Rechtsmissbrauch im Sozialrecht [1 ed.] 9783428552825, 9783428152827

Die als zweckwidrig verstandene Inanspruchnahme einer bestehenden Rechtposition und ihre Begrenzung sind seit jeher ein

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Rechtsmissbrauch im Sozialrecht [1 ed.]
 9783428552825, 9783428152827

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1367

Rechtsmissbrauch im Sozialrecht

Von

Heike S. Krüger

Duncker & Humblot · Berlin

HEIKE S. KRÜGER

Rechtsmissbrauch im Sozialrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1367

Rechtsmissbrauch im Sozialrecht

Von

Heike S. Krüger

Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahr 2017 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-15282-7 (Print) ISBN 978-3-428-55282-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-85282-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Why is a raven like a writing desk?“ Lewis Carroll, Alice in Wonderland

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2016 / 2017 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Es ist unmöglich, an dieser Stelle all diejenigen aufzuführen, die das Entstehen der Arbeit wohlwollend begünstigt haben. Ich danke zuallererst meiner Betreuerin, Frau Prof. Dr. Dagmar Felix, die mich seit meiner Tätigkeit als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht der Universität Hamburg vielfältig förderte und mir ausreichend Freiraum für das Entstehen dieser Arbeit ließ. Sie wird mir immer Vorbild für gelebte Freiheit der Wissenschaft sein. Bei Frau Jun.-Prof. Dr. Judith Brockmann bedanke ich mich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank Herrn Prof. Dr. Peter Selmer, der die Arbeit immer begleitete und nie am Gelingen zweifelte. Bei Herrn Prof. Dr. Wolfram Höfling, M. A., möchte ich mich dafür bedanken, dass ich Teil der WG am Institut für Staatsrecht der Universität zu Köln sein durfte. Frau Sabine Nerling, M. A., gilt für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts ebenfalls mein Dank. Bei dem Verlag Duncker & Humblot bedanke ich für die Aufnahme in die schöne Schriftenreihe. Besonders danken möchte ich ferner meinen Freunden Dirk Bernhardt, Lars Hummel, Simon Kempny, Jan Hendrik Kolberg, Martina Mettgenberg Le­mière, Annika Nagai und Cathrin Zengerling. Ohne Euch gäbe es dieses Buch nicht. Heikendorf, im April 2017

Heike S. Krüger

Inhaltsverzeichnis Einleitung 

13

A. Rechtsmissbrauch – ein aktuelles Thema  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 B. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Bestandsaufnahme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Zur wissenschaftlichen Debatte über die Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 C. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 D. Vorgehensweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Abgrenzungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 III. Gang der Darstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Erster Teil

Zur Verwendung der Argumentationsfigur in Literatur und Rechtsprechung  

37

1. Abschnitt

Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Zivil- und Steuerrecht 

37

A. Problemstellung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 B. Zivilrecht   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 I. Rechtsmissbrauch im Zivilrecht   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 II. Subjektive Rechte und ihre Beschränkung im Zivilrecht  . . . . . . . . . . . . 39 III. Innen- versus Außentheorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Innentheorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Außentheorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. Innen- und Außentheorie als Metaphern   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 IV. Fallgruppen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Individueller Rechtsmissbrauch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Institutioneller Rechtsmissbrauch   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Verwirkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4. Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 5. Die Figur des Rechtsmissbrauchs als Richterrecht   . . . . . . . . . . . . . . 52

8 Inhaltsverzeichnis C. Steuerrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Das Verhältnis von Zivil- und Steuerrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 II. Gesetzesumgehung im Steuerrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 III. § 42 AO  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 IV. Spezialgesetzliche Missbrauchsregelungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 D. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Abschnitt

Erscheinungsformen der Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht – eine Phänomenologie 

66

A. Problemstellung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 B. Abgrenzungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Figur des Rechtsmissbrauchs und Rechtswidrigkeit  . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsmissbrauch und Leistungsmissbrauch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsmissbrauch und Moral Hazard  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anwendungsbereich der Figur des Rechtsmissbrauchs  . . . . . . . . . . . . . .

67 67 70 74 77

C. Exemplarische Fallkonstellationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 I. Sozialversicherung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1. Die Figur des missglückten Arbeitsversuchs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 a) Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 b) Rechtliche Konstruktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 aa) Rechtsfortbildung durch ergänzende Auslegung   . . . . . . . . . . 82 bb) Recht auf Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung   . . 83 cc) Vorbehalt des Gesetzes   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 c) Relikte des missglückten Arbeitsversuchs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 d) Funktion des Missbrauchsarguments  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Die Gründung so genannter Missbrauchsaktiengesellschaften  . . . . . . 88 a) Problemstellung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 aa) Die Neuregelung zur Versicherungspflicht  . . . . . . . . . . . . . . . 91 bb) Altfälle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 cc) Gründung einer (Vor-)Aktiengesellschaft am Stichtag   . . . . . 92 b) Bewertung des Missbrauchsvorwurfs   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 c) Funktion des Missbrauchsarguments   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 II. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Recht der Existenzsicherung   . . . 96 1. Verwirkung materieller Rechte   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Die Verwirkung materieller Ansprüche im Sozialrecht  . . . . . . . . . 98 c) Rechtliche Probleme der Konstruktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 d) Funktion des Missbrauchsarguments  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Inhaltsverzeichnis9 2. Erbschaftsgestaltungen zu Gunsten von behinderten und bedürftigen Personen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Erbrechtliche Gestaltung des Behindertentestaments  . . . . . . . . . . 102 c) Die Rechtsprechung des BGH zum Behindertentestament   . . . . . 104 d) Zivilrecht und Sozialrecht   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 e) Keine Umgehung ohne eine gesetzgeberische Entscheidung   . . . 106 III. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im sonstigen Sozialrecht  . . . . . . . . . . 107 1. Der so genannte Missbrauch von Leistungen nach dem Bundes­ ausbildungsförderungsgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Vermögensanrechnung im BAföG   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 c) Fallgruppen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 aa) Übertragung von Vermögen vor Antragstellung  . . . . . . . . . . . 109 bb) Verdeckte Treuhandverhältnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 cc) Verwandtschaftliche Darlehen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 c) Alternative Lösungsansätze   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Lohnsteuerklassenwechsel beim Elterngeld  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 a) Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Optimierung als Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglich­ keiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Die Rechtsprechung des BSG   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 d) Folgen für den Anwendungsbereich der Figur des Rechts­ missbrauchs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Der Verzicht auf Einkommen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Problemstellung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Waisenrente  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 c) Kindergeld nach dem BKGG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 d) Der Verzicht auf Einkommen als Rechtsmissbrauch  . . . . . . . . . . . 126 e) Kindergeld im EStG   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 IV. Die Figur des Rechtsmissbrauchs in der Rechtsprechung des BSG   . . . 131 1. Fallgruppen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Formalmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung  . . 132 b) Unbilligkeit einer Leistung nach dem Opferentschädigungsgesetz  134 c) Verzicht auf Einkommen zum Erhalt eines Anspruchs   . . . . . . . . 135 d) Vorfinanzierung des Insolvenzausfallgeldes  . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Neuere Tendenzen in der Rechtsprechung des BSG   . . . . . . . . . . . . . 137 3. Rechtsmissbrauch ohne Nennung der Figur des Rechtsmissbrauchs  137 a) Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 b) Funktion des Missbrauchsarguments  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 D. Zusammenfassung der Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

10 Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil

Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs 

143

A. Divergenzen zwischen Zivilrecht und Sozialrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 I. Allgemeines   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 II. Der Grundsatz von Treu und Glauben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 III. Besonderheiten auf Grund des Sozialrechtsverhältnisses  . . . . . . . . . . . . 146 IV. Die Einheit der Rechtsordnung und die Figur des Rechtsmissbrauchs  . . 150 B. Das subjektive Recht im Sozialrecht   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 I. Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 II. Die Entwicklung des Sozialrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Das Sozialrecht der ersten Generation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Das Sozialrecht der zweiten Generation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3. Das Sozialrecht der dritten Generation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4. Das subjektive Recht im Sozialrecht   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 C. Die Figur des Rechtsmissbrauchs als Methodenproblem  . . . . . . . . . . . . . . . . 160 I. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Rechtserkenntnismodell  . . . . . . . . 160 1. Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Rechtserkenntnismodell  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Die Figur des Rechtsmissbrauchs und die klassischen Auslegungs­ methoden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4. Rechtsfortbildung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5. Contra legem sed intra ius  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 II. Rechtserzeugungsmodell   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 D. Verfassungsrechtliche Problemeder Figur des Rechtsmissbrauchs   . . . . . . . 167 I. Der Vorbehalt und der Vorrang des Gesetzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 II. Der Gesetzesvorbehalt im Sozialrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 III. Der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes im Sozialrecht  . . . . . . . . . . . 169 Dritter Teil

Gesetzgeberische Regelungstechniken 

170

A. Explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 I. Problemstellung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 II. „Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer“ im Asylbewerberleistungsgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Die verschiedenen Entwurfsfassungen der Novelle des Zuwanderungsgesetzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Umsetzung des Entwurfs der Richtlinie 2003 / 9 / EG  . . . . . . . . . . . . . 174 3. Die Kasuistik zu § 2 Abs. 1 AsylbLG   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Inhaltsverzeichnis11 a) Urteil des BSG vom 08.02.2007  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 b) Urteil des BSG vom 17.06.2008  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c) Konkretisierung des Rechtsmissbrauchs durch den 8. Senat des BSG   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 aa) Objektiver Tatbestand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 bb) Subjektiver Tatbestand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 cc) Rechtswidrigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 dd) Schuld  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 ee) Kritik an der Rechtsprechung des 8. Senates  . . . . . . . . . . . . . 180 III. Sozialwidrigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 IV. Das Verhältnis von „Rechtsmissbrauch“ und „Sozialwidrigkeit“  . . . . . . 183 V. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 B. Implizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 I. Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 II. Verschiedene gesetzgeberische Strategien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. § 33a SGB I: Maßgeblichkeit des erstmals angegebenen Geburts­ datums  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. § 46 Abs. 2a SGB VI: Vermutung der Versorgungsehe bei kurzer Ehedauer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3. § 52 SGB V: Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden  . . . . . . . 191 4. §§ 31 f. SGB II: Leistungsminderungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 III. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Vierter Teil

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse 

198

Literaturverzeichnis   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Sachwortverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Einleitung A. Rechtsmissbrauch – ein aktuelles Thema Rechtsmissbrauch ist ein plakativer und widersprüchlicher Begriff. Die Rechtsordnung scheint zu verbieten, was sie zugleich erlaubt. Schon im Wort selbst liegt eine dialektische Spannung.1 Recht und Missbrauch passen nicht zusammen. Wenn jemand von seinem Recht Gebrauch macht, missbraucht er es nicht; wo Missbrauch stattfindet, kann es sich nicht um Recht handeln. Eine Funktion von Recht ist es, Missbrauch zu verhindern. Wie aber ist die Grenze zwischen Gebrauch und Missbrauch von Rechten zu ziehen? Nach Hassemer „wuchert ein Dschungel von Vorstellungen über Mißbrauch und Verwirkung von Rechten, genährt von rechtlichen, moralischen und politischen Vorurteilen“.2 Depenheuer vergleicht die Figur des Rechtsmissbrauchs „mit einem schwierigen Gipfellauf“, denn es müsste gelingen „Maßstäbe dafür bereitzustellen, wann eine Rechtsausübung ‚richtig‘, wann ‚unrichtig‘ sei“.3 Nach Richter ist der „Missbrauch und Gebrauch von Rechten […] das uralte Thema, das leider immer wieder in subjektiver Gewissheit, aber objektiver Fragwürdigkeit entschieden wird“.4 Ansätze eines Verbots des Rechtsmissbrauchs sind bereits im römischen Recht zu finden.5 Die Sätze „male enim nostro uti non debemus“6 sowie „summa ius – summa iniuria“7 sind zu Rechtsparömien geworden. Zugleich 1  Niemöller,

StV 1996, S. 501 (501). Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007, S. 182. 3  Depenheuer, AöR 120 (1995), S. 173 (173). Eine solche Unterscheidung setzt eine funktionale Betrachtung von Rechten voraus. Hassemer verdeutlicht dies anhand eines Vergleichs: „Ein Recht ist kein Messer, das man zwar zum Brotschneiden, aber auch zum Zustechen gebrauchen kann.“ (in: Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007, S. 177 f.). 4  Richter, Verhandlungen des 60. DJT, Bd. II/2, 1994, M 212 (M 213). 5  Zu den historischen Grundlagen des Rechtsmissbrauchsverbots siehe Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 20 ff. 6  Gaius, Institutiones, 2. Aufl. (2010), I, 53 (S. 56). 7  Cicero, Vom rechten Handeln, 1. Buch, Kapitel 10, § 33, 3. Aufl. (1987); zu den unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten dieses Satzes siehe Eisser, Zur Deutung von „summum ius summa iniuria“ im Römischen Recht, in: Summum ius, summa iniuria, 1963, S. 1 (1 ff.). 2  Hassemer,

14 Einleitung

tragen sie seit je ihren Zweifel in sich. Es verwundert daher nicht, dass auch die Gegenposition zu einem Rechtssprichwort geworden ist: „Qui suo iure utitur, neminem laedit.“8 Im französischen Rechtsraum hat sich anknüpfend an die Rechtsfigur des aemulatio vicini seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Lehre des abus de droit entwickelt.9 Dem englischen Recht ist nach dem berühmten Dictum von Lord Halsbury „If it was a lawful act, however ill the motive might be, he had a right to do it.“10 die Figur des Rechtsmissbrauchs fremd. Im deutschen Recht geht die rechtsgebietübergreifende Entwicklung der Figur des Rechtsmissbrauchs maßgeblich auf Siebert zurück, der ausgehend von der Rechtsfigur der Verwirkung eine allgemeine Rechtsmissbrauchslehre entwickelte.11 In seinen Schriften „Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung“ und „Vom Wesen des Rechtsmissbrauchs“ verknüpfte Siebert die Figur des Rechtsmissbrauchs dogmatisch mit § 242 BGB. Nach seiner so genannten Innentheorie sind Rechtsinhalte stets nur relativ und tragen ihre Beschränkung von vorneherein in sich. Siebert beschreibt das Phänomen des Rechtsmissbrauchs folgendermaßen: „Das ‚Geheimnis‘ der sog. unzulässigen Rechtsausübung und des Rechtsmissbrauchs liegt darin, dass die gleiche Handlung einmal wirkliche Rechtsausübung, zum anderen ein Handeln ohne Recht sein kann.“12 Beim Rechtsmissbrauch handele es sich nur um eine „scheinbare Rechtsausübung“.13 Die so genannte Siebertsche Innentheorie wird nicht nur im Zivilrecht, sondern auch im Öffentlichen Recht häufig als theoretische Grundlage der Figur des Rechtsmissbrauchs ge8  Teilweise wurde die Figur des Rechtsmissbrauchs im französischen Recht auch kategorisch abgelehnt, da es sich bei dieser um einen logischen Widerspruch – eine logomachie – handele; denn Recht und Unrecht könnten nicht nebeneinander existieren. So Planiol, Traité élémentaire de droit civil, 1900, n° 871. Die Rechtsmissbrauchslehre wurde auch als eine unzulässige Vermischung von Recht und Moral angesehen; hierzu Ranieri, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), 2009, Bd. II, S. 1259 (1260); Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 156 f. 9  Ranieri, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), 2009, Bd. II, S. 1259 (1259). 10  Lord Halsbury, in: The Mayor, Alderman and Burgesses of the Borough of Bradford v. Pickles, 1895, AC 587; zu den Gründen, weshalb sich im Common Law eine Doktrin des abuse of rights nicht durchgesetzt hat, siehe Taggart, Private property and abuse of rights in Victorian England, 2002, S. 155 ff. 11  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, wobei sich Siebert sowohl an der französischen Lehre als auch an der deutsch-rechtlichen Immanenzschrankenlehre Otto von Gierkes anlehnt. Siehe hierzu Fleischer, JZ 2003, S. 865 (866 f.) sowie Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 183 ff. 12  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, S. 97. 13  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, S. 100.



A. Rechtsmissbrauch – ein aktuelles Thema15

nannt.14 Alternativ wird auch aus dem Rechtsstaatsprinzip,15 der rechtsethischen Funktion von Rechten,16 aus einer besonderen Nähe zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit17 oder aus dem Gewohnheitsrecht18 ein Missbrauchsverbot abgeleitet, das keiner gesetzlichen Grundlage bedürfe. Zwar ist es häufig im Ergebnis intuitiv plausibel, dass eine Rechtsausübung als missbräuchlich beurteilt wird, größere Schwierigkeiten bereitet aber eine genauere Konfiguration des Rechtsmissbrauchsverbots. Dieses zeigt sich bereits an der unterschiedlichen Terminologie. Es ist die Rede vom „Wesen des Rechtsmissbrauchs“,19 von einer „Lehre des Rechtsmissbrauchs“,20 von einem „allgemeinem Rechtsgrundsatz“, vom „Fehlschlag eines Subsumtionsversuchs“,21 vom „Gesetzesmissbrauch“,22 vom „institutionellen Missbrauch“,23 vom „Institutsmissbrauch“24 oder auch vom „Gedanken des Rechtsmissbrauchs“.25 Im Rahmen dieser Arbeit wird das Phänomen als Figur des Rechtsmissbrauchs bezeichnet, um die unterschiedlichen Erscheinungsformen analysieren zu können. Die Probleme bei der Bestimmung des Inhalts eines Rechtsmissbrauchsverbots resultieren daraus, dass es sich bei Missbrauch um einen verneinenden Begriff handelt.26 Das Präfix „miss“ bezeichnet das Üble, Schlechte, Unrichtige und Mangelnde in substantivistischen und adjektivistischen Bildungen.27 Missbrauch drückt sprachlich den falschen oder verkehrten Ge14  Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, § 87 III 2, S. 955; BSG, Urteil vom 07.09.2006 – B 4 RA 43/05 R –, Rdnr. 67. 15  Philipp, NVwZ 1993, S. 248 (248). 16  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 27 f. 17  Knödler, Rechtsmißbrauch im öffentlichen Recht, 1999, S. 233. 18  Wieacker, in: FS Fischer (1979), S. 867 (872), der auf eine gewisse Gefahr für die Berechenbarkeit und Sicherheit der Rechtsanwendung hinweist. 19  Siebert, Vom Wesen des Rechtsmissbrauchs, 1935. 20  BSG, Urteil vom 25.04.1958 – 7 RAr 103/57 –, Rdnr. 20. 21  Pestalozza, „Formenmißbrauch“ des Staates, 1973, S. 62 ff. 22  So Oppenheimer, Der Gesetzesmißbrauch, 1930, S. 73 ff., der aus logischen Gründen bestreitet, dass es einen Rechtsmissbrauch überhaupt geben kann, mit dem Begriff des Gesetzesmissbrauchs aber die gleichen Fallkonstellationen bewältigen will. 23  Zeiss, Die arglistige Prozeßpartei: Beitrag zur rechtstheoretischen Präzisierung eines Verbotes arglistigen Verhaltens im Erkenntnisverfahren des Zivilprozesses, 1967, S. 62, 150 ff. 24  Raiser, Summum ius, summa iniuria, in: Summum ius, summa iniuria, 1963, S.  145 (145 f.). 25  Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rdnr. 213. 26  Vgl. Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (209). 27  Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2. Aufl. (1993), S. 876 f.

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brauch eines beliebigen Objektes aus.28 Dieser kann in unterschiedlicher Art und Weise erfolgen, weswegen eine abschließende Begriffsbestimmung nicht möglich ist. Die Gemeinsamkeit besteht nur in dem Unwerturteil, das durch den Begriff des Missbrauchs ausgedrückt wird.29 Auch die Versuche, die Figur des Rechtsmissbrauchs begrifflich zu umschreiben, verdeutlichen dies: Als rechtsmissbräuchlich wird eine Rechtsausübung bezeichnet, wenn sie „sinn- und zweckwidrig“,30 „verwirkt“,31 „interesselos“,32 „funktionswidrig“33 oder „widersprüchlich zu vorherigem Handeln“34 ist oder wenn sie ein „dysfunktionales Verhalten“35 darstellt. Auch weitergehende Versuche, den Rechtsmissbrauch zu definieren, verleihen der Figur keine klaren Konturen. Eine Definition lautet: „Missbraucht wird ein Recht, wenn es nicht zu der vom Gesetz gewollten Interessenförderung, sondern zur Erreichung missbilligenswerter Ziele ausgeübt wird.“36 Nach anderen Begriffsbestimmungen ist Rechtsmissbrauch die „Inanspruchnahme einer Berechtigung (…), die sich mit grundlegenden Prinzipien einer Rechtsordnung nicht verträgt“,37 „ein Verhalten, welches unter formeller Wahrung der gesetzlichen Formulierung gleichwohl dem Sinn dieses Gesetzes widerspricht“,38 ein Widerspruch zwischen „formaler Rechtsposition und materiellem Prinzip“39 oder schlicht „normative Zweckverfehlung“.40 Auch die Siebertsche Differenzierung zwischen einer nur „scheinbaren“41 und einer „wirklichen“ Rechtsausübung ist 28  Bereits die Oeconomische Encyclopädie (1773–1858) beinhaltet einen Eintrag zum Missbrauch: „1. der Gebrauch, d. i. die Anwendung einer Sache auf eine ihrem Zwecke und ihrer Bestimmung zuwider laufende Art, im Gegensatze des rechtmäßigen Gebrauches; […]. Z. B. einen Mißbrauch von seinem Vermögen, von seinem Ansehn machen. 2. Ein tadelhafter oder schädlicher Gebrauch, oder durch mehrmahlige Wiederhohlung zu einer Gewohnheit gewordene willkührliche Handlung. […]“. 29  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (209). 30  Amberger, Die Missbrauchskontrolle im Rahmen des aktienrechtlichen Squeezeout, 2007, S. 197. 31  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, S. 191 ff. 32  Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 101. 33  Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, § 87 III 2, S. 955. 34  Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 104 f. 35  Rüping, JZ 1997, S. 865 (868). 36  Weber, GA 1975, S. 289 (295). 37  Mayer-Maly, in: Honsell/Vogt/Geiser, Kommentar ZGB, Art. 2 (1996), Rdnr. 35. 38  Kühne, StV 1996, S. 684 (685). 39  Teubner, in: AK-BGB (1980), § 242 BGB, Rdnr. 39. 40  Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. (2005), S. 222. 41  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, S. 101.



A. Rechtsmissbrauch – ein aktuelles Thema

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lediglich eine Metapher. Mader bezeichnet daher die verwendeten Formeln zur Umschreibung des Rechtsmissbrauchs als „schillernd und mehrdeutig“;42 das Wort Missbrauch werde als „plastische Vokabel“43 verwendet. Die Begriffsbestimmungen beschreiben stets nur den spezifischen Teilbereich, in dem die Figur zur Anwendung gelangt; sie bleiben Gebrauchsbeispielerzählungen.44 Jedenfalls hat die Figur des Rechtsmissbrauchs keinen Inhalt, der subsumtionsfähig wäre.45 Obgleich die Figur des Rechtsmissbrauchs mit diesen Defiziten behaftet ist, scheint das Rechtssystem nicht ohne sie auszukommen. Denn die Figur des Rechtsmissbrauchs ermöglicht eine Reaktion auf zwei Grundprobleme des Rechtssystems, nämlich zum einen darauf, dass Normen in einer entwickelten Rechtsordnung als abstrakt-generelle Regelungen verfasst sind, sie also für typische Anwendungssituationen formuliert werden und nicht alle Ausnahmesituationen antizipieren können.46 Rebe bezeichnet dies als die „notwendige Selektivität von gesetzlichen Tatbeständen“.47 Kommt es zu einem als atypisch bewerteten Einzelfall, der nach Ansicht des Rechtsanwenders vom Regelungszweck abweicht, für den das Gesetz erlassen worden ist, soll die Figur des Rechtsmissbrauchs diese Situation bewältigen. Sie soll das Spannungsverhältnis zwischen der allgemeinen Rechtsnorm und dem individuellen Einzelfall auflösen und einer bloß „formalen Gesetzmäßigkeit“ entgegentreten48 mit der Folge, dass, so Pestalozza, „als ‚mißbräuchlich‘ (…) diejenigen Subsumtionsvorschläge bezeichnet (werden), die der maßgebliche Rechtsanwender nicht befürwortet“.49 Zum anderen wird die Figur des Rechtsmissbrauchs verwandt, um das Gerechtigkeitsproblem im positiven Recht präsent zu halten und Gerechtigkeitsvorstellungen auch gegen dieses durchzusetzen.50 Christensen / Kudlich beschreiben diesen Vorgang folgendermaßen: „Hinter dem Gesetz taucht ein intervenierender Code der Gerechtigkeit auf, der die Rechtmäßigkeit von 42  Mader,

Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 23. „Formenmißbrauch“ des Staates, 1973, S. 26 f. 44  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (193). 45  Basedow, Das Verbot von Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im europäi­schen Privatrecht, in: Agallopoulou (Hrsg.), FS für M. P. Stathopoulos, 2010, S.  159 (166 f.). 46  Siehe hierzu Schulin, Zum Problem der Typsierung im Recht der sozialen Sicherheit, in: Braun (Hrsg.), 1981, S. 77 (77 ff.). 47  Rebe, JA 1977, S. 6 (6 f.). 48  Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. (1991), S. 375. 49  Pestalozza, „Formenmißbrauch“ des Staates, 1973, S. 66. 50  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (202). 43  Pestalozza,

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Recht bestimmen soll.“51 Sie weisen zugleich darauf hin, dass Gerechtigkeit auch und gerade in Gestalt des Problems missbräuchlicher Rechtsausübung eine riskante Aufgabe bleibe.52 Die Figur des Rechtsmissbrauchs stellt eine Art „Notweg“53 dar, um zu einer Kompatibilität von rechtlichen und außerrechtlichen Wertungen zu gelangen. Haferkamp beschreibt diese spezielle Form der Rechtserzeugung folgendermaßen: „Rechtsmissbrauch ist judizieren im Namen der Einzelfallgerechtigkeit und damit echtes case-law.“ Die Figur des Rechtsmissbrauchs steht daher in einem Spannungsverhältnis zur Rechtssicherheit.54 Ihren Einsatzbereich hat sie an der Scheide zwischen dem Juridischen und der Moral, zwischen Recht und Wertvorstellungen. Sie bringt einerseits die „Interdependenz und Komplementarität von rechtlichen und außerrechtlichen Ordnungskomponenten“ zum Ausdruck,55 birgt aber andererseits das Risiko, das Rechtssystem einer Remoralisierung zu unterziehen,56 indem – anknüpfend an gerechtigkeits- oder naturrechtliche Vorstellungen – Rechte nach sozialethischen Werten57 beschränkt werden. Durch die Figur des Rechtsmissbrauchs wird eine Differenz zwischen formeller Legitimität und materieller Legalität der Rechtsausübung generiert,58 eine Rechtausübung als nur „scheinbar legitim“59 beurteilt, also eine Unterscheidung eingezogen, die an sich rechtsstaatliche Fragen aufwirft, da sie mit dem rechtstaatlichen Ideal des Vertrauensschutzes nicht vollends in Einklang zu bringen ist. Das Phänomen des Rechtsmissbrauchs bezeichnet daher ein Grenzproblem des Rechts. Methodisch werden unterschiedliche Versuche unternommen, die Figur des Rechtsmissbrauchs in das herkömmliche System von Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung einzupflegen. Zum Teil wird die Figur des Rechtsmissbrauchs methodisch als teleologische Reduktion oder teleologische Ex51  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (201); Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung, 2008, 168 ff. 52  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (202). 53  So für das Schweizer Recht Gächter, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S. 32. 54  Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 88 f. 55  Rebe, JA 1977, S. 6 (8). 56  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (189). 57  Hierzu Bohne, Naturrecht und Gerechtigkeit, in: Nipperdey (Hrsg.), FS für Lehmann, 1956, S. 3 (21 f.), der das Rechtsmissbrauchsverbot dem Naturrecht zuordnet. 58  Knödler, Rechtsmißbrauch im öffentlichen Recht, 1999, S. 157. 59  Weber, GA 1975, S. 289 (295).



A. Rechtsmissbrauch – ein aktuelles Thema19

tension verortet.60 Unter Rückgriff auf die ratio einer Norm wird der Gesetzeswortlaut als zu weit oder zu eng geraten angesehen und entsprechend korrigiert.61 Die Figur des Rechtsmissbrauchs fungiert dann als „Korrekturinstrument für Versäumnisse des Gesetzgebers“.62 Ihr kann auch eine Durchgangsfunktion bis zur Änderung einer Norm durch den Gesetzgeber zukommen.63 Zum Teil wird die Figur des Rechtsmissbrauchs auch verwandt, um Lücken im Gesetz zu schließen, die durch eine Inbezugnahme der Gesamtrechtsordnung oder durch ein Heranziehen von Rechtsprinzipien oder rechtsethischen Prinzipen erkannt werden.64 Nach Larenz ist Anstoß für ein solches Vorgehen „meist ein Fall, der mit den Mitteln der Gesetzesauslegung und einer immanenten Rechtsfortbildung nicht in einer dem Rechtsbewusstsein genügenden Weise gelöst werden“ kann.65 Es soll sich bei dem Rechtsmissbrauchsverbot methodisch um eine ergänzende (gesetzesüberschreitende) Rechtsfortbildung handeln.66 Methodisch angeboten wird auch, das „Konzept des Rechtsmissbrauchs“ als Analogieschluss zu verstehen.67 Während die Figur des Rechtsmissbrauchs mit der „Notwendigkeit der methodischen Problemlösung jenseits einer gesetzlichen Verankerung“68 begründet wird, wird gegen die Rechtsfigur eingewandt, dass es sich um nicht anderes als den Versuch handele, einer Abweichung von gesetzlichen Regeln durch methodologische Verbrämung Plausibilität im juristischen Diskurs zu verleihen.69 Kühne bezeichnet die Rechtsmissbrauchsfigur als janusköpfig.70 Sie sei „ihrem Wesen nach zutiefst undogmatisch und negiere das Ordnungssystem juristischen Argumentierens zugunsten einer Wertung auf Plausibili­ täts­niveau“.71 Hassemer schlägt vor, um zur Schlüssigkeit des Rechtsmissbrauchsvorwurfs zu gelangen, der „nur hier und da plötzlich ans Tageslicht tritt und dann ausdrückliche Rechtsverbürgungen zerschlägt“, einen Satz von 60  Weber,

GA 1975, S. 289 (295). Teleologische Reduktion versus Rechtsmissbrauch, in: Beck-Mannagetta (Hrsg.), FS für Theo Mayer-Maly, 1996, S. 369 (380 ff.). 62  Röhl, jurisPR-SozR 23/2009, Anm. 5. 63  Gächter, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S. 7 f. 64  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 350 ff. 65  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 411. 66  Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2.  Aufl. (1991), S. 496 f.; siehe hierzu Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, 1998, S.  92 ff. 67  Kühne, StV 1996, S. 684 (685). 68  Wiedmann, Der Rechtsmissbrauch im Markenrecht, S. 21. 69  Naucke, „Missbrauch“ des Strafantrags?, in: Geerds (Hrsg.) FS für Hellmuth Mayer, S. 565 (572 ff.). 70  Kühne, StV 1996, S. 684 (685). 71  Kühne, StV 1996, S. 684 (685). 61  Honsell,

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Anwendungsregelungen zu formulieren, die ein stärkeres Recht gegenüber dem Gewährten darstellten.72 Nach Müller kann die Missbrauchsformel leicht zum rechtsstaatlich unkontrollierten Einlass für Wertungen verschiedenster Art werden.73 Es drohe der Missbrauch des Missbrauchs.74 Dieses Risiko besteht vor allem dann, wenn der Missbrauchsbegriff als „Allrounder“75 oder „Allzweckwaffe“76 verwandt wird, um unerwünschte Ergebnisse zu korrigieren. In vielen Rechtsgebieten ist die Figur des Rechtsmissbrauchs von hoher Aktualität. Missbrauch ist ein „derzeit häufig verwendetes Stopp-Schild gegenüber der Ausübung von Rechten oder gar eine Schere zum Abschneiden der Rechte und deren Verwirklichung“.77 Im Strafprozessrecht ist die „Missbrauchsproblematik“ prozessualer Rechte mittlerweile zu einem „Zentralbegriff in Rechtsprechung und Rechtspolitik“78 geworden. Kaum ein anderes Problem wird im Strafprozessrecht so kontrovers diskutiert wie die Frage, inwieweit prozessuale Rechte des Beschuldigten und seines Verteidigers auf Grund eines nicht gesetzlich geregelten Rechtsmissbrauchsverbots beschränkt werden können.79 Ein Verstoß gegen das Rechtsmissbrauchsverbot wird im Strafprozess zum Beispiel dann angenommen, wenn die Ausübung eines Rechts nicht mit den Zielen des Strafprozesses in Einklang steht oder ihnen zuwiderläuft, der Berechtigte also seine Befugnis subjektiv zu allein prozesswidrigen Zwecken ausnutzt.80 Vor allem bei der – seit einigen Jahren virulenten – so genannten Konfliktverteidigung81 gehen die Positionen weit auseinander: Konfliktverteidigung wird einerseits beschrieben als „systematischer Missbrauch der Strafprozessordnung“82 mit dem Ziel, ein Verfahren 72  Hassemer,

Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007, S. 23. Juristische Methodik, 9. Aufl. (2004), Rdnr. 73. 74  Müller/Christensen, Juristische Methodik, 9. Aufl. (2004), Rdnr. 73. 75  Niemöller, StV 1996, S. 501 (502). 76  Röhl, jurisPR-SozR 23/2009, Anm. 5. 77  Hassemer, Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007, S. 178. 78  Grüner, Über den Mißbrauch von Mitwirkungsrechten und die Mitwirkungspflichten des Verteidigers im Strafprozeß, 2000, S. 85, 90. 79  Z. B. Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß, 2004; Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, 1998; Pöstges, Funktion und Mißbrauch prozessualer Rechte im Strafprozeß, 2002. 80  Gerhard, NStZ 2000, S. 1 (7); OLG Hamburg, NJW 1998, S. 621, 622. 81  Der Begriff der Konfliktverteidigung ist nicht eindeutig. Jahn definiert sie als „jedes von einem entsprechenden Willen getragene Tun des Verteidigers, das unter Negation der Verfahrensherrschaft des Gerichts die schnellstmögliche Erreichung der Ziele des Strafverfahrens unter Nichtführung sachbezogener Verteidigung hemmen oder unmöglich machen soll“ (Jahn, „Konfliktverteidigung“ und Inquisitionsmaxime, 1998, S. 63). 82  Jahn, DRiZ 2001, S. 8 (8). 73  Müller/Christensen,



A. Rechtsmissbrauch – ein aktuelles Thema21

„lahm zu legen“.83 Anderseits wird der Konflikt als dem Strafprozess immanent angesehen, ein „angebliches Verbot der Konfliktverteidigung“ als ein „untaugliches Instrument zur Domestizierung des Verteidigers“84 kritisiert. Eine Zurückweisung eines Antrags wegen Missbrauchs komme nur dann in Betracht, wenn die Strafprozessordnung dies ausdrücklich vorsehe; denn bei einem ungeschriebenen Rechtsmissbrauchsverbot handle es sich um eine „frei geschöpfte Wertung, die die Gesetzesgeltung gegen den Text definiert“.85 Derweil hat sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage befasst, ob im Strafprozess ein ungeschriebenes Rechtsmissbrauchsverbot bestehe, und geurteilt, dass zwar die Existenz eines solchen in der Literatur und Rechtsprechung anerkannt sei, dessen Inhalt, seine dogmatische Grundlage und Grenzen jedoch nicht fest umrissen seien.86 Auch dem Bundesgerichtshof, der ein nicht gesetzlich geregeltes Missbrauchsverbot annimmt,87 wird entgegengehalten, dass zwar seine Entscheidungen im Ergebnis überzeugend seien, jedoch würde er die Geltung eines solchen Verbots im Strafprozessrecht annehmen, „ohne dies auch nur ansatzweise zu begründen“, wobei bezweifelt wird, dass ein ungeschriebenes Rechtsmissbrauchsverbot – jenseits von Plausibilitätserwägungen – überhaupt juristisch legitimierbar sei.88 In der Diskussion um den Missbrauch im Strafprozess wird immer die Forderung nach der Einführung einer allgemeinen Missbrauchsklausel erhoben, um eine Rechtsgrundlage für die Einschränkung von Verteidigerrechten zu haben.89 Im Gegensatz zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB), wonach gemäß § 2 Abs. 2 ZGB der offenbare Missbrauch eines Rechts keinen Rechtsschutz findet, existiert eine ausdrückliche Regelung des Rechtsmissbrauchsverbots auch im Zivilrecht nicht. Allerdings hat sich die so genannte Siebertsche Innentheorie weitgehend durchgesetzt.90 Aus den §§ 242, 226, 826 BGB soll sich der Grundsatz ergeben, dass der Inhalt eines jeden Rechts durch 83  Jahn,

DRiZ 2001, S. 8 (8). Zwickmühle des Verteidigers – Strafverteidigung und Strafvereitelung im demokratischen Rechtsstaat, in: Schünemann/Roxin (Hrsg.), FS für Claus Roxin, 2001, S. 1173 (1174). 85  Kühne, NJW 1998, S. 3027 (3027). 86  BVerfG, Beschluss vom 21.08.2001 – 2 BvR 282/00 –, Rdnr. 11. 87  Zum Missbrauch des Beweisantragsrechts siehe BGH, Urteil vom 07.11.1991 – 4 StR 252/91 –. 88  Kühne, StV 1996, S. 684 (686). 89  Begonnen hat die Diskussion über eine allgemeine Missbrauchsklausel mit dem Vorschlag von Rebmann, DRiZ 1979, S. 363 (368); auf dem 60. Deutschen Juristentag wurde die Einführung einer allgemeinen Missbrauchsklausel nur knapp abgelehnt; vgl. Beschlüsse des 60. DJT, 1994, Bd. II/2, M 233, 252. 90  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, S. 85 ff., 106 ff.; Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 2 (2012), § 242 BGB, Rdnr. 177. 84  Beulke,

22 Einleitung

seine soziale Funktion bestimmt und jedes Recht durch immanente Grenzen beschränkt sei.91 Jede zweckfremde funktionswidrige Ausübungshandlung außerhalb dieser Grenzen wird als eine Überschreitung des Rechts angesehen, die nicht mehr von diesem gedeckt und folglich unzulässig sei. Im Zivilrecht haben sich ausdifferenzierte Fallgruppen zur Rechtsmissbrauchsproblematik gebildet.92 Jedoch werden auch im Zivilrecht Zweifel an der Überzeugungskraft des „Jokers“93 Rechtsmissbrauch geäußert. Die Figur des Rechtsmissbrauchs wird kritisch als das juristische „Mädchen für alles“94 bezeichnet. Es wird die Gefahr einer bloßen Billigkeitsrechtsprechung95 oder einer „progressiven Knochenerweichung des Rechts“96 gesehen.97 Im Europarecht findet sich die Kodifizierung eines Missbrauchsverbots in Art. 54 der Europäischen Grundrechtscharta.98 Danach ist es zum einen missbräuchlich, Rechte, die in der Charta gewährt sind, so auszulegen, dass sie darauf zielen, die Charta abzuschaffen; zum anderen ist es missbräuchlich, Rechte stärker einzuschränken, als dies in der Charta vorgesehen ist. Die Regelung soll Grundrechtsmissbrauch durch Feinde der Demokratie verhindern.99 Ein solcher liegt dann vor, wenn jemand die Rechte der Charta dazu benutzt, die Rechte anderer – im Einzelfall oder generell – unverhältnismäßig einzuschränken oder gar abzuschaffen.100 Ob neben diesem speziellen kodifizierten Missbrauchsverbot im Europäischen Recht ein allgemeines Prinzip existiert, das Rechtsmissbrauch verbietet, ist kontrovers.101 Der 91  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, S. 85 ff., 106 ff.; Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 2 (2012), § 242 BGB, Rdnr. 177. 92  Zu den Fallgruppen Grüneberg, in: Palandt, § 242, Rdnr. 42 ff. 93  Wieling, AcP 1976, S. 334 (342), der das venire contra factum proprium als Umgehung der gesetzlichen Regelungen für Rechtsgeschäfte bewertet. 94  Huber, Über den Rechtsmißbrauch, 1910, S.  101 f. 95  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 343 f. 96  Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 88. 97  Zur Kritik siehe Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S.  88 ff. 98  Die Regelung entspricht Art. 17 EMRK. 99  Borowsky, in: Bernsdorff/Meyer, GRC, Art. 54 GRC (2014), Rdnr. 8. 100  Borowsky, in: Bernsdorff/Meyer, GRC, Art. 54 GRC (2014), Rdnr. 11. 101  Siehe zum Beispiel Zimmermann, Das Rechtsmißbrauchsverbot im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 2002; Ottersbach, Rechtsmissbrauch bei den Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes, 2001; Englisch, Verbot des Rechtsmissbrauchs – ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, StuW 2009, S. 3 ff. Der Generalanwalt Tesauro legte im Verfahren Kefalas u. a./Elliniko Dimosio (Rs. C-367/96) dar, dass „sich gegenwärtig in der Gemeinschaftsrechtordnung kein gemeinschaftsrechtlicher allgemeiner Grundsatz ausmachen (lässt), der die missbräuchliche Ausübung eines durch das Gemeinschaftsrecht begründeten Rechts ahndet.“



A. Rechtsmissbrauch – ein aktuelles Thema23

EuGH hat den Grundsatz aufgestellt, eine missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht sei unzulässig.102 Indes sind innerstaatliche Missbrauchsklauseln unzulässig, wenn sie die volle Wirksamkeit und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen.103 Bei der Anerkennung von Missbrauchsargumenten ist der EuGH zurückhaltend.104 Eine allgemeine Missbrauchsdogmatik für das Europarecht kann aus der Rechtsprechung des EuGH nicht abgeleitet werden.105 Eine ähnliche Regelung wie in Art. 54 der Europäischen Grundrechtscharta – allerdings auf den Bürger bezogen – enthält Art. 18 GG. Danach können Grundrechte verwirkt werden, wenn sie missbräuchlich im Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgeübt werden.106 Zwar hat Art. 18 GG jahrzehntelang ein Schattendasein geführt,107 jedoch wird seine Reservefunktion stets betont.108 Er sei der „ ‚Schlafdeich‘, der in Funktion tritt, wenn der Hauptdeich der Rechtsordnung überspült ist“.109 Auch bei Art. 18 GG bereitet die Definition des Missbrauchens „größere Schwierigkeiten“.110 Ein Missbrauch soll aber stets dann vorliegen, wenn der Einzelne die Grundrechte dazu gebraucht, gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung anzukämpfen.111 Entscheidend für das Missbrauchsurteil 102  Z. B. EuGH, Urteil vom 06.12.2012 – C-285/11 –, Rdnr. 36; EuGH, Urteil vom 13.03.2014 – C-107/13 –, Rdnr. 39. 103  EuGH, Urteil vom 12.05.1998 – C-367/96 –, Rdnr. 22. 104  Dies wird zum Beispiel in der Paletta-Entscheidung des EuGH (Urteil vom 03.06.1992 – C-45/90 –) deutlich. Obgleich die im Urlaubsland ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers objektiv zu Zweifeln an der Richtigkeit der Bescheinigung Anlass gab, verlangte der EuGH eine Anerkennung der Bescheinigung im Herkunftsland des Arbeitnehmers. 105  Hailbronner, NJW 2007, S. 1089 (1092); Fleischer, JZ 2003, S. 865 (868 ff.). 106  Verwirken bedeutet in Art. 18 GG, dass sich der Missbrauchende nicht auf die Grundrechte berufen kann; eine Aberkennung der Grundrechte kann wegen Art. 1 Abs. 2 und 19 Abs. 2 GG dagegen nicht erfolgen. Hierzu Dürig/Klein, in: Maunz/ Dürig, GG, Bd. III, 76. EL, Dezember 2015, Art. 18 GG, Rdnr. 69 ff. 107  Zwar sind in den sechziger Jahren ein Reihe von Monographien zu Art. 18 GG erschienen (z. B. Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, 1967; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, 1968; Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG und das Monopol des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 18 GG, 1962), jedoch hat das BVerfG in keinem der bisher vier Verfahren, in denen eine Grundrechtsverwirkung beantragt worden ist, ein solche ausgesprochen. 108  Stern/Sachs, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, 87 I 2, S. 932. 109  Pagenkopf, in: Sachs (2011), GG, Art. 18 GG, Rndr. 7. 110  Stern/Sachs, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, 87 III 2, S. 955. 111  Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. III, 76.  EL, Dezember 2015, Art. 18 GG, Rdnr. 44.

24 Einleitung

ist also die Zweckrichtung der Handlung. Die Grundrechtsverwirkung ist mit besonderen verfahrensrechtlichen Sicherungen versehen. Die Zuständigkeit für eine gerichtliche Entscheidung über die Verwirkung liegt gemäß Art. 18 Satz 2 GG allein beim Bundesverfassungsgericht, so dass die Hürden für das Missbrauchsurteil und eine Grundrechtsverwirkung hoch angesetzt sind. Im Steuerrecht sind zum einen die strafrechtlich relevante Steuerhinter­zie­ hung,112 also die rechtswidrige Steuerverkürzung durch wahrheitswidrige Angaben des Steuerpflichtigen (§ 370 AO), und zum anderen der Gebrauch oder Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten zur Reduktion der Steuerlast, um finanzielle Vorteile zu erzielen, Dauerthemen. Neben einer Vielzahl von spezialgesetzlichen Missbrauchsregelungen, z. B. § 15a EStG, § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG, findet sich in § 42 AO eine allgemeine Vorschrift zum Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten. Nach § 42 AO kann durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts das Steuergesetz nicht umgangen werden. § 42 AO dient Schenke in seiner Habilitationsschrift als Beispiel, dem Steuerrecht ein methodisches Grundlagenproblem zu bescheinigen.113 Die erneute Neufassung von § 42 AO durch das Jahressteuergesetz 2008114 hat die Diskussion über den Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten noch einmal intensiviert. Der Gesetzgeber hatte das Ziel, mit der Neufassung von § 42 AO einen „Dauerbrenner der Besteuerung“ zu entschärfen,115 indem er in § 42 Abs. 2 Satz 1 AO eine Legaldefinition des Missbrauchs aufnahm. Danach liegt ein solcher vor, wenn eine unangemessene Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt.116 Dass es dem Gesetzgeber gelungen ist, durch die Änderung von § 42 AO „im Interesse der Gleichmäßigkeit und Rechtssicherheit zu einer präziseren, aber auch effektiveren Anwendung“117 zu gelangen, wird in der Literatur bezweifelt;118 eine erneute Änderung von § 42 AO wird für wahrscheinlich gehalten.119

112  § 370

AO. Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 208 f., 291 ff., 409 ff. 114  BGBl I 2008, S. 3150. 115  Hey, BB 2009, S. 1044 (1044). 116  Jahressteuergesetz 2008 vom 20.12.2007 (BGBl I 2008, S. 3150). 117  BT-Drs. 16/6290, S. 40, 81. 118  So Fischer, FR 2008, S. 306 (306 ff.); Wienbracke, DB 2008, S. 664 (669). 119  Hey, BB 2009, S. 1044 (1048). 113  Schenke,



B. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht25

B. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht Neben dem Missbrauch von steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten ist die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen ein Thema von dauerhafter politischer und rechtlicher Brisanz. Eine gängige These lautet, soziale Sicherungssysteme seien besonders missbrauchsanfällig.120 Der Gesetzgeber müsse bei Leistungsgesetzen die Gefahr des Missbrauchs stets bedenken und ihr entsprechend begegnen.121 Sozialrecht und Steuerrecht sind „zwei Seiten einer Medaille“.122 Das Sozialrecht gewährt bedürftigen Personen Mittel. Das Steuerrecht nimmt wirtschaftlich leistungsfähigen Personen Mittel.123 Es verwundert aus diesem Grund nicht, wenn in beiden Rechtsgebieten ähnliche Probleme auftreten.124 I. Bestandsaufnahme Im Sozialrecht betrifft die Missbrauchsdiskussion zum einen den – auch strafrechtlich relevanten – Leistungsmissbrauch, bei dem Sozialleistungen auf Grund falscher Angaben des vermeintlich Leistungsberechtigten zu Unrecht bewilligt werden. Der Leistungsmissbrauch ist mit der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) vergleichbar. Zum anderen geht es in der Diskussion, um die rechtsmissbräuchliche Erlangung von sozialem Schutz, die rechtsmissbräuchliche Erzielung höherer Sozialleistungen und die Vermeidung von Zahlungslasten durch Rechtsgestaltung. Zieht man die Parallele zum Steuerrecht, in welchem die Gesetzesumgehung in § 42 AO positivrechtlich normiert ist und zudem zahlreiche spezialgesetzliche Regelungen existieren, die den Missbrauch steuerrechtlicher Gestaltungen verhindern sollen,125 so fällt als erster Befund auf, dass im Sozialrecht lediglich einzelne Regelungen den 120  Siehe hierzu Homann, Betrug in der gesetzlichen Krankenversicherung: Eine empirische Untersuchung über vermögensschädigendes Fehlverhalten zulasten der Solidargemeinschaft, 2009, 1; Merten, § 20 Sozialrecht, Sozialpolitik, in: Benda (Hrsg.), 1994, Rdnr. 126 ff. Eichenhofer (in: SGB 1982, S. 137 [141]) hingegen hält den „ ‚Missbrauch von Sozialleistungen‘ [für] ein Schlagwort von schillernder Gestalt“. Es handle sich „weniger [um] ein Argument, denn ein Ressentiment, und [sei] doch mehr als eine Allzweckwaffe zur pauschalen Diskreditierung des Sozialstaats“. 121  Merten, § 20 Sozialrecht, Sozialpolitik, in: Benda (Hrsg.), 1994, Rndr. 127. 122  Pezzer, Verfassungsrechtliche Perspektiven der Familienbesteuerung, in: Fürst/ Herzog/Umbach (Hrsg.), 1987, S. 758 (770); Felix, Die Familie zwischen Privatrecht, Sozialrecht und Steuerrecht, in: Mellinghoff (Hrsg.), 2006, S. 149 (153 ff.). 123  Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl. (2013), § 1, Rdnr. 41. 124  Felix, SGB 2006, S. 743 (743). 125  Z.  B. kritisch zur Ausweitung spezialgesetzlicher Missbrauchsregelungen im Steuerrecht Hey, StuW 2008, S. 167 (167 ff.).

26 Einleitung

Terminus „Missbrauch“ oder alternativ den der „Sozialwidrigkeit“ im Normtext direkt enthalten.126 Dagegen finden dergleichen Termini sich weder im SGB X noch im SGB I. Zwar ist die Verhinderung einer „missbräuchlichen Ausnutzung“127 und die „Missbrauchsbekämpfung“128 zum Schutz der Solidargemeinschaft ein häufig in Gesetzesbegründungen genanntes Motiv; dieses wird jedoch zumeist im Normtext selbst nicht explizit gemacht. Häufig bleibt auch in der Gesetzesbegründung offen, was genau als missbräuchlich angesehen wird. In Konstellationen, bei denen der Gesetzgeber aus tatsächlichen Gründen auf der Tatbestandsseite eine Anfälligkeit für (Leistungs-) Missbrauch annimmt, finden sich vielfach widerlegliche Vermutungsrege­ lungen,129 die abweichend vom Amtsermittlungsgrundsatz des § 20 SGB X zu einer Umkehr der Beweislast führen.130 Der Gesetzgeber befasst sich mit der Missbrauchsproblematik nur punktuell. Ein gesetzgeberisches Konzept, Missbrauch im Sozialrecht zu definieren und zu verhindern, ist indes nicht erkennbar. Sozialleistungen werden grundsätzlich unabhängig von der zu Grunde liegenden Ursache gewährt; das (Mit-)Verschulden des Berechtigten ist ohne Relevanz.131 In der Unfallversicherung ist sogar geregelt, dass selbst verbotswidriges Verhalten den Versicherungsfall nicht ausschließt.132 Leistungsansprüche werden nach den einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur dann beschränkt oder entfallen insgesamt, wenn der Berechtigte den Leistungsfall zumindest grob fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt hat.133 Diesen Leistungsausschlüssen liegt der Gedanke des venire contra factum proprium und einem Schutz der Solidargemeinschaft vor grob unsolidarischem Verhalten 126  So zum Beispiel § 52a SGB V und § 33a SGB XI, die einen Leistungsausschluss für Personen vorsehen, die einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründen, um missbräuchlich Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder sozialen Pflegeversicherung zu erlangen. Der Anwendungsbereich der Regelung ist gering; siehe hierzu Linke, NZS 2008, S. 342 (344 ff.). 127  BT Drs. 12/5262, S. 103. 128  BT Drs. 17/8005, S. 103. 129  Zum Beispiel § 7 Abs. 3a SGB II, wonach der Wille füreinander einzustehen als Voraussetzung für das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft beim Vorliegen der in der Regelung genannten Kriterien vermutet wird. 130  § 7 Abs. 3a SGB II wurde durch das FortentwG vom 20.07.2006 (BGBl. I, S. 1706) eingeführt. Ausweislich der Gesetzesbegründung ist Zweck der Vermutungsregelung, Leistungsmissbrauch zu verhindern (BT-Drs. 16/1410; S. 19); siehe auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 09.05.2012 – L 13 AS 105/11 –, Rdnr. 20 ff. 131  Es gilt im Regelfall das Finalprinzip. Eine Ausnahme hiervon ist die Unfallversicherung, die als Versicherungsfall kausal einen Arbeitsunfall bzw. eine Berufskrankheit voraussetzt (§ 7 Abs. 1 SGB VIII). 132  § 7 Abs. 2 SGB VIII. 133  Z. B. § 52 SGB V.



B. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht

27

einzelner Personen zu Grunde.134 Es wird auf die Verantwortlichkeit135 einer Person für ihr Handeln abgestellt. Im Bereich der Arbeitsförderung (SGB III) beispielsweise führt ein grob fahrlässiges Verhalten des Berechtigten, das zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt hat, zu einem Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld.136 Jedoch sind diese Ausnahmen auf Grund eines Verschuldens gegen sich selbst bisher auf wenige gesetzliche Regelungen beschränkt.137 Ansätze, derartige Regelungen beispielsweise auf die Folgen riskanter Lebensführung zur Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung auszuweiten, haben sich bisher nicht durchgesetzt.138 Neben diesem ersten Befund, dass der Begriff des Missbrauchs in der Gesetzessprache kaum eine Rolle spielt, fällt als zweiter Befund auf, dass sich die Forderung nach einem eigenen sozialrechtlichen Begriff, der so genanntes missbräuchliches sozialwidriges Verhalten sanktioniert, ohne dass dafür eine gesetzliche Regelung vorhanden ist,139 nicht durchgesetzt hat. Nach Faude, einem Vertreter dieser Forderung, wird im Sozialrecht die Privatautonomie des Zivilrechts durch die Solidaritätsmaxime ersetzt. Der Terminus „Solidaritätswidrigkeit“ markiere dann „die Untergrenze, jenseits derer sich das Verhalten des Versicherungsnehmers als unsolidarisches Verhaltens darstellt und daher sanktioniert wird“.140 Als Erscheinungsformen der Solidaritätswidrigkeit macht er strafrechtswidriges, solidaritätsprovozierendes und sittenwidriges Verhalten aus.141 Gegen diesen Ansatz spricht bereits, dass es nicht Funktion des Sozialrechts sein kann, ein bestimmtes solidaritätsgemäßes Verhalten zu erzwingen.142 Auch die gesetzgeberische Ausgestaltung der 134  Noftz,

in: Hauck/Noftz, SGB, 09/14, § 52 SGB V, Rdnr. 10. Begriff der Eigenverantwortung siehe Boecken, Formen der Individualverantwortung in der Sozialversicherung, in: Individualverantwortung im Sozialversicherungsschutz, 1997, S. 7 (10 ff.). 136  Siehe § 159 SGB III; ein versicherungswidriges Verhalten im Sinne der Regelung liegt aber nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer keinen wichtigen Grund für sein Verhalten hat. § 31 Abs. 2 Nr. 3, 4 SGB II knüpfen ebenfalls an diese Regelung an. 137  Zum Beispiel § 52 SGB V, §§ 103, 104 SGB VI § 101 Abs. 2 SGB VIII. Zur Verschuldensrelevanz im Sozialleistungsrecht siehe Mihm, NZS 1995, S. 7 (7 ff.). 138  Zur Diskussion in der gesetzlichen Krankenversicherung siehe Schnapp, GSP 2006, S. 52 (52 ff.) Eine Ausnahme hiervon ist § 52 Abs. 2 SGB V. Probleme bei Leistungsausschlüssen wegen risikobehafteten Verhaltens ergeben sich vor allem daraus, dass dieses Verhalten den Kernbereich privater Lebensführung betrifft; siehe hierzu Eichenhofer, SGB 2003, S. 705 (705 ff.). 139  Siehe hierzu Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, 1983, S. 133 f. 140  Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, 1983, S. 134. 141  Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, 1983, S. 346. 142  Zacher, ZfS 1983, S. 171 (175). 135  Zum

28 Einleitung

Konstellationen, in denen ein Leistungsanspruch entfällt, streitet gegen diesen Ansatz. Verboten ist nicht die selbstschädigende Handlung als solche, nur die Folgen sollen nicht von der Solidargemeinschaft getragen werden müssen. Der Gesetzgeber hat dementsprechend derartige Regelungen als Obliegenheiten ausgestaltet, die nicht erzwingbar sind.143 Dies entspricht nicht der Kategorie der Rechtswidrigkeit, wonach ein Verhalten nur dann als rechtswidrig bezeichnet wird, wenn es im Gegensatz zu den Geboten der Rechtsordnung steht.144 Als dritter Befund ist festzustellen, dass gleichwohl im Sozialrecht die Figur des Rechtsmissbrauchs zur Anwendung gelangt. Die Rechtsprechung versagt sozialen Schutz im Einzelfall auch ohne Rechtsgrundlage mit dem Argument, dass ein Recht missbräuchlich ausgeübt werde.145 Auch in der sozialrechtlichen Literatur findet sich immer wieder die Aussage, eine Rechtsausübung sei missbräuchlich, wenn sie beispielsweise eine „sinnwidrige Ausnutzung des sozialen Netzes“ darstelle.146 Wenn eine dogmatische Herleitung des Missbrauchsarguments erfolgt, was nur selten der Fall ist, knüpft diese an das Zivilrecht an: Auch im Sozialrecht sei von der Übertragbarkeit des im Zivilrecht erarbeiteten Begriffs des Rechtsmissbrauchs als eine zweck-, sitten- und treuewidrige Ausübung eines Rechts auszugehen, die nur vordergründig und bei oberflächlicher Betrachtung als „legal“, in Wirklichkeit aber als zutiefst illegitime Nutzung eines Rechts zu bewerten sei.147 II. Zur wissenschaftlichen Debatte über die Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht Im Gegensatz zu der regelmäßig zu beobachtenden Thematisierung des Missbrauchstopos im öffentlichen Diskurs und der Aufarbeitung des Themas im Steuerrecht ist im Sozialrecht eine vergleichbar Tiefe wissenschaftliche Aufbereitung des Themas nicht zu verzeichnen.148 Dieser Befund überrascht, Z. B. § 52 SGB V. auch Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 513 f; Boecken, Formen der Individualverantwortung in der Sozialversicherung, in: Individualverantwortung im Sozialversicherungsschutz, 1997, S. 7 (74); Wolf, Das moralische Risiko der GKV im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Eigenverantwortung, 2010, S. 135. 145  So Felix, SGB 2006, S. 743 (743), Anmerkungen zum Urteil des 7a-Senats des BSG vom 06.04.2006 – B 7a AL 2/05 R –. 146  Stettner, VSSR 1983, S. 155 (157). 147  Stettner, VSSR 1983, S. 155 (162). 148  Ansätze für das deutsche Recht finden sich beispielsweise bei Eichenhofer, in: Engel (Hrsg.), 1998, S. 219 ff. sowie ders., SGB 1982, S. 137 ff.; ferner bei Faude, 143 

144  So



B. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht29

wird jedoch nicht nur im Bereich der dogmatischen Rechtswissenschaft, sondern auch im Bereich der empirischen (Nachbar-)Wissenschaften bestätigt.149 Es existieren kaum gesicherte empirische Erkenntnisse darüber, inwieweit die rechtswidrige Inanspruchnahme von Sozialleistungen tatsächlich stattfindet. Es ist unklar, ob es sich also um „einzelne schwarze Schafe“ handelt, die das System sozialer Sicherheit ausnutzen oder die systematische Ausbeutung der Sozialsysteme tatsächlich ein Trend der Zeit ist.150 Eichenhofer benennt zwei Ursachen für die „tiefe Scheu“ der Rechtswissenschaft, sich mit dem Thema Rechtsmissbrauch im Sozialrecht auseinandersetzen: Zum einen setze man sich dadurch dem Verdacht aus, das System der sozialen Sicherheit als Ganzes zu diskreditieren, zum anderen stehe man „nicht gerne als der Düpierte da, der einräumen muss, dass mancher Missbrauch – de lege lata – nicht verhindert werden [könne].“151 Ein weiterer Grund dafür, dass die Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht bisher wenig untersucht ist, scheint aus der Funktion des Sozialrechts selbst zu resultieren. Sozialrecht und Missbrauch passen nicht zusammen, denn die Grundannahme des Sozialrechts ist, dass es den Einzelnen bei den „Wechselfällen des Lebens“152 unterstützen soll, auf die er keinen Einfluss hat, die ihm also schicksalhaft widerfahren.153 In den Anfängen des Sozialrechts beschränkte sich das Sozialleistungsrecht auf die Abfederung basaler Problemlagen. Das Sozialrecht sollte Hilfe bei „unentrinnbaren Bedürf­nis­ sen“154 bieten. Soziale Leistungen wurden als „bedingte Versprechen“155 aufgefasst, die im Fall der Verwirklichung eines sozialen Risikos als sozialer Schutz eingelöst wurden und Leistungen auf einem niedrigen Niveau boten.156 Ein bewusstes Ausnutzen, ein Missbrauchen von GestaltungspielräuSelbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, 1983, Köbl, ZFSH/ SGB  1996, S.  292 ff., Schulin, Zum Problem der Typisierung im Recht der sozialen Sicherheit, in: Braun (Hrsg), Solidarverantwortung in der Solidargemeinschaft, 1981, S. 7 ff., Zacher, ZfS 1983, S. 171 ff. und Mihm, NZS 1995, S. 7 ff. In der Schweiz ist 2005 die Habilitationsschrift von Gächter, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht unter besonderer Berücksichtigung des Bundessozialversicherungsrechts, erschienen. 149  Eine Ausnahme ist die Untersuchung von Lamnek/Olbrich/Schäfer, Tatort Sozialstaat, 2000. 150  So Coeppicus, ZRP 2008, S. 92 (94). 151  Eichenhofer, SGB 1982, S. 137 (138). 152  Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Becker (Hrsg.), S. 3 (36). 153  Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Becker (Hrsg.), S. 3 (36). 154  Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hrsg.), 1985, S. 11 (51). 155  Eichenhofer, Trittbrettfahren im System sozialer Sicherung, in: Engel (Hrsg.), 1998, S. 219 (227), die Absicherung des Leistungsfalls beruht demnach auf der Erfahrung der Kontingenz. 156  Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 79.

30 Einleitung

men zu Lasten des Systems der sozialen Sicherung war bei einer solchen Konzeption kaum denkbar, denn als Prämisse müsste eine Manipulierbarkeit des Schicksals angenommen werden. Mit der Verrechtlichung des Sozialrechts erfolgte jedoch eine Entkoppelung dieses Zusammenhangs: Es wurde – jedenfalls im Sozialversicherungsrecht – von den konkreten Bedürfnissen abstrahiert und Leistungen wurden pauschal bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen gewährt. Das vom Sozialrecht abgedeckte Leistungsspektrum wurde zudem erheblich ausgeweitet,157 aus einer „Hilfe gegen Subnormalität“ wurde im entwickelten Sozialstaat „eine Sorge für eine komfortable Normalität“.158 Die Ausweitung der Regelungen zur sozialen Absicherung brachten einen Freiheitsgewinn für den Einzelnen, führten aber auch zu der Folgefrage, inwieweit Systeme sozialer Sicherung missbrauchsanfällig sind. Zacher führt aus, dass erst die Abstraktion von individueller Bedürftigkeit jene Schwierigkeiten des Sozialrechts geschaffen habe, die in der Diskussion über die Umgehung des Sozialrechts und den Missbrauch von Sozialleistungen sichtbar würden;159 mit den Leistungstatbeständen seien die Spielräume gewachsen.160 Erst das Vorhandensein dieser ermöglicht ein „Trittbrettfahren“161 im System der sozialen Sicherung. Mit der Entwicklung des Sozialrechts wurden Bedingungen des Bezugs von Sozialleistungen zumindest teilweise modulierbar, denn es entstanden Bereiche, in denen gestaltend Einfluss auf die Voraussetzungen des Bezuges von Sozialleistungen genommen werden kann.162 Relevant sind vor allem privatrechtliche Gestaltungen, die sozialrechtliche Folgen auslösen. So ist zum Beispiel die Gewährung einer Witwenrente davon abhängig, dass zuvor eine Ehe geschlossen worden ist. Wenn die Ehe allein wegen der Gewährung einer solchen Rente geschlossen wird, stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um eine sozialrechtlich anzuerkennende Gestaltung oder aber um einen Rechtsmissbrauch handelt. Sozialrechtlich relevant sind jedoch auch steuerrechtliche Gestaltungen, zum Beispiel ein Wechsel der Lohnsteuerklasse, um den Anspruch auf Elterngeld zu erhöhen. 157  Hierzu Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hrsg.), 1985, S. 11 (51 ff.), der die Entwicklung des Sozialrechts in verschiedene Generationen unterteilt. 158  Zacher, Zur Lage des deutschen Sozialstaats, in: Maihofer/ Kaufmann/Mestmäcker (Hrsg.), 1988, S. 645 (645 ff.). 159  Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hrsg.), 1985, S. 11 (65). 160  Zacher, Der deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Leibfried/Wagschal (Hrsg.), 2000, S. 53 (105). 161  So die Bezeichnung bei Eichenhofer, Trittbrettfahren im System sozialer Sicherung, in: Engel (Hrsg.), 1998, S. 219 (218 ff.). 162  Hänlein, ZVersWiss 2002, S. 579 (578).



C. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit31

Schließlich mag die mangelnde Aufarbeitung der Rechtsmissbrauchsproblematik im Sozialrecht auch am Umfang und der raschen Änderung dieses Rechtsgebiets durch den Gesetzgeber liegen.163 Diese Probleme hat das Sozialrecht jedoch mit dem Steuerrecht gemein, in dem gleichwohl die Missbrauchsmöglichkeiten steuerrechtlicher Gestaltungen zum Dauerthema avanciert sind, über das bereits zahlreiche Monographien publiziert wurden.164

C. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit Ziel der Arbeit ist es, das Phänomen des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht zu untersuchen. Das Sozialrecht dient als Referenzgebiet der vorliegenden Untersuchung, da es sowohl Eingriffs- als auch Leistungsverwaltung beinhaltet. Obgleich sich das Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin nach Kingreen / Rixen „gewissermaßen in der Holzklasse“ befindet und „weitgehend isoliert nicht nur von den anderen Teildisziplinen sondern auch von der Mutterdisziplin“, dem allgemeinen Verwaltungsrecht, ist,165 handelt es sich gleichwohl um ein „herausragendes Referenzgebiet für das allgemeine Verwaltungsrecht“.166 Im Folgenden wird Sozialrecht als rechtssystematischer Begriff verstanden, der dasjenige Gebiet des Rechts bezeichnet, welches die Sozialleistungen zum Gegenstand hat.167 Nach dem Begriff des Sozialrechts im formellen Sinne sind hierunter die Rechtsbereiche zu fassen, welche in das SGB aufgenommen worden sind.168 Im Rahmen der Arbeit wird analysiert, wann die Figur des Rechtsmissbrauchs zum Einsatz gelangt und welche Funktionen ihr zukommen. Es wird untersucht, inwieweit das Sozialrecht auf Grund seiner Funktion von vorneherein gestaltungsfeindlich ist oder ob eine optimierende Sozialgestaltung ebenso zulässig wie eine Steuergestaltung ist, ohne dass die Legitimität der Rechtsausübung in Frage zu stellen sein dürfte. Es wird zudem auf die dogmatische Herleitung der Figur des Rechtsmissbrauchs eingegangen. Wenn eine solche im Sozialrecht erfolgt, wird zumeist an § 42 AO und die steuer163  Mikesic, Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin, S. 172, die das Sozialrecht als eine „wuchernde Masse“ bezeichnet. 164  Lusga, Die Verhinderung von Steuerumgehungen bei Unternehmensumstrukturierungen, 2006; Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, 2006; Rose/ Glorius-Rose, Steuerplanung und Gestaltungsmißbrauch, 2. Aufl. (1998); SchulteRummel, Steuerumgehung und Hinzurechnungsbesteuerung, 2005. 165  Kingreen/Rixen, DÖV 2008, S. 741 (742). 166  Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. (2006), S. 124. 167  Eichenhofer, Sozialrecht, 7. Aufl. (2010), § 1 Rdnr. 2. 168  Igl/Welti, Sozialrecht, 9. Aufl. (2015), § 1 Rdnr. 13.

32 Einleitung

rechtliche Missbrauchsdiskussion oder an das Zivilrecht angeknüpft: Auch im Sozialrecht sei von der Übertragbarkeit des im Zivilrecht erarbeiteten Begriffs des Rechtsmissbrauchs als einer zweck-, sitten- und treuewidrigen Ausübung eines Rechts auszugehen, die nur vordergründig und bei oberflächlicher Betrachtung als „legal“, in Wirklichkeit aber als zutiefst illegitime Nutzung eines Rechts zu bewerten sei.169 Ob sich diese Herleitung aus dem Zivilrecht im Sozialrecht halten lässt, ist ebenfalls Gegenstand dieser Abhandlung. Letztlich geht es um die Frage, ob die Figur des Rechtsmissbrauchs – vor allem im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Gehalt vom Vorrang des Gesetzes – verwendet werden darf, um auf diese Weise Ergebnisse zu korrigieren, die ungerecht erscheinen, oder ob es hierfür eines Tätigwerdens des Gesetzgebers bedarf.170 Obgleich das Sozialrecht bis heute als „Fremdling im öffentlichen Recht“171 angesehen und als „verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Spätentwickler“172 bezeichnet wird, ist es doch Bestandteil des öffentlichen Rechts. Auf Grund dessen unterliegt es auch den Bindungen des öffentlichen Rechts, selbst wenn die äußeren Strukturen von Sozialrechtsverhältnissen Ähnlichkeiten mit Privatrechtsverhältnissen aufweisen und sich das Sozialrecht zunächst nur „schwer in die Semantik von Rechtsstaat, Eingriff und subjektivem Recht“ einordnen ließ.173

D. Vorgehensweise I. Problemstellung Der Arbeit liegt die Annahme zu Grunde, dass es drei verschiedene Arten des Umgangs mit der Missbrauchsproblematik im Sozialrecht gibt. Der erste – nur selten vorkommende – Typus greift ausdrücklich in der gesetzlichen Regelung den Terminus des Missbrauchs oder alternativ den der Sozialwidrigkeit auf, der eine besondere Ausprägung der Figur des Rechtsmissbrauchs darstellt. So besteht beispielweise nach § 52a SGB V kein Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sich Personen in 169  Stettner,

VSSR 1983, S. 155 (162). weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass, wenn dem Gesetzgeber „bestimmte Rechtsregeln (missfallen), er aufgerufen (sei), diese zielgenau zu ändern; erweis(e) er sich dazu, wie so oft, als unfähig, (dürfe) er sein Unvermögen, was vor allem das legistische Unvermögen der gesetzesvorbereitenden Ministerialbürokratie (sei), nicht den Normadressaten, zudem noch mit moralisierendem Unterton, zum Vorwurf machen.“ (in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 3. Aufl. (2013), § 64 SGB II, Rdnr. 2). 171  Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 8. 172  Schnapp, MedR 1996, S. 418 (418). 173  Mikesic, Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin, 2002, S. 172. 170  Rixen



D. Vorgehensweise33

den Geltungsbereich des SGB V begeben haben, um missbräuchlich Leistungen in Anspruch zu nehmen. Bei derartigen Regelungen handelt es sich um echte Missbrauchsregelungen.174 Beim zweiten Typus fließen Erwägungen zur Prävention von Missbrauch in den Gesetzestext ein. Es werden in der Norm Regelbeispiele genannt oder Vermutungsregeln aufgestellt, bei deren Vorliegen ein Verhalten vom Gesetzgeber als missbräuchlich beurteilt wird. So wird beispielsweise eine so genannte Versorgungsehe nach § 46 Abs. 2a SGB VI widerlegbar vermutet, wenn ein Ehegatte innerhalb eines Jahres nach Eheschließung verstirbt, mit der Folge, dass dem überlebenden Ehepartner keine Witwen- oder Witwerrente gewährt wird. Bei derartigen Reglungen handelt es sich um unechte Missbrauchsreglungen.175 In der dritten und problematischen Variante existiert nach dem Wortlaut der einschlägigen Regelung ein Anspruch. Dieser wird jedoch aus Erwägungen des Rechtsmissbrauchs abgelehnt. Die Analyse dieser Variante bildet den Schwerpunkt der Arbeit. Ein Zitat von Hassemer verdeutlicht die mit dieser Konstellation häufig verbundene Annahme: „Der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs kann […] eine moralische Verdächtigung und Verurteilungsverstärkung mit sich bringen, die ein heimliches Vorurteil ausdrückt: Die missbrauchenden Personen hätten eigentlich nicht nur eine Handlungsmöglichkeit, über die sie faktisch verfügten, und ein Recht missbraucht, das man ihnen zugestanden hatte, sondern darüber hinaus noch etwas anderes: ein unverdientes Geschenk der Rechtsgemeinschaft, eine berechtigte Erwartung von Wohlverhalten, eine selbstverständliche Pflicht zum Maßhalten.“176 Der Missbrauchende enttäuscht also eine Verhaltenserwartung. Bei der Auseinandersetzung mit der Figur des Rechtsmissbrauchs wird – was zu zeigen sein wird – auf diese Weise eine zusätzliche Voraussetzung zu den in der Norm genannten Tatbestandsmerkmalen, eine außerrechtliche Bedingung der Rechts­verwirklichung, eingeführt. Eine Annäherung an die Figur des Rechtsmissbrauchs soll zunächst terminologisch sowie anhand von Fallgestaltungen erfolgen. Dabei ist zu bedenken, dass mit dem Wort Missbrauch vielfältige Verwendungsweisen verbunden sind. Das Ziel der Untersuchung ist nicht, den vielfältigen Gebrauch der Figur des Rechtsmissbrauchs auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen. Es sollen vielmehr die unterschiedlichen Funktionen der Figur beleuchtet werden. Die Tatsache, dass sich jeder unter dem Missbrauch von Sozialleis174  So für das Steuerecht die Terminologie von Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 26. 175  So für das Steuerrecht die Terminologie von Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 24. 176  Hassemer, Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007, S. 182 f.

34 Einleitung

tungen etwas vorstellen kann, und die mit diesem Begriff zusammenhängenden Assoziationen erschweren die Auseinandersetzung mit der Figur des Rechtsmissbrauchs. II. Abgrenzungen In der alltäglichen Debatte werden alle möglichen Verhaltensweisen, die moralisch oder rechtlich als nicht richtig empfunden werden, untechnisch als (rechts-)missbräuchlich bezeichnet. Doch „wo von missbräuchlichem Verhalten die Rede ist, geht es noch lange nicht immer um Rechtsmissbrauch“.177 Der Begriff des Rechtsmissbrauchs hat eine hohe suggestive Kraft und dient dazu, Verhalten deutlich als moralisch falsch oder sozial inadäquat zu klassifizieren.178 Gerade der Missbrauch von Sozialleistungen ist ein beliebtes Thema in der öffentlichen Debatte.179 Betrachtet man die Diskursgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, kehrt das Thema „Missbrauch von Sozialleistungen“ zyklisch wieder.180 Dies hat unterschiedliche Gründe: Zum einen ist der Sozialleistungsmissbrauch ein geeignetes Thema, um Sommerlöcher in den Medien auszufüllen,181 die „Abzocker“ der sozialen Leistungssysteme werden aufgespürt und öffentlich an den Pranger gestellt mit der Folge, dass gesetzliche Regelungen einzelfallbezogen nachjustiert werden.182 Zu anderem ist das Thema aber auch geeignet, um Kürzungen von Sozialleistungen politisch einzuleiten. In einer Art politischem „Pawlow-Reflex“ wird der reale oder vermeintliche Missbrauch meist dann in den politischen Diskurs eingebracht, wenn die Konjunktur schwach ist oder eine Regierung vor der möglichen Wiederwahl steht.183 Je nach tagespolitischer Opportunität wird der Missbrauch von Asylleistungen, Leistungen der Krankenversicherung oder der Arbeitslosenversicherung generell angeprangert, und auch ein normgerechter Leistungsbezug wird mit dem Label „Sozialmissbrauch“ etikettiert.184 Plakativ 177  Zeller,

Treu und Glauben und Rechtsmissbrauchsverbot, 1981, S. 316. Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S. 7. 179  Schoch formuliert plastisch: „Der Sozialleistungs- und auch der Sozialhilfemissbrauch ist ein Thema mit hohem Unterhaltungswert. Jeder kennt einen, der das Sozialamt betrogen hat oder zumindest kennt er einen, der einen kennt.“ (in: ZfF 1998, S. 217 (217). 180  Siehe hierzu Wogawa, Missbrauch im Sozialstaat, 2000. 181  Thüsing, NJW 2003, S. 3246 (3247). 182  Siehe zur Änderung des §  119 BSHG Thüsing (in: NJW 2003, S. 3246 [3246 ff.]), der die Änderungsnotwendigkeit der Norm auf eine zehntägige Berichterstattung in der Bild zurückführt. 183  Oschimansky/Schmid/Kull, Leviathan 2003 (31), S. 3 (3 ff.). 184  Kreft/Uske, Skandal und Normalität, in: Uske/Völlings (Hrsg.), 1998, S. 96, 114 ff. 178  Gächter,



D. Vorgehensweise35

dahin gewendet, dass „wir keine Gesellschaft sein wollen, in der die Ehrlichen sich als Dumme fühlen“,185 kann eine polarisierend geführte Missbrauchsdiskussion auch dazu dienen, erfolgte Einschnitte in das soziale Sicherungssystems nachträglich politisch zu legitimieren186 oder eine Verschärfung von Kontrollmöglichkeiten bei Leistungsberechtigten zu rechtfertigen. In der politischen und medialen Diskussion erfolgt dabei regelmäßig eine Gleichsetzung von Leistungsmissbrauch, rechtspolitisch unerwünschtem Verhalten und Rechtsmissbrauch.187 Weder die alltägliche noch die politische und mediale Verwendung des Missbrauchsarguments sind Gegenstand der Abhandlung und demnach auch nicht der Leistungsmissbrauch. III. Gang der Darstellung Der erste Teil der Arbeit befasst sich mit der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs in Literatur und Rechtsprechung. Zunächst wird die Figur des Rechtsmissbrauchs im Zivil- und Steuerrecht beleuchtet, weil die Rechtsfigur in diesen Rechtgebieten intensiv bearbeitet worden ist. Eine Annäherung an die Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht erfolgt durch die Ermittlung von Fallgruppen, in denen Rechtsprechung und Literatur direkt auf die Figur des Rechtsmissbrauchs rekurrieren oder eine ähnliche direkte oder implizite Beschreibung verwenden. Die Figur des Rechtsmissbrauchs erscheint dabei in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass der Missbrauch einer Rechtsausübung thematisiert wird. Hierzu wird der Bereich des Sozialversicherungsrechts, das Recht der Existenzsicherung und sonstiges materielles Sozialrecht beleuchtet. Es folgt eine Analyse der Rechtsprechung, die sich mit der Figur des Rechtsmissbrauchs befasst. Im zweiten Teil der Arbeit wird die Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht auf Divergenzen zum Zivilrecht untersucht. Weitere Schwerpunkte liegen auf der dogmatischen Figur des Sozialrechtsverhältnisses und der Figur der Einheit der Rechtsordnung. Eine diachro-

185  So beispielsweise der ehemalige Bundesminister Clement in Ergänzung zu dem Report des BMWA, Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch. „Abzocke“ und Selbstbedienung im Sozialstaat, ein Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005. 186  Nachdem sich die so genannten Hartz-IV-Reformen deutlich kostenintensiver als erwartet entwickelt haben, ist 2006 das „Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (BGBl. I, S. 1706) in Kraft getreten, das unter anderem die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten gegenüber SGB-II-Leistungsempfängern erheblich erweitert hat. 187  Zur medialen Konstruktion des „Sozialschmarotzers“ Lehnert, „Arbeit, nein danke“!?, 2009, S. 49 ff.

36 Einleitung

nisch-historische Betrachtung des Sozialrechts wird ein Schlaglicht auf die gestiegene Bedeutung des subjektiven öffentlichen Rechts werfen. Im dritten Teil der Arbeit werden Alternativen zu der Figur des Rechtsmissbrauchs untersucht. Dem Gesetzgeber stehen sowohl explizite als auch implizite Ansätze zur Verfügung, seinerseits als missbräuchlich eingestuften Verhaltensweisen die sozialrechtliche Anerkennung zu versagen. Beiden Konzepten ist gemein, dass sie, verglichen mit einer normtextlich nicht abgestützten reinen Rechtsprechungslösung, immerhin eine höheres Maß an Rechtssicherheit zu vermitteln im Stande sind, wenngleich Bedenken hinsichtlich des verfassungsrechtlich erforderlichen Maßes an Bestimmtheit nicht durchweg zum Verstummen gebracht werden können. Die Fülle des Materials zwingt zu Begrenzungen des Themas. Der Versuch einer abschließenden Betrachtung aller Missbrauchskonstellationen im Sozialrecht würde den Rahmen sprengen. Die Arbeit beschränkt sich daher auf exemplarische Konstellationen, in denen materiellen Ansprüchen der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs entgegengehalten wird. Die Arbeit behandelt die Figur des Rechtsmissbrauchs nur aus der Perspektive des potentiellen Sozialleistungsberechtigten. Rechtsmissbräuchliches Verhalten der Leistungsträger oder Leistungserbringer – auch untereinander – ist nicht Gegenstand der Untersuchung.

Erster Teil

Zur Verwendung der Argumentationsfigur in Literatur und Rechtsprechung 1. Abschnitt

Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Zivil- und Steuerrecht A. Problemstellung Die Figur des Rechtsmissbrauchs ist im Zivil- und Steuerrecht intensiv bearbeitet worden. Da keine eigenständige Dogmatik zur Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht existiert, sondern – soweit überhaupt Ausführungen zur dogmatischen Herleitung erfolgen – entweder an die Figur des Rechtsmissbrauchs, wie sie im Zivilrecht entwickelt wurde, oder an § 42 AO und die steuerrechtliche Missbrauchsdiskussion angeknüpft1 wird, soll, bevor eine Analyse von verschiedenen Fallkonstellationen im Sozialrecht erfolgt, die Figur des Rechtsmissbrauchs im Zivil- und Steuerrecht erörtert werden. Diese beiden Rechtsgebiete eignen sich besonders als Referenzgebiete, da sie zahlreiche Berührungspunkte mit dem Sozialrecht aufweisen. Das Sozialrecht knüpft in erheblichem Umfang an zivilrechtliche Gestaltungen an.2 Das Steuerrecht muss bei der Frage der Besteuerung ebenso wie das Sozialrecht mit den Folgen zivilrechtlicher Gestaltungen umgehen. Hieran schließt sich im zweiten Teil der Arbeit die Frage an, inwieweit die Strategien dieser Rechtsgebiete, mit Missbrauch umzugehen, auf das Sozialrecht übertragen werden können. Zudem sind das Sozial- und Steuerrecht „zwei Seiten einer Medaille“.3 Das Sozialrecht gewährt bedürftigen Personen Mittel.4 Das Steuerrecht nimmt wirtschaftlich leistungsfähigen Personen Mittel.5 1  Lilge,

in: Lilge (Hrsg.), SGB VI 105. Lfg., § 1 SGB VI, S. 23. hierzu Waltermann, Sozialrecht, 10. Aufl. (2012), Rdnr. 589 ff. 3  Pezzer, Verfassungsrechtliche Perspektiven der Familienbesteuerung, in: Fürst/ Herzog/Umbach (Hrsg.), 1987, S. 758 (770); Felix, Die Familie zwischen Privatrecht, Sozialrecht und Steuerrecht, in: Mellinghoff (Hrsg.), 2006, S. 149 (153 ff.). 4  Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl. (2013), § 1, Rdnr. 41, demnach sei Bedürftigkeit negative Leistungsfähigkeit. 5  Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl. (2013), § 1, Rdnr. 41. 2  Siehe

38

1. Teil 1. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Zivil- und Steuerrecht

B. Zivilrecht Das „zivilistische Denken“ hat im Bereich des öffentlichen Rechts eine „Adoption und Adaption“ erfahren.6 Dies gilt auch für die Figur des Rechtsmissbrauchs. Aus diesem Grund werden die verschiedenen Grundkonstellationen des Rechtsmissbrauchs im Zivilrecht und ihre Funktion im Überblick dargestellt. Zudem wird auf das Verhältnis von Rechtsmissbrauch zur Gesetzesumgehung und zur Verwirkung eingegangen. Die Ausführungen beschränken sich für den Zweck dieser Untersuchung auf das materielle Zivilrecht. I. Rechtsmissbrauch im Zivilrecht Mit dem Innehaben eines Rechts muss die Möglichkeit einhergehen, dieses ausüben zu können, sonst wäre es wertlos. Mit dieser Aussage geht die Frage einher, wie Rechte beschränkt werden können.7 Denkbar sind zunächst explizite Beschränkungen durch gesetzliche Regelungen, die das eingeräumte Recht begrenzen.8 Wenn solche jedoch fehlen, kommt die Figur des Rechtsmissbrauchs ins Spiel. Sie soll eine Erklärung dafür liefern, wie es konstruktiv möglich ist, dass ein Recht gleichzeitig besteht und nicht besteht, obgleich keine explizite Regel für die Beschränkung vorhanden ist.9 Funktion der Figur des Rechtsmissbrauchs ist es, im Einzelfall formell bestehende Rechtspositionen zu beschränken. Während § 2 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches regelt, dass der offenbare Missbrauch eines Rechts keinen Rechtsschutz findet, gibt es im deutschen Zivilrecht keine vergleichbare Regelung eines allgemeinen Missbrauchsverbots. Gleichwohl ist die Figur des Rechtsmissbrauchs anerkannt und wird zumeist mit § 242 BGB verknüpft.10 In der Formulierung Sieberts heißt es, dass sich die Lehre vom Rechtsmissbrauch von § 226 BGB über § 826 BGB zu § 242 BGB hin entwickelt habe;11 denn § 242 BGB sei „all6  Pestalozza,

„Formenmißbrauch“ des Staates, 1973, S. 8. Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 71 ff. 8  Siehe hierzu unter II. 9  In diesem Sinne auch Chelidonis, JURA 2010, S. 726 (730), die Frage stoße an die „Grenzen der Kapazitäten unseres Rechtsdenkens“. 10  Dies ist nicht zwingend; beispielweise sind im Schweizer Recht das Prinzip von Treu und Glauben und das Missbrauchsverbot voneinander getrennt. Auch im deutschen Recht ist das Verhältnis von Rechtsmissbrauch und § 242 BGB nicht unumstritten. Teilweise wird das Missbrauchsverbot als ein eigenständiges Rechtsinstitut angesehen (so Teichmann, in: Soergel (1990), § 242 BGB, Rdnr. 12). 11  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, S. 106 ff. 7  Mader,



B. Zivilrecht 39

gemeiner dauernder Transformator von richtigem Recht als Idee in richtiges Recht als positives Recht“.12 II. Subjektive Rechte und ihre Beschränkung im Zivilrecht Ausgangspunkt der Diskussion über die Figur des Rechtsmissbrauchs ist das Verhältnis von subjektivem Recht – „der zentrale Begriff des Privatrechts“13 – und seinen Schranken. Inwieweit subjektive Rechte durch die Figur des Rechtsmissbrauchs „korrigiert“14 werden können, hängt von ihrer Konstruktion und dem Stellenwert ab, welcher ihnen beigemessen wird. Während das objektive Recht alle Rechtsnormen umfasst, bezeichnet das subjektive Recht die Berechtigung des Einzelnen.15 Das subjektive Recht in seiner heutigen Fassung geht maßgeblich auf die Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zurück,16 nämlich auf die Kontroverse zwischen Savigny, Puchta und Windscheid, den Vertretern der so genannten Willenstheorie einerseits und der so genannten Interessentheorie Jherings andererseits. Die Vertreter der so genannten Willenstheorie sahen im subjektiven Recht die rechtliche Garantie der Willensmacht des Individuums als Willenssubjekt.17 Windscheid konkretisierte das subjektive Recht dahingehend, dass es sich nicht um ein überpositives, sondern um ein von der Rechtsordnung verliehenes Recht handeln müsse.18 Danach ist das subjektive Recht „eine von der Rechtsordnung […] verliehene Willensmacht oder Willensvorschrift“.19 Beschränkungen müssten demnach von außen erfolgen. Der Willenstheorie wurde von Jhering die Interessentheorie entgegengesetzt, die sich gegen den 12  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, S. 58, wobei sich Siebert sowohl an der französischen Lehre als auch an der deutsch-rechtlichen Immanenzschrankenlehre Otto von Gierkes anlehnt. Siehe hierzu Fleischer, JZ 2003, S. 865 (866 f.) sowie Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis national­ sozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 183 ff. 13  Medicus, Allgemeiner Teil  des BGB, 10. Aufl. (2010), § 10, Rdnr. 70; zum Verhältnis des subjektiven Rechts und des Rechtsverhältnisses siehe Habersack, Die Mitgliedschaft – subjektives und „sonstiges“ Recht, 1996, S. 66 ff. 14  In diesem Sinne Gächter, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S. 37. 15  Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (2007) S. 146 ff. 16  Siehe ausführlich Raiser, JZ 1961, S. 465 (465 ff.). 17  Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840, §§ 4, 52, 53; Puchta, Cursus der Institutionen, Bd. I, 5. Aufl., 1856, §§ 6, 23, 29 f.; Windscheid, Pandektenrecht, 4. Aufl., 1875, § 37. 18  Gächter, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S. 40. 19  Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 4. Aufl. (1875), 37, S. 91, hierzu Auer, AcP, 208. Bd. (2008), S. 584 (594 ff.).

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1. Teil 1. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Zivil- und Steuerrecht

Formalismus des Willens richtete. Rechte sind danach „rechtlich geschützte Interessen“.20 Der Zweck eines jeden Rechts bestehe darin, Interessen zu schützen, wobei der Zweck objektiv nach den Maßstäben Nutzen, Gut, Wert, Genuss und Interesse zu bestimmen sei.21 Nach der Interessentheorie ist die Ausübung eines Rechts somit nicht vom subjektiven Recht erfasst, wenn mit ihr objektiv kein schützenswertes Interesse verfolgt wird. Das subjektive Recht ist demnach unabhängig von weiteren äußeren gesetzlichen Einschränkungen durch eine Bewertung der verfolgten Interessen begrenzt.22 Die beiden Positionen wurden dann, mit unterschiedlichen Nuancen, zu einer Formel, der so genannten Kombinationstheorie, vereinigt. Nach der Definition von Regelsberger liegt ein „subjektives Recht nur dann vor, wenn die Rechtsordnung die Verwirklichung des anerkannten Zwecks dem Beteiligten überläßt und ihm zu diesem Behuf eine rechtliche Macht zuerkennt“.23 Ähnliche Definitionen des subjektiven Rechts sind bis heute im Zivilrecht gebräuchlich.24 Nach der Kombinationstheorie liegt bereits dann keine Ausübung eines subjektiven Rechts vor, wenn sie interessenlos erfolgt oder keinem anerkannten Zweck dient. Dieser Ansatzpunkt ist ein Grundmodell für die Figur des Rechtsmissbrauchs. Die Zwecklosigkeit oder auch die Zweckwidrigkeit wird mit der Missbräuchlichkeit gleichgesetzt. Auf diese Weise können Rechtsausübungen, obgleich sie formell verbürgt sind, je nach der Definition der Zwecklosigkeit oder der Zweckwidrigkeit beschränkt werden. Das bedeutet, dass die Figur des Rechtsmissbrauchs gleichsam „sekundär über der Einräumung subjektiver Rechte“25 operiert, indem missbilligte Zwecke ausgeschieden werden. Nach der Willenstheorie bedarf es hingegen grundsätzlich einer Beschränkung durch eine gesetzliche Regelung. Weitere 20  Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 1865, S. 327. 21  Der Streit um die die Definition des subjektiven Rechts hat vor allem Auswirkungen auf den Umgang mit der Rechtsmissbrauchsproblematik; siehe hierzu auch Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 10. Aufl. (2010), § 10, Rdnr. 70, 129 ff. 22  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 67. 23  Regelsberger, Pandekten, Bd. I, 1893, § 14, S. 76. 24  Schilcher, Starke und schwache Rechte. Überlegungen zu einer Theorie der subjektiven Rechte, in: Koziol/Bydlinski/Rummel (Hrsg.), 2002, S. 353 (353 ff.). Georg Jellinek definierte das subjektive Recht im öfffentlichen Recht als die „von der Rechtsordnung anerkannte und geschützte auf ein Gut oder Interesse gerichtete menschliche Willensmacht“. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., 1964 [Neudruck der 2. Aufl. von 1919], S. 44. 25  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (200); ähnlich Hassemer, Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007, S. 183 f.



B. Zivilrecht 41

Rechtsausübungsbeschränkungen hängen davon ab, inwieweit Richtern im konkreten Fall zugestanden wird, den Einzelfall nach Billigkeit zu entscheiden.26 III. Innen- versus Außentheorie Die bereits im 19. Jahrhundert in der Diskussion um das subjektive Recht problematisierte Frage der Beschränkung von Rechten findet sich noch heute unter dem Stichwort der Innen- und Außentheorie.27 Mit diesen so genannten Theorien soll ein rechtstheoretisches Modell für das Verhältnis zwischen subjektivem Recht und seinen Schranken angeboten werden. Zugleich soll dieses Modell auch die Missbrauchsproblematik erklären, indem die Paradoxie, dass ein Recht zugleich besteht und wegen Missbrauchserwägungen doch nicht besteht, theoretisch aufgelöst wird. Bei der Innentheorie steht die Rechtsschöpfung, bei der Außentheorie die Gesetzesbindung des Richters im Vordergrund. 1. Innentheorie Nach der im Ursprung auf von Gierke28 und die Lehre des abus de droit des französischen Rechts zurückgehenden29 und von Siebert in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts ausformulierten so genannten Innentheorie bilden Treu und Glauben eine allen Rechten immanente Inhaltsschranke.30 Der Inhalt eines Rechts ist von vornherein wegen einer prinzipiellen Gemeinwohlbindung und der Gesamtordnung nur relativ, so dass es keiner Schranken von außen bedarf.31 Rechtsinhalte unterliegen einer „funktionellen Elastizität“.32 Es besteht danach ein Unterschied zwischen nur „scheinbarer“ und der „tatsächlichen“ Rechtausübung, was jeweils im Einzelfall festzule26  Dieses war freilich bereits im 19. Jahrhundert völlig umstritten. Siehe hierzu Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 52 ff. 27  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 41 ff. 28  Gierke, Deutsches Privatrecht, 1895. 29  Hierzu Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 78 f.; Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 152 ff. 30  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 149 ff. 31  Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 74; Eisfeld, Die Scheinehe in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, 2005, S. 193. 32  Siebert, in: Soergel/Siebert (1959), § 226 BGB, Anm. 14 vor § 226.

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1. Teil 1. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Zivil- und Steuerrecht

gen ist. Jemand, der missbräuchlich ein Recht in Anspruch nimmt, handelt ohne rechtliche Deckung.33 Die Prüfung erfolgt nach der Innentheorie in einem Schritt.34 Entscheidend für eine Rechtsausübung sollte nach Siebert sein, ob sie dem „Anspruch der Volksgemeinschaft“ entspreche.35 Siebert bezeichnet den Rechtsmissbrauch als eine „schwächere Rechtswidrigkeit“, obgleich letztlich bei der Innentheorie nicht zwischen Rechtsmissbrauch und Rechtswidrigkeit unterschieden werden kann, da bei beidem nur eine „scheinbare“ Rechtsausübung erfolgt.36 Als Einwendung lässt die Innentheorie ein bestehendes Recht entfallen. Die Beweislast für das Nichtvorliegen eines Missbrauchs trägt der Inhaber des Rechts.37 Die so genannte Siebertsche Innenthorie fand Anerkennung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts.38 Die Konzeption des Rechtsmissbrauchs in der Siebertschen Fassung war ein bedeutsames Mittel im Prozess zur so genannten Rechtserneuerung. Haferkamp hat in seiner grundlegenden Untersuchung nachgewiesen, dass die Siebertsche Lehre als ein „Angriff auf das Privatrecht“39 konzipiert war, da sie darauf abzielte, das Privatrecht im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie umzudeuten. Die verbliebene, freilich entnazifizierte „Rumpflehre“40 Sieberts ist heute im Zivilrecht überwiegend anerkannt.41 Der BGH führte in den fünfziger Jahren die Rechtsprechung des Reichsgerichtes zur so genannten Innentheorie fort.42 Den Verbleib der Siebertschen Innentheorie als „Rumpflehre“ erklärt Haferkamp damit, dass sie aufgrund der an sie gebundenen Wertungsbegriffe wie Treu und Glauben und die guten Sitten „niemals per se wertet, sondern nur Umsetzungsorgan der Vorstellung des Anwenders sein kann“.43 Der Erfolg der Siebertschen Innentheorie resultiere daher, dass sie für die Rechtsanwendung ein gewisses Maß an Flexibilität bietet und richterlicher Rechtsgestaltung

33  Mader,

Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 150. die Grundrechtsdogmatik Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 230. 35  Siehe Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. (2005), S. 346 ff. 36  Siebert, Verwirkung und unzulässige Rechtsausübung, 1934, S. 100. 37  Mansel, in: Jauernig, BGB (2014), § 242 BGB, Rdnr. 36. 38  RG, Urteil vom 22.01.1935 – II 198/34 –. 39  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 200 ff. 40  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 318 ff. 41  Mansel, in: Jauernig, BGB (2014), § 242 BGB, Rdnr. 33. 42  BGH, Urteil vom 12.07.1951 – III ZR 168/50 –, Rdnr. 21. 43  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 342. 34  Für



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Raum lässt;44 denn nach einem innentheoretischen Verständnis kommt dem Gesetzgeber kein grundsätzlicher Vorrang zu, sondern „gesetzliche Rechtszuweisung und richterliches ‚Rechtsempfinden‘ sind gleich ‚stark‘ “.45 Die Innentheorie ist somit eine theoretische Grundlage für die Anerkennung von Richterrecht. 2. Außentheorie Nach der Außentheorie besteht das Recht „an sich“. Beschränkungen sind nicht Bestandteil des Rechts selbst, sondern werden von außen an das Recht herangetragen; erst danach steht der finale Inhalt eines Rechts fest. Bei einem außentheoretischen Verständnis erfolgt die Prüfung also in zwei Schritten.46 Zunächst wird festgestellt, ob das Recht an sich besteht und dann ob es auf missbräuchliche Weise ausgeübt wird. Rechtstheoretisch bedarf es bei der Außentheorie der „Vorstellung einer zweiten, korrektiven Rechtsord­ nung“.47 Diese „überlegale“ Rechtsordnung wird dann wiederum mittels der Generalklauseln in das Recht integriert.48 Dies erfolgt durch die Berufung auf überpositivrechtliche Wertungen und rechtsethische Prinzipien, auf Grund derer eine Beschränkung im Einzelfall notwendig sein soll, gegebenenfalls über die Konstruktion so genannter Lücken im Normtext. Auf diese Weise wird einer Differenz zwischen einer zwar der Form des Gesetzes genügenden, gleichwohl aber mit einem darüber hinausgehenden Recht nicht zu vereinbarenden Rechtsausübung begegnet. Die Figur des Rechtsmissbrauchs dient dann dazu, im Einzelfall zu einer gerechten Entscheidung zu gelangen. Bei einem Rechtsmissbrauch bleibt nach einem außentheoretischen Verständnis der Bestand des Rechts unangetastet, nur die Ausübung des Rechts wird mit Hilfe der Figur des Rechtsmissbrauchs beschränkt. Bei einer außentheoretischen Betrachtung kann zwischen Rechtsmissbrauch und Rechtswid44  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 343 f. 45  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 344. In diesem Sinne Mansel (in: Jauernig, BGB (2014), § 242 BGB, Rdnr. 33), wonach die Innentheorie den Richter von den Fesseln des Gesetzes befreie und ihm die Rechtsfortbildung eröffne, ohne dass er methodenehrlich seinen rechtsfortbildenden Eingriff in das Gesetzesrecht offenlegt; insoweit erweitere die Innentheorie die richterlichen Gestaltungsmöglichkeiten. 46  Für die Grundrechtsdogmatik Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 229. 47  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 353. 48  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 353.

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1. Teil 1. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Zivil- und Steuerrecht

rigkeit unterschieden werden. Außentheoretisch stellt die Figur des Rechtsmissbrauchs eine Einrede dar. Im Gegensatz zur Innentheorie müssen die Beschränkungen bei der Außentheorie offen benannt werden; das Verhältnis von „Grund und Gegengrund“ muss offengelegt werden.49 Ein außentheoretisches Verständnis tendiert zu einer stärkeren Gesetzesbindung des Rechtsanwenders, denn dieser ist aufgefordert, etwaige Missbrauchserwägungen zu explizieren. 3. Innen- und Außentheorie als Metaphern Sowohl bei der Innen- als auch bei der Außentheorie handelt es sich, bezogen auf die Figur des Rechtsmissbrauchs, um eine bildhafte Darstellung desselben Problems,50 nämlich wie ein Recht beschränkt werden kann, wenn keine gesetzliche Grundlage hierfür vorhanden ist. Es handelt sich zwar um plastische Modelle, ihr Erkenntniswert ist gleichwohl begrenzt. Bei der Innentheorie wird das Problem der Beschränkung des Rechts auf die Tatbestands­ ebene der Norm projiziert. Wenn die Figur des Rechtsmissbrauchs als primäre Begründung für eine Rechtsbeschränkung genannt wird, droht die innentheoretische „Relativität des Rechtsinhalts“ als „Tarnchiffre“51 oder ­ „Alibi“52 zu fungieren, um zu einer als richtig angesehen oder als gerecht empfundenen Entscheidung zu gelangen, die methodisch mit dem Normtext nicht ohne weiteres begründbar wäre. Bei der Außentheorie wird das Problem hingegen auf eine Metaebene verschoben. Mit Erwägungen zur Einzelfallgerechtigkeit und der Heranziehung von rechtsethischen Prinzipien, soll ein Abweichen vom Normtext gerechtfertigt und eine als missbräuchlich angesehene Rechtsausübung verhindert werden.53 Christensen / Kudlich bezeichnen dies als „dezisionistische Anwandlungen“,54 die durch den Mantel der Außentheorie verdeckt werden sollen. Eine Begründungsleistung aus sich heraus dafür, dass von der „eigentlichen“ Rechtslage abgewichen wird, kann weder die Innen- noch die Außentheorie erbringen. Durch die Dichotomie der Metapher Innen- und Außentheorie wird zudem eine Schärfe der Unterscheidung konstruiert, die dann wiederum bei den sich wenig unterscheiden49  Huster, 50  In

Rechte und Ziele, 1993, S. 88 f. diesem Sinne auch Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983,

S. 97. 51  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 352. 52  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (200). 53  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (200 f.). 54  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (201).



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den Ergebnissen eingeebnet wird.55 Die Unterscheidung zwischen Innenund Außentheorie ist daher nicht geeignet, die Abweichung vom Normtext durch die Figur des Rechtsmissbrauchs theoretisch plausibel zu begründen. IV. Fallgruppen Ausgehend von einem innentheoretischen Verständnis und angesiedelt bei § 242 BGB56 wurden im Zivilrecht aus einer umfangreichen Kasuistik verschiedene – nicht abschließende – Fallgruppen des Rechtsmissbrauchs entwickelt, ohne dass sich eine einheitliche Terminologie herausgebildet hätte. Die Fallgruppenbildung dient neben einer Systematisierung auch dazu, die mit § 242 BGB verbundene Rechtsunsicherheit zu verringern,57 denn unter der „Flagge“ des Rechtsmissbrauchs segelt „manch heterogene Erscheinung“.58 Die Fallgruppen dienen als Ersatztatbestände für die nicht subsumierbare Generalklausel des § 242 BGB.59 Als Oberbegriff fungiert die unzulässige Rechtsausübung, als deren Kernbereich der Rechtsmissbrauch angesehen wird.60 Die Figur des Rechtsmissbrauchs wird verwendet, um im Einzelfall von der gesetzlichen Rechtslage abweichen zu können, wenn dies geboten erscheint, und um zu Rechtsfolgen zu gelangen, die als angemessen angesehen werden.61 Dies kann zur Folge 55  Hey,

BB 2009, S. 1044 (1044) zu § 42 AO. wie bei der Figur des Rechtsmissbrauchs sind die Zuschreibungen, die § 242 BGB erhält, höchst ambivalent. Sie reichen von „königlicher Paragraph“ (so Weber, JuS 1992, S. 631 [631 ff.]) bis hin zu „Notventil“ (so Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 2 [2012], § 242 BGB, Rdnr. 2) und „Leerformel“ (so Teubner, Standards und Direktiven, in: Generalklauseln: Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Sozialforschung bei der Präzisierung der Gute-Sitten-Klauseln im Privatrecht, 1971, S. 18 ff.), „die nicht geeignet sei, das ‚Leid der Welt‘ zu beseitigen“ (Lehmann, JZ 1952, S. 10 [11]). 57  Westermann/Bydlinski/Weber, BGB-Schuldrecht, 8. Aufl. (2013), § 4, Rdnr. 4/5 ff. 58  Pestalozza, „Formenmißbrauch“ des Staates, 1973, S. 79. 59  Kritisch hierzu Westermann/Bydlinski/Weber, BGB-Schuldrecht, 8.  Aufl. (2013), § 4, Rdnr. 4/23, die hierin ein Aushöhlen der Generalklausel zulasten der Einzelfallgerechtigkeit sehen. 60  Grüneberg, in: Palandt, § 242, Rdnr. 38; Mansel, in: Jauernig, BGB (2014), § 242 BGB, Rdnr. 34. Teilweise werden die Begriffe jedoch auch alternativ verwandt oder aber der Rechtsmissbrauch als Tatbestand und die Unzulässigkeit der Rechtsausübung als Rechtsfolge angesehen, so Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 2 (2012), § 242 BGB, Rdnr. 197 ff.; siehe hierzu: Amberger, Die Missbrauchskontrolle im Rahmen des aktienrechtlichen Squeeze-out, 2007, S. 49. 61  Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 2 (2012), § 242 BGB, Rdnr. 198; Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rdnr. 225; Mansel, in: Jauernig, BGB (2014), § 242 BGB, Rdnr. 33. 56  Ebenso

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haben, dass die Ausübung oder Durchsetzung eines Rechts dauerhaft verwehrt wird.62 Zumeist werden zwei Kategorien des Rechtsmissbrauchs unterschieden:63 Zum einen der individuelle Rechtsmissbrauch, bei dem das Verhalten einer Partei in einer konkreten Situation missbilligt wird, zum anderen der institutionelle Rechtsmissbrauch, bei dem ein Fehlgebrauch von Normen oder Rechtsinstituten erfolgt.64 1. Individueller Rechtsmissbrauch Individueller Rechtsmissbrauch oder Rechtsmissbrauch im engeren Sinne bezeichnet die Ausübung eines Rechts, die im Einzelfall gegen Treu und Glauben verstößt.65 Als Folge des Rechtsmissbrauchs wird das „strenge Recht von Billigkeitsrecht durchbrochen“.66 Individueller Rechtsmissbrauch wird dann angenommen, wenn die Rechtsausübung sich zwar innerhalb der Norm bewegt, der Berechtigte aber durch sein individuelles Verhalten treuewidrig gegen die Interessen anderer verstößt,67 weil er zum Beispiel schikanös oder widersprüchlich handelt. Die Anwendung der Rechtsfigur des Rechtsmissbrauchs ist nicht auf Schuldverhältnisse beschränkt, sondern setzt lediglich das Bestehen einer Sonderverbindung voraus.68 Teubner beschreibt den dem individuellen Rechtsmissbrauch zu Grunde liegenden Konflikt damit, dass die Rechtspositionen zwar zwischen den Parteien „formal“ zutreffend begründet wurden, jedoch den „materiellen“ Anforderungen der zwischen den Parteien herrschenden, auf sozialen Normen be62  Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 2 (2012), § 242 BGB, Rdnr. 198; Sutschet, in: Bamberger/Roth Kommentar, Bd. 1 (2012), § 242 BGB, Rdnr. 52. 63  Bei der Zuordnung spielen häufig sowohl individuelle als auch institutionelle Aspekte des Rechtsmissbrauchs eine Rolle. Je nach Gewichtung dieser fällt die Zuordnung unterschiedlich aus. Teubner (in: AK-BGB [1980], § 242 BGB, Rdnr. 105) trifft zudem eine dritte Unterscheidung, nämlich die des „gesellschaftlichen Rechtsmissbrauchs“. Hierunter versteht er die zwar institutionsmäßige Ausübung eines subjektiven Rechts, die jedoch mit fundamentalen Rechtsprinzipien eines anderen gesellschaftlichen Teilsystems in Konflikt gerät. 64  Grundlegend Raiser, Summum ius, summa iniuria, in: Summum ius, summa iniuria, 1963, S. 145 (151 f.); Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (2012), Bd. 2, § 242 BGB, Rdnr. 205. 65  Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rdnr. 217. 66  Raiser, Summum ius, summa iniuria, in: Summum ius, summa iniuria, 1963, S. 145 (150). 67  Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. (2004), § 16 Rdnr. 16. 68  Mansel, in: Jauernig, BGB (2014), § 242 BGB, Rdnr. 35.



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ruhenden Interaktionsmoral widersprächen.69 Es handelt sich also um einen Konflikt, der aus dem wechselseitigen Aufeinandereinwirken der Parteien resultiert. Um diesen aufzulösen und von der formal bestehenden Rechtsposition zu Lasten eines Beteiligten abzurücken, bedarf es grundsätzlich eines subjektiven Elements, zumindest muss eine Zurechnung des als missbräuchlich beurteilten Verhaltens möglich sein.70 Zumeist wird eine fünfteilige Einteilung der Fallgruppen des individuellen Rechtsmissbrauchs vorgenommen. Erstens geht es um den unredlichen Erwerb der eigenen Rechtstellung, der auf die exceptio doli specialis zurückgeht. Danach wird ein Rechtsmissbrauch angenommen, wenn die Rechtsposition durch ein gesetzeswidriges, sittenwidriges oder vertragswidriges Verhalten erworben worden ist, da niemand aus seinem eigenen unredlichen Verhalten rechtliche Vorteile ziehen soll.71 Die Parteien bleiben in dieser Konstellation hinter den von ihnen auch selbst gesetzten Standards der Rechtsgemeinschaft zurück.72 Zweitens geht es um die Verletzung erheblicher eigener Pflichten, die eine Rechtsausübung als missbräuchlich erscheinen lässt. Allerdings führt nicht jede Pflichtverletzung zu einer Rechtsversagung, da es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz gibt, dass nur derjenige Rechte geltend machen kann, der sich selbst rechtskonform verhält.73 Drittens geht es um das Fehlen eines schutzwürdigen Eigeninteresses. Hierunter fällt die Rechtsausübung, die als Vorwand zur Erreichung vertragsfremder Zwecke dient, ebenso wie das Fordern einer Leistung, die alsbald zurückzugewähren wäre, also Fälle des Dolo agit qui petit quod statim redditurus estEinwands.74 Viertens geht es um den Rechtsmissbrauch wegen Unverhältnismäßigkeit, der angenommen wird, wenn an einen geringfügigen Verstoß weitreichende unangemessene Folgen geknüpft werden,75 denn in diesen Fällen erfordert es die gegenseitige Rücksichtnahme der Parteien, von einer 69  Teubner,

in: AK-BGB (1980), § 242 BGB, Rdnr. 38. Roth/Schubert (in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (2012), Bd. 2, § 242 BGB, Rdnr. 207) grundsätzlich zumindest eine Zurechenbarkeit des Verhaltens einer Partei fordern, sehen Looschelders/Olzen (in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rdnr. 219) die Beurteilung des Rechtsmissbrauchs als ein bewegliches System an, welches letztlich eine Interessenabwägung erfordert. 71  Sutschet, in: Bamberger/Roth, BGB (2012), Bd. 1, § 242 BGB, Rdnr. 58 f., wobei ein objektiv unredliches Verhalten, beispielsweise der sittenwidrige Erwerb eines Rechts, ausreicht. Arglist oder Verschulden sind nicht erforderlich. 72  Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, S. 32. 73  Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rdnr. 250ff.; Sutschet, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch BGB, § 242 BGB (2012), Rdnr. 71. 74  Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rdnr. 279 ff. 75  Sutschet, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch BGB, § 242 BGB (2012), Rdnr. 97. 70  Während

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Rechtsverfolgung abzusehen. Schließlich fünftens geht es um den Rechtsmissbrauch wegen widersprüchlichen Verhaltens, also der Einwand des venire contra factum proprium. Da die Rechtsordnung grundsätzlich widersprüchliches Verhalten toleriert, muss ein besonderer Vertrauenstatbestand geschaffen worden sein, oder die Rechtsausübung muss wegen anderer Gründe als treuewidrig erscheinen. Ein Verschulden ist nicht erforderlich.76 Es muss also eine grundlegende Kontinuitätserwartung, welche die Beziehung der Beteiligten betrifft, enttäuscht werden, um von der formal bestehenden Rechtsposition abzuweichen.77 2. Institutioneller Rechtsmissbrauch Unter einem institutionellen Rechtsmissbrauch oder Normenmissbrauch wird der zweckwidrige Gebrauch von Rechtsstellungen, Normen oder Rechtsinstituten verstanden.78 Jede Rechtsausübung hat sich innerhalb des Zwecks des Rechtsinstituts zu halten.79 Ein zweckwidriger Gebrauch wird als Missbrauch beurteilt und in der Folge von der Rechtsordnung nicht anerkannt, wenn das Ergebnis vom Rechtsanwender als nicht hinnehmbar angesehen wird.80 Zwar bewegt sich das Verhalten dem äußeren Anschein nach im Rahmen des Normtextes, dennoch kann die Ausübung der Rechtsposition nicht auf die entsprechende Regelung gestützt werden.81 Durch Auslegung soll jeweils zu ermitteln sein, welche durchschnittlichen Anforderungen an die Ausübung des Rechtsinstituts zu stellen sind.82 Bei einer Abweichung von der gesetzlichen Regelung erfolgt aus materiellen Erwägungen eine Korrektur, wenn der Rechtsgebrauch sich in seiner Weise als „generell inkongruent und damit nicht schutzwürdig“ erweist.83 Im Falle des institutionellen Rechtsmissbrauchs lautet das Urteil: Jedes derartige Verhalten wäre in einer vergleichba76  Grüneberg, in: Palandt, § 242, Rdnr. 55; Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 2 (2012), § 242 BGB, Rdnr. 288. 77  Teubner, in: AK-BGB (1980), § 242 BGB, Rdnr. 31. 78  Raiser, Summum ius, summa iniuria, in: Summum ius, summa iniuria, 1963, S. 145 (151). 79  Esser/Schmidt, Schuldrecht, 8. Aufl. (1995), § 10  III, S. 171; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2000, S. 400. 80  Raiser, Summum ius, summa iniuria, in: Summum ius, summa iniuria, 1963, S. 145 (152); Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rdnr. 219. 81  Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2000, S. 400. 82  Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2000, S. 400; Teichmann (Die Gesetzesumgehung, 1962, S. 77) schlägt vor, da es sich beim institutionellen Rechtsmissbrauch um ein Auslegungsproblem ohne weiter Besonderheiten handele, auf den Begriff zu verzichten. 83  Esser/Schmidt, Schuldrecht, 8. Aufl. (1995), § 10 III, S. 172.



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ren Situation zu beanstanden.84 Beim institutionellen Rechtsmissbrauch bedarf es weder eines individuellen Vorwurfs, dass das Verhalten missbräuchlich sei, noch ist eine Sonderverbindung erforderlich.85 Der institutionelle Missbrauch überschneidet sich methodisch mit der teleologischen Reduktion, da bei beiden eine Normzweckbetrachtung erfolgt. Wenn § 242 BGB herangezogen wird, erfolgt dies eher einzellfallbezogen, während bei einer teleologischen Reduktion der Normzweck in den Vordergrund gerückt wird.86 3. Verwirkung Auch das Rechtsinstitut der Verwirkung wurde ursprünglich im Zivilrecht auf der Grundlage von § 242 BGB entwickelt.87 Die Verwirkung gilt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens. Es handelt sich somit um eine Variante der Figur des Rechtsmissbrauchs.88 Zweck der Verwirkung ist es, als flexible Rechtsausübungsschranke eine illoyale verspätete Rechtsausübung auszuschließen.89 Das Rechtsinstitut der Verwirkung wird durch drei Elemente charakterisiert: erstens ist es gekennzeichnet durch ein Zeitmoment. Das Recht ist über eine längere Zeit nicht verwirklicht worden, wobei sich die Zeitspanne nach dem Einzelfall richtet. Zweites Charakteristikum der Verwirkung ist ein Vertrauenselement. Bei der verpflichteten Partei ist das Vertrauen entstanden, dass das Recht auch in Zukunft nicht geltend gemacht wird. Drittens ist die Verwirkung durch ein Umstandsmoment gekennzeichnet. Nach der Gesamtbetrachtung der Interessenlage muss die Verwirkung geboten sein.90 Durch die Rechtsfigur der Verwirkung kann die Ausübung eines subjektiven Rechts flexibel zeitlich begrenzt werden.91 Der Richter hat bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Verwirkung vorliegen, einen entsprechend großen 84  Teubner,

in: AK-BGB (1980), § 242 BGB, Rdnr. 39. Schuldrecht, 8. Aufl. (1995), § 10 III, S. 172. 86  Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rdnr. 345; siehe auch Raiser, Summum ius, summa iniuria, in: Summum ius, summa iniuria, 1963, S. 145 (152), der die Berufung auf § 242 BGB als den „bequemsten Ausweg“ bezeichnet. 87  Ausführlich hierzu Bommel, Die Entstehung der Verwirkungslehre in der Krise des Positivismus, 1992, S. 26 ff., 67 ff. 88  Mansel, in: Jauernig, BGB (2014), § 242 BGB, Rdnr. 55; auch das Rechtsinstitut der Verwirkung ist maßgeblich in der Zeit des Nationalsozialismus entwickelt worden, siehe hierzu Piekenbrock, Befristung, Verjährung, Verschweigung und Verwirkung: Eine rechtsvergleichende Grundlagenstudie zu Rechtsänderungen durch Zeitablauf, 2006, S. 195 ff. 89  Mansel, in: Jauernig, BGB (2014), § 242 BGB, Rdnr. 53. 90  Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 2 (2012), § 242 BGB, Rdnr. 336. 91  Mansel, in: Jauernig, BGB (2014), § 242 BGB, Rdnr. 53. 85  Esser/Schmidt,

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Spielraum.92 Das Rechtsinstitut der Verwirkung kann ausnahmsweise auch als ein Instrument zur Verkürzung der Verjährungsfrist eingesetzt werden, wenn die Rechtsausübung auf Grund des langen Zuwartens der Gegenpartei als missbräuchlich beurteilt wird.93 4. Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch Im Gegengensatz zum Steuerrecht wird im Zivilrecht die Figur des Rechtsmissbrauchs dogmatisch zumeist nicht mit der Gesetzesumgehung oder der „Gesetzesergehung“94 in Zusammenhang gebracht.95 Der Begriff der Gesetzesumgehung beschreibt eine rechtliche Gestaltung, die darauf abzielt, den Tatbestand einer belastenden Norm zu vermeiden, indem die rechtsbegründenden Tatsachen absichtlich nicht erfüllt werden.96 Eine „Gesetzesergehung, die alternativ auch als Norm- oder Gesetzeserschleichung“97 bezeichnet wird, beschreibt das gleiche Problem in entgegengesetzter Richtung, nämlich das absichtliche Schaffen der Tatbestandsvoraussetzungen eines begünstigenden Gesetzes.98 Die Gestaltungen passen jeweils nur „äußerlich“ unter den Wortlaut bzw. unter den Sinn und Zweck der Regelung.99 Die „Gesetzesergehung“ ist vom Scheingeschäft (§ 117 BGB) zu unterscheiden. Während bei der Gesetzesumgehung gerade die Wirksamkeit der Gestaltung ernsthaft beabsichtigt wird, soll das Scheingeschäft ein wirksames Geschäft nur vortäuschen. Zwar gibt es im Zivilrecht eine Reihe spezialgesetzlicher Regelungen, die das Problem der Gesetzesumgehung aufgreifen,100 die Normierung eines 92  Birr, Verjährung und Verwirkung, 2003, S. 242. Aus diesem Grund ist der Ausgang von Rechtsstreitigkeiten, bei denen die Verwirkung relevant ist, stets wenig vorhersehbar. 93  Looschelders, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rdnr. 301. Nach Teubner (in: AK-BGB [1980], § 242 BGB, Rdnr. 34) liegt in dieser Konstellation jedoch gerade kein Fall eines treuewidrigen Verhaltens, sondern eine teleologische Reduktion der Verjährungsfristen vor. 94  Bei der „Gesetzesergehung“ will der Handelnde in den Tatbestand eines begünstigenden Gesetzes hineingelangen (Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S.  34 f.). 95  Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 43 ff. 96  Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 34. 97  Siehe Westerhoff, Gesetzesumgehung und Gesetzeserschleichung, 1966, S.  86 ff., 182 ff. 98  Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 34 f. Die Terminologie ist uneinheitlich. Teichmann spricht irritierender Weise von der „Umgehung begünstigender Normen“ (Die Gesetzesumgehung, 1962, S. 48, 64). 99  Siehr, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Bd. I, 2009, S. 741 (742). 100  Z. B. § 475 Abs. 1 BGB oder § 511 BGB; derartige spezialgesetzliche Regelungen, die eine Gesetzesumgehung verhindern sollen, werden sogar als überflüssig an-



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allgemeinen Umgehungsverbots findet sich jedoch im BGB nicht. Mit der überwiegenden Auffassung im Zivilrecht bedarf es einer solchen Regelung auch nicht, da es sich bei der Gesetzesumgehung nicht um ein selbständiges Rechtsinstitut, sondern um ein methodisches Problem handelt.101 Diesem soll durch eine teleologische Auslegung der betreffenden Norm oder einen Analogieschluss zu begegnen sein.102 Hierbei ist zu beachten, dass zivilrechtliche Gesetze nach ihrem Sinn sehr weit ausgelegt werden103 und auch die Rechtsfortbildung im Zivilrecht keinen engen Grenzen unterliegt.104 Wird ein Umgehungssachverhalt angenommen ist – je nach methodischer Verortung – die belastende Norm auszulegen oder entsprechend anzuwenden; ihr sind die Rechtsfolgen zu entnehmen. Bei einer begünstigenden Norm treten im Falle der „Gesetzesergehung“ die Rechtsfolgen nicht ein.105 Hält man die Gesetzesumgehung für ein Problem der Auslegung oder Analogie, ist eine Umgehungsabsicht nicht erforderlich, da dann keine zusätzlichen Kriterien wie ein subjektives Element nötig sind.106 Überwiegend wird ein dogmatischer Zusammenhang zwischen Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch im Zivilrecht abgelehnt107 und höchstens ein „Verwandtschaftsverhältnis“ zwischen dem Institutsmissbrauch und der Gesetzesumgehung angenommen.108 Vom Rechtsmissbrauch unterscheidet sich die Gesetzesumgehung theoretisch dadurch, dass beim Rechtsmissgesehen. So heißt es beispielweise zu § 306a BGB, die Regelung sei „einer etwas übertriebenen Ängstlichkeit entsprungen“ und „diese bringe die Gefahr methodischer Nachlässigkeit bei Gesetzesauslegung und analoger Anwendung gesetzlicher Vorschriften mit sich“ (Schlosser, in: Staudinger, 13. Aufl. [1998], § 7 AGBG, Rdnr. 1) oder Spezialgesetzen zur Verhinderung von Gesetzesumgehungen komme lediglich eine Appell- und Warnfunktion zu; so Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 39. 101  Siehe Teichmann, Die Gesetzesumgehung, 1962, S. 48 ff.; Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 8 ff.; kritisch Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 3. 102  Grundlegend Teichmann, Die Gesetzesumgehung, 1962; Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 210 ff. 103  Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 10. Aufl. (2010), § 44, Rdnr. 660. 104  Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 10. Aufl. (2010), § 44, Rdnr. 660. 105  Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 11, wonach der Qualifizierung eines Sachverhalts eine rein deskriptive Funktion zukommt. 106  Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 22, 26. 107  Teichmann, Die Gesetzesumgehung, 1962, S. 78; Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 47 sowie Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 17, die darauf hinweist, dass eine Klassifizierung einer Gestaltung als rechtsmissbräuchlich oder als Umgehung nicht die regelrechte Normanwendung und insbesondere nicht deren Begründung ersetzt. 108  Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 48, wonach man, wollte man die Gesetzesumgehung im Institutsmissbrauch aufgehen lassen, ein ungeklärtes Institut durch ein anderes ersetzen würde.

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brauch die Grenzen eines an sich bestehenden Rechts zweckwidrig überschritten werden, wohingegen bei der Gesetzesumgehung die Voraussetzungen für das Entstehen bzw. Entfallen der Rechtsfolge durch die Gestaltung erst künstlich geschaffen werden.109 Beiden ist jedoch gemeinsam, dass das erstrebte Ziel letztlich auf Grund einer Wertung versagt wird. Mangels klarer Abgrenzungskriterien zwischen den beiden Rechtsinstituten kommt es praktisch zu Überschneidungen, bei denen statt einer Umgehung auf Grund der Wertung ein Missbrauch der umgangenen Norm angenommen wird und umgekehrt.110 Abgrenzungsprobleme ergeben sich auch zur Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB. Häufig wird die Gesetzesumgehung praktisch als ein Unterfall der Sittenwidrigkeit eingeordnet.111 § 138 BGB wird dann als „gesinnungsspezifische Schranke“ gegen Umgehungsgeschäfte bezeichnet, mit der „die Toleranzschwelle der Rechtsordnung gegen nicht hinnehmbare Willensbetätigungen“ festgelegt werden kann.112 Dogmatisch gesehen handelt es sich jedoch gleichwohl um unterschiedliche Rechtsinstitute. 5. Die Figur des Rechtsmissbrauchs als Richterrecht Im Zivilrecht kann die Figur des Rechtsmissbrauchs durch die Verknüpfung von § 242 BGB und einem innentheoretischen Verständnis zur richterlichen Rechtsfortbildung aus Billigkeitsgründen verwandt werden. Dem Gesetz kommt nach einem derartigen Methodenverständnis nicht grundsätzlich ein Vorrang zu, sondern der Richter trifft im Einzelfall eine normative Entscheidung.113 Die Figur des Rechtsmissbrauchs kann eingesetzt werden, um im konkreten Fall zu einer aus Sicht des Rechtsanwenders gerechten Entscheidung zu gelangen oder auch um Rechtsnormen aus Wertungsgesichts109  Siehr, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), 2009, Bd. I, S. 741 (743); Basedow, Das Verbot von Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im europäischen Privatrecht, in: Agallopoulou (Hrsg.), 2010, S. 159 (161 f.). 110  Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 45 f. 111  Bereits das Reichsgericht gebrauchte den Terminus „sittenwidriges Umgehungsgeschäft“ zum Beispiel RG, Urteil vom 16.03.1914 – VI 29/14 –; für die Rechtsprechung des BGH siehe beispielhaft das Urteil vom 08.06.1983 – VIII ZR 77/82 –. 112  Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 134 f; dogmatisch gesehen handelt es sich jedoch auch hier um unterschiedliche Rechtsinstitute. Vor allem müssen bei § 138 BGB auch die subjektiven Voraussetzungen vorliegen, um die Rechtsfolge der Gesamtnichtigkeit nach § 138 BGB eintreten zu lassen. Diese entspricht häufig nicht den Interessen der Parteien, weswegen ein Vorrang der Gesetzesumgehung besteht, bei der die Wertungen aus § 138 BGB inkorporiert werden. Schurig, Die Gesetzesumgehung im Privatrecht, in: Heldrich/Sonnenberger/Ansay (Hrsg.), 1988, S. 375 (407). 113  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 343 f.



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punkten zu korrigieren. Es handelt sich insofern um Richterrecht, das mit dem Risiko der Billigkeitsrechtsprechung verbunden ist.114 Die Fallgruppenbildung, durch die die Judikate systematisiert werden, dient dabei als Orientierung, ist aber weder abschließend noch unumstritten. Sie kann dazu dienen, bestimmte Grundaussagen der Rechtsprechung zu kategorisieren, gleichwohl bleibt eine gewisse Unschärfe. Die Figur des Rechtsmissbrauchs wird im Zivilrecht weder als methodisches Problem noch als solches der Gewaltenteilung oder Gesetzesbindung wahrgenommen.115 Die Figur des Rechtsmissbrauchs wird mit ihrem langen Gebrauch sowie einem praktischen Bedürfnis begründet.116

C. Steuerrecht Der Steuerpflichtige hat das Recht, seine Angelegenheiten so einzurichten, dass er möglichst wenig Steuern zu bezahlen hat.117 Zivilrechtliche Gestaltungen mit dem Ziel, die Steuerlast zu minimieren, sind daher legitim. Zugleich ist es Aufgabe des Gesetzgebers, einem möglichen Missbrauch von Gestaltungen entgegenzuwirken, um eine Gleichheit der Besteuerung zu gewährleisten. Auffallend ist, dass die erfolgreiche Gestaltung im Steuerrecht überwiegend eine positive Konnotation erfährt: Wer Gestaltungsmöglichkeiten nicht nutze, müsse eben eine „Dummensteuer“ zahlen.118 Die Steuergestaltung wird als „Erziehungsmaßnahme“ angesehen, die den Gesetzgeber dazu motivieren soll, bessere Gesetze zu entwickeln.119 Diese Aufgabe versucht der Gesetzgeber zu bewältigen. Die Missbrauchsvermeidung ist in den letzten Jahren zu einem der zentralen Themen der Steuergesetzgebung geworden; so wurde nicht nur § 42 AO seit 2001 zweimal reformiert,120 sondern es ist auch eine erhebliche Ausweitung spezialgesetzlicher Regelungen 114  Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 2 (2012), § 242 BGB, Rdnr. 203. 115  Kritisch Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 343 ff. 116  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 318 ff., 343 ff. 117  Grundlegend BVerfG, Beschluss vom 14.04.1959  – 1 BvL 23/57, 1 BvL 34/57 – Rdnr. 46. 118  Rose, Über die Entstehung von „Dummensteuern“ und ihre Vermeidung, in: Lang (Hrsg.), 1995, S. 153 (153 ff.); „Dummensteuern“ seien Teile von Steuerlasten, die nicht entstanden wären, wenn der Steuerpflichtige das gleiche wirtschaftliche Ziel unter klugem Einsatz der vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten anders erreicht hätte. 119  Schneider, DB 1997, S. 485 (487 ff.). 120  Geändert durch das Steueränderungsgesetz 2001 vom 20.12.2007 (BGBl. I, S. 3794) sowie durch das Jahressteuergesetz 2008 vom 20.12.2007, BGBl. I, S. 3150).

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zur Missbrauchsverhinderung erfolgt.121 Ob Missbrauchsverhinderungsvorschriften im Steuerecht überhaupt erforderlich sind, ist jedoch nach wie vor ebenso umstritten wie der Maßstab des Missbrauchs selbst. Im Folgenden werden die Grundprobleme dieser – im Vergleich zum Sozialrecht intensiv geführten – Missbrauchsdebatte skizziert. I. Das Verhältnis von Zivil- und Steuerrecht Nach § 38 AO entsteht der Steueranspruch, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht anknüpft. Steuergesetze knüpfen in ihren Tatbeständen häufig an zivilrechtliche Begriffe an.122 Diese Anknüpfungsnormen sind besonders anfällig für Umgehungen.123 Der Steuerpflichtige kann privatautonom eine Gestaltung wählen, die zwar denselben wirtschaftlichen Effekt wie der im Gesetz genannte Tatbestand erzielt, jedoch nicht mehr von diesem erfasst wird, um auf diese Weise der Besteuerung zu entgehen. Geht man von einem Primat des Zivilrechts aus, ist das Steuerrecht bei seiner Bewertung akzessorisch an die zivilrechtliche Gestaltung gebunden.124 Wenn Steuergesetze also Begriffe des Zivilrechts verwenden, sind die Inhalte der Begriffe identisch, und das Steuerrecht folgt der zivilrechtlichen Bewertung.125 Hiergegen spricht jedoch die unterschiedliche Zielsetzung der Rechtsgebiete. Während im Zivilrecht die privatautonome Gestaltung der Lebensverhältnisse im Vordergrund steht, dient die Besteuerung dazu, den Finanzbedarf des Staates zu decken.126 Grundprinzip und Grenze der (direkten) Besteuerung ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen.127 Die Steuergesetze sollen nach ihrem Zweck die tatsächliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit128 erfassen.129 Eine Gleichheit bei der Besteuerung ist zu gewährleisten.130 121  Nach Hey ist die ausufernde Missbrauchsgesetzgebung die hervorstechendste Eigenheit moderner Steuerpolitik (in: Beihefter zu DStR 3, 2014, S. 8 (8) sowie Hey, StuW 2008, S. 167 (167); siehe auch Schneider/Anzinger, ZIP 2009, S. 1 (2). 122  Dazu Kempny, in: Künnemann/Kronberg (Hrsg.), Eintrag „Typisierung/Pauschalierung“ (Nr. 6/1550), 149. Lfg., 2013, S. 4. 123  Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 59. 124  Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, S. 62 ff., 309 ff. Nur wenn die zivilrechtliche Gestaltung im Einzelfall auf einer Störung der Privatautonomie beruht, soll eine Bindung entfallen. 125  Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, S.  62 ff., 309 ff. 126  Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 112. 127  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 5. Aufl. (2010), Rdnr. 186 ff. 128  Zur gleichwohl unvermeidlichen Abhängigkeit dieses Begriffs von politischen Wertungen Kempny, StuW 2014, S. 185 (198). 129  Beisse, StuW 1981, S. 1 (3). 130  Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 233.



