird als Ergänzungstherapie zur Fibrinolyse bei älteren Patienten und bei allen Patienten mit STEMI empfohlen, wenn eine primäre PCI geplant ist. Der optimale Zielwert der aPTT ist 60 - 70s. Durch die Einführung der ACT-Bestimmung im Herzkatheterlabor während einer PCI, konnte eine gezielte und individuell steuerbare Dosisanpassung des UFH erreicht werden. Diese Dosisanpassung führte zu einem Rückgang der periinterventionellen Blutungskomplikationen. Bei der PCI mit Gabe von GP-Ilb/llla-Rezeptor-Antagonisten werden Werte von 200 s, bei der unkomplizierten PCI ohne Gabe von GP-Ilb/lllaRezeptor-Antagonisten werden Werte von 300 s angestrebt.

Direkte Antithrombine (Hirudin, Bivalirudin) haben bisher gegenüber Heparin keine Überlegenheit gezeigt [4, 85) . Glyoprotein-Ilbßlla-Rezeptor-Antaa:onisten Glyoprotein-Ilb/llla-Rezeptor-Antagonisten sind die derzeit wirksamsten plättchenfunktionshemmenden Medikamente am Fibrinogenrezeptor. Die synthetischen Substanzen Eptifibatid und Tirofiban inhibieren den Fibrinogenrezeptor reversibel, Abciximab blockiert den Rezeptor irreversibel. Patienten mit instabiler Angina pectoris sollten GP-Ilb/llla-Rezeptor-Antagonisten nicht routinemäßig erhalten. Lediglich für die „Hochrisikogruppe" (Troponin positiv) konnte ein Vorteil nachgewiesen werden. Im „Upstream-Management" (Beginn der Therapie bei der ersten Vorstellung des Patienten z.B . in der Notaufnahme ohne Kenntnis des Koronarbefundes) haben Tirofiban und Eptifibatid einen Nutzen gezeigt [9]. Ist eine Koronarangiographie sehr frühzeitig ( < 2.5 Stunden) absehbar, kann die Gabe von GPIlb/llla-Rezeptor-Antagonisten auch verschoben werden und Abciximab oder Eptifibatid erst im Katheterlabor appliziert werden [76). Bei STEMI-Patienten sind Tirofiban und Eptifibatid weniger gut untersucht. Wird Abciximab bei Patienten mit STEMI und geplanter PCI gegeben, reduziert es die Sterblichkeit, ist aber ohne Nutzen bei Patienten bei denen keine Intervention durchgeführt wird [9]. Ferner kann Abciximab die Offenheitsrate der Infarktarterie im Zusammenhang mit einer PCI erhöhen, wenn es prähospital angewandt wird [58). Zusammenfassend kann man feststellen, dass eine Gabe von GP-Ilb/llla-Rezeptor-Antagonisten bei Patienten mit ACS nur dann sinnvoll erscheint, wenn das Troponin, aufgrund einer Myokardnekrose und/oder einer mutmaßlichen distalen Mikroembolisation, erhöht ist und eine primäre PCI in < 48 geplant durchgeführt wird. Die Kombination einer dosisreduzierten Fibrinolyse mit der Gabe von GP-Ilb/IllaRezeptor-Antagonisten ist Gegenstand von weiteren Untersuchungen [21).

124

Wahl der Reperfusionsstrategie In Deutschland besteht derzeit die Möglichkeit zur Primär-PCI nur in weniger als 20% aller Krankenhäuser, die Herzinfarktpatienten versorgen [39]. Die optimale Behandlungsstrategie muss sich daher nach den lokalen Möglichkeiten zur Koronarintervention richten. Die anzustrebende Reihenfolge der unterschiedlichen Reperfusionsstrategien ist in Tabelle 5 aufgeführt. Voraussetzung für gute Interventionsresultate ist, dass die Primärdilatation von erfahrenen Untersuchern an Kliniken mit mindestens 40 Infarktinterventionen pro Jahr und mit einer guten intrahospitalen Logistik durchgeführt werden. Krankenhäuser mit der Qualifikation zur Primärdilatation sollten einen Interventionsdienst rund um die Uhr anbieten. Rang Maßnahme

Evidenz

EmpfehlungsStärke/ Evidenz

1

Primäre PCI innerhalb 2 Std. (contact-to-balloon)

Mehrere randomisierte Studien

2

Prästationäre Lyse mit anschließender Verbringung in Krankenhaus mit PCI

l randomisierte Studie

Prästationäre Lyse und Verbringung in Krankenhaus ohne PCI

Mehrere randomisierte Studien

Stationäre Lyse

Viele randomisierte Studien

3

4

I-A

I-B

I-A I-A

Tabelle 5: Reihenfolge der DGK-Empfehlungen zur Therapie beim STEMI [nach 39] .

Für Krankenhäuser, die keine Möglichkeit zur Katheterintervention besitzen, ist es wichtig, sich an einem Netzwerk zur Herzinfarktversorgung zu beteiligen bzw. eine entsprechende Verlegungsstrategie für ihre Patienten festzulegen. Der max. Zeitverlust der PCI gegenüber der Lyse (Nettozeitverlust) darf nicht mehr als 90 Minuten betragen (siehe Tabelle 6). Der Nachteil der zeitlichen Verzögerung wird durch die hohe Effektivität der PCI gegenüber der Lysetherapie ausgeglichen.

Erstkontakt bis präst. Fibrinolyse ("contact to needle"): Einleitung der Fibrinolyse stationär ("door to needle"): Maximal tolerabler Zeitverlust PCI versus Lyse

Erstkontakt bis PCI ("contact to balloon"):

< 30 min < 30 min 90 min

< 120 min

Einleitung der primären PCI ("door to balloon") mit Ankündigung: ohne Ankündigung:

< 30 min < 60 min

Tabelle 6: Zeitlimits der Reperfusionstherapie [nach 39].

Die Entscheidung zur Wahl der besten Reperfusionsmaßnahme (siehe Tabelle 7) muss von dem Arzt getroffen werden, der z.B. als Notarzt den Patienten zuerst vor Ort bzw. als Krankenhausarzt in der Notaufnahme des Krankenhauses sieht. 125

Fibrinolyse

KLasse EvidenzGrad

falls keine Kontraindikationen vorliegen und eine Akut-PCI nicht innerhalb 90 Minuten durchgeführt werden kann

I

prähospitale Gabe bei entsprechender Möglichkeit

I

erneute Gabe eines nichtantigenen Fibrinolytikums bei Reverschluss, falls keine Akut-PCI möglich

II

A

B

B

Akut-PCI

KLasse EvidenzGrad

wenn 90 Minuten nach Erstkontakt von einem erfahrenem Team durchführbar

I

A

Patientem im Schock oder mit Kontraindikation zur Fibrinolyse

I

C

Akut-PCI und GP Ilb/Illa-Blocker ohne Stent mit Stent Notfall-PCI nach Lyseversagen

A I Ila Ila

B

Reperfusionstherapie ist angezeigt bei Patienten mit typischem Infarktschmerz

< 12 h und ST-Hebung oder LSB im EKG Tabelle 7: Empfohlene Vorgehensweisen der ESC zur Reperfusionstherapie [nach 93].

Da bei bis zu 25% der lysierten Patienten eine „Rescue-PCI" notwendig wird [12), ist trotz der Lyse-Therapie der Transport in ein Interventionszentrum zu erwägen. Wird primär eine Fibrinolyse durchgeführt, so sollte nach ca. 60 Minuten eine Reevaluierung der Beschwerden erfolgen. Zusätzlich sollte der Patient ein Kontroll-EKG erhalten. Persistierende Beschwerden, inkomplette oder fehlende Rückbildung der STStreckenhebung oder hämodynamische Verschlechterung sind Hinweise auf eine nicht erfolgreiche Fibrinolyse. In diesen Situationen sollte eine sofortige Verlegung zu einer ,,Rescue-PCI" geprüft werden [22) (Abb. 3). Ganz wesentlich für alle Beteiligten (Rettungsdienst, erstbehandelndes Krankenhaus, Interventionszentrum, usw.) ist, dass feste, möglichst einfache Handlungsalgorithmen existieren.

KOMPLIKATIONEN

Rhythmusstörungen Typische Phänomene in den ersten Stunden des Myokardinfarktes sind Arrhythmien und Reizleitungsstörungen. Bei hämodynamischen Auswirkungen der Rhythmusstörungen besteht eine Notwendigkeit zur Behandlung, um irreversible Spätschäden einer prolongierten Kreislaufdepression zu verhindern. Vor einem Behandlungsversuch sollte wenn möglich ein komplettes 12-Kanal-EKG geschrieben werden, um die Morphologie der Rhythmusstörung zu erfassen. Dies erleichtert die genaue Zuordnung der Rhythmusstörung und kann insbesondere für den nachbehandelnden Spezialisten von großem Nutzen sein. Leider wird häufig eine Tachykardie reflexartig ohne adäquate Dokumentation therapiert, sodass wichtige Informationen für die weitere Rhythmustherapie verloren gehen. 126

STEMI sofort

ASS, Clopidogrel, UFH PCI sofort verfügbar

PCI nicht verfügbar

+

frühzeitig GPI (Abciximab)

+

Verleg••• mit ~ • ~•- 20 mm Hg und einem verminderten Herzindex . Unter stationären Bedingungen kann die Gabe von Dopamin (2,5 - 5 mg/kg/min) und Dobutamin (4 - 20 mg/kg/min) bzw. anderen Katecholaminen (Adrenalin 2 - 50 mg/kg/min) zur Aufrechterhaltung eines arteriellen Drucks von mindestens 90 mm Hg systolisch hilfreich sein. Kardiogene Schockzustände beim STEMI werden durch eine frühzeitige möglichst prästationäre Fibrinolyse oder primäre PCI verringert [7, 39].

PRÄVENTION

Bei der ersten gesicherten Manifestation eines ACS sollten auch Präventionsmaßnahmen einsetzen. An die akute Reperfusionstherapie muss sich eine leitliniengerechte medikamentöse Therapie anschließen. Als Standardtherapie empfiehlt sich unter Berücksichtigung nachfolgender Präzisierungen die Gabe von Acetylsalicylsäure, eines ACE-Hemmers, oder bei Unverträglichkeit, eines ATII-Antagonisten, eines Beta-Rezeptoren-Blockers und 128

eines Statins . Die Überlebensprognose des Patienten wird durch diese „Viererkombination" (,,four biggies") deutlich verbessert. ASS und Beta-Rezeptoren-Blocker (s.o.) sollten so früh wie möglich verabreicht werden. Statine (CSE-Hemmer) Es besteht ein breiter Konsens, dass alle Patienten mit koronarer Herzerkrankung in der Dauertherapie einen LDL-Cholesterinwert von weniger als 100 mg/dL erreichen sollten [25, 34]. Während der Zeitpunkt für die erstmalige Gabe vieler Medikamente beim ACS klar definiert ist und unmittelbar nach der klinischen Diagnose, zum Teil bereits durch den Notarzt, erfolgt, ist der Zeitpunkt der erstmaligen Statingabe zumindest beim ACS mit ST-Streckenhebung nicht eindeutig festgelegt. Lediglich bei instabiler Angina pectoris oder ACS ohne ST-Streckenhebung besteht nach den ACC/AHA-Leitlinien eine Indikation zur Gabe von Lipidsenkern [13]. Neue Ergebnisse aus klinischen Studien deuten darauf hin, dass der Patient mit STEMI auch vom frühen Einsatz der Statine profitiert [42, 61]. Neben der bekannten cholesterinsenkenden Wirkung verfügen Statine über sogenannte „pleiotrope Effekte", die zum Teil bereits nach wenigen Stunden nachweisbar sind. Diese Effekte sind in der Lage die pathophysiologischen Vorgänge beim ACS günstig zu beeinflussen. In verschiedenen Studien konnte eine Reduktion der Plasmaviskosität, der Plättchenaggregation und der Thrombusbildung nachgewiesen werden. Ferner haben Statine günstige Effekte auf die Plaquestabilisation und auf inflammatorische Prozesse und damit auf die endotheliale Dysfunktion [96]. Für den Einsatz von Statinen in der Akutphase fehlt aber bisher der Nachweis einer Prognoseverbesserung.

1

ACE-Hemmer ACE-Hemmer besitzen einen besonders günstigen Effekt bei Patienten mit Vorderwandinfarkt, Lungenstauung bzw. deutlich eingeschränkter linksventrikulärer Funktion (Ejektionsfraktion < 40%) [1]. Wenn die Gabe von ACE-Hemmern innerhalb der ersten 24 Stunden nach Symptombeginn i.v. erfolgte, war mit dieser frühzeitigen Gabe ein Trend zu einer höheren Sterblichkeit verbunden [82]. Orale ACE-Hemmer reduzieren die Sterblichkeit, wenn sie in den ersten Tagen des Infarktes, Patienten mit eingeschränkter linksventrikulärer Funktion oder Zeichen der Herzinsuffizienz und fehlenden Kontraindikationen (systolischer Blutdruck < 100 mmHg), verabreicht werden [92]. Patienten mit ACE-Hemmer-Unverträglichkeiten sollten ATII-Rezeptoren-Blocker erhalten. Die Indikation bei allen Infarktpatienten wird kontrovers beurteilt. Für die ACE-Hemmer liegen keine ausreichenden Daten vor, die bei guter LV-Funktion eine frühe Gabe erfordern.

Als ein weiterer Baustein in der Therapie hat sich bei Patienten mit eingeschränkter linksventrikulärer Funktion (Ejektionsfraktion < 40%) und klinischen Zeichen einer Herzinsuffizienz die Gabe des Aldosteronantagonisten Eplerenon erwiesen. Bei der Gabe von Eplerenon sollte man sich an die Einschlusskriterien der Studie halten und mit der Therapie innerhalb von 3 bis 14 Tagen nach dem Herzinfarkt beginnen [64].

LEITLINIEN

Das Krankheitsbild des ACS hat in den letzten 30 Jahren einen grundsätzlichen Wandel von einer eher zurückhaltenden, abwartenden Therapie hin zu einer aktiven, invasiven Behandlungsstrategie erfahren. Da der Umfang der Literatur zu aktuellen Studienergebnissen immer umfangreicher und damit für den einzelnen Arzt unüberschaubar wird, 129

exs1st1eren heute zahlreiche Leitlinien der amerikanischen (,,American Heart Association" und „American College of Cardiologie"), der europäischen (,,Europäische Gesellschaft für Kardiologie" und „European Resusciation Council") sowie der deutschen Gesellschaft für Kardiologie, die umfangreiche Studienergebnisse und aktuelle Erkenntnisse zusammenfassen und in komprimierter Form anbieten (3, 6, 8, 39, 40). Die Lektüre dieser Leitlinien ist insbesondere dann zu empfehlen, wenn dieses Manuskript neugierig gemacht hat und der Leser sein Wissen und seine Kenntnisse über das ACS mehren bzw. vertiefen möchte.

ZUSAMMENFASSUNG

Unter dem Begriff akutes Koronarsyndrom (ACS) werden die Akutmanifestationen der koronaren Herzkrankheit, d.h. die instabile Angina pectoris (IAP), der Nicht-STHebungs-Myokardinfarkt (NSTEMI) und der ST-Hebungsinfarkt (STEMI) zusammengefasst. Die Differenzialdiagnose des ACS beruht auf Anamnese, Schmerzsymptomatik, 12-Kanal-EKG-Befund und laborchemischem Nachweis myokardialer Nekrosemarker (Troponin); letzterer ist bindend für die Diagnose NSTEMI und STEMI. Den drei Entitäten des ACS liegt ein gemeinsames pathophysiologisches Substrat zugrunde: Die Ruptur einer atherosklerotischen Plaque, die zur Thrombozytenaggregation mit Thrombusbildung und komplettem Gefäßverschluss oder zur Stenose mit peripherer Embolisation führen kann. Der NSTEMI zählt zu den akut lebensbedrohlichen Manifestationen der koronare Herzerkrankung. Eine kombinierte plättchenhemmende und antithrombotische Therapie (bestehend aus ASS, Clopidogrel, Heparin und GP-Ilb/Illa-Inhibitoren), zusammen mit früh invasivem Vorgehen verbessern das Ergebnis in der Primärversorgung (Abb. 2). Beim STEMI sind eine rasche und anhaltende Wiedereröffnung des Infarktgefäßes und damit die Verhinderung einer größeren Myokardnekrose die entscheidenden Behandlungsziele. Die Behandlungsmethode der Wahl - soweit verfügbar - stellt die interventionelle Revaskularisation dar. Als Alternative bietet sich nach Ausschluss von Kontraindikationen die Fibrinolysetherapie an, die so früh wie möglich d.h. prästationär durchgeführt werden sollte (Abb. 3). Die medikamentöse Begleittherapie wird heute wesentlich durch eine duale Plättchenhemmung (ASS, Clopidogrel) und durch die Gabe von CSE-Hemmern und BetaBlockern bestimmt. Zur Verhinderung des linksventrikulären Umbaus nach Infarkt finden ACE-Hemmer frühzeitig Anwendung. Um flächendeckend eine optimale Versorgung von Infarktpatienten zu gewährleisten, sollten Netzwerkstrukturen zur Behandlung von Patienten mit ST-Hebungsinfarkt aufgebaut werden.

Anhang

Diagnosealgorithmus STEMI Bei einem Patienten mit typischem Brustschmerz wird nach Ableitung eines 12-KanalEKG's in einem ersten Schritt die QRS-Breite bestimmt. Liegt ein typischer, vermutlich neuer Linksschenkelblock mit infarkttypischer Symptomatik vor, stellt dies eine Indikation zur Reperfusionstherapie dar. Sollte die QRS-Breite unter 120 ms betragen, oder aber ein Rechtsschenkelblock vorliegen, besteht nur dann eine Indikation zur Reperfusionstherapie, wenn zusätzlich eine 130

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40 Jahre. Der gemessene intrakranielle Druckwert sollte unter 20-25 mmHg liegen, da sich sonst die Morbidität und Mortalität von Patienten mit zerebraler Schädigung erhöht. Die Überwachung des ICP ist bei Patienten mit milder Schädigung oder nur diskreten neurologischen Auffälligkeiten ist als Routineverfahren nicht indiziert. Die Techniken der ICP-Messung lassen sich als supratentoriell, infratentoriell und lumbal klassifizieren. Der supratentorielle Zugang ist der wichtigste Weg zur Messung des ICP. Dieser Zugang kann epidural, subdural-, subarachnoidal, intraventrikulär oder parenchymatös erfolgen. Das Plazieren einer Ventrikeldrainage in ein Vorderhorn der Seitenventrikel gilt nach wie vor als der Goldstandard der Hirndruckmessung. Die intraparenchymatöse Ableitung des ICP mittels fiberoptischer Sensoren wird als ebenso exakte Methode eingeschätzt. Wegen der hohen Präzision und Reproduzierbarkeit des 179

ICP-Monitorings mittels Ventrikeldrainage oder Parenchymsensor sind diese Techniken zu bevorzugen, sofern keine Kontraindikationen hierzu bestehen. Epidurale Messverfahren sind per se zwar weniger invasiv (keine Parenchympassage), besitzen aber eine geringe Messgenauigkeit (bis zu 50 % Fehlmessungen) und sollten nur dann durchgeführt werden, wenn die Anlage einer Ventrikeldrainage oder Parenchymsonde nicht durchführbar ist. Das Monitoring des ICP mittels Ventrikeldrainage liefert die folgenden Informationen: 1. Interpretation des ICP als Trendparameter, 2. Kalkulation des CPP, 3. Bestimmung der intrakraniellen Elastance durch Veränderungen der Lagerung oder Entnahme von Liquor, 4. Drainage von Liquor cerebrospinalis zur akute Entlastung des ICP, 5. Entnahme von Liquor cerebrospinalis zur Labordiagnostik, 6. Kontrolle therapeutischer Interventionen zur Reduktion des ICP (Hyperventilation, Diuretika, Hypnotika). Die Punkte 3-5 können ausschließlich durch eine Ventrikeldrainage und nicht durch ein anderes Messverfahren realisiert werden. Die besondere Anatomie der Schädelbasis sowie die komplizierte Architektur duraler und arachnoidaler Strukturen bedingen, dass die Messung des ICP keine globale sondern eine bestenfalls regionale Aussage zur Elastance gestattet. Hieraus folgt, dass ein regional erhöhter ICP übersehen wird, wenn die Messsonde nicht in ein für die Grunderkrankung repräsentatives Hirnareal eingebracht wurde.

Management des ICP und des CPP Es besteht nach wie vor große Unsicherheit in der Definition von Interventionsgrenzen und therapeutischem Vorgehen bei der Behandlung des erhöhten ICP bzw. eines optimalen CPP. Die Schwierigkeiten ergeben sich nicht nur aus einem Mangel an Gewissheit (,,evidence") hinsichtlich dieser oder jener Therapie, sondern besonders aus der extrem heterogenen Pathophysiologie, die dem erhöhten ICP und der inadäquaten Perfusion nach zerebraler Schädigung zugrunde liegt. Eine differenzierte und am individuellen Patientenstatus orientierte Therapie kann daher nur auf der Basis eines zerebralen Monitorings erfolgen.

ICP Die Interventionsgrenze für einen erhöhten ICP liegt oberhalb von 20 - 25 mmH [2]. Eine angemessene Reduktion des ICP kann nur auf der Basis der zugrunde liegenden Pathologie erfolgen: Ist der ICP als Folge eines Ödems erhöht (Sauerstoffsättigung im Bulbus venae jugularis (SvjO 2) < 50 mmHg, erhöhte arterio-jugularvenöse SauerstoffGehaltsdifferenz (AJDO2), normaler oder erhöhter Laktat-Sauerstoff-Extraktions Index (LOI)), sind Lagerungsmaßnahmen sowie die Gabe von Osmodiuretika und Barbituraten indiziert (siehe dort). Ist der ICP als Folge einer zerebralen Hyperämie erhöht (SvjO 2 > 70 mmHg, niedrige AJDO 2 , normaler LOI) sollte eine interventionelle Hyperventilation eingeleitet werden (siehe dort), um das zerebrale Blutvolumen zu reduzieren und gleichzeitig die CBF dem Hirnstoffwechsel anzupassen. Keine dieser Interventionen darf jedoch zu einer Reduktion des CPP führen [3]. CPP Derzeit existieren zwei unterschiedliche therapeutische Ansätze, durch Optimierung des CPP die Hirndurchblutung auf ein dem metabolischen Bedarf des Gehirns angemessenes 180

Niveau einzustellen. Die von Rosner eingeführte Theorie der ,,Kaskade der zerebralen Vasodilatation und Vasokonstriktion" fokussiert den CPP als therapeutische Größe für die zerebrale Perfusion [4]. Das Konzept einer am CPP orientierten Therapie des ICP setzt eine intakte zerebrovaskuläre Autoregulation voraus und strebt einen hohen CPP (CPP > 70 mmHg) an, um eine autoregulative zerebrale Vasokonstriktion zur Kontrolle des ICP zu nutzen. Demgegenüber orientiert sich ein als „Lund Konzept" eingeführtes Regime an der Behandlung des posttraumatischen Hirnödems und des ICP [5,6]. Der therapeutische Ansatz des „Lund Konzepts" orientiert sich an der Kontrolle des ICP auf einem niedrigen Niveau, um in der Erholungsphase der defekten Blut-Hirn-Schranke die Entstehung eines Hirnödems mit konsekutiver zerebraler Ischämie zu verhindern. Die Reduktion des ICP wird durch die Kombination der folgenden drei Maßnahmen angestrebt: 1. Reduktion des zerebralen Blutvolumens (Venokonstriktion) durch Infusion von Dihydroergotamin, 2. Reduktion des kapillären hydrostatischen Drucks durch Infusion des alpha-2-Agonisten Clonidin und des beta-1-Antagonisten Metoprolol, und 3. Stabilisierung des intravasalen kolloidosmotischen Drucks auf einem physiologischen Niveau (Plasmaalbuminkonzentration > 40 g/l). Obwohl diese Konzepte auf den ersten Blick miteinander konkurrieren, könnte jede dieser Vorgehensweisen in Abhängigkeit vom individuellen Zustand der zerebrovaskulären Autoregulation und der Blut-Hirn-Schranke indiziert sein. Für jeden dieser Therapieansätze fehlt derzeit eine Absicherung, nach der die eine oder andere Behandlungsform das neurologische Endergebnis verbessert. Wegen der nicht abgeschlossenen Diskussion um das optimale Management des ICP und des CPP glauben die Autoren, derzeit die folgende Vorgehensweise auf der Basis der aktualisierten Empfehlungen der Brain Trauma Foundation abgeben zu können: Der CPP sollte in einem Bereich von 60 - 70 mmHg eingestellt werden. CPP-Werte > 70 mmHg sind wegen der Gefahr eines ARDS nicht indiziert. Eine arterielle Hypotension muss zu jedem Zeitpunkt vermieden werden [7].