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Um diese Zwecke zu erreichen, erfolgt eine selbständige steuerrechtliche Beurteilung zivilrechtlicher Sachverhalte und Tatbestandsmerkmale.131 Eine Lösung von der zivilrechtlichen Beurteilung erfolgt im Rahmen der Auslegung nach der so genannten wirtschaftlichen Betrachtungsweise, die als Teil der teleologischen Auslegung verstanden wird und sich am wirtschaftlichen Gesetzeszweck orientiert.132 Es gilt eine Vorherigkeit für die Anwendung des Zivilrechts, nicht jedoch ein Vorrang.133 Nach der wirtschaftlichen Betrachtungsweise kommt es somit nicht auf die zivilrechtliche Gestaltung an, sondern maßgeblich für die Besteuerung ist allein das tatsächlich wirtschaftlich Durchgeführte. Mittels der wirtschaftlichen Betrachtungsweise können im Steuerrecht zivilrechtliche Gestaltungen erfasst werden, deren Ziel darin besteht, bei wirtschaftlich gleichem Ergebnis den Tatbestand eines Steuergesetzes zu vermeiden. Auch bei der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist der Wortsinn die Grenze der möglichen Auslegung; jenseits dessen stellt sich die Frage nach den methodischen Voraussetzungen einer Rechtsfortbildung, um eine Lösung von zivilrechtlichen Begriffen zu ermöglichen. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise weist eine gewisse Nähe zum institutionellen Rechtsmissbrauch auf, wenn man annimmt, dass es rechtsmissbräuchlich ist, sich auf eine Gestaltung zu berufen, die nicht den wirklichen wirtschaftlichen Verhältnissen entspricht.134 Auch in den §§ 39–42 AO wird die wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der steuerrechtlichen Beurteilung zu Grunde gelegt. Nach § 39 Abs. 2 AO werden Wirtschaftsgüter demjenigen zugerechnet, der das „wirtschaftliche Eigentum“ hat. Nach § 40 AO ist es für die Besteuerung unerheblich, ob ein Verhalten, welches den Tatbestand eines Steuergesetzes erfüllt, gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten verstößt. Nach § 41 Abs. 1 AO 131  Zu dem Aspekt der Einheit der Rechtsordnung bei einer eigenständigen steuerrechtlichen Auslegung von zivilrechtlichen Tatbestandsmerkmalen siehe Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 112 ff. 132  Zunächst war die wirtschaftliche Betrachtungsweise in § 4 RAO 119, dann in § 9 Abs. 1 RAO 1931 und schließlich in § 1 Abs. 2 StAnpG gesetzlich normiert. Seit der AO 1977 wurde eine gesetzliche Regelung nicht mehr für erforderlich gehalten, da die wirtschaftliche Betrachtungsweise mittlerweile im Steuerrecht als selbstverständlich angesehen wurde (vgl. BT-Drs. VII/4292, S. 15). Terminologisch wird vorgeschlagen, den Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise durch den der „steuerrechtlichen oder funktionalen Betrachtungsweise“ (so Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 233) oder durch den der „wirtschaftlichen Interpretation der Steuergesetze“ zu ersetzen (so Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht [2013], § 5, Rdnr. 70 ff.). 133  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.12.1991  – 2 BvR 72/90  –, Rdnr. 9; Kirchhof, StuW 1983, S. 173 (181). 134  Möller, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht, 1997, S. 117 f., der allerdings darauf hinweist, dass durch eine solche Verortung nur ein Surrogat für einen anderen konturlosen Begriff geschaffen wird.

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werden Rechtsgeschäfte, die unwirksam sind oder unwirksam werden, grundsätzlich steuerrechtlich als wirksam behandelt, soweit das wirtschaftliche Ergebnis eintritt. Nach § 41 Abs. 2 AO sind Scheinhandlungen und Scheingeschäfte für die Besteuerung unerheblich, und das verdeckte Geschäft ist für die Besteuerung maßgeblich. Bei Verträgen zwischen nahestehenden Personen erfolgt zur Beurteilung der Wirksamkeit eine Gesamtwürdigung, bei der dem Fremdvergleich eine maßgebliche Bedeutung zukommt: Der Vertrag muss den Anforderungen entsprechen, die zivilrechtlich unter Fremden üblich sind, und auch tatsächlich durchgeführt werden, da bei derartigen Verträgen typischerweise keine Interessengegensätze bestehen.135 II. Gesetzesumgehung im Steuerrecht „Die echte Steuerumgehung fängt genau dort an, wo die Auslegungskunst zu versagen beginnt.“136 Als dogmatisch nur schwer zu erfassen erweist sich die Regelung des § 42 AO, deren zentrales Element der Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten ist, durch den das Steuergesetz nicht umgangen werden kann.137 Während es im Zivilrecht überwiegend anerkannt ist, dass es sich bei der Gesetzesumgehung allein um ein methodisches Problem handelt, das üblicherweise nicht mit der Figur des Rechtsmissbrauchs in Verbindung gebracht wird, ist es im Steuerrecht umstritten, ob auch das Steuergesetz „aus eigener Kraft“,138 also durch methodische Erwägungen, eine Umgehung bewältigen kann oder ob § 42 AO konstitutive Bedeutung hat und es überdies spezialgesetzlicher Missbrauchsvorschriften im Steuerrecht bedarf.139 Die Fragestellung berührt Grundfragen der steuerrechtlichen Methodik und zeigt, dass Methodenfragen zugleich solche des Verfassungsrechts sind. 135  Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl. (2013), § 8, Rdnr. 164; zur Verfassungsmäßigkeit der Anwendung des Fremdvergleichs im Steuerrecht siehe BVerfG, Kammerbeschluss vom 16.07.1991 – 2 BvR 47/90 –. 136  Hensel, Zur Dogmatik des Begriffs der „Steuerumgehung“, in: Krüger (Hrsg.), 1923, S. 217 (244). 137  Bereits seit seiner ersten Kodifikation in der Reichabgabenordnung enthält das Steuerrecht eine eigene allgemeine Missbrauchsregelung. Nach § 5 RAO 1919 (RGBl. 1919, S. 1993 = § 10 RAO 1931, RGBl. I, 1931, S. 162) kann durch Missbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts die Steuerpflicht nicht umgangen werden. 138  Siehe Fischer, DB 1996, S. 644 (644 ff.); Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 23, die die Steuerumgehung als ein Problem der allgemeinen Rechtslehre ansieht. 139  Für eine eigenständige Bedeutung von § 42 AO Rose, FR 2003, S. 1274 (1274 ff.); Heuermann, StuW 2004, S. 124 (124 ff.). Schenke hält die mit § 42 AO verbundenen Probleme sogar für so gravierend, dass er die Norm als Beispiel für eine Grundlagenkrise des Steuerrechts benennt (in: Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 256, 291 ff.).



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Ausgangspunkt der Debatte um § 42 AO und die Rechtsfortbildung im Steuerrecht ist der Grundsatzstreit um die so genannte Innen- und Außentheorie, der eine andere Akzentuierung als im Zivilrecht erfährt, indem er auf die Umgehungsproblematik bezogen wird.140 Ausgehend von einem innentheoretischen Verständnis wird die Steuerumgehung als Unterfall der Gesetzesumgehung angesehen. Einer vom Zivilrecht unterschiedenen spezifisch steuerrechtlichen Umgehungslehre bedarf es danach nicht. Der Satz „Gesetzesumgehung ist nichts anderes als ein Problem des Wirkungsbereiches des Gesetzes“141 fasst die Position der Vertreter der so genannten Innentheorie pointiert zusammen. Die Steuerrechtsnorm soll Umgehungssachverhalte durch methodische Erwägungen „aus eigener Kraft“ bewältigen können.142 Das Vorliegen einer Steuerumgehung ergibt sich danach aus der methodengeleiteten Anwendung des gesetzlichen Tatbestandes.143 Belastende Normen sind über ihren Wortlaut hinaus analog anzuwenden, wenn ihr Wortlaut hinter dem Gesetzeszweck zurückbleibt, um auf diese Weise zu einem sachgerechten Ergebnis zu gelangen.144 Im Gegensatz zum Zivilrecht, in dem die Bildung von Analogien ohne Weiteres methodisch als zulässig angesehen wird, ist die Zulässigkeit einer solchen, da Eingriffstatbestände geschaffen werden, im Steuerrecht nicht unumstritten.145 Da die belastendende Wirkung einer teleologischen Reduktion und einer Analogie im Ergebnis gleich sind, umfasst die Diskussion um ein Analogieverbot im Steuerecht auch die Zulässigkeit der teleologischen Reduktion.146 Die Vertreter der Innentheorie halten konsequenterweise eine Analogiebildung bei den Umgehungssachverhalten für zulässig. Durch die Analogiebildung würden das Demokratieprinzip sowie die Gleichheit der Besteuerung verwirklicht.147 Bei der Vervollkommnung eines lückenhaften Gesetzes handele sich um einen „denkenden 140  Die Verwendung der Bezeichnung „Innen- und Außentheorie“ im Steuerrecht geht zurück auf Gassner, Interpretation und Anwendung der Steuergesetze, 1972 S. 86 ff., der explizit an die zivilrechtliche Figur des Rechtsmissbrauchs und die Siebertsche Fassung der so genannten Innentheorie anknüpft. Drüen merkt an, dass im Streit über das richtige Grundverständnis bisweilen sogar (emotionale) Vorwürfe aufkämen (in: Tipke/Kruse, AO, LfG. 124, Oktober 2010, § 42 Rdnr. 7a). 141  Gassner, Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht, in: Cagianut/Fischer/Höhn (Hrsg.), 1995, S. 65 (79). 142  Fischer, DB 1996, S. 644 (644 ff.); Fischer, SWI 1999, S. 79 (82 f). 143  Fischer, FR 2008, S. 306 (309); Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 23; Sieker, Steuergleichheit und Steuergestaltung, in: Mellinghoff (Hrsg.), 2008, S. 195 (205). 144  Pezzer, StbjB 2000/2001, S. 61 (63). 145  Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht 21. Aufl. (2013), § 5, Rdnr. 81 ff. 146  Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 182. 147  Weber-Grellet, DStR 1991, S. 438 (442); Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht 21. Aufl. (2013), § 5, Rdnr. 82; Englisch, StuW 2009, S. 3 (12).

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Gehorsam“.148 Das Analogieverbot wird als überholter Positivismus angesehen.149 Nach einem innentheoretischen Verständnis ist bei Umgehungssachverhalten weder die Feststellung eines Missbrauchs noch eine Missbrauchsabsicht erforderlich.150 § 42 AO hat nach dieser Auffassung keinen subsumtionsfähigen Inhalt151 und ist im Grunde überflüssig.152 Auch spezialgesetzliche Missbrauchsvorschriften sind nicht notwendig, sondern vielmehr ein negatives Resultat der mangelnden Anwendung der Innentheorie.153 Nach einem innentheoretischen Verständnis ist es dem Rechtsanwender überlassen, eine Umgehung festzustellen. Sie erlaubt ein „richtertheoriebasiertes Steuerrecht“.154 Die Loslösung vom Normtext zugunsten des Rechtsanwenders begründet zugleich die Hauptkritik an einem innentheoretischen Verständnis steuerrechtlicher Regelungen. Zugunsten eines endeckten Sinns einer Regelung, die auf einem Rechtsgefühl des Rechtsanwenders beruhe, werde vom Wortlaut der Norm abgewichen.155 Die Innentheorie schaffe vor allem nicht demokratisch legitimiertes Richterrecht, es handele sich um eine „wachsende Geringachtung des Gesetzes durch Richterkreativität“, die in der „Nähe zum Nicht-Recht“ stehe.156 Nach den Vertretern der Außentheorie ist eine gesetzliche Regelung für die Bewältigung von Umgehungssachverhalten erforderlich. § 42 AO hat demnach eine konstitutive Bedeutung und lässt eine steuerverschärfende Analogie zu.157 Eine solche wird von Vertretern dieser Auffassung ohne gesetzliche Grundlage grundsätzlich abgelehnt. Zum Teil wird dem Steuerrecht allerdings insgesamt die Analogiefähigkeit abgesprochen, da es keine Sachverhalte gäbe, die zwingend zu besteuern seien.158 Steuerrecht habe nur die Aufgabe, den Finanzbedarf des Staates zu decken.159 Mangels einer „Sachlogik der Steueranknüpfung“160 bedürfe es daher stets der Entscheidung des Gesetzge148  Tipke,

Die Steuerrechtsordnung, 2. Aufl. (2000), S. 198. Rechtfertigung des Themas, in: Tipke (Hrsg.), 1982, S. 1 (3, 15). 150  Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 22 f. 151  Fischer, FR 2001, S. 1212 (1214). 152  Fischer, FR 2008, 306 (309); Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 23; Sieker, Steuergleichheit und Steuergestaltung, in: Mellinghoff (Hrsg.), 2008, S. 195 (205). 153  Fischer, FR 2001, S. 1212 (1215). 154  Rose, FR 2003, S. 1274 (1275). 155  Rose, FR 2003, S. 1274 (1276). 156  Rose, FR 2003, S. 1274 (1275). 157  Hüttmann, DStR 2015, S. 1146 (1147 f.). 158  Kruse, Steuerspezifische Gründe und Grenzen der Gesetzesbindung in: Tipke (Hrsg.), 1982, S. 71 (71 f.), Geerling/Gorbauch, DStR, 2007, S. 1703 (1703). 159  Danzer, Die Steuerumgehung, 1981, S. 76, 87 f. 160  Grundlegend Flume, StbjB 1967/1968, S. 63 (68 ff.); Kruse, Steuerspezifische Gründe und Grenzen der Gesetzesbindung, in: Tipke (Hrsg.), 1982, S. 71 (75). 149  Tipke,



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bers, um Steuerpflichten zu begründen. Die Befürworter des Analogieverbots im Steuerrecht halten die Wortlautgrenze des jeweiligen Steuertatbestandes für einen Schutz des Bürgers vor der Willkür der Finanzverwaltung und der Finanzgerichtsbarkeit.161 Gegen die Zulässigkeit einer steuerverschärfenden Analogie werden das Demokratieprinzip sowie die Gesetzesmäßigkeit der Verwaltung angeführt.162 Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung verlange, dass steuerbegründende Tatbestände so beschaffen seien, dass der Steuerpflichtige vorausberechnen könne, welche Steuerlast er zu tragen habe. Dies diene der Rechtssicherheit.163 Es sei die Pflicht des Gesetzgebers, Verstöße gegen den Gleichheitssatz abzustellen. Hierbei habe der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative, die ihm die Rechtsprechung nicht nehmen dürfe.164 Bei einem außentheoretischen Verständnis handelt es sich bei § 42 AO um eine Norm mit einem Tatbestand und einer Rechtsfolge, unter deren Voraussetzungen der potentielle Umgehungssachverhalt zu subsumieren ist.165 Durch § 42 AO tritt an die Stelle des verwirklichten Sachverhaltes die Fiktion eines den wirklichen Vorgängen angemessen Sachverhalts. Wenn der Missbrauchstatbestand erfüllt ist, ergibt sich als Rechtsfolge, dass der Steueranspruch so entsteht, wie er bei einer angemessenen Gestaltung von vorneherein entstanden wäre. Gegen die Außentheorie wiederum wird eingewandt, dass es nicht gelungen sei, dem Missbrauchstatbestand des § 42 AO eine präzise Fassung zu geben, weswegen die Außentheorie unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bedenklich sei.166 Letztlich müssten auch die Vertreter der Außentheorie auf die Teleologie der umgangenen Norm zurückgreifen.167 Die Innentheorie und ihre anerkannte methodengerechte Anwendung schaffe hingegen „ein größeres Maß an Rechtssicherheit als Versuche, dem Missbrauchstatbestand Konturen zu verleihen“.168 Auch bei dem Streit um die so genannte Innen- und Außentheorie im Steuerrecht zeigt sich die bereits im zivilrechtlichen Teil angerissene Frage von Gesetzesbindung und Richterrecht, die letztlich den Kern des Streits aus161  Meilicke,

Diskussionsbeitrag, in: Tipke (Hrsg.), 1982, S. 153 (154). DStR 1991, S. 438 (442); Wendt, Belastende Anaologie im Steuerrecht?, in: Chiusi/Gergen/Jung (Hrsg.), 2008, S. 1203 (1212). 163  Crezelius, BB 1984, S. 1377 (1380); Friauf, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsfortbildung im Steuerrecht, in: Tipke (Hrsg.), 1982, S. 53 (67 f.). 164  Wendt, Belastende Anaologie im Steuerrecht?, in: Chiusi/Gergen/Jung (Hrsg.), 2008, S. 1203, (1212). 165  Heuermann, StuW 2004, S. 124 (125 ff.); Hahn, DStZ 2005, S. 183 (187 ff.). 166  Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 410. 167  Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 410, der in seinen Ausführungen die Begriffe Innen- und Außentheorie vertauscht. 168  Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 34. 162  Weber-Grellet,

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1. Teil 1. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Zivil- und Steuerrecht

macht. Die Beurteilung einer Gestaltung als missbräuchlich ist stets eine Wertungsfrage im konkreten Fall, das Begriffspaar Innen- und Außentheorie trägt nichts zur Rationalisierung dieser Wertung bei. Auch der theoretische Gewinn der Differenzierung zwischen Innen- und Außentheorie ist gering, die auf diese Weise generierte Differenzierung „gerät in Gefahr, nur sich selbst zu beglücken“.169 III. § 42 AO Der Zweck von § 42 AO ist es, zwischen dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und dem Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise einen Ausgleich zu schaffen. Die Norm soll die Besteuerungsgleichheit realisieren.170 Wenn das Vorliegen einer missbräuchlichen Gestaltung festgestellt wird, entsteht der Steueranspruch der Art und Höhe nach genauso, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen Gestaltung entstanden wäre. Mit der Neufassung von § 42 AO im Jahressteuergesetz 2008 hat sich der Gesetzgeber der Außentheorie angeschlossen.171 Auch aus diesem Grund erscheint der Streit zumindest für den Rechtsanwender wegen Art. 20 Abs. 3 GG wenig ergiebig, zumal sich die Ergebnisse – anders als der vehemente Streit um die Innen- und Außentheorie vermuten lässt – kaum unterscheiden.172 Bis zur Neufassung des § 42 AO durch das Jahressteuergesetz 2008 lag nach der Rechtsprechung des BFH ein Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten vor, wenn eine rechtliche Gestaltung gewählt wurde, die zur Erreichung des erstrebten wirtschaftlichen Ziels unangemessen war, der Steuerminderung dienen sollte und durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche außersteuerrechtliche Gründe nicht zu rechtfertigen war.173 Die Rechtsprechung zu § 42 AO hat eine umfangreiche Kasuistik hervorgebracht. Mit der Neufassung von § 42 AO wollte der Gesetzgeber die Kasuistik durch die Legaldefinition ersetzen.174 Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs 169  So Heuermann (in: StuW 2004, S. 124 [125 f., 130]), der die Unterscheidung für ein Sprachspiel und das Theoriedesign für misslungen hält. Drüen bezweifelt bereits, dass es sich um Theorien handelt. Jedenfalls sei „diese ‚Theorienbildung‘ schon sprachlich misslungen und zumindest im Steuerrecht nicht weiterführend (in: StuW 2008, S. 154 [159]). 170  Hey, BB 2009, S. 1044 (1044). 171  Hey, BB 2009, S. 1044 (1047). 172  Hey, BB 2009, S. 1044 (1044); Heuermann, StuW 2004, S. 124 (125 f., 130). 173  St. Rspr. BFH, Urteil vom 15.10.1998  – III R 75/97 –, BFH, Urteil vom 19.08.1999  – I R 77/96  –, BFH, Urteil vom 14.01.2003,  – IX R 5/00  – BFH, Urteil vom 17.12.2003 – IX R 56/03 –. 174  BT-Drs. 16/6981, S. 2.



C. Steuerrecht61

zu § 42 AO wurde zudem vom Gesetzgeber als zu restriktiv angesehen.175 Durch eine Neufassung im Jahressteuergesetz 2008 sollte eine „präzisere und effektivere“ Regelung176 erfolgen. Die Neufassung enthält in Abs. 2 eine Legaldefinition des Missbrauchs.177 Danach liegt ein solcher vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Steuerpflichtige für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind. Durch diese Definition des Missbrauchs wollte der Gesetzgeber eine höchstmögliche Tatbestandsklarheit bei der Missbrauchsabwehr erreichen.178 Als problematisch erweist sich jedoch die Präzisierung des Merkmals der Unangemessenheit der Gestaltung als Tatbestandsmerkmal des Missbrauchs, da es sich hierbei um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Für die Unangemessenheit kann die Ungewöhnlichkeit der Gestaltung sprechen oder eine Gestaltung, „die umständlich, kompliziert, schwerfällig oder gekünstelt ist.179 Die Neufassung der Regelung hat viel Kritik erfahren – vor allem dahingehend, dass das Missbrauchsproblem stets ein solches des Einzelfalls sei.180 Bei der Unangemessenheit erfolge die Ersetzung einer „Unbekannten durch eine andere Unbekannte“.181 Die Missbrauchsformel schaffe Unbestimmtheit, schwäche die Gesetzesbindung und mache die Rechtsfolge unvorhersehbar. Kaum ein Tatbestand sei missbrauchsanfälliger als die Missbrauchsformel.182 Umstritten ist, ob bei § 42 AO neben dem objektiven Tatbestand eine Missbrauchsabsicht erforderlich ist, ob also „Anlass der Besteuerung die böse Gesinnung oder das gute Ergebnis ist“.183. Für die Notwendigkeit eines subjektiven Elements spricht, dass sonst Missbrauch in Fehlgebrauch umge175  So Hey, BB 2009, S. 1044 (1045); allerdings ist die beabsichtigte Verschärfung nach Hey misslungen. 176  BT-Drs. 16/62690, S. 81; BT-Drs. 16, 7036, S. 6. 177  So Wendt, § 42 AO in: Hüttemann (Hrsg.), 2010, S. 117 (126); nach Hey wird jedoch nur der Anschein einer Legaldefinition erweckt (in: BB 2009, S. 1044 (1046). 178  BT-Drs. 16/62690, S. 81. 179  Ratschow, in: Klein, AO, 13. Aufl. (2016), § 42, Rdnr. 48. 180  Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, Lfg. 124, Oktober 2014, vor § 42 AO, Rdnr. 15. Nach Drüen konnte dieses Vorhaben mit einer Generalklausel nur misslingen; denn „was eine den Gestaltungsmissbrauch kennzeichnende unangemessene rechtliche Gestaltung ist, entzieht sich […] einer allgemeinen Definition, sondern lässt sich nur im Einzelfall feststellen“. 181  Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 93. 182  Kirchhof, Legalität, Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit als Grundlagen der Besteuerung, in: Hüttemann (Hrsg.), 2010, S. 9 (22). 183  Hey, StuW 2008, S. 167 (170).

62

1. Teil 1. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Zivil- und Steuerrecht

deutet würde.184 Nach der Neufassung von § 42 AO muss die Gestaltung vom Steuerpflichtigen „gewählt“ worden sein, was auch auf das Erfordernis einer Missbrauchsabsicht hindeutet.185 Auch dieser Streit ist in der Rechtsanwendungspraxis von geringer Relevanz, denn wenn ansonsten der Tatbestand von § 42 AO erfüllt ist, wird die Missbrauchsabsicht durch die Gestaltung indiziert.186 Wenn ein Gestaltungsmissbrauch vorliegt, entsteht nach § 42 Abs. 1 Satz 3 AO der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entstanden wäre. Je nach Einordung des § 42 AO wird an die Stelle des verwirklichten Sachverhalts entweder ein angemessener Sachverhalt gesetzt und dieser der umgangenen Regelung zugeordnet, oder aber dem verwirklichten Sachverhalt wird eine andere Rechtsfolge zuordnet.187 IV. Spezialgesetzliche Missbrauchsregelungen Neben der Generalklausel des § 42 AO gibt es im Steuerecht zahlreiche spezialgesetzliche Normen, die einen Missbrauch verhindern sollen. Die spezialgesetzlichen Missbrauchsregelungen sind darauf ausgerichtet, entweder eine Tatbestandsvermeidung oder eine Tatbestandserschleichung zu verhindern.188 Sie sind Ausdruck der wirtschaftlichen Betrachtungsweise und dienen dazu, Sachverhalte, die zwar rechtlich unterschiedlich gestaltet sind, aber wirtschaftlich die gleichen Auswirkungen haben, gleichzustellen.189 Es handelt sich um Fiskalzwecknormen.190 Spezialgesetzliche Missbrauchsregelungen unterscheiden sich von der Generalklausel dadurch, dass sie den Missbrauch der Gestaltung typisieren.191 184  Drüen,

in: Tipke/Kruse, AO, Lfg. 123, Mai 2010, § 42 AO, Rdnr. 44. in: Klein, AO, 13. Aufl. (2016), § 42, Rdnr. 75. 186  Ratschow, in: Klein, AO, 13. Aufl. (2016), § 42, Rdnr. 75. 187  Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 32. Die Ergebnisse der beiden Methoden unterscheiden sich nicht wesentlich. 188  Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 17. 189  Hey, StuW, 2008, S. 167 (171); Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 5. 190  Hey, Spezialgesetzgebung und Typologie von Gestaltungsmissbrauch, in: Hüttemann (Hrsg.), 2010, S. 139 (146). Bei Fiskalzwecknormen steht die Erzielung eines Steuerertrags im Vordergrund (siehe Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, 18. Aufl. (2015), Rdnr. 116. 191  Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 18; Hey, StuW 2008, S. 167 (170); Hey, Beihefter zu DStR 3, 2014, S. 8 (13). 185  Ratschow,



C. Steuerrecht63

Sie sollen dem Problem entgegenwirken, dass sich die Unangemessenheit einer steuerrechtlichen Gestaltung nicht abstrakt vorher bestimmen lässt.192 Durch spezialgesetzliche Missbrauchsvorschriften soll Rechtssicherheit erzeugt werden.193 Im Unterschied zur Generalklausel des § 42 AO fingieren sie nicht die angemessene Gestaltung, sondern verfügen über eine selbständige Rechtsfolge.194 Bei echten spezialgesetzlichen Missbrauchsregelungen wird die typische Missbrauchsgestaltung in der Norm in sachlicher, zeitlicher und persönlicher Hinsicht zum Ausdruck gebracht.195 Es reicht nicht aus, dass eine abstrakte Missbrauchsgefahr das Motiv für die Regelung war, sondern der Gesetzgeber muss dies auch hinreichend in der Regelung selbst zum Ausdruck bringen.196 Wenn die Regelung nur einen „Missbrauchsbeigeschmack“ hat, sie also nur einzelne Missbrauchselemente aufweist, handelt es sich um eine unechte Missbrauchsregelung.197 Es gibt einige typische gesetzgeberische Strategien, die den Missbrauch von Steuervorschriften bei häufig vorkommenden Konstellationen verhindern sollen. Dabei gleicht das gesetzgeberische Handeln in der Steuergesetzgebung in gewisser Weise der Situation von Hase und Igel: Wenn eine spezialgesetzliche Missbrauchsregelung geschaffen wird, welche die Unangemessenheit einer Gestaltung definiert, ruft diese stets neue Umgehungsversuche hervor.198 Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, verwendet der Gesetzgeber beispielsweise die so genannte Gleichstellungsmethode.199 Wenn verschiedene zivilrechtliche Gestaltungen für einen Sachverhalt in Betracht kommen, wird eine Hauptnorm geschaffen, die den Hauptfall erfasst. Zusätzlich werden Ausweichgestaltungen geregelt, die seltener vorkommen, jedoch denselben wirtschaftlichen Erfolg erzielen.200 Es werden also ergän192  Hey, Spezialgesetzgebung und Typologie von Gestaltungsmissbrauch, in: Hüttemann (Hrsg.), 2010, S. 139 (149). 193  Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 5. 194  So die Terminologie von Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 18. 195  So die Terminologie und Definition von Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 26. 196  Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 24. 197  So die Terminologie von Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 24. 198  Schneider/Anzinger, ZIP 2009, S. 1 (2) weisen daraufhin hin, dass sogar schon vor Erlass des Gesetzes die „Beratungsindustrie“ nach Wegen sucht, um steuerliche Folgen zu vermeiden oder zu umgehen. 199  Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 36 f. 200  Z. B. § 3 Abs. 1 Nr. 2 ff. ErbStG, § 7 Abs. 2 Nr. 2 ff. ErbStG.

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1. Teil 1. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Zivil- und Steuerrecht

zende Tatbestände geschaffen, die weitere Fälle der missbräuchlichen Gestaltung benennen.201 Die Ausweichgestaltungen werden in ihrer Rechtsfolge dem Hauptfall gleichgestellt, um auf diese Weise die Hauptnorm vor Umgehungen zu schützen.202 Bei der Gleichstellungsmethode handelt sich um eine „Spezialgesetzgebung in der Spezialgesetzgebung“.203 In der Regelung selbst kann ein Fremdvergleich zur Exkulpation angeordnet werden.204 Der Gesetzgeber kann aber auch die konkreten Voraussetzungen für den Fremdvergleich im Gesetz selbst benennen.205 Häufig wird zudem versucht, die Steuerlast durch gesamtplanerische Gestaltungen zu verringern. Bei diesen plant der Steuerpflichtige Zwischenschritte, um einen von Beginn an geplanten Endzustand zu erreichen.206 Der Steuerpflichte spaltet einen steuerlich relevanten Vorgang auf („Salamitaktik“) oder versucht, durch Ausweich- oder Korrekturgestaltungen seinen Status zu verbessern.207 Um diesen gesamtplanerischen Gestaltungen entgegenzuwirken, verwendet der Gesetzgeber Sperrfristen unterschiedlicher Länge. Während dieses Zeitraums führt die Verwirklichung des Tatbestandes der Sperrfristregelung zum Verlust von steuerlichen Vorteilen.208 Eine weitere gesetzgeberische Strategie besteht in der Verwendung von Aufgriffsgrenzen, so genannter „safe havens“.209 Bei diesen wird vom Gesetzgeber von vornherein eine bestimmte Gestaltung als noch angemessen typisierend festgelegt. Dies kann durch prozentuale Verhältnisbestimmung erfolgen.210 Auch Freibeträge oder Freigrenzen können als safe havens verwandt werden.211 Aufgriffsgrenzen dienen jedoch nicht nur zur Missbrauchs201  Hahn,

DStZ 2008, S. 483 (488 f.). Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 36 f. 203  Hey, Spezialgesetzgebung und Typologie von Gestaltungsmissbrauch, in: Hüttemann (Hrsg.), 2010, S. 139 (165 f.). 204  Z. B. § 8b Abs. 3 Satz 6 KStG; Hey, Spezialgesetzgebung und Typologie von Gestaltungsmissbrauch, in: Hüttemann (Hrsg.), 2010, S. 139 (163 f.). 205  Z. B. § 21 EStG; siehe Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 34. 206  Tanzer, Der Gesamtplan im Rahmen steuerlicher Tatbestände, in: Hüttemann (Hrsg.), 2010, S. 189 (190). 207  Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 34. 208  Hey, Spezialgesetzgebung und Typologie von Gestaltungsmissbrauch, in: Hüttemann (Hrsg.), 2010, S. 139 (159). 209  Hey, Spezialgesetzgebung und Typologie von Gestaltungsmissbrauch, in: Hüttemann (Hrsg.), 2010, S. 139 (162 f.). 210  Z. B. § 21 Abs. 2 EStG. 211  Z. B. § 4h Abs. 2a) EStG, der eine Freigrenze festgelegt. 202  Gabel,



D. Zusammenfassung65

vermeidung, sondern werden auch als Bagatellgrenze zur Vereinfachung eingesetzt.212 Das Verhältnis spezialgesetzlicher Missbrauchsnormen zu § 42 AO ist umstritten. In § 42 Abs. 1 Satz 2 AO ist nur der Vorrang der Rechtsfolge der Spezialnorm normiert. Wenn nur einzelne Tatbestandsvoraussetzungen der Spezialnormen erfüllt sind, stellt sich das Problem, ob ein Rückgriff auf § 42 AO zulässig ist. Ein solcher soll nach der Gesetzesbegründung zu § 42 AO zulässig sein, da durch das Vorhandsein einer spezialgesetzlichen Regelung die Auffangfunktion von § 42 AO nicht ausgeschlossen werden soll. Das Vorliegen eines Missbrauchs soll sich dann nach § 42 AO richten.213

D. Zusammenfassung Die Analyse der Figur des Rechtsmissbrauchs im Zivil- und im Steuerrecht hat gezeigt, dass in beiden Rechtsgebieten der Streit um die so genannte Innen- und Außentheorie Ausgangspunkt der Debatte ist, dieser Streit jedoch wenig weiterführend ist. Im Zivilrecht wird zwischen dem individuellen und dem institutionellen Rechtsmissbrauch unterschieden. Die mit der Figur des Rechtsmissbrauchs verbundene Kasuistik wird bei § 242 BGB verortet und in nicht abschließenden Fallgruppen geordnet. Die Gesetzesumgehung wird, anders als im Steuerrecht, zumeist nicht mit der Figur des Rechtsmissbrauchs in Verbindung gebracht. Im Steuerrecht ist der Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten das zentrale Element von § 42 AO. Bei der letzten Reform der Regelung hat sich der Gesetzgeber der Außentheorie angeschlossen. Zudem erfolgt eine erhebliche Ausweitung der spezialgesetzlichen Missbrauchsgesetzgebung im Steuerrecht. Es wird zwischen echten und unechten Missbrauchsregelungen unterschieden. Entscheidend für den Umgang mit der Missbrauchsproblematik ist die eigenständige steuerrechtliche Beurteilung von zivilrechtlichen Gestaltungen. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist als Teil der teleologischen Auslegung anerkannt und in den §§ 39–42 AO normativ verankert. Maßgeblich für den Umgang mit der Figur des Rechtsmissbrauchs ist auch der Standpunkt, der in der Methodendiskussion eingenommen wird. Im Zivilrecht wird die Figur des Rechtsmissbrauchs ausgehend von einem innentheoretischen Verständnis als Autorisierung einer richterlichen Rechtsgestal212  Gabel, Verfassungsrechtliche Maßstäbe spezieller Missbrauchsnormen im Steuerrecht, 2011, S. 35. 213  BT-Drs. 16/7036, S. 24.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

tung verwendet.214 Sowohl im Zivil- als auch im Steuerrecht dient die Figur des Rechtsmissbrauchs dazu, Einzelfallgerechtigkeit aus Sicht des Rechtsanwenders herzustellen. Im Steuerrecht wird jedoch, zumindest nach einem außentheoretischen Ansatz, eine Eingriffsgrundlage für den Umgang mit Umgehungssachverhalten gefordert. Der Umgang mit Umgehungssachverhalten wirft zugleich verfassungsrechtliche Fragen auf, nämlich die Frage der Zulässigkeit einer Analogie zu Lasten des Steuerpflichtigen, die der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative sowie der Gesetzesbindung des Rechtanwenders. 2. Abschnitt

Erscheinungsformen der Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht – eine Phänomenologie A. Problemstellung Im zweiten Abschnitt der Arbeit werden verschiedene Fallkonstellationen im Sozialrecht untersucht, in denen die Figur des Rechtsmissbrauchs verwendet wird. Der Anwendungsbereich der Rechtsfigur umfasst die Einschränkung prozessualer Rechte, formeller und materieller Rechtspositionen sowie den Missbrauch durch Leistungsempfänger, Leistungsträger und Leistungserbringer.215 Das Verbot der missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialleistungen wird von der Sozialrechtsprechung sogar zur Grundrechtsinterpretation herangezogen.216 Der Versuch einer abschließenden Betrachtung aller denkbaren Missbrauchskonstellationen im Sozialrecht würde den Rahmen dieser Arbeit weit überschreiten. Die Arbeit beschränkt sich daher auf exemplarische Konstellationen, in denen materiellen Ansprüchen von potentiell Leistungsberechtigten der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs entgegengehalten wird. Die ausgewählten Fallkonstellationen haben die Funktion, die Wirkungsweisen der Figur des Rechtsmissbrauchs aufzuzeigen und Grenzen eines solchen Arguments im Sozialrecht herauszuarbeiten. Die Auswahl wurde zudem auf Konstellationen beschränkt, in welchen explizit oder impli214  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 343 f. 215  Siehe Knödler, Rechtsmißbrauch im öffentlichen Recht, 1999, S. 115, der der Ansicht ist, der persönliche Anwendungsbereich der Rechtsmissbrauchsfigur sei extensiv. 216  SG Dortmund, Urteil vom 09.10.2006  – S 32 AS 214/06  –, Rdnr. 24, wonach eine Interpretation von Art. 12 Abs. 2 GG ausgeschlossen sei, die auf ein Recht zur missbräuchlichen Inanspruchnahme der sozialversicherungsrechtlichen Solidargemeinschaft hinauslaufen könnte.



B. Abgrenzungen

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zit auf Missbrauch rekurriert wird. Ein implizierter Rückgriff auf die Figur des Rechtsmissbrauchs erfolgt dabei durch funktionsäquivalente Formulierungen wie etwa die der Solidaritätswidrigkeit. Die Untersuchung wird durch die zahlreichen Rechtsänderungen im Sozialrecht erschwert. Für die Problembeschreibung ist es häufig erforderlich, eine nicht mehr geltende Gesetzeslage kurz darzustellen. Ein Teil der analysierten Fallkonstellationen ist mittlerweile zur Rechtsgeschichte geworden, da entweder der Gesetzgeber tätig geworden oder aber eine Veränderung der Rechtsprechung eingetreten ist. Dennoch sind manche dieser Konstellationen in die Arbeit aufgenommen worden, weil sie besonders geeignet erscheinen, die Wirkungsweise der Figur des Rechtsmissbrauchs zu illustrieren. Schließlich ist auf ein Problem der Analyse der Fallkonstellationen bereits an dieser Stelle hinzuweisen. Obgleich der Begriff des Missbrauchs ganz unterschiedliche Phänomene und Bedeutungen umfasst, wird er stets mit einer gewissen Selbstverständlichkeit gebraucht. Die dogmatischen Grundlagen der Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht bleiben sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung sehr allgemein, um nicht zu sagen: blass. Werden Ausführungen zur dogmatischen Herleitung der Figur des Rechtsmissbrauchs gemacht, so beschränken sich diese zumeist unter Verweis auf Treu und Glauben auf die lange Anwendung der Rechtsfigur im Sozialrecht. Das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Rechtsmissbrauchs oder einer Missbrauchsgefahr erfolgt zumeist am Ende einer gerichtlichen Entscheidung, ohne dass die Herkunft und die genauen Anforderungen an das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs näher dargelegt werden. Auch dieser Darstellungsweise wird nachzugehen sein.

B. Abgrenzungen Bevor die verschiedenen exemplarischen Fallkonstellationen untersucht werden, erfolgt eine Abgrenzung zu anderen Begriffen aus dem Umfeld der Figur des Rechtsmissbrauchs. Sie dienen einerseits dazu, die Besonderheiten der Figur des Rechtsmissbrauchs klarer herauszuarbeiten, andererseits aber auch dazu, Vermischungen der Begriffe entgegenzuwirken, die im Gebrauch gelegentlich erfolgen. Die Figur des Rechtsmissbrauchs wird abgegrenzt von der Rechtswidrigkeit, dem Leistungsmissbrauch und dem Moral Hazard. I. Die Figur des Rechtsmissbrauchs und Rechtswidrigkeit Die Figur des Rechtsmissbrauchs ist in das System von Rechtswidrigkeit und der Rechtmäßigkeit einzuordnen. Bei der Unterscheidung von rechtmäßig und rechtswidrig handelt es sich um die binäre Codierung des Rechtssys-

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

tems. Alle Kommunikation im Rechtssystem ist auf diese Leitdifferenz bezogen. Kommunikationen anderer Systeme werden vom Rechtsystem nur als „Rauschen“ wahrgenommen und vermögen höchstens „Irritationen“ auszulösen.217 Rechtswidrig ist, was im Widerspruch zur Rechtsordnung steht.218 Rechtmäßig bedeutet, dass alle rechtlichen Anforderungen erfüllt werden.219 Die Rechtswidrigkeit ist das „negative Spiegelbild“ der Rechtmäßigkeit.220 Die Zuordnung des Codes erfolgt über die Programme, also die Rechtsnormen. Rechtmäßig bildet den positiven und rechtswidrig den negativen Wert. Ein dritter Codewert ist ausgeschlossen221. Dies folgt nach Luhmann aus der spezifisch sozialen Funktion des Rechts, nämlich normative Erwartungen zu sichern und die Anschlussfähigkeit von Entscheidungen herzustellen.222 Durch die Zweiwertigkeit des Codes wird zudem die Entscheidungsfähigkeit von Rechtsstreitigkeiten sichergestellt, was Bedingung dafür ist, den Entscheidungszwang der Gerichte einzulösen.223 Durch den zweiwertigen Code vollzieht sich die operative Schließung des Rechtssystems zu einem autopoetischen System.224 Während es im Zivilrecht und im Strafrecht vorrangig darum geht, das Handeln eines Bürgers als rechtmäßig oder rechtswidrig zu beurteilen,225 finden die Kategorien im öffentlichen Recht vor allem bei der Beurteilung staatlichen Handelns Anwendung. Das Verhalten des Bürgers ist für die Un-

217  Luhmann, Soziale Systeme, 1987, S. 237, 291 f. sowie ders., Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 276 ff. 218  Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl. (1996), Rdnr. 226. 219  Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 21. 220  Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. (2011), § 10 Rdnr. 2. 221  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 69 ff., 177 ff. Nach Luhmann (in: Soziologie des Risikos, S. 90) eleminiere die Ausdiffernzierung binär codierter Funktionssysteme für sie systemexterne Entschiedungskriterien; das gelte auch angesichts von Versuchen, solche Kriterien unter dem Pseudonym „Ethik“ erneut ins Gespräch zu bringen. 222  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 131 ff. 223  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 180, 502, 313; die Zweiwertigkeit sei auch eine Bedingung für Entscheidungsfähigkeit und damit eine Bedingung für Gerichtsbarkeit. 224  Die Etablierung eines mehrwertigen Codes bedürfte einer „mehrwertigen Logik“, die Zuteilung müsste durch einen „Rejektionswert“ erfolgen (Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, 5. Aufl. [1991], S. 180 ff.; hierzu Frey, Vom Subjekt zur Selbstreferenz, 1989, S. 53 f.). 225  Im Strafrecht ist eine Tat rechtswidrig, wenn ein Unrechtstatbestand verwirklicht wird und keine Rechtfertigungsgründe bestehen. Rechtswidrigkeit bedeutet, „dass das fragliche Tun oder Unterlassen im Widerspruch zum Recht als einer menschlichen Verhaltensordnung steht“. (Eisele, in: Schönke/Schröder, 28. Aufl. 2010, StGB, Vorbem. zu §§ 13 ff., Rdnr. 47).



B. Abgrenzungen69

terscheidung typischerweise nicht relevant.226 Es wird zwischen formeller und materieller Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns unterschieden. Formell rechtswidrig handelt die Verwaltungsbehörde, wenn sie gegen Verfahrensvorschriften verstößt, materiell rechtswidrig, wenn das Handeln oder Unterlassen der Behörde außerhalb der Ermächtigungsgrundlage erfolgt. So ist beispielsweise nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ein Verwaltungsakt rechtswidrig und zurückzunehmen, wenn bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht formell oder materiell unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Eine sozialgerichtliche Klage hat Erfolg, soweit der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder die Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist.227 Das Verhalten des Bürgers ist nicht für die Rechtswidrigkeit sondern nur für die Frage des Vertrauensschutzes bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes relevant. Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X beispielsweise ist das Vertrauen des Begünstigten nicht schutzwürdig, wenn er den begünstigenden Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung oder falsche Angaben erwirkt hat oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Auch eine Verletzung der − im Vergleich zu anderen Bereichen des besonderen Verwaltungsrechts weitreichenden − Mitwirkungspflichten des Bürgers im Sozialrechtsverhältnis führt nicht zu einer Rechtswidrigkeit228 seines Handelns oder des Verwaltungsakts, sondern zieht als Obliegenheitsverletzung lediglich leistungsrechtliche Konsequenzen nach sich.229 Mit der Rechtmäßigkeit hat der Rechtsmissbrauch gemein, dass die Ausübung des Rechts durch die Behörde oder den Bürger ihrer Form nach „den Buchstaben des Gesetzes“ genügt,230 das Normprogramm also erfüllt ist und die Rechtsfolge an sich eintreten müsste. Wäre das Programm nicht erfüllt, würde schlicht der Code „rechtswidrig“ zugeteilt werden. Dennoch wird die Operation beim Rechtsmissbrauch letztlich als nicht rechtmäßig codiert, mit der Konsequenz, dass die Rechtsfolge nicht eintritt; die Zuteilung des Codes „rechtmäßig / rechtswidrig“ ist gestört. Das Wenn-dann-Schema der konditional strukturierten Norm wird verlassen. Dieses resultiert daraus, dass das 226  Felix,

Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 320. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG zur Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. 228  Rechtswidrigkeit ist hier in einem engen, nur auf die Verletzung echter Rechtspflichten (im Unterschied zu bloßen Obliegenheiten) bezogenen Sinne gemeint. 229  Siehe §§ 66 ff. SGB I. 230  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (190) unter Hinweis darauf, dass sich diese Formulierung im jedem beliebigen Rechtswörterbuch findet. 227  Vgl.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

Missbrauchsurteil, welches bei der Rechtsanwendung ausgesprochen wird, an der Grenze des Codes Recht / Unrecht liegt. Christensen / Kudlich formulieren plastisch: Das Missbrauchsurteil stellt „die Frage moralischer Richtigkeit, indem es die nötige Binarität verwischt und die Pole durch das Stigma des Unwerts heillos kontaminiert“.231 Das Ungewöhnliche am Missbrauchsurteil ist, dass das positive Rechtssystem die moralischen Anforderungen nicht nur als bloße Irritationen wahrnimmt, sondern diese zu verarbeiten scheint. Beim Rechtsmissbrauch wird scheinbar ein dritter Codewert etabliert, in dem die Gerechtigkeit auftaucht und eine Abweichung vom Programm der Rechtsnorm im Einzelfall ermöglicht. Der Frage, inwieweit ein solcher „Switch des Codes“232 auf Grund der Figur des Rechtsmissbrauchs zulässig ist, wird weiter nachzugehen sein. II. Rechtsmissbrauch und Leistungsmissbrauch Die Figur des Rechtsmissbrauchs ist auch vom Leistungsmissbrauch abzugrenzen. Die rechtmäßige Leistungsgewährung im Sozialrecht – wie auch die rechtmäßige Besteuerung im Steuerrecht – ist auf wahrheitsgemäße Angaben der Beteiligten angewiesen. Zwar gilt für die Ermittlung des für die Leistungsgewährung relevanten Sachverhalts nach § 20 SGB X der Untersuchungsgrundsatz. Die Behörde hat also die Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Hierbei ist sie jedoch auf die Mitwirkung der Beteiligten angewiesen, da für die Leistungsgewährung Angaben relevant sind, die aus der Sphäre des Leistungsberechtigten stammen. § 21 Abs. 2 Satz 2 SGB X regelt, dass die Beteiligten an der Aufklärung des Sachverhalts mitwirken sollen.233 Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten finden sich allgemein in den §§ 60 ff. SGB I sowie in den besonderen Bereichen des Sozialrechts.234 In einer Massenverwaltung wie dem Sozialleistungsrecht sind die mitgeteilten Informationen auf Grund der begrenzten Kapazitäten der Verwaltung nur begrenzt nachprüfbar. Aus dem Recht auf Privatsphäre und Datenschutz der Bezieher von Sozialleistungen folgt zudem, dass eine Überprüfung der Angaben verhältnismäßig sein muss.235 231  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (199). 232  Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (201). 233  Systematisch gehört § 21 Abs. 2 SGB X nicht zu den Beweismitteln, da es sich um eine Ergänzung des Amtsermittlungsgrundsatzes handelt; siehe Siefert, in: v. Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. (2014), § 21 SGB X, Rdnr. 3. 234  Z. B. §§ 56 ff. SGB II. 235  Zum Problem des Einsatzes so genannter Sozialdetektive siehe OVG Thüringen, Urteil vom 25.11.2010 – 3 KO 527/08 –.



B. Abgrenzungen

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Zwar trägt Kapitel 10 des SGB II die Überschrift „Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs“. Eine Legaldefinition des Leistungsmissbrauchs findet sich jedoch weder in diesem Kapitel noch sonst im Sozialrecht.236 Normiert sind nur Zuständigkeiten für die Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs sowie Befugnisse zur Datenübermittlung zur Aufklärung von Leistungsmissbrauch. Im öffentlichen Diskurs und auch in der juristischen Literatur wird der Begriff des Leistungsmissbrauchs häufig weit gefasst und jede Form des – tatsächlich oder vermeintlich – missbräuchlichen Verhaltens als Leistungsmissbrauch bezeichnet. Zu dem ersten Entwurf des „Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“,237 dessen Zielsetzung in der Verringerung von Leistungsmissbrauch durch eine Verschärfung der Sanktionsmöglichkeiten bestand, hieß es beispielsweise im Gesetzgebungsverfahren: „Darüber hinaus unterstützt der Bundesrat die Bundesregierung bei der Bekämpfung von Leistungsmissbrauch, wie sie beispielweise bei der Verschärfung der Sanktionsregelungen […] vorgesehen ist.“238 Bei der Absenkung von Grundsicherungsleistungen nach §§ 31 ff. SGB II erfolgt jedoch ein rechtmäßiger Leistungsbezug. Die Absenkung dient lediglich dazu, Pflichtverletzungen des Leistungsberechtigen zu sanktionieren. Auch „das legale bewusste Ausnutzen von Möglichkeiten zum Leistungs­ bezug“,239 die Inanspruchnahme so genannter Mitnahmeeffekte240 und die kreative Nutzung von Spielräumen, die das Gesetz belässt,241 werden häufig als Leistungsmissbrauch bezeichnet.242 Ein derart weiter Begriff des Leistungsmissbrauchs würde alle möglicherweise nicht intendierten Leistungsvergaben und Nutzungen subjektiver Rechte im – tatsächlichen oder vermeintlichen – Widerspruch zu ihren sozialen Zweckbestimmungen des Leis236  Die Kapitelüberschrift ist irreführend, da seit dem Dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 (BGBl. I, S. 2848) vorrangig die Behörden der Zollverwaltung für die Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs im SGB II und SGB III zuständig sind (§ 64 SGB II). 237  BGBl. I 2006, S. 1706. 238  BR-Drs. 404/1/06, S. 2. 239  Bundesrat, Anrufung des Vermittlungsausschusses im Gesetzgebungsverfahren zum SGB XII, BR-Drs. 732/1/03, S. 3. Butterwegge weist darauf hin, dass hierin ein Wandel des gesellschaftlichen Gerechtigkeitsempfindens zu sehen ist (Krise und Zukunft des Sozialstaates, 5. Aufl., 2014, S. 103). 240  So Commandeur, Mißbrauch von Sozialleistungen, 1996, S. 3 f., die alle Arten solidaritätswidrigen Verhaltens unter den Begriff des Leistungsmissbrauch fasst. 241  Hirschboeck, Sozialhilfemißbrauch in Deutschland aus juristischer Sicht, 2004, S. 17, 40. 242  Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II, S. 145  f., durch den Ausdruck „Missbrauch“ werde ein gesellschaftlicher Dissens über moderne Sozialstaatlichkeit zum Ausdruck gebracht.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

tungsberechtigten erfassen.243 Eine solche Begriffsbestimmung führte jedoch zu einem nicht unterscheidenden Missbrauchsbegriff, der juristisch nicht operationalisierbar ist. Zudem wird eine Differenz zwischen Legalität und Legitimität des Leistungsbezugs generiert.244 Um den Begriff des Leistungsmissbrauchs rechtlich fassbar zu machen, ist unter Leistungsmissbrauch nur eine rechtswidrige Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu verstehen, die auf einem vorwerfbaren, schuldhaften Verhalten des Leistungsbeziehers beruht.245 Für eine solche Auslegung des Begriffs des Leistungsmissbrauchs spricht auch § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB XII, wonach der Sozialhilfeträger befugt ist, zur Vermeidung der rechtswidrigen Inanspruchnahme von Sozialleistungen Daten von Personen, die Leistungen beziehen, zu übermitteln. Ein Leistungsmissbrauch liegt beispielsweise vor, wenn der Leistungsberechtigte über seine tatsächlichen Verhältnisse, die für die Leistungsgewährung relevant sind, vorwerfbar falsche Angaben macht, Tatsachen verheimlicht oder eine Änderung seiner Verhältnisse nicht mitteilt. Einer solchen Begriffsdefinition entspricht im Steuerrecht die Steuerhinterziehung, wie sie in der Blankettnorm des § 370 AO niedergelegt ist. Nach dieser Regelung macht sich wegen Steuerhinterziehung strafbar, wer gegenüber den Finanzbehörden unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Ziel der Regelung ist es, die Besteuerungsgrundlagen wahrheitsgemäß zu ermitteln. Die Steuerhinterziehung ist vom Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne von § 42 AO zu unterscheiden. Eine Steuerumgehung ist als solche nicht strafbar.246 Das funktiodiesem Sinne Commandeur, Mißbrauch von Sozialleistungen, 1996, S. 3 f. in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 3. Aufl. (2013), § 64 SGB II, Rdnr. 2. 245  Eine ähnliche Definition, allerdings für den Sozialhilfemissbrauch, findet sich bei Löffler, ZFSH/SGB 2001, S. 387 (388), der für seine empirische Untersuchung folgende Definition zu Grunde legt: „Leistungen der Sozialhilfe nimmt nicht gerechtfertigt in Anspruch, wer zur Erlangung dieser Leistung vorsätzlich oder fahrlässig leistungsrelevante Daten verschweigt oder falsche Angaben macht und daraus einen finanziellen und/oder materiellen Vorteil hat.“ Bei einem so definierten Begriff scheint eine eigene Kategorie des Sozialhilfemissbrauchs neben einem Begriff des Leistungsmissbrauchs, der für alle Sozialleistungsbereiche Anwendung finden kann, nicht notwendig. Die Bundesagentur für Arbeit gebraucht als Oberbegriff „ungerechtfertigte Leistungszahlungen“, worunter sie alle Leistungen erfasst, die objektiv nicht dem materiellen Recht entsprechen. Unter den Begriff des Leistungsmissbrauchs fallen dann als Teilbereich rechtswidrig gewährte Leistungen, bei denen den Leistungsbeziehern ein schuldhaftes Verhalten vorgeworfen werden kann (Antwort der Bundesregierung zu einer Anfrage zum Datenabgleich bei Hartz IV, BT-Drs. 16/10767, S. 3). 246  Jöcks, in: Jöcks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. (2015), § 370 AO, Rdnr. 198. 243  In

244  Rixen,



B. Abgrenzungen

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nale Äquivalent zum Leistungsmissbrauch im Sozialrecht ist somit die Steuerhinterziehung im Steuerrecht. Das Sozialleistungsrecht sieht vielfältige Sanktionen bei Leistungsmissbrauch vor. Ein Verwaltungsakt, der wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger falscher Angaben des Betroffenen erlassen wurde, kann nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 und 2 SGB X zurückgenommen werden.247 Die Erstattungspflicht des Leistungsempfängers ergibt sich aus § 50 SGB X. Ein Leistungsmissbrauch stellt zudem regelmäßig zumindest eine Ordnungswidrigkeit248 und häufig zugleich einen versuchten oder vollendeten Sozialbetrug im Sinne von § 263 StGB dar.249 Leistungsmissbrauch findet in allen Bereichen des Sozialrechts statt.250 Bei den Sachleistungen besteht eine geringere Gefahr des Missbrauchs als bei den Geldleistungen, da der Anreiz geringer ist.251 Die gesetzgeberischen Strategien zur Prävention von Leistungsmissbrauch sind vielfältig. Zumeist steht der Missbrauch von Leistungen im Grundsicherungsrecht und der Arbeitsförderung im Fokus der Öffentlichkeit, wenn beispielsweise Transferleistungen neben so genannter Schwarzarbeit rechtswidrig erlangt werden. Anhaltspunkte für einen Leistungsmissbrauch ergeben sich häufig durch personenbezogene Datenabgleiche.252. Im Schwarzarbeitsgesetz ist der Terminus „Leistungsmissbrauch“ durch „Erschleichen von Sozialleistungen“253 ersetzt worden, was das tatsächliche Geschehen beim Leistungsmissbrauch zutreffend beschreibt, nämlich dass jemand eine Leistung auf unredliche Weise erlangt, weil er lügt. Angesichts der verzerrenden Bilder, die mit den Begriffen „Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs“ verbunden sind, wäre es bedenkenswert, auch im Sozialrecht die Begrifflichkeiten durch „Erschleichen der Leistungen“ zu ersetzen.254 Von praktischer Relevanz ist der Leistungsmissbrauch auch in anderen Bereichen des Sozialrechts. Genannt sei nur das Vortäuschen einer Krankheit bei gleichzeitigem Bestehen der Arbeitsfähigkeit oder der so genannte Chip247  Nach§ 31a AO sind die Finanzbehörden verpflichtet, Sozialleistungsträgern Tatsachen mitzuteilen, die zur Aufhebung eines Verwaltungsaktes führen, auf Grund dessen Sozialleistungen erbracht worden sind. 248  Z. B. §  8 f. SchwarzArbG. 249  Siehe hierzu Bringewat, NStZ 2011, S. 131 (131 ff.). 250  Siehe hierzu die Untersuchung von Lamnek/Olbrich/Schäfer, Tatort Sozialstaat, 2000. 251  Ullrich, Soziologie des Wohlfahrtsstaates, 2005, S. 198. 252  Z. B. nach § 52 SGB II oder § 118 SGB XII. 253  § 9 SchwarzArbG. 254  So der Vorschlag von Rixen (in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 3. Aufl. (2013), § 64 SGB II, Rdnr. 2).

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

kartenhandel, also die Weitergabe der Versichertenkarte an nichtberechtigte Personen entgegen § 295 SGB V, der zu erheblichen finanziellen Schäden bei den gesetzlichen Krankenkassen führt.255 Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz256 wurden die Krankenkassen in § 15 Abs. 6 Satz 2 SGB V verpflichtet, Maßnahmen zur Eindämmung des Missbrauchs der Versichertenkarten zu ergreifen. Eine Identitätstäuschung soll durch ein Lichtbild verhindert werden, das nach § 291 Abs. 2 SGB V auf der elektronischen Versichertenkarte anzubringen ist. Die reale Verbreitung des Leistungsmissbrauchs und die tatsächlichen Kosten, die dem System der sozialen Sicherung hierdurch entstehen, sind weitgehend unbekannt. Zur Analyse dieses Phänomens und seiner Gründe als ein sozial deviantes Verhalten kann die Rechtswissenschaft nur wenig beitragen; dies ist anderen Disziplinen, wie der Kriminologie oder auch der Ökonomie, vorbehalten.257 III. Rechtsmissbrauch und Moral Hazard Die Figur des Rechtsmissbrauchs ist auch vom Phänomen des Moral Hazards zu unterschieden. Der Begriff des Moral Hazards258 entstammt ursprünglich der Versicherungswissenschaft und beschreibt eine Verhaltensänderung von Versicherungsnehmern wegen des Bestehens einer Versicherung.259 Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt die Verhaltensänderung des Versicherten eintritt, werden zwei Varianten des Moral Hazards unterschieden: Zum einen das ex-ante Moral Hazard, welches vor Eintritt des Versicherungsfalls auftritt. In dieser Variante führt die Existenz einer Versicherung zu einer höheren Schadenswahrscheinlichkeit, da sich die relativen Opportunitätskosten eines Versicherten zur Vermeidung des Versicherungsfalls erhö255  Siehe für den empirischen Bereich Lamnek/Olbrich/Schäfer, Tatort Sozialstaat, 2000, S.  66 ff. 256  Gesetz vom 26.03.2007, BGBl. I, S. 378. 257  Siehe hierzu beispielsweise für den empirischen Bereich die Studie von Lamnek/Olbrich/Schäfer, Tatort Sozialstaat, 2000; für den ökonomischen Bereich Wimmert, Wirkungen der Beölkerungsentwicklung auf den Schattensektor sowie den Staatssektor in Deutschland, 2011. 258  Der Begriff wurde im 19. Jahrhundert bei der Untersuchung der Wirkung von Brandschutzversicherungen in den USA entwickelt. Es stellte sich heraus, dass die Schadenswahrscheinlichkeit bei Versicherten höher als bei Personen ohne Versicherung ist; siehe Wasem, SDSRV 52, S. 115 (116); teilweise wird das Phänomen des Moral Hazards auch als subjektives Risiko bezeichnet. Grundlegend für den Bereich der Gesundheitsökonomie Pauly, American Economic Review 1968, S. 531 (531 ff.). 259  Nell, Das moralische Risiko und seine Erscheinungsformen, in: Frankfurter Vorträge zum Versicherungswesen, S. 7 (8).



B. Abgrenzungen

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hen.260 Beispielsweise hat der Versicherte keinen finanziellen Anreiz, sein gesundheitsgefährdendes Verhalten einzuschränken oder eine mit hohen Risiken verbundene Sportart nicht auszuüben.261 Ein ökonomischer Ansatz, dem ex-ante Moral Hazard entgegenzuwirken, kann darin bestehen, finanzielle Anreize für die Förderung gesundheitsbewussten oder gefahrvermeidenden Verhaltens zu setzen.262 Zum anderen tritt das Moral Hazard als ex-post Variante während bzw. nach dem Eintritt des Versicherungsfalls auf, da sich die Opportunitätskosten der Schadensbehebung verkleinern.263 Wenn die Kosten, die durch einen Versicherungsfall entstehen, von einer Versicherung getragen werden, besteht ein erhöhtes Risiko, dass der Versicherte mehr Leistungen nachfragt, als er objektiv – oder ohne eine Versicherung – benötigt. Ein ökonomischer Anreiz, das ex-post Moral Hazard zu reduzieren, ist vor allem eine prozentuale Selbstbeteiligung des Versicherten an den Kosten des Versicherungsfalls.264 Dieser Ansatz birgt jedoch zugleich das Risiko einer Verschlechterung der Risikoallokation.265 Die Verwirklichung des Phänomens des Moral Hazards lässt sich in allen Versicherungen, also auch in den Sozialversicherungen, in unterschiedlich starker Ausprägung beobachten.266 Als Grund für das Moral-Hazard-Phänomen wird ein Widerspruch zwischen Individual- und Kollektivinteresse in einer Versicherung angesehen.267 Für den einzelnen Versicherten ist es ratio260  Wasem,

SDSRV 52, S. 115 (116). wird auch bezweifelt, ob im Bereich der Krankenversicherung das ex-ante Moral Hazard überhaupt eine Rolle spielt, siehe Nell, Das moralische Risiko und seine Erscheinungsformen, in: Frankfurter Vorträge zum Versicherungswesen, S. 7 (25 f.). 262  Einen solchen Anreiz soll § 65a SGB V setzen, der es den Krankenkassen ermöglicht, an die Versicherten Boni bei gesundheitsbewusstem Verhalten zu zahlen; hierzu unter dem Aspekt des ex-ante Moral Hazards Wolf, Das moralische Risiko der GKV im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Eigenverantwortung, 2010, S. 256 ff. 263  Wasem, SDSRV 52, S. 115 (116). 264  Merten, NZS 1996, S. 593 (597); zum Beispiel soll die Beteiligung an den Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung nach § 29 Abs. 2 SGB V die Überinanspruchnahme kieferorthopädischer Behandlungen reduzieren, siehe hierzu unter dem Aspekt des Moral Hazards, Wolf, Das moralische Risiko der GKV im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Eigenverantwortung, 2010, S. 97 ff. 265  Nell, Versicherungsinduzierte Verhaltensänderungen von Versicherungsnehmern, 1993, S. 136 f. Um diesem Effekt entgegenzuwirken ist zu berücksichtigen, dass die optimale Höhe der Selbstbeteiligungsquote von den im Erkrankungsfall zu erbringenden Kosten abhängt. Nach Nell sollte die Selbstbeteiligung umso geringer ausfallen, je kostenintensiver die Behandlung ist; ebd. S. 133 ff. 266  Mahr, ZVersWiss 1977, S. 205 (230 ff.). 267  Wolf, Das moralische Risiko der GKV im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Eigenverantwortung, 2010, S. 168. Siehe für die gesetzliche Krankenversicherung die Untersuchung von Meusch, Moral Hazard in der gesetzlichen Krankenversi261  Allerdings

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

nal, möglichst stark von seiner Versicherung zu profitieren, für die Gemeinschaft der Versicherten ist eine hohe Inanspruchnahme von Leistungen jedoch schädlich. Das Phänomen des Moral Hazards tritt verstärkt auf, wenn die Versicherungsprämie erhöht wird. Aufgrund der in der Folge erhöhten Nachfrage nach Versicherungsleistungen kann wiederum eine weitere Prämienerhöhung notwendig sein, bei dem Versicherer tritt ein so genannter Rückkopplungs- oder Bajazzo-Effekt268 ein. Die deutsche Übersetzung des Begriffs des Moral Hazards als „moralisches Risikos“ birgt die Gefahr, hierunter die Verurteilung eines moralisch schlechten Verhaltens einer Person zu verstehen.269 Das Phänomen beschreibt jedoch nicht ein Fehlverhalten des Versicherungsnehmers, sein Verhalten ist durchaus legitim und rational, sondern eine Konsequenz aus einer falschen finanziellen Anreizstruktur der Versicherung.270 Das Phänomen des Moral Hazards ist ein versicherungswissenschaftliches Erklärungsmodell für die Überbeanspruchung von Versicherungsleistungen. Der Ansatz zielt darauf ab, Korrekturbedarf im System der Versicherung, nicht aber am Individuum aufzuzeigen.271 Mit Hilfe dieses Ansatzes können zum einen defizitäre Anreizstrukturen, die ein Trittbrettfahren in Versicherungssystemen begünstigen, identifiziert und durch eine Veränderung der Versicherungsbedingungen korrigiert werden. Zum anderen können die Erkenntnisse bei der Ausgestaltung von gesetzlichen Regeln zur Prävention von Missbrauch von Versicherungsleistungen genutzt werden. Auf diese Weise können Anreizstrukturen geschaffen werden, die einem vom System nicht intendierten Überentnahmeverhalten von Versicherten entgegenwirken sollen.272 cherung in politikwissenschaftlicher Perspektive, 2011; für die soziale Pflegeversicherung die Untersuschung von Moayedi, Moral Hazard in der gesetzlichen Pflegeversicherung nach SGB XI, 2008. 268  Hinter dieser Annahme steht das Motiv, dass man von erheblichen Ausgaben auch einen Nutzen haben will, weswegen dieses Phänomen auch als Bajazzo-Effekt bezeichnet wird. In der Oper von Leoncavallo „Der Bajazzo“ singt der betrogene Ehemann Bajazzo: „Man hat bezahlt ja ‑ will lachen fürs Geld.“ Trotz seiner tiefen Verletzung muss er spielen, da die Zuschauer Eintritt bezahlt haben; siehe Mahr, ZVersWiss 1977, S. 205 (212 f.). 269  Um diese Irritation zu vermeiden, wird die international gebräuchliche Bezeichnung Moral Hazard im Rahmen dieser Arbeit verwendet. 270  Wasem, SDSRV 52, S. 115 (117). 271  Wolff, Trittbrettfahren im System sozialer Sicherung, in: Engel (Hrsg.), 1998, S. 247 (250). 272  Wasem weist darauf hin, dass z. B. bei einer Selbstbeteiligung an Behandlungskosten das Risiko einer Unterinanspruchnahme von Leistungen besteht, was ebenfalls langfristig die Kosten für die Versichertengemeinschaft erhöhen kann. Es handle sich daher letztlich um eine gesellschaftliche Wertentscheidung, ob eher eine Über- oder Unterinanspruchnahme des Systems erfolgen soll (in: SDSRV 52, S. 115 [125]).