Beatmung und ICP Eine systemische Hypoxie [8] und Hyperkapnie gelten als wesentliche Faktoren für die Entstehung sekundärer Hirnschädigungen. Patienten mit schwerer zerebraler Schädigung (Glasgow-Coma-Scale < 8) müssen endotracheal intubiert und unter Analgesie und Sedierung kontrolliert beatmet werden. Die Therapie einer Hypoxie orientiert sich an den folgenden Größen: Es sollte ein paO 2 von 100 mmHg angestrebt werden. Die Induktion von positiv-endexspiratorischem Druck (PEEP) ist auch bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma immer dann gerechtfertigt, wenn hierdurch zusätzliche Alveolen rekrutierbar sind und die inspiratorische OrKonzentration reduziert werden kann [9]. Obwohl in der Vergangenheit ein PEEP wegen der Befürchtung der reduzierten hirnvenösen Drainage als kontraindiziert galt, ist die Anwendung eines PEEP von bis zu 10 cm H2O hinsichtlich des ICP unkritisch. Ohnehin wird bei diesen Patienten eine ICPMessung indiziert sein was die kontinuierliche Überwachung der PEEP-Wirkung gestattet. Patienten mit respiratorischer Globalinsuffizienz können in jedem Fall in Bauchlage verbracht werde. Eine kritische Zunahme des ICP ist in dieser Position dann nicht zu befürchten, wenn sowohl die atlanto-okzipitale Achse als auch die Halswirbelsäule konsequent in Neutralposition gelagert wird. 181

Maßnahmen zur Kontrolle des ICP Hyperventilationstherapie

Die Hyperventilation ist Teil des traditionellen Therapiekonzeptes bei intubierten und kontrolliert beatmeten Patienten mit erhöhtem ICP. Die therapeutische Grundlage hierfür bildet die COi-Reaktivität der Hirngefäße. Unter Hyperventilation kommt es zu einer Abnahme des paCO2 , einer respiratorischen Alkalose und zu einer Reduktion von arteriolärem Gefäßquerschnitt und CBF. Zerebrale Ischämie und Neurotrauma gehen mit neuronaler, glialer und interstitieller Laktatazidose, Vasospasmus, Vasoparalyse (Hyperämie) und der Ausbildung eines Hirnödems einher. Auf der Basis dieser Pathomechanismen kann eine Hyperventilation die Laktatazidose reduzieren, die CBF aus gesunden Gefäßprovinzen zugunsten maximal vasodilatierter ischämischer Territorien umverteilen und den ICP durch hypokapnische Vasokonstriktion und Reduktion des zerebralen Blutvolumens absenken. Derzeit gilt die folgende Vorgehensweise: Das traditionelle Konzept einer generellen, präventiven, forcierten Hyperventilation in der Behandlung des erhöhten ICP ist überholt [10). Bei Patienten mit passageren Hirndruckkrisen kann eine vorübergehende Hyperventilation (paCO 2: 30-32 mmHg) eine lebensrettende Maßnahme darstellen, bis spezifischere Interventionen die Hyperventilationstherapie ersetzen können [ 11]. Im freien Intervall sollten die Patienten auf der Basis eines zerebralen Monitorings (z.B. ICP, jugularvenöse Sättigung oder TCD) in eine Normokapnie (paCO2 : 38-40 mmHg) zurückgeführt werden. Im weiteren Verlauf muss sich die Entscheidung zu einer Hyperventilation an der Ursache der ICP-Steigerung orientieren. So besteht bei fast allen Patienten in den ersten Stunden nach der Verletzung ein reduzierter Hirnstoffwechsel mit konsekutiver Reduktion der CBF (keine Ischämie!). Später entwickelt sich bei etwa 55% der Patienten eine zerebrale Hyperämie; in dieser Situation werden die Patienten von einer Hyperventilation profitieren, weil die hypokapnische Vasokonstriktion das zerebrale Blutvolumen und den ICP reduziert ohne gleichzeitig eine Ischämie auszulösen. Bei 45% der Patienten hingegen entwickelt sich eine posttraumatische Hypoperfusion mit konsekutivem Hirnödem. Diese Patienten werden durch eine Hyperventilation gefährdet, da die hypokapnische Vasokonstriktion die vorbestehende zerebrale Ischämie verstärkt [3]. Ein differenzierter Einsatz der Hyperventilation bei Patienten mit erhöhtem ICP kann konsequenterweise nur auf der Basis eines zerebralen Monitorings erfolgen, welches die Ursache einer ICP-Steigerung (Hyperämie vs. Ödem) identifiziert [ 12). Lagerungsmaßnahmen

Eine 25° - 30° Oberkörperhochlagerung begünstigt die hirnvenöse Drainage, reduziert das intrakranielle Volumen und somit den ICP. Diese Intervention kann sich jedoch bei fehlender orthostatischer Gegenregulation, Hypovolämie oder kreislaufinstabilen Patienten ungünstig auswirken, wenn es mit der veränderten Körperposition zu einem relevanten Abfall des arteriellen Blutdrucks kommt. Unter Berücksichtigung des ICP-Verlaufs kann sowohl eine Rückenlage, Seitenlage oder Bauchlage gewählt werden. In jeder dieser Positionen muss eine neutrale Position im Atlantookzipitalgelenk ohne Torsion des Halses konsequent aufrechterhalten werden. Hypothermie

Verschiedene prospektiv und randomisiert durchgeführte Phase-II-Studien an Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma haben gezeigt, dass die Induktion einer milden Hypothermie von 33 - 34 °C über bis zu 48 Stunden den ICP bei ansonsten ausgeschöpften Therapieoptionen reduziert und die Überlebensrate ebenso wie die neurologische Funktion verbessert. Erstaunlicherweise waren diese günstigen Ergebnisse in einer multizentrischen Studie nicht reproduzierbar, weswegen die Hypothermiebehandlung derzeit nur als Option bei therapierefraktären Hirndruckkrisen eingestuft wird [13,14). Schwierigkeiten 182

bei der Umsetzung des multizentrischen Studienprotokolls haben jedoch Zweifel an der Validität der Ergebnisse laut werden lassen. Die definitive Notwendigkeit einer effektiven Therapie febriler Zustände bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma ist hingegen gesichert [15]. Als Behandlungsoptionen kommen die folgenden Interventionen in Frage: a) Antipyretika wie Paracetamol oder Metamizol (Cave: Reduktion des arteriellen Blutdrucks), b) gekühlte Infusionen, c) Einsatz intravasaler Kühlkatheter, d) Einsatz konvektiver thermischer Systeme (WarmTouch'" oder Bair Hugger®Polar Air"'), e) Auflegen von Kühlelementen oder feuchten Tüchern, t) kurzfristige Gabe nicht depolarisierender Muskelrelaxanzien zur Reduktion eines physiologischen oder thermoregulatorischen Muskelzitterns. lnfusionstherapie Das lnfusionskonzept bei Patienten mit zerebraler Schädigung strebt eine rasche Korrektur hypovolämer Zustände und die Aufrechterhaltung eines physiologischen intravasalen Volumenstatus an (normofrequent, normoton, ZVD 8-12 mmHg, zentralvenöse Sauerstoffsättigung> 70 %, spontane Diurese von> 70 ml/h). Hierdurch ist eine wichtige Voraussetzung erfüllt, einen adäquaten CPP darzustellen (siehe oben). Das Dogma, Patienten mit zerebraler Läsion „trocken zu fahren" ist definitiv überholt und gilt wegen der Gefahr einer Hypovolämie-induzierten arteriellen Hypotension als kontraindiziert. Die lnfusionstherapie muss sich an der physiologischen Plasmaosmolarität bzw. einem normalen osmotischen Druck orientieren, um die Entwicklung eines Hirnödems mit erhöhtem ICP zu vermeiden. Diese Aussage trifft jedoch nur für Gefäßprovinzen mit intakter Blut-Hirn-Schranke zu. Ist diese durch das Trauma gestört, ist das Verhalten des Flüssigkeitstransfers nicht mehr vorhersehbar. Isotone NaCl-Lösung, Ringer-Lösung, kolloidale Substanzen Grundsätzlich sind zur Flüssigkeitstherapie alle lnfusionslösungen geeignet, welche als isoosmolare Substanzen vorliegen und auch nach der Infusion isoosmolar bleiben. Hierzu zählen die isotone (0,9%) NaCl-Lösung, die Ringer-Lösung und kolloidale Substanzen. Glukose-Lösungen Glukose-Lösungen sind als Komponente einer Flüssigkeitssubstitution bei Patienten mit erhöhtem ICP ausschließlich zur Behandlung einer Hypoglykämie indiziert. GlukoseLösungen werden rasch metabolisiert und hinterlassen große Mengen an freiem Wasser, welches die Entstehung eines interstitiellen und intrazellulären Ödems fördert. Osmodiuretika Mannitol ist ein Osmodiuretikum, dessen günstiger Einfluss auf den intrakraniellen Druck, den zerebralen Perfusionsdruck, die Hirndurchblutung und den Hirnstoffwechsel tierexperimentell und klinisch als gesichert gilt [16]. Spätestens seit einer Untersuchung von Patienten mit akuten traumatischen subduralen Hämatomen, bei denen eine hohe Dosis von Mannitol (1,4 g·kg· 1) das neurologische Ergebnis nach 6 Monaten signifikant verbesserte, gilt die Substanz als Medikament der ersten Wahl zur Reduktion des pathologischen intrakraniellen Drucks [17,18]. Mannitol induziert durch Zunahme der Plasmaosmolarität eine Umverteilung von extrazellulärem Wasser zurück in den lntravasalraum, was der Entstehung eines Hirnödems entgegenwirkt. Die konsekutive Plasmaexpansion senkt den Hämatokrit und die Plasmaviskosität. Hierdurch werden die