C. Exemplarische Fallkonstellationen

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Allerdings handelt es sich bei dem Phänomen des Moral Hazards nicht um einen juristischen, sondern um einen ökonomischen Ansatz. Die gemeinsame Schnittmenge bildet die Frage, inwieweit Gestaltungsspielräume auch entgegen der Intention eines Versicherungssystems genutzt werden können. Aus juristischer Perspektive sind die Zulässigkeit und die Grenzen rechtlicher Gestaltungen im Sozialrecht aufzuzeigen. Bei der ökonomischen Betrachtung des Phänomens des Moral Hazards wird das Verhalten des Individuums als rational angesehen; bei der Figur des Rechtsmissbrauchs wird dem Individuum hingegen ein missbräuchliches Handeln unterstellt. Die Untersuchung des Phänomens des Moral Hazards dient primär dazu, Schwächen eines Versicherungssystems aufzuzeigen. Die Figur des Rechtsmissbrauchs ist auf Einzelkonstellationen gerichtet. Allerdings können diese auch, vor allem wenn sie vermehrt auftreten, auf Reformbedarf im Regelungssystem hinweisen. Insofern indizieren sowohl das Phänomen des Moral Hazards als auch die Figur des Rechtsmissbrauchs Defizite in Regelungssystemen, obgleich die analytische Perspektive eine andere ist. IV. Anwendungsbereich der Figur des Rechtsmissbrauchs Für die Figur des Rechtsmissbrauchs verbleibt neben der Rechtswidrigkeit und dem Leistungsmissbrauch nur ein enger Anwendungsbereich. Da eine positive Definition des Rechtsmissbrauchs nicht möglich ist, unterbleibt im Rahmen dieser Arbeit ein solches Unterfangen. Es wird davon ausgegangen, dass es sich um eine Rechtsfigur handelt, die in unterschiedlichen Kontexten zur Anwendung gelangt. Um möglichst vielfältige Verwendungsarten der Rechtsfigur einbeziehen zu können, werden Fallgruppen herangezogen, in denen direkt oder implizit auf den Rechtsmissbrauch oder die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens rekurriert wird. Erfasst werden dabei auch kreative Gestaltungen, die normative Spielräume ausfüllen, um Leistungen zu erlangen oder Beitragslasten zu vermeiden.

C. Exemplarische Fallkonstellationen Im Folgenden werden exemplarisch verschiedene Fallkonstellationen aus dem Bereich der Sozialversicherung, dem Existenzsicherungsrecht und dem sonstigen materiellen Sozialrecht untersucht. Anhand der Fallkonstellationen wird die Funktion der Figur des Rechtsmissbrauchs analysiert. Es werden die dahinterstehende rechtliche Konstruktion sowie die Probleme, die mit der Rechtsfigur verbunden sind, aufgezeigt. Durch diese deduktive Vorgehensweise sollen typische Problemfelder benannt werden, die mit der Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht verbunden sind.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

I. Sozialversicherung Die Sozialversicherung ist ein öffentlich-rechtlich organisiertes Vorsorgesystem, das auf Versicherungszwang beruht, vorrangig durch das Beitragsaufkommen der Versicherten finanziert wird und typische Lebensrisiken absichert.273 Mit Ausnahme der Unfallversicherung, in der das Kausalitätsprinzip gilt, werden die Leistungen der Sozialversicherung grundsätzlich unabhängig von der Ursache des Eintritts des Versicherungsfalls erbracht.274 Charakteristisch für die Sozialversicherung sind der sich aus dem Sozialstaatsprinzip ergebende Grundgedanke des sozialen Schutzes sowie das Solidarprinzip.275 1. Die Figur des missglückten Arbeitsversuchs Der Leading Case zur Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialversicherungsrecht ist der so genannte missglückte Arbeitsversuch, der durch richterliche Rechtsfortbildung entwickelt und schließlich mit Einführung des SGB V276 von der Rechtsprechung wieder aufgegeben worden ist. Von Relevanz für die Anwendung des missglückten Arbeitsversuchs waren vor allem zwei Konstellationen, nämlich Personen, die gar nicht gegen Krankheit abgesichert waren, sowie Personen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung preiswerter als in der privaten Krankenversicherung versichert sein wollten. Zum einen lässt sich an dieser zu einem Klassiker des Sozialrechts gewordenen Rechtsfigur die Missbrauchsproblematik im Sozialversicherungsrecht gut aufzeigen, zum anderen taucht die Figur des missglückten Arbeitsversuchs – mittlerweile freilich zumeist ohne Namensnennung – nach wie vor immer wieder in der Rechtsprechung auf.277 a) Problemstellung Entgeltlich beschäftigte Personen sind nach §§ 7 Abs. 1 SGB IV, 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V kraft Gesetzes in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Die Versicherungspflicht beginnt gemäß § 186 Abs. 1 SGB V mit dem Tag des Eintritts in ein Beschäftigungsverhältnis, worunter in der Regel die tatsächliche Arbeitsaufnahme zu verstehen ist.278 Ein Beschäftigungsver273  Axer,

in: Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), 2012, § 14, Rdnr. 1. in: Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), 2012, § 16, Rdnr. 12 ff. 275  Papier, in: Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), 2012, § 3, Rdnr. 12 f. 276  Gesetz vom 20.12.1988 (BGBl. I, S. 2477). 277  Z. B. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.05.2011 – L 10 KR 52/07 –. 278  Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB, 07/15, § 186 SGB V, Rdnr. 11. 274  Schmitt,



C. Exemplarische Fallkonstellationen

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hältnis ist aber auch dann anzunehmen, wenn bei einem wirksamen Arbeitsverhältnis auf Grund einer Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers keine Arbeit geleistet wird.279 Von der Pflichtversicherung für beschäftigte Personen gibt es eine Reihe gesetzlich geregelter Ausnahmen. Der Beschäftigte kann mangels sozialer Schutzbedürftigkeit gemäß § 6 SGB V kraft Gesetzes versicherungsfrei sein280 oder sich bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 8 SGB V von der Versicherungspflicht befreien lassen.281 Neben den gesetzlich geregelten Ausnahmen sollte eine weitere Ausnahme von der Versicherungspflicht in den Fällen des so genannten missglückten Arbeitsversuchs bestehen. Erstmals hatte sich das BSG mit dieser Problematik im Jahre 1959 zu befassen.282 In dieser noch unter Geltung der Reichsversicherungsordnung getroffenen Entscheidung übernahm das BSG die vom Reichsversicherungsamt entwickelte Argumentation, dass ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zur Begründung der Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung nur dann vorliegt, wenn der Beschäftigte fähig ist, im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses wirtschaftlich bedeutsame Arbeit zu leisten.283 Wenn die Person bereits bei Aufnahme der Arbeit zu ihrer Verrichtung objektiv nicht fähig war oder sie die Arbeit nur unter schwerwiegender Gefährdung ihrer Gesundheit würde verrichten können, entstand keine versicherungspflichtige Beschäftigung.284 Die Rechtsfolge des missglückten Arbeitsversuchs bestand nicht in der Herausnahme einzelner Erkrankungen aus dem Versicherungsschutz, sondern im vollständigen Ausschluss der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung.285 Die Kriterien 279  Bei beschäftigten Personen begann bis zum 31.12.1997 die Mitgliedschaft mit Eintritt in die Beschäftigung. Seit der Änderung von § 186 Abs. 1 SGB V durch das Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen vom 06.04.1998 (BGBl I, S. 688) ist die zuvor noch verlangte tatsächliche Aufnahme der Beschäftigung nicht mehr erforderlich. 280  Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB, 06/12, § 6 SGB V, Rdnr. 23; zum Teil  wird die Versicherungspflicht in § 6 SGB V aber auch zum Schutz der Solidargemeinschaft ausgeschlossen. 281  Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB, 07/15, § 8 SGB V, Rdnr. 15 ff.; die Norm regelt die Fälle, in welchen die Wirkung der Versicherungspflicht von einer Willensentscheidung des Verischerten abhängig gemacht wird. 282  BSG, Urteil vom 08.07.1959 – 4 RJ 58/58 –. 283  RVA, Urteil vom 14.11.1930, EuM. Bd. 29, S. 37, 38; wenngleich sich diese Entscheidung, die häufig als Ursprung des missglückten Arbeitsversuchs angegeben wird, mit dem Eintritt der Versicherungspflicht für arbeitsunfähige Beschäftigte bei Inkrafttreten des KVG und in diesem Zusammenhang mit der Beendigung und nicht mit dem Beginn einer Beschäftigung befasst; siehe hierzu Bultmann, ZfS 1995, S. 217 (217 f.). 284  BSG, Urteil vom 16.10.1968 – 3 RK 8/65 –. 285  Vgl. BSG, Urteil vom 28.10.1982 – 8 RK 39/81 –.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

des BSG, die die Annahme eines missglückten Arbeitsversuchs begründeten, entsprechen inhaltlich der Definition der Arbeitsunfähigkeit im Krankenversicherungsrecht. Die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit erfolgt allein nach objektiven Kriterien, so dass es weder darauf ankam, ob der Arbeitnehmer von seiner Arbeitsunfähigkeit wusste, noch darauf, ob er die Beschäftigung allein aus dem Grund aufnahm, eine Absicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung zu erlangen.286 Der Missbrauchsvorwurf beim missglückten Arbeitsversuch setzte also kein intentionales, vorwerfbares Handeln des Arbeitnehmers voraus. Ab welchem Zeitraum eine Tätigkeit als wirtschaftlich ins Gewicht fallend anzusehen war und die Annahme eines missglückten Arbeitsversuchs trotz bestehender Arbeitsunfähigkeit ausschloss, blieb unklar, da das BSG keine feste Untergrenze festlegte, sondern die Frist unter Berücksichtigung des Einzelfalls nach Art, Dauer und Erfolg der Beschäftigung sowie ihrer wirtschaftlicher Bedeutung festlegte.287 Dies brachte eine erhebliche Rechtsunsicherheit mit sich.288 Die Figur des missglückten Arbeitsversuchs wurde auf zwei Begründungen gestützt: zum einen auf das Versicherungsprinzip, zum anderen auf die Notwendigkeit der Missbrauchsabwehr in der gesetzlichen Krankenversicherung. Kein am Versicherungsprinzip orientiertes Leistungssystem könne darauf verzichten, dass jeder Versicherte zumindest der Möglichkeit nach zugleich Leistungsempfänger und Beitragszahler sei.289 Ein Missbrauch wurde dann angenommen, wenn zu Beginn der Versicherungspflicht auf Grund der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers ein Ungleichgewicht von Leistungen und Beiträgen abzusehen war. Auf diese Weise sollte eine „missbräuchliche Ausnutzung“290 beziehungsweise „eine missbräuchliche Inanspruchnahme“291 der gesetzlichen Krankenversicherung verhindert werden. Der Anwendungsbereich des missglückten Arbeitsversuchs beschränkte sich von vornherein auf das SGB V, und zwar auf den Tatbestand der Ver286  BSG,

Urteil vom 16.10.1968 – 3 RK 8/65 –, Rdnr. 19. ergibt sich aus der Rechtsprechung nur eine vage Eingrenzung. So soll eine Arbeitsleistung von drei Wochen noch nicht wirtschaftlich ins Gewicht fallen (BSG, Urteil vom 22.02.1974  – 3 RK 30/73  –); während dies bei einer Arbeitsleitung von sechs Wochen der Fall sein soll (BSG, Urteil vom 27.04.1973 – 3 RK 55/70 –). Nach Wollenschläger/Löcher, SGB 1997, S. 137 (138) verwendet die Rechtsprechung die zeitliche Komponente als Korrektiv, um die Figur des missglückten Arbeitsversuchs den Grundsätzen von Treu und Glauben anzupassen. 288  Siehe Bultmann, ZfS 1995, S. 217 (224). 289  Vgl. etwa BSG, Urteil vom 11.05.1993 – 12 RK 36/91 –, Rdnr. 13; siehe Gagel, SGB 1985, S. 268 (270), diese Begründung sei von der tatsächlichen Situation schwer nachvollziehbar und nur aus dem Bedürfnis nach Schutz der Krankenkassen vor missbräuchlicher Inanspruchnahme zu verstehen. 290  BSG, Urteil vom 04.10.1973 – 3 RK 34/72 –. 291  LSG Bayern, Urteil vom 19.07.1961 – L 4/Kr 17/59 –. 287  Es



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sicherung wegen Beschäftigung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Bei anderen Versicherungstatbeständen wie etwa der Krankenversicherungspflicht der Rentner oder der Studierenden fehlte ein entsprechendes Institut.292 Eine Übertragung der Rechtsfigur auf die Unfallversicherung wurde abgelehnt, da es dem Zweck der Unfallversicherung und dem Haftungsersetzungsprinzip widerspreche, einen in den Betrieb des Unternehmers eingegliederten und tatsächlich Arbeit erbringenden Arbeitnehmer bei einem missglückten Arbeitsversuch vom Unfallversicherungsschutz auszuschließen.293 Vorerkrankungen des Arbeitnehmers könnten zudem im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung berücksichtigt werden.294 Zudem wurde ein Heranziehen der Rechtsfigur des missglückten Arbeitsversuchs auch nicht aus Gründen der Missbrauchsabwehr als erforderlich angesehen.295 Wegen der erforderlichen Warte- bzw. Anwartschaftszeit hatte die Figur des missglückten Arbeitsversuchs auch in der Renten- und Arbeitslosenversicherung keine Relevanz.296 Nachdem das BSG zunächst Zweifel an der weiteren Anwendbarkeit des missglückten Arbeitsversuchs angedeutet hatte,297 gab es die Rechtsfigur für die Zeit nach Inkrafttreten des SGB V298 schließlich auf: Die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung beginne unabhängig von bestimmten gesundheitlichen Voraussetzungen oder von Arbeitsfähigkeit gemäß § 186 Abs. 1 SGB V mit dem Eintritt in die Beschäftigung. Weder das Versicherungsprinzip noch der Gedanke der Missbrauchsabwehr könne die Existenz der Figur des missglückten Arbeitsversuchs rechtfertigen. Die entscheidende Passage des maßgeblichen Urteils lautet: „Sollte der Gesetzgeber der Auffassung sein, dass die Krankenkassen hiernach zu sehr mit eingebrachten Risiken belastet sind, kann er für die Versicherung selbst oder einzelne Leistungen (z. B. Krankengeld) Wartezeiten oder Risikoausschlüsse vorsehen.“299 Ein Ausschluss der am Beginn der Versicherung bestehenden Risiken auf der Leistungsseite sei gesetzlich ebenso wenig vorgesehen wie die „Abwehr“ von Personen, die nur geringe Beiträge entrichten, aber hohe Leistungsaufwendungen verursachen. Vielmehr habe die gesetzliche Krankenversicherung das ansonsten geltende versicherungstechnische „Äquivalenzprinzip“ allge292  BSG,

Urteil vom 24.10.1995 – 8 RKn 3/93 –, Rdnr. 20. Urteil vom 05.05.1998 – B 2 U 9/97 R –, Rdnr. 30. 294  BSG, Urteil vom 05.05.1998 – B 2 U 9/97 R –, Rdnr. 31 f.; Kretschmer, VSSR 1995, S. 171 (182). 295  Holstraeter, SGB 1999, S. 142 (146). 296  BSG, Urteil vom 24.01.1995 – 8 RKn 3/93 –. 297  BSG, Urteil vom 11.05.1993 – 12 RK 36/91 –. 298  Artikel 1 des Gesetzes vom 20.12.1988, in Kraft getreten am 1.1.1989. (BGBl. I, S. 2477). 299  BSG, Urteil vom 04.12.1997 – 12 RK 3/97 –. 293  BSG,

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

mein durchbrochen.300 Schließlich trage auch der Missbrauchsgedanke den missglückten Arbeitsversuch nicht, da es an einem subjektiven Element fehle, zumindest dann, wenn die Betroffenen nichts von ihrer Arbeitsunfähigkeit wüssten.301 b) Rechtliche Konstruktion Die Figur des missglückten Arbeitsversuchs war bereits unter der Geltung der RVO nicht unumstritten. Im Folgenden werden die Probleme aufgezeigt, die mit der Rechtsfigur verbunden waren. aa) Rechtsfortbildung durch ergänzende Auslegung Die Figur des missglückten Arbeitsversuchs war das Ergebnis einer richterlichen Rechtsfortbildung. Die Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V wurden damals um das Kriterium der Arbeitsfähigkeit des Beschäftigten ergänzt. Nach der herkömmlichen Methodenlehre handelt es sich um eine teleologische Extension.302 Die Rechtsfigur des missglückten Arbeitsversuchs wurde vor allem mit der Notwendigkeit der Missbrauchsabwehr in der gesetzlichen Krankenversicherung begründet; diese sei „ein Ausfluss des allgemeinen rechtsethischen Prinzips von Treu und Glauben“.303 Dagegen wurde eingewandt, dass es sich um eine Rechtsfortbildung contra legem,304 um eine „missglückte Rechtsfortbildung“, handele.305 Die mangelnden Abwehrmöglichkeiten der gesetzlichen Krankenversicherung vor schlechten Risiken könnten von dem Rechtsanwender als unbefriedigend beurteilt werden, berechtigten ihn jedoch nicht, den Gesetzeswortlaut durch eine ergänzende Auslegung zu korrigieren.306 Dieser Begründung führte auch das BSG bei der Aufgabe der Figur des missglückten Arbeitsversuchs an: Das SGB V enthalte, im Gegensatz zur Reichsversicherungsordnung, die für freiwillig Versicherte einen Leistungsausschluss bei bereits bestehenden Krankheiten vorsah und den Krankenkassen ermöglichte, 300  BSG,

Urteil vom 04.12.1997 – 12 RK 3/97 –. der mangelnden Vorwerfbarkeit lehnen auch Wollenschläger/Löcher, (in: SGB 1997, S. 137 [143]) bereits das Vorliegen eines Missbrauchs ab. 302  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 384 ff. 303  Peters, Rechtsfortbildung durch Richterrecht in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Entwicklung des Sozialrechts – Aufgabe der Rechtsprechung, 1984, S. 319 (325). 304  Preis, NZA 2000, S. 914 (922). 305  So der Titel des Aufsatzes von Wollenschläger/Löcher, SGB 1997, S. 137 (137). 306  Felix, SGB 2006, S. 743 (744). 301  Wegen



C. Exemplarische Fallkonstellationen83

Wartezeiten durch Satzung zu statuieren, keine Regelung, die den Eintritt der Versicherungspflicht von weiteren Voraussetzungen als der des Eintritts in die Beschäftigung abhängig mache.307 Bei der gesetzlichen Krankenversicherung werde bei Mortalitätsrisiken sowohl auf Leistungsausschlüsse als auch auf Risikozuschläge verzichtet.308 Auch systematische Argumente sprachen gegen die Rechtsfortbildung, da für die gesetzliche Krankenversicherung auf diese Weise ein bereichsspezifischer Beschäftigtenbegriff konstruiert wurde, was mit der Regelung des § 7 SGB IV nicht in Einklang zu bringen war. bb) Recht auf Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung Neben methodischen Fragen der Rechtsanwendung stand der Figur des missglückten Arbeitsversuchs das Gebot aus § 2 Abs. 2 SGB I entgegen, wonach eine möglichst weitgehende Verwirklichung sozialer Rechte erreicht werden soll. Hierzu gehört nach § 4 Abs. 1 SGB I auch der Zugang zur Sozialversicherung, der durch die Figur des missglückten Arbeitsversuchs gerade verhindert wurde.309 Dies war auch nicht durch das Versicherungsprinzip gerechtfertigt. Denn bei einer Risikobewertung ist das Risiko der Krankenkasse in den Fällen des missglückten Arbeitsversuchs verhältnismäßig gering: Zwar können krankheitsbedingt hohe Behandlungskosten entstehen, jedoch wird eine Krankheit entweder so weit geheilt, dass der Beschäftigte seiner Tätigkeit weiter nachgehen kann, oder der Versicherte scheidet krankheitsbedingt aus der Arbeit aus, was die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V entfallen lässt. Der zeitlich begrenzten Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung steht das Bedürfnis des Arbeitnehmers, gegen Krankheit versichert zu sein, gegenüber.310 Zudem führte die Rechtsfigur des missglückten Arbeitsversuchs zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit, da der Zeitraum, in dem trotz Tätigkeit keine Versicherungspflicht bestand, von der Rechtsprechung unterschiedlich bewertet wurde.311

307  So §§ 207, 310 Abs. 2 RVO; vgl. auch die Begründung des BSG zur Aufgabe des missglückten Arbeitsversuchs, BSG, Urteil vom 04.12.1997 – 12 RK 3/97 –. 308  Nur in § 8 Abs. 1 Satz 3 KSVG ist eine Ausnahme geregelt. Die Versicherungspflicht des arbeitsunfähigen selbständigen Künstlers oder Publizisten beginnt erst am Tag nach dem Ende der Arbeitsunfähigkeit. 309  Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL  78, Juni 2013, § 4 SGB I, Rdnr. 13. 310  § 7 SGB IV. 311  Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL  63, Oktober 2009, § 7 SGB IV, Rdnr. 17.

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cc) Vorbehalt des Gesetzes Die Rechtsfigur des missglückten Arbeitsversuchs war auch hinsichtlich des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) problematisch. Die Geltung des Gesetzesvorbehalts im Bereich der Leistungsverwaltung ist nicht unumstritten,312 im Sozialrecht ist er jedoch ausdrücklich normiert. § 31 SGB I verbietet es, Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen des SGB ohne gesetzliche Grundlage zu ändern oder aufzuheben. Der Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung ist ein soziales Recht im Sinne des § 4 SGB I. Durch die Figur des missglückten Arbeitsversuchs wurde dieses eingeräumte Recht ohne eine gesetzliche Grundlage aufgehoben. Der Ausschluss aus der gesetzlichen Krankenversicherung stellt eine so wesentliche Folge dar, dass eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist.313 Auch die Einordnung der Figur des missglückten Arbeitsversuchs als Gewohnheitsrecht im Sinne des § 31 SGB I war nicht überzeugend.314 Es fehlte sowohl an der zeitlichen Komponente, da die Rechtsfigur in ihrer konkreten Gestalt höchstens 35 Jahre lang angewandt wurde, als auch an der erforderlichen Anerkennung der Rechtsfigur in den beteiligten Kreisen.315 c) Relikte des missglückten Arbeitsversuchs Beschäftigungsverhältnisse zwischen Familienangehörigen sind besonders missbrauchsverdächtig, da es auf Grund des familiären Näheverhältnisses typischerweise an einem Interessengegensatz fehlt.316 Dies gilt vor allem dann, wenn ein Versicherungsfall in zeitlicher Nähe zur Begründung des Beschäftigungsverhältnisses eintritt.317 Es ergeben sich bei derartigen Beschäftigungsverhältnissen zum einen Abgrenzungsprobleme zur bloßen familienhaften Mitarbeit, die keine Versicherungspflicht begründet. Eine solche 312  Haverkate,

NVwZ 1998, S. 769 (769 ff.). SGB 1997, S. 137 (140). 314  Siehe Wollenschläger/Löcher, SGB 1997, S. 137 (140). 315  Siehe Wollenschläger/Löcher, SGB 1997, S. 137 (140). 316  Siehe BVerfG, Beschluss vom 14.04 1959  – 1 BvL 23/57, 1 BvL 34/57  –, Rdnr. 29, 31 sowie BVerfG, Urteil vom 24.01.1962  – 1 BvL 32/57  –, Rdnr. 80 ff., wonach an den Nachweis der Ernsthaftigkeit von Verträgen zwischen Ehegatten strengere Voraussetzungen gestellt werden können, allerdings dürfe die Möglichkeit eines Missbrauchs zivilrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten zwischen Ehegatten auch nicht überbewertet werden. 317  Wegen dieser Problematik muss nach § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV die Einzugsstelle von Amts wegen bei Beschäftigungsverhältnissen zwischen Angehörigen ein Klärungsverfahren zur Statusfeststellung einleiten; siehe Knospe, in: Hauck/Noftz, SGB, 07/08, § 7a SGB IV, Rdnr. 21. 313  Wollenschläger/Löcher,



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wird nach den Umständen des Einzelfalls angenommen, wenn die Tätigkeit ohne Eingliederung in den Betrieb und ohne die Gewährung von Arbeitsentgelt ausgeübt wird.318 Zum anderen finden sich nach der offiziellen Aufgabe der Figur des missglückten Arbeitsversuchs gerade in dieser Konstellation Relikte des Rechtsinstituts. In einem Urteil des LSG Sachsen-Anhalt heißt es zum Beispiel, ohne dass die Figur des missglückten Arbeitsversuchs benannt wird, es sei rechtsmissbräuchlich, wenn ein Arbeitsverhältnis allein oder ganz wesentlich zu dem Zweck begründet werde, Versicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung zu erlangen.319 Das Gericht führt aus: „Denkbar ist […] auch, dass die maßgebliche materielle Norm (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) – anders als etwa § 611 BGB im Arbeitsverhältnis – auf der Tatbestandsseite nicht lediglich einen Vertragsschluss erfordert, sondern sozusagen als ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal voraussetzt, dass ein die Versicherungspflicht auslösendes Beschäftigungsverhältnis nicht allein zur Erlangung des Versicherungsschutzes und ohne wirklichen Realisierungswillen in Bezug auf die wechselseitigen Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis eingegangen wurde.“320 Auch nach der Rechtsprechung des BSG soll keine Versicherungspflicht bestehen, wenn ein Scheinarbeitsverhältnis, also ein Scheingeschäft im Sinne von § 117 BGB vorliegt, bei dem ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorgetäuscht werden soll, um Krankenversicherungsschutz zu erlangen. Wenn die Umstände des Falles ein missbräuchliches Verhalten zu Lasten der Krankenkasse nahelegten, seien an den Nachweis der Tatsachen, welche die Versicherungspflicht begründen, strenge Anforderungen zu stellen.321 Dies verwundert insofern, als dass das Scheingeschäft gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass die Beteiligten die Folgen des Rechtsgeschäfts nicht eintreten lassen wollen.322 Bei Abschluss eines Arbeitsvertrags, auch wenn die vorrangige Intention der Vertragschließenden die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung ist, muss die Beschäftigung zumindest für einen kurzfristigen Zeitraum beabsichtigt sein, da sonst keine Versicherungspflicht begründet würde. Es liegt also gerade kein Scheingeschäft im Sinne von § 117 BGB vor, es wird vielmehr lediglich die Rechtsfolge missbil-

318  Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL  58, August 2008, § 7 SGB IV, Rdnr. 101a. 319  LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.05.2011 – L 10 KR 52/07 –, Rdnr. 21. 320  LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.05.2011  – L 10 KR 52/07  –, Rdnr. 25; alternativ stellt das Gericht darauf ab, dass es sich bei dem Rechtsmissbrauch, wie im Zivilprozess, um eine rechtsvernichtende Einwendung handele. 321  BSG, Urteil vom 29.09.1998 – B 1 KR 10/96 R –, Rdnr. 19. 322  Zum Scheingeschäft siehe nur Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 1, 6. Aufl. (2012), § 117 BGB, Rdnr. 1 ff.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

ligt.323 Maßgeblich sollen dann auch nach der Rechtsprechung die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls sein, die – gegebenenfalls unter Umkehr der Beweislast – aufzuklären und zu bewerten seien.324 Als entscheidungserhebliche Kriterien werden herangezogen, ob der mitarbeitende Familienangehörige in den Betrieb eingegliedert ist, er dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt, das Entgelt einen angemessenen Gegenwert für seine Arbeit darstellt und über einen freien Unterhalt oder eine Anerkennung für Gefälligkeiten hinausgeht, das Entgelt dem Angehörigen zur freien Verfügung ausgezahlt wird und die steuerliche und buchhalterische Behandlung des Entgelts für ein solches spricht.325 Von Bedeutung ist zudem, ob anstelle des Angehörigen eine fremde Arbeitskraft beschäftigt werden müsste.326 Entscheidend für die Beurteilung des Bestehens eines Beschäftigungsverhältnisses sind somit die tatsächlichen Gegebenheiten. Es wird geprüft, ob nach den Gesamtumständen ein Arbeitsverhältnis zu den üblichen Bedingungen zustande gekommen ist und vollzogen wird. Die herangezogenen Kriterien entsprechen denen eines Fremdvergleichs.327 Welche weiteren Motive dem Beschäftigungsverhältnis zu Grunde liegen, ist hierfür nicht von Relevanz. Der Fremdvergleich trägt durch seine kriterienbasierte Anwendung zu einer Rationalisierung und Objektivierung der Rechtsanwendung im Einzelfall bei und befreit die Beurteilung des Bestehens eines Beschäftigungsverhältnisses bei Angehörigen vom Missbrauchsvorwurf. Durch den Fremdvergleich können die entscheidungserheblichen Aspekte – losgelöst von der zivilrechtlichen Beurteilung des Arbeitsverhältnisses – sozialrechtlich bewertet werden. Eine darüberhinausgehende Missbrauchsabwehr bei Begründung von Beschäftigungsverhältnissen sieht das SGB V rechtlich nicht vor. Diese kann nur durch Änderungen der entsprechenden gesetzlichen Regelungen, beispielsweise durch das Einführen von Vermutungsregelungen, erreicht werden.328 323  In diesem Sinne auch Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 317 f. 324  BSG, Urteil vom 04.12.1997 – 12 RK 3/97 –, Rdnr. 33, 35. 325  Vgl. BSG, Urteil vom 23.06.1994  – 12 RK 50/93  –, Rdnr. 17 ff.; BSG, Urteil vom 25.09.2000 – B 1 KR 2/00 R –, Rdnr. 16 ff. 326  Vgl. BSG, Urteil vom 23.06.1994 – 12 RK 50/93 –, Rdnr. 18. 327  Auch hier zeigt sich eine Parallele des Sozialrechts zum Steuerrecht: § 41 AO kann der Grundsatz entnommen werden, dass nicht die zivilrechtliche Wirksamkeit von Rechtsgeschäften, sondern die tatsächliche Gestaltung des Sachverhaltes steuerrechtlich entscheidend ist. 328  Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 318 f., der die fehlende Möglichkeit zur Missbrauchsabwehr in der gesetzlichen Krankenversicherung als einen groben Verstoß gegen das Solidarprinzip ansieht, da der Solidargemeinschaft Fremdlasten aufgebürdet würden.



C. Exemplarische Fallkonstellationen

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d) Funktion des Missbrauchsarguments Wollte man die Rechtsfigur des missglückten Arbeitsversuchs in die zivilrechtliche Missbrauchsdiktion übersetzen, so handelt es sich um einen Institutsmissbrauch, da nicht an eine verhaltensbedingte individuelle Vorwerfbarkeit, sondern an einen Missbrauch des Instituts der Pflichtversicherung angeknüpft wurde.329 Durch die Figur des missglückten Arbeitsversuchs wurde der Eintritt der Versicherungspflicht faktisch von einer (wenn auch kurzen) Wartezeit abhängig gemacht. Das Einhalten von Wartezeiten ist eine klassische Strategie in der privaten Versicherungswirtschaft, um das Leistungsrisiko zu begrenzen.330 Mit der Figur des missglückten Arbeitsversuchs konnten besonders schlechte Versicherungsrisiken auf Grund bestehender Erkrankungen ausgenommen werden, um das Beitragsausfall- und Leistungsrisiko der gesetzlichen Krankenversicherung zu reduzieren331 Durch die Rechtsprechung wurde eine Einsparmöglichkeit für die gesetzliche Krankenversicherung geschaffen. Allerdings handelt es sich um eine rechtspolitische und nicht eine richterrechtlich zu treffende Entscheidung, da die gesetzliche Krankenversicherung weder Risikoselektion noch Leistungsausschlüsse bei Vorerkrankungen kennt.332 Bei der Einführung des SGB V hat der Gesetzgeber keine entsprechenden Regelungen bei der Versicherungspflicht für Beschäftigte aufgenommen.333 Die Aufgabe der Figur des missglückten Arbeitsversuchs nach der Einführung des SGB V berücksichtigt auch die sozialpolitische Entwicklung, den sozialen Schutz des Einzelnen zu Lasten des Versicherungsprinzips in den Vordergrund zu stellen. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung334 hat der Gesetzgeber dann schließlich die rechtspolitische Entscheidung getroffen, eine Versicherungspflicht – unabhängig vom gesundheitlichen Zustand der Person – in der privaten oder gesetzlichen Krankenversicherung für alle Personen ohne anderweitige Absicherung im Krankheitsfall verpflichtend einzuführen.335 Die Entwicklung 329  Zum

institutionellen Rechtsmissbrauch siehe Erster Teil, 1. Abschnitt, B. IV. 2. Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000,

330  Siehe

S. 319. 331  Preis, NZA 2000, S. 914 (922); Felix, SGB 2006, S. 743 (744). 332  § 7 SGB IV.  333  Eine solche Regelung findet sich in § 8 Abs. 1 Satz 3 KSVG, wonach die Versicherungspflicht erst an dem auf das Ende der Arbeitsunfähigkeit folgenden Tage beginnt. 334  Gesetz vom 26.03.2007, BGBl. I, 378 ff. 335  BT-Drs. 16/3100, S. 94; § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V, § 2 Abs. 1 Nr. 7 KVLG 1989, und § 193 Abs. 3 VVG. Für Krankenvollversicherer bestand gemäß § 315 SGB V ab dem 01.07.2007 ein Kontrahierungszwang im so genannten modifizierten

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

vom missglückten Arbeitsversuch hin zu einer Pflichtversicherung für jeden zeigt, wie eng der Gebrauch des Missbrauchsarguments mit rechtspolitischen Zielvorstellungen von sozialer Sicherung verbunden ist. 2. Die Gründung so genannter Missbrauchsaktiengesellschaften Im Gegensatz zur Figur des missglückten Arbeitsversuchs betrifft die Fallkonstellation der Gründung so genannter Missbrauchsaktiengesellschaften nicht das Erlangen von sozialem Schutz, sondern die Befreiung von der Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die dieser Fallkonstellation zu Grunde liegenden gesellschaftsrechtlichen Gestaltungen haben das Ziel, der Beitragsbelastung in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Grund der Pflichtmitgliedschaft zu entgehen. Ein „raus aus der Rente“336 erschien im Hinblick auf die negativen Prognosen der gesetzlichen Rentenversicherung für einkommensstarke Personen attraktiv. Die Analyse dieser Fallkonstellation dient als Beispiel für die Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs in der Eingriffsverwaltung.337 a) Problemstellung Im Regelfall tritt die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung ipso iure gemäß § 1 Nr. 1 SGB VI mit dem Eintritt in eine versicherungspflichtige Beschäftigung ein. Auch Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft sind Beschäftigte im Sinne von § 7 SGB IV.338 Nach der Rechtsprechung des BSG steht der Beschäftigteneigenschaft nicht entgegen, dass Mitglieder des Vorstandes von Aktiengesellschaften auf die Willensbildung in der Gesellschaft Einfluss haben und weitgehend weisungsfrei tätig sind.339 Standardtarif. Verträge zu diesem Tarif wurden zum 01.01.2009 gemäß § 193 Abs. 5 Satz 1 VVG und § 12 Abs. 1b VAG im Basistarif fortgeführt. Im Basistarif spielt der Gesundheitszustand des Versicherten keine Rolle. Durch eine Deckelung des Beitragssatzes auf den Höchstbetrag in der gesetzlichen Krankenversicherung soll die Bezahlbarkeit des Versicherungsschutzes gewährleistet werden. Siehe hierzu Musil, NZS 2008, S. 113 (113 ff.); Sodan, NJW 2007, S. 1313 (1319 f.). 336  So der Titel des Aufsatzes von Müller/Schulz, BB 2008, S. 2010–2015. 337  Die Versicherungspflicht und die damit verbundene Beitragsbelastung stellt einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG dar. Das BVerfG hat die Versicherungspflicht vor allem unter dem Aspekt von Art. 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG geprüft und dem Gesetzgeber bei der Festlegung des Personenkreises, der in die Versicherungspflicht einbezogen wird, einen weiten Beurteilungsspielraum eingeräumt; siehe BVerfG, Beschluss vom 14.10.1970 – 1 BvR 307/68 –, Rdnr. 44 ff. 338  Segebrecht, in: Kreikebohm, SGB VI, 4. Aufl. (2013), § 1 SGB VI, Rndr. 42. 339  BSG, Urteil vom 21.02.1990 – 12 RK 47/87 –, Rdnr. 11.



C. Exemplarische Fallkonstellationen89

Gemäß § 1 Satz 4 SGB VI in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung waren allerdings Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungsfrei.340 Die Versicherungsfreiheit von Vorständen von Aktiengesellschaften geht auf § 3 Abs. 1a AVG aus dem Jahre 1969 zurück.341 Der Sonderregelung lag das Bild einer Aktiengesellschaft als wirtschaftsstarkes, börsennotiertes Großunternehmen zu Grunde.342 Sie beruhte auf der Erwägung, dass Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft wegen ihrer herausragenden wirtschaftlichen und sozialen Stellung nicht des sozialen Schutzes der gesetzlichen Rentenversicherung bedurften.343 Vorstände einer Aktiengesellschaft ähnelten – trotz ihrer Beschäftigung – eher einem Selbständigen als anderen abhängig Beschäftigten, worin bezogen auf Art. 3 Abs. 1 GG der sachliche Grund für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung mit sonstigen beschäftigten Personen gesehen wurde.344 Die Versicherungsfreiheit wurde auch auf stellvertretende Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften und auf Vorstandsmitglieder von großen Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit angewandt.345 Sie betraf nicht nur die Tätigkeit als Vorstandsmitglied der Aktiengesellschaft, sondern erstreckte sich auch auf alle anderen sonstigen Beschäftigungen und selbständigen Tätigkeiten, auch wenn diese gegenüber der Vorstandstätigkeit den Schwerpunkt bilden.346 Die Ausdehnung der Versicherungsfreiheit beruhte auf der Annahme, dass sich die wirtschaftliche Situation des Vorstands einer Aktiengesellschaft durch Nebentätigkeiten noch verbesserte, weswegen er erst recht nicht sozial schutzbedürftig war.347 Auch wenn die Vorstandstätigkeit überhaupt nicht vergütet wurde, hat das BSG die Versicherungsfreiheit der „Ne340  Teilweise wird darauf abgestellt, dass Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft eine Personengruppe mit besonderem Status bilden, die sich nicht in die Terminologie „versicherungspflichtig“, „versicherungsfrei“ oder von der „Versicherungspflicht befreit“ einordnen lassen, so Bayer/Günzel/Hoffmann, SGB 2006, S. 397 (399). Diese terminologische Differenzierung überzeugt nicht, da durch § 1 Satz 4 SGB VI die an sich bestehende Versicherungspflicht wieder aufgehoben wird, weswegen im Folgenden die übliche Terminologie der Versicherungsfreiheit – auch bei Vorständen von Aktiengesellschaften – verwendet wird; so auch das BSG, EuGHVorlage vom 27.02.2008 – B 12 KR 5/07 R –, Rdnr. 11. 341  Eingefügt durch Art. 1 § 2 Nr. 2 des 3. RVÄndG vom 28.07.1969 (BGBl. I, S. 956). 342  Siehe Bayer/Günzel/Hoffmann, SGB 2006, S. 397 (398). 343  BSG, Urteil vom 22.11.1973 – 12/3 RK 20/71 –, Rdnr. 15 ff.; BSG, Urteil vom 31.05.1989 – 4 RA 22/88 –, Rdnr. 24; BSG, Urteil vom 26.03.1992 – 11 RAr 15/91 –, Rdnr. 18. 344  BSG, Urteil vom 18.09.1973 – 12 RK 5/73 –, Rdnr. 22. 345  BSG, Urteil vom 18.09.1973 – 12 RK 5/73 –. 346  BSG, Urteil vom 26.03.1992 – 11 RAr 15/91 –, Rdnr. 22. 347  BSG, Urteil vom 22.11.1973 – 12/3 RK 20/71 –.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

bentätigkeiten“ angenommen.348 Für die Herausnahme aus der Versicherungspflicht wurde bei § 1 Satz 4 SGB VI a. F. allein auf das objektive Kriterium des Innehabens eines Vorstandsamtes bei einer Aktiengesellschaft abgestellt. Die formalisierte Betrachtung sollte der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit dienen sowie die Rechtsanwendung vereinfachen.349 Wegen des mit dieser Typisierung verfolgten Zwecks wurde der Verzicht auf eine individuelle Prüfung der sozialen Schutzbedürftigkeit vom BSG als hinnehmbar erachtet.350 Jedoch hat das BSG die Pflicht des Gesetzgebers betont, die rechtstatsächliche Entwicklung zu beobachten und gegebenenfalls wegen Art. 3 Abs. 1 GG Anpassungen vorzunehmen, wenn auf Grund der veränderten Wirklichkeit die soziale Absicherung von Vorständen finanzschwacher Aktiengesellschaft in einer Vielzahl von Fällen nicht mehr gesichert ist.351 Im Zuge der Deregulierung und Liberalisierung des Aktienrechts hat sich der Rechtsträger Aktiengesellschaft erheblich verändert.352 Aktiengesellschaften sind nicht mehr allein kapitalstarke, börsennotierte Großunternehmen, sondern auch zahlreiche mittelständische und kleine Unternehmen.353 Denn nach den Reformen des Aktienrechts wird für die Gründung einer Aktiengesellschaft lediglich ein Haftungsfond in Höhe von 50.000 € benötigt,354 und damit besteht nur noch eine Mindestbareinlagepflicht von 12.500 € für alle Gründer insgesamt.355 Die formalisierte Betrachtung bei der Feststellung der Rentenversicherungsfreiheit, verbunden mit der Deregulierung im Aktienrecht, ermöglichte es abhängig Beschäftigten, durch die Gründung einer Aktiengesellschaft der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu entgehen. Hierfür reichte bereits eine offene Vorratsgründung aus, also eine Aktiengesellschaft, die sich auf die Verwaltung ihres eigenen Vermögens beschränkt356 und bei der die zuvor abhängig beschäftigten Gründer zugleich Mitglied des 348  BSG,

Urteil vom 26.03.1992 – 11 Rar 15/91 –. Urteil vom 27.03.1980  – 12 RAr 1/79  –, Rdnr. 21; BSG, Urteil vom 19.06.2001 – B 12 KR 44/00 R –, Rdnr. 21; BSG, Urteil vom 05.03.2014 – B 12 KR 1/12 R –, Rdnr. 22. 350  BSG, Urteil vom 27.03.1980 – 12 RAr 1/79 –, Rdnr. 21. 351  BSG, Urteil vom 19.06.2001 – B 12 KR 44/00 R –, Rdnr. 23. 352  Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts vom 02.08.1994 (BGBl. I, S. 1961). 353  Bayer/Günzel/Hoffmann, SGB 2006, S. 397 (400). 354  § 7 AktG. 355  § 36 Abs. 2 i. V. m. § 36a Abs. 1 AktG. 356  Zur rechtlichen Zulässigkeit von Mantel- oder Vorratsgründungen im Aktienrecht siehe BGH, Beschluss vom 16.03.1992 – II ZB 17/91, 6 ff.; Hüffer/Koch, Aktiengesetz (2016), § 23 AktG, Rdnr. 26. 349  BSG,



C. Exemplarische Fallkonstellationen91

Vorstandes wurden; denn dann waren sie bei sonstigen Beschäftigungen und selbständigen Tätigkeiten versicherungsfrei. Nachdem ein Finanzberatungsunternehmen, gestützt auf eine Anfrage an die ehemalige Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, welche die Rentenversicherungsfreiheit von Vorständen einer nur vermögensverwaltenden Aktiengesellschaft zunächst bestätigte,357 diese Gestaltungsmöglichkeit medienwirksam verbreitet hatte,358 kam es im Jahre 2003 vermehrt zur Errichtung derartiger Aktiengesellschaften. Daraufhin befassten sich die Spitzenverbände der Sozialversicherung mit dieser Gestaltung und formulierten als Beratungsergebnis: „Die Gründung einer Aktiengesellschaft zum Zweck der Umgehung der Rentenversicherungpflicht führt […] nicht zum Ausschluss der Rentenversicherungspflicht.“359 Die Verbände verständigten sich darüber, dass derartige Konstellationen rechtsmissbräuchlich seien und daher Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften in deren anderweitigen Beschäftigungen und selbständigen Tätigkeiten stets weiter als rentenversicherungspflichtig zu behandeln seien, da sie sozial schutzbedürftig seien.360 aa) Die Neuregelung zur Versicherungspflicht Auch der Gesetzgeber hielt diese Gestaltung für eine nicht hinnehmbare Disposition über die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und schränkte mit Wirkung zum 01.01.2004 die Versicherungsfreiheit von Vorständen von Aktiengesellschaften ein.361 Die Versicherungspflicht entfällt seitdem nur noch für die Beschäftigung als Vorstandsmitglied und die weiteren Beschäftigungsverhältnisse in dem Unternehmen, wobei Konzernunternehmen im Sinne von § 18 AktG als ein Unternehmen gelten. Daneben erzielte Einkünfte sind beitragspflichtig.362 Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass mit der Einschränkung „Missbrauchsfällen“ begegnet werden sollte, in welchen Aktiengesellschafhierzu Buczko, DAngVers (2004), S. 161 (166). Focus Money 44/2003, S. 58 ff. 359  Besprechung der Spitzenverbände der Krankenkassen, des VDR und der BA über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs am 30./31.10.2003 in Düsseldorf, Top 1, S. 3 ff; Indizien für einen Missbrauch sollen nach den Verbänden eine fehlende oder geringe Zahlung von Bezügen für die Vorstandstätigkeit sowie die Ausübung einer Beschäftigung in einem Unternehmen, das nicht Konzernunternehmen im Sinne von § 18 AktG ist, sein. 360  Ebda. 361  Zweites Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 27.12.2003 (BGBl. I, S. 301). 362  Seit der Neufassung entspricht die Regelung § 27 Abs. 1 Nr. 5 SGB III. 357  Siehe 358  Z. B.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

ten nur zu dem Zweck gegründet würden, den Vorstandsmitgliedern die Möglichkeit zu geben, nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu unterliegen. Die Gesetzesänderung sollte nach Auffassung des Gesetzgebers für die Praxis klarstellen, dass die Gründung solcher Aktiengesellschaften als Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten einzustufen und wegen Art. 3 Abs. 1 GG schon bei verfassungskonformer Auslegung des bisherigen Rechts unbeachtlich gewesen sein sollte.363 Zum Teil wurde zur Begründung dieses Ergebnisses auch § 42 AO entsprechend herangezogen.364 bb) Altfälle Aus Gründen des Vertrauensschutzes besteht jedoch gemäß § 229 Abs. 1a SGB VI für Beschäftigungen oder selbständige Tätigkeiten der Vorstandsmitglieder, die am Stichtag, dem 6.11.2003,365 bestanden hatten, weiterhin keine Versicherungspflicht. Kein Vertrauensschutz sollte nach der Gesetzesbegründung allerdings dann bestehen, wenn es schon nach dem vor dem Stichtag anzuwendenden Recht rechtsmissbräuchlich war, einen Ausschluss der Rentenversicherungspflicht wegen einer Umgehungsgestaltung anzunehmen.366 cc) Gründung einer (Vor-)Aktiengesellschaft am Stichtag Zwischen der Publikation der Gestaltungsmöglichkeit und der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes, dessen Tag als Stichtag für das Ende des Vertrauensschutzes festgelegt wurde, kam es zur Gründung zahlreicher Aktien­ gesell­schaften,367 deren Unternehmensgegenstand zumeist in der Verwaltung eigenen Vermögens bestand.368 Da diese Aktiengesellschaften noch nicht in das Handelsregister eingetragen waren, handelte es sich um Vor-Aktiengesellschaften. Es stellte sich die Frage, ob es zur Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung ausreichend sei, am Stichtag Vorstandsmit363  Vgl.

BT-Drs. 15/1893, S. 12. in: Lilge, SGB VI, 105. Lfg., § 1, S. 23. 365  Dies ist der Tag der 2./3. Lesung (vgl. Plenarprotokoll 15/72, S. 6128A ff.) des Gesetzesentwurfs (BT-Drs. 15/1893) des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 27.12.2003 (BGBl. I, S. 3013). 366  Vgl. BT-Drs. 15/1893, S. 12. 367  Nach der Auswertung von Bayer/Günzel/Hoffmann, SGB 2006, S. 397 (397) wurden von den 962 im Jahre 2004 eingetragen Aktiengesellschaften 255 (27 %) am 05.11.2004 oder 06.11.2004 (dem Tag der 2. bzw. 3. Lesung der Gesetzesänderung zur Versicherungspflicht von Vorständen von Aktiengesellschaften) als Vor-Aktiengesellschaften errichtet. 368  BT-Drs. 15/1893, S. 12. 364  Lilge,



C. Exemplarische Fallkonstellationen93

glied einer Vor-Aktiengesellschaft gewesen zu sein oder ob dies als Gestaltungsmissbrauch zu beurteilen war. Vor-Aktiengesellschaften sind nach der Rechtsprechung des BGH vollwertige Träger von Rechten und Pflichten und können am Rechtsverkehr teilnehmen.369 Mit der Eintragung ins Handelsregister tritt die Aktiengesellschaft in die Rechte und Pflichten der Vor-Aktiengesellschaft ein.370 Auch das BSG teilt diese Beurteilung der Vor-Aktiengesellschaft, stellt jedoch darauf ab, dass die Wertungen des Aktienrechts nur insoweit für das Sozialversicherungsrecht bindend seien, wie der Gesetzgeber hiervon nicht suspendiert habe. Durch die Typisierung sollte ein überprüfbares Angrenzungsmerkmal geschaffen werden, das eine einfache, sichere und gleichmäßigere Rechtsanwendung garantieren soll.371 Dieser Zweck wäre durch Ausdehnung der Regelung auf Vor-Aktiengesellschaften gefährdet.372 Das BSG stellt also weiterhin auf eine formale Betrachtung ab, nach der nur bestehende, das bedeutet bereits nach § 41 Abs. 1 Satz 1 AktG ins Handelsregister eingetragene Aktiengesellschaften von der Rentenversicherungspflicht befreit sind und von der Übergangsregelung des § 229 Abs. 1a SGB VI profitieren können. Für die Befreiung eines Vorstandes von der Rentenversicherungspflicht ist die Eintragung der Aktiengesellschaft in das Handelsregister somit konstitutiv. Das BSG ließ die Frage offen, ob die Gründung der Vor-Aktiengesellschafen missbräuchlich sei oder es sich um eine im Sozialrecht anzuerkennende Gestaltung handele. Die Abgrenzung der Versicherungspflicht von der Versicherungsfreiheit erfolgte nicht anhand der Figur des Rechtsmissbrauchs. Dazu führte das Gericht aus, dass sich die Konstellation der so genannten Missbrauchsaktiengesellschaften mit der neuen Rechtslage durch Zeitablauf erledigt hätte. Dieses scheint fraglich, da auch nach der neuen Gesetzeslage Gestaltungen denkbar sind, deren Zweck vorrangig darin besteht, der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu entgehen. Denkbar ist zum Beispiel, dass der Vorstand einer Aktiengesellschaft zugleich Geschäftsführer einer konzernzugehörigen GmbH ist, welche die Aktiengesellschaft zu 100 % beherrscht, und sich die Tätigkeit als Vorstand darauf beschränkt, seiner Geschäftsführertätigkeit innerhalb der GmbH nachzugehen.373

369  BGH,

Beschluss vom 16.3.1992 – ZB 17/91 –, Rdnr. 4 ff. in: Spindler/Stilz, 3. Aufl. (2015), § 41 AktG, Rdnr. 34. 371  BSG, Urteil vom 05.03.2014 – B 12 KR 1/12 R –, Rdnr. 22. 372  BSG, Urteil vom 9.8.2006 – B 12 KR 3/06 R –, Rdnr. 21 ff.; BSG, Urteil vom 05.03.2014 – B 12 KR 1/12 R –, Rdnr. 22 ff. 373  Siehe zu dieser und weiteren Konstellationen Müller/Schulz, BB 2008, S. 2010 (2012 ff.). 370  Heidinger,

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

b) Bewertung des Missbrauchsvorwurfs Eine sozialrechtliche Nichtanerkennung der Gründung von Aktiengesellschaften wegen Rechtsmissbräuchlichkeit erscheint methodisch fragwürdig, weil sowohl aktien- als auch sozialrechtlich kein Verbot derartiger Gestaltungen besteht. Eine Regelung wie § 42 AO findet sich im Sozialrecht nicht.374 Normiert ist nur, dass nach § 46 Abs. 1 SGB I ein Leistungsberechtigter auf Leistung verzichten kann. Dieser Verzicht ist wiederum nach § 46 Abs. 2 SGB I unwirksam, wenn durch ihn Rechtsvorschriften umgangen werden. Zudem ordnet § 32 SGB I die Nichtigkeit von privatrechtlichen Vereinbarungen an, die zum Nachteil des Sozialleistungsberechtigten von den Vorschriften des SGB abweichen. Keine der angeführten Regelungen findet auf die dargestellte Fallkonstellation Anwendung. Auch eine analoge Anwendung von § 42 AO scheidet aus, da bereits keine Regelungslücke besteht. Wenn der Gesetzgeber eine derartige Regelung im Sozialrecht für nötig erachten sollte, kann er sie in das Sozialrecht aufnehmen, um optimierenden Gestaltungen im Sozialrecht ebenso wie im Steuerrecht entgegenzuwirken. Auch aus dem Gedanken der Einheit der Rechtsordnung lässt sich eine entsprechende Anwendung von § 42 AO nicht begründen. Der Argumentationsfigur der Einheit der Rechtsordnung liegt die Annahme zu Grunde, dass eine Wertenscheidung einer Teilrechtsordnung in anderen Teilrechtsordnungen zu berücksichtigen ist.375 Übertragen würde dies bedeuten, wenn im Steuerrecht eine Regelung existiert, nach der eine Umgehungsgestaltung unbeachtlich ist, so wäre auch im Sozialrecht eine solche Gestaltung unbeachtlich, ohne dass es hierfür einer entsprechenden gesetzlichen Regelung im Sozialrecht bedürfte. Neben der grundlegenden Kritik an der Einheit der Rechtsordnung als juristische Argumentationsfigur376 ist hiergegen einzuwenden, dass ein solcher Ansatz zum einen der Unterschiedlichkeit der einzelnen Teilrechtsgebiete nicht Rechnung trägt und zum anderen die aus Gründen der Gewaltenteilung erforderliche normative Bewertung durch den Gesetzgeber außer Acht lässt. Auch der methodische Ansatz aus dem Zivilrecht, Umgehungs- oder Gestaltungssachverhalte durch eine weitgehende Rechtsfortbildung zu behan­ deln,377 ist wegen des Gesetzesvorbehalts im Sozialrecht nicht gangbar. Vorzugswürdig erscheint die vom BSG vorgenommene eigenständige so­ zialrechtliche Betrachtung, die nicht auf die Figur des Rechtsmissbrauchs 374  Siehe

hierzu Erster Teil, 1. Abschnitt, C, III. Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 142 ff. 376  Grundlegend Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998. 377  Siehe hierzu Erster Teil, 1. Abschnitt, B. IV 4. 375  Felix,



C. Exemplarische Fallkonstellationen95

abstellt. Durch die formale Betrachtung ist eine Prüfung der Motive, die zur Gründung der Aktiengesellschaft führten, entbehrlich. Auch in der Neufassung der Regelung gibt der Gesetzgeber zwar in der Gesetzesbegründung die Missbrauchsbekämpfung als Zweck der Gesetzesänderung an, dieses hat aber in der Neufassung der Regelung keinen Niederschlag gefunden, so dass an der formalen Betrachtungsweise festzuhalten ist. Für eine darüberhinausgehende Bewertung derartiger Gestaltungen als Missbrauch bestehen keine normativen Anhaltspunkte und auch kein Bedarf. c) Funktion des Missbrauchsarguments Die Figur des Rechtsmissbrauchs hat in dieser Konstellation eine Durchgangsfunktion, nämlich die, bis zur Änderung der Regelung bestimmten Gestaltungen die rechtliche Anerkennung zu versagen. An diesem Beispiel zeigt sich, dass der Gesetzgeber im Sozialrecht – ebenso wie im Steuerrecht – in der Lage ist, gesetzliche Regelungen zügig zu modifizieren, wenn sie seiner Auffassung nach zweckwidrig genutzt werden. Änderungen der gesetzlichen Regelung bringen neue Gestaltungskonstellationen hervor, die wiederum einem Missbrauchsverdacht unterliegen. Auch dieses Phänomen ist aus dem Steuerrecht hinreichend bekannt. Bei den so genannten Missbrauchsaktiengesellschaften wird zwar die soziale Schutzbedürftigkeit der Vorstände von Aktiengesellschaften als Begründung für den Gestaltungsmissbrauch angeführt, diese spielt jedoch auf Grund der formalen Betrachtungsweise letztlich keine Rolle. Eine Disposition über die Rentenversicherungspflicht, die zum Verlust zahlungskräftiger Beitragszahler führt, erscheint als nicht hinnehmbar und aus diesem Grund missbräuchlich. Die Funktion des Missbrauchsarguments besteht vorrangig darin, Beitragsverluste für die gesetzliche Rentenversicherung zu verhindern. Die Beurteilung derartiger Fälle als unbeachtlicher Gestaltungsmissbrauch wird als ein Beitrag zur Stärkung der Solidarität innerhalb der Rentenversicherung angesehen, da es sich bei Vorständen von Aktiengesellschaften um „gute Risiken“ für die gesetzliche Rentenversicherung handelt, die zumindest kurzfristig ihre Liquidität steigern.378 Hinter der Missbrauchsdiskussion stehen somit letztlich wieder sozialpolitische Fragestellungen. Zum einen ist die Frage zu beantworten, ob die Versicherungsfreiheit von Vorständen von Aktiengesellschaften angesichts des liberalisierten Aktienrechts noch zeitgemäß ist – eine Differenzierung zwischen nicht versicherungspflichtigen Vorständen von Aktiengesellschaften und leitenden Angestellten auf Grund der wirt378  Hierbei ist mit in Betracht zu ziehen, dass langfristig wegen der Beiträge auch Leistungen zu erbringen und finanzieren sind.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

schaftlichen Stärke erscheint angesichts der Rechtswirklichkeit begründungsbedürftig.379 Zum anderen stellt sich die Frage, ob die finanzielle Lage der Rentenversicherung dadurch verbessert werden sollte, dass alle Einkommen der Beitragspflicht unterstellt werden. Die Figur des Rechtsmissbrauchs ist bei der Beantwortung dieser Fragestellungen nicht weiterführend. Das OLG München hat ausgeführt: „Die Verteilung der Lasten zwischen Sozialversicherungsträgern, Staat und der Eigenverantwortung des Bürgers befindet sich in ständiger Diskussion und erfährt laufend gesetzliche Änderungen. Diese Korrekturen bedeuten nicht, dass die mit ihnen unterbundenen Gestaltungsmöglichkeiten vorher gesetzeswidrig oder auch nur moralisch verwerflich gewesen sind. Das gilt auch für den Zeitraum zwischen der Verkündung und dem Inkrafttreten eines Gesetzes.“380 II. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Recht der Existenzsicherung Das Recht der Existenzsicherung ist darauf gerichtet, ein soziokulturelles Existenzminium, finanziert aus Steuermitteln, zu gewährleisten.381 Maßgebliche Strukturprinzipien sind das Bedarfsdeckungsprinzip, der Individualisierungsgrundsatz sowie grundsätzlich das Gegenwärtigkeits- und das Tatsächlichkeitsprinzip. Zudem ist das Existenzsicherungsrecht durch den Kenntnisund den Gesamtfallgrundsatz sowie das Subsidiaritätsprinzip geprägt.382 1. Verwirkung materieller Rechte a) Problemstellung Ursprünglich wurde das Rechtsinstitut der Verwirkung im Zivilrecht entwickelt.383 Auch im öffentlichen Recht ist die Verwirkung allgemein anerkannt.384 Teilweise wird zur Herleitung des Rechtsinstituts auf das Rechts379  Bayer/Günzel/Hoffmann,

SGB 2006, S. 397 (399 f.). München, Urteil vom 01.06.2006 – 1 U 2388/02 –, Rdnr. 92. 381  Kempny/Krüger, SGB 2013, S. 384 (384 ff.). 382  Siehe Grube (in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl (2014), Einleitung, Rdnr.  49 ff.); demnach lassen sich in den Leistungssystemen des SGB II und des SGB XII im Grundsatz dieselben Strukturprinzipien feststellen wie im früheren BSHG, wenngleich sich das Gewicht der Struktuprinzipien geändert habe. 383  Siehe hierzu Erster Teil, 1. Abschnitt, B. IV. 3. 384  Siehe BVerfG, Beschluss vom 26.01.1972  – 2 BvR 255/67  –, Rdnr. 18; Stich, DVBl. 1959, S. 234 (238); Bauer, Verw 23 (1990), S. 211 (211); Guckelberger, Die Verjährung im Öffentlichen Recht, 2004, S. 500 sowie de Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 246 f., wenngleich so380  OLG



C. Exemplarische Fallkonstellationen

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staatsprinzip als verfassungsrechtliches Fundament der Verwirkung rekurriert und die Verwirkung dem Vertrauensschutz zugeordnet,385 mit der Folge, dass nur Behörden Rechte verwirken können, da der Bürger nicht an das Rechtsstaatgebot gebunden ist. Alternativ wird die Verwirkung auch im öffentlichen Recht zumeist auf § 242 BGB direkt oder analog gestützt oder als allgemeiner Rechtsgedanke oder Rechtsgrundsatz benannt, mit der Folge, dass sowohl der Bürger als auch die Behörde materielle Rechte verwirken können.386 Kennzeichnend für eine Verwirkung ist, dass die Ausübung des verwirkten Rechts für die andere an dem Rechtsverhältnis beteiligte Seite nicht zumutbar ist, weil sie illoyal verspätet ist.387 Jedem Verwirkungseinwand liegt der Vorwurf eines rechtlich missbilligten Verhaltens zu Grunde.388 Die Verwirkung wird als Fall der missbräuchlichen Rechtsausübung,389 des Verbots des widersprüchlichen Verhaltens umschrieben390 oder auch als subsidiäres Bewertungskorrektiv bezeichnet.391 Die Verwirkung wird so definiert, dass „ein Recht dann nicht mehr ausgeübt werden darf, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen“.392 Dies sei insbesondere der Fall, „wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete ferner tatsächlich darauf vertraut hat, wohl Voraussetzungen als auch die dogmatische Herleitung der Verwirkung nicht eindeutig sind. 385  Stich, DVBl. 1959, S. 234 (235 f.); Püttner, VVDStRL 32 1973, S. 200 (213). 386  Siehe hierzu nur de Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 247 f., der die Übernahme der Verwirkung ins Verwaltungsrecht als Analogie zu richterlichen Regeln des Privatrechts begreift; kritisch zu § 242 BGB als Grundlage der Verwirkung Menzel, Grundfragen der Verwirkung, 1987, S. 27 ff. 387  Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, Allgemeiner Teil, 10. Aufl. (1973), S. 173, der das „dolose Element“ der Verwirkung hervorhebt; Blechschmidt, Die Verwirkung behördlicher Befugnisse unter besonderer Berücksichtigung des Gefahrenabwehrrechts, 1999, S. 23. 388  Menzel, Grundfragen der Verwirkung, 1987, S. 2. 389  de Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 248. 390  Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, Allgemeiner Teil, 10. Aufl. (1973), S. 172; BVerwG, Urteil vom 07.02.1974 – III C 115.71 –. 391  So Mittenzwei, NJW 1974, S. 1884 (1884); siehe auch Stich, DVBl. 1959, S. 234 (235), der die Subsidiarität der Verwirkung betont. 392  Z. B. BVerwG, Urteil vom 07.02.1974  – III C 115.71  –; Menzel, Grundfragen der Verwirkung, 1987, S. 131 f.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

dass das Recht nicht mehr ausgeübt würde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde“.393 Auch im Sozialrecht ist das Rechtsinstitut der Verwirkung anerkannt.394 Grundsätzlich können materielle Leistungsansprüche verwirkt werden. Das BSG sah die Verwirkung zunächst als einen außerordentlichen Rechtsbehelf an, „der nur mit allergrößter Vorsicht anzuwenden“ sei.395 Der Rechtsmissbrauch wurde als das Wesensmerkmal der Verwirkung benannt.396 In einer späteren Entscheidung heißt es, die Verwirkung sei ein „Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung“.397 In der aktuellen Rechtsprechung wird § 242 BGB i. V.m den Grundsätzen des Sozialrechtsverhältnisses als Grundlage der Verwirkung benannt.398 Die Leistungspflicht im Sozialrecht entfällt danach, „wenn der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben und dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen“.399 Bei der Verwirkung sind also – wie in den anderen Rechtsmissbrauchskonstellationen – die Verhältnisse des Einzelfalls entscheidend. b) Die Verwirkung materieller Ansprüche im Sozialrecht Das BSG hatte sich mit einem Fall zu befassen, in dem der Antragsteller zwar wirksam einen Antrag auf Grundsicherung nach dem SGB II gestellt hatte, jedoch erst Monate später den ausgefüllten Antragsvordruck abgab. Es stellte sich die Frage, ob der Anspruch verwirkt war, da zwar ein Leistungsantrag vorlag, dieser jedoch über längere Zeit weder weiterbearbeitet noch vom Antragsteller angemahnt wurde. Die Vorinstanz sah den Anspruch des Antragstellers als verwirkt an, mit der Folge, dass der Leistungsanspruch entfallen sei.400 Der Kläger habe seit seiner Antragstellung nichts mehr getan, um seine Ansprüche weiter zu verfolgen, was als Verwirkungsverhalten 393  BVerwG, Urteil vom 07.02.1974  – III C 115.71  –; Menzel, Grundfragen der Verwirkung, 1987, S. 131 ff. 394  Bereits BSG, Urteil vom 22.03.1956 – 5 RKn 8/55 –, Rdnr. 33 ff. 395  BSG, Urteil vom 22.03.1956 – 5 RKn 8/55 –, Rdnr. 31. 396  BSG, Urteil vom 20.05.1958 – 2 RU 285/56 –, Rdnr. 23. 397  BSG, Urteil vom 25.01.1972 – 9 RV 238/71–, Rdnr. 17. 398  BSG, Urteil vom 28.10.2009 – B 14 AS 56/08 R –, Rdnr. 17. 399  BSG, Urteil vom 28.10.2009 – B 14 AS 56/08 R –, Rdnr. 17. 400  LSG Sachsen, Urteil vom 15.05.2008 – L 2 AS 123/07 –.



C. Exemplarische Fallkonstellationen99

bewertet wurde. Als Vertrauensgrundlage und Vertrauenstatbestand wurde die aktuelle Existenzsicherung durch Leistungen nach dem SGB II angesehen, die einer rückwirkenden Bewilligung der Leistung entgegenstünden.401 Die Unzumutbarkeit einer rückwirkenden Leistungsbewilligung wurde schließlich damit begründet, dass die mit dem Konzept des Förderns und Forderns verbundenen Verpflichtungen nachträglich nur noch einseitig zu Gunsten des Förderns realisierbar seien.402 Das BSG hat die Verwirkung des materiellen Leistungsanspruchs mit der Begründung abgelehnt, dass es nach einer wirksamen Antragstellung Aufgabe der Behörde sei, das Antragsverfahren weiter zu betreiben, bis dieses grundsätzlich mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes ende. Hierbei träfen den Grundsicherungsträger und den Antragsteller bestimmte korrespondierende Pflichten, wie fehlende Angaben zu ergänzen. Um diese Pflichten beim Antragsteller durchzusetzen, stünden dem Grundsicherungsträger die in § 60 ff. SGB I normierten Mitwirkungspflichten als Instrumente zur Verfügung. Eine Leistungsversagung könne nur dann erfolgen, wenn die Voraussetzungen von § 66 SGB I vorlägen und der zur Mitwirkung Verpflichtete nach Aufforderung und Fristsetzung seinen Pflichten nicht nachgekommen sei.403 Eine Verwirkung des Leistungsanspruchs kommt nach dem BSG bereits mangels einer Vertrauensgrundlage des Antragstellers nicht in Betracht. Denn der Grundsicherungsträger hatte es unterlassen, die Anschrift und Personalien des Antragstellers aufzunehmen und ihm lediglich ein gestempeltes Formular ausgehändigt. Schon ein solches Vorgehen sei nicht geeignet, besonderes Vertrauen zu begründen. Das BSG bezweifelt zudem, dass einem Träger der öffentlichen Verwaltung durch eine nachträgliche Leistungsgewährung ein unzumutbarer Nachteil entstehen könne.404 c) Rechtliche Probleme der Konstruktion Der Verwirkungseinwand gegen materielle Leistungsansprüche des Bürgers birgt die Gefahr, die Mitwirkungsregelungen nach §§ 60 ff. SGB I außer Acht zu lassen und die Last auf den Antragsteller zu verschieben. Dies widerspricht den Grundsätzen des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens. Nach dem Untersuchungsgrundsatz muss der Leistungsträger den Sachverhalt von Amts wegen (§ 20 SGB X) ermitteln. Das Verfahren muss von der Behörde fortgesetzt und zu einem Abschluss gebracht werden, auch wenn 401  LSG

Sachsen, Urteil vom 15.05.2008 – L 2 AS 123/07 –, Rdnr. 24. Sachsen, Urteil vom 15.05.2008 – L 2 AS 123/07 –, Rdnr. 25. 403  BSG, Urteil vom 28.10.2009 – B 14 AS 56/08 –, Rdnr. 16; so schon SG Hamburg, Urteil vom 10.12.1987 – 7 Ar 339/87 –. 404  BSG, Urteil vom 28.10.2009 – B 14 AS 56/08 –, Rdnr. 17. 402  LSG

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

der Antragsteller untätig bleibt.405 Nach § 66 Abs. 3 SGB I bedarf es zudem eines schriftlichen Hinweises auf die Folgen der mangelnden Mitwirkung. Zudem muss der Leistungsberechtigte die Gelegenheit bekommen, die versäumte Mitwirkungshandlung nachzuholen. Der Bürger kann also nach Einleitung des Verwaltungsverfahrens darauf vertrauen, dass ihm alle weiteren Erfordernisse mitgeteilt werden.406 Eine Verwirkung materieller sozialrechtlicher Ansprüche dürfte angesichts des Verhältnisses von Amtsermittlung und der Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten (§§ 16 Abs. 3, 60 ff. SGB I, 20, 21 SGB X) grundsätzlich nicht in Betracht kommen, da zumindest dann, wenn die Behörde Mitwirkungshandlungen nicht einfordert, bereits kein Vertrauensschutz entsteht. Zudem stellt sich das Problem, ob durch die Figur der Verwirkung die Verjährungsfristen verkürzt werden. Die Verwirkung unterscheidet sich von der Verjährung dadurch, dass der bloße Zeitablauf nicht genügt, um die Ausübung des Rechts als unzulässig anzusehen.407 Sozialrechtliche Ansprüche unterliegen gemäß § 45 Abs. 1 SGB I der Verjährung. Die Verjährungsfrist beträgt für alle Ansprüche vier Jahre, soweit keine abweichenden Sonderregelungen bestehen. Durch die schriftliche Antragstellung wird nach § 45 Abs. 3 SGB I die Verjährung des Antrags gehemmt. Dies gilt auch, wenn der Anspruch durch die Antragstellung erst entsteht, denn der Bürger hat mit der Antragstellung zunächst das seinerseits Erforderliche getan. Wie ausgeführt, ist der Sozialleistungsträger auf Grund des Amtsermittlungsgrundsatzes in der Pflicht, alles Weitere zu veranlassen und Mitwirkungshandlungen nach §§ 60 ff. SGB I einzufordern. Die Hemmung der Verjährung hätte zur Folge, dass, wenn die Behörde den Antrag nicht weiter bearbeitet, der Anspruch im Grunde nie verjähren würde. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, verlangt das BVerwG – zumindest bei abschnittsweise bewilligten Leistungen – eine mahnungsähnliche Handlung des Antragstellers nach Antragstellung, um die Hemmung der Verjährung in Gang zu setzen.408 Ursprünglich hat das BSG ebenfalls das Erfordernis einer derartigen Handlung angenommen, obgleich sich im Normtext hierfür keine Anhaltspunkte finden.409 Später hat das BSG die Notwendigkeit einer mahnungsähnlichen Handlung mit einer ähnlichen Begründung wie bei der Ablehnung der Verwirkung im Grunde verworfen, da es auf Grund des Amtsermittlungsgrundsatzes Aufgabe der Behörde sei, das Verfahren zu betreiben.410 405  Vgl.

BSG, Urteil vom 24.09.1992 – 9a RV 22/91 –. SGB I, 3. Aufl. (2012), vor §§ 60 bis 67 SGB I, Rdnr. 10. 407  BSG, Urteil vom 31.03.1981 – 2 RU 101/79 –, Rdnr. 22. 408  BVerwG, Urteil vom 20.02.1992 – 5 C 74/88 –, Rdnr. 15. 409  Vgl. BSG, Urteil vom 13.12.1984 – 9a RV 60/83 –, Rdnr. 15 ff. 410  BSG, Urteil vom 12.02.2004 – B 13 RJ 58/03 R –, Rdnr. 23 ff. 406  Lilge,



C. Exemplarische Fallkonstellationen101

d) Funktion des Missbrauchsarguments In dieser Fallgestaltung besteht die Funktion des Missbrauchsarguments darin zu verhindern, dass Leistungen nach dem Grundsicherungsrecht nachträglich gewährt werden, wenn das Verfahren vom Antragsteller nicht betrieben wird. Obgleich an sich ein fehlerhaftes Verhalten der Behörde vorliegt, die ihren Amtsermittlungspflichten nicht nachgekommen ist und keine Mitwirkungshandlungen eingefordert hat, wird dem Leistungsberechtigten entgegen dem austarierten gesetzlichen Regelungsprogramm ein Vorwurf gemacht. Zudem wird der Grundsatz der Sozialhilfe, nämlich keine Leistungen für die Vergangenheit zu gewähren, auf das SGB II übertragen, mit dem Argument, dass der Antragsteller trotz der Nichtgewährung der Leistung in seiner Notlage zurechtgekommen sei und es auf Grund dessen keiner nachträglichen Kompensation bedürfe. 2. Erbschaftsgestaltungen zu Gunsten von behinderten und bedürftigen Personen a) Problemstellung Zwischen dem Erbrecht und dem Recht der öffentlichen Fürsorge gab es historisch gesehen kaum Berührungspunkte. Typischerweise ließen es weder die Lebenswirklichkeit noch die rechtliche Ausgestaltung zu, dass Bezieher der Armenfürsorge Vermögen akkumulierten und innerhalb der Familie weiter vererbten.411 Der Wandel der öffentlichen Fürsorge zu einem Recht auf Existenzsicherung und die Ablösung der Aufbaugeneration des Wirtschaftswunders von der Erbengeneration412 haben allerdings zu Schnittstellenproblemen zwischen dem Erb- und Sozialrecht geführt; konkret geht es um die Frage, ob privatrechtliche Nachlassplanungen für so genannte Problem­kin­ der,413 also für Kinder, die behindert sind oder aus anderen Gründen Sozialleistungen beziehen, die darauf abzielen, einerseits dem bedürftigen Kind die Vorteile des Erbes zukommen zu lassen, andererseits ihm aber auch weiterhin die Möglichkeit des Sozialleistungsbezugs erhalten sollen, sozialrechtlich anzuerkennen sind. Hinter diesem Problem steht die grundsätzliche Frage, 411  Zur historischen Entwicklung siehe Doering-Striening, VSSR 2009, S. 93 (93 ff.). 412  Nach der Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge „Erben in Deutschland 2015–24“ werden bis zum Jahr 2020 2,6 Billionen des rund 9,4 Billionen Euro umfassenden Vermögensbestands der privaten Haushalte vererbt. 413  So der Titel des Buches von Kornexl, Nachlassplanung bei Problemkindern, 2006.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

inwieweit Wohlstand privatisiert werden darf, schicksalshafte Belastungen aber von der Allgemeinheit zu tragen sind.414 Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts finden sich kreative erbrechtliche Gestaltungen der Kautelarjurisprudenz, die darauf gerichtet sind, Erbschaftsverhältnisse in Familien mit einem behinderten Kind zu optimieren und das Spannungsverhältnis zwischen der von Art. 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Testierfreiheit des Erblassers und dem sozialrechtlichen Nachranggrundsatz zugunsten der Testierfreiheit aufzulösen. Die Gestaltungen verfolgen den Zweck, das Erbe möglichst dem Zugriff des Sozialleistungsträgers zu entziehen und dem behinderten Kind einen Lebensstandard zu verschaffen, der über dem der Grundsicherung bzw. dem der Sozialhilfe liegt, indem beispielsweise Urlaubsreisen oder medizinische Leistungen finanziert werden, die von den Trägern nicht gewährt werden.415 Zugleich soll die Substanz des Vermögens idealerweise auch nach dem Tod des behinderten Kindes in der Familie verbleiben.416 Derartige Gestaltungen haben unter der Bezeichnung „Behindertentestament“ einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt.417 Auch bei Beziehern von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II werden an das Behindertentestament angelehnte testamentarische Gestaltungen verwandt, um ihnen die Vorteile aus Erbschaften zu verschaffen, ohne dass sie auf die final an der Bedürftigkeit orientierten Sozialleistungen verzichten müssten. Derartige Gestaltungen werden als so genannte Bedürftigentestamente bezeichnet. Die Darstellung im Rahmen dieser Arbeit wird sich auf das so genannte Behindertentestament beschränken, da die dahinterstehenden Fragen bezogen auf die Missbrauchsproblematik bei dem Bedürftigentestament ähnlich gelagert sind.418 b) Erbrechtliche Gestaltung des Behindertentestaments Wenn die Eltern eines Kindes versterben, geht die Erbschaft nach §§ 1922, 1924 BGB im Wege der Universalsukzession auf das Kind über. Ist das Kind auf Grund seiner Behinderung oder aus anderen Gründen bedürftig, so muss es wegen des Nachranggrundsatzes419 grundsätzlich sein Einkommen 414  Köbl,

ZFSH/SGB 1990, S. 449 (465). ErbStB 2007, S. 114 (114). 416  Kleensang, RNotZ 2007, S. 22 (23). 417  Die Bezeichnung ist irreführend, da nicht die behinderte Person das Testament errichtet, sondern ihr das Erbe zugutekommen soll. 418  So auch im Grundsatz LSG Hamburg, Urteil vom 13.09.2012 – L 4 AS 167/10 –. 419  § 2 SGB II sowie § 2 SGB XII. 415  Stein,



C. Exemplarische Fallkonstellationen103

und Vermögen einsetzen, bevor es Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII beanspruchen kann.420 Selbst wenn die Eltern das bedürftige Kind enterben, würde sich hieran nichts ändern, da das Kind dennoch einen Pflichtteilanspruch nach § 2303 Abs. 1 BGG hätte. Der Pflichtteilanspruch des Kindes ist Bestandteil des nach § 90 SGB XII einzusetzenden Vermögens.421 Nach § 93 Abs. 1 Satz 1, 4 SGB XII kann der Sozialhilfeträger den Pflichtteilanspruch auf sich überleiten und in die Rechtsstellung des behinderten Kindes eintreten. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, sind bei der Konstruktion des Behindertentestaments unterschiedliche Gestaltungen denkbar. Im Folgenden wird die Lösung durch Vor- und Nacherbschaft mit Testamentsvollstreckung dargestellt, da diese in der Praxis am häufigsten gewählt wird.422 Das behinderte Kind wird Erbe mit einer Quote, die höher als sein Pflichtteil ist. Würde die Quote geringer sein, unterläge der Zusatzpflichtteil nach § 2305 BGB dem Zugriff des Sozialhilfeträgers.423 Wenn der Erbteil die Quote des Pflichtteils übersteigt, hat der Pflichtteilberechtigte gemäß § 2306 Abs. 1 BGB ein Wahlrecht, den höheren Pflichtteil mit den Beschränkungen anzunehmen oder das Erbe auszuschlagen und den vollen Pflichtteil anzunehmen. Das Ausschlagungsrecht ist ein höchstpersönliches Gestaltungsrecht und kein Anspruch. Eine Überleitung nach § 93 SGB XII ist daher nicht möglich.424 Im Testament setzen die Eltern das behinderte Kind als nicht befreiten Vorerben und einen nahen Angehörigen oder einen betreuenden Behindertenverein als Nacherben ein.425 Das behinderte Kind unterliegt als 420  Nach der Zuflusstheorie des BSG (z. B. BSG, Urteil vom 28.10.2009 – B 14 AS 62/08 R –, Rdnr. 21) kommt es auf den Zeitpunkt der Antragstellung an. Fällt die Erbschaft vor Antragstellung an, handelt es sich um Vermögen, bei einer Erbschaft nach Antragstellung hingegen um Einkommen. Nach Wahrendorf (in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, Kommentar, 5. Aufl (2014), § 90 SGB XII, Rdnr. 11) kommt es hingegen auch auf das ererbte Wertobjekt an; Grundvermögen sei seinem Wesen nach Vermögen. 421  Grube/Wahrendorf, SGB XII, Kommentar, 5.  Aufl (2014), § 90 SGB XII, Rdnr. 13. 422  In Betracht kommt auch eine Vor- und Nachvermächtnislösung mit Testamentsvollstreckung. Diese hat aber den Nachteil, dass wegen § 102 SGB XII der Nachvermächtnisnehmer nicht nur für die Verbindlichkeiten des behinderten Kindes haftet, sondern zudem einem Anspruch des Sozialhilfeträgers ausgesetzt ist (siehe Kleensang, RNotZ 2007, S. 22 [23 f.]). 423  Kössinger, R., in: Nieder/Kössinger, 5. Aufl. (2015), § 21, Rdnr. 77 ff. 424  Langenfeld, Testamentsgestaltung, 4. Aufl. (2010), Rdnr. 805; Kössinger, R., in: Nieder/Kössinger, 5. Aufl. (2015), § 21, Rdnr. 106 ff. 425  Je höher das zu vererbende Vermögen, desto weniger relevant ist die Bedeutung der Belastung durch Unterhaltskosten. Beim Behindertentestament handelt es sich somit um eine Gestaltung, die vorrangig vom Mittelstand gewählt wird; siehe hierzu Stein, ErbStB 2007, S. 114 (115).

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nicht befreiter Vorerbe den Verfügungsbeschränkungen der §§ 2113 ff. BGB. Wegen § 2115 BGB ist ein Gläubigerzugriff ausgeschlossen. Der nicht befreite Vorerbe erhält nur die Nutzungen des Nachlasses. Er kann nicht auf die Substanz zugreifen.426 Neben der Verfügung einer Vor- und Nacherbschaft wird regelmäßig die Testamentsvollstreckung für den Vorerben, d. h. das behinderte Kind, bis zu dessen Tode angeordnet,427 um nicht nur die Substanz, sondern auch die Früchte und Nutzungen des Vermögens vor einem Zugriff des Sozialleistungsträgers zu schützen. Der Testamentsvollstrecker wird in der Regel gemäß § 2216 Abs. 2 BGB angewiesen, aus den Nachlassfrüchten dem behinderten Menschen Vorteile zukommen zu lassen, die nicht auf die Sozialhilfeleistungen angerechnet werden.428 Durch die Testamentsvollstreckung wird außerdem gemäß § 2214 BGB ein Zugriff der Eigengläubiger des Vorerben auf die unter Verwaltung des Testamentsvollstreckers liegenden Nachlassgegenstände verhindert. Auch wenn der Nacherbfall eintritt, das behinderte Kind also verstirbt, können die Träger der Sozialhilfe nicht auf das Erbe zugreifen, da der Nacherbe nach § 2100 BGB Erbe des Erblassers und nicht der behinderten Person wird und aus diesem Grund nicht für Aufwendungen gemäß § 102 SGB XII haftet. c) Die Rechtsprechung des BGH zum Behindertentestament Während etwa das Landgericht Flensburg in einer derartigen Gestaltung noch eine „Manipulation“ sah, welche „dem Rechtsempfinden eines jeden billig und gerecht Denkenden“ widerspreche,429 betont der BGH bereits seit seinem ersten Senatsurteil in dieser Thematik, dass die Eltern eines behinderten Kindes ein berechtigtes Interesse daran haben, dem Kind ein Mehr an Annehmlichkeiten zukommen zu lassen, als es durch Leistungen der Sozialhilfe erhält, auch soweit dadurch der Träger der Sozialhilfe Kostenersatz nicht erlangt. Die Fürsorge der Eltern für das Wohl ihres behinderten Kindes über den Tod hinaus wird als sittliche Verantwortung angesehen.430 Im Anschluss an seine bisherige Rechtsprechung zum Behindertentestament hat der BGH in seiner Entscheidung vom 19.01.2011 klargestellt, dass ein Leistungsempfänger von seinem in § 2346 Abs. 2 BGB begründeten Recht Gebrauch machen darf, durch Rechtsgeschäft mit dem Erblasser schon 426  Kössinger,

R., in: Nieder/Kössinger, 5. Aufl. (2015), § 21, Rdnr. 90. BGB. 428  Z. B. Urlaubsreisen oder zusätzliche medizinische Leistungen; siehe Eichen­ hofer, JZ 1999, S. 226 (227); Sasse, JA 1996, S. 160 (163). 429  LG Flensburg, Urteil vom 01.09.1992 – 2 O 265/92 –. 430  Grundlegend BGH, Urteil vom 20.10.1993 – IV ZR 231/92 –. 427  § 2209



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die Entstehung des Pflichtteilanspruchs auszuschließen; darin sei kein sittenwidriger Verzicht zu Lasten des Sozialhilfeträgers zu sehen.431 Dies folge aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Privatautonomie. Davon ausgehend führt der BGH aus, dass die vom Gesetz bereitgestellten und somit erlaubten erbrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden dürfen.432 Ihre Unwirksamkeit als Ausnahme müsste begründet werden.433 Auch in Fällen etwaiger nachteiliger Wirkungen solcher Gestaltungsmittel zu Lasten der Allgemeinheit unterliege nicht das Rechtsgeschäft einer Rechtfertigung dafür, dass es nicht sittenwidrig sei, sondern müsse umgekehrt die Sittenwidrigkeit i. S. v. § 138 BGB positiv begründet werden.434 Zwar erkennt auch der BGH an, dass zivilrechtliche Gestaltungen, wenn sie darauf gerichtet sind, die Bedürftigkeit einer Person gezielt herbeizuführen, mit dem Nachranggrundsatz des Sozialhilferechts in Konflikt geraten können, nach denen nur staatliche Hilfe erhält, wer sich nicht selbst durch Einkünfte und Vermögen unterhalten kann.435 Dieser Nachrang sei allerdings im Sozialhilferecht selbst nicht strikt durchgehalten, sondern je nach Leistungsart durchbrochen.436 Für behinderte Menschen zeige sich dies insbesondere in der nur begrenzten Überleitung von Unterhaltsansprüchen gegenüber ihren Eltern. Gerade darin manifestiere sich das zum Nachrang gegenläufige Prinzip des Familienlastenausgleichs, welches im Fall behinderter Kinder die wirtschaftlichen Lasten zum Teil endgültig auf die Allgemeinheit überträgt.437 Wird der erbrechtliche Pflichtteilanspruch als Korrelat zur Unterhaltspflicht (der Eltern) verstanden, findet in der grundsätzlichen Anerkennung des Pflichtteilverzichts der Familienlastenausgleich seine Fortsetzung über den Tod der Eltern hinaus.438 d) Zivilrecht und Sozialrecht Obgleich die Gestaltung des Behindertentestaments vor allem wegen einer Umgehung des Nachrangrundsatzes im Sozialrecht erhebliche Kritik er­ fährt,439 hat auch die sozialrechtliche Rechtsprechung diese Gestaltung bisher 431  BGH,

Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10 –. Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10 –, 433  BGH, Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10 –, 434  BGH, Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10 –, 435  § 2 Abs. 1 SGB XII. 436  BGH, Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10 –, 437  BGH, Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10 –, 438  BGH, Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10 –, 439  Siehe Eichenhofer, JZ 1999, S. 226 (226 ff.); (459); Dutta, AcP 209 (2009), S. 760 (761 ff.). 432  BGH,

Rdnr. 18. Rdnr. 18. Rdnr. 18. Rdnr. 23. Rdnr. 23. Rdnr. 27. Köbl, ZfSH/SGB 1990, S. 449

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anerkannt. Erst dann, wenn die aus der Erbschaft erlangten Mittel zum Beispiel vom Testamentsvollstrecker freigegeben worden seien, könne ein Zugriff des Sozialhilfeträgers bei einem Übersteigen der Schonvermögensgrenze erfolgen.440 Offen gelassen wurde bisher, ob zumindest bei sehr großen Nachlässen eine Missbrauchsgrenze zu ziehen sei.441 Bei diesen soll zumindest dann eine Sittenwidrigkeit in Betracht kommen, wenn sowohl der Unterhalt des behinderten Kindes als auch die dem Kind zu gewährenden Vorteile gesichert seien.442 Eine derartige Grenze hat auch die Rechtsprechung in Erwägung gezogen, die Frage auf Grund der Höhe der zu beurteilenden Nachlässe jedoch bisher offen gelassen.443 e) Keine Umgehung ohne eine gesetzgeberische Entscheidung Beim Behindertentestament führt die von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte erbrechtliche Gestaltung durch die Eltern in der Folge dazu, dass der Anspruch des Kindes auf Sozialleistungen bestehen bleibt bzw. kein Rückgriff des Sozialhilfeträgers erfolgen kann. In seiner Entscheidung vom 19.01.2011 führt der BGH aus, dass trotz der langjährigen Diskussion über das Behindertentestament und der Vorschläge zu einer Gesetzesänderung, keine Reaktion des Gesetzgebers erfolgt sei, die entsprechenden Regelungen im Sozialrecht zu ändern.444 Es bestehe daher kein Grund, die bislang unterbliebene Erweiterung von Zugriffsmöglichkeiten gegenüber Eltern und Familien behinderter Kinder im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB richterrechtlich nachzuholen. Dies sei dem Gesetzgeber vorbehalten.445 Eine solche Entscheidung, nach der bestimmte testamentarische Gestaltungen nicht wirksam sind, ist auch auf Grund der Wesentlichkeitstheorie vom Gesetzgeber zu treffen.446 Im Rahmen der Einschätzungsprärogative wären 440  Vgl. LSG Hessen, Urteil vom 26.06.2013 – L 6 SO 165/10 –; BSG, Urteil vom 17.02.2015 – B 14 KG 1/14 R –. 441  Siehe beispielsweise VG Saarland, Urteil vom 21.01.2005  – 4 K 156/03  –, demnach komme eine Missbrauchsgrenze allenfalls in Betracht, wenn der Wert des Nachlasses eindeutig ausreiche, um während der unter normalen Umständen zu erwartenden Lebenszeit des Behinderten sowohl die Kosten seiner Heimunterbringung als auch diejenigen der ihm in den Verwendungsbestimmungen zugedachten Vorteile zu bestreiten und die Vergütung des Testamentsvollstreckers aufzubringen. 442  Krampe, AcP, 191. Bd (1991), S. 527 (560). 443  VG Saarland, Urteil vom 21.01.2005 – 4 K 156/03 –, Rdnr. 33; OVG Saarland, Urteil vom 17.03.2006 – 3 R 2/05 –, Rdnr. 62. 444  BGH, Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10 –, Rdnr. 40. 445  BGH, Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10 –, Rdnr. 41. 446  Vgl. BVerfG, Beschluß vom 03.02.1959 – 2 BvL 10/56 –; BVerfG, Beschluß vom 20.10.1981 – 1 BvR 640/80 –; BVerfG, Beschluß vom 03.11.1982 – 1 BvR 210/79 –.



C. Exemplarische Fallkonstellationen

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hierbei auch Erwägungen des Familienlastenausgleichs zu berücksichtigen. Denkbar wäre eine Abstufung nach der Größe des Nachlasses, beispielsweise durch eine Regelung von Freibeträgen oder Freigrenzen.447 Es handelt sich bei der Anerkennung von Behindertentestamenten im Ergebnis sozialrechtlich nicht um eine Frage, die durch § 138 BGB im Rahmen des Erbrechts zu lösen wäre. III. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im sonstigen Sozialrecht Schließlich werden noch Fallkonstellationen aus dem nach § 68 SGB I zum Sozialgesetzbuch gehörenden Gesetzen untersucht. 1. Der so genannte Missbrauch von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz a) Problemstellung Wenn einem Auszubildenden die für seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung erforderlichen finanziellen Mittel nicht anderweit zur Verfügung stehen, hat er nach § 1 BAföG einen Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung. Leistungen nach dem BAföG werden nach pauschalen Bedarfssätzen gewährt.448 Einkommen und Vermögen des Auszubildenden sowie Einkommen seiner Eltern und seines Ehegatten werden grundsätzlich auf den Bedarf des Auszubildenden angerechnet.449 Leistungen nach dem BAföG werden somit – auch gegenüber anderen Förderungsprogrammen – nur nachrangig gewährt. Das BAföG ist nach § 68 Nr. 1 SGB I besonderer Teil des SGB. Von besonderer – auch strafrechtlicher – Brisanz ist seit einigen Jahren der so genannte BAföG-Missbrauch.450 Denn seit 2001 können die Förderungsämter einen Datenabgleich mit der Steuerverwaltung durchführen und abfragen, in welcher Höhe Freistellungsaufträge für Kapitaleinkünfte von Auszubildenden tatsächlich in Anspruch genommen wurden. Bei einem hohen Freistellungsvolumen liegt die Vermutung nahe, dass das tatsächliche Vermögen des Auszubildenden höher ist als bei der Antragstellung im BAföG-AnEichenhofer, JZ 1999, S. 226 (232 f.). BAföG. 449  §§  21 ff. BAföG. 450  Zur strafrechtlichen Problematik des so genannten BAföG-Betrugs siehe Bohnert, NJW 2003, S. 3611 ff.; König, JA 2004, S. 497 ff.; Krapp, ZRP 2004, S. 261 ff.; sowie Vogel, JZ 2005, S. 308 (308 ff.). 447  Siehe

448  §§  11 ff.

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trag angegeben und der Bezug von Leistungen zu Unrecht erfolgte.451 Durch den Datenabgleich konnten zahlreiche Fälle des Leistungsmissbrauchs452 aufgedeckt werden, in denen ein Auszubildender wissentlich vorhandenes Vermögen im BAföG-Antragsformular nicht angegeben und deswegen unberechtigt Leistungen nach dem BAföG erhalten hat. Die Fälle werden als BAföG-Betrug nach § 263 StGB oder Ordnungswidrigkeit nach § 58 Abs. 1 BAföG strafrechtlich verfolgt.453 Parallel dazu ist die rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen nach dem BAföG auf Grund zivilrechtlicher Gestaltungen zu einem Dauerthema in der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung avanciert, wobei drei Fallgruppen besonders häufig auftreten: eine Vermögensübertragung des Auszubildenden vor Stellung des BAföG-Antrags, um das Vermögen nicht für die Finanzierung der Ausbildung zu verwenden, verdeckte Treuhandkonten, die auf den Namen des Auszubildenden angelegt wurden sowie verwandtschaftliche Darlehen, bei denen sich das Problem stellt, ob sie vom Vermögen des Auszubildenden abziehbar sind. b) Vermögensanrechnung im BAföG Die Anrechnung des eigenen Vermögens des Auszubildenden auf seinen Bedarf dient der Durchsetzung des Nachranggrundsatzes im BAföG.454 Nach dem Wortlaut von § 28 Abs. 2 BAföG ist bei der Bestimmung des Vermögens des Auszubildenden auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen. § 27 Abs. 1 BAföG definiert den förderungsrechtlichen Vermögensbegriff. Danach zählen zum Vermögen des Auszubildenden bewegliche und unbewegliche Sachen sowie Forderungen und sonstige Rechte. Nach § 28 Abs. 3 BAföG sind von der Wertbestimmung des Vermögens die im Zeitpunkt der Antragstellung bestehenden Schulden und Lasten der Auszubildenden abzu451  Es war strittig, ob die BAföG-Ämter einen Datenabgleich vornehmen durften. Aus diesem Grund wurde eine Rechtsgrundlage für den Datenabgleich in § 41 Abs. 4 BAföG geschaffen (eingefügt durch Art. 1 Nr. 13 des 21. BAföGÄndG, BGBl. I 2004, S. 3128). Auf Grund dieser dürfen die Ämter für Ausbildungsförderung überprüfen, ob und welche Daten nach § 45d Abs. 1 EStG dem Bundesamt für Steuern übermittelt worden sind. 452  Auf eine Anfrage der FDP-Fraktion antwortete die Bundesregierung, dass nach Einführung des Datenabgleichs bis zum 31.12.2004 bei 7 % der überprüften Anträge Missbrauch festgestellt worden ist. 45.226 Studentinnen und Studenten sowie 18 505 Schülerinnen und Schüler mussten ihr BAföG ganz oder in Teilen zurückzahlen. Die Rückforderungssumme betrug insgesamt 251,7 Mio. Euro (BT-Drs. 15/5807, S. 2). 453  § 263 StGB wird nicht durch § 58 Abs. 1 Nr. 1 BAföG verdrängt; hierzu BayOLG, Beschluss vom 23.11.2004 – 1St RR 129/04 –, Rdnr. 17. 454  Die Vermögensanrechnung ist in Abschnitt V (§§ 26–34 ff. BAföG) geregelt.



C. Exemplarische Fallkonstellationen109

ziehen. Dem Auszubildenden ist bis auf einen Freibetrag in Höhe von 5200 € grundsätzlich der gesamte Einsatz seines Vermögens für seine Ausbildung zuzumuten.455 Zur Vermeidung unbilliger Härten steht es nach § 29 Abs. 3 BAföG im Ermessen des Ausbildungsamtes, Vermögen zu schonen, das den Freibetrag übersteigt. Nach § 30 BAföG wird das den Freibetrag übersteigende Vermögen durch die Zahl der Kalendermonate des Bewilligungszeitraums geteilt und auf den Bedarf des Auszubildenden angerechnet.456 c) Fallgruppen aa) Übertragung von Vermögen vor Antragstellung Wenn der Auszubildende in einem der Antragstellung vorausgehenden Zeitraum Vermögen hat, welches den Freibetrag übersteigt, er jedoch bei der Antragstellung angibt, dieses nicht mehr zu haben, setzt er sich dem Verdacht aus, das Vermögen übertragen zu haben, um bedürftig im Sinne des Ausbildungsförderungsrechts zu werden. Missbrauchsverdächtig sind Vermögensübertragungen wegen eines Forderungsverkaufs, zur Erfüllung von Verbindlichkeiten oder Schenkungen, wobei gerade bei Schenkungen an Verwandte der Verdacht einer Manipulation naheliegt. Zivilrechtlich sind die Vermögensübertragungen des Auszubildenden grundsätzlich wirksam, wenn es sich nicht um bloße Scheingeschäfte im Sinne von § 117 BGB gehandelt hat.457 Der Auszubildende verfügt also zum relevanten Zeitpunkt der Antragstellung nicht über eigenes, den Freibetrag übersteigendes Vermögen. Jedoch wird ihm nach der Rechtsprechung unabhängig von der bürgerlich-rechtlichen Wirksamkeit der Vermögensübertragung der Wert des Vermögens weiterhin als fiktives Vermögen zugerechnet und auf seinen Bedarf angerechnet. Die fiktive Vermögensanrechnung wird mit der Figur des Rechtsmissbrauchs und der Subsidiarität der staatlichen Ausbildungsförderung begründet. In der Leitentscheidung des BVerwG heißt es dazu: „Steht diese Vermögensverfügung im Widerspruch zu dem mit der Vermögensanrechnung verfolgten Gesetzeszweck, dann kann der Auszubildende durch Ausschöpfen der nach bürgerlichem Recht zulässigen Gestaltungsmöglichkeiten nicht erreichen, dass ihm Ausbildungsförderung zuerkannt wird.“458 Die Vermögensanrechnung dient dazu, dem Nachranggrundsatz Geltung zu verschaffen. Der Auszubildende 455  § 29

Abs. 1 BAföG. 13 BAföG. 457  Im Steuerrecht ist nach § 39 Abs. 2 AO eine vom Zivilrecht divergierende Zuordnung von Vermögen nach wirtschaftlichen Aspekten möglich. Eine solche Regelung enthält weder das Ausbildungsförderungsrecht noch das sonstige Sozialrecht. 458  BVerwG, Urteil vom 13.01.1983 – 5 C 103/80 –, Rdnr. 22. 456  §§ 12,

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ist verpflichtet, sein vorhandenes Vermögen durch Veräußerung oder Belastung für seinen Bedarf einzusetzen, bevor er staatliche Mittel in Anspruch nimmt. Ein Widerspruch zu dem mit der Vermögensanrechnung verfolgten Gesetzeszweck soll daher stets dann bestehen, wenn der Auszubildende sein Vermögen ohne eine adäquate Gegenleistung überträgt, statt es für seine Ausbildung und seinen Lebensunterhalt zu verwenden. Eine zivilrechtliche Gestaltung, die drauf abzielt, die Subsidiarität staatlicher Ausbildungsförderung zu umgehen, wird daher als rechtsmissbräuchlich und förderungsrechtlich unbeachtlich beurteilt.459 Für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs ist es nach der Rechtsprechung nicht erforderlich, dass der Auszubildenden subjektiv verwerflich gehandelt hat.460 Die Motive für die Vermögensübertragung spielen somit grundsätzlich bei der Bewertung als rechtsmissbräuchlich keine Rolle;461 auch eine Übertragung des Vermögens an die Eltern wegen deren mangelnder wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ist rechtsmissbräuchlich.462 Der Rechtsmissbrauch wird durch die zeitliche Nähe der Vermögensverfügung zur Stellung des BAföG-Antrags indiziert.463 Nach dem VGH Bayern besteht eine hinreichender zeitlicher Zusammenhang noch bei neun Monaten zwischen Vermögensverfügung und Antragseingang;464 der VGH Baden-Württemberg hält den Auszubildenden hingegen nicht für verpflichtet, sein Vermögen schon sechs Monate vor Antragstellung für die baldige Ausbildung zu reservieren und nur noch im Notfall auszugeben.465 459  Grundlegend BVerwG, Urteil vom 13.01.1983 – 5 C 103/80 –. Der Rechtsprechung des BVerwG entspricht auch die Verwaltungsvorschrift 27.1.3a BAföG VwV, wonach Vermögenswerte auch dann dem Vermögen des Auszubildenden zuzurechnen sind, wenn dieser sie rechtsmissbräuchlich übertragen hat. Dies sei der Fall, wenn der Auszubildende in zeitlichem Zusammenhang mit der Aufnahme der förderungsfähigen Ausbildung bzw. der Stellung des Antrages auf Ausbildungsförderung oder im Laufe der förderungsfähigen Ausbildung Teile seines Vermögens unentgeltlich oder ohne gleichwertige Gegenleistung an Dritte, insbesondere seine Eltern oder andere Verwandte, übertragen hat. 460  A. A. VG Minden, Urteil vom 31.10.2007  – 6 K 1035/05  –, Rdnr. 29, das ein subjektives Element als kennzeichnend für den Rechtsmissbrauch ansieht. 461  Lediglich eine Gleichrangigkeit der Verwendungszwecke kann den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs entfallen lassen. Wenn beispielweise ein Spätheimkehrer seine Eingliederungshilfe statt für die Finanzierung seiner Berufsausbildung für die Schaffung einer Wohnmöglichkeit verbraucht, soll eine Gleichwertigkeit der Zwecke bestehen, da eine Ausbildung auch die Kosten der Unterkunft umfasst; BVerwG, Urteil vom 12.06.1986 – 5 C 65/84 –, Rdnr. 13. 462  VG Karlsruhe, Urteil vom 23.03.2005 – 10 K 4181/03 –. 463  BVerwG, Urteil vom 13.01.1983 – 5 C 103/80 –; VGH Bayern, Beschluss vom 20.05.2009 – 12 C 09.378 –. 464  VGH Bayern, Urteil vom 23.04.2008 – 12 B 06.1397 –, Rdnr. 32. 465  VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.02.1994 – 7 S 197/93 –.



C. Exemplarische Fallkonstellationen111

Hat der Auszubildende sein Vermögen zivilrechtlich wirksam übertragen, verstößt eine Anrechnung als fiktives Vermögen gegen den Wortlaut von § 28 Abs. 2 BAföG, wonach es für die Bestimmung des Vermögens des Auszubildenden auf den Zeitpunkt der Antragstellung ankommt. Auch der Umkehrschluss aus § 28 Abs. 4 BAföG, der regelt, dass Veränderungen zwischen Antragstellung und Ende des Bewilligungszeitraums unberücksichtigt bleiben, verdeutlicht erneut, dass nach dem Gesetz das bei der Antragstellung vorhandene Vermögen anzurechnen ist.466 Hat der Auszubildende sein Vermögen in Werte – wie Haushaltsgegenstände – umgewandelt, die gemäß § 27 Abs. 2 BAföG nicht als Vermögen gelten, kann er den Missbrauchsvorwurf entkräften.467 Die Figur des Rechtsmissbrauchs dient in dieser Konstellation dazu, dem Auszubildenden wirksam übertragenes Vermögen weiter zuzurechnen. Im Gegensatz zu anderen Bereichen des Sozialrechts enthält das BAföG keine Norm wie § 93 Abs. 1 Satz 1 SGB XII oder § 33 Abs. 1 SGB II, wonach Ansprüche wegen einer Verarmung des Schenkers übergeleitet werden. Im BAföG ist lediglich der Übergang von Unterhaltsansprüchen in § 37 BAföG geregelt. Das BAföG enthält auch keine Regelung wie § 34 SGB II oder § 103 SGB XII, wonach derjenige zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet ist, der durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten die Voraussetzungen für den Leistungsbezug selbst herbeigeführt hat.468 Durch die Figur des Rechtsmissbrauchs wird eine Lücke bei der Vermögensübertragung im Ausbildungsförderungsrecht geschlossen. Der Auszubildende, der in der Regel erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II ist, erhält keine Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts nach dem SGB II. Da er dem Grunde nach einen Anspruch auf BAföG hat, ist ein Anspruch nach § 7 Abs. 5 SGB II auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Ausnahme der Leistungen nach § 27 SGB II gesperrt.469 Auch Sozialgeld nach § 38 Abs. 2 SGB II kann der Auszubildende nicht beanspruchen. Der Anspruch ist ausgeschlossen, weil es keine dritte grundsicherungsrechtliche Säule der Ausbildungsförderung geben, sondern Ausbildungsförderung nach dem BAföG oder SGB III erfolgen soll.470 Wenn also 466  Loos,

FamRZ 2006, S. 836 (837). FamRZ 2006, S. 836 (837). Haushaltsgegenständen im Sinne von § 27 Abs. 2 Nr. 4 BAföG umfassen auch Gegenstände von nicht unerheblichem Wert; Humborg, in: Rothe/Blanke, BAföG, 31. Lfg., Mai 2009, § 27 BAföG, Rdnr. 15. 468  Siehe Loos, FamRZ 2006, S. 836 (838). 469  Wenn der Auszubildende nicht erwerbsfähig ist, scheitert ein Anspruch nach dem SGB XII an § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Allerdings besteht im Sozialhilferecht die Möglichkeit, in Härtefällen Leistungen als Darlehen oder Beihilfe zu gewähren (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). 470  Hierzu Spellbrink, SozSich 2008, S. 30 (30 f.). 467  Loos,

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die Vermögensübertragung zivilrechtlich wirksam ist und ein Rückforderungsanspruch des Auszubildenden nicht besteht oder nicht durchsetzbar ist, hat der Ausbildende weder Vermögen noch einen Anspruch auf andere Leistungen zur Finanzierung seines Lebensunterhalts.471 bb) Verdeckte Treuhandverhältnisse Vermögen, das den BAföG-Freibetrag übersteigt, wird bei dem Auszubildenden bedarfsmindernd angerechnet. Damit ein Auszubildender Vermögen aber für seine Ausbildung einsetzen kann, muss es ihm auch rechtlich zuzurechnen sein. Dies ist in den Fällen, in denen der Auszubildende angibt, Vermögen – meist für einen Verwandten – nur treuhänderisch zu verwalten, nicht unproblematisch. Durch eine solche Konstruktion soll häufig der Steuerfreibetrag des Auszubildenden genutzt werden, obgleich das Vermögen bei wirtschaftlicher Betrachtung einer anderen Person zuzuordnen ist.472 Bei einem Treuhandverhältnis überträgt der Treugeber dem Treuhänder Vermögensrechte. Die Ausübung der sich im Außenverhältnis ergebenden Rechtsmacht ist im Innenverhältnis jedoch nach Maßgabe der schuldrechtlichen Treuhandvereinbarung beschränkt. Der Treuhänder kann auch bei einer entgegenstehenden Treuhandvereinbarung im Außenverhältnis wirksam über das ihm übertragene Vermögen verfügen, da rechtsgeschäftliche Beschränkungen der Rechtsmacht des Treuhänders mit Wirkung gegen Dritte auf Grund von § 137 Satz  1 BGB keine Wirkung haben. Wenn die Treuhandvereinbarung gegenüber der Bank nicht offen gelegt wird, handelt es sich um ein verdecktes Treuhandverhältnis, bei dem in der Regel nicht nach außen ersichtlich ist, wer schuldrechtlich Berechtigter des Vermögens auf einem Konto ist. Nach außen scheint es hier so, dass das Treuhandvermögen dem Treuhänder gehört, etwa durch die Angabe des Treunehmers im Kontoeröffnungsantrag, auf eigene Rechnung zu handeln. Entweder kann die rechtliche Bindung des Auszubildenden durch das Treuhandverhältnis als vermögensmindernde Schuld im Sinne von § 28 Abs. 3 Satz 1 BAföG angesehen werden oder aber ein objektives Verwertungshindernis im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 2 BAföG begründen.473 Beides setzt jedoch voraus, dass das Treuhandverhältnis grundsätzlich überhaupt im 471  Loos,

FamRZ 2006, S. 836 (838). die Hinterziehung von Steuern der Hauptzweck der Treuhandvereinbarung, ist der Treuhandvertrag wegen Verstoßes gegen §§ 134, 138 BGB nichtig (BVerwG, Urteil vom 14.05.2009 – 5 C 20/08 –, Rdnr. 11; VG Stuttgart, Urteil vom 25.09.2009 – 11 K 2527/09 –, Rdnr. 39). 473  In Betracht kommt auch, das Treuhandverhältnis als objektives Verwertungshindernis im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 2 BAföG anzusehen. 472  Ist



C. Exemplarische Fallkonstellationen113

Ausbildungsförderungsrecht anerkennungsfähig ist. Dies ist sowohl von den Instanzgerichten als auch der Literatur – vor allem bei verdeckten Treuhandverhältnissen – unterschiedlich beurteilt worden. Nach Auffassung des VGH Bayern sind verdeckte Treuhandverhältnisse grundsätzlich im Ausbildungsförderungsrecht nicht anzuerkennen.474 Es sei widersprüchlich und somit rechtsmissbräuchlich, wenn der Auszubildende auf der einen Seite den Freistellungsauftrag für Kapitalerträge in Anspruch nehme und keine Einkommenssteuer entrichte und auf der anderen Seite bei der Beantragung von Leistungen nach dem BAföG sich auf eine nur treuhänderische Verwaltung des Vermögens berufe.475 Der Auszubildende müsse sich nach den Grundsätzen von Treu und Glauben an seinem ursprünglichen Verhalten und seiner ursprünglichen Erklärung festhalten lassen. Nach der neuen Rechtsprechung des BVerwG sind Treuhandabreden – auch verdeckte – bei der Bewilligung von Ausbildungsförderung anerkennungsfähig. Es gebe keinen zivilrechtlichen Grundsatz, wonach allein die Offenlegung des Treuhandverhältnisses über die Zuordnung des Vermögensgegenstandes entscheide. Für die Anerkennung des Treuhandverhältnisses muss eine zivilrechtlich wirksame Treuhandabrede vorliegen. Der Einwand des Rechtsmissbrauchs wird vom BVerwG mit der Begründung abgelehnt, dass nach der zivilrechtlichen Rechtsprechung kein widersprüchliches Verhalten vorliege, denn der Freistellungsauftrag betreffe nicht das ausbildungsförderungsrechtliche Verhältnis, sondern das Verhältnis zur Bank. An den Nachweis des wirksamen Treuhandverhältnisses legt das BVerwG allerdings einen strengen Maßstab an, da vor allem bei Verwandten die Gefahr des Missbrauchs solcher Abreden besteht.476 Der Auszubildende ist darlegungs- und beweispflichtig, wobei bei der Aufklärung alle Umstände des Einzelfalls zu würdigen sind.477 Für die Anerkennung müssen der Inhalt der Treuhandabrede und der Zeitpunkt des Vertragsschlusses dargelegt sowie ein plausibler Grund für den Vertragsschluss genannt werden.478 Zudem muss dargelegt werden, dass der Auszubildende das Treugut auch dann nicht verwerten darf, wenn er in eine finanzielle Notlage gerät oder nur durch die Verwertung des Treuguts seine Ausbildung finanzieren kann.479

474  VGH Bayern, Urteil vom 22.01.2007 – 12 BV 06.2105 –; so auch Roth, NJW 2006, S. 1707 (1709). 475  VG Düsseldorf, Urteil vom 31.01.2005  – 11 K 7239/03  –, Rdnr. 77, 89; VG Arnsberg, Urteil vom 09.11.2005 – 10 K 1598/04 –, Rdnr. 30. 476  BVerwG, Urteil vom 30.06.2010 – 5 C 2/10 –, Rdnr. 14. 477  BVerwG, Urteil vom 30.06.2010 – 5 C 2/10 –, Rdnr. 14. 478  BVerwG, Urteil vom 30.06.2010 – 5 C 2/10 –, Rdnr. 14. 479  BVerwG, Urteil vom 14.05.2009 – 5 C 20/08 –, Rdnr. 10.

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cc) Verwandtschaftliche Darlehen Nach § 28 Abs. 3 BAföG sind bestehende Schulden oder Lasten im Zeitpunkt der Antragstellung vom anrechenbaren Vermögen des Auszubildenden abzuziehen. Schulden sind rechtliche Verbindlichkeiten, insbesondere Zahlungsverpflichtungen des Auszubildenden. Bei einem Darlehen handelt es sich um abzugsfähige Schulden im Sinne von § 28 Abs. 3 BAföG, da der Darlehensnehmer verpflichtet ist, dem Darlehensgeber den Darlehensbetrag zurückzuerstatten.480 Lediglich das vom Auszubildenden bereits erhaltene BAföG-Darlehen ist nach § 28 Abs. 3 Satz 2 BAföG nicht abzugsfähig.481 Nach dem Wortlaut der Regelung sind somit auch Darlehen von Verwandten vom Vermögen des Auszubildenden abzuziehen. Auf Grund eines fehlenden natürlichen Interessengegensatzes zwischen Familienangehörigen wird jedoch das Risiko, zivilrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten förderungsrechtlich zu missbrauchen, als besonders hoch angesehen.482 Der Missbrauchsverdacht lautet, dass der Darlehensvertrag im Nachhinein nur behauptet wird, um Vermögen von der Anrechnung freizustellen, obgleich es sich in Wahrheit um eine verschleierte Schenkung oder freiwillige Unterhaltszahlung eines Verwandten an den Auszubildenden handelt.483 Ein Ansatz, der Gefahr des Missbrauchs von vermögensmindernden Darlehen bei Auszubildenden entgegenzuwirken, bestand darin, dass die Rückzahlung des Darlehens zum einen im Bewilligungszeitraum des BAföG erfolgen musste und zum anderen, das Darlehen nur dann anerkannt wurde, wenn es den objektiven Merkmalen eines für Angehörigendarlehen im Steuerrecht entwickelten (strikten) Fremdvergleich standhielt.484 Die Gestaltung des Vertrags und die Durchführung des Vereinbarten musste in allen wesentlichen Punkten dem zwischen Dritten üblichen entsprechen.485 Zumindest bei einer längeren Laufzeit musste der Rückzahlungsanspruch ausreichend gesichert sein.486 480  Hartmann, in: Rothe/Blanke, BAföG, 37. Lfg., Mai 2014, § 28 BAföG, Rdnr. 10.1. 481  Hartmann, in: Rothe/Blanke, BAföG, 37. Lfg., Mai 2014, § 28 BAföG, Rdnr. 10.2. 482  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30/07 –, Rdnr. 24. 483  Hartmann, in: Rothe/Blanke, BAföG, 37. Lfg., Mai 2014, § 28 BAföG, Rdnr. 10.1. Von einer verschleierten Schenkung spricht man, wenn die Schenkung in ein (scheinbar) entgeltliches Geschäft eingekleidet wurde, wobei die Verschleierung eine reine Schenkung, aber auch eine gemischte Schenkung betreffen kann. 484  VG Karlsruhe, Urteil vom 23.03.2005 – 10 K 4181/03 –, Rdnr. 29; VGH Bayern, Beschluss vom 31.10.2006 – 12 ZB 06.1961 –, Rdnr. 2. 485  VG Karlsruhe, Urteil vom 23.03.2005 – 10 K 4181/03 –, Rdnr. 29. 486  VG Karlsruhe, Urteil vom 23.03.2005 – 10 K 4181/03 –, Rdnr. 29.



C. Exemplarische Fallkonstellationen115

Zum Teil wurde ein Rückgriff auf den steuerrechtlichen Fremdvergleich abgelehnt.487 Die Anforderungen an das Darlehen zwischen Verwandten gingen an der Wirklichkeit von Familien vorbei.488 Auf Grund des familiären Vertrauensverhältnisses werde häufig auf die Schriftform verzichtet.489 Zudem sehe weder das Gesetz für die Wirksamkeit eines Darlehensvertrags eine Schriftform vor, noch sei § 28 Abs. 3 BAföG zu entnehmen, dass nur schriftliche Darlehensverträge förderungsrechtlich anzuerkennen seien.490 Es liege generell nicht fern, dass Verwandte zur Überbrückung von Notlagen oder bei besonderen Bedarfssituationen unverzinsliche Darlehen gewährten.491 Durch eine Grundsatzentscheidung des BVerwG wurden die Voraussetzungen für die Anerkennung von Darlehen zwischen Angehörigen konkretisiert.492 Für die Berücksichtigung als Schulden sei nicht Voraussetzung, dass mit der Tilgungsverpflichtung innerhalb des Bewilligungszeitraums von Leistungen nach dem BAföG zu rechnen sei, da sich eine solche Beschränkung weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck der Regelung entnehmen lasse.493 Die Darlehensvereinbarung müsse nicht einem strengen Fremdvergleich standhalten.494 Es genüge, dass ein zivilrechtlich wirksamer Vertrag geschlossen worden sei, welcher die im Geschäftsverkehr üblichen Modalitäten wahre.495 An dessen Nachweis seien jedoch strenge Anforderungen zu stellen.496 Ob überhaupt ein wirksamer Darlehensvertrag geschlossen wurde, sei anhand einer umfassenden Prüfung aller relevanten Umstände sowie der objektiven Merkmale des Fremdvergleichs zu beurteilen.497 Die zwischen Dritten üblichen Modalitäten seien als Indizien zu werten.498 Der Inhalt der 487  VG

Bremen, Urteil vom 25.05.2005 – 1 K 1477/03 –. Bremen, Urteil vom 25.05.2005 – 1 K 1477/03 –, Rdnr. 25. 489  VG Bremen, Urteil vom 25.05.2005  – 1 K 1477/03  –, Rdnr. 25; OVG Saarland, Beschluss vom 24.04.2006 – 3 Q 60/05 –, Rdnr. 38. 490  VG Bremen, Urteil vom 25.05.2005 – 1 K 1477/03 –; OVG NRW, Urteil vom 18.11.2011 – 12 A 1809/10 –, Rdnr. 42. 491  LSG Bayern, Beschluss vom 12.12.2008 – L 7 B 1032/08 ER –, Rdnr. 5. 492  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –. 493  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 20 ff. 494  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 25 ff. 495  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 25 ff. 496  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 24. Das BVerfG hat für das Steuerrecht mehrfach ausgeführt, dass die erhöhten Anforderungen an die Anerkennung von Verträgen zwischen nahen Angehörigen wegen der Gefahr eines Missbrauchs verfassungsrechtlich unbedenklich seien (BVerfG, Beschluss vom 14.04.1959  – 1 BvL 23/57, 1 BvL 34/57  –, BVerfG, Beschluss vom 20.11.1984  – 1  BvR 1406/84  –, BVerfG, Kammerbeschluss vom 16.07.1991  – 2 BvR 769/90  –, BVerfG, Kammerbeschluss vom 07.11.1995 – 2 BvR 802/90 –). 497  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 27. 498  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 27. 488  VG

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Abrede, vor allem die Höhe des Darlehens und die Bedingungen der Rückzahlung sowie der Zeitpunkt des Vertragsschlusses, müssten dargelegt werden.499 Es müsse ein plausibler Grund für den Abschluss des Darlehensvertrags genannt werden, der geeignet sei, eine hinreichende Abgrenzung zu einer freiwilligen Schenkung, freiwilligen Unterstützung oder Unterhaltszahlung zu ermöglichen.500 Schließlich müsse die Durchführung des Vertrags den Vereinbarungen entsprechen und Abweichungen müssen nachvollziehbar begründet werden.501 Auf Grund der Gefahr des Missbrauchs bestehe eine gesteigerte Mitwirkungspflicht des Auszubildenden, dem die Darlegung und der Beweis des Darlehens obliegt.502 Anknüpfend an diese Rechtsprechung des BVerwG wurde ein Darlehen dann als rechtsmissbräuchlich beurteilt, wenn es zur Finanzierung des Lebensunterhaltes aufgenommen wurde, um das Vermögen des Auszubildenden zu schonen.503 Die Darlehensaufnahme sei dann nicht erforderlich und erfolge gegen die Intention des Ausbildungsförderungsrechts.504 Für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs genüge – wie bei der Weggabe von Vermögen vor Antragstellung – ein zeitlicher Zusammenhang mit der Antragstellung.505 Ein subjektives verwerfliches Handeln des Auszubildenden sei nicht erforderlich.506 c) Alternative Lösungsansätze In der ersten Konstellation, der Übertragung von Vermögen vor Antragstellung, folgt der Missbrauchsvorwurf daraus, dass jemand bewusst eine Lage schafft, um Sozialleitungen zu erhalten. Allerdings fehlt es normativ an einem Anknüpfungspunkt für die Figur eines Rechtsmissbrauchs. Denkbar wäre eine Regelung – in Anlehnung an § 34 SGB II oder § 103 SGB XII – dahingehend, dass ein Anspruch auf BAföG ausgeschlossen ist, wenn der Leistungsberechtigte vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem BAföG ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat.507 499  BVerwG,

Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 27. Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 27. 501  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 27. 502  BVerwG, Urteil vom 04.09.2008 – 5 C 30.07 –, Rdnr. 24. 503  VG München, Urteil vom 22.07.2009 – M 15 K 08.3715–, Rdnr. 25. 504  VG München, Urteil vom 22.07.2009 – M 15 K 08.3715–, Rdnr. 25. 505  VG München, Urteil vom 22.07.2009 – M 15 K 08.3715–, Rdnr. 25. 506  VG München, Urteil vom 22.07.2009 – M 15 K 08.3715 –, Rdnr. 25. 507  So auch der Vorschlag von Loos, FamRZ 2006, S. 836 (838). 500  BVerwG,



C. Exemplarische Fallkonstellationen

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In der zweiten Konstellation, der der verdeckten Treuhandverhältnisse, böte sich die Einführung einer Regelung wie § 39 AO im Sozialrecht an, wonach Wirtschaftsgüter grundsätzlich dem Eigentümer zuzuordnen sind. Abweichend vom zivilrechtlichen Eigentumsbegriff kann jedoch eine andere Zuordnung nach § 39 Abs. 2 AO erfolgen, wenn die tatsächliche Sachherrschaft über ein Wirtschaftsgut in einer Weise ausgeübt wird, dass der tatsächliche Eigentümer für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der Einwirkung auf das Eigentum ausgeschlossen ist. Bei § 39 AO handelt es sich um eine Spezifikation der wirtschaftlichen Betrachtungsweise für das Steuerrecht. Für Treuhandverhältnisse folgt daraus, dass die Wirtschaftsgüter dem Treugeber zuzurechnen sind.508 Eine solche Regelung könnte mit einer Regelung wie § 159 Abs. 1 AO verknüpft werden; danach hat derjenige, der behauptet, er besitze Sachen nur als Treuhänder, auf Verlangen der Finanzbehörde nachzuweisen, wem die Sachen gehören. Andernfalls sind sie ihm regelmäßig zuzurechnen. Eine derartige Regelung würde die Darlegungs- und Beweislast klar dem potentiell Leistungsberechtigten zuweisen. Sie hätte den Vorteil, dass die zivilrechtliche Würdigung des Treuhandverhältnisses für das Sozialrecht nicht entscheidend wäre, sonders dieses unter den Wertungsgesichtspunkten des Sozialrechts beurteilt werden könnte, ohne dass es hierfür des Missbrauchsvorwurfes bedürfte. In der dritten Konstellation, der der verwandtschaftlichen Darlehen, zeigt sich, dass der Rückgriff auf den Fremdvergleich unter Berücksichtigung aller weiteren Gesamtumstände ein angemessenes Instrument ist, um im Einzelfall beurteilen zu können, ob tatsächlich ein wirksamer Darlehensvertrag zwischen den Beteiligten geschlossen worden ist. 2. Lohnsteuerklassenwechsel beim Elterngeld a) Problemstellung Das Bundeselterngeldgesetz509 (BEEG) ist am 01.01.2007 in Kraft getreten und hat das Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld abgelöst. Das Elterngeld ist eine soziale Leistung im Sinne von § 11 SGB I. Nach § 68 Nr. 15a SGB I gilt das BEEG bis zu seiner Einordnung in das SGB als dessen besonderer Teil. Einen Anspruch auf Elterngeld hat gemäß § 1 Abs. 1 BEEG, wer einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, mit seinem Kind in einem Haushalt lebt, dieses Kind selbst betreut und erzieht sowie keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt. Die Höhe 508  Siehe

Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht (2013), § 5, Rdnr. 140 ff. vom 05.12.2006 (BGBl. I, S. 2748).