183

Durchblutung und das Sauerstoffangebot in ischämischen Provinzen verbessert. Die günstigeren Fließeigenschaften des Blutes gestatten auch eine Reduktion des zerebralen Blutvolumens durch raschere Drainage des hirnvenösen Blutes beziehungsweise durch autoregulative Vasokonstriktion. Die osmotische Wirkung des Mannitols tritt mit einer Verzögerung von 5 - 20 Minuten ein. Mannitol (15%-ige oder 20%-ige Lösung) sollte weder als Teil eines rigiden, präventiven Zeitschemas noch kontinuierlich über Perfusor appliziert werden. Vielmehr ist in Phasen pathologischer Hirndruckwerte die Gabe der Substanz als Kurzinfusion (0,25 - lg·kg- 1) indiziert ohne eine Tagesdosierung von 4g·kg-1 ·d- 1 bzw. eine Plasmaosmolarität von 320 mOsm/kg (Gefahr der akuten renalen tubulären Nekrose) zu überschreiten. Die Sorge, durch Infusion von Mannitol ein „Rebound-Phänomen" durch Akkumulation der Substanz im Interstitium auszulösen, scheint nur bei defekter Blut-Hirn-Schranke und einer Therapiedauer von mehr als 4 Tagen gerechtfertigt zu sein. Die günstigen Eigenschaften von Mannitol scheinen durch die Gabe von Furosemid unterstützt zu werden. Ein neues Behandlungskonzept bei erhöhtem intrakraniellem Druck ist die Infusion einer hypertonen NaCl-Lösung (7,5 - 23 %) [19]. Sie eignet sich nicht nur als „small volume resuscitation" bei Patienten mit multiplen Verletzungen, sondern bewirkt durch Zunahme des arteriellen Blutdrucks und gleichzeitige Abnahme des intrakraniellen Drucks · einen Anstieg des zerebralen Perfusionsdrucks. So entspricht die hirndrucksenkende Wirkung einer hypertonen NaCl-Lösung der des Mannitols. Wenn Hirndruckkrisen durch Barbiturate und Mannitol nicht mehr behandelbar sind, kann durch die zusätzliche Infusion hypertoner Lösungen doch noch eine Reduktion des ICP erreicht werden (20]. Barbiturat-Koma Barbiturate reduzieren den zerebralen Stoffwechsel und den Energiebedarf parallel zu einer Reduktion der neuronalen Aktivität, bis ein isoelektrisches EEG erreicht ist. Dies führt zu einem Abfall der Hirndurchblutung ggf. mit Umverteilung von Blut aus gesunden Hirnprovinzen zu Gunsten maximal vasodilatierter ischämischer Areale und zur Reduktion des ICP. Eine Cochrane Analyse zeigte, dass Barbiturate das neurologische Defizit und die Mortalität im Vergleich zu einer Standardtherapie ohne Barbiturate nicht verbessern, wohl aber den ICPeffektiv senken können [21]. In einem von vier Patienten kam es unter Barbiturat-Therapie zu einem Abfall des MAP, der den ICP senkenden Effekt von Barbituraten durch die autoregulative Vasodilatation wieder aufhob. Unter der Voraussetzung hämodynamischer Stabilität kann daher bei Patienten mit zerebraler Läsion und pharmakologisch, physikalisch sowie chirurgisch austherapierter intrakranieller Hypertension eine hochdosierte Barbituratinfusion zur Reduktion des ICP beitragen. Die prophylaktische Gabe von Barbituraten mit dem Ziel, eine Zunahme des ICP zu vermeiden, ist in keinem Fall gerechtfertigt. Glukokortikoide Die Infusion von Glukokortikoiden bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma und erhöhtem intrakraniellen Druck ist nicht gerechtfertigt, da weder für Dexamethason noch Methylprednisolon ein verbessertes neurologisches Ergebnis nachweisbar war [22-24]. Dekompressionstrepanation Die rasche operative Entlastung epiduraler, subduraler oder parenchymatöser raumfordernder Blutungen ist eine kausale und effektive Behandlung von Patienten mit Schädel zerebraler Schädigung. Patienten mit therapierefraktärer Hirndrucksteigerung profitieren möglicherweise von einer Dekompressiontrepanation mit großzügiger Duraerweiterungsplastik. Derzeit wird diese Intervention als „ultima ratio" eingestuft, ohne im Sinne der „evidence-based medicine" abgesichert zu sein. Kritiker dieser Intervention realisieren zwar eine wahrscheinliche Reduktion der Mortalität, glauben jedoch, dass durch die 184

späte chirurgische Intervention lediglich eine Zunahme von Patienten mit vegetativem Status erreicht wird. Eine frühzeitige Durchführung der Dekompressionskraniektomie kann die Mortalität reduzieren und das neurologische Endergebnis verbessern. Etwa 25 % der Patienten die aufgrund eines schweren Schädel-Hirn-Traumas ein hohes Hirntodrisiko hatten können nach einer Dekompressionskraniektomie innerhalb eines Jahres sozial wieder vollständig integriert werden [25]. Bei jüngeren Patienten(< 50 Jahre) und insbesondere bei Kindern sind die Ergebnisse nach früher Dekompression noch günstiger. Eine Dekompressionskraniektomie sollte daher bei Patienten mit einer massiven Hirnschwellung innerhalb der ersten 48 Stunden durchgeführt werden wenn sie jünger als 50 Jahre sind und keine extrakraniellen Begleiterkrankungen haben. Liegt eine schwere Begleitverletzung vor so sollte die Altergrenze auf 30 Jahre heruntergesetzt werden. Vor Dekompression sollte eine primäre Schädigung des Hirnstamms ausgeschlossen werden. Um eine endgültige Beurteilung der Dekompressionskraniektomie (Zeitpunkt, Patientenalter, Art der Schädigung, neurologisches Endergebnis) zu untersuchen werden derzeit zwei klinische Studien durchgeführt (DECRAN und RESCUEicp).

Zusammenfassung Die Basistherapie von Patienten mit neuronaler Schädigung zielt darauf ab den ICP unterhalb von 25 mmHg und den CPP innerhalb des Bereichs von 60 - 70 mmHg zu halten. Der erhöhte ICP kann über eine Gabe von Osmodiuretika (Mannitol, hypertone NaCl-Lösung), eine Vermeidung hypoosmolarer Lösungen, eine Optimierung der Lagerung und eine adäquate Analgosedierung mit der Option zum Barbituratkoma (bei stabiler Hämodynamik) therapiert werden. Falls diese Maßnahmen nicht ausreichend sind besteht die Option einer Hypothermiebehandlung, einer Hyperventilation und der Dekompressionskraniektomie.

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Praktisches Vorgehen bei der Organspende H.

THEILEN,

M.

RAGALLER

1. Einleitung Die Organspende bedingt vor der praktischen Durchführung den Umgang mit einem in vieler Hinsicht sehr schwierigen Themenbereich, der durch unsensible Herangehensweise sehr rasch zu heftiger Abwehr insbesondere der „nicht-medizinischen Öffentlichkeit" führt. Dies ist umso mehr problematisch, da in aller Regel nicht die Organspender selber sondern vor allem die Angehörigen unter den damit verbundenen Umständen zusätzlich leiden können. Dabei gilt es zu beachten, dass nicht nur die für die Organspende notwendigen medizinischen Voraussetzungen einzuhalten sind, sondern auch in erheblicher Weise ethische und zwischenmenschliche Angelegenheiten mit Bedacht angegangen werden müssen. Um eine Organspende in jeder Hinsicht erfolgreich zu gestalten und damit die Akzeptanz dieses Verfahrens, mit dem wirklich medizinische Hilfe geleistet werden kann, positiv zu beeinflussen, ist es besonders für das beteiligte medizinische Personal eminent wichtig, das dazu notwendige Procedere genau zu kennen und entsprechend einzuhalten. Bevor eine Organspende initiiert werden kann, sind mehrere Voraussetzungen zu erfüllen: • ein potenzieller Organspender muss bekannt sein, d.h. die Hirntoddiagnostik muss abgeschlossen sein bzw. die Lebendorganspende muss in allen rechtlichen und medizinischen Einzelheiten geklärt sein • die Zustimmung des Organspenders muss vorliegen • das für die Transplantation vorgesehene Organ muss in einem ausreichend funktionsfähigen Zustand sein. Diese Voraussetzungen sollen im Folgenden in den notwendigen Einzelheiten besprochen werden.

2. Voraussetzungen für die Organspende Die Lebendorganspende ist eine Besonderheit, die den Umfang der vorliegenden Übersichtsarbeit überschreitet. Um die Besonderheiten dieses Verfahrens kennen zu lernen, verweise ich auf die entsprechenden Gesetzestexte insbesondere des §8 des Transplantationsgesetzes (TPG) sowie auf die Website des „Forum Organspende und Transplantation" (www.transplantation-information.de). Es existieren diesbezüglich länderspezifische Ausführungsgesetze sowie einige, nach wie vor noch nicht sicher geklärte versicherungsrechtliche Aspekte, die in diesem Zusammenhang einen absolut individuellen Umgang mit der Problematik erfordern. Der Handel mit Spenderorganen, d.h. auch der Kauf, ist in Deutschland per strafrechtlicher Androhung nach § 17 TPG verboten. Zudem gilt gemäß Bundesgerichtshofsurteil vom 17.2.2004: ,.Die Krankenkasse hat grundsätzlich nicht für die Kosten einer im Ausland vorgenommenen Organtransplantation aufzukommen, wenn sich der Versicherte das Spenderorgan unter Umgehung des in Deutschland nach dem Transplantationsgesetz maßgeblichen Vergabesystems beschafft."

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2.1. Hirntodbestimmung In §3, Abs. l des TPG vom 5. November 1997 (BGBL.I S.2631) ist festgelegt, dass ,, ... die Entnahme von Organen ... nur dann zulässig ist, wenn der Tod des Organspenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist ... ". Bereits 1964 wurde auf dem Deutschen Chirurgenkongress erstmals ein Diagnoseschema zur Hirntodbestimmung diskutiert. Die ersten Entscheidungshilfen zur Feststellung des Hirntodes wurden in Deutschland dann vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer 1982 unter Leitung des Neurochirurgen H. Kuhlendahl formuliert. ,,Die Erfahrung, dass ein wesentlicher diagnostischer Unterschied zwischen primär supratentoriellen beziehungsweise infratentoriellen Hirnschädigungen gemacht werden muss, veranlasste 1986 die erste Fortschreibung des Kriterienkataloges. Der technische Fortschritt, insbesondere bei den neurophysiologischen und nuklearmedizinischen Verfahren und die Einführung der transkraniellen Dopplersonographie erforderten in den Jahren 1991 und 1997 die zweite und dritte Fortschreibung der Entscheidungshilfen." (Zitat: Vorwort der Kriterien des Hirntodes in der 3. Fortschreibung 1997). Es existiert jedoch in Bezug auf die Hirntodbestimmung und den gültigen Kriterien kein Gesetzestext. Wie in der Einleitung beschrieben, ,, ... sind die folgenden Richtlinien Entscheidungshilfen für den Arzt. Bei ihm liegt die unteilbare Verantwortung für die Feststellung des Hirntodes ... ". Der Hirntod als solcher ist definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten. Das diagnostische Vorgehen zur Feststellung des Hirntodes umfasst: • die Erfüllung der Voraussetzungen, • die Feststellung der klinischen Symptome Bewusstlosigkeit (Koma), HirnstammAreflexie und Atemstillstand (Apnoe), • den Nachweis der Irreversibilität der klinischen Ausfallsymptome.

Zu den Voraussetzungen gehört • das Vorliegen einer akuten schweren primären oder sekundären Hirnschädigung. (bei den primären Hirnschädigungen ist zwischen supratentoriellen und infratentoriellen Schädigungen zu unterscheiden) • der Ausschluss von Intoxikation, dämpfender Wirkung von Medikamenten, neuromuskulärer Blockade, primärer Unterkühlung (Körpertemperatur < 32° C), Kreislaufschock, Koma bei endokriner, metabolischer oder entzündlicher Erkrankung als mögliche Ursache oder Mitursache des Ausfalls der Hirnfunktion im Untersuchungszeitraum. Primäre Hirnschädigungen, insbesondere Hirnverletzungen, intrakranielle Blutungen, Hirninfarkte, Hirntumoren oder akuter Verschluss-Hydrozephalus, betreffen das Gehirn unmittelbar und strukturell. Bei primären infratentoriellen Prozessen ist auf die Besonderheiten der Symptomfolge zu achten, die den Nachweis eines Null-Linien-EEGs oder des zerebralen Zirkulationsstillstandes (siehe unten) zwingend erforderlich machen. Sekundäre Hirnschädigungen betreffen das Gehirn mittelbar über den Stoffwechsel und können die Folge z.B. von Hypoxie, Hypoglykämie, von kardial bedingtem Kreislaufstillstand oder protrahiertem Schock sein. Der Ausschluss von Intoxikation bzw. Medikamenteneinfluss erfolgt durch genaues Studium der Patientenkurve unter Berücksichtigung der applizierten Medikamente und ihrer bekannten Plasmaverweildauer. Bei nicht sicher abschätzbarer Konstellation, beispielsweise nach Applikation von Benzodiazepinen in der Initialphase der Versorgung eines polytraumatisierten Patienten vor Feststellung des Hirntodes, sollte eine Bestimmung der Plasmakonzentration des entsprechenden Medikamentes erfolgen. Schwierig bleibt, eine Grenzdosis festzulegen, da zum einen eine Plasmakonzentration nur bedingt 188