509  Gesetz

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

des Elterngeldes richtete sich gemäß § 2 Abs. 1 und Abs. 7 BEEG in der bis zum 07.09.2012 geltenden Fassung510 nach der Höhe des Nettoeinkommens des Berechtigten vor der Geburt des Kindes. Nach § 2 Abs. 1 BEEG wird das Elterngeld in Höhe von § 67 % des in den 12 Kalendermonaten vor der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1800 Euro monatlich für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt.511 Wechselte der Berechtigte während der Schwangerschaft von Steuerklasse V in die Steuerklasse III, so erhöhte sich sein Nettoentgelt und damit auch der Anspruch auf Elterngeld. Denkbar war auch die Konstellation, dass ein Wechsel von der Lohnsteuerklasseklassenkombination IV / IV in die Kombination III / V vorgenommen wurde, um den Anspruch auf Elterngeld zu steigern. Es stellt sich die Frage, ob ein Wechsel der Lohnsteuerklasse, um einen höheren Anspruch auf Elterngeld zu erlangen, rechtsmissbräuchlich ist oder eine zulässige optimierende Gestaltung darstellt. Ein Wechsel der Lohnsteuerklasse ist steuerrechtlich zulässig. § 39 Abs. 6 Satz 3 EStG räumt Ehegatten, die beide in einem Dienstverhältnis stehen, die Möglichkeit ein, einmal im Kalenderjahr die bisher eingetragenen Steuerklassen in andere mögliche Steuerklassen zu ändern. Der Wechsel ist an keine zusätzlichen materiellen Voraussetzungen geknüpft, so dass auch die Wahl einer steuerlich gesehen ungünstigen Steuerklasse nach § 39 Abs. 6 Satz 3 EStG ohne Weiteres rechtlich zulässig ist. Der Zweck der Regelung besteht darin, dass das monatliche Lohnsteuerabzugsverfahren, auch wenn Veränderungen bei den Bezügen der Eheleute eintreten, möglichst der Steuerschuld am Jahresende entspricht.512 Wenn aber Ehepartner eine Steuerklassenkombination wählen, bei der sie monatlich mehr Steuern zahlen, hat dies nur zur Folge, dass sie die zu viel gezahlte Lohsteuer zurückerstattet erhalten, wenn im Folgejahr die Steuerschuld exakt berechnet wird. Eine nicht den tatsächlichen Einkommensverhältnissen der Ehepartner entsprechende Wahl der Lohnsteuerklassen führt zunächst einmal dazu, dass dem Staat bis zur Festsetzung der Jahressteuerschuld unentgeltlich Geldbeträge zur Verfügung gestellt werden.513 510  Gesetz

vom 10.09.2012 (BGBl. I 2012, S. 1878). Einkommen aus Erwerbstätigkeit war die Summe der positiven Einkünfte aus Land und Fortwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbständiger Arbeit und nichtselbständiger Arbeit im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 des EStG nach Maßgabe von § 2 Abs. 7 bis 9 BEEG zu berücksichtigen. 512  Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, Bd. 16, 120. Erg. LfG., April 2002, § 39 EStG, Rdnr. H 5. 513  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 34. 511  Als



C. Exemplarische Fallkonstellationen119

b) Optimierung als Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten Das für Einführung der Regelung zuständige BMFSFJ ging trotz der steuerrechtlichen Zulässigkeit des Lohnsteuerklassenwechsels davon aus, dass dieser als Gestaltungsmissbrauch im Sozialrecht unbeachtlich sein sollte, mit der Folge, dass die ursprüngliche Lohnsteuerklasse bei der Berechnung des Elterngeldes zu Grunde zu legen sei.514 Nach Auffassung des Ministeriums gehöre es zu den allgemeinen bei der Rechtsanwendung zu beachtenden Grundsätzen des Rechts, dass eine rechtsmissbräuchliche Rechtsausübung unbeachtlich sein könne.515 Ein Steuerklassenwechsel, der erkennbar allein die Funktion habe, den Anspruch auf Elterngeld zu erhöhen, verfolge kein schutzwürdiges Interesse desjenigen, der von dieser steuerrechtlichen Gestaltungsoption Gebrauch mache, und sei deshalb grundsätzlich für das Elterngeld unbeachtlich.516 Es widerspräche dem Zweck der Steuerklassen, wenn von zusammenveranlagten Eheleuten, die beide Arbeitslohn beziehen, eine Steuerklassenkombination gewählt werde, welche die von diesen zu tragenden monatlichen Lohnsteuerabzugsbeträge deutlich erhöhe und nur deshalb hingenommen werde, weil es am Jahresende zu einer entsprechend hohen Steuerrückzahlung komme.517 Sozialrechtlich beachtlich wäre nach dieser Auffassung nur ein Wechsel zu der Lohnsteuerklassenkombination IV und IV.518 c) Die Rechtsprechung des BSG Das BSG hat hier keinen Fall des Rechtsmissbrauchs angenommen.519 Das Einkommenssteuergesetz erlaube den Ehegatten einen Steuerklassenwechsel ohne Einschränkung.520 Der Wechsel sei auch dann nicht sozial unangemessen und rechtsmissbräuchlich, wenn er allein zur Erzielung höheren Elterngeldes vorgenommen werde.521 Die Frage des Rechtsmissbrauchs beurteile sich nach dem Schutzbereich der Norm und ihrer rechtsethischen Funktio514  So das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BMFSFJ/204 in seiner norminterpretierenden Richtlinie zum BEEG vom 18.12.2006, S. 67 ff.; siehe hierzu Lenz, in: Rancke, Mutterschutz/Elterngeld/Elternzeit Kommentar, 2010, vor § 1 BEEG, Rdnr. 9; § 2 BEEG, Rdnr. 19; Dau, SGB 2009, S. 261 (262 f.). 515  BMFSFJ/204, Richtlinie zum BEEG vom 18.12.2006, S. 67. 516  BMFSFJ/204, Richtlinie zum BEEG vom 18.12.2006, S. 67. 517  BMFSFJ/204, Richtlinie zum BEEG vom 18.12.2006, S. 67. 518  BMFSFJ/204, Richtlinie zum BEEG vom 18.12.2006, S. 67 f. 519  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –. 520  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 29. 521  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 30.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

nen.522 Sowohl den Schutzbereich der Norm als auch ihre rechtsethische Funktion bestimme bei Sozialleistungen der Gesetzgeber.523 Ein Missbrauchseinwand komme in erster Linie in Betracht, wenn der Gesetzgeber rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten übersehen habe, die sich erst nach der späteren Anwendung des Gesetzes zeigten, und er diese Möglichkeit nach seiner sonstigen Zielsetzung mit Sicherheit unterbunden hätte.524 Räume der Gesetzgeber den Bürgern dagegen „sehenden Auges“ Gestaltungsmöglichkeiten ein, könnten die Rechtsanwender diese nicht im Nachhinein unter Berufung auf die rechtsethische Funktion des Rechts begrenzen.525 Bei der Schaffung des BEEG hätten die Gesetzgebungsorgane das Problem des Lohnsteuerklassenwechsels erkannt und diskutiert, ohne diesen als rechtsmissbräuchlich anzusehen.526 Die Auswirkungen eines Lohnsteuerklassenwechsels auf die Höhe einer nach Nettoentgelt berechneten Sozialleistung seien dem Gesetzgeber bewusst, was sich beispielsweise an § 133 Abs. 2 SGB III a. F.527 zeige.528 Dies zwinge zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber des BEEG bewusst auf die Aufnahme einer vergleichbaren Regelung verzichtet habe.529 Auch bei der ersten Reform des BEEG habe er von einer solchen Regelung abgesehen, obgleich die Frage des Lohnsteuerklassenwechsels zu diesem Zeitpunkt bereits Gegenstand zahlreicher sozialrechtlicher Streitigkeiten gewesen sei.530 Die Haltung des Gesetzgebers erscheine wegen des Progressionsvorbehalts in § 32b EStG auch nachvollziehbar, denn durch den Progressionsvorbehalt erhalte der Staat bis zur Feststellung der Steuerjahresentschuld höhere Steuereinnahmen.531 Demnach ist das Ausschöpfen von Gestaltungsmöglichkeiten mit legalen Mitteln nicht rechtsmissbräuchlich.532

522  BSG,

Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 27 f. Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 28. 524  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 28. 525  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 28. 526  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 31. 527  Die Regelung entspricht seit dem 01.04.2012 § 153 Abs. 2 SGB III (geändert durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 [BGBl. I 2011, S. 2854]). 528  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 32. 529  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 33. 530  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 33. 531  BSG, Urteil vom 25.06.2009  – B 10 EG 3/08 R  –, Rdnr. 34. Der Staat erhält also vom Berechtigten ein zinsloses Darlehen, und der Berechtigte hat während dieser Zeit ein geringeres Nettoeinkommen (Beyer-Petz, DStR 2009, S. 2266 [2266]). 532  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 27. 523  BSG,



C. Exemplarische Fallkonstellationen121

d) Folgen für den Anwendungsbereich der Figur des Rechtsmissbrauchs Mit dieser Entscheidung hat das BSG deutlich gemacht, dass der Anwendungsbereich der Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht sehr begrenzt ist und die Notwendigkeit einer eigenständigen gesetzgeberischen Entscheidung für den jeweiligen Regelungsbereich betont, wenn eine an sich zulässige Gestaltung unbeachtlich sein soll. Aus § 113 Abs. 3 SGB III a. F. lässt sich kein allgemeiner in Treu und Glauben verwurzelter Rechtsgedanke entnehmen, wonach ein steuerrechtlich zulässiger Wechsel der Lohnsteuerklasse im Sozialrecht stets unbeachtlich sein soll. Auch eine Übertragung der Rechtsprechung des BAG kommt wegen der Eigenständigkeit des Sozialrechts, dem kein Gleichordnungsverhältnis zu Grunde liegt, und den dahinterstehenden unterschiedlichen Wertungen nicht in Betracht. Es hätte somit einer entsprechenden Regelung im BEEG bedurft; zumal dem Gesetzgeber die Problematik der Erhöhung des Elterngeldes durch einen Wechsel der Lohnsteuerklasse bekannt war.533 Auch im ersten Änderungsgesetz zum BEEG ist keine entsprechende Regelung aufgenommen worden, wenngleich zu dieser Zeit schon zahlreiche Rechtsstreitigkeiten zu dieser Frage anhängig waren. Dogmatisch merkt Röhl zu der Entscheidung des BSG zutreffend an: „Mit dieser Betonung des gesetzgeberischen Willens durch das BSG wandelt sich die Figur des Rechtsmissbrauchs von einer Allzweckwaffe in der Hand des Rechtsanwenders zu einem eng umschriebenen Korrekturinstrument für Versäumnisse des Gesetzgebers.“534 Hieraus folgt sogleich, dass, wenn der Gesetzgeber darauf verzichtet, derartige Gestaltungsmöglichkeiten zu unterbinden, diese auch im Sozialrecht zulässig sind. Es ist nicht Aufgabe der Rechtsprechung, einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten als Nachkorrektur für Folgen einer verfehlten Gesetzestechnik anzunehmen.535 Methodisch dürfte die Figur des Rechtsmissbrauchs als Form der teleologischen Reduktion zu verorten sein.536

533  Das Problem wurde sogar ausdrücklich bei den Beratungen zur Einführung des Elterngeldes im Bundestag diskutiert; siehe Plenarprotokoll 16/55 der 55. Sitzung des Deutschen Bundestages am 29.09.2006, S. 5356, 5357. 534  Röhl, jurisPR-SozR 23/2009, Anm. 5. 535  Vgl. BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 –, Rdnr. 263 unter Verweis auf den BFH, Vorlagebeschluss vom 27.09.2012 – II R 9/11 –. 536  So auch Röhl, jurisPR-SozR 23/2009, Anm. 5.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

3. Der Verzicht auf Einkommen a) Problemstellung Häufig hängt ein Anspruch auf Sozialleistungen davon ab, dass der Leistungsempfänger eine bestimmte Einkommensgrenze537 nicht überschreitet. Wenn die Einkommensgrenze durch den Leistungsempfänger nur deswegen nicht überschritten wird, weil er zivilrechtlich auf einen Teil seines Einkommens verzichtet, stellt sich die Frage, ob es sich um einen Gestaltungsmissbrauch zu Lasten des Sozialleistungsträgers handelt, der zwar zivilrechtlich zulässig, sozialrechtlich aber unbeachtlich ist. Dieser Problemstellung liegt folgende Grundkonstellation zu Grunde: Der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer schließen einen Vertrag, durch den die an sich vereinbarte Vergütung für die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers herabgesetzt wird, oder sie vereinbaren für die Arbeitsleistung von vorneherein einen geringeren Lohn als üblich. Die Herabsetzung des Einkommens des Arbeitnehmers hat allein den Zweck zu verhindern, dass ein für die Gewährung einer Sozialleistung relevanter Einkommensgrenzbetrag überschritten wird, denn bei einem Überschreiten von bestimmen Einkommensgrenzen tritt der so genannte Fallbeileffekt ein. Das bedeutet, sobald das Einkommen den Grenzbetrag auch nur um einen Cent übersteigt, entfällt die Soziallleistung insgesamt; es erfolgt somit keine anteilige Anrechnung des Einkommens auf die Sozialleistung, sondern es gilt das Alles-oder-nichts-Prinzip.538 Im Folgenden werden Fallbeispiele aus dem Bereich des Waisenrentenrechts und des Kindergeldrechts zu dieser Problemstellung analysiert. b) Waisenrente In der Rechtsprechung ist die Frage, ob ein Verzicht auf eigenes Einkommen für den Sozialleistungsanspruch relevant ist, unterschiedlich beantwortet worden.539 Dem lagen folgende Fallkonstellationen zu Grunde: Ein Inspektorenanwärter hatte auf die Erhöhung seiner Dienstbezüge verzichtet, die ihm 537  Der Begriff des Einkommens wird wegen der Vielzahl der möglichen Differenzierungen untechnisch als Oberbegriff verwandt, welcher die verschiedenen Einkommensarten erfasst. 538  Zur Verfassungsmäßigkeit des Fallbeileffekts siehe Ulmer, SGB (2001), S. 174 (174 ff.) sowie BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27.07.2010 – 2 BvR 2122/09 –, Rdnr. 7. 539  Die Entscheidungen befassen sich zwar nur mit dem Verzicht auf Ausbildungsvergütung, die Begründung dürfte aber auf andere Einkommensarten übertragbar sein; so Felix, in: Wickenhagen/Krebs BKGG, 21. Lfg./Juli 1994, § 2 BKGG, Rdnr. 203.



C. Exemplarische Fallkonstellationen123

vorschussweise unter dem Vorbehalt der Rückzahlung im Vorgriff einer Besoldungserhöhung zugestanden hätte.540 Das Ziel des Verzichts bestand allein darin, seinen Waisengeldanspruch aufrecht zu erhalten. Dieser Anspruch setzte nach § 1267 RVO541 unter anderem voraus, dass der Waise nicht mehr als 1000 DM Bruttobezüge aus dem Ausbildungsverhältnis monatlich zustanden. Das BSG hat den Verzicht auf die Bezüge als sozialrechtlich unbeachtlich angesehen.542 Zweck der Waisenrente sei es, ersatzweise den Unterhalt der Waise zu sichern.543 Wenn die Waise eigenes Einkommen über der Einkommensgrenze hat, entfällt diese Funktion der Waisenrente, da die Waise ihren Unterhalt selbst sichern kann.544 Zur Begründung hat das BSG die Figur des Rechtsmissbrauchs in der Variante des venire contra factum proprium verwendet.545 Es komme allein darauf an, ob der Kläger die Möglichkeit hatte, über den gesamten Betrag zu verfügen. Wenn jemand durch eigenes Handeln auf den gesamten ihm zur Verfügung stehende Betrag verzichtet, so soll er sich auf dieses Verhalten nicht berufen dürfen.546 Der Verzicht war somit in dieser Konstellation sozialrechtlich unbeachtlich. Vier Jahre später erkannte das BSG dagegen einen Verzicht auf einen Teil der Ausbildungsvergütung sowie vermögenswirksamer Leistungen auch sozialrechtlich an.547 Der Zweck des Verzichts bestand darin, das Einkommen des Kindes unter der Einkommensschädlichkeitsgrenze von § 583 Abs. 3 RVO zu halten, um dadurch eine Kinderzulage bei einer Verletztenrente weiter zu erhalten, die entfällt, wenn die Vergütung des Kindes einen bestimmten Betrag übersteigt.548 Der Anerkennung des Verzichts lag zum einen die Erwägung zu Grunde, dass nach dem Tarifvertragsrecht ein Verzicht auf Gehaltsspitzen zulässig sei, zum anderen, dass der Zweck der tarifvertraglichen Regelungen darin bestehe, den Arbeitnehmer davor zu schützen, seine Tarif540  BSG,

Urteil vom 06.10.1982 – 4 RJ 104/81 –. der Waisenrente ist das Problem des Einkommensverzichts durch das RGG 1992 (Gesetz vom 18.12.1989, BGBl I, S. 2261) entfallen. Der heutige § 97 SGB VI hat keine starre Fallbeilgrenze, sondern nach § 97 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI wird das Einkommen der Waise auf die Rente angerechnet, das monatlich das 24,6-fache des aktuellen Rentenwerts übersteigt. 542  BSG, Urteil vom 06.10.1982 – 4 RJ 104/81 –, Rdnr. 14. 543  BSG, Urteil vom 06.10.1982 – 4 RJ 104/81 –, Rdnr. 10. 544  Zweifel an diesem Argument ergeben sich daraus, dass es sich auch bei der Waisenrente um eine Versicherungsleistung handelt, bei der Fürsorgeelemente systemfremd sind. Allerdings ist es eine Leistung, die weder durch Beiträge des Waisenrentenempfängers noch durch erhöhte Beiträge des Versicherten finanziert wird; siehe hierzu BVerfG, Beschluss vom 18.02.1998 – 1 BvR 1318/86, 1 BvR 1484/86 –. 545  BSG, Urteil vom 06.10.1982 – 4 RJ 104/81 –, Rdnr. 14. 546  BSG, Urteil vom 06.10.1982 – 4 RJ 104/81 –, Rdnr. 14. 547  BSG, Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –. 548  BSG, Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –, Rdnr. 11. 541  Bei

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

vertragsansprüche einzelvertraglich wieder aufzugeben.549 Dieser Schutzzweck sei nicht tangiert, wenn der Verzicht erfolge, um einen sozialrechtlichen Vorteil zu erhalten.550 Dahinter steht die Grundannahme, dass grundsätzlich davon auszugehen ist, dass der Leistungsberechtigte seine Ansprüche im gesetzlich vorgesehenen Rahmen ausschöpfen kann, also Rechtsverhältnisse wirksam optimieren darf, auch wenn der Gesetzgeber dazu tendiert, Gestaltungsmöglichkeiten in der Sozialversicherung einzuschränken.551 Überdies nahm das BSG eine Gesamtbetrachtung der finanziellen Auswirkungen des Verzichts auf die Familie vor, wonach wegen der Weitergewährung der Kinderzulage der Verzicht auch mittelbar dem Kind wirtschaftlich zu Gute kommt, weil das Einkommen der Familie insgesamt erhöht wird.552 Es erfolgt also in dieser Entscheidung keine Differenzierung nach der Unterhaltssituation des Kindes und seiner Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten, sondern es erfolgt eine Kosten-Nutzen-Analyse für die Familie, welche in diesem Fall positiv ausgefallen ist.553 Eine Ausnahme soll nur dann in Betracht kommen, wenn der Verzicht rechtsmissbräuchlich erfolgt; wann dieses der Fall ist, ließ das BSG jedoch offen.554 In einer weiteren Entscheidung vom selben Tag erkannte das BSG auch den Verzicht eines Beamtenanwärters555 auf vermögenswirksame Leistungen, um eine Waisenrente weiter zu erhalten, als beachtlich an. Das BSG stellt auch in dieser Entscheidung darauf ab, dass sich die Möglichkeit eines solchen Verzichts aus den gesetzlichen Bestimmungen ergeben, wonach ein Beamter nicht wirksam auf Gehaltsteile, jedoch auf vermögenswirksame Leistungen verzichten kann.556 Nach diesen Grundsätzen ist eine optimierende Gestaltung zur Erhaltung von Sozialleistungsansprüchen dann beachtlich, wenn der Verzicht Einkommensansprüche oder vermögenswirksame Leistungen betrifft, auf die zivilrechtlich wirksam verzichtet werden kann und die nicht vorrangig eine unterhaltssichernde Funktion erfüllen.

549  BSG,

Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –, Rdnr. 16 ff. Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –, Rdnr. 19. Dieser Vorteil kann nach der Rechtsprechung auch darin bestehen, Sozialversicherungsbeiträge zu verringern. 551  BSG, Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –, Rdnr. 24. 552  BSG, Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –, Rdnr. 18 f. 553  BSG, Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –, Rdnr. 18 f. 554  BSG, Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –. 555  BSG, Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKn 26/85 –. 556  BSG, Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKn 26/85 –, Rdnr. 16. 550  BSG,



C. Exemplarische Fallkonstellationen125

c) Kindergeld nach dem BKGG Diese Grundsätze hat das BSG in der Folgezeit auch im Kindergeldrecht nach dem Bundeskindergeldgesetz angewandt. Das Bundeskindergeldrecht ist nach § 68 Nr. 9 SGB I ein besonderer Teil des Sozialgesetzbuches. Ein Verzicht des Kindes auf für den Anspruch auf Kindergeld berücksichtigungsschädliche Teile der Ausbildungsvergütung mit dem Ziel, den Anspruch auf Kindergeld als wirtschaftlichen Vorteil zu erhalten, wurde als wirksam anerkannt.557 Auch im Kindergeldrecht erfolgt eine Gesamtbetrachtung der familiären Einkommenssituation. Da dem Kind durch den Verzicht Vorteile erwachsen, weil das Familieneinkommen insgesamt erhöht wird, stünden dem Verzicht weder das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG noch Normen des Sozial- oder Privatrechts entgegen.558 Sogar der rückwirkende Verzicht auf Teile der Ausbildungsvergütung wurde anerkannt, da eine solche Vereinbarung im Rahmen der tarifvertraglichen Regelungsbefugnisse liegt.559 Das BSG hat ausgeführt, die Ausnutzung der zivilrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten könne auf Grund der Einheit der Rechtsordnung nicht missbräuchlich sein.560 Schließlich stellt das BSG ergänzend auf den sozialpolitischen Zweck des Kindergeldanspruchs ab, nämlich für die mit der Kinderziehung verbundenen Lasten einen finanziellen Ausgleich von der Gemeinschaft zu erhalten. Auch in diesem Kontext hebt das BSG hervor, dass es einer gesetzgeberischen Entscheidung bedarf, wenn zivilrechtlichen Gestaltungen im Sozialrecht die Anerkennung versagt werden soll.561 Dieser Forderung ist der Gesetzgeber mit dem Inkrafttreten des 1. SKWP562 nachgekommen. § 2 Abs. 2 BKGG wurde dahingehend geändert, dass ein Verzicht auf berücksichtigungsschädliche Einkünfte unbeachtlich ist. Nach dem Gesetzeswortlaut reicht für ein Entfallen des Anspruchs der objektive Verzicht auf einen Teil der Vergütung aus.563 Eine Absicht des Kindes, sich durch den Verzicht den Kindergeldanspruch erhalten zu wollen, ist nicht erforderlich.564 In der Gesetzesbegründung zur Neuregelung heißt es, es widerspräche dem in der Einkommensabhängigkeit des Kindergeldes zum Aus557  BSG,

Urteil vom 28.02.1990 – 10 RKg 15/89 –. Urteil vom 28.02.1990 – RKg 15/89 –. 559  BSG, Urteil vom 30.10.1990 – 10 RKg 1/90 –, Rdnr. 16. 560  BSG, Urteil vom 30.10.1990 – 10 RKg 1/90 –. 561  BSG, Urteil vom 28.02.1990 – 10 RKg 15/89 –, Rdnr. 15. 562  Geändert durch Art. 5 Nr. 2 b) 1. SKWPG, Gesetz vom 21.12.1993 (BGBl. I 1993, S. 2353), die Änderung trat am 01.01.1994 in Kraft. 563  Felix, NJW 2001, S. 3073 (3078). 564  Felix, in: Wickenhagen/Krebs, BKGG, 21.  LfG./Juli 1994, § 2 BKGG, Rdnr. 207. 558  BSG,

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

druck kommenden Subsidiaritätsprinzip, wenn durch den Verzicht auf Teile der nach Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder anderen Kollektivvereinbarungen zustehenden Vergütung ein Kindergeldanspruch erworben oder bewahrt werde. Maßstab für den Kindergeldanspruch müsse daher in derartigen Fällen der vereinbarte Vergütungsanspruch sein.565 d) Der Verzicht auf Einkommen als Rechtsmissbrauch Kennzeichnend für die Entscheidungen des BSG zum Verzicht auf Einkommen ist, dass sie die sozialrechtliche Anerkennung der zivilrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten betonen. Gleichwohl bleibt die Fragestellung relevant, ob das Sozialrecht derartige Gestaltungen ohne eine spezielle gesetzliche Grundlage aus Missbrauchserwägen unterbinden kann, zum Beispiel beim Kinderzuschuss nach § 270 Abs. 1 SGB VI, bei dem ein Grenzbetrag für das Einkommen des Kindes festlegt wird, eine Unbeachtlichkeitsregelung für den Fall des Verzichts auf Einkommen jedoch fehlt. Gegen die sozialrechtliche Beachtlichkeit eines zivilrechtlich wirksamen Verzichts auf Einkommen sind de lege lata drei Begründungswege denkbar. In Betracht kommt eine Anknüpfung an die Regelung des § 46 Abs. 2 SGB I. Danach ist ein Verzicht auf Sozialleistungsansprüche unwirksam, soweit dadurch „andere Personen oder Leistungsträger belastet oder Rechtsvorschriften umgangen werden“. Der Zweck der Regelung ist es, die Lastenverteilung entweder unter Sozialleistungsträgern oder im Verhältnis zwischen einem Sozialleistungsträger und einem Privaten nicht durch Verfügungen des Sozialleistungsberechtigten zu verschieben.566 Sowohl nach dem Wortsinn als auch dem systematischen Zusammenhang mit § 46 Abs. 1 SGB I, wonach der Verzicht gegenüber dem Sozialleistungsträger zu erklären ist, bezieht sich die Regelung jedoch nur auf Sozialleistungen. Da es sich bei Einkommen aus einem Arbeitsverhältnis nicht um eine Sozialleistung im Sinne von § 11 SGB I handelt, ist § 46 SGB I nicht direkt anwendbar. Allerdings wird zum Teil eine analoge Anwendung der Regelung in Betracht gezogen und auf den allgemeinen Rechtsgedanken, dass kein Vorteil aus einem treuewidrig herbeigeführten Ergebnis entstehen darf, abgestellt.567 Das BSG hat eine analoge Anwendung der Regelung stets mit der Begründung abgelehnt, dass 565  BT-Drs.

12/5502, S. 44. Trittbrettfahren im System sozialer Sicherung, in: Engel (Hrsg.), 1998, S. 219 (226). 567  So wohl Wolber, Die Sozialversicherung 1989, S. 147 (148) und Salje (NZA 1990, S. 299 [304]), der aber dann doch vorschlägt, § 46 SGB I um einen Abs. 3 zu ergänzen, der private Vereinbarungen für relativ unwirksam erklärt, soweit sie einen Träger von Sozialleistungen mit Zahlungspflichten belasten. 566  Eichenhofer,



C. Exemplarische Fallkonstellationen

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eine solche zumindest eine sozialrechtliche Einordnung des Arbeitsverhältnisses voraussetzen würde.568 Ein weiterer Ansatz, in dieser Fallgestaltung zu einer Unbeachtlichkeit der privatrechtlichen Vereinbarung zu gelangen, ist es, den Verzicht auf Einkommen als einen Vertrag zu Lasten Dritter zu betrachten.569 Dies setzt die Annahme voraus, dass der Erlassvertrag darauf gerichtet ist, sich zu Lasten der Versichertengemeinschaft oder zu Lasten der Steuerzahler einen Vermögensvorteil zu verschaffen.570 Für eine solche erweiterte Anwendung der Figur des Vertrages zu Lasten Dritter wird angeführt, dass es im Sozialrecht zwar keine Regelung wie § 42 AO gibt, sich aber spezifisch sozialrechtliche Wertungen heranziehen lassen, aus denen sich ergibt, dass Verfügung über Einkommen und Vermögen, die „ohne verständigen Grund“ erfolgen, im Sozialrecht unbeachtlich sind.571 Gegen die Annahme eines Vertrags zu Lasten Dritter ist jedoch einzuwenden, dass ein solcher Vertrag bereits im Zivilrecht die unmittelbare Verpflichtung des Dritten voraussetzt.572 Da der Verzicht aber nur zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber erfolgt, handelt es sich zunächst nur um eine privatrechtliche Vereinbarung. Die Folge, das Bestehen des Sozialleistungsanspruchs, tritt hingegen kraft Gesetzes ein, sie ist nur eine mittelbare Folge des Verzichts.573 Auch hier lässt sich ein Vergleich zum Steuerrecht ziehen: Wenn ein Steuerpflichtiger an eine gemeinnützige Stiftung spendet, vermindert sich sein zu versteuerndes Einkommen, der staatliche Steueranspruch sinkt. Wenn es dem Schenker nun nicht vorrangig darauf ankommt, die Stiftung zu fördern, sondern vor allem darauf, seine Steuerlast zu reduzieren, wird die Schenkung dadurch steuerrechtlich nicht unbeachtlich.574 Schließlich wird diskutiert, ob der Verzicht auf Einkommen mit dem Zweck, den Anspruch auf Kindergeld zu erhalten, eine unzulässige Gesetzesumgehung ist. Nimmt man die Sittenwidrigkeit des Verzichts an, bedeutet dies, dass der Verzichtsvertrag nichtig ist, so dass auch sozialrechtlich von der vollen Höhe des Einkommens auszugehen ist. Für die Sittenwidrigkeit des Verzichts auf Einkommen wird ein Vergleich zum Verzicht auf nachehelichen Unterhalt zu Lasten des Sozialhilfeträgers angeführt. Danach ist die 568  BSG,

Urteil vom 28.02.1990 – 10 RKg 15/89 –, Rdnr. 14. solcher Vertrag ist mit der Privatautonomie nicht zu vereinbaren und aus diesem Grund unwirksam; Gottwald, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 2, 6. Aufl. (2012), § 328 BGB, Rdnr. 250. 570  SG Münster, Urteil vom 19.04.1988 – S 14 U 37/86 –. 571  Salje, NZA 1990, S. 299 (301 f.). 572  Gottwald, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 2, 6. Aufl. (2012), § 328 BGB, Rdnr. 250. 573  Bokeloh, Die Sozialversicherung 1990, S. 177 (178). 574  Beispiel bei Bokeloh, Die Sozialversicherung 1990, S. 177 (178). 569  Ein

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

Sittenwidrigkeit des Verzichts anerkannt, wenn die Vertragsschließenden durch den Verzicht wissentlich eine Unterstützungsbedürftigkeit durch den Sozialhilfeträger herbeiführen.575 Die Sittenwidrigkeit resultiert bei dieser Gestaltung daraus, dass die Vermögensverhältnisse in der Scheidungsvereinbarung zum Schaden der Sozialhilfeträger und damit zu Lasten der Allgemeinheit geregelt werden.576 Problematisch erscheint indes, inwieweit diese Wertungen zur Sittenwidrigkeit auf andere Verzichtskonstellationen übertragbar sind. Für eine Übertragung spricht, dass durch den Verzicht der Anspruch auf Kindergeld bestehen bleibt, obgleich an sich der Bedarf des Kindes durch sein Einkommen abgedeckt ist. Allerdings lässt sich gegen die Sittenwidrigkeit des Verzichts wiederum einwenden, dass es sich um eine Vertragsgestaltung handelt, die nach tarifvertraglichen Regelungen zulässig ist. Auch das BSG lehnte bei einem derartigen Verzicht eine Sittenwidrigkeit ab, da es in dem Verzicht auf Einkommen keinen unauflösbaren Widerspruch zur Sozialrechtsordnung sah.577 Zudem wurde auch die Wirkung der Fallbeilregelung miteinbezogen, bei der auf Grund der starren Einkommensgrenze bereits geringste unterschiedliche Geldbeträge in der Praxis zu einem „Alles-odernichts-Prinzip“ führten, sodass es dem Anspruchsberechtigten gestattet sein müsse, sich diesen Anspruchsvoraussetzungen anzupassen.578 Im Ergebnis können alle drei aufgezeigten Wege nur als Hilfskonstruktionen angesehen werden, um die sozialrechtliche Unwirksamkeit eines Verzichts zu begründen. Wenn der Gesetzgeber eine solche für erforderlich hält, bleibt stets die Möglichkeit, entweder in einer Regelung selbst die Unwirksamkeit des Verzichts festzuschreiben oder aber eine allgemeine Regelung entsprechenden Inhalts in das Sozialgesetzbuch aufzunehmen. e) Kindergeld im EStG Durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11.10.1995 wurde das Kindergeld als Teil der Regelungen zum Familienleistungsausgleich in das Einkommenssteuergesetz verlagert.579 Ein Anspruch auf den Freibetrag oder Kindergeld 575  BGH,

Urteil vom 25.10.2006 – XII ZR 144/04 –. Urteil vom 08.12.1982 – IVb ZR 333/81 –. 577  BSG, Urteil vom 28.02.1990 – 10 RKg 15/89 –, Rdnr. 21. 578  BSG, Urteil vom 28.02.1990 – 10 RKg 15/89 –. 579  Eine Neuregelung des Kindergeldrechts war auf Grund des Kindergeldbeschlusses des BVerfG vom 29.05.1990 (1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86  –) erforderlich geworden. Das Bundesverfassungsgericht forderte in dieser Entscheidung die steuerliche Freistellung des Existenzminimums der ganzen Familie und nicht nur des Steuerpflichtigen. Aus dem sozialpolitisch orientierten Familienlastenausgleich wurde ein steuerrechtlich konzipierter Familienleistungsausgleich, dessen Zweck nach § 31 EStG darin besteht, das Existenzminimum des Kindes entweder durch eine 576  BGH,



C. Exemplarische Fallkonstellationen129

bestand nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis zum 31.12.2011 geltenden Fassung580 für ein volljähriges Kind nur dann, wenn seine Einkünfte und Bezüge den Grenzbetrag von 8004 € nicht überschritten. Hierbei handelte es sich um eine Freigrenze.581 Bei einer – auch nur geringfügigen – Überschreitung entfiel der gesamte Anspruch auf Kindergeld beziehungsweise der Freibetrag vollständig.582 Um einen Missbrauch durch eine Umgehung des Grenzbetrags zu verhindern, war in § 32 Abs. 4 Satz 9 EStG in der bis zum 31.12.2011 geltenden Fassung583 die Regelung des § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG nachgebildet. Danach steht ein Verzicht auf Einkünfte und Bezüge der Anwendung der Einkommensgrenzen nicht entgegen. Ein Verzicht des Kindes auf Einkünfte oder Bezüge war also sowohl freibetrags- als auch kindergeldrechtlich unbeachtlich. Bei § 32 Abs. 4 Satz 9 EStG handelte es sich steuerrechtlich um eine Konkretisierung von § 42 AO.584 Anhand dieser Regelung zeigt sich, dass auch echte Missbrauchsregelungen Folgeprobleme nach sich ziehen können. Es war beispielsweise umstritten, ob es sich um einen zivilrechtlich wirksamen Verzichtsvertrag handeln muss oder ob der Begriff, um seine Funktion der Missbrauchsabwehr erfüllen zu können, untechnisch weiter auszulegen ist.585 Der BFH hielt Letzteres für steuerliche Freistellung des Einkommens oder durch das Kindergeld nach Abschnitt X EStG zu gewährleisten. Das Kindergeld dient danach nur noch bei einkommensschwachen Familien der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums der Familie, darüber hinaus ist es eine Leistung zur Familienförderung; siehe hierzu Seewald/ Felix, VSSR 1991, S. 157 (157 ff.). 580  Geändert durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 (Gesetz vom 01.11.2011 mit Wirkung vom 01.01.2012; BGBl I, S. 2131). 581  Da der Grenzbetrag des damaligen § 32 Abs. 4 EStG dem steuerfreien Existenzminimum entsprach und mit steigenden Einkünften des Kindes sein Unterhaltsanspruch mangels Bedürftigkeit sinkt oder wegfällt, ist es nach dem BVerfG verfassungsrechtlich unbedenklich, den Betrag nicht als Freibetragsregelung, sondern als Freigrenze auszugestalten (siehe BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27.07.2010 – 2 BvR 2122/09 –). 582  Siehe BFH, Urteil vom 11.03.2003  – VIII R 16/02  –. In seiner Urteilsanmerkung weist Greite (in: FR 2003, S. 971) darauf hin, dass bei einer Übertragung dieses Rechtssatzes auf andere Fallgestaltungen auch ein Student, der nur einen begrenzten Zeitraum arbeitet, um den Grenzbetrag nicht zu überschreiten, rechtsmissbräuchlich handelte. 583  Geändert durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 (Gesetz vom 01.11.2011 mit Wirkung vom 01.01.2012; BGBl I, S. 2131). 584  Felix, in: Seewald/Felix, Kindergeldrecht, 21. Lfg./März 2007, § 63 EStG, Rdnr. 261. 585  Umstritten war zudem, ob ein Verzicht vorlag, wenn das Kind es unterließ, einen Anspruch auf staatliche Leistungen geltend zu machen, wenn das Kind beispielsweise keinen BAföG-Antrag stellte, obgleich es einen Anspruch auf die Leistung hätte. Für

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

geboten, da nur eine solche Auslegung der Funktion der Vorschrift gerecht wird, nämlich dass ein Kind aus steuerlichen Gründen eine Art Vertrag zu Lasten der Allgemeinheit abschließt.586 Nach der Rechtsprechung des BFH lag ein unbeachtlicher Verzicht vor, wenn ein Kind mit dem Ziel der Erhaltung des Kindergeldanspruchs eine Vereinbarung trifft, die ursächlich dafür ist, dass ein Anspruch auf Einkünfte nicht geltend gemacht werden kann, der ohne diese Vereinbarung bestanden hätte.587 Das Bestehen vernünftiger Gründe, etwa wenn der Verzicht wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation des Arbeitgebers erfolgte, konnte die Verringerung des Einkommens rechtfertigen.588 Ein Verzicht im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 9 EStG setzte somit nicht notwendig einen Erlassvertrag im Sinne von § 397 BGB voraus. Hinreichend war eine Vereinbarung, die der Geltendmachung eines Anspruchs entgegenstand. Sowohl die nachträglich vereinbarte Herabsetzung der Vergütung589 als auch die bereits bei Vertragsschluss getroffene Vereinbarung über eine niedrigere Vergütung, wenn beide Vertragspartner tarifgebunden sind, stellten einen Verzicht im Sinne der Norm dar.590 Überdies bestand die Möglichkeit, die Missbrauchsregelung durch entsprechende Gestaltungen zu umgehen. Das Kind konnte von vornherein mit dem Arbeitgeber so geringe Bezüge vereinbaren, dass der Grenzbetrag nicht überschritten wurde, selbst wenn der Verzicht nur mit dem Ziel erfolgte, den Anspruch auf Kindergeld beziehungsweise den Freibetrag zu erhalten.591 Durch eine solche Gestaltung generierte die Freibetragsgrenze letztlich finanzielle Vorteile für den Arbeitgeber.592 Andere Umgehungvarianten bestehen darin, einkunftsmindernde besondere Ausbildungskosten des Kindes zu fingieren oder die Einkünfte des Kindes umzudefinieren.593 Schließlich setzt die Regelung auch einen Anreiz dafür, Schwarzarbeit zu leisten oder falsche Angaben zu machen.594 Grenzbeträge, verbunden mit so genannten Fallbeilregelungen, scheinen besonders anfällig für Umgehungen zu sein, da von den die Annahme eines Verzichts spricht, dass es allein von dem Kind abhängt, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Wenn es sich dagegen entscheidet, verzichtet es auf die Auszahlung der Leistung. Siehe hierzu Felix, FR 1998, S. 983 (989). 586  BFH, Urteil vom 11.03.2003 – VIII R 16/02 –, Rdnr. 27. 587  BFH, Urteil vom 11.03.2003 – VIII R 16/02 –. 588  Jachmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, Bd. 15, 140. Erg.LfG., März 2004, § 32 EStG, Rdnr. C 62; Niedersächsisches FG, Urteil vom 25.09.2001 – 15 K 636/99 KI –. 589  Niedersächsisches FG, Urteil vom 25.09.2001 – 15 K 636/99 KI –. 590  Siegers, EFG 2002, S. 30 (31). 591  BSG, Urteil vom 12.04.2000 – B 14 KG 4/99 R –. 592  Ulmer, SGB 2001, S. 174 (177). 593  Achenbach, NZS 2011, S. 166 (169). 594  Achenbach, NZS 2011, S. 166 (169).



C. Exemplarische Fallkonstellationen131

Normadressaten der Verlust des vollständigen Anspruchs wegen eines auch nur geringfügigen Überschreitens des Betrages häufig als ungerecht empfunden wird, weswegen die Hemmschwelle, (auch illegale) Auswege zu finden, eher gering sein dürfte. Es bietet sich daher an, statt Fallbeilregelungen Anrechnungsregelungen im Gesetz zu verwenden, um diesem Missbrauchsanreiz entgegenzuwirken. Der Gesetzgeber sah schließlich einen grundlegenden Veränderungsbedarf. Seit dem Steuervereinfachungsgesetz 2011595 werden die Einkünfte und Bezüge des volljährigen Kindes bei der Gewährung des Steuerfreibetrages beziehungsweise dem Kindergeld nicht mehr berücksichtigt, relevant sind vielmehr die „typischen Unterhaltssituationen“.596 Die Neuregung des § 32 EStG sieht vor, die Erwerbstätigkeit des volljährigen Kindes bis zum Abschluss der ersten Berufsausbildung oder bis zum Abschluss des ersten Studiums zu fördern. Danach sind volljährige Kinder mit einer Erwerbstätigkeit von mehr als 20 Wochenstunden nicht mehr berücksichtigungsfähig, wenn es sich nicht um ein Ausbildungsdienstverhältnis handelt. Nach der Gesetzesbegründung dient die Neufassung der Regelung der Vereinfachung, und zwar sowohl für den Antragsteller als auch für die Verwaltung.597 IV. Die Figur des Rechtsmissbrauchs in der Rechtsprechung des BSG Bereits im zweiten Band der amtlichen Sammlung hat das BSG dargelegt, dass der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung, gestützt auf den das gesamte Rechtsleben beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben, auch im Gebiet des öffentlichen Rechts Anwendung findet.598 Eine missbräuchliche Rechtsanwendung sei dann anzunehmen, wenn besondere Umstände des Einzelfalls die Annahme eines Missbrauchs gebieterisch erzwingen.599 Das Rechtsinstitut der unzulässige Rechtsausübung wegen Rechtsmissbrauchs sei aus § 242 BGB abzuleiten, dabei handele sich um eine immanente Schranke des Rechts, die auch im Sozialrecht zu beachten ist.600 In einer wenige Jahre darauf ergangenen Entscheidung des BSG heißt es, auch im öffentlichen Recht müssten Rechtsmissbräuche verhindert und Entscheidungen getroffen werden, die dem Zweck der Rechtsordnung entsprechen.601 Nach der Lehre 595  Gesetz

vom 1.11.2011 (BGBl. I, S. 2131). in: Kirchhof, EStG Kommentar (2016), § 32 EStG, Rdnr. 9. 597  BT-Drs. 17/5125, S. 41. 598  BSG, Urteil vom 22.03.1956 – 5 RKn 8/55 –, Rdnr. 31. 599  BSG, Urteil vom 22.03.1956 – 5 RKn 8/55 –, Rdnr. 33. 600  BSG, Urteil vom 13.08.1996 – 12 RK 76/94 –, Rdnr. 26. 601  BSG, Urteil vom 26.03.1963 – 1 RA 168/60 –, Rdnr. 12. 596  Seiler,

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

vom Rechtsmissbrauch bestehe eine Pflicht zu sozial angemessener Rechtsausübung.602 Der Inhalt jeden Rechts sei durch seine rechtsethische und soziale Funktion bestimmt und begrenzt.603 Funktionswidrige Ausübung sei nicht mehr durch den Inhalt des Rechts gedeckt, sie ist nur noch scheinbarer Gebrauch des Rechts, in Wirklichkeit aber Rechtsmissbrauch.604 Auch in neueren Entscheidungen rekurriert das BSG bei der Figur des Rechtsmissbrauchs auf die soziale Unangemessenheit der Rechtsausübung und einen Widerspruch zur rechtsethischen Funktion des Rechts, allerdings liegt der Fokus bei der Beurteilung des Rechtsmissbrauchs auf dem Schutzzweck der Norm.605 Hierbei geht das BSG davon aus, dass der Berechtigte den ihm zustehenden Anspruch im gesetzlichen Rahmen mit legalen Mitteln ausschöpfen kann.606 Die Intensität der Ausführungen des BSG zum Rechtsmissbrauch variieren. Die Spannbreite reicht von der Annahme oder Ablehnung eines Rechtsmissbrauchs ohne weitere Gründe bis zur genauen Auslegung der Norm und Thematisierung von Gründen, die für oder gegen die Annahme eines Rechtsmissbrauchs sprechen. Die Aussagen zum Rechtsmissbrauch erfolgen zumeist gegen Ende der Entscheidungsgründe. Sie werden häufig mit dem Hinweis eingeleitet, dass dogmatisch an die hergebrachte Rechtsprechung zum Rechtsmissbrauch angeknüpft wird. Dann erfolgt eine Zitation vorheriger Entscheidungen des BSG, in denen die Figur des Rechtsmissbrauchs angewandt wurde. Die Leading Cases als Selbstreferenz der Rechtsprechung des BSG zur Figur des Rechtsmissbrauchs werden im Folgenden dargestellt. 1. Fallgruppen a) Formalmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung In mehreren Entscheidungen hat sich das BSG mit dem Missbrauch der so genannten Formalmitgliedschaft607 in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 315a RVO608 auseinandergesetzt. Durch eine Formalmitglied602  BSG,

Urteil vom 28.04.1965 – 9 RV 470/62 –, Rdnr. 13. Urteil vom 06.09.1978 – 10 RV 57/77 –, Rdnr. 20. 604  BSG, Urteil vom 06.09.1978 – 10 RV 57/77 –, Rdnr. 20. 605  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 27. 606  Z. B. BSG, Urteil vom 27.11.1986  – 5a RKnU 6/85  –, Rdnr. 24; BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Rdnr. 27. 607  Die Formalmitgliedschaft wird auch als „fingierte Mitgliedschaft“ bezeichnet, so z. B. Becker, in: Wannagat, SGB V, Bd. 2, § 189 SGB V, 53. Lfg., September 1999, Rdnr. 4. 608  § 315a RVO entspricht § 189 SGB V, der auf Grund von Art. 1 GRG vom 20.12.1988 (BGBl. I, S. 2477) zum 1.1.1989 in Kraft trat. 603  BSG,



C. Exemplarische Fallkonstellationen133

schaft wird für die Dauer des Rentenantragsverfahrens eine Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung fingiert. Die Regelung soll verhindern, dass während der Dauer des Rentenantragsverfahrens Unsicherheiten über den Schutz in der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen.609 Sobald über den Rentenantrag entschieden worden ist, wird aus der Formalmitgliedschaft entweder eine echte Mitgliedschaft oder die Formalmitgliedschaft endet. Grundsätzlich ist also der Erfolg des Rentenantrags für das Bestehen einer Formalmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht relevant, denn nach dem Wortlaut von § 315a RVO gelten Personen als Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung, und zwar ab dem Tag, an dem sie die Rente beantragt haben. Allerdings stellte sich das Problem, ob von der Regelung des § 315a RVO dann eine Ausnahme zu machen ist, wenn der Rentenantrag rechtsmissbräuchlich gestellt wurde. In einer frühen Entscheidung thematisierte das BSG zunächst den Zweck der Regelung, der darin besteht, jedem Anwärter einer Rente den weiteren Krankenversicherungsschutz auch beim Ende der Erwerbstätigkeit sicherzustellen, weswegen es keine Regelung für die Fälle gibt, dass der Rentenantrag trotz Kenntnis des Antragstellers von seiner Unbegründetheit mit der Absicht gestellt wird, einen Krankenversicherungsschutz zu erhalten. In der Entscheidung ließ das BSG die Frage offen, wie mit einer solchen Konstellation umzugehen wäre.610 In einem weiteren Rechtsstreit entschied das BSG dann, dass keine Formalmitgliedschaft entsteht, wenn offensichtlich und für den Antragsteller erkennbar ist, dass kein Anspruch auf eine Rente besteht und der Antrag nur gestellt wird, um einen Schutz in der gesetzlichen Krankenversicherung zu erhalten.611 Das sei zumindest dann der Fall, wenn sich der Rentenantragsteller im Rentenverfahren davon überzeugt hat, dass ein Rentenanspruch nicht besteht, er aber gleichwohl in der Absicht, den Krankenversicherungsschutz zu erhalten, den Rentenantrag weiter verfolgt.612 Nach dieser Entscheidung des BSG muss die Rentenantragstellung also nicht nur objektiv aussichtslos sein, sondern zudem auch subjektiv missbräuchlich erfolgen.613 609  Peters, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL 65, April 2010, § 189 SGB V, Rdnr. 2. 610  BSG Urteil vom 27.08.1965 – 3 RK 6/65 –, Rdnr. 20. 611  BSG, Urteil vom 19.05.1978 – 8/3 RK 4/76 –, Rdnr. 16. 612  BSG, Urteil vom 19.05.1978 – 8/3 RK 4/76 –, Rdnr. 16. 613  In der Literatur ist die Frage umstritten. Nach Peters (in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, 65. EL, April 2010, § 189 SGB V Rdnr. 5) sollen auch eindeutig nicht begründete Rentenanträge die Formalmitgliedschaft begründen; nach Becker soll die offensichtliche Unbegründetheit des Rentenantrags die Rechtsmissbrauchsabsicht indizieren (Becker, in: Wannagat, SGB V, Bd. 2, 53. Lfg., September 1999, § 189 SGB V, Fn. 31).

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

In einer weiteren Entscheidung wurde der Rentenantrag von einem Sozialhilfeträger ohne Kenntnis des Betroffenen gestellt, um für den Sozialhilfeempfänger aufgewandte Krankenhilfekosten von einer Krankenkasse ersetzt zu bekommen.614 Das BSG führt den sozialpolitischen Zweck der Regelung an, nämlich den Übergang vom Erwerbsleben zur Rente ohne Lücken im Krankenversicherungsschutz zu bewerkstelligen. Dieser Schutzzweck der Regelung könne bei einem Sozialhilfeempfänger offensichtlich nicht erfüllt werden.615 Zudem führte es aus, dass die Regelung entgegen ihrem Sinn dazu verwendet würde, die Verpflichtung eines Sozialleistungsträgers auf einen anderen Sozialleistungsträger zu verschieben.616 Das BSG lehnt daher das Entstehen einer Formalmitgliedschaft ab. In dieser Entscheidung argumentiert das BSG allein mit dem Zweck der Regelung, das Wort Missbrauch fällt in der Entscheidung nicht.617 Zusammenfassend lässt sich für die Verwendung der Missbrauchsfigur bei der Formalmitgliedschaft feststellen, dass ein Missbrauch dann angenommen wird, wenn Personen oder andere Leistungsträger, die nach Auffassung des BSG nicht vom Zweck der Norm erfasst sind, von der gesetzlichen Krankenversicherung profitieren wollen. Hierbei erkennt das BSG an, dass auf Grund der Massenverwaltung der Zweck häufig faktisch nicht erreicht wird.618 Das für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs konstitutive Merkmal ist also in dieser Konstellation einerseits die Missbrauchsabsicht des Antragstellers, anderseits ein Verhalten, welches nicht dem Schutzzweck der Norm entspricht. b) Unbilligkeit einer Leistung nach dem Opferentschädigungsgesetz Das BSG hatte ferner über den Beginn einer Halbwaisenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zu entscheiden. Dem lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Ein Ehemann hatte seine Ehefrau und die Mutter des gemeinsamen Kindes getötet. Das Kind begehrte eine Halbwaisenrente nach dem OEG ab dem Zeitpunkt der Tötung der Mutter. Bis zu seiner Verhaftung hatte der Vater dem Kind jedoch Unterhalt geleistet; es stellte sich die Frage, ob die Leistung nach dem OEG während der Unterhaltszahlung durch den Vater „unbillig“ und aus diesem Grund nach § 2 Abs. 1 OEG zu versagen war.619 614  BSG,

Urteil vom 30.08.1979 – 8b RK 1/79 –. Urteil vom 30.08.1979 – 8b RK 1/79 –, Rdnr. 16. 616  BSG, Urteil vom 30.08.1979 – 8b RK 1/79 –, Rdnr. 16. 617  Das vorinstanzliche SG Speyer (Urteil vom 14.11.1978  – S 9 K 7/78–) berief sich in seiner Begründung auf Treu und Glauben und lehnte den Anspruch ab. 618  BSG, Urteil vom 30.08.1979 – 8b RK 1/79 –, Rdnr. 16. 619  BSG, Urteil vom 23.10.1985 – 9a RVg 4/83 –. 615  BSG,



C. Exemplarische Fallkonstellationen135

Das BSG führte aus, die Bewertung der Unbilligkeit solle nach den Maßstäben der unzulässigen Rechtsausübung erfolgen.620 Nach dem allgemeinen und auch im Sozialrecht geltenden Rechtsgedanken könne ein Recht dann nicht geltend gemacht werden, wenn es der rechtsethischen Funktion des Rechts widerspricht.621 Die Beurteilung des Rechtsmissbrauchs erfolge anhand des Schutzzwecks der Norm.622 Die Waisenrente nach dem OEG habe nur eine unterhaltssichernde Funktion.623 Sie diene also dazu, den Unterhaltsanspruch zu ersetzen, und habe anders als die Zweckbestimmung des Gesetzes über die Versorgung von Opfern des Krieges (BVG) grundsätzlich nicht die Aufgabe, Belastungen im menschlichen und persönlichen Bereich zu entschädigen.624 Im Ergebnis wurde ein Beginn der Halbwaisenrente ab dem Tod der Mutter vom BSG mit dem Argument versagt, dass der Vater seiner familienrechtlichen Sorgepflicht gegenüber seinem Kind nachgekommen und damit letztlich dem Gesetzeszweck Genüge getan sei. Würde dennoch Waisengrundrente gewährt, die nur dem Ausgleich eines Unterhaltsanspruches diene, wäre dies mit dem sozialen Verständnis des Opferentschädigungsrechts unvereinbar.625 Das Einstehen der Solidargemeinschaft ließe sich nicht mehr rechtfertigen.626 Das BSG zieht zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unbilligkeit in dieser Entscheidung zwar die Figur des Rechtsmissbrauchs heran, letztlich maßgeblich ist jedoch auch in dieser Entscheidung das Abstellen auf den Schutzzweck der Norm, indem die Funktion der Waisenrente in dieser Konstellation auf die Unterhaltssicherung beschränkt wird. c) Verzicht auf Einkommen zum Erhalt eines Anspruchs Das BSG hatte sich ferner mit der Frage zu befassen, ob ein Kind, das sich in der Ausbildung befindet, wirksam auf einen Teil der Ausbildungsvergütung oder vermögenswirksame Leistungen verzichten kann, um den Grenzwert für eine Kinderzulage nach § 583 RVO nicht zu überschreiten.627 Das BSG hat entschieden, dass die Sozialversicherungsträger nur dann den Ver620  BSG,

Urteil vom 23.10.1985 – 9a RVg 4/83 –, Rdnr. 22. BSG, Urteil vom 19.05.1978 – 8/3 RK 4/76 –, Rdnr. 16; BSG, Urteil vom 23.10.1985 – 9a RVg 4/83 –, Rdnr. 22; BSG, Urteil vom 22.03.1995 – 10 RAr 1/94 –, Rdnr. 24. 622  BSG, Urteil vom 23.10.1985 – 9a RVg 4/83 –, Rdnr. 22. 623  BSG, Urteil vom 23.10.1985 – 9a RVg 4/83 –, Rdnr. 16, 22. 624  BSG, Urteil vom 23.10.1985 – 9a RVg 4/83 –, Rdnr. 16 f. 625  BSG, Urteil vom 23.10.1985 – 9a RVg 4/83 –, Rdnr. 22. 626  BSG, Urteil vom 23.10.1985 – 9a RVg 4/83 –, Rdnr. 22. 627  BSG, Urteil vom 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –. 621  Z. B.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

zicht nicht gegen sich gelten lassen müssen, wenn die Rechtsausübung missbräuchlich erfolgt ist.628 Zwar sei eine Tendenz des Gesetzgebers zu beobachten, Gestaltungsspielräume in der Sozialversicherung zu beseitigen, jedoch sei grundsätzlich davon auszugehen, dass Ansprüche im gesetzlich vorgegebenen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln ausgeschöpft werden können.629 Wann die Rechtsausübung missbräuchlich wäre, lässt das BSG in seiner Entscheidung offen. d) Vorfinanzierung des Insolvenzausfallgeldes In einer weiteren Konstellation hatte sich das BSG mit der Frage zu befassen, ob eine Bank, die Konkursausfallgeld vorfinanziert hatte, diesen Betrag aus abgetretenem Recht aus der Konkursausfallversicherung erhalten kann.630 Das BSG hat entschieden, dass kein Missbrauch anzunehmen ist, wenn ein Sequester hierdurch die Personalkosten für die Erwirtschaftung einer ausreichenden Konkursmasse auf die Konkursausfallversicherung verlagert.631 Im Rahmen der Entscheidung setzt sich das BSG intensiv mit der Frage des Missbrauchs auseinander.632 Es wird betont, dass sich die Frage des Rechtsmissbrauchs am Schutzzweck der Norm orientiere, wobei grundsätzlich davon auszugehen ist, dass der Berechtigte seinen Anspruch in diesem Rahmen mit legalen Mitteln ausschöpfen kann.633 Das BSG weist auf die Risiken hin, die durch eine Vorfinanzierung des Konkursausfallgeldes entstehen können, nämlich zum einen rückständiges Arbeitsentgelt auflaufen zu lassen und zum anderen die Möglichkeit der „dynamischen Sequestration“ als Handlungsmöglichkeit für den vorläufigen Insolvenzverwalter zu begründen.634 Das BSG sieht aber angesichts der derzeit geltenden Regelung keine Möglichkeit, diesen Gefahren zu begegnen.635 Zur Begründung führt das BSG die Gesetzgebungsgeschichte der Norm aus, wonach der Gesetzgeber zwar bei Einführung der Norm die daraus resultierenden Gefahren noch nicht gesehen, jedoch die Norm bereits geändert habe.636

628  BSG, 629  BSG, 630  BSG, 631  BSG, 632  BSG, 633  BSG, 634  BSG, 635  BSG, 636  BSG,

Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil

vom vom vom vom vom vom vom vom vom

27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –, Rdnr. 24. 27.11.1986 – 5a RKnU 6/85 –, Rdnr. 24. 22.03.1995 – 10 RAr 1/94 –. 22.03.1995 – 10 RAr 1/94 –, Ls. 1. 22.03.1995 – 10 RAr 1/94 –, Rdnr. 24 ff. 22.03.1995 – 10 RAr 1/94 –, Rdnr. 24. 22.03.1995 – 10 RAr 1/94 –, Rdnr. 25 f. 22.03.1995 – 10 RAr 1/94 –, Rdnr. 27. 22.03.1995 – 10 RAr 1/94 –, Rdnr. 28 ff.



C. Exemplarische Fallkonstellationen

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2. Neuere Tendenzen in der Rechtsprechung des BSG In der Entscheidung des BSG zur Frage, ob ein Rechtsmissbrauch vorliegt, wenn zur Erlangung eines höheren Anspruchs auf Elterngeld die Steuerklasse gewechselt wird, hat das BSG den Anwendungsbereich des Missbrauchsarguments deutlich präzisiert. Das Gericht stellt fest, dass der Wortlaut von § 2 Abs. 7 Satz 1 BEEG eindeutig ist und der Norm weder durch Auslegung noch durch richterliche Rechtsfortbildung ein anderer Regelungsgehalt zu entnehmen ist.637 Der Schutzbereich der Norm, Sinn und Zweck des Rechts und damit auch seine rechtsethische Funktion würden in erster Linie durch den Gesetzgeber selbst bestimmt.638 Ein Missbrauchseinwand komme „in erster Linie“ dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten übersehen habe, die sich erst bei späterer Anwendung des Gesetzes zeigten und die er nach seiner sonstigen Zielsetzung mit Sicherheit unterbunden hätte.639 Wegen § 31 SGB I komme es bei Ansprüchen, die auf einem Gesetz beruhen, nicht auf die Auffassung des Rechtsanwenders, sondern auf die des Gesetzgebers an, wenn es zu entscheiden gelte, wann ein Missbrauch vorliege.640 Diese Auslegung des BSG deutet darauf hin, die Figur des Rechtsmissbrauchs künftig grundsätzlich als einen Unterfall der teleologischen Reduktion, orientiert am Schutzzweck der Norm, anzusehen.641 Allerdings lässt die Formulierung „in erster Linie“ gegebenenfalls doch Ausnahmen zu.642 3. Rechtsmissbrauch ohne Nennung der Figur des Rechtsmissbrauchs a) Problemstellung In manchen Fallkonstellationen wird von der Rechtsprechung auf das Missbrauchsargument rekurriert, ohne dass das Verhalten ausdrücklich als rechtsmissbräuchlich benannt wird. Dies soll im Folgenden an einem Beispiel dargestellt werden, das an die Konstellation des missglückten Arbeitsversuchs erinnert. Gegenstand der Exemplifizierung ist die Frage nach der Begründung einer Versicherungspflicht durch einen Zivildienstleistenden nach § 26 Abs. 1 Nr. 2 SGB III a. F. Das Bestehen der Versicherungspflicht ist relevant für die Er637  BSG,

Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, 639  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, 640  BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R –, 641  So auch Röhl, jurisPR-SozR 23/2009, Anm. 5. 642  So auch Röhl, jurisPR-SozR 23/2009, Anm. 5. 638  BSG,

Rdnr. 23 f. Rdnr. 28. Rdnr. 28. Rdnr. 28.

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

füllung der Anwartschaftszeit, die nach § 118 Abs. 1 Nr. 3 SGB III a. F.643 wiederum Voraussetzung für einen Anspruchs auf Arbeitslosengeld ist. Nach § 26 Abs. 1 Nr. 2 SGB III a. F wurde eine Versicherungspflicht für die Zeit des Wehr- oder Zivildienstes begründet, wenn eine Person dem Kreis der Beschäftigten zuzurechnen war und wegen ihres Wehr- oder Zivildienstes ihrer Tätigkeit nicht nachgehen konnte. Die Regelung diente dazu, Wehroder Zivildienstleistende vor Nachteilen in der sozialen Sicherung zu schützen. Wenn vor Beginn des Wehr- oder Zivildienstes kein Versicherungsverhältnis bestand, konnte ein solches grundsätzlich nicht erstmalig durch den Wehr- oder Zivildienst begründet werden. Eine Ausnahme von dem Erfordernis der Versicherungspflicht durch Beschäftigung bildeten nach § 26 Abs. 1 Nr. 2 SGB III a. F. Bezieher von Leistungen nach dem SGB III und Personen, die beim Arbeitsamt für eine versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des SGB III arbeitsuchend gemeldet waren. Diese Personen sollten grundsätzlich den Arbeitnehmern zuzurechnen sein, da sie nur vorübergehend auf Grund der Arbeitslosigkeit nicht dem Schutz des SGB III unterfielen.644 Keine Versicherungspflicht und somit auch keine Begründung einer Anwartschaft trat indes nach § 26 Abs. 4 SGB III a. F. ein, wenn die Person in den letzten zwei Monaten645 vor Beginn des Dienstes unter anderem eine Ausbildung an einer allgemeinbildenden Schule beendet und innerhalb der letzten zwei Jahre vor Beginn der Ausbildung weniger als zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hatte. In der vom sächsischen Landessozialgericht zu entscheidenden Konstellation meldete sich der Kläger im August 2001 arbeitslos, nachdem er im Juli 2001 seine allgemeine Hochschulreife erworben hatte. Von September 2001 bis Juni 2002 leistete er seinen Zivildienst ab und nahm im Oktober 2002 sein Studium auf.646 Der Kläger begehrte für die Zeit zwischen der Beendigung des Zivildienstes und der Aufnahme des Studiums Arbeitslosengeld.647 Die Gewährung von Arbeitslosengeld setzt jedoch voraus, dass der Kläger die Anwartschaftszeit erfüllt hat; streitig war also die Frage, ob die Beschäftigungssuche des Klägers vor Antritt seines Zivildienstes mindestens zwei 643  Valgolio, in: Hauck/Noftz, SGB, 05/15, § 137 SGB III, Rdnr. 35 ff. Die Regelung des § 118 Abs. 1 Nr. 3 SGB III a. F. findet sich seit dem Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 (BGBl. I, S. 2854) in § 137 SGB III. 644  Schlegel, in: Eicher/Schlegel, SGB III, 86. Erg., November 2008, § 26 SGB III, Rdnr. 43. 645  Durch das Gesetz zur Neuausrichtung der Bundeswehr vom 20.12.2001 (BGB l 2001, S. 413) wurde die Zeitdauer zwischen dem Ende der Schulzeit und dem Beginn des Wehr- oder Zivildienstes auf vier Monate erhöht. 646  LSG Sachsen, Urteil vom 23.09.2004 – L 3 AL 255/03 –, Rdnr. 1. 647  LSG Sachsen, Urteil vom 23.09.2004 – L 3 AL 255/03 –, Rdnr. 2.



C. Exemplarische Fallkonstellationen139

Monate gedauert haben musste. Das sächsische Landessozialgericht lehnte den Anspruch auf Arbeitslosengeld mit der Begründung ab, dass es dem Kläger an einer hinreichenden Vorversicherungszeit fehle.648 Nach Auffassung des Gerichtes sei es Zweck von § 26 Abs. 1 Nr. 2b) SGB III a. F., nur diejenigen abzusichern, die bereits nach der gesetzgeberischen Wertung eine hinreichende Bindung an die Versichertengemeinschaft aufwiesen.649 Auch aus der Entstehungsgeschichte der Regelung ergebe sich, dass das SGB III eine stärkere Verknüpfung zwischen Leistungsrecht und Zugehörigkeit zu einer Versicherung bezwecke.650 Hieraus folge, dass versicherungspflichtig nur Personen seien, die unmittelbar vor Beginn des Dienstes länger als zwei Monate entweder beschäftigt oder arbeitslos gewesen seien, sofern sie weder als Schüler noch als Student versicherungsfrei gewesen seien.651 Die Frist von zwei Monaten folge auch aus der systematischen Auslegung. Wenn man auf § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV abstelle, wonach der Schüler bei einem Zeitraum von weniger als zwei Monaten zwischen Schulende und Dienstantritt nur eine geringfügige Beschäftigung ausübe, resultiere hieraus mangels Versicherungspflicht keine Äquivalenz von Beiträgen und dem sozialversicherungsrechtlichen Schutz vor Arbeitslosigkeit.652 Der Rechtsprechung des Sächsischen Landessozialgerichts liegt die Konstruktion zu Grunde, dass in § 26 Abs. 1 Nr. 2b) a. F. SGB III die Frist von zwei Monaten aus § 26 Abs. 4 Nr. 1 SGB III a. F. hineingelesen wird, nämlich das Erfordernis einer zweimonatigen Suche nach einer Beschäftigung. Es wird also für die Begründung der Versicherungspflicht ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal gefordert.653 Der Grund für dieses zusätzliche Erfordernis dürfte darin zu sehen sein, dass das Verhalten des Klägers als rechtsmissbräuchlich beurteilt wird, auch wenn dieser Grund vom Sächsischen Landessozialgericht nicht ausdrücklich genannt wird.654 Denn allein durch die Arbeitslosmeldung vor Beginn des Zivildienstes wird in dieser Konstellation ein Anspruch auf Arbeitslosengeld begründet. Das BSG hat die Entscheidung des Sächsischen Landessozialgerichts aufgehoben und darauf abgestellt, ob der Kläger mit seiner Arbeitslosmeldung eine dauerhafte beziehungsweise „berufsmäßige“ Beschäftigung gesucht habe.655 Entscheidend sei also, ob der Schüler eine Beschäftigung gesucht habe, die er gegebenenfalls nach Been648  LSG

Sachsen, Urteil vom 23.09.2004 – L 3 AL 255/03 –. Sachsen, Urteil vom 23.09.2004 – L 3 AL 255/03 –, Rdnr. 48. 650  LSG Sachsen, Urteil vom 23.09.2004 – L 3 AL 255/03 –, Rdnr. 51. 651  LSG Sachsen, Urteil vom 23.09.2004 – L 3 AL 255/03 –, Rdnr. 49. 652  LSG Sachsen, Urteil vom 23.09.2004 – L 3 AL 255/03 –, Rdnr. 49; LSG Sachsen, Urteil vom 29.11.2001 – L 3 AL 53/01 –, Rdnr. 40. 653  Felix, SGB 2006, S. 734 (744). 654  So Felix, SGB 2006, S. 734 (734 f.). 655  BSG, Urteil vom 06.06.2006 – B 7a AL 2/05 R, Rdnr. 17. 649  LSG

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

digung des Zivildienstes wiederaufgenommen hätte, oder ob es ihm von vorneherein nur darum gegangen sei, die Wartezeit zu überbrücken.656 b) Funktion des Missbrauchsarguments Die Funktion des Missbrauchsarguments besteht auch in dieser Konstellation darin, die Versichertengemeinschaft vor Ausgaben zu bewahren, die nicht durch Beiträge des Versicherten gegenfinanziert wurden. Die Rechtsprechung erinnert an den missglückten Arbeitsversuch,657 da daran angeknüpft wird, dass dem Schutz vor Arbeitslosigkeit auf der Beitragsseite kein entsprechendes Äquivalent gegenübersteht.658 Durch die bloße Arbeitslosmeldung wird ein Anspruch auf Sozialleistungen begründet. Die Rechtsprechung sorgt auf diese Weise für ein gewisses Einsparpotential in der Arbeitslosenversicherung.659 Es zeigt sich auch an dieser Konstellation die Durchgangsfunktion des Rechtsmissbrauchsarguments. Zunächst hatte der Gesetzgeber zwar für Arbeitsuchende die Dauer der Zeit, die zwischen Beendigung der Schule und Beginn des Dienstes liegt, auf vier Monate erhöht, so dass die Versicherungspflicht ausgeschlossen war, wenn die Person in den letzten vier Monaten vor Beginn des Dienstes die Schule beendet hatte. Dann wurde jedoch der Absatz 4 der Regelung gestrichen, und durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003660 erhielt § 26 Abs. 1 Nr. 2 SGB III eine neue Fassung, wonach alle Wehr- und Zivildienstleistenden versicherungspflichtig sind, wenn sie während dieser Zeit nicht als Beschäftigte versicherungspflichtig sind. Die Neufassung der Regelung führt dazu, dass sich die zuvor bestehenden Abgrenzungsprobleme – ob der Schüler tatsächlich arbeitsuchend ist oder lediglich eine Wartezeit bis zu dem Beginn des Studiums überbrücken will – erledigt haben. Die Tätigkeit als Wehr- oder Zivildienstleistender führt grundsätzlich zur Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung. Durch die Regelung ist somit nicht nur ein Mehr an Rechtssicherheit entstanden, sondern der Gesetzgeber hat auch Nachteilen im sozialen Schutz, die zuvor durch den Wehr- oder Zivildienst entstehen konnten, entgegengewirkt.661 656  BSG,

Urteil vom 06.06.2006 – B 7a AL 2/05 R –, Rdnr. 17 f. BSG, Urteil vom 04.12.1997 – 12 RK 3/97 –; siehe hierzu unter 2. Abschnitt C I. 1. 658  LSG Sachsen, Urteil vom 23.09.2004 – L 3 AL 255/03 –, Rdnr. 48; sowie LSG Sachsen, Urteil vom 29.11.2001 – L 3 AL 53/01 –, Rdnr. 40. 659  Felix, SGB 2006, S. 734 (744). 660  BGBl I 2003, S. 2848. 661  Siehe BT-Drs. 15/1515, S. 77. 657  Grundlegend



D. Zusammenfassung der Ergebnisse141

D. Zusammenfassung der Ergebnisse Die Figur des Rechtsmissbrauchs war von der Rechtswidrigkeit, der Rechtmäßigkeit und dem Leistungsmissbrauch abzugrenzen. Mit der Rechtmäßigkeit hat der Rechtsmissbrauch gemein, dass die Ausübung des Rechts ihrer Form nach das Normprogramm an sich erfüllt. Es wird scheinbar ein dritter Codewert etabliert, in dem die Gerechtigkeit auftaucht. Unter Leistungsmissbrauch ist nur eine rechtswidrige Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu verstehen, die auf einem vorwerfbaren schuldhaften Verhalten des Leistungsbeziehers beruht. Einer solchen Begriffsdefinition entspricht im Steuerrecht die Steuerhinterziehung. Die Figur des Rechtsmissbrauchs ist auch vom Phänomen des Moral Hazards zu unterschieden. Der ökonomische Ansatz des Moral Hazards beschreibt eine Verhaltensänderung von Versicherungsnehmern wegen des Bestehens einer Versicherung. Die Untersuchung des Phänomens des Moral Hazards dient primär dazu, Schwächen eines Versicherungssystems aufzuzeigen. Die Figur des Rechtsmissbrauchs ist auf Einzelkonstellationen gerichtet. Allerdings können diese auch auf Reformbedarf im Regelungssystem hinweisen. Für die Figur des Rechtsmissbrauchs verbleibt neben der Rechtswidrigkeit und dem Leistungsmissbrauch nur ein enger Anwendungsbereich. Eine positive Definition des Rechtsmissbrauchs ist nicht möglich. Es wurden Fallgruppen untersucht, in denen direkt oder implizit auf den Rechtsmissbrauch oder die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens rekurriert wird. Der Leading Case zur Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialversicherungsrecht ist der so genannte missglückte Arbeitsversuch, der mit Einführung des SGB V von der Rechtsprechung wieder aufgegeben wurde. Mit der Figur des missglückten Arbeitsversuchs konnten besonders schlechte Versicherungsrisiken auf Grund bestehender Erkrankungen ausgenommen werden, um das Beitragsausfall- und Leistungsrisiko der gesetzlichen Krankenversicherung zu reduzieren, wodurch eine Einsparmöglichkeit für die gesetzlichen Krankenversicherungen geschaffen wurde. Die Fallkonstellation der Gründung so genannter Missbrauchsaktiengesellschaften zeigte die Durchgangsfunktion der Figur des Rechtsmissbrauchs auf, nämlich bis zur Änderung der Regelung bestimmten Gestaltungen die rechtliche Anerkennung zu versagen. An diesem Beispiel zeigte sich auch, dass der Gesetzgeber im Sozialrecht – ebenso wie im Steuerrecht – in der Lage ist, gesetzliche Regeln sehr rasch zu modifizieren, wenn sie seiner Auffassung nach zweckwidrig ausgeübt werden. Überdies steht es ihm frei, eine Regelung wie § 42 AO in das Sozialrecht aufzunehmen. Auch bei der Untersuchung der Wirksamkeit von Erbschaftsgestaltungen zu Gunsten von behinderten und bedürftigen Personen zu Lasten der Sozialhilfe zeigte sich, dass

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1. Teil 2. Abschn.: Die Argumentationsfigur im Sozialrecht

die Annahme einer Umgehung wegen Art. 14 Abs. 1 GG einer gesetzgeberischen Entscheidung bedarf. Bei der Untersuchung des so genannten Missbrauchs von Leistungen nach dem BAföG zeigte sich ebenfalls gesetzgeberischer Handlungsbedarf. So böte sich die Einführung einer Regelung wie § 34 SGB II im BAföG und einer Regelung wie § 39 AO im Sozialrecht an. Zudem zeigte sich, dass ein Rückgriff auf den Fremdvergleich auch ohne Heranziehung der Figur des Rechtsmissbrauchs zu sachgemäßen Ergebnissen führt. Bei der Analyse der Konstellation des Lohnsteuerklassenwechsels zur Erhöhung des Elterngeldes zeigte sich, dass die Figur des Rechtsmissbrauchs methodisch als Form der teleologischen Reduktion zu verorten sein dürfte. Überdies sind optimierende Gestaltungen nicht nur im Steuerrecht, sondern auch im Sozialrecht grundsätzlich zulässig, wenn der Gesetzgeber darauf verzichtet, derartige Gestaltungsmöglichkeiten zu unterbinden. Es ist nicht Aufgabe der Rechtsprechung, einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten als Nachkorrektur für Folgen einer verfehlten Gesetzestechnik anzunehmen. Dieser Befund bestätigte sich bei der Untersuchung der Beachtlichkeit des Verzichts auf Einkommen, um eine bestimmte Einkommensgrenze nicht zu überschreiten. Der Verzicht ist zumindest dann beachtlich, wenn er Einkommensansprüche oder vermögenswirksame Leistungen betrifft, auf die zivilrechtlich wirksam verzichtet werden kann. Es zeigte sich, dass echte Missbrauchsregelungen Folgeprobleme nach sich ziehen können. Grenzbeträge verbunden mit so genannten Fallbeilregelungen scheinen besonders anfällig für Umgehungen zu sein, da von den Normadressaten der Verlust des vollständigen Anspruchs wegen eines auch nur geringfügigen Überschreitens des Betrages häufig als ungerecht empfunden wird. Aus diesem Grund bietet es sich an, statt Fallbeilregelungen Anrechnungsregelungen im Gesetz zu verwenden, um diesem Missbrauchsanreiz entgegenzuwirken. Bei der Analyse der Figur des Rechtsmissbrauchs in der Rechtsprechung des BSG zeigte sich, dass das BSG bei der Figur des Rechtsmissbrauchs auf die soziale Unangemessenheit der Rechtsausübung und einen Widerspruch zur rechtsethischen Funktion des Rechts abstellt. In neueren Entscheidungen liegt der Fokus bei der Beurteilung des Rechtsmissbrauchs auf dem Schutzzweck der Norm. Das BSG geht davon aus, dass der Berechtigte den ihm zustehenden Anspruch im gesetzlichen Rahmen mit legalen Mitteln ausschöpfen kann. Ein Missbrauchseinwand kommt danach in erster Linie dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten übersehen hat, die sich erst bei späterer Anwendung des Gesetzes zeigten und die er nach seiner sonstigen Zielsetzung mit Sicherheit unterbunden hätte. Gelegentlich zieht die Rechtsprechung das Missbrauchsargument heran, ohne dieses zu benennen, um Leistungen zu versagen, ohne dass hierfür ein normativer Anknüpfungspunkt besteht.

Zweiter Teil

Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs A. Divergenzen zwischen Zivilrecht und Sozialrecht I. Allgemeines „Sozialrecht ist Recht, das durch seinen sozialen Zweck geprägt ist.“1 Es verwirklicht eine spezifische Funktion der Sozialpolitik, nämlich soziale Defizite durch rechtliche Regelungen zu kompensieren. Welche Ansätze der Gesetzeber hierfür wählt, ist grundsätzlich Teil der Einschätzungsprärogative.2 Zacher hat für das Sozialrecht die grundlegende Unterscheidung zwischen internalisierenden und externalisierenden Lösungen geprägt.3 Bei internalisierenden Lösungen verbleibt das Problem innerhalb seines Bereichs, indem beispielsweise im Zivilrecht Regelungen getroffen werden, auf Grund derer der Unterhaltsverband bei einer mangelnden Bedarfsdeckung eintritt.4 Bei externalisierenden Lösungen werden Problemlagen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und in einen öffentlich-rechtlichen Regelungszusammenhang überführt. Als Beispiel kann hier die Hinterbliebenenrente dienen, bei der nicht mehr die Familie für den Unterhalt des Hinterbliebenen aufkommt, sondern die Last von der gesetzlichen Rentenversicherung getragen wird.5 Beide Regelungen versuchen, das gleiche Defizit zu kompensieren, unterliegen aber unterschiedlichen Voraussetzungen. Wenn sich der Gesetzgeber für eine externalisierende Lösung entscheidet, hat dies

1  Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: Maydell/Eichenhofer (Hrsg.), 1993, S. 257 (257). 2  Vgl. BVerfG, Urteil vom 10.06.2009  – 1 BvR 706/08, 1 BvR 814/08, 1 BvR 819/08, 1 BvR 832/08, 1 BvR 837/08 –, Rdnr. 169. 3  Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hrsg.), 1985, S.  11 (23 ff.). 4  Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: Maydell/Eichenhofer (Hrsg.), 1993, S. 257 (261 f.). 5  Zacher, SGB 1982, S. 329 (331 ff.); Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: Maydell/Eichenhofer (Hrsg.), 1993, S. 257 (261 f.).

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

zur Folge, dass die getroffenen Regelungen Teil des öffentlichen Rechts sind und dessen Bindungen unterliegen.6 II. Der Grundsatz von Treu und Glauben Nach Pestalozza hat sich der Grundsatz von Treu und Glauben „auch im öffentlichen Recht durchgesetzt und einen Siegeszug angetreten, in dessen Tross auch der Missbrauchsgedanke mitgeschleppt wird“.7 Diese These hat sich auch bei der Analyse der Fallbeispiele aus dem Sozialrecht bestätigt. Es hat sich herausgestellt, dass im Zusammenhang mit der Figur des Rechtsmissbrauchs zumeist § 242 BGB entweder direkt, analog, als allgemeiner Rechtsgrundsatz oder als allgemeines Rechtsprinzip genannt wird, um einen Missbrauch anzunehmen oder abzulehnen, und auf die so genannte Innentheorie verwiesen wird.8 Allerdings kann der Verweis auf den Grundsatz von Treu und Glauben keine Begründungsleistung erbringen. De Wall weist auf die Gefahr hin, dass der Grundsatz von Treu und Glauben auch im Öffentlichen Recht „zu einer allgemeinen Krücke für allgemeine Billigkeitserwägungen – im Extremfall sogar contra legem – zu werden“ droht.9 Diese Gefahr realisiert sich besonders, wenn der Grundsatz von Treu und Glauben und die Figur des Rechtsmissbrauchs zusammengebracht werden. De Wall merkt hierzu an: „Zwar wird man im Einzelfall den entsprechenden Judikaten die Berechtigung nicht absprechen können. In diesem Fall ist aber die Gefahr freier richterlicher Rechtsschöpfung und reiner richterlicher Rechtsschöpfung mittels des Grundsatzes von Treu und Glauben besonders groß.“10 Die Figur des Rechtsmissbrauchs birgt das Risiko, dann zur Anwendung zu kommen, wenn ein Ergebnis mit dem Rechtsgefühl des Rechtsanwenders nicht kompatibel ist; der Rechtsmissbrauchseinwand dient der „Neutralisierung“ eines nicht hinnehmbaren, als ungerecht empfundenen Ergebnisses, das methodisch korrekt zustande gekommen ist.11 Um diesem dem Dezisionismuseinwand ausgesetzten Vorgehen zu begegnen, regt De Wall an, diesem Problem durch die Bildung von Fallgruppen 6  Zacher,

SGB 1982, S. 329 (332). „Formenmißbrauch“ des Staates, 1973, S. 89. 8  Zur Innnentheorie siehe unter Erster Teil, 1. Abschnitt, III. 9  de Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 238. 10  de Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 271. 11  Reinhardt, Wissen und Wissenszurechnung im öffentlichen Recht, 2010, S. 123. 7  Pestalozza,



A. Divergenzen zwischen Zivilrecht und Sozialrecht 145

wie im Zivilrecht zu begegnen.12 Allerdings entschärft auch eine Fallgruppenbildung das Problem nicht. Die Bildung von Fallgruppen ist in erster Linie eine Ordnungsleistung. Es werden scheinbar subsumtionsfähige Tatbestände geschaffen. Die Zuordnung zu einer Fallgruppe ersetzt die eigentlich erforderliche Begründungsleistung im konkreten Rechtsanwendungsfall jedoch nicht.13 Während im Zivilrecht gleichberechtigte Partner aufeinandertreffen und im Rahmen ihrer Privatautonomie Verträge schließen, hat der Bürger im Sozialrecht gesetzlich geregelte Ansprüche gegen einen Träger hoheitlicher Gewalt. Im zivilrechtlichen Kontext erfolgt eine Abwägung der schutzwürdigen Interessen der Parteien sowie ihrer aus dem Vertrag resultierenden Rechte und Pflichten. In diese Abwägung kann auch eingestellt werden, dass ein Partner sich rechtsmissbräuchlich gegen die Vereinbarung verhält. Im Sozialrecht hingegen hat der Gesetzgeber diesen Abwägungsprozess bei gebundenen Leistungsansprüchen weitgehend vorweggenommen und durch den Normtext vorgegeben. Der Anspruch entsteht kraft Gesetzes bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen.14 Auch bei Ermessensentscheidungen ist der Zweck der Ermächtigung zu berücksichtigen.15 Zudem ist die behördliche Entscheidung ermessensfehlerfrei zu treffen.16 Wenn der Gesetzgeber den Gebrauch einer Regelung als missbräuchlich beurteilt, steht es ihm frei, die Regelung zu verändern. Dieses kann, wie die Fallanalyse gezeigt hat, auch relativ kurzfristig erfolgen.17 Nach Siehr lässt sich der Unterschied zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht dadurch ausdrücken, dass im Privatrecht der Richter ein unzulängliches oder fehlendes Gesetz sinngemäß auslegen oder durch Richterrecht ersetzen kann, wenn er eine bessere Rechtseinsicht als der Gesetzgeber hat.18 Im Öffentlichen Recht hingegen habe der Richter die Rechtseinsicht des Gesetzgebers nicht zu korrigieren, er kann nur eine bessere Einsicht beim Gesetzgeber anmahnen.19 Dieser Befund trifft auf das Sozialrecht in besonderem Maße zu, da der Gebrauch des Missbrauchsarguments stark mit rechtspolitischen Zielvor12  de Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 271. 13  Vgl. für das Zivilrecht Waldhoff, Vertrauensschutz im Steuerrechtsverhältnis, in: Pezzer (Hrsg.), 2004, S. 129 (157 f.). 14  § 38 SGB I. 15  § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I. 16  Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL 46, März 2005, § 39 SGB I, Rdnr.  9 ff. 17  Siehe hierzu das Beispiel der Gründung so genannter Missbrauchsaktiengesellschaften (Erster Teil, 2. Abschnitt, C. I. 1.). 18  Siehr, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Bd. I, 2009, S. 741 (742). 19  Siehr, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Bd. I, 2009, S. 741 (742).

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

stellungen von sozialer Sicherung verbunden ist. Es kann nicht Funktion der Rechtsprechung sein, diese statt des Gesetzgebers zu definieren.20 III. Besonderheiten auf Grund des Sozialrechtsverhältnisses Das Sozialrechtsverhältnis gehört zu den „schillernden Begriffen“21 des allgemeinen Sozialrechts. Seine Grundlage ist der Sozialleistungsanspruch als gesetzliches Schuldverhältnis. Häufig wird die Ähnlichkeit des Sozialrechtsverhältnisses mit einem zivilrechtlichen Schuldverhältnis betont,22 gleichwohl handelt es sich beim Sozialrechtsverhältnis um eine Ausprägung eines Verwaltungsrechtsverhältnisses. Da das Sozialrecht ein Referenzgebiet des allgemeinen Verwaltungsrechts ist, soll zur Klärung der Frage, ob für die Anwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs auf Grund des Sozialrechtsverhältnisses Besonderheiten bestehen, zunächst kurz auf die Lehre vom Verwaltungsrechtsverhältnis eingegangen werden. Durch die Lehre vom Verwaltungsrechtsverhältnis sollte das obrigkeitsstaatliche Modell des besonderen Gewaltverhältnisses überwunden werden.23 Durch eine Fokussierung auf das Prozesshafte und Wechselseitige des Verwaltungshandelns sollte eine am Verwaltungsakt als „archimedischem Punkt“ orientierte Betrachtung überwunden werden.24 Während die Verwaltungsformenlehre an die verwaltungsrechtliche Entscheidung anknüpft und auf das Ergebnis bezogen ist, bezieht das Verwaltungsrechtsverhältnis die Gesamtsituation mit ihren wechselseitigen Beziehungen mit ein.25 Die Lehre vom Verwaltungsrechtsverhältnis birgt das Risiko, dass Rechte und Pflichten „am Gesetz vorbei“ begründet werden, da die Beziehungen der Beteiligten in den Vordergrund gerückt werden.26 In der verwaltungsrechtlichen Dogmatik ist mittlerweile eine „gewisse Ernüchterung“ 20  Siehe hierzu das Beispiel des so gennannten missglückten Arbeitsversuchs (Erster Teil, 2. Abschnitt, C. I. 2.). 21  Waschull, in: Fichte/Plagemann/Waschull, § 2 Sozialverwaltungsverfahren, Rdnr. 13. 22  So Schnapp, DÖV 1986, S. 811 (815). 23  Grundlegend Häberle, Das Verwaltungsrechtsverhältnis – eine Problemskizze, in: Das Sozialrechtsverhältnis, 1979, S. 60 (60 ff.), der sein Konzept auf der 1. Sozialrechtslehrertagung vorstellte. Durch das Zusammenspiel im Verwaltungsrechtsverhältnis sollen ein „bürgernahes Verwaltungsrecht“ und ein „verwaltungszwecknahes Bürgerrecht“ entstehen. 24  Häberle, Das Verwaltungsrechtsverhältnis – eine Problemskizze, in: Das So­zial­ rechtsverhältnis, 1979, S. 60 (74). 25  Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. (2006), S.  302 f. 26  von Danwitz, Die Verwaltung 30 (1997), S. 339 (350 ff).



A. Divergenzen zwischen Zivilrecht und Sozialrecht 

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über den Nutzen der Lehre vom Verwaltungsrechtsverhältnis eingetreten.27 Heute wird sie im allgemeinen Verwaltungsrecht neben der Lehre von der Form als eine Perspektivenverschiebung verwandt, wodurch ein Ausschnitt des Verwaltungshandelns betrachtet werden kann. Sie dient dazu, die kommunikativen Beziehungen der Akteure im Verwaltungsverhältnis sowie die Verbindung von Rechten und Pflichten der Beteiligten stärker herauszustellen.28 Es handelt sich also beim Verwaltungsrechtsverhältnis um eine Betrachtungsweise, der vor allem eine heuristische und strukturierende Funktion zukommt.29 Im Sozialrecht – wie auch im Steuerrecht – kommt dem Verwaltungsrechtsverhältnis eine besondere Bedeutung zu, da in beiden Rechtsgebieten eine „individualisierende ‚besondere‘ Verdichtung der Beziehung“30 zwischen den beteiligten Akteuren besteht. Der Begriff des Sozialrechtsverhältnisses lässt sich unterschiedlich weit fassen, je nachdem, welcher Bereich der Beziehung von Bürger und Verwaltung betrachtet werden soll. So kann beispielsweise im Sozialrechtsverhältnis zwischen dem Vorsorgeverhältnis, in welchem Anwartschaften auf Leistungsansprüche entstehen, und dem Leistungsgrundverhältnis, das der Verwirklichung von Leistungsansprüchen dient, unterschieden werden.31 Es kann aber auch nur das eigentliche Leistungsverhältnis mit den dazugehörigen Verfahren als Sozialrechtsverhältnis bezeichnet werden.32 Nach der Kodifizierung des Sozialrechts finden sich in den §§ 30 bis 67 SGB I die gesetzlichen Bestimmungen, die das Sozialrechtsverhältnis konkretisieren. Es handelt sich um vor die Klammer gezogene Regelungen, die für alle Sozialgesetzbücher Anwendung finden, soweit die besonderen Teilen des SGB nicht abweichende Regelungen enthalten.33 Das Sozialrechtsverhältnis ist gekennzeichnet durch Aufklärungs-, Förderungs- und Mitwirkungspflichten.34 27  de Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 223. 28  Masing, § 7, Der Rechtsstatus des Einzelnen im Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), 2006, Rdnr. 20 f. 29  Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. (2006), S. 301. 30  Häberle, Das Verwaltungsrechtsverhältnis – eine Problemskizze, in: Das Sozialrechtsverhältnis, 1979, S. 60 (71). 31  Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hrsg.), 1985, S. 11 (38). 32  Löwer, NVwZ (1986), S. 793 (795); Waschull, in: Fichte/Plagemann/Waschull, § 2 Sozialverwaltungsverfahren, Rdnr. 13. 33  Schnapp, DÖV 1986, S. 811 (815); BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 3/13 R –, Rdnr. 27. 34  Löwer, NVwZ 1986, S. 793 (795).

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

Im Sozialrechtsverhältnis unterliegen die Hauptleistungspflichten dem Vorbehalt des Gesetzes.35 Das Sozialleistungsverhältnis als ein öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis weist zwar gewisse Ähnlichkeiten mit einem zivilrechtlichen Schuldverhältnis auf, jedoch bleibt es ein asymmetrisches Verhältnis. Bei Pflichtleistungen, die den größten Anteil der Leistungen bilden, entsteht nach § 40 Abs. 1 SGB I der Anspruch des Bürgers auf die Sozialleistung bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, bei Ermessensleistungen entsteht der Anspruch nach § 40 Abs. 2 SGB I mit der Bekanntgabe der Entscheidung des Trägers. Hierbei handelt es sich um gesetzliche Schuldverhältnisse, auf Grund derer der Bürger die Leistung verlangen kann. Wegen der gesetzlichen Bestimmtheit der Hauptleistungspflichten ergeben sich aus der Lehre vom Rechtsverhältnis im Sozialrecht keine Besonderheiten. Der Vorschlag von Isensee, das besondere Gewaltverhältnis im Sozialrecht zu reanimieren, mit der Folge, dass es auf Grund des besonderen Gewaltverhältnisses für die Konstitution von Pflichten des Leistungsempfängers keiner gesetzlichen Grundlage bedürfe,36 geht bereits wegen des Gesetzesvorbehalts fehl. Aus dem Sozialrechtsverhältnis selbst als Gesamtbild aller bestehenden Rechte und Pflichten können keine neuen Rechte und Pflichten geschaffen werden. Das Sozialrechtsverhältnis dient als Auslegungs- und Erklärungsbild, das gegebenenfalls bestehende Lücken aufzeigen kann. Aus dem Sozialrechtsverhältnis selbst können diese jedoch nicht geschlossen werden. Relevanz kann das Sozialrechtsverhältnis nur bei den Mitwirkungspflichten entwickeln. Es wird zum Teil vertreten, dass im Falle des Rechtsmissbrauchs Mitwirkungspflichten auch ohne eine gesetzliche Grundlage bestehen können.37 Seewald nennt als Bedingungen die in anderen Rechtgebieten entwickelten Voraussetzungen des Rechtsmissbrauchs, wobei zusätzlich die soziale Sicherungsfunktion von Sozialleistungen sowie die grundsätzliche Unbeachtlichkeit von Verschulden des Leistungsberechtigten im Sozialrecht zu beachten sei. Im Fall des Rechtsmissbrauchs sei eine Kürzung oder sogar Versagung der Leistung in Betracht zu ziehen.38 Die Mitwirkungspflichten werden in der Terminologie des Sozialrechtsverhältnisses auch als Nebenverpflichtungen bezeichnet.39 Bis zum Inkrafttreten des SGB I waren die MitSGB I; siehe hierzu Löwer, NVwZ 1986, S. 793 (797). Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise, in: Listl/Schambeck/Broermann (Hrsg.), 1982, S. 365 (384). 37  Lilge, SGB I, 3. Aufl. (2012), vor §§ 60–67 SGB, Rdnr. 10; Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL  68, Dezember 2010, vor §§ 60–67 SGB I, Rdnr. 25; Wulfhorst, VSSR 1982, S. 1 (10). 38  Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL 68, Dezember 2010, vor §§ 60–67 SGB I, Rdnr. 25. 39  Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL 68, Dezember 2010, vor §§ 60–67 SGB I, Rdnr. 24. 35  § 31

36  Isensee,



A. Divergenzen zwischen Zivilrecht und Sozialrecht 149

wirkungspflichten nur fragmentarisch geregelt. Das BSG begründete die Pflichten für alle Beteiligten aus dem Versicherungsverhältnis. Auf Grund dessen seien die Beteiligten verpflichtet, alles in ihren Kräften Stehende und Zumutbare zu tun, um den anderen Beteiligten vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffendem Schaden zu bewahren.40 Mittlerweile haben die Mitwirkungspflichten auch in den besonderen Teilen des SGB ein hohes Maß an Ausdifferenzierung erfahren.41 Trotz der Bezeichnungen handelt sich nicht um Pflichten, sondern um Obliegenheiten. Wenn der Bürger seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt, kann die Leistung, bis die Mitwirkungshandlung erbracht wurde, ausgesetzt werden.42 Die Mitwirkungspflichten haben die Funktion, dem Amtsermittlungsgrundsatz nach § 20 SGB I Rechnung zu tragen, und sind insofern Bestandteil des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens. Zur Aufklärung des der Leistungsgewährung zu Grunde liegenden Sachverhalts bedarf es oftmals Informationen, welche aus der Sphäre des Antragstellers stammen. Durch die Mitwirkungspflichten soll auch ein Leistungsmissbrauch verhindert werden, da diese dazu dienen, den tatsächlichen Sachverhalt aufzuklären. Bei einer fehlenden Mitwirkung kann unter den Voraussetzungen von § 66 Abs. 1 SGB I die Leistung ganz oder teilweise versagt werden. Eine allgemeine Pflicht zum Wohlverhalten lässt sich den §§ 60 ff. SGB I indes nicht entnehmen.43 Für eine Begründung von Mitwirkungs- oder Nebenpflichten auf Grund der Figur des Rechtsmissbrauchs, die über dieses geregelte Normenprogramm hinausgehen, dürfte kein Raum sein, zumal das Sozialrecht, wie das Steuerrecht, der „Prototyp eines durchnormierten Verwaltungsrechtsverhältnisses“ ist.44 Ein Verweis auf die Figur des Rechtsmissbrauchs im Rahmen des Sozialrechtsverhältnisses, worin die Rechte und Pflichten bis ins Kleinste geregelt sind, birgt das Risiko, diese Regelungen zu unterlaufen. Die Behörde kann also nicht die Mitwirkung des Bürgers außerhalb der im Gesetz geregelten Mitwirkungspflichten erweitern mit dem Argument, es handele sich um einen Rechtsmissbrauch. Das Sozialrechtsverhältnis hat somit weder für die Hauptleistungs- noch für die Nebenpflichten eine eigenständige Bedeutung. Es umfasst diejenigen Pflichten, die sich jeweils aus dem Gesetz ergeben.45 40  BSG,

Urteil vom 23.03.1972 – 5 RJ 63/70 –, Rdnr. 16. §§ 56 ff. SGB II, § 149 Abs. 4 SGB VI. 42  § 66 SGB I. 43  Rüfner, VSSR 1977, S. 347 (351). 44  Waldhoff, Vertrauensschutz im Steuerrechtsverhältnis, in: Pezzer (Hrsg.), 2004, S. 129 (142). 45  Waschull, in: Fichte/Plagemann/Waschull, § 2 Sozialverwaltungsverfahren, Rdnr. 14. 41  Z. B.

150

2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

IV. Die Einheit der Rechtsordnung und die Figur des Rechtsmissbrauchs Die Argumentationsfigur der Einheit der Rechtsordnung wird für die Harmonisierung verschiedener Teile der Gesamtrechtsordnung herangezogen. Die unterschiedlichen Rechtsgebiete sollen keine verschiedenen Lösungen hervorbringen. Die Wertentscheidungen einer Teilrechtsordnung müssten in anderen Teilrechtsordnungen Berücksichtigung finden.46 Felix hat indes herausgearbeitet, dass ein verfassungsrechtlicher Grundsatz dahingehend, dass es dem Gesetzgeber verboten wäre, eine die Zielsetzungen anderer Teilrechtsordnungen beeinträchtigende Regelung zu schaffen, sich nicht begründen lässt. In einem pluralistischen Staat lassen sich Konflikte zwischen den Zielsetzungen einzelner Teilrechtsordnungen aus prinzipiellen Gründen nicht vermeiden; insofern ist die Gesamtrechtsordnung ein Abbild der Verfassung, in der bereits einander widerstreitende Zielsetzungen verankert sind.47 Die Analyse der Fallbeispiele hat gezeigt, dass sowohl zivilrechtliche als auch steuerrechtliche Gestaltungen im Sozialrecht weitgehend anerkannt werden, soweit sie in dem jeweiligen Rechtsgebiet wirksam erfolgen. Dieses ist vor dem Hintergrund der Argumentationsfigur der Einheit der Rechtsordnung nicht zwingend. Denkbar ist zum Beispiel eine wirtschaftlich orientierte Betrachtungsweise der tatsächlich bestehenden Verhältnisse, die unabhängig von den zivilrechtlichen Vereinbarungen erfolgt. Wie im Steuerecht existiert kein Vorrang des Zivilrechts. Um die Zwecke des Sozialrechts zu erreichen, kann eine selbständige sozialrechtliche Beurteilung zivilrechtlicher Sachverhalte und Tatbestandsmerkmale erfolgen. Hierbei sind die Zwecke des Sozialrechts zu berücksichtigen. Es kann aber auch ein Fremdvergleich herangezogen werden. Alternativ könnte eine Regelung wie § 39 AO in das Sozialrecht aufgenommen werden, um eine normative Verankerung zu schaffen. Auch wenn es als störend empfunden wird, wenn ein Sachverhalt durch Teilrechtsordnungen unterschiedlich bewertet wird, ist dies verfassungsrechtlich zulässig.48 Es stünde dem Gesetzgeber frei, einen Lohnsteuerklassenwechsel steuerrechtlich zuzulassen, diesen aber im Rahmen des Elterngeldes als unbeachtlich zu werten. Ebenso könnte der Gesetzgeber für Behindertentestamente eine Regelung im Sozialhilferecht aufnehmen, nach der eine Vermögensanrechnung erfolgt, obgleich eine derartige Gestaltung zivilrechtlich wirksam ist. Hierfür spricht auch, dass unterschiedliche Gesetzgebungs46  Siehe

47  Felix,

hierzu grundlegend Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998. Einheit der Rechtsordnung, 1998, 360  ff.; Felix, NZS 2002, S. 225

(228 f.). 48  Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 360 ff.



B. Das subjektive Recht im Sozialrecht 151

kompetenzen betroffen sind, nämlich zum einen Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG für das Zivilrecht und zum anderen Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG für das Recht der öffentlichen Fürsorge. Die verschiedenen Normen und Normenkomplexe verfolgen unterschiedliche Zielsetzungen. Während das Zivilrecht darauf ausgerichtet ist, privatautonome Gestaltungen zu ermöglichen, ist die Sozialhilfe – trotz zahlreicher Durchbrechungen – vom Grundsatz der Subsidiarität geprägt.

B. Das subjektive Recht im Sozialrecht I. Problemstellung Ein subjektives öffentliches Recht besteht, unabhängig davon, ob es sich um einen Abwehr- oder einen Erfüllungsanspruch handelt, dann, wenn ein Rechtssatz die Verwaltung zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, wobei dieser Rechtssatz zumindest auch den Interessen des Individuums, das sich auf diesen Rechtssatz beruft, zu dienen bestimmt sein muss.49 Auf Grund eines subjektiven öffentlichen Rechts kann der Bürger zur Verfolgung eigener Interessen von der Verwaltung ein bestimmtes Tun, Dulden oder Unterlassen verlangen.50 Die Ausgestaltung von sozialen Leistungen als Rechtsanspruch ist historisch gesehen keinesfalls selbstverständlich, sondern ein relativ neues Phänomen. Mit der Anerkennung subjektiver Rechte im Sozialrecht war eine Verrechtlichung durch Typisierung von Sozialleistungen und ihren Voraussetzungen verbunden. Das Ausformulieren von Anspruchsvoraussetzungen führt dazu, dass diese – zumindest partiell – auch bewusst herbeigeführt werden können. Durch Typisierung wird somit Rechtssicherheit gewonnen; dem steht jedoch die Gefahr einer tatsächlichen oder vermeintlichen missbräuchlichen Ausnutzung von Leistungsansprüchen gegenüber. Die Bestehen von subjektiven, gerichtlich durchsetzbaren sozialen Rechten sowie die Anerkennung des Sozialbürgers setzt ein entwickeltes System sozialer Leistungen voraus, das sich nicht auf die Abwehr elementarer Not beschränkt, sondern Gestaltungsspielräume eröffnet. Die Entwicklungsstadien des Sozialrechts und damit verbunden die Relevanz des Themas „Missbrauch sozialer Leis49  Jellinek und Bühler haben die Konstruktion des subjektiven Rechts aus dem Zivilrecht in das öffentliche Recht übertragen und das subjektive öffentliche Recht dogmatisch ausformuliert; siehe Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1905, 44 ff, sowie Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914, 42 ff.; BVerfG, Beschluss vom 17.12. 1969  – 2 BvR 23/65  –, Rdnr. 29; BVerwG, Urteil vom 17.06.1993  – 3 C 3/89  –, Rdnr. 35; Schnapp, SGB 2010, S. 61 (62). 50  Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. (2011), § 10 Rdnr. 2.

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

tungen“ wird im Folgenden kurz nachgezeichnet, bevor auf die Ausgestaltung des subjektiven Rechts im heutigen Sozialrecht eingegangen wird. II. Die Entwicklung des Sozialrechts In Anlehnung an Zacher lässt sich die Entwicklung des Sozialrechts in Generationen unterteilen.51 Während die erste Generation des Sozialrechts nur eine elementare soziale Absicherung generierte, wurden in der zweiten Generation das Leistungsniveau der sozialen Sicherungssysteme erheblich ausgeweitet und die steuerfinanzierten Hilfs- und Förderungssysteme ausgebaut. Erst in der dritten Generation des Sozialrechts wurde die Frage des „Missbrauchs“ sozialer Leistungen akut, da diese zum einen auf den Ausgleich von Benachteiligungen, zum anderen aber auch auf die Stärkung der privaten Vorsorge und eine Konsolidierung des staatlichen Sicherungssystems ausgerichtet war.52 1. Das Sozialrecht der ersten Generation Das Sozialrecht ist ein relativ junges Rechtsgebiet, „ein spätes Kind“ der europäischen Rechtsgeschichte.53 Die Anfänge des modernen Wohlfahrtsstaates bilden die Fürsorgegesetzgebung sowie die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung im Deutschen Kaiserreich.54 In seiner ersten Generation hatte das Sozialrecht die Funktion, „unentrinnbare Bedrängnisse“, also existenzielle Not, zu mindern, die auf schicksalshaften Ereignissen beruhten.55 Die Fürsorge beschränkte sich auf Nothilfe bei Notlagen und war Teil des Polizeirechts.56 Not und Verwahrlosung wurden als eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung angesehen. Die bedürftige Person war nicht Inhaber eines Anspruchs auf Hilfe, sondern als polizeirechtlicher Störer Objekt des staatlichen Handelns. Der Bezug von Leistungen der Fürsorge war 51  Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hrsg.), 1985, S. 11 (57 ff.); zu den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen siehe zudem Hännlein/Tennstedt, in: Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), 2012, § 2, Rdnr. 90 ff. 52  Zacher, in: Isensee/Kirchhof, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 28 Das soziale Staatsziel, Rdnr.  129 ff. 53  Zacher, Die Kodifikation des deutschen Sozialrechts in historischer und rechtsvergleichender Sicht, in: Geis/Maurer (Hrsg.), 2001, S. 1229 (1231). 54  Zacher, Die Dilemmata des Wohlfahrtsstaates, in: Rauscher/Mansel (Hrsg.), 2001, S. 83 (86 f.). 55  Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hrsg.), 1985, S. 11 (51). 56  Schnapp, SGB 2010, S. 61 (62).



B. Das subjektive Recht im Sozialrecht 153

stark negativ konnotiert.57 Die die Fürsorge verpflichtenden Normen wurden als Schulbeispiel dafür angesehen, dass es objektivrechtliche Norm gibt, die nur dem Allgemeininteresse, nicht jedoch dem individuellen Interesse dienen.58 Die Einführung der Bismarck’schen Sozialversicherung basierte auf der Erwägung, dass ohne ein Mindestmaß an sozialer Sicherung der Arbeiter ein Fortschreiten der Industrialisierung nicht möglich sein würde. Ohne die Absicherung der basalen Risiken Krankheit, Invalidität und Alter hätte eine Massenverelendung gedroht.59 Allerdings bot die Bismarck’sche Sozialversicherung nur ein geringes Leistungsniveau und war erwerbsarbeitsbezogen.60 Die Frage des Missbrauchs von Sozialleistungen war im Sozialrecht der ersten Generation nur von geringer Relevanz. Im Bereich der Fürsorge wurde bei Notlagen nur ein Minimum an Hilfe individuell gewährt Die Sozialversicherung beschränkte sich darauf, unvermeidbare Schicksalsschläge des Lebens abzumildern,61 Möglichkeiten zur strategischen Leistungsinanspruchnahme waren kaum vorhanden.62 2. Das Sozialrecht der zweiten Generation Im „golden Zeitalter“ des Wohlfahrtstaates entwickelte sich das Sozialrecht der zweiten Generation. Der Übergang zu dieser Generation des Sozialrechts erfolgte in den fünfziger Jahren. Solidarität und der Ausbau der Sozialstaatlichkeit standen – auch politisch – hoch im Kurs.63 Das Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ zielte darauf ab, wirtschaftliches Wachstum mit sozialer Gerechtigkeit zu vereinbaren, und brachte einen starken Auf- und Ausbau des Sozialstaats mit sich. In der Fürsorgeentscheidung von 1954 zu den damals noch geltenden „Reichsgrundsätzen über die Voraussetzungen, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ erkannte das Bundesverwaltungsgericht ein subjektives Recht des 57  Ladeur,

Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 256. NVwZ 1995, S. 426 (430). 59  Plumpe, FAZ vom 17.09.2011. Im Gegensatz zur Fürsorge waren Ansprüche in der Sozialversicherung von vornherein als subjektive öffentliche Rechte ausgestaltet; siehe hierzu auch Hännlein/Tennstedt, in: Ruland/Becker (Hrsg.), 5. Aufl. (2012), § 2, Rdnr.  1 ff. 60  Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 79. 61  Zacher, Der Sozialstaat als Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Lüke/Ress (Hrsg.), 1983, S. 943 (966). 62  Zacher, Der deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Leibfried/Wagschal (Hrsg.), 2000, S. 53 (65 f.). 63  Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 5. Aufl. (2014), S. 66 ff. 58  Neumann,

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

Hilfebedürftigen auf Fürsorge an. Auch der Hilfebedürftige sei „Teilnehmer der Gemeinschaft“ und „Träger eigener Rechte“; es sei mit dem Gedanken des demokratischen Staates unvereinbar, wenn Bürger, die als Wähler die Staatsgewalt mitgestalten, ihr ohne eigene Rechte gegenüberstünden.64 Die Menschenwürde verbiete es, den Hilfebedürftigen „lediglich als Gegenstand staatlichen Handelns zu betrachten, soweit es sich um die Sicherung … seines Daseins überhaupt“ handle.65 In den siebziger Jahren wurde vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip eine Pflicht des Staates zur Gewährleistung der „Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins“ anerkannt.66 Die Sozialversicherung wurde reformiert und sowohl ihre Leistungen als auch der Kreis der Berechtigten erheblich erweitert.67 Die Leistungen beschränkten sich nicht mehr auf Abhilfen bei unvermeidbaren schicksalhaften Ereignissen, sondern deckten auch zunehmend Folgen einer riskanten Lebensführung ab. Durch den Ausbau der Hilfs- und Fördersysteme kamen neue Bereiche des Sozialrechts hinzu, die auf gesellschaftliche Teilhabe abzielten. So wurden etwa die Ausbildungsförderung und das Wohngeld als externe Lösungen für als defizitär wahrgenommene gesellschaftliche Zustände eingeführt.68 Der Ausbau des Systems der sozialen Sicherung ging mit seiner zunehmenden Verrechtlichung in Form von Typisierung der Anspruchsvoraussetzungen und Leistungen einher.69 Während der Zeit des wirtschaftlichen Wachstums und der Vollbeschäftigung in den fünfziger und 64  Siehe hierzu Ebsen, Der Arbeitslose als Sozialbürger und Klient, in: Wulffen (Hrsg.), 2004, S. 725 (726), der darauf hinweist, dass die Formulierung des Gerichts der Konzeption des social citizenship entspricht, die Thomas H. Marshall entwickelt hat; danach ist der Bürger auch bezüglich seiner sozialen Sicherung Träger von gerichtlich durchsetzbaren Rechten. 65  BVerwG, Urteil vom 24.06.1954 – V C 78.54 –. 66  BVerfG, Beschluss vom 18.06.1975  – 1 BvL 4/74  –. Dieser Paradigmenwechsel zeigte sich auch in der Benennung des Rechtsgebietes: Mit der Schaffung des Bundessozialhilfegesetzes 1961 wurde aus dem Fürsorgerecht die Sozialhilfe. In § 4 BSHG wurde geregelt, dass auf Sozialhilfeleistungen ein Anspruch besteht, soweit diese im BSHG vorgesehen sind. 67  Hervorzuheben ist die Adenauer‘sche Rentenreform von 1957, die durch eine Umstellung der Rentenversicherung vom Kapitaldeckungsprinzip hin zu einem modifizierten Umlagesystem bezweckte, den Lebensstandard des Rentners in Höhe von zwei Dritteln seines Arbeitseinkommens zu sichern, während die Rente zuvor nur ein Zuschuss zum Lebensunterhalt war; siehe hierzu Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 275 ff. 68  Siehe hierzu Zacher, Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 1, 2001, S. 333 (517, 548). 69  Hierzu Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hrsg.), 1985, S. 11 (64 f.); Schulin, Zum Problem der Typsierung im Recht der sozialen Sicherheit, in: Braun (Hrsg.), 1981, S. 77 (77 ff.).



B. Das subjektive Recht im Sozialrecht 155

sechziger Jahren wurde der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme noch nicht in Frage gestellt.70 Das Missbrauchsthema war im öffentlichen Diskurs noch nicht relevant, da sich auch die Frage der Grenze von Finanzierbarkeit von Sozialleistungen nicht stellte. 3. Das Sozialrecht der dritten Generation Der deutsche Sozialstaat erreichte im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Der Übergang zum Sozialrecht der dritten Generation begann Mitte der siebziger Jahre mit der Ölkrise.71 Ein geringes Wirtschaftswachstum verbunden mit einer hohen Arbeitslosigkeit sowie strukturellen Problemen führten zu einer an Einnahmen orientierten Ausgabenpolitik. Das Sozialrecht der dritten Generation ist durch den Beginn einer Konsolidierung des Sozialstaats mit einem Rückbau staatlicher Sicherungssysteme und der Ausweitung der privaten Vorsorge gekennzeichnet.72 Im Zuge der Konsolidierung des Sozialstaats ist die Frage des Missbrauchs sozialer Leistungen zu einem Thema geworden,73 das „wie Ebbe und Flut“74 im öffentlichen Diskurs wiederkehrt. Der zuvor bestehende Konsens „über das rechte Verhältnis von Verteilung und Umverteilung, über das rechte Verhältnis von Sozialstaat und Wohlfahrtsgesellschaft, über das rechte Verhältnis zwischen dem Wohlfahrtsstaat und dem Wohlstandsstaat“75 war nicht mehr tragfähig. Der entwickelte Wohlfahrtsstaat eröffnete Gestaltungsspielräume, in denen die Sicherung der Existenz nicht mehr allein vom Faktor Arbeit abhängig war. Nach Zacher hatten die Adressaten des Systems sich daran gewöhnt, die „Wasserhähne“ des Systems zu bedienen.76 Während die einen hierin eine Freiheitserweiterung sahen und „Dekommodifizierung“ als eine positive Entwicklung betrachteten, sahen andere im Nutzen der Spielräume 70  Zacher, Der Sozialstaat als Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Lüke (Hrsg.), 1983, S. 943 (966). 71  Hockerts, Periodisierung des Gesamtwerks, in: Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 1, 2001, S. 183 (192 f.); Zacher, Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 1, 2001, S. 333 (679 f.). 72  Leisering teilt die Entwicklung des Sozialrechts nach der Weltwirtschaftskrise in die Phase der Konsolidierung bis 1990, dann in eine der späten Expansion bis 1995 und in die Phase der Krise seit Mitte der neunziger Jahre ein; siehe hierzu Leisering, Der Bürger im Staat, 2003, S. 172 (173). 73  Oschimansky/Schmid/Kull, Leviathan, 2003 (31), S. 3 (4). 74  Deufel, Sozialhilfe, in: Deufel/Wolf (Hrsg.), 2003, S. 229 (229). 75  Zacher, in: Isensee/Kirchhof, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 28, Das soziale Staatsziel, Rdnr. 129. 76  Zacher, Der Sozialstaat als Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Lüke/Ress (Hrsg.), 1983, S. 943 (966).

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

ein Abgehen vom „natürlichen Leistungszweck“77, einen „Miss­ brauch“.78 Dies warf die Frage der Verteilung von Sozialleistungen und möglichen Fehlsteuerungen auf. Die folgenden Debatten waren geprägt einerseits von neoliberalen und andererseits von wohlfahrtsstaatlichen Positionen.79 Nach der „Krise des Sozialstaats“ Mitte der 90er Jahre fand die Konsolidierung des Sozialrechts ihren vorläufigen Höhepunkt in der so genannten Hartz-IVGesetzgebung mit einer grundlegenden Systemveränderung. Dieser ist eine intensiv geführte Missbrauchsdebatte vorausgegangen, die der damalige Kanzler Schröder mit dem Allgemeinplatz einleitete, dass es „kein Recht auf Faulheit“80 gäbe. Der Topos „Missbrauch“ dient auch dazu, Einsparungen von Sozialleistungen zu plausibilisieren, ohne dass empirisch gesichertes Wissen über tatsächlich stattfindenden Leistungsmissbrauch im Vordergrund steht.81 Die Diskussion über den Missbrauch sozialer Leistungen findet typischerweise in Zeiten des konjunkturellen Abschwungs statt, wobei empirisch ein Zusammenhang zwischen der politischen Diskussion und anstehenden Wahlen besteht.82 Dabei haben sich thematische Schwerpunkte in der Missbrauchsdiskussion herausgebildet: Einen Schwerpunkt des Diskurses bildet seit den siebziger Jahren der „Missbrauch des Asylrechts“.83 Während zunächst Änderungen vor allem im Asylverfahrensrecht vorgenommen wurden,84 geriet ab 1985 das Asylgrundrecht selbst in den Fokus der Debatte.85 Mit dem so genannten Asylkompromiss von 1993 ist dieser Diskurs bis 2014 in den Hintergrund getreten.86 Die Renten- und die Unfallversicherung kommen in der Missbrauchsdebatte kaum vor, was auf die hohe gesellschaftliche Akzeptanz dieser Versicherungssysteme zurückzuführen ist. Es tauchen vor allem Sozialleistungsbereiche auf, in denen die Leistung auch von subjektiven Befindlichkeiten oder rechtlichen Gestaltungen des Leistungsempfängers abhängig ist.87 In der 77  Zacher, Der deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Leibfried/Wagschal (Hrsg.), 2000, S. 53 (66). 78  Ebda. 79  Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 5. Aufl., 2014, S. 115 ff. 80  Bild vom 04.04.2001, Interview mit Gerhard Schröder. 81  Ullrich, Soziologie des Wohlfahrtsstaates, 2005, S. 197. 82  Oschimansky/Schmid/Kull, Leviathan 2003 (31), S. 3 (3), die die Missbrauchsdebatten fast für einen „politischen Pawlow-Reflex“ halten. 83  Müller, Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen, 2010, S. 156. 84  Müller, Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen, 2010, S. 154 ff. 85  Müller, Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen, 2010, S. 159. 86  Müller, Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen, 2010, S. 164 ff. 87  Wogawa, Missbrauch im Sozialstaat, 2000, S. 15 f.



B. Das subjektive Recht im Sozialrecht 

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Krankenversicherung ist beispielsweise die Frage der „simulierten Krankheit“ seit der Einführung des Entgeltfortzahlungsgesetzes 1970 immer wieder relevant mit der Folge, dass die Forderung nach der Einführung von Karenztagen erhoben wird, um einem „Blaumachen“ von Arbeitnehmern entgegenzuwirken. In der Arbeitslosenversicherung sind die „freiwillige Arbeitslosigkeit“ und etwaige Sperrzeiten ein wiederkehrendes Diskursthema. In der Grund­ sicherung ist derzeit die Absenkung von Leistungen bei Pflichtverletzungen des Leistungsberechtigten umstritten.88 Hierbei handelt es sich letztlich um Entscheidungen, welche politisch zu treffen und zu verantworten sind. 4. Das subjektive Recht im Sozialrecht Die Kodifikation des Sozialrechts sollte auch dazu dienen, die Verwirklichung sozialer Rechte sicherzustellen und individuelle Rechtspositionen zu stärken.89 Im SGB I ist der Grundsatz, dass der Pflicht des Staates zu sozialem Schutz und zur sozialen Förderung ein subjektives Recht der Adressaten korreliert, in verschiedenen Regelungen umgesetzt.90 In den §§ 38–40 SGB I wird als Leitbild der über Ansprüche verfügende Leistungsberechtigte hervorgehoben.91 Die Ausrichtung des Sozialrechts auf die Subjektposition des Individuums wird in § 38 SGB I aufgenommen. Danach besteht auf Sozialleistungen ein Anspruch, soweit die Leistung nicht in den besonderen Büchern als Ermessensleitung ausgestaltet ist. Das Sozialrecht enthält keine selbständige Definition des Anspruchs. Wie auch sonst im Öffentlichen Recht erfolgt die Definition des Anspruchs in Anlehnung an § 194 BGB. Ein Anspruch ist danach das subjektive Recht eines Sozialleistungsberechtigten, ein Tun oder Unterlassen von einem Sozialleistungsträger zu verlangen.92 Nach § 38 SGB I sind Sozialleistungen im Regelfall Rechtsanspruchsleistungen. Nach dem Willen des Gesetzgebers enthält § 38 SGB I zugleich eine Auslegungsregel, die besagt, „dass auf Sozialleistungen im Zweifel ein Anspruch besteht und dass Ermessenleistungen vom Gesetz als solche gekennzeichnet 88  Kempny/Krüger,

SGB 2013, S. 384 (384 ff.). Gesetzesbegründung (BT-Drs. 7/868, S. 21) nimmt ausdrücklich darauf Bezug, dass der Einzelne nicht Objekt der staatlichen Sozialpolitik, sondern Träger von Rechten ist, die auf Teilhabe an der vom Staat geleisteten sozialen Förderung und Sicherung gerichtet ist; hierzu Ebsen, Der Arbeitslose als Sozialbürger und Klient, in: Wulffen (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundessozialgericht 2004, S. 725 (725). 90  Beginnend mit §§ 3 bis 10 SGB I, etwas konkreter in den §§ 18 bis 29 SGB I; siehe hierzu Schmidt-De Caluwe, Zur Erosion der subjektiven Rechtsstellung des Einzelnen im Sozialrecht, in: Aschke/Zezschwitz (Hrsg.), 2005, S. 263 (267). 91  Schmidt-De Caluwe, Zur Erosion der subjektiven Rechtsstellung des Einzelnen im Sozialrecht, in: Aschke/Zezschwitz (Hrsg.), 2005, S. 263 (267). 92  Mrozynski, SGB I, 4. Aufl. (2010), § 38 SGB I, Rdnr. 1. 89  Die

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

werden müssen“.93 Schließlich wurde mit der Einführung des SGB I die Begründung von Rechten und Pflichten unter den Vorbehalt des Gesetzes gestellt: Nach § 31 SGB I dürfen Rechte und Pflichten im Sozialrecht nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Der Anspruch auf Sozialleistungen entsteht mit dem Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen. Die Entscheidung der Leistungsträger ist in vollem Umfang justiziabel.94 Für die Auslegung der Normen des Sozialgesetzbuches hat der Gesetzgeber eine eigene Methodennorm geschaffen. Eine vergleichbare gesetzliche Regelung der Auslegung existiert in anderen Rechtsgebieten – soweit ersichtlich – nicht.95 Es besteht eine Pflicht zur bürgerfreundlichen Interpretation der Sozialgesetze,96 denn nach § 2 Abs. 2 SGB I sind bei der Auslegung der Sozialgesetze und bei der Ausübung des Ermessens die sozialen Rechte zu beachten, die in den §§ 3–10 SGB I genannt werden.97 Die sozialen Rechte dienen dazu, die Ziele des Sozialrechts, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit näher zu konkretisieren. Sie haben eine Ordnungs- und Systematisierungsfunktion, denn der Gesetzgeber wollte mit den sozialen Rechten verdeutlichen, dass „er das von ihm geschaffene Sozialrecht nicht als zufälliges Ergebnis heterogener Regelungen, sondern als Verwirklichung bestimmter sozialpolitischer Vorstellungen versteht und verstanden wissen will“.98 Allerdings lassen sich aus den sozialen Rechten selbst keine Ansprüche auf Sozialleistungen herleiten, weswegen die Bezeichnung irreführend ist. Ansprüche auf Sozialleistungen können nur auf Grund der Anspruchsgrundlagen der besonderen Teile des Sozialgesetzbuches geltend gemacht werden.99 Dennoch sind die sozialen Rechte nicht bedeutungslos. Ähnlich wie einfachgesetzliche Normen im Hinblick auf die Verfassung zu interpretieren 93  BT-Drs.

7/868, S. 29. Der Arbeitslose als Sozialbürger und Klient, in: Wulffen (Hrsg.), 2004, FS 50 Jahre Bundessozialgericht, S. 725 (726). 95  Durch die AO 1977 ist § 1 Abs. 2 StAnPG, wonach bei der Auslegung der Steuergesetze „die Volksanschauung, der Zweck und die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen“ waren, aufgehoben worden. In ausländischen Rechtsordnungen dagegen gibt es Methodennormen, so zum Beispiel in der Schweiz Art. 1 ZGB. 96  Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL  78, Juni 2013, § 2 SGB I, Rdnr. 10. 97  Bei den sozialen Rechten handelt es sich nicht um subjektive Rechte, sondern um Leitbilder, die die zentralen Bereiche des Sozialrechts sowie die in diesen geregelten einzelnen Berechtigungen zum Ausdruck bringen; so Eichenhofer, SGB 2011, S. 301 (301). 98  BT-Drs. VI/3764, S. 17. 99  Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL 78, Juni 2013, § 2 SGB I, Rdnr. 9. 94  Ebsen,



B. Das subjektive Recht im Sozialrecht 159

sind, müssen die in den besonderen Teilen genannten Tatbestände im Hinblick auf die prinzipiellen Gehalte der sozialen Rechte gedeutet werden.100 § 2 Abs. 2 SGB I ist im Rahmen der herkömmlichen Auslegungsmethoden als Auslegungsmaxime zu beachten. Während die Regelungen in den besonderen Teilen häufig komplex sind, haben die sozialen Rechte auf Grund ihres höheren Abstrakheitsgrades eine verdeutlichende Funktion, „sie stellen das normativ Gemeinte klar“.101 Durch einen Einbezug der sozialen Rechte in die Auslegung lassen sich die Zwecke der einzelnen Regelungen in den besonderen Teilen klarer herausarbeiten. Es handelt sich somit um eine Regelung, die besonders bei der teleologischen Auslegung relevant ist.102 Auch bei den Ergebnissen der Auslegung sind die sozialen Rechte zu beachten. Wenn die Auslegungsmethoden zu unterschiedlichen Resultaten gelangen, soll diejenige zu wählen sein, die den sozialen Rechten am weitestmöglichen zur Geltung verhilft.103 Ansprüche in den besonderen Teilen des Sozialgesetzbuches sollen möglichst zum Entstehen gebracht werden, die sozialen Rechten dienen als Optimierungsgebote.104 Dies wird auch als Effektuierungs- oder Günstigkeitsgrundsatz bezeichnet.105 So ist es wegen § 2 Abs. 2 SGB I der Verwaltung nicht erlaubt, aus haushaltsmäßigen oder finanziellen Erwägungen zu einer restriktiven Anwendung der Leistungsvorschriften zu kommen.106 Bei der Analyse der Fallbeispiele hat sich gezeigt, dass die Aufgabe der Figur des missglückten Arbeitsversuchs auch darauf gestützt wurde, dass dieses Rechtsinstitut nicht dem Gebot möglichst weitgehender Verwirklichung sozialer Rechte entsprach, denn durch die Figur des missglückten Arbeitsversuchs wurde das in § 4 SBG I geregelte Recht auf Zugang zur Sozialversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung vereitelt. Für die Figur des Rechtsmissbrauchs folgt aus der Konzeption des subjektiven Rechts im Sozialrecht, dass bei Missbrauchserwägungen stets das Gebot 100  Eichenhofer,

SGB 2011, S. 301 (302 f.). SGB (2011), S. 301 (303). 102  Schwerdtfeger, Die praktische Relevanz der sozialen Rechte (§§ 2–10 SGB I), in: Wulffen (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 543 (560). 103  Mrozynski, SGB I, 4. Aufl. (2010), § 2 SGB, Rdnr. 17; Rode, SGb, 1977, S. 268, (272). 104  Eichenhofer, SGB 2011, S.  301 (303); Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL 78, Juni 2013, § 2 SGB I, Rdnr. 10. 105  Seewald, in: Kasseler Kommentar, Bd. 1, EL  78, Juni 2013, § 2 SGB I, Rdnr. 10. 106  § 2 SGB I Rdnr. 5; a. A. Schwerdtfeger, Die praktische Relevanz der sozialen Rechte (§§ 2–10 SGB I), in: Wulffen (Hrsg.), 2004, S. 543 (558 f.), wonach lediglich eine wohlwollende Abwägung erforderlich ist, deren Ergebnis offen ist und bei der auch finanzielle Lasten für die Sozialleistungsträger überwiegen können. 101  Eichenhofer,

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

der Verwirklichung der sozialen Rechte miteinzubeziehen ist. Kommt eine Auslegung in Betracht, die zwar finanzielle Nachteile für den Sozialleistungsträger mit sich bringt, aber der Verwirklichung der sozialen Rechte dient, so kann kein Fall des Missbrauchs angenommen werden. Die Analyse des subjektiven Rechts hat gezeigt, dass mit dem Bedeutungsaufschwung, den das subjektive Recht im Sozialrecht genommen hat, die Figur des Rechtsmissbrauchs an Relevanz gewonnen hat. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die mittels dieser Figur transportierten Begründungsmuster auf ihre methodische und verfassungsrechtliche Tragfähigkeit hin untersucht werden.

C. Die Figur des Rechtsmissbrauchs als Methodenproblem I. Die Figur des Rechtsmissbrauchs im Rechtserkenntnismodell 1. Problemstellung Der Rechtsmissbrauch ist der Ausnahmefall und nicht die Regel.107 Für den Umgang mit dem Ausnahmefall ist das zu Grunde liegende Normverständnis von zentraler Bedeutung. Zunächst wird die Bewältigung des Rechtsmissbrauchs im traditionellen Rechtserkenntnismodell untersucht. Hiernach wird auf das Rechtserzeugungsmodell eingegangen. 2. Rechtserkenntnismodell Das herkömmliche Rechtserkenntnismodell geht von der Annahme aus, dass sich die Lösung eines jeden Rechtsfalls aus der Norm selbst entfalten lässt. Durch den Syllogismus wird die Entscheidung des Gesetzgebers am konkreten Rechtsfall nachvollzogen.108 Der Gesetzgeber hat nach diesem Modell die Lösung eines jeden Falls bereits in das Gesetz verpackt.109 Bei der Rechtsanwendung wird dieses Päckchen nach den Regeln der Methodik ausgepackt.110 Die Norm selbst beinhaltet bereits das Gesollte.111 Bei der Rechtsanwendung wird das objektive Recht gefunden. Es gibt nur eine rich107  Guckelberger,

Die Verjährung im Öffentlichen Recht, 2004, S. 450. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 298 ff. 109  Trute, Klugheit in juristischen Entscheidungen, in: Scherzberg (Hrsg.), 2008, S. 128 (130). 110  Trute, Klugheit in juristischen Entscheidungen, in: Scherzberg (Hrsg.), 2008, S. 128 (130); Kudlich/Christensen, JZ 2009, S. 943 (944). 111  Trute, Klugheit in juristischen Entscheidungen, in: Scherzberg (Hrsg.), 2008, S. 128 (130). 108  Larenz,



C. Die Figur des Rechtsmissbrauchs als Methodenproblem161

tige Entscheidung, die aus der Norm ableitbar und von dieser getragen wird.112 Das Rechtserkenntnismodell beruht in seinen unterschiedlichen Facetten auf einem positivistischen Modell der Rechtsnorm.113 Der Gesetzgeber regelt in der Norm den typischen Fall. Eine Regelung kann jedoch niemals alle Abweichungen antizipieren. Durch die Figur des Rechtsmissbrauchs soll jedoch gerade der atypische Einzelfall bewältigt und der Sprung vom Allgemeinen auf das Besondere geschafft werden.114 Das Rechtserkenntnismodell stößt hierbei an seine Grenzen. Um in diesem Modell Missbrauchserwägungen einfließen zu lassen, bedarf es eines Rückgriffs auf allgemeine Rechtsprinzipien oder sogar die Gerechtigkeit selbst. Im Sozialrecht erfolgt häufig stellvertretend für allgemeine Gerechtigkeitserwägungen ein Rückgriff auf das Solidaritätsprinzip. Die Lösung des Rechtsfalls bleibt also nicht bei einem bloßen Auspacken stehen, sondern es bedarf zusätzlicher methodischer Hilfskonstruktionen, die letztlich erst das Ergebnis im Einzelfall darstellbar machen. Je ferner die Rechtsfindung vom Gesetz erfolgt, desto stärker tritt zumindest im Öffentlichen Recht die Frage nach der Gesetzesbindung in den Vordergrund. Es handelt sich daher bei der Figur des Rechtsmissbrauchs nicht nur um ein Methodenproblem, sondern der Gebrauch der Rechtsfigur weist auch eine verfassungsrechtliche Relevanz auf. „Der Rechtsmissbrauch ist Ausdruck eines offenen methodischen Notstands des Richters“, heißt es bei Haferkamp.115 Im Rechtserkenntnismodell ist Gegenstand der Auslegung der Gesetzestext als Träger eines Sinns, der zur Geltung gebracht werden soll.116 Das Ergebnis eines Rechtsstreits wird anhand der vier klassischen Auslegungsmethoden gefunden.117 Durch die Auslegung soll der Gesetzestext selbst zum Sprechen gebracht werden, wobei der Text weder reduziert noch erweitert werden darf.118 Die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung ist der Wortsinn einer gesetzlichen Regelung.119 Rechtsfortbildung dient nach dem herkömmlichen methodischen Verständnis der Lückenausfüllung.120 Je nach Nähe zum Gesetz wird die 112  Trute, Klugheit in juristischen Entscheidungen, in: Scherzberg (Hrsg.), 2008, S. 128 (132). 113  Trute, Klugheit in juristischen Entscheidungen, in: Scherzberg (Hrsg.), 2008, S. 128 (135). 114  Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994, S. 72 f. 115  Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 349. 116  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975) S. 298 ff. 117  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975) S. 307 ff. 118  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975) S. 299 ff. 119  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975) S. 350. 120  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975) S. 350 f.

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

Rechtsfindung in secundum legem, praeter legem und contra legem unterteilt.121 Eine Rechtsfindung neben dem Gesetz wird zumeist als Auslegung zur Lückenfüllung oder gesetzesimmanente Rechtsfortbildung angesehen,122 die grundsätzlich unzulässige Rechtsfindung gegen das Gesetz wird auch als gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung bezeichnet.123 3. Die Figur des Rechtsmissbrauchs und die klassischen Auslegungsmethoden Herkömmlicherweise werden methodisch die Auslegung nach dem Wortlaut, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung unterschieden.124 Für die Figur des Rechtsmissbrauchs sind vor allem die Wortlautauslegung sowie die teleologische Auslegung relevant. Der Wortlaut einer Regelung ist bei der Auslegung von besonderer Bedeutung, weil „derjenige, der etwas sagen will, die Worte in dem Sinne gebraucht, in dem sie gemeinhin verstanden werden“.125 Unter dem Wortlaut wird die „Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Wortverbindung im allgemeinen Sprachgebrauch“ verstanden.126 Dem Wortlaut kommt eine doppelte Funktion zu: Er ist nicht nur Beginn, sondern zugleich Grenze der Auslegung und soll die Bindung des Richters an das Gesetz sicherstellen.127 Ob die Wortlautgrenze linguistisch haltbar ist, erscheint fragwürdig, wird aber in der herkömmlichen Methodenlehre nach wie vor angenommen.128 Für die Figur des Rechtsmissbrauchs ist kennzeichnend, dass der Wortlaut der Norm durch die Verwendung der Rechtsmissbrauchsfigur überschritten wird. Der Tatbestand der Norm ist den Buchstaben nach an sich erfüllt, das tatsächliche Verhalten wird vom Wortsinn erfasst, gleichwohl soll auf Grund der Besonderheit des Einzelfalls die Rechtsfolge der Regelung nicht eintreten, da der Wortlaut der Regelung zu weit geraten sein soll.129 Dafür, dass der Wortlaut zu weit geraten sein soll, werden zumeist teleologische Kriterien angeführt. Durch die teleologischen Kriterien wird der Zweck der gesetzlichen Regelung ermittelt; denn nach einem rationalen Ver121  Kudlich/Christensen,

JZ 2009, S. 943 (944). Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 350 f. 123  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 359 ff. 124  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), 307 ff. 125  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 307. 126  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 307. 127  Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung, 2008, S. 19. 128  Siehe hierzu Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 68 ff. 129  Siehe Christensen/Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), 2000, S. 189 (190). 122  Larenz,



C. Die Figur des Rechtsmissbrauchs als Methodenproblem163

ständnis von Gesetzgebung verfolgt der Gesetzgeber mit dem Erlass von Gesetzen Zwecke, selbst wenn diese allein deklaratorischer Art sind.130 Nicht nur bei Normen, die als Zweckprogramme ausgestaltet sind, ist eine Ermittlung des Zwecks möglich, sondern auch bei einer Ausgestaltung als Konditionalprogramm, da bei diesem der Zweck hinter der Norm steht.131 Allerdings ist der Rückgriff auf den Gesetzeszweck nicht unproblematisch, da Gesetzeszwecke zumeist nicht ausdrücklich im Gesetz benannt werden.132 Je weniger klar der Zweck im Gesetz benannt wird, desto weiter ist die Wertung durch den Rechtsanwender bei der Ermittlung des Gesetzeszwecks. Wenn mit Zwecken argumentiert wird, beinhaltet dies stets auch ein subjektives Element. Denn Zwecke beschreiben die Absicht, die jemand mit seiner Handlung verfolgt, daher kann es keine objektiven Zwecke an sich geben.133 Umstritten ist jedoch, was Gegenstand des Gesetzeszwecks ist. In dem klassischen Streit stellte die subjektive Theorie auf den subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers ab. Die objektive Theorie hält diesen hingegen für eine Fiktion und stellt darauf ab, was zum Zeitpunkt der Anwendung des Gesetzes unter dem Blickpunkt der Gesamtrechtsordnung vernünftigerweise der Zweck des Gesetzes ist. Letztlich zielt die Kontroverse darauf ab, ob es auf die Zwecksetzung des Gesetzgebers oder des Rechtsanwenders ankommen soll.134 Bei dem Streit um die subjektive oder objektive Auslegung des Gesetzeszwecks handelt es sich letztlich um die Frage, ob dem Gesetzgeber oder dem Rechtsanwender die Zweckbestimmung zukommt. Haverkate weist darauf hin, dass ein objektiver Zweckbegriff „benutzt – missbraucht – werden kann, um die subjektiven Vorstellungen dessen, der das Recht anzuwenden hat, an die Stelle der gesetzgeberischen Wertung zu setzen“.135 Die Kombination aus Überschreitung des Wortsinns einer gesetzlichen Regelung mit einer Zweckargumentation zeigt, dass die Figur des Rechtsmissbrauchs besonders anfällig für den Einfluss subjektiver Wertungen ist. Bei der objektiven teleologischen Auslegung können zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen rechtsethische Prinzipien und sonstige Erwägungen herangezogen werden. Die teleologische Auslegung hat am meisten mit der Figur des Rechtsmissbrauchs gemeinsam, wenn man als Kennzeichen des Rechtsmissbrauchs die Zweckwidrigkeit der Rechtsausübung ansieht. Auf Grund der Ähnlichkeit 130  Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 881; Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 117. 131  Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 119. 132  Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 119. 133  Grundlegend Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, 5. Aufl. (1991); Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 150 f. 134  Siehe hierzu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., 2008, § 79. 135  Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 120, in Fn. 17.