Rückschlüsse auf die effektiv am Rezeptor wirksame Konzentration zulässt und zum anderen eine hohe interindividuelle Schwankbreite hinsichtlich Wirksamkeit und notwendiger Plasma- bzw. Rezeptorkonzentration besteht. Der Patient darf zudem kein metabolisches oder endokrines Koma aufweisen, zudem muss eine Kreislaufinstabilität im Sinne eines Schocks (systolischer Blutdruck > 100 mmHg) ausgeschlossen sein. Die klinischen Symptome des Ausfalls der Hirnfunktion umfassen den gleichzeitigen Nachweis einer tiefen Bewusstlosigkeit (Koma), den Ausfall aller Hirnstammreflexe sowie den vollständigen Ausfall der Spontanatmung trotz entsprechendem Reiz. Die tiefe Bewusstlosigkeit definiert einen Zustand, in dem jegliche zentral gesteuerte Antwort auf einen äußeren Reiz wie Ansprache, Berührung, Bewegung oder Schmenreiz unterbleibt. Spontane Laute oder gezielte Bewegungen fehlen und auch ein heftiger Schmenreiz kann keine zentral gesteuerte Antwort auslösen. Unbedingt unterschieden werden müssen hierbei Spontanbewegungen als Ausdruck spinaler Reflexaktivität auf einen von außen wirkenden Reiz, der sich z.B. in Kopfdrehen, Augenöffnung , Extensions- und Pronationsbewegungen u.v.m. äußern kann. Verschiedene Ursachen dieses Phänomens werden gegenwärtig diskutiert. Zum einen kann es sich um eine hypoxisch bedingte Hyperexzitabilität spinaler Neurone handeln, die zudem von der Kontrolle rostraler Neuronen des Gehirns entkoppelt sind, aber auch ein mechanischer Einfluss auf die Spinalwunelnerven wird angenommen [1]. Der Ausfall der Hirnstammreflexe wird durch folgende Untersuchungen dokumentiert: Lichtstarre beider ohne Mydriatikum mittel- bis maximal weiten Pupillen (N. occulomotorius; Cave: Adrenalin ist auch in systemischer Applikation ein potenzielles Mydriatikum) • Fehlen des okulo-zephalen Reflexes (N. trochlearis, N. abducens, N. vestibularis) • Fehlen des Kornealreflexes (N. trigeminus, N. facialis) Fehlen von Reaktionen auf Schmenreize im Trigeminusbereich • (Hier soll eine Kreislaufreaktion bzw. Bewegung auf den Schmerzreiz unterbleiben, da im Gegensatz zum Schmerzreiz an Thorax, Bauch oder Extremitäten keine spinale Reflexaktivtät induziert werde kann.) • Fehlen des Pharyngealreflexes (N. glossopharyngeus, N. hypoglossus) • Fehlen des Trachealreflexes (komplexes Reflexmuster mit Hirnstammbeteiligung).



Sollte der okulo-zephale Reflex wegen einer Instabilität der Halswirbelsäule nicht prüfbar sein, kann alternativ der vestibulo-okuläre Reflex untersucht werden. Das bedeutet, den äußeren Gehörgang mit Eiswasser zu spülen, was bei Bestehen einer Hirnstammfunktion eine Augenbewegung induziert. Beim hirntoten Patienten hingegen wird keine Bewegung zu beobachten sein. Neben diesen Untersuchungen zur Hirnstammareflexie wird zusätzlich ein Apnoetest gefordert. Dieser bestätigt den Untergang der Funktion des Atemzentrums in der Medulla oblongata, ein Bereich, der den Übergang vom Gehirn zum Rückenmark kennzeichnet und als eines der untersten und phylogenetisch ältesten Funktionszentren des Gehirns betrachtet werden kann. Voraussetzung zur Durchführung dieses Tests ist die kontinuierliche Aufrechterhaltung einer adäquaten Oxygenierung, die durch zweierlei Verfahren - auch in Kombination anwendbar - gesichert werden kann: 1. ausführliche Präoxygenierung vor Beginn des Tests 2. apnoeische Oxygenierung durch Insufflation von Sauerstoff via Tubus mittels Sonde (z.B . Absaugkatheter). 189

Die Kombination beider Verfahren empfiehlt sich bei Patienten, bei denen im Rahmen ihrer Grunderkrankung, eines längeren Aufenthaltes auf der Intensivstation mit Beatmungsnotwendigkeit oder wegen spezifischer pulmonaler Vorerkrankungen mit Oxygenierungsproblemen zu rechnen ist. Nach durch Blutgasanalyse nachgewiesenem CO 2-Partialdruckanstieg auf Werte > 60 mmHg (> 8 kPa) darf keine Spontanatmung nachweisbar sein. Eine auch noch so geringfügige Atemanstrengung darf per inspectionem nicht zu beobachten sein. Alternativ kann auch bei sehr niedrig eingestelltem Triggerwert am Respirator die Auslösung eines maschinellen Atemzuges ausgeschlossen werden. Diese Variante ist beispielsweise bei Notwendigkeit der Beatmung unter einem hohen endexspiratorischen Drucks (PEEP) infolge einer schweren pulmonalen Erkrankung anzuraten, da ansonsten eine erhebliche Verschlechterung der Oxygenierung die Folge sein könnte, was eine potenzielle Organspende deutlich gefährdet. Patienten, die sich infolge einer vorbestehenden Lungenerkrankung an einen erhöhten COr Wert adaptiert haben, müssen entsprechend einem höheren COrPartialdruck ausgesetzt werden, der den „Regelwert" um den Faktor 1,5 übersteigt. Die Erfüllung der Voraussetzungen und alle geforderten klinischen Symptome müssen übereinstimmend und unabhängig von zwei qualifizierten Ärzten festgestellt und dokumentiert werden. Bei möglicher Organspende dürfen diese beiden Ärzte auch in keiner Weise an der Transplantation der Organe beteiligt sein. Diese klinische Untersuchung ist zur Feststellung des Hirntodes bei Erwachsenen und Kindern> 2 Jahre mit primärer supratentorieller bzw. sekundärer Hirnschädigung ausreichend. Dies hat jedoch zur Folge, dass die Untersuchung in einem zeitlichen Abstand von 12 Stunden, der so genannten Schwebe- oder Beobachtungszeit, bei sekundärer Hirnschädigung nach 72 Stunden, nochmals vollständig wiederholt werden muss. Diese Regelung zeigt ein mehr als hinreichendes Maß an diagnostischer Gründlichkeit. Sie wurde jedoch auch initiiert, um kleineren Krankenhäusern ohne Möglichkeit der apparativen Ergänzungsuntersuchung die Möglichkeit zu eröffnen, die Hirntodbestimmung durchzuführen. Die Schwebezeit und damit auch die zweite klinische Untersuchung können jedoch nach durchgeführter apparativer Ergänzungsuntersuchung entfallen. Nach erfolgter klinischer Hirntoddiagnostik und entsprechend den unten genannten Kriterien der Ergänzungsuntersuchungen ausgefallener Diagnostik kann der Hirntod durch beide Untersucher ausgesprochen und auf dem Protokoll dokumentiert werden, ohne die Beobachtungszeit abzuwarten. Die zweimalige Bestätigung des Hirntodes nach entsprechender Beobachtungszeit gilt jedoch nicht für Kinder < 2 Jahre und bei infratentorieller Hirnschädigung. Hier muss eine ergänzende apparative Untersuchung erfolgen. Bei Frühgeborenen < 37 Wochen Gestationsalter sind die Himtodkriterien überhaupt nicht anwendbar. Hier kann eine Himtoddiagnostik bis zum Erreichen des entsprechenden Lebensalters nicht durchgeführt werden. Als technische Untersuchungsverfahren sind geeignet: • EEG • transkranielle Dopplersonographie (nicht bei Kindern< 28 Tage Lebensalter) • Himszintigraphie. Akustisch evozierte Potentiale sind bis auf Patienten mit primär infratentoriellen Hirnschädigungen prinzipiell auch anwendbar, sie haben sich aber wegen ihrer schwierigen Durchführbarkeit und höheren Artefaktanfälligkeit wenig durchgesetzt. Das EEG soll in Anlehnung an die Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie abgeleitet werden und muss von einem darin erfahrenen Arzt kontrolliert und beurteilt werden. In einer 30-minütigen möglichst artefaktfreien Aufzeichnung muss ein Null-Linien-EEG nachweisbar sein. 190

Mit der transkraniellen Dopplersonographie bzw. der Hirnszintigraphie soll ein zerebraler Zirkulationsstillstand nachgewiesen werden. Dies wird bei der Dopplersonographie durch eine oszillierende Strömung, den so genannten Pendelfluss sichtbar, bei der Perfusionsszintigraphie durch eine fehlende Darstellung der zerebralen Gefäße. Nähere technische und apparative Details finden sich in den entsprechenden Publikationen der Bundesärztekammer, auch via Internet (www.bundesaerztekammer.de/30/Richtlinien/ Richtidx/Hirntod/index.html; Stand: 24.07.1998). Es ist wichtig, dass, wie von der Bundesärztekammer gefordert und über die Deutsche Stiftung Organspende (DSO) organisiert, jederzeit rufbereite Konsiliardienste für die Hirntoddiagnostik durch die Organisationszentrale der jeweils zuständigen Koordinierungsstelle zur Verfügung stehen. Die jeweilige Kontaktadresse bzw. -telefonnummer kann der Homepage der DSO (www.dso.de) entnommen werden. 2.2. Richtlinien zur Organspende gemäß Transplantationsgesetz Am 1. Dezember 1997 ist das „Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen" (Transplantationsgesetz - TPG) ist es in Kraft getreten. Dieses Gesetz gilt gemäß § 1, Abs. 2 nicht für Blut und Knochenmark sowie embryonale und fetale Organe und Gewebe, obwohl es sich hierbei streng genommen auch um Organspenden handeln könnte.

Nach den vom Europarat veröffentlichen Angaben liegt Deutschland im Jahr 2003 mit 13,8 postmortalen Organspendern je Million Einwohner im Mittelfeld europäischer Staaten: Großbritannien mit 12,1, Schweden mit 12,8, der Schweiz mit 13,2, Polen mit 13,7, Dänemark mit 13,9, Slowenien mit 14,0 und den Niederlanden mit 14,9 postmortalen Organspenderinnen und -spendern je Million Einwohner. Bei der in Deutschland geltenden "Erweiterten Zustimmungslösung" können bei einer schriftlichen Zustimmung zur Organentnahme (ab 16 Jahren) einem Menschen, bei dem der Hirntod festgestellt wurde, Organe und Gewebe entnommen werden. Wenn keine schriftliche Zustimmung vorliegt oder wenn der Hirntote jünger als 16 Jahre ist, müssen die Angehörigen eine Entscheidung treffen, entsprechend dem "mutmaßlichen Willen" des Hirntoten. Auf diese besondere Tatsache sollte der Arzt die Angehörigen unbedingt hinweisen. Bei Kindern sind diesbezüglich natürlich die Aussagen der Eltern bindend. Es sollte nicht die Zustimmung des Angehörigen dokumentiert werden, sondern,, ... Der Angehörige hat bei seiner Entscheidung einen mutmaßlichen Willen des möglichen Organspenders zu beachten ... " (§4, Abs. 1 TPG). Die Frage, welche Angehörige zur Entscheidung herangezogen werden dürfen, beantwortet das TPG folgendermaßen: ,,Nächste Angehörige im Sinne dieses Gesetzes sind in der Rangfolge ihrer Aufzählung Ehegatte, volljährige Kinder, Eltern oder, sofern der mögliche Organspender zur Todeszeit minderjährig war und die Sorge für seine Person zu dieser Zeit nur einem Elternteil, einem Vormund oder einem Pfleger zustand, dieser Sorgeinhaber, volljährige Geschwister, Großeltern." Allerdings sollte in den letzten 2 Jahren laut Gesetz ein persönlicher Kontakt bestanden haben. Es ist auch zulässig, die Entscheidung über die mögliche Organspende beispielsweise mittels Patientenverfügung auf eine in diesem Personenkreis nicht genannte Person zu übertragen. Haben die potenziellen Organspender oder ihre Angehörigen bei Zulassung zur Organspende keine Einschränkungen gemacht, kann eine Multiorganentnahme erfolgen. Gemäß TPG kann die Zulassung zur Organspende jedoch auch auf einzelne Organe beschränkt bleiben. Die Entscheidung, wer das Gespräch mit den Angehörigen führt, obliegt der Einschätzung der den potenziellen Organspender behandelnden Ärzte. Die Voraussetzungen der Hirntodfeststellung und das klinische Syndrom des Hirntodes müssen vor einem Gespräch mit Angehörigen über eine potentielle Organspende von wenigstens einem Arzt nachgewiesen sein. Das Gespräch selbst muss laut §4, Abs. 2 in Ablauf, Inhalt und 191

Ergebnis protokolliert werden. Die DSO stellt auf ihrer Website dafür ein standardisiertes Protokoll als Download zur Verfügung. Laut Leitlinien zur Organspende sollte das Gespräch der diensthabende Oberarzt oder der dienstälteste Arzt der Abteilung führen, um,, ... die Bedeutung der Situation und des Anliegens zu unterstreichen." Es gibt sowohl Gründe für als auch gegen ein Gespräch zwischen unmittelbar behandelndem Arzt und Angehörigen zur Aufklärung der Frage, ob eine Organspende in Frage kommt. So ist die genauere Kenntnis des Verletzungsmusters und damit die optimale Möglichkeit, den Angehörigen die unwiderruflich letale Hirnschädigung erklären zu können, ein wichtiger Grund für den unmittelbaren Kontakt. Dem wird entgegengestellt, dass die Angehörigen möglicherweise bei dem behandelnden Arzt nicht sicher sind, ob dieser vielleicht eine Organspende mit der Tatsache verbindet, nicht alles medizinisch Mögliche für ihren betroffenen Verwandten zu unternehmen. Es existiert gemäß § 11 TPG ein Vertrag zwischen verschiedenen Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und der Bundesärztekammer mit der DSO, dass diese Stiftung als Koordinierungsstelle für Organtransplantation zu betrachten ist. Dies dient dem Ziel, eine strikte Trennung zwischen Organentnahme einerseits und Organvermittlung andererseits zu initiieren. Die DSO übernimmt ab dem Moment des festgestellten Hirntodes und einer möglichen Organspende das weitere Procedere zur Organisation und Vermittlung der dann notwendigen Maßnahmen und ist entsprechend früh zu informieren. Die Telefonnummern der zuständigen regionalen Koordinierungsstellen kann ebenfalls der Homepage der DSO entnommen werden. Es ist jedoch zu beachten, dass das Transplantationsgesetz die Krankenhäuser zur Meldung potentieller Organspender an die Transplantationszentren verpflichtet, sofern die medizinischen Voraussetzungen gemäß den „Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes" erfüllt sind, auch wenn eine Organspende bei Ablehnung durch den Verstorbenen nicht durchgeführt werden darf. Dies dient auch der Datenerhebung zur Erfassung und ggf. zur Verbesserung der Spendebereitschaft in der Bevölkerung. Die DSO hat neben ihren organisatorischen Aufgaben auch in vielerlei Hinsicht den Auftrag der Öffentlichkeitsarbeit übernommen. Vom Moment der Feststellung des Hirntodes nach erfolgter Zustimmung zur Organspende übernimmt der Beauftragte der DSO die Koordinierung der Organverteilung, die in Europa via Eurotransplant mit Sitz in Leuwen, Belgien, erfolgt. Von ihm werden auch die notwendigen Untersuchungen zur HLA-Klassifizierung sowie die Untersuchung zur Transplantationsfähigkeit in Frage kommender Organe organisiert. Es hat die Aufgabe, die wichtigen laborchemischen Untersuchung sowie ggf. eine ergänzende apparative Diagnostik (z.B. Echokardiographie, Sonographie des Abdomen, Röntgen-Thorax) in die Wege zu leiten. Der Stationsarzt sollte hier ggf. durch seine lokalen Kenntnisse spezifischer innerklinischer Abläufe helfend zur Seite stehen. Die Hauptaufgabe des behandelnden Arztes nach festgestelltem Hirntod besteht insbesondere darin, für die Aufrechterhaltung ausreichender organerhaltender Therapiemaßnahmen zu sorgen, damit die potenziellen Spenderorgane nicht durch systemische Prozesse wie beispielsweise einer Minderperfusion so stark geschädigt werden, dass sie nicht mehr transplantierbar sind. Unbedingt zu beachten ist die Tatsache, dass bei nicht-natürlicher Todesursache, d.h. beispielsweise bei jedem traumatisch bedingten Hirntod, vor Organentnahme die Zulassung vom zuständigen Staatsanwalt einzuholen ist. Dieser muss erst klären, ob die Organentnahme und die damit verbundenen Eingriffe möglicherweise einem Aufklärungsbedarf zur Ermittlung der Todesursache oder etwaiger anderer eine mögliche Straftat betreffenden Tatsachen entgegenstehen. Diese Aufgabe wird jedoch vom Organspendebeauftragten der DSO übernommen. Die nicht-natürliche Todesursache muss auf der Todesbescheinigung dokumentiert sein. Die Todesbescheinigung muss bei Beginn der Organentnahme vollständig und korrekt ausgefüllt dem Explanteur vorliegen. 192

3. Organprotektive Therapiemaßnahmen Nach wie vor ist weltweit die Warteliste von dringenden Organempfängern deutlich länger als die Zahl potenzieller bzw. durchgeführter Organspenden. Aufgrund dieser Tatsache aber auch anderer ethischer Überlegungen ist es essenziell, bei bestehender Zulassung zur Organspende Sorge dafür zu tragen, dass durch gezielte medizinische Maßnahmen die Organe des Spenders transplantationsfähig bleiben. Dies ist die nach Feststellung des Hirntodes und Zulassung zur Organspende vordringliche Aufgabe des Intensivmediziners und auch des Pflegepersonals, das hier ebenso eine entscheidende Funktion innehat. Absolute Ausschlusskriterien für eine Organspende werden zur Zeit folgende genannt: • HIV-Infektion • floride Tuberkulose • Sepsis bei nachgewiesenen multiresistenten Bakterien • nicht kurativ behandeltes Malignom. (Ausnahme: Spinaliome, Basaliome, primäre Hirntumore bis auf anaplastische Astrozytome, anaplastische Oligodendrogliome Grad C und D, Glioblastoma multiforme, Medulloblastome sowie einige andere seltene maligne Tumore des ZNS). Relative Ausschlusskriterien sind Hepatitis-Infektionen, da hier ggf. eine Organspende auf bereits infizierte Träger erfolgen könnte. Folgende Faktoren schließen eine Organspende nicht absolut aus, müssen aber im Einzelfall bedacht werden: Ein hohes Lebensalter des Spenders spricht nicht unbedingt gegen die Entnahme und Übertragung von Organen. Entscheidend ist nicht das kalendarische Alter, sondern der Funktionszustand der Organe. Bei einer bösartigen Tumorerkrankung des Spenders ist eine Organspende möglich, wenn kein Risiko besteht, die Krebserkrankung mit der Transplantation zu übertragen, z.B. nicht metastasierender Hauttumor. Bei strittigen Entscheidungen sollte man in jedem Fall die letzte Entscheidung, ob eine Organspende in Frage kommt, dem DSOKoordinator überlassen. Hier sind sehr detaillierte Konsensusdokumente des Europarats über die Akzeptanz von Organspendern mit Hirntumoren publiziert worden, die dieser kennt. Eine weitere Darstellung ist über die Website der DSO (InformationsordnerOrganspende, www.dso.de) abrufbar. Ist die Funktion der Organe eingeschränkt, muss geklärt werden, ob diese Funktionsverluste schon vor der Hirnschädigung bestanden haben oder erst danach aufgetreten und eventuell reversibel sind. Die sogenannte organprotektive Therapie beginnt mit der Feststellung des Hirntodes und wird bis zur Organexplantation zur Erhaltung der Transplantationsfähigkeit aller Organe fortgeführt. Um diese Therapie zielgerichtet unter möglichst wenig invasiver Therapie durchführen zu können, ist es wichtig, die potenziellen systemischen bzw. organspezifischen Probleme, die nach Ausfall der Hirnfunktionen einschließlich Hirnstamm, auftreten können, zu kennen. Die wichtigsten pathologisch relevanten Veränderungen sind: - ausgeprägte hyper- und hypotensive Entgleisungen - kardiale Arrhythmien Diabetes insipidus bei ADH-Mangel, ggf, in Kombination mit stattgehabter Mannitol-Therapie - Elektrolytstörungen - Hyperglykämie - Hypothermie 193

-

pulmonale Funktionsstörungen endokrine Störungen (Schilddrüsenhormon- und Cortisol-Mangel) weitere Freisetzung inflammatorischer Mediatoren mit potenziellem „capillaryleakage".

Eine erhebliche Stabilisierung der Gesamtsituation ist allein schon durch die Aufrechterhaltung einer Normovolärnie möglich. Dies sollte auch durch ein erweitertes hämodynamisches Monitoring mittels Pulse Contour Cardiac Output System (PICCO) oder sogar Pulmonalarterienkatheter erfolgen, um die intravasale Volumensituation exakt steuern zu können. Der PICCO-Katheter bietet hier den Vorteil, zum einen nicht positiv arrhythmogen zu wirken und zum zweiten das extravasale Lungenwasser bestimmen zu können. Diese Größe ist wichtig, um die Lungenfunktion so zu erhalten, dass auch dieses, meist sehr empfindliche und deshalb oft nicht mehr transplantierbare Organ in einem möglichst optimalen Funktionszustand bleibt. Als hämodynarnische Zielgrößen gelten hierbei: • MAP 70 - 90 mrnHg • ZVD 7 - 9 mmHg (e 10 - 12 cm H20). Sollte trotz adäquater Volumensubstitution eine Hypotonie fortbestehen, sollte eine Katecholarnintherapie indiziert werden. Hier ist in erster Linie Noradrenalin zu nennen, aber auch Dopamin kann eine ausreichende Stabilisierung ermöglichen. Doparnin ist eher bei einer bestehenden Bradykardie anzusetzen, da bei oft notwendigen Dosierungen von um die 10 µg/kg/min auch eine tachykardisierende Wirkung zu erwarten ist. Deshalb scheidet diese Wahl bei bereits bestehender Tachykardie eher aus. Zudem wird durch Dopamin eine positive Arrhythmogenität induziert, was bei bestehender Prädisposition zu bedenken ist. Auch hier gilt der Kernsatz: So wenig Katecholamine, wie möglich! Es kann ähnlich wie bei einem septischen Schock die Katecholamindosis durch die zusätzliche Gabe von Glucocorticoiden reduzierbar sein. Diese ist insbesondere unter Berücksichtigung des oft bestehenden und auch zentral bedingten Hypocortisolismus (Ausfall der ACTH-Sekretion) eine wichtige Therapiemaßnahme. Ein regelmäßig bei Patienten mit schwersten Hirnverletzungen zu beobachtendes Phänomen ist die nicht selten kaum mehr kontrollierbare Diurese. Diese wird durch einen zentralen Diabetes insipidus, oft in Kombination mit Hyperglykämie (osmotische Diurese) und ggf. Hypothermie ausgelöst. Infolge dessen entstehen ausgeprägte Elektrolytstörungen. Vor allem mit Entstehung einer schweren Hypematriärnie können potenzielle Spenderorgane erheblich gefährdet werden. Dabei wird vor allem die Leber oft in Mitleidenschaft gezogen. Hier ist neben der Volumenersatztherapie eine gezielte Hormonsubstitution indiziert, d.h. die Gabe von Vasopressin via Perfusor oder Desmopressin, das wegen seiner erheblich längeren Wirkdauer auch in Einzeldoses i.v. appliziert werden kann. Es muss beachtet werden, dass eine vorangegangene Therapie mit Mannitol die Wirksamkeit von Vaso- bzw. Desmopressin über eine noch wirksame ADH-Rezeptor-Blockade deutlich reduzieren kann. Die Volumenersatztherapie richtet sich auch nach der Elektrolytsituation. Bei ausgeprägter Hypematriärnie wegen zentralem Diabetes insipidus muss eventuell Glucose5%-Lösung infundiert werden, natürlich unter häufiger Kontrolle und ggf. Korrektur der Blutglucosekonzentration. Ansonsten ist Vollelektrolytlösung indiziert. Von kolloidalen Stärkelösungen sollte Abstand genommen werden, da darunter die renale Organfunktion leidet [2]. Zudem sollten auch weitere Hormondefizite ausgeglichen werden. Es konnten Hinweise gefunden werden, dass durch eine regelrechte Hormonsubstitution ein positiver Einfluss auf die Anzahl erhaltbarer Spenderorgane besteht [2,3). Des Weiteren sollte eine bestehende Hyperglykämie durch entsprechende Insulinmedikation, ggf. i.v. via Perfusor, behandelt werden. Der Zielwert liegt bei< 180mg% (8,0 mmol/1). 194

Die Körpertemperatur sollte > 35° C liegen, da andernfalls v.a. Gerinnungsstörungen auftreten. Zudem wird die Diurese inadäquat angeregt.

4. Wichtige Websites Im Folgenden sind einige Websites genannt, auf denen eine Vielzahl von wichtigen Informationen bzw. Texten zur Organspende nachgeschlagen werden können. Hier sind die Gesetzestexte zum Transplantationsgesetz im Originalwortlaut, vervollständigt durch entsprechende länderspezifische Ergänzungen, abgebildet. Auch können hier Texte zu speziellen Fragestellungen, beispielsweise zur Lebendorganspende, die hier nicht erörtert wurden, nachgelesen werden. Zudem werden auf diesen Seiten die für die entsprechenden Regionen in Deutschland zuständigen Koordinationszentren samt Telefonnummern angegeben. Weiterhin können hier wichtige Formulare einschließlich des gültigen offiziellen Formulars zur Himtoddiagnostik und zum Protokoll des Angehörigengespräches heruntergeladen werden. Insbesondere die Website der Informationsstelle Transplantation und Organspende des Forums Organspende und Transplantation (www.transplantation-information.de) bietet neben Gesetzestexten auch eine Vielzahl von Informationen zu ethischen Fragestellungen und Hilfestellungen für die Angehörigen, aber auch für Ärzte und Pflegepersonal, die in der Situation besonderen emotionalen Belastungen ausgesetzt sind. Besonders im Umgang mit Angehörigen werden wichtige Hinweise geboten, um diese Ausnahmesituation besser bewältigen zu können. 1. www.bundesaerztekammer.de (Stichwort Transplantationsgesetz) 2. www.dso.de (Deutsche Stiftung Organspende) 3. www.transplantation-information.de (Forum Organspende und Transplantation)

5. Literaturverzeichnis 1. Movements in brain death . G. Saposnik,J. Maurinfo and J. A. Bueri. European Journal ofNeurology 2001 ,

8: 209- 213 2. Care of potential organ donor. Wood KE, Becker BN, McCartney JG, D'allesandro AM, Coursin DB. N Engl J Med 2004; 351 : 2730 - 2739 3. Die organprotektive Intensivtherapie bei postmortalen Organspendern. Mauer D, Nehammer K, Bösebeck D, Wesslau C. Intensivmed 2003; 40: 574 - 584.

195

1

Störung des Gastrointestinaltraktes auf der Intensivstation A.R.

HELLER,

M.

RAGALLER

Einleitung Der Gastrointestinaltrakt (GIT) hat im Organismus vielfältige Funktionen wie den Nahrungstransport, die Nährstoff-, Wasser- und Elektrolytresorption sowie eine Schrankenfunktion zur „äußeren" Umwelt mit permanentem Antigenreiz. Entsprechend ist er bereits unter Normalbedingungen zur permanenten Bedarfsanpassung einer Vielzahl von externen und internen steuernden Einflüssen ausgesetzt. Umso komplexer ist die Situation unter intensivmedizinischen Bedingungen [2, 10]. Hier müssen Störungen und Schädigungen möglichst frühzeitig erkannt und behandelt werden, um die Intestinalfunktionen aufrecht zu erhalten und eine darmbedingte Erkrankungsprogression abzuwenden. Abbildung l gibt eine Übersicht über die Störgrößen für die regelrechte Funktion und Peristaltik des Darmes.

Postoperative Situation Die postoperative Darmatonie mit (paralytischem) Ileus gehört zu den schwerwiegendsten postoperativen Komplikation und stellt nach neuerer Literatur einen der Hauptfaktoren für einen verlängerten stationären Klinikaufenthalt dar. Sie tritt am häufigsten und ausgeprägtesten nach großen abdominalchirurgischen Eingriffen auf, findet sich jedoch ebenfalls nach peripheren Operationen. Die postoperative Darmatonie betrifft alle Teile des Gastrointestinaltrakts, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und Dauer. Während sich die Motilität des Magens nach bauchchirurgischen Eingriffen im Regelfall innerhalb von 24 h normalisiert, dauert die Motilitätsstörung des Kolon meist bis zu drei Tagen an. Gegenwärtig wird angenommen, dass der postoperative Schmerz einen spinalen Reflexbogen mit hemmendem Einfluss auf die gastrointestinale Motilität

Peristaltik • • • • •

Trauma/ Stn.:ss 1 Operation Postaggressionsstolh\cchscl Immobilisierung ' Bauchlagerung i\bdomindks Kompartmentsyndrom Therapiemaßnahmen Mcchani,ch ( lkatrnung Drainagen l Pharmakologi,ch ( Katcchol. Opiate)

l Ileus, Darmversagen

t Multiorganversagen

Abb. 1: Auslöser des Darmversagens.

197

aktiviert [19]. Zusätzlich ist in der allgemeinen postoperativen Stresssituation der Sympathikotonus erheblich gesteigert was per se zu einer Hemmung der intestinalen Motilität führt.

Der Weg ins Multiorganversagen Das Splanchnikusgebiet mit den komplexen Kapillargebieten im Darm und der Leber ist durch ein Missverhältnis von regionalem Sauerstoffangebot und Sauerstoffverbrauch besonders gefährdet [3, 10]. Dabei steht nicht nur die Verminderung des Angebots im Schock, sondern auch die überproportionale Steigerung des Sauerstoffverbrauchs des Darmes im Vordergrund. Bei septischen Patienten kann dieser bis zu 60 % (normal 1525%) des Verbrauchs des Gesamtorganismus betragen [31]. Hinzu kommt eine Fehlregulation des Vasotonus in der Mikrozirkulation mit konsekutiver intraluminaler Stase und weiterer Verschlechterung der intestinalen Sauerstoffbilanz. Als Hauptursache für die verminderte kapilläre Perfusion wird eine gestörte Balance zwischen vasokonstriktiven (Angiotensin II) und vasodilatativen Mediatoren (NO, Sauerstoffradikale, Lipidmediatoren) vermutet [14]. In der Reperfusionsphase kommt es zu weiteren Schädigungen der kapillären Strombahn und der Darmmukosa. Verantwortlich hierfür sind Zytokine und Sauerstoffradikale aus polymorphkemigen Neutrophilen, die zu einer weiteren Permeabilitätssteigerung der Darmmukosa und zu einer Endothelzelldysfunktion (verminderte Fähigkeit der NOSynthese der Endothelzellen) führen [10]. Eine Permeabilitätsstörung der intestinalen Barriere mit mikrobieller Translokation von enteralen Bakterien und deren Bestandteilen (Endotoxinen) über das Pfortadersystem in die Leber und in der Folge in die systemische Zirkulation ist eine der Hauptursachen für SIRS und Sepsis mit konsekutivem Multiorganversagen. Ein direktes Link vom Darmversagen zum ARDS ohne den Umweg über den hepatischen Filter ergibt sich über die mesenterialen Lymphknoten und den Lymphstrom. Über diesen Weg können Bakterien, Toxine und Zytokine über den Ductus thoracicus in die vena cava superior direkt in die pulmonale Zirkulation eingeschwemmt werden.

Abdominelles Kompartmentsyndrom Wird bei Patienten ein dauerhafter Anstieg des intraabdominellen Drucks über 20 mm Hg nachgewiesen so liegt ein abdominelles Kompartmentsyndrom (AKS) vor. Durch die akut auftretende Drucksteigerung kann eine Reihe von Organsystemen in ihrer Funktion beeinträchtigt werden (Abb. 2). Eine Reihe von Faktoren kann dieses akut lebensbedrohliche Krankheitsbild verursachen. Oftmals entsteht es auf dem Boden einer akuten intraabdominelen Volumenzunahme (Blutung, Darmwandödem nach Ischämie-Reperfusionsschaden, Ileus) oder ist Folge von intraabdominalen Infektionen (Peritonitis, Pankreatitis). Chronische Drucksteigerungen (z.B. bei Tumoren oder Aszites) kann die Bauchwand besser kompensieren und sich an den langsam steigenden Druck adaptieren. Sekundäre Ursachen des AKS sind oft iatrogener Art (Bauchtuchtamponaden, forcierter Bauchdeckenverschluss). Durch die Druckerhöhung im Abdomen kommt es trotz der relativen Elastizität der Bauchdecke und des Zwerchfells zu initial venösen, im weiteren Verlauf arteriellen Perfusionsstörungen und zu direkter Kompression von lebenswichtigen Organen.

198

ineller Dr

Abb. 2: Auswirkungen des Abdominellen Kompartmentsyndroms auf andere Organsysteme.

Das klinische Erscheinungsbild ist geprägt durch eine Kombination von prall elastisch gespannter Bauchwand mit reaktiver Darmatonie, Schmerzen, respiratorischer Insuffizienz, steigenden Beatmungsdrucken und Oligurie bei gleichzeitigem Ausschluss einer Hypovolämie. Neben den klinischen Zeichen hat sich als diagnostisches Mittel die Messung des Blasendrucks als quantifizierbarer Parameter eines abdominellen Kompartmentsyndroms etabliert. Dabei wird die Harnblase über einen liegenden Dauerkatheter mit 100 ml steriler Kochsalzlösung gefüllt und abgeklemmt. Über Anschluss eines Druckaufnehmers am Blasenkatheter ist die Messung des Blasendruckes möglich. Als Nullpunkt dient die Symphyse. Der Normwert liegt zwischen O und 5 mm Hg. Nach Laparotomie kann dieser Wert bis auf 10 mm Hg ansteigen. Der kritische Grenzbereich wird mit 11-20 mm Hg angegeben, über 20 mm Hg sind die Werte sicher pathologisch und eine Indikation zur notfallmäßigen operativen Entlastung. Das AKS kann innerhalb von Stunden in ein Multiorganversagen einmünden. Die Schweregradeinteilung von Meldrum hat sich als Entscheidungshilfe zum therapeutischen Vorgehen bewährt (Tab. 1) [231).

Grad

Blasendruck (mm Hg)

Therapie

I

10 - 15

Normovolämie aufrechterhalten

IT

16- 25

Aggressive Volumentherapie

III

26 - 35

Dekompression

IV

> 35

Dekompression/Reexploration

Tabelle 1: Schweregradeinteilung des abdominellen Kompartmentsyndroms (23].

Monitoring der Intestinalfunktion Die gastrale Tonometrie wertet einen lokalen COi-Anstieg in dem vom Sensor überwachten Darmabschnitt (nur wenige mm2) als Ischämie, lässt aber keine quantitativen Rückschlüsse auf die Perfusion zu und ist mit einer Reihe von Fehlerquellen (Dislokation) und Einflussfaktoren (duodenaler Reflux, gastrale Azidose, metabolische und respiratorische Azidose/Alkalose, Körpertemperatur) behaftet [3, 7, 23] . Darüber hinaus 199

lässt sich eine enterale Ernährung hierunter nicht durchführen. Rückschlüsse auf die Darmmukosa und das gesamten Splanchnikusgebiet können aus der lokalen Messung des pHi an der Magenmukosa nicht gezogen werden. Andere Methoden (WasserstoffClearance, Laser-Doppler-Flow, Messung der Konzentrateion von MEGX) konnten sich in der klinischen Praxis aufgrund des hohen technischen Aufwandes und der unsicheren Korrelation zwischen lokaler Funktions- bzw. Perfusionseinschränkung und systemischer Effekten ebenfalls nicht durchsetzen [21, 23]. Ein aussagefähiges on-line Routinemonitoring für das Sauerstoffangebot im Splanchnikusgebiet existiert somit derzeit nicht. Aus diesem Grund kann die Darmfunktion in der klinischen Routine weiterhin nur durch sorgfältige klinische Untersuchung des Patienten (Auskultation des Abdomens, Palpation, Perkussion, Stuhlfrequenz, gastraler Reflux), laborchemische Erfassung globaler Stoffwechselparameter (Laktat, Leberenzyme, Blutzucker) und durch Messung der Hämodynamik im Systemkreislauf als Surrogat für die Splanchnikusperfusion beurteilt werden.

Therapie der verminderten intestinalen Motilität Enterale Ernährung stellt per se den physiologischsten und stärksten propulsorischen Reiz für den Gastrointestinaltrakt dar. Trotzdem ist auch bei enteraler Ernährung eine verminderte intestinale Motilität ein allgegenwärtiges Problem in der Intensivmedizin, das einer bedarfsdeckenden enteralen Ernährung (Akutphase 15-20 kcal/kg/d, später 2535(max.) kcal/kg/d) entgegensteht. Im intensivmedizinischen Gesamttherapiekonzept ist die Ernährungstherapie allerdings häufig ein in seiner Bedeutung unterschätztes Stiefkind, das hinter den Kernthemen der Intensivtherapie (Beatmungs-, Antibiotika-, oder Kreislauftherapie) zurückstehen muss. Ziel einer modernen Ernährungstherapie ist es dem Patienten eine stoffwechseladaptierte Ernährung (substratgesteuert, overflowlimitiert, darmprotektiv) anzubieten.

Ernährung und Stress Im Stressstoffwechsel besteht eine hormon- und mediatorinduzierte Verwertungsstörung von Substraten. Die Mobilisierung körpereigener Energie- und Substratreserven ist durch exogene Substratzufuhr nicht oder kaum beeinflussbar. Dabei wird der Stressstoffwechsel in drei Phasen unterteilt l. die Akutphase (Ebb-Phase) 2. die Sekundärphase (Flow-Phase) und 3. die Reparationsphase. In der Ebb-Phase (z.B. unmittelbar posttraumatisch) kommt es katecholamininduziert zur Erhöhung der Perfusion lebenswichtiger Organe und zu einer erhöhten der Energiebereitstellung. Gleichzeitig erfolgt durch Glukokortikoidfreisetzung eine verstärkte Natrium- und Wasserretention mit der Folge einer Flüssigkeitsumverteilung im Körper. Darüber hinaus wird der Metabolismus zur Mobilisierung endogener Reserven auf Glukoneogenese umgestellt. In dieser Phase steht die Stabilisierung der gestörten Vitalfunktionen im Mittelpunkt der Therapie. Eine Ernährungstherapie zu diesem Zeitpunkt erzeugt zusätzlichen metabolischen Stress. Nach Stabilisierung der Vitalfunktionen, die je nach Patient mehr als 12 Stunden in Anspruch nehmen kann, dominiert der Tonus des sympathischen Nervensystems in der nun beginnenden Flow-Phase. Patienten im Postaggressionsstoffwechsel weisen teilweise stark erhöhte Blutzuckerwerte als Ausdruck des gestörten Kohlenhydratstoffwechsels auf. Ursächlich sind hier eine Glukoseintoleranz infolge Insulimesistenz, sowie eine gesteigerte Glykogenolyse und Glukoneogenese verantwortlich. Die gesteigerte Verfügbarkeit von aktivierten Fettsäuren und die unter erhöhten Kortisolplasmaspiegeln gehemmte Pyruvatdehydrogenase scheinen der Grund für die periphere

200

Insulinresistenz und damit deutlich geminderte Glukoseaufnahme z.B. in die Muskelzelle unter Stressbedingungen zu sein. Die parallel ablaufenden metabolischen Veränderungen lassen sich auf die erhöhte Freisetzung von freien Radikalen, pro-inflammatorischen Eicosanoiden, Interleukinen und Tumornekrosefaktor zurückführen. In der vorliegenden sekundär- oder Flow-Phase liegt die ernährungstherapeutische Gewichtung somit nicht in der Erhaltung der Körperzellmasse sondern in der Aufrechterhaltung von System- und Organfunktionen (,,metabolic support") bis die stressauslösenden Ursachen kausal therapiert sind. Die Dosierung der Nährsubstrate sollte in dieser Phase an die Utilisationsmöglichkeiten des erkrankten Organismus adaptiert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Rückfall in die Ebb-Phase jederzeit möglich ist. Erst nach Beseitigung der stressauslösenden Ursachen kann der Patient die Reparationsphase erreichen. Die nunmehr physiologischen neuro-endokrinen Verhältnisse erlauben eine ungestörte Substratverwertung. Positive Energie- und Stickstoffbilanzen können nun angestrebt werden. In der Regel jedoch wird der Patient die Reparationsphase (anabole Phase) erst nach Verlassen der Intensivstation erreichen.

Frühe enterale Ernährung Trotz Stressstoffwechsel ist die frühzeitige enterale Ernährungstherapie aufgrund seiner physiologischen propulsionsfördernden Eigenschaften der spezifischste und effektivste therapeutische Ansatz in der Behandlung des Darmversagens. Daneben wird durch einen Mangel an Substrat und lokalen Wachstumsfaktoren und durch verminderte Energiebereitstellung eine Mukosaatrophie mit nachfolgender Permeabilitätserhöhung begünstigt. Darüber hinaus führt der Verzicht auf enterale Nahrungszufuhr zu einer Abnahme der Darmmasse, der Zottenhöhe und der Funktion des darmassoziierten lymphatischen Gewebes. Die enterale Ernährung trägt zum Erhalt der biliären IgA-Sekretion bei, während die totale parenetrale Ernährung zu einem Abfall führt. Daher sollte wenn immer möglich eine enterale Ernährung angestrebt werden. Nichts desto Trotz ist die frühe bedarfsadaptierte Substratzufuhr wichtig. In einer eigenen multizentrischen Untersuchung mit 661 Patienten [ 17) konnte gezeigt werden, dass die frühzeitige Substratzufuhr nach Aufnahme auf die Intensivstation die Krankenhausverweildauer verkürzen kann (Abb. 3a). Verschiebt sich der Beginn der parenteralen Ernährung um einen Tag, so verlängert sich der Krankenhausaufenthalt um 1,4 Tage. Ein früherer enteraler Ernährungsaufbau nach der Phase der parenteralen Ernährung führte hingegen sowohl zu einer kürzeren Klinikverweildauer (Abb. 3b) als auch zu einer Abnahme der Mortalität (Abb. 3d). Diese Daten bestätigen damit die jüngsten Ernährungsrichtlinien der DGEM, die einen möglichst frühzeitigen Beginn der enteralen Ernährung empfehlen. Eine in diesem Zusammenhang interessante Beobachtung war, dass sich der Beginn der enteralen Ernährung immer dann besonders verzögerte, wenn vorher hohe Kalorienmengen parenteral appliziert worden waren (Abb. 3c). In diesem Zusammenhang kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine aus Sicht der Behandelnden gut etablierte parenterale Ernährung nicht früh genug dazu Anlass gab, eine enterale Ernährung zu initiieren. Daher muss gefordert werden, auch bei bedarfsgerecht laufender parenteraler Ernährung, den Beginn der enteralen Ernährung zumindest täglich neu zu diskutieren. Metaanalysen zeigten, dass ein früher, d.h. innerhalb der ersten 12 Stunden nach Trauma oder OP stattfindender enteraler Kostaufbau sowohl die Mortalität als auch den 201

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Abb. 3: Effekte der enteralen und parenterealen Substratzufuhr auf das Überleben und die Krankenhausverweildauer bei 661 Patienten.

Aufenthalt auf der Intensivstation verringerte. Darüber hinaus wurden Infektionsraten, Anastomoseninsuffizienzen und Krankenhausverweildauer gesenkt [18]. Gerade im manifesten Schock werden die Auswirkungen eines fehlenden enteralen Stimulus auf die Schleimhautbarriere mit nachfolgender bakterieller Translokation befürchtet, andererseits könnte die Nahrungszufuhr das intestinale Sauerstoffdefizit steigern. Daher ernähren wir solche Patienten den ersten 24 Stunden nicht enteral und stellen die Stabilisierung der Hämodynamik in den Vordergrund. Anschließend erfolgt eine bolusweise enterale Ernährung über 24 Stunden. Bei Toleranz werden die Zufuhrraten gesteigert. Ist innerhalb von drei Tagen keine bedarfsdeckende enterale Applikation zu erreichen, wird eine zusätzliche parenterale Ernährung initiiert.

Ernährungssonden Da der Dünndarm seine propulsive Peristaltik früher als der Magen zurückerlangt ist eine direkte Applikation der Nahrung in das Jejunum von Vorteil. Durch eine Feinnadelkatheterjejunostomie im Rahmen eines erforderlichen abdominalen Eingriffs kann die physiologische propulsive Peristaltik frühzeitig genutzt und die bedürftigen Darmabschnitte mit Ernährungssubstraten versorgt werden. Ist eine chirurgische Intervention nicht indiziert, so sollte versucht werden, eine nasogastrale Sonde durch den Einsatz von Prokinetika (Erythromycin, als Bolusinfusion über 1-2 min) und Lagerung unter radiologischer Kontrolle tiefer wandern zu lassen. Darüber hinaus ist eine endoskopische Sondenplatzierung duodenal oder jejunal möglich. Die Industrie hat mit der Herstellung von speziellen Sonden (Trilumina, Tiger-Tube, Bengmark-Sonde®) diesen Aspekt der Technik der enteralen Ernährung Rechnung getragen [29). 202

Kombinationstherapie enteral/ parenteral Im Gegensatz zum früher verbreiteten entweder-oder-Prinzip hat sich heute eine Kombinationstherapie aus früher enteraler Ernährung und bedarfsdeckender parenteraler Substitution etabliert. Ausschließlich parenteral ernährte Patienten weisen durch eine intensivierte immunologische und metabolische Reaktion des Organsimus auf eine Endotoxinexposition eine erhöhte extraintestinale Morbidität, eine erhöhte Pneumonierate und vermehrte Abszesse im Vergleich zu einer enteral ernährten Patientengruppe auf [20). Eine bedarfsdeckende parenterale Zufuhr sollte nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Optimierung der enteralen Ernährung im Einzelfall erwogen werden [11). Heute konzentriert sich das Interesse beim kritisch Kranken auf eine Kombination aus enteraler und parenteraler Ernährung unter Einbeziehung von speziellen Substratarten, die eine annähernd normale Funktion des darmassoziierten lymphatischen Systems und die Mukosafunktion des Enterozyten erhält und seine Integrität wiederherstellt.

Immunonutrition/Pharmakonutrition Eine Möglichkeit immunmodulatorisch in die Balance der komplexen Abläufe einzugreifen wird unter den Begriffen „lmmunnutrition" oder „Pharmakonutrition" subsummiert. In der Regel ist hiermit die Supplementierung von enteralen Formeldiäten mit einer Reihe von Substraten gemeint, die günstige Auswirkungen auf die biologisch/ immunologische Antwort des Organismus auf Trauma, Infektion und Sepsis gezeigt haben. Dabei werden die Substrate wie Glutamin, langkettige mehrfach ungesättigte Omega-3-Fettsäuren, MCT/LCT-Fettemulsionsgemische und Nukleotide derzeit klinisch mit Erfolg eingesetzt. Die zunächst formale strikte Trennung zwischen Ernährung und Pharmakotherapie wird bei diesen Substanzen zunehmend aufgehoben. Immunnutrientien vermindern über ihre Doppelfunktion als Ernährungssubstrate und als Pharmaka die Inzidenz septischer Komplikationen, die Ausprägung der systemischen Entzündungsreaktion (SIRS) und des Multiorganversagens. Durch Verkürzung der Krankenhausliegedauer und des Antibiotikaverbrauchs ist trotz höherer Ausgaben für die supplementierte Ernährung unter Umständen eine Nettokosteneinsparung möglich. Die Interpretation der Vielzahl von Daten zur lmmunnutrition gestaltet sich aufgrund einer Reihe von Faktoren schwierig. Zunächst sind die untersuchten Patientenpopulationen sehr heterogen und schließen neben internistischem und elektiv- chirurgischem Krankengut ebenso Trauma- und Sepsispatienten ein. Demnach variieren a priori die Mortalitätsraten bereits zwischen O und 45%. Zum Zweiten sind derzeit (noch) 7 Fertiglösungen mit unterschiedlichen spezifischen Substratanteilen auf dem Markt. Durch die fixierten Gemische können demnach keine Aussagen zu den Einzelsubstraten gemacht werden. Drittens entsteht gerade bei enteraler Applikation ein Problem bei der Dateninterpretation, wenn bei einer intention to treat-Analyse ein Teil der Studienpopulation die geplante Menge der Studienmedikation nicht enteral transportiert. Um die Vielzahl der Einflüsse handhabbar zu machen wurden die Methoden der Ernährung kritisch Kranker in den Letzten Jahren durch eine Anzahl von Metaanalysen systematisch hinterfragt [l , 4, 6, 12, 13, 30). Aus der derzeitigen Datenlage kann allerdings noch keine generelle Empfehlung für eine enterale Immunonutrition mit Kombinationspräparaten hergeleitet werden. In weiteren Untersuchungen wurde daher vermehrt die Einzelwirkung der Substanzen untersucht.

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1 Verstorben □ Überlebt

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