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

lassen sich gegen die teleologische Auslegung eben solche Argumente wie gegen die Figur des Rechtsmissbrauchs einwenden. Ein Risiko der teleologischen Auslegung besteht nach Busse darin, dass sich häufig Vorurteile, Wertund Normvorstellungen rechtspolitischer, allgemeinpolitischer, moralischer und religiöser Art unreflektiert in der Auslegung wiederfinden lassen.136 Auch aus der systematischen sowie der historischen Auslegung lassen sich Argumente für oder gegen das Bestehen eines (ungeschriebenen) Rechtsmissbrauchsverbots generieren. Bei der systematischen Auslegung werden die verschiedenen in Betracht kommenden Varianten ermittelt.137 Der Rechtsbegriff wird in seinem Zusammenhang interpretiert, indem Schlüsse aus anderen gesetzlichen Vorschriften und Prinzipien der Rechtsordnung zu seiner Auslegung herangezogen werden.138 Es wird beurteilt, ob es sich bei der Norm eher um eine Ausnahme oder eine Regel handelt. Wenn der Gesetzgeber beispielsweise in einem Regelungsbereich eine Missbrauchsverhinderungsnorm erlassen hat, weil er Gestaltung für unangemessen hält, bei einer ähnlichen Konstellation hierauf jedoch verzichtet, deutet bereits dies darauf hin, dass der Einwand eines ungeschriebenen Rechtsmissbrauchsverbots nicht durchgreifen kann.139 Dies gilt auch für die historische Auslegung, bei der anhand der Gesetzgebungsmaterialien ermittelt wird, welche Absicht der Gesetzgeber mit einer Regelung verfolgt hat.140 Wenn der Gesetzgeber – wie im Beispiel der Frage des Missbrauchs des Steuerklassenwechsels – das aus der gesetzlichen Regelung resultierende Gestaltungspotential bereits im Gesetzgebungsverfahren erörtert hat und trotzdem keine Regelung geschaffen wurde, schließt dies die Annahme einer konkludent angeordneten Ermächtigung der Judikative zur „freihändigen“ Abwehr vermeintlicher Missbrauchsfälle aus. Auch können die verschiedenen Fassungen der Regelungen verglichen werden, da gerade im Sozialrecht Normen häufig geändert werden, um die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu verhindern.

136  Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: Müller (Hrsg.), 1989, S. 93, 97. 137  Zur Auslegung nach dem Bedeutungszusammenhang des Gesetzes siehe Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 311 ff. 138  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 311 f. 139  Siehe hierzu das Beispiel des Lohnsteuerklassenwechsels beim Eltergeld (Erster Teil, 2. Abschnitt, C. III. 2.). 140  Zur historischen Auslegung siehe Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 315 ff.



C. Die Figur des Rechtsmissbrauchs als Methodenproblem165

4. Rechtsfortbildung Die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung markiert nach traditionellem Verständnis der Wortlaut der Norm.141 Es ist unstreitig, dass es Rechtsfortbildung geben muss und die Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung befugt ist.142 Herkömmlicherweise wird die Rechtsfortbildung in drei Varianten unterschieden, nämlich die Rechtsfortbildung prater legem, extra legem sed intra ius und contra legem.143 Bei der Rechtsfortbildung prater legem handelt es sich um eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung oder Rechtsanwendung.144 Eine Rechtsfortbildung setzt eine Lücke in der Norm voraus.145 Diese kann entweder offen, aber auch auf Grund einer Wertung zu Tage treten.146 Wo Gerichte mit geltenden Gesetzen unzufrieden sind, begeben sie sich – in den Worten Rüthers‘ – nicht selten auf eine Lückensuche und werden in der Regel schnell fündig.147 Die Lücke kann durch eine teleologische Reduktion, eine teleologische Extension oder durch eine Analogie geschlossen werden.148 Alle drei Rechtsfortbildungen dienen dazu, den Gesetzeszweck zu verwirklichen.149 Bei einer teleologischen Reduktion wird ein als zu weit angesehener Wortlaut eingeschränkt. Die Lücke besteht im Fehlen einer nach der „ratio legis“ notwendigen Ausnahmeregel.150 Diese Norm soll dann, zwar entgegen ihrem Wortsinn, aber gleichwohl auf ihren Zweck hin ausgelegt werden. Der Norm wird zu ihrer Einschränkung ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal hinzugefügt. Fraglich ist, ob der Rechtsanwender (namentlich der Richter) hierzu berufen ist. Diese Frage lässt sich unter legitimations- und gewaltenteilungstheoretischen wie auch verfassungsdogmatischen Vorzeichen stellen. 5. Contra legem sed intra ius Wenn die Rechtsmissbrauchsfigur eine methodische Verortung erhält, wird sie zumeist als Rechtsfindung contra legem sed intra ius eingeordnet.151 Eine 141  Larenz,

Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 350. Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., 2008, § 80. 143  Kudlich/Christensen, JZ 2009, S. 943 (944). 144  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 351, 354 ff. 145  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 350 ff. 146  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 362 ff. 147  Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 5. Aufl. (2010), Rdnr. 815a. 148  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 366 ff., 377 ff. 149  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 357. 150  Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. (1991), S. 480. 151  Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. (1991), S. 496 f. 142  Röhl/Röhl,

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

derartige Auslegung contra legem soll zulässig sein, um das „Sinnganze(n) der Rechtsordnung“152 auch gegen den Wortlaut einer Norm zu verwirklichen. Eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung erfolgt mit Rücksicht auf ein rechtsethisches Prinzip, das einen materialen Gerechtigkeitsgehalt beinhaltet. Ein Beispiel von Larenz ist die Lehre zum Rechtsmissbrauch, die zwar ihren Anknüpfungspunkt in § 242 BGB hat, jedoch weit darüber hinausgehe, was man im Wege der Auslegung dem Gesetz allein entnehmen könne.153 Schließlich soll auch wegen Art. 20 Abs. 3 GG das positive Recht nach materialen Gerechtigkeitskriterien zu ergänzen sein.154 6. Ergebnis Das Rechtserkenntnismodell ist nicht hinreichend komplex, um den Rechtsmissbrauch methodisch bewältigen zu können. Es zeigt sich, dass von der Norm abgewichen wird, um zu einem gesetzgeberisch nicht hinreichend vorgezeichneten, wenn auch akzeptierten Ergebnis zu gelangen. Die Abweichung durch den Rückgriff auf Missbrauchserwägungen, indem entweder ein Rückgriff auf allgemeine Prinzipien erfolgt oder aber das Verbot des Missbrauchs als eigenständige Figur konzipiert wird, ist intransparent und steht einer rationalen Rechtsfindung (-erzeugung) entgegen. Es gelingt nicht, den Gebrauch eines Rechts gegenüber seinem Missbrauch abzugrenzen. Der Versuch, die Figur des Rechtsmissbrauchs in schematische methodologische Kategorien zu drängen, führt zu einer Verschleierung der dahinterliegenden, oftmals sozialpolitischen bzw. wirtschaftlichen Problematik. II. Rechtserzeugungsmodell Im Rahmen der Untersuchung des Rechtsmissbrauchs im Rechtserkenntnismodell hat sich gezeigt, dass der Missbrauch von Rechten nicht ohne einen Rückgriff auf Prinzipien bewältigt werden kann. Das Modell muss, um Missbrauchserwägungen einfließen lassen zu können, Ausnahmen von seinen Annahmen zulassen. Insbesondere bezieht sich dies auf die Annahme, richterliche Tätigkeit enthalte keinen rechtserzeugenden Anteil.155 Eine rationale Diskussion der 152  Larenz,

Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 420. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1975), S. 411 f. 154  Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 65. 155  Zur Rechtserzeugung statt Rechtserkenntnis siehe Trute, Die konstitutive Rolle der Rechtsanwendung, in: Trute/Groß/Röhl (Hrsg.), 2008, S. 211 (215 ff.) sowie 153  Larenz,



D. Verfassungsrechtliche Probleme

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mit dem Etikett Rechtsmissbrauch belegten Fallgestaltungen wird erst dann möglich, wenn offengelegt wird, dass Rechtsprechung in Wahrheit auch Normkonkretisierung darstellt und jeder Richterspruch somit Sinngehalte aufweist, die in der angewandten Norm nicht enthalten sind. Der Richter erweist sich insoweit ebenso als zur Rechtssetzung kraft einfachen Gesetzes mit seinen unbestimmten, ausfüllungsbedürftigen Begriffen ermächtigt, wie es der Gesetzgeber kraft Verfassungsrechts ist. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt eine rational nachprüfbare Argumentation bei der Begründung einer Entscheidung.156 Dies beinhaltet auch, dass auf Rechtserzeugung und nicht Rechtsanwendung beruhende Begründungsanteile unter Offenlegung des ermächtigenden Charakters der Subsumtionsgrundlage angegeben werden. Es darf nicht vorgetäuscht werden, genau die getroffene Entscheidung sei vollumfänglich durch die nach herkömmlichem Verständnis bloß „angewandte“ Norm determiniert.

D. Verfassungsrechtliche Probleme der Figur des Rechtsmissbrauchs Bei der Figur des Rechtsmissbrauchs handelt es sich nicht nur um ein methodisches, sondern auch um ein verfassungsrechtliches Problem. Es stellt sich die Frage, wieweit die Gesetzesbindung reicht. Denn durch die Figur des Rechtsmissbrauchs wird die abstrakt-generelle Regelung im Einzelfall korrigiert. Zwar ist die Befugnis der Gerichte, das Recht fortzubilden, unter dem Grundgesetz anerkannt,157 jedoch unterliegt auch die Rechtsfortbildung verfassungsrechtlichen Grenzen, die sich im Vorbehalt des Gesetzes aktualisieren.158 So darf die Judikative nicht das Gesetzgebungskonzept der Legislative durch eigene Vorstellungen ersetzen, auch wenn das Modell der Judikative zweckmäßiger und mit Einsparungen für die sozialen Sicherungssysteme verbunden ist.159 Werden durch die Rechtsfortbildung die Rechte des Einzelnen verkürzt, wie es bei der Figur des Rechtsmissbrauchs der Fall ist, sind die Grenzen für eine richterliche Rechtsfortbildung deutlich enger.160 Trute, Klugheit in juristischen Entscheidungen, in: Scherzberg (Hrsg.), 2008, S. 129 (133 ff.); Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, 1998, S. 104 ff., 109 ff. 156  Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 20 (2006), Rdnr. 176. 157  Huster/Rux, in: Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, 29.  Edition, Art. 20, Rdnr. 172 f. 158  Hillgruber, JZ 1996, S. 118 (123 f.). 159  Felix, SGB 2006, S. 743 (743 f.). 160  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.10.1983  – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80 –; BVerfG, Beschluss vom 19.10.1983  – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80  –; BVerfG, Beschluss vom 14.01.1986 – 1 BvR 209/79, 1 BvR 221/79 –.

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2. Teil: Analyse der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs

I. Der Vorbehalt und der Vorrang des Gesetzes Art. 20 Abs. 3 GG regelt die Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz. Der Vorbehalt des Gesetzes ist in Art. 20 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich genannt, gehört jedoch zu den zentralen Elementen des Rechtsstaatsprinzips.161 Der Gesetzesvorbehalt fand zunächst nur in der Eingriffsverwaltung Anwendung. Eingriffe des Staates in Freiheit und Eigentum des Bürgers durften wegen des Vorbehalts des Gesetzes nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen. Es handelt sich um einen Parlamentsvorbehalt, denn alle Entscheidungen für Eingriffe sollen auf einer vom Parlament beschlossen Grundlage beruhen. Auch im Sozialrecht unterlagen Eingriffe in Rechte des Bürgers vor Inkrafttreten des SGB I dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Vorbehalt des Gesetzes. Mittlerweile ist in § 31 SGB I ein umfassender Gesetzesvorbehalt geschaffen worden, der sowohl die Eingriffs- als auch die Leistungsverwaltung umfasst. Danach dürfen Rechte und Pflichten in Sozialleistungsbereichen nur begründet, festgestellt oder geändert werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. II. Der Gesetzesvorbehalt im Sozialrecht Schon früh hat das BVerfG festgestellt, dass Bürger nicht nur durch Eingriffe, sondern gleichermaßen durch den Vorenthalt von Leistungen beeinträchtigt werden können.162 Die Gewährung von sozialen Leistungen steht nicht im Ermessen der Verwaltung, sondern dient der Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats.163 Im Sozialrecht kommt die Schwierigkeit hinzu, dass häufig nur Rahmenrechte wie der Anspruch auf Krankenbehandlung vermittelt werden, der dann seine konkrete Ausprägung durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses erhält.164 Dergleichen Richtlinien, Verwaltungspraxis und Verwaltungsvorschriften, die vom Gesetz abweichen, sind keine wirksamen Instrumente der untergesetzlichen Rechtssetzung. Wenn eine Verwaltungspraxis oder eine Verwaltungsvorschrift in Widerspruch zur gesetzlichen Grundlage steht und eine konkrete Maßnahme dennoch darauf gestützt wird, liegt eine gesetzeswidrige 161  Huster/Rux, in: Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, 29.  Edition, Art. 20, Rdnr. 172 f. 162  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.03.1957  – 1 BvR 109/52, 1 BvR 303/54  –; BVerfG, Beschluss vom 08.01.1981 – 2 BvL 3/77, 2 BvL 9/77 –, Rdnr. 42. 163  So auch die Gesetzesbegründung zu § 31 SGB I (BT-Drs. 7/868, S. 27). 164  Schmidt-De Caluwe, Zur Erosion der subjektiven Rechtsstellung des Einzelnen im Sozialrecht, in: Aschke/Zezschwitz (Hrsg.), FS für von Zezschwitz, 2005, S.  263 (268 ff.).



D. Verfassungsrechtliche Probleme169

Handlung vor.165 Wenn Leistungen verweigert werden sollen, die dem Berechtigten gesetzlich zustehen, bedarf es hierfür einer gesetzlichen Grundlage, die den Leistungsausschluss normiert. Durch allgemeine Erwägungen oder den Verweis auf ein anderes Leistungssystem kann der Ausschluss grundsätzlich ohne rechtliche Grundlage nicht rational rechtmäßig begründet werden. III. Der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes im Sozialrecht Der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes folgt nicht aus § 31 SGB I sondern unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG. Er besagt, dass die Verwaltung keine Maßnahmen treffen darf, die gegen Rechtsnormen verstoßen; positiv gewendet muss die Verwaltung in Einklang mit dem Gesetz handeln, die Rechtsprechung muss das Gesetz anwenden. Dies geschieht nach den Regeln der juristischen Hermeneutik. Der Gesetzgeber kann das Gesetz ändern, wenn er mit dem Inhalt, den Verwaltung und Rechtsprechung dem Gesetz geben, nicht einverstanden ist; er hat insofern eine „zweite Chance“. Er kann ein neues Gesetz mit Vorrang­ anspruch erlassen, das eine bestimmte Auslegungsvariante unterbindet.166 Wenn er eine Gestaltungsvariante als missbräuchlich ansieht, kann er den Normtext der Regel entsprechend konkretisieren. Dieses kann – wie am Beispiel der so genannten missbräuchlichen Aktiengesellschaften dargelegt167 – auch sehr zügig erfolgen; eine Auslegung contra legem ist indes wegen des Vorrangs des Gesetzes nicht zulässig.

165  BSG,

Urteil vom 29.08.1990 – 9a/9 RVs 7/89 –. in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Bd. XII, 3. Aufl. (2013), § 263 Vorrang und Vorbehalt der Verfassung, Rdnr. 2. 167  Siehe hierzu das Beispiel der Gründung so genannter Missbrauchsaktiengesellschaften (Erster Teil, 2. Abschnitt, C. I. 2.). 166  Kingreen,

Dritter Teil

Gesetzgeberische Regelungstechniken Die Figur des Rechtsmissbrauchs, wie sie im Vorangegangenen herausgearbeitet wurde, ist dadurch gekennzeichnet, dass an einen Gesetzeswortlaut, der dies bei unbefangener Lektüre nicht zwingend erscheinen lässt, zusätzliche Voraussetzungen oder andere Tatbestandsmerkmale herangetragen werden, die sich im Ergebnis für den Bürger wirtschaftlich auswirken. Im Folgenden soll nun untersucht werden, welche verschiedenen Regelungstechniken zu Gebote stehen, um einem von rechtspolitischer Warte aus wahrgenommenen Handlungsbedarf Rechnung zu tragen. Dem Gesetzgeber steht es selbstverständlich frei, Leistungseinschränkungen für Fälle, die er aus rechtspolitischen Gründen ausschließen möchte, ausdrücklich im Gesetzeswortlaut niederzulegen (dazu A.). Daneben kann er auch zu implizierten Regelungen greifen (dazu B.). Es handelt sich um spezialgesetzliche Missbrauchsvermeidungsvorschriften, wenn der Missbrauchsvermeidungszweck im Tatbestand dergestalt zum Ausdruck gekommen ist, dass der Gesetzgeber ein Verhalten bzw. eine Gestaltung als missbräuchlich konkretisiert, um hierdurch bestimmte Leistungen auszuschließen. Nicht ausreichend für die Annahme einer spezialgesetzlichen Missbrauchsvermeidungsvorschrift ist, dass der Gesetzgeber eine abstrakte Missbrauchsgefahr zum Anlass einer generellen Regelung nimmt.1

A. Explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots I. Problemstellung Es gibt eine Tendenz des Gesetzgebers, im Sozialrecht vermehrt explizite Missbrauchsregelungen zu verwenden.2 Die Gewährung der Sozialleistung wird im Tatbestand der Anspruchsnorm davon abhängig gemacht, dass der Leistungsempfänger sich nicht „rechtsmissbräuchlich“ verhalten hat. 1  Siehe

hierzu unter Erster Teil, 1. Abschnitt, C. IV. ist beispielsweise in § 52a SGB V durch das GKV-WSG seine solche Regelung eingefügt worden, wonach auf Leistungen kein Anspruch besteht, wenn sich Personen in den Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs begeben haben, um missbräuchlich Leistungen in Anspruch zu nehmen. Siehe hierzu Linke, NZS 2008, S. 342 (342 ff.). 2  So



A. Explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots

171

Bei der Schaffung spezialgesetzlicher Missbrauchstatbestände steht der Gesetzgeber vor dem Problem, den Missbrauchsfall einerseits so präzise wie möglich, andererseits so umgehungssicher wie nötig abzufassen.3 Es stellt sich die Frage, ob durch geschriebene generalklauselartige Missbrauchsverbote das Problem der missbräuchlichen Erlangung von Sozialleistungen regelungstechnisch sinnvoll gelöst werden kann. Eine solche Regelungstechnik findet sich beispielsweise in § 2 Abs. 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. Danach erhalten Asylbewerber und andere Ausländer nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer erhöhte Leistungen nach dem SGB XII, so genannte Analogleistungen. Dies setzt allerdings voraus, dass sie die Dauer ihres Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben. Mit dieser Regelung wandte der Gesetzgeber eine bis dahin vergleichsweise selten bemühte Normierungsweise an, die innerhalb kurzer Zeit eine reichhaltige Kasuistik nach sich zog. Im Folgenden wird anhand von § 2 Abs. 1 AsylbLG als Referenznorm untersucht, welche Schwierigkeiten der Terminus der Rechtsmissbräuchlichkeit als explizite Tatbestandsvoraussetzung mit sich bringt. Analysiert wird auch, aus welchen Motiven sich der Gesetzgeber für diese textliche Fassung der Norm entschieden hat. II. „Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer“ im Asylbewerberleistungsgesetz Das Asylbewerberleistungsgesetz, als Teil des so genannten Asylkompromisses verabschiedet,4 steht im engen sachlichen Zusammenhang mit der Neufassung des Grundrechts auf Asyl in Art. 16a GG.5 Es sollte ein Grundsicherungsrecht geschaffen werden, welches in seiner konkreten Ausgestaltung den Anreiz für asylsuchende Ausländer mindern sollte, aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland zu kommen.6 Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt abschließend die materiellen Leistungen an Asylbewerber, geduldete Ausländer und Kriegs- bzw. Bürgerkriegsflüchtlinge zur Sicherstellung ihres Existenzminimums während ihres Aufenthalts in Deutschland. Es handelt sich somit um ein eigenständiges Leistungssystem außerhalb der Sozialhilfe.7 Vor dem Hintergrund des gesetzgeberisch bezweckten Anreizes, die Motivation, aus wirtschaftlichen Motiven nach Deutschland zu kommen, zu das Steuerrecht Hey, StuW 2008, S. 167 (176). NVwZ 1994, S. 1084 (1085 f.). 5  Das Asylbewerberleistungsgesetz ist seit dem 01.11.1993 in Kraft. Gesetz vom 01.11.1993 (BGBl I, S. 2022). Art. 16a GG wurde eingeführt durch das Gesetz vom 28.06.1993 (BGBl I, S. 1002). 6  Hohm, NVwZ 2005, S. 388 (390). 7  Vgl. BT-Drs. 12/4451, S. 5 ff. 3  Für

4  Röseler,

172

3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

dämpfen, ist auch die Regelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG zu sehen. Nach dieser Norm in der bis zum 28.02.2015 geltenden Fassung ist das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.8 Durch die analoge Anwendung des SGB XII kommt es bei diesen Personen zu einer leistungsrechtlichen Privilegierung, da zum einen grundsätzlich laufende Leistungen gemäß § 28 Abs. 1 SGB XII nach Maßgabe der Regelsätze, also in Form von Geldleistungen, erbracht werden und zum anderen ein Anspruch auf Krankenhilfe und Hilfe zur Pflege im Sinne des 3. Kapitels des SGB XII und die Ermessensleistungen des 5. bis 9. Kapitels des SGB XII besteht.9 Die Zielsetzung von § 2 Abs. 1 AsylbLG besteht somit darin, Leistungsberechtigte besser zu stellen, die sich für einen bestimmten Zeitraum in Deutschland aufgehalten haben; es soll durch die Gewährung von Leistungen auf dem Niveau der Sozialhilfe das Bedürfnis anerkannt werden, sich stärker an die hiesigen Lebensverhältnisse anzugleichen und sozial zu integrieren.10 § 2 Abs. 1 AsylbLG hat mehrfache Änderungen erfahren, der Terminus der „rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer“ wurde erst durch das Zuwanderungsgesetz vom 30.07.2004 eingefügt.11 Die Intention des Gesetzgebers bestand drin, eine leistungsrechtliche Zweiteilung zwischen Ausländern vorzunehmen. Diejenigen Ausländer, die unverschuldet nicht ausreisen können, sollten leistungsrechtlich privilegiert werden; diejenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkommen, sollten weiterhin Leistungen nach § 3 ff. AsylbLG erhalten. Im Folgenden wird zunächst erörtert, aus welchen weiteren Gründen die Formulierung der „rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung“ im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes in das Asylbewerberleistungsgesetz eingefügt wurde. Im Anschluss wird analysiert, inwieweit der Terminus auch unter rechtsstaatlichen Aspekten vor allem hinsichtlich der Erfordernisse der Normklarheit und -bestimmtheit geeignet ist, die intendierte Differenzierung vorzunehmen.

8  Durch das Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10.12.2014 (GVBl.  I, S. 2187) wurde der Zeitraum von 48 auf 15 Monate reduziert. Zudem wird seitdem auf die Dauer des Aufenthalts abgestellt. Die Änderung diente der Umsetzung des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11); siehe hierzu BT-Drs. 392/14, S. 14 f. 9  Siehe hierzu Janda/Wilksch, SGB 2010, S. 565 (568 f.). 10  BT-Drs. 12/5008, S. 15. 11  BGBl I, S. 1950.



A. Explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots

173

1. Die verschiedenen Entwurfsfassungen der Novelle des Zuwanderungsgesetzes Im Zuge der Gesetzesberatung zum Asylbewerberleistungsgesetz wurde eine leistungsrechtliche Privilegierung für bestimmte Gruppen von Leistungsberechtigten als notwendig erachtet. Ausschlaggebend für die Differenzierung war letztlich das Argument, dass bei einem längeren Aufenthalt in Deutschland ein erhöhter Bedarf besteht, insbesondere seien Bedürfnisse nach verbesserter Integration anzuerkennen.12 Die ursprüngliche Fassung der Regelung vom 30.06.199313 normierte daher die entsprechende Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes für geduldete Ausländer ohne eine Vorbezugszeit und für Asylbewerber nach einer Wartefrist von zwölf Monaten. Das Zweite Gesetz zur Änderung des AsylbLG diente der Kosteneinsparung, die Integrationskomponente trat in den Hintergrund.14 Eine leistungsrechtliche Privilegierung erfolgte nur, wenn die freiwillige Ausreise nicht erfolgen und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden konnten, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse dagegen standen. Das Gesetz stellte erstmals auf den Bezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG ab und verlangt eine Vorbezugszeit von 36 Monaten. Die Gewährung von Analogleistungen wurde mithin daran geknüpft, dass das Existenzminimum für einen Zeitraum von drei Jahren auf einem niedrigen Niveau lag.15 Mit der ab dem 01.01.2005 geltenden Neufassung wurde durch das Zuwanderungsgesetz paradigmenwechselhaft eine gänzlich neue Regelung geschaffen. Seitdem sind solche Personen von Analogleistungen ausgeschlossen, die durch rechtsmissbräuchliches Verhalten die Dauer ihres Aufenthalts selbst beeinflusst haben. Die Intention des Gesetzgebers bestand zum einen darin, missbräuchliches Verhalten zu sanktionieren, zum anderen aber auch darin, Ausländern den Anreiz für eine Einreise nach Deutschland zu nehmen.16 Bei der Neufassung der Norm wurde zudem an den Entwurf der 12  BT-Drs. 12/5008, S. 15. Zur Entstehungsgeschichte der Norm siehe auch Adolph, in: Adolph, SGB II, SGB XII, AsylbLG, 90 AL, März 2015, § 2 AsylbLG, Rdnr.  5 ff. 13  BGBI I, S. 307. 14  § 2 Nr. 2 Ausschussbericht vom 07.02.1996, BT-Drs. 13/3728, S. 3. Zur Entwicklungsgeschichte der Norm siehe BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R, Rdnr.  20 ff. 15  Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 zum 01.01.2005 verweist § 2 Abs. 1 AsylbLG statt auf das BSHG auf das SGB XII. 16  BT-Drs. 15/420, S. 120.

174

3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

Richtlinie 2003 / 9 / EG des Rates angeknüpft.17 Ziel der Richtlinie ist es, auf eine gemeinsame europäische Asylpolitik hinzuwirken.18 Nach Art. 1 der Richtlinie sollen Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union festgelegt werden. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie regelt verschiedene Formen von negativem Verhalten des Asylbewerbers, die Einschränkungen von gewährten Vorteilen rechtfertigen. Zu den sanktionierbaren Verhaltensweisen zählen das Verlassen des Aufenthaltsortes, die Verletzung von Melde- und Auskunftspflichten sowie das Stellen eines Asylantrags im gleichen Mitgliedstaat.19 Weitere Gründe sind das Verschweigen eigener finanzieller Mittel, das Verzögern der Antragstellung und schließlich grobe Verstöße gegen die Vorschriften des Unterbringungszentrums sowie grob gewalttätiges Verhalten.20 In der deutschen Fassung der Richtlinie 2003 / 9 / EG fällt der Terminus rechtsmissbräuchlich nicht. Der deutsche Gesetzgeber wollte aber nach der Gesetzesbegründung mit dem „allgemeinen Hinweis auf rechtsmissbräuchliches Verhalten“ in § 2 AsylbLG, die Vereinbarkeit mit der zu erwartenden Richtlinie garantieren.21 Bei der folgenden Änderung des AsylbLG wurde die Vorbezugszeit von 36 auf 48 Monate erhöht, was einerseits mit einer Angleichung zu Regelungen im AufenthG, andererseits mit dem Grad der zeitlichen Verfestigung des Aufenthalts in Deutschland begründet wurde.22 Nach einem Voraufenthalt von vier Jahren soll davon auszugehen sein, dass eine Aufenthaltsperspektive entstanden sei, die es gebiete, Bedürfnisse anzuerkennen, die auf eine bessere soziale Integration gerichtet seien, weswegen Leistungen auf dem Niveau der Sozialhilfe gewährt werden sollen.23 2. Umsetzung des Entwurfs der Richtlinie 2003 / 9 / EG Der „allgemeinen Hinweis auf rechtsmissbräuchliches Verhalten“ in § 2 Abs. 1 AsylbLG soll nach der Gesetzesbegründung zum Zuwanderungsgesetz eine Vereinbarkeit der Norm mit dem Entwurf der Richtlinie 2003 / 9 / EG 17  BT-Drs.

15/420, S. 121. (1) Richtlinie 2003/9/EG. 19  Art. 16 Abs. 1a) Richtlinie 2003/9/EG. 20  Art. 16 Abs. 1a) und b), Abs. 2 und 3 Richtlinie 2003/9/EG. 21  BT-Drs. 15/420, S. 121. 22  Durch Art. 6 Abs. 2 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (BGBl I, S. 1970) wurde die Vorbezugszeit in § 2 Abs. 1 AsylbLG von 36 auf 48 Monate angehoben. Nach der Gesetzesbegründung wird damit das Ziel verfolgt, „Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu ermutigen, ihren Lebensunterhalt möglichst durch eigene Arbeit und nicht durch Leistungen des Sozialsystems zu sichern“. (BT-Drs. 16/5065, S. 155). 23  BT-Drs. 16/5065, S. 232 zu Nummer 2. 18  Einleitung



A. Explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots

175

des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten garantieren.24 Im Gegensatz zum Asylbewerberleistungsgesetz betrifft die Richtlinie nur Asylbewerber. Art. 16 des Entwurfs der Richtlinie ermöglicht die Einschränkung oder den Entzug von Vorteilen nur in eng umgrenzten, abschließend aufgeführten und gravierenden Fällen des Fehlverhaltens des Asylbewerbers. Der Entzug von Vorteilen für den Fall der missbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer ist nach der Richtlinie nur in speziellen Fällen möglich, zum Beispiel, wenn der Asylbewerber seinen behördlich bestimmten Aufenthaltsort ohne Genehmigung verlässt.25 Der deutsche Gesetzgeber hat bei der Umsetzung in § 2 Abs. 1 AsylbLG jedoch kein konkretes negatives Verhalten benannt, um Leistungen auch nach 48 Monaten auf dem abgesenkten Existenzminimum zu gewähren, sondern den unbestimmten Rechtsbegriff der Rechtsmissbräuchlichkeit als Übergriff für ein nicht näher definiertes Fehlverhalten gewählt. Eine Legaldefinition der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer erfolgt weder in der Neufassung von § 2 Abs. 1 AsylbLG noch an anderer Stelle im AsylbLG. Lediglich in der Gesetzesbegründung wird exemplarisch aufgezählt, wann eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer vorliegen soll, so beispielsweise, wenn der Asylbewerber durch Vernichtung des Passes oder die Angabe einer falschen Identität seine Aufenthaltsdauer beeinflusst hat.26 3. Die Kasuistik zu § 2 Abs. 1 AsylbLG Dem Merkmal der Rechtsmissbräuchlichkeit wurde von dem seinerzeitigen saarländischen Ministerpräsidenten und nachmaligen Bundesverfassungsrichter Peter Müller in der Debatte zum Zuwanderungsgesetz nur „eine begrenzte Justiziabilität“ bescheinigt.27 Jedoch ist das Merkmal der Rechtsmissbräuchlichkeit als unbestimmter Rechtsbegriff voll justiziabel und war bereits kurz nach seiner Einführung Gegenstand zahlreicher Entscheidungen. Der Gesetzgeber überlässt die Beantwortung einer der Kernfragen des Asylbewerberleistungsrechts den zuständigen Behörden und Gerichten. Mittlerweile hat sich auch das BSG in mehreren Entscheidungen mit § 2 Abs. 1 AsylbLG auseinandergesetzt.

24  Die

Richtlinie trat am 27.01.2003 in Kraft (AEU L 31/18). Abs. 1a) Richtlinie 2003/9/EG. 26  BT-Drs. 15/420, S. 65. 27  Vgl. Protokoll der 785. Sitzung des Bundesrates vom 14.02.2003, S. 11. 25  Art. 16

176

3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

a) Urteil des BSG vom 08.02.2007 In der Entscheidung vom 08.02.2007 hat sich der 9b. Senat des BSG mit der Frage befasst, ob eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer bereits dann vorliegt, wenn ein geduldeter Leistungsberechtigter in Deutschland bleibt, obwohl er ausreisen könnte. Entscheidungserheblich war das Problem, ob bereits die bloße Nutzung einer aufenthaltsrechtlichen Duldung durch einen Ausländer zu einer Versagung von Analogleistungen führt.28 Ausländer, die erfolglos die Anerkennung als Asylbewerber beantragt haben, erhalten nach Abschluss des Asylverfahrens eine Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz, wenn ihre Abschiebung aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen rechtlich oder tatsächlich nicht möglich ist. Die Duldung verleiht dem Ausländer keinen Aufenthaltstitel, sondern lässt die bestehende Ausreispflicht des Ausländers nach § 60a Abs. 3 AufenthG unberührt. Der Staat verzichtet bei geduldeten Ausländern lediglich auf die Vollstreckung der Ausreisepflicht, der Ausländer wird vorläufig nicht abgeschoben. In seinem Urteil hat das BSG die Auffassung des Berufungsgerichts zurückgewiesen, wonach allein die bloße Nichtausreise keine rechtsmissbräuchliche Handlung sei und der Leistungsempfänger mit seinem Verbleib in Deutschland nur die durch Duldung erlangte Rechtsposition nutze.29 Unter einer rechtsmissbräuchlicher Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer sei auch eine subjektiv vorwerfbare, von der Rechtsordnung missbilligte und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition zu verstehen, die ein Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erlangt habe.30 Ohne Aufenthaltserlaubnis sei der Ausländer ausländerrechtlich weiterhin zur Ausreise verpflichtet; durch die Duldung bleibe die Ausreisepflicht unberührt.31 Nach der ausländerrechtlichen Konzeption widerspreche der weitere Inlandsaufenthalt mithin der Rechtsordnung.32 Wer diese Pflicht vorwerfbar nicht befolge, mache funktionswidrig unter Verstoß gegen Treu und Glauben von der durch Duldung eingeräumten Rechtsposition Gebrauch.33 Vorwerfbar sei es regelmäßig, wenn der Ausländer nicht ausreise, obgleich ihm das möglich und zumutbar wäre. Ein weiterer Aufenthalt des Ausländers werde in Erwartung rechtspflichtkonformen Verhaltens durch selbständige

28  BSG, 29  BSG, 30  BSG, 31  BSG, 32  BSG, 33  BSG,

Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil Urteil

vom vom vom vom vom vom

08.02.2007 – 08.02.2007 – 08.02.2007 – 08.02.2007 – 08.02.2007 – 08.02.2007 –

B B B B B B

9b AY 1/06 9b AY 1/06 9b AY 1/06 9b AY 1/06 9b AY 1/06 9b AY 1/06

R –. R –, R –, R –, R –, R –,

Rdnr. 17. Rdnr. 18. Rdnr. 19. Rdnr. 19. Rdnr. 21.



A. Explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots

177

Ausreise nur wegen der Ohnmacht des Staates, das geltende Recht zwangsweise durchzusetzen, geduldet.34 Problematisch in dieser Entscheidung ist die Konstruktion des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens. Das BSG verknüpft die Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit mit der Frage der Zumutbarkeit der Ausreise.35 Diese Verknüpfung potenziert die Unbestimmtheit beider Begriffe und birgt das Risiko einer bloßen Billigkeitsbetrachtung,36 zumal das BSG annimmt, dass selbst bei Vorliegen eines missbräuchlichen Verhaltens die Ausreise wegen der Integration des Ausländers unzumutbar sein kann.37 Problematisch erscheint überdies, dass der Staat selbst zeitweise darauf verzichtet, die Ausreisepflicht durchzusetzen, und gleichzeitig demjenigen, der sich auf diese Position beruft, vorwirft, dass er missbräuchlich handelt.38 Auch wenn unterschiedliche Teilrechtsordnungen ein Verhalten nicht zwingend gleichermaßen als rechtmäßig oder rechtswidrig bewerten müssen, da ihnen unterschiedliche Wertmaßstäbe zu Grunde liegen, so erscheint es doch zumindest normativ widersprüchlich, die Nichtvollziehung der Ausreise dem geduldeten Ausländer vorzuwerfen. b) Urteil des BSG vom 17.06.2008 Mit seinen Entscheidungen vom 17.  Juni 2008 hat der neu zuständig gewordene 8. Senat des BSG die Rechtsprechung des 9b. Senats des BSG zur Duldung ausdrücklich aufgegeben.39 Das Hauptargument für die Aufgabe der Rechtsprechung ist, dass es widersprüchlich sei, dem Ausländer einerseits die geschützte Rechtsposition der Duldung zu erteilen, auf die er bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen einen Rechtsanspruch habe, und gleichzeitig die Nichtausreise als missbräuchlich anzusehen.40 Der Aufenthaltsstatus des Ausländers sei für die Frage der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer nicht relevant.41

34  BSG,

Urteil vom 08.02.2007 – B 9b AY 1/06 R –, Rdnr. 21. BSG, Urteil vom 08.02.2007 – B 9b AY 1/06 R –, Rdnr. 19 ff. 36  Siehe hierzu Luthe, jurisPR-SozR 10/2007, Anm. 3. 37  Vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2007 – B 9b AY 1/06 R –, Rdnr. 28 ff. 38  So BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 35. 39  BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –. 40  BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 35. 41  BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 35. 35  Vgl.

178

3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

c) Konkretisierung des Rechtsmissbrauchs durch den 8. Senat des BSG Auch der 8. Senat des BSG fasst den Rechtsmissbrauch als ein vorwerfbares Fehlverhalten auf. Hinter dem Verbot des Rechtsmissbrauchs stehe auch im AsylbLG die Idee, dass sich niemand auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuewidrig herbeigeführt hat.42 Der 8. Senat des BSG konstruiert die Prüfung, ob ein Verhalten vorliegt, das rechtsmissbräuchlich die Aufenthaltsdauer verlängert hat, ähnlich einem deliktischen Anspruch. Der Schaden liegt bei dem Ausländer, dem dauerhaft die Gewährung von Analogleistungen als Sanktion versagt bleibt. Es handelt sich bei einem Rechtsmissbrauch im Rahmen des AsylbLG somit auch um ein Verschulden des Ausländers gegen sich selbst. Teilweise zieht das BSG bei seiner Prüfung des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens allerdings auch Elemente des Strafrechts entsprechend heran. Im Folgenden wird die Konstruktion des BSG näher erörtert. aa) Objektiver Tatbestand Folgt man der Konstruktion des BSG, setzt der Rechtsmissbrauch im objektiven Tatbestand ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Allerdings soll nicht schon jedes missbilligte Verhalten ausreichen, sondern aus Gründen der Verhältnismäßigkeit und wegen des Sanktionscharakters muss es sich um ein Fehlverhalten von einigem Gewicht handeln.43 Die erlangte Vergünstigung des Ausländers muss auf gesetzesoder sittenwidrige Weise erlangt worden sein.44 Ausreichend ist bereits ein einmaliges Fehlverhalten des Ausländers, wenn dieses bei abstrakt-genereller Betrachtungsweise geeignet ist, die Aufenthaltsdauer zu verlängern.45 Zwar muss zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Dauer des Aufenthalts eine kausale Verknüpfung bestehen; jedoch ist kein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinne erforderlich.46 Es ist mithin unerheblich, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten den Aufenthalt des Ausländers tatsächlich verlängert. Das rechtsmissbräuchliche Verhalten des Ausländers kann sogar bereits vor der Einreise nach Deutschland stattgefunden haben, solange es bei generell-abstrakter Betrachtung der Be42  BSG,

Urteil Urteil 44  BSG, Urteil 45  BSG, Urteil 46  BSG, Urteil 43  BSG,

vom vom vom vom vom

17.06.2008 – 17.06.2008 – 17.06.2008 – 17.06.2008 – 17.06.2008 –

B B B B B

8/9b AY 1/07 8/9b AY 1/07 8/9b AY 1/07 8/9b AY 1/07 8/9b AY 1/07

R –, R –, R –, R –, R –,

Rdnr. 32. Rdnr. 33. Rdnr. 33. Rdnr. 41. Rdnr. 43.



A. Explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots

179

einflussung der Aufenthaltsdauer diente.47 Eine Ausnahme von der typisierenden Betrachtungsweise ist lediglich dann anzunehmen, wenn die Ausreisepflicht des Ausländers auch ohne sein Fehlverhalten nicht hätte vollzogen werden können.48 bb) Subjektiver Tatbestand Im subjektiven Tatbestand setzt das BSG einen doppelten Vorsatz voraus. Zum einen muss der Ausländer vorsätzlich bezüglich der tatsächlichen Umstände gehandelt, zum anderen muss er auch Vorsatz bezüglich der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes gehabt haben.49 Für das Merkmal der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts ist auf den gesamten Zeitraum des Leistungsberechtigten in Deutschland abzustellen.50 Ein bloß fahrlässiges Verhalten des Ausländers soll wegen der besonderen Situation eines Ausländers in Deutschland keine Berücksichtigung finden.51 cc) Rechtswidrigkeit Die Rechtswidrigkeit der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts entfällt, wenn der Staat sich selbst rechtswidrig oder rechtsmissbräuchlich verhält.52 Im Gegensatz zur Auffassung des 9b-Senats des BSG entfällt die Rechtswidrigkeit nicht dadurch, dass der Ausländer sich mittlerweile in Deutschland integriert hat.53 Der 8. Senat des BSG trennt somit die Frage der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer von Aspekten der Integration oder den Bedingungen im Herkunftsland des Ausländers. dd) Schuld Schließlich muss das Verhalten des Ausländers wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit unentschuldbar sein.54 Denn im Gegensatz zu dem früheren § 1a AsylblG, der nur eine vorübergehende Einschränkung der 47  BSG, 48  BSG, 49  BSG, 50  BSG, 51  BSG, 52  BSG,

Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 40. Urteil vom 02.02.2010 – B 8 AY 1/08 R –, Rdnr. 12. Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 39. Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 40. Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 39. Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 34. Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16.10.2007  – L 11 AY 28/05  –,

53  LSG Rdnr. 34. 54  BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 33.

180

3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

Grundleitungen vorsah, ist der Ausschluss von Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG dauerhaft. Im Rahmen der Schuld sollen auch die im Strafrecht entwickelten Grundsätze des Irrtums über die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Rechtsfertigungsgrundes Anwendung finden.55 Das Verhalten des Ausländers kann wegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums gerechtfertigt sein, wenn der Ausländer annimmt, dass sein Verhalten auf Grund eines rechtswidrigen oder rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Staates gerechtfertigt ist.56 Wenn das Verhalten des Ausländers den Tatbestand der Rechtsmissbräuchlichkeit objektiv, subjektiv rechtswidrig und schuldhaft erfüllt, hat er nach Auffassung des BSG sozialwidrig gehandelt.57 ee) Kritik an der Rechtsprechung des 8. Senates Die Auslegung des Begriffs der Rechtsmissbräuchlichkeit im Asylbewerberleistungsgesetz durch das BSG dürfte in manchen Punkten über die Definition des Rechtsmissbrauchs, wie sie im bürgerlichen Recht verwendet wird, hinausgehen. Erfasst wird nicht nur die von der Rechtsordnung missbilligte Wahrnehmung eines subjektiven Rechts durch den Ausländer, sondern darüber hinausgehend jeder erhebliche Pflichtenverstoß, der in direktem Bezug zu diesem Recht steht. Die Beantwortung der Frage, ob bereits die Nutzung der Duldung durch den Ausländer rechtsmissbräuchlich ist, hängt entscheidend davon ab, ob das AsylblG als bloßer Annex zum AufenthG eingeordnet wird.58 In diesem Fall ist der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit vor allem nach den Vorgaben des AufenthG auszulegen. Wird das Asylbewerberleistungsgesetz aber primär als ein eigenständiges Leistungsregime des Fürsorgerechts für bestimmte Ausländergruppen verortet, muss sich das Missbrauchsverdikt auch an den Prinzipien des Fürsorgerechts orientieren. Der 8. Senat des BSG tendiert zu einer solchen Einschätzung, wenn er das rechtsmissbräuchliche Verhalten ähnlich wie in § 103 Abs. 1 SGB XII konstruiert, nämlich als quasi-deliktischen Ausnahmetatbestand, und darauf rekurriert, dass das Verhalten des Ausländers unter Berücksichtigung der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar sein muss, um sozialwidrig zu sein.59 Durch diese Auslegung gewinnt der unbestimmte Rechtsbegriff des Rechtsmissbrauchs an Kontur. Der Schluss des BSG, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten sozialwidrig sei, wirft darüber hinaus 55  BSG,

Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 39. Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 39. 57  BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 39. 58  LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21.01.2009  – L 11 AY 2/08  –, Rdnr. 24. 59  BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rdnr. 33. 56  BSG,



A. Explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots181

Fragen auf. Im Folgenden wird untersucht, ob mit Hilfe des Begriffs der Sozialwidrigkeit Unbestimmtheiten des Begriffs der Rechtsmissbräuchlichkeit bereinigt werden können. III. Sozialwidrigkeit Der Begriff der Sozialwidrigkeit findet als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal auch bei der Auslegung von § 103 I SGB XII Anwendung, der der Regelung in § 92a BSHG entspricht. Eine vergleichbare Regelung findet sich in § 34 SGB II. Nach § 103 Abs. 1 SGB XII ist zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres für sich oder andere durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten die Voraussetzungen für die Leistungen der Sozialhilfe herbeigeführt hat. Bei der Norm handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, da Sozialhilfe grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Ursache der Hilfebedürftigkeit geleistet wird.60 § 103 Abs. 1 SGB XII soll Fälle der schuldhaft herbeigeführten Hilflosigkeit erfassen, bei denen es als unbillig und der Gemeinschaft nicht zumutbar angesehen wird, wenn keine Möglichkeit bestünde, in Einzelfällen die Aufwendungen zurückzufordern. Die Heranziehung zum Kostenersatz dient damit der Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe.61 Nach dem Wortlaut der Norm könnte in einer Vielzahl von Fällen eine Ersatzpflicht angenommen werden, da es ausreicht, dass die Voraussetzungen für die Leistung schuldhaft herbeigeführt worden sind. Das BVerwG entwickelte allerdings aus dem Schutzzweck der Norm eine einschränkende Auslegung, indem es das Kriterium der Sozialwidrigkeit ergänzt hat.62 Unter Sozialwidrigkeit ist nach Auffassung des BVerwG ein Tun oder Unterlassen zu verstehen, das aus Sicht der Gemeinschaft, die als Solidargemeinschaft die Mittel für die Sozialleistungen aufbringen muss, zu missbilligen ist.63 Das Tun bzw. Unterlassen muss einem Unwerturteil unterworfen werden können, wobei aber keine Eingrenzung auf „rechtswidriges“ Handeln im Sinne des bürgerlichen Rechts oder Strafrechts erfolgt.64 Auch bei dieser Norm handelt sich um einen quasideliktischen Ausnahmetatbestand.65 Zwischen dem sozialwidrigen Verhalten und der Gewährung von Sozialhilfe muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen, ein so genannter Sozi60  Klinge,

in: Hauck/Noftz, SGB, 02/12, § 103 SGB XII, Rdnr. 1. BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 – 5 C 22/99 –, Rdnr. 12. 62  BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 – 5 C 22/99 –, Rdnr. 12. 63  BVerwG, Urteil vom 14.01.1982 – 5 C 70/80 –, Rdnr. 9. 64  LSG Bayern, Urteil vom 19.01.2006 – L 11 SO 22/05 –, Rdnr. 31. 65  Vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 – 5 C 22/99 –, Rdnr. 12. 61  Vgl.

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3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

alwidrigkeitszusammenhang.66 Maßgeblich hierfür ist die zivilrechtliche Adäquanztheorie: Die Möglichkeit des Erfolgseintritts darf nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeiten liegen.67 War das sozialwidrige Verhalten nur eine von mehreren Ursachen für die Leistung der Sozialhilfe, ist der Sozialwidrigkeitszusammenhang nur gegeben, wenn das sozialwidrige Verhalten die überwiegende Ursache für die Sozialhilfeleistung ist.68 Der Anspruch auf Kostenersatz setzt schließlich in subjektiver Hinsicht voraus, dass die Voraussetzungen für die Leistung der Sozialhilfe durch ein schuldhaftes Verhalten herbeigeführt wurden, wobei sich schuldhaft verhält, wer sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst oder grob fahrlässig nicht bewusst ist.69 Die Beurteilung der Sozialwidrigkeit erfolgt nur nach den Umständen des Einzelfalls, das heißt, dass es sich stets um ein Unwerturteil über ein Verhalten im Einzelfall handelt. Die Fälle, in denen ein sozialwidriges Verhalten angenommen wurde, sind vielfältig. Ein sozialwidriges Verhalten kann in der Kündigung einer Krankenversicherung bei nachfolgendem Bezug von Krankenhilfe bestehen.70 Die Aufnahme einer Zweitausbildung71 kann ebenso sozialwidrig sein wie die Verbüßung einer Haftstrafe,72 die zur Sozialhilfebedürftigkeit von Unterhaltsberechtigten führt. Die Beispiele aus der Rechtsprechung zeigen, dass es keine konstanten Kriterien gibt, nach denen ein Verhalten als sozialwidrig beurteilt wird; nicht selten wird ein Verhalten von den verschiedenen gerichtlichen Instanzen unterschiedlich eingeschätzt.73 Jedoch gibt es eine Tendenz, ein sozialwidriges Verhalten dann anzunehmen, wenn durch das Verhalten die Zahlung von Unterhalt nicht erfolgen kann und die Sozialhilfeleistung an die Stelle der Unterhaltszahlung tritt. In dieser Konstellation existiert neben § 103 Abs. 1 SGB XII aber auch der Übergang von Ansprüchen gegen den Unterhaltsverpflichteten auf den Träger der Sozialhilfe nach § 94 SGB XII. Die Bestimmung der Sozialwidrigkeit eines Verhaltens aus Sicht der Solidargemeinschaft ist in einer pluralistischen Gesellschaft auf Grund der divergierenden Wertvorstellungen kaum möglich. Diese Problematik zeigt sich 66  Bieback, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, Kommentar, 5. Aufl (2014), § 103 SGB XII, Rdnr. 24. 67  Grüneberg, in: Palandt, Vorbemerkung vor § 249, Rdnr. 26 ff. 68  Klinge, in: Hauck/Noftz, SGB, 02/12, § 103 SGB XII, Rdnr. 10. 69  BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 – 5 C 22/99 –, Rdnr. 12. 70  BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 – 5 C 22/99 –, Rdnr. 13. 71  BVerwG, Urteil vom 24.06.1976 – V C 41.74 –. 72  Hessischer VGH, Urteil vom 30.04.1970  – V OE 107/68  –. Die Sozialwidrigkeit wird vom BVerwG auch für die Untersuchungshaft und für die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe angenommen, wenn diese zur Sozialhilfebedürftigkeit von Unterhaltsberechtigten führen (so BVerwG, Urteil vom 10.04.2003 – 5 C 4/02 –). 73  Z. B. BSG, Urteil vom 02.11.2012 – B 4 AS 39/12 R –.



A. Explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots183

ebenso im Polizeirecht bei der Frage, ob ein Verhalten gegen die öffentliche Ordnung verstößt. Bei der Auslegung des Begriffs der Sozialwidrigkeit ist daher zum einen zu berücksichtigen, dass es sich um eine Ausnahmevorschrift handelt, die aus diesem Grund eng auszulegen ist, und zum anderen ist § 2 Abs. 2 SGB I zu beachten, wonach soziale Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden sollen.74 Ein Verhalten kann jedenfalls dann nicht sozialwidrig sein, wenn es durch andere Gesetze gefördert wird und eine zulässige Möglichkeit der rechtlichen Gestaltung darstellt. So kann das abgestimmte Verhalten von Eltern beim Elterngeld, das zum Teil nicht auf die Sozialhilfe angerechnet wird,75 zwar kausal für den Bezug der Sozialhilfe sein, allerdings steht es den Eltern nach dem BEEG frei, Leistungen des Elterngeldes in Anspruch zu nehmen.76 Schließlich kann ein Verhalten auch dann nicht als sozialwidrig beurteilt werden, wenn es durch Grundrechte geschützt ist. So ist beispielsweise die Arbeitsaufgabe eines Zeugen Jehovas, der bei seiner Tätigkeit Aufgaben der Wehrerfassung wahrnehmen sollte, nicht als sozialwidrig eingeordnet worden.77 IV. Das Verhältnis von „Rechtsmissbrauch“ und „Sozialwidrigkeit“ Die Erörterungen zur Sozialwidrigkeit zeigen, dass der Begriff der Sozialwidrigkeit die gleichen Probleme wie der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit mit sich bringt. Bei beiden ist nur schwer vorhersehbar, ob ein Verhalten als rechtsmissbräuchlich beziehungsweise als sozialwidrig beurteilt wird. Zwar gibt es Tendenzen, ob ein Verhalten in die eine oder andere Kategorien fällt, letztlich handelt es sich aber stets um Einzelfallentscheidungen. Indem das BSG rechtsmissbräuchliches mit vorsätzlich sozialwidrigem Verhalten verbindet, ist daher für die Definition des Rechtsmissbrauchs nichts gewonnen. Die Begrifflichkeiten unterscheiden sich vor allem in der Betonung des damit verbundenen Unwerturteils: Die Sozialwidrigkeit stellt die Gemeinschaftsschädlichkeit des Verhaltens in den Vordergrund, während das Rechtsmissbrauchsurteil auf eine falsche Ausübung von an sich bestehenden Rechten abzielt. Davon abgesehen, lautet der ernüchternde Befund, ist den Konkretisierungsbemühungen des BSG eine gewisse Zirkularität nicht abzusprechen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass durch die Aufnahme des Terminus „Rechtsmissbrauch“ ins Gesetz bei allen verbleibenden (Bestimmtheits-) 74  Schoch, 75  Vgl.

men.

ZfS 1989, S. 33 (33). § 10 Abs. 1 BEEG; beim Elterngeld handelt es sich nicht um Einkom-

76  Conradis, 77  OVG

in: Münder, SGB XII, 8. Aufl. (2008), § 103 SGB XII, Rdnr. 12. Lüneburg, Urteil vom 27.09.1972 – IV A 130/70 –.

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3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

Problemen verglichen mit dem Zustand, dass letztlich sozialpolitisch motivierte Leistungseinschränkungen bar jeder normativen Anknüpfungsmöglichkeit erfolgen, ein rechtsstaatlicher Fortschritt erzielt wird. Ketzerisch gesprochen könnte man zwar sagen, mit der Aufnahme eines Blanketttatbestandsmerkmals wie der „Rechtsmissbräuchlichkeit“ werde lediglich der Verfassungswidrigkeitsgrund des Verstoßes gegen den Vorbehalt des Gesetzes gegen den der Unbestimmtheit ausgetauscht. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass ein solches Tatbestandsmerkmal immerhin Warnfunktion zu entfalten im Stande ist: Der Normadressat hat hier, anders als beim bloß hineingelesenen Missbrauchsvorbehalt, durchaus Anlass, im Vorfeld an der rechtlichen Anerkennung seiner geplanten „gestalterischen Versuche“ zu zweifeln. V. Ergebnis Die vorangegangen Untersuchungen haben gezeigt, dass explizite allgemeine Missbrauchsregeln zwar unter rechtsstaatlichen Anforderungen zulässig sind, jedoch auch Probleme mit sich bringen, da es im Detail nicht eindeutig ist, wann ein Missbrauch vorliegt. Ein allgemeines Missbrauchsverbot zieht eine wechselvolle Kasuistik nach, je nachdem, welche normativen Vorgaben bei der Beurteilung der Rechtsmissbräuchlichkeit in den Vordergrund gestellt werden. Eine Alternative zu der Regelung in § 2 Abs. 1 AsylbLG bestünde darin, zwischen Ausländern zu differenzieren, die nur einen vorübergehenden Aufenthaltsstatus haben und daher abgesenkte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, und solchen Ausländern, die einen verfestigten Bleibestatuts haben und daher Leistungen nach dem SGB XII erhalten.78 Das Kriterium der Rechtsmissbräuchlichkeit wäre bei einer solchen Fassung der Norm nicht erforderlich. Dass durch § 2 Abs. 1 AsylblG eine generalpräventive Wirkung erzielt werden kann und Ausländer wegen dieser Norm nicht aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen, scheint vor allem politische Rhetorik zu sein.

B. Implizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots I. Problemstellung Es hat sich gezeigt, dass die allgemeine Formulierung eines Rechtsmissbrauchsverbots rechtlich zulässig ist, jedoch auch Folgeprobleme nach sich zieht. Im Bereich des Leistungsrechts hat der Gesetzgeber unterschiedliche Strategien entwickelt, um einer missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozi78  So

auch der Vorschlag von Hohm, NVwZ 2005, S. 388 (391).



B. Implizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots185

alleistungen entgegenzuwirken. Das vorrangige politische Ziel der verschieden Maßnahmen besteht darin, eine Kostenentlastung im Bereich der sozialen Sicherungssysteme herbeizuführen. Es handelt sich bei Missbrauchsregelungen um sozialpolitische Wertentscheidungen, die typischerweise auch von den divergierenden Zielsetzungen im Bereich der Sozialpolitik determiniert werden. Im Vordergrund bei der Diskussion des Missbrauchs sozialer Leistungen steht die Frage nach der Stellung des Einzelnen in der Versichertengemeinschaft bzw. der Gesellschaft, die dort herrschende Moral bezüglich der Inanspruchnahme von Leistungen und deren Bewertung hinsichtlich der Ziele des sozialen Sicherungssystems.79 Ein Verhalten des Einzelnen wird dann als missbräuchlich bewertet, wenn die Grenzen der Solidarität überschritten werden. Die Grenzüberschreitung kann auf unterschiedlichen Gründen beruhen. Im Vordergrund stehen jedoch zwei Grundtendenzen. Zum einen wird ein Verhalten dann als missbräuchlich bewertet, wenn der an sich Leistungsberechtigte den Leistungsfall vorwerfbar herbeigeführt hat, zum anderen wird eine Leistungsgewährung dann als missbräuchlich eingeordnet, wenn die Leistung vorrangig im Bereich der Eigenverantwortung des Einzelnen anzusiedeln ist und aus diesem Grund nicht auf die Solidargemeinschaft abgewälzt werden soll. Bei seinen Strategien, Missbrauch im weiteren Sinne zu verhindern, geht es dem Gesetzgeber vor allem darum, typisierende Regelungen zu schaffen, die den Leistungsumfang begrenzen, um so die Möglichkeiten einer Inanspruchnahme von Leistungen zu verringern, die nicht im Einklang mit der gesetzgeberischen Intention stehen.80 II. Verschiedene gesetzgeberische Strategien Im Folgenden sollen exemplarisch Regelungsstrategien untersucht werden, die der Gesetzgeber verwendet, um eine missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu verhindern. Dabei geht es nicht darum, typologische oder wirtschaftliche Repräsentativität, die angesichts der Menge des Rechtsstoffs ohnehin schwerlich darstellbar wäre, zu erreichen, sondern allein darum, schlaglichtartig die Vielgestaltigkeit gesetzgeberischer Ansätze zu erhellen.

79  Ullrich,

80  Stettner,

KZfSS 1995, S. 681 (684). VSSR 1983, S. 155 (164 ff.).

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3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

1. § 33a SGB I: Maßgeblichkeit des erstmals angegebenen Geburtsdatums § 33a SGB I regelt verbindlich, dass das Geburtsdatum maßgebend ist, welches der Berechtigte oder Verpflichtete oder seine Angehörigen gegenüber einem Sozialleistungsträger als erstes angegeben haben, wenn Rechte oder Pflichten davon abhängig sind, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist.81 Dies ist beispielsweise im Rentenrecht bei der Frage relevant, ob die Altersgrenze nach § 35 SGB VI erreicht oder, in der gesetzlichen Krankenversicherung, die Altersgrenze nach § 10 Abs. 2 SGB V für die Familienversicherung überschritten worden ist.82 Hintergrund der Regelung ist, dass manche ausländische Rechtsordnungen die Möglichkeit vorsehen, das Geburtsdatum durch eine gerichtliche Entscheidung nachträglich ändern zu lassen.83 Eine derartige Korrektur kann zu Vorteilen im deutschen Sozialleistungssystem führen, die in ausländischen Rechtsordnungen nicht eintreten, da diese die Änderung des Geburtsdatums für den Bereich der Sozialleistungssysteme nicht anerkennen.84 Nachdem vor allem im Bereich der Rentenversicherung vermehrt zahlreiche Rückdatierungen von ausländischen Versicherten vorgenommen wurden,85 erließ der Gesetzgeber die Regelung des § 33a SGB I.86 Neben der Missbrauchsvermeidung soll die Norm auch dazu dienen, die Verwaltung von aufwendigen Nachprüfungen des tatsächlichen Geburtsdatums zu entlasten.87 Die Norm dient überdies der Streitvermeidung, da sie Manipulationsversuche von vornherein verhindern soll.88 An die erstmalige Angabe des Geburtsdatums gegenüber einem Sozialleistungsträger knüpft § 33a SGB I weitreichende materiell-rechtliche Folgen, die nicht davon abhängen, dass das wahre Geburtsdatum angegeben wurde.89 § 33a SGB I Abs. 1 folgt dem Grundsatz der formellen Wahrheit. Eine Abweichung von dem erstmalig angegebenen Geburtsdatum ist nach § 33a Abs. 2 SGB I nur dann zulässig, wenn entweder ein Schreibfehler vorliegt oder sich aus einer Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der Angabe 81  Nach § 37 SGB I gilt § 33a SGB I in allen Bereichen des SGB, ohne dass in den besonderen Teilen von der Angabe abgewichen werden kann. 82  Entsprechendes gilt nach § 25 Abs. 2 SGB XI für die Pflegeversicherung. 83  Joussen, NZS 2004, S. 120 (120). 84  Vgl. BT-Drs. 13/8994, S. 67. 85  BMA, Sozialpolitische Informationen 1997, Nr. 12, S. 4. 86  Vgl. BT-Drs. 13/8994, S. 67. 87  BSG, Urteil vom 19.10.2000 – B 8 KN 3/00 R –, Rdnr. 36. 88  BSG, Urteil vom 31.03.1998 – B 8 KN 11/95 R –, Rdnr. 28. 89  Baier, in: Krauskopf, Bd. 1, 90.  EL, Dezember 2015, § 33a SGB I, Rdnr. 3.



B. Implizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots

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ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt. Beiden in Abs. 2 normierten Ausnahmen ist gemeinsam, dass sie sehr enge Voraussetzungen festlegen, in denen von der Regel des Abs. 1 abgewichen werden kann. Als Ausnahmeregelung ist Abs. 2 nicht analogiefähig.90 Obgleich § 33a SGB I an sich neutral formuliert ist, also sowohl Rechte als auch Pflichten des Sozialversicherten erfasst, zielt die Regelung vor allem darauf ab, die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu verhindern.91 Wenn in diesem Zusammenhang das Wort Missbrauch verwendet wird, deutet dies darauf hin, dass damit Gestaltungsmöglichkeiten unterbunden werden sollen, die das Recht an sich einräumt, nämlich unrichtige Angaben zu korrigieren. Der Norm liegt die Vermutung zu Grunde, dass die zunächst gemachten Angaben eher zutreffen als die später „korrigierten“. Diese Annahme ist rational nachvollziehbar, vor allem dann, wenn die Änderung des Geburtsdatums in der Nähe des Zeitraums der beantragten Leistung liegt.92 Das Ziel des Gesetzgebers besteht mithin darin, möglichst auf der Grundlage wahrer Tatsachen Entscheidungen zu treffen und missbräuchliches Handeln – immerhin auf der Grundlage amtlicher Dokumente – auszuschließen.93 Die Regelung nimmt dabei in Kauf, dass zum Teil Entscheidungen auf der Grundlage falscher Tatsachen getroffen werden. Eine Widerlegung kann nur in den in Abs. 2 abschließend aufgezählten Fällen erfolgen, also wenn ein Schreibfehler vorliegt oder sich aus einer Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der ersten Angabe gegenüber einem Sozialleistungsträger ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt. Die tatbestandlich eng gefasste Ausnahmeregelung verhindert eine Umgehung der gesetzgeberischen Zielsetzung, denn Entscheidungen bezüglich des Geburtsdatums eines Versicherten können auch in atypischen Konstellationen nicht auf Grund von Billigkeitserwägungen ergehen. § 33a SGB I ist eine Regelung, bei der die Vorzüge der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Vordergrund stehen. Neben der Missbrauchsprävention ist sie durch den Wegfall einer Einzelfallprüfung vor allem auch für die Massenverwaltung im Sozialrecht geeignet.

90  Joussen, 91  Vgl.

NZS 2004, S. 120 (125). BT-Drs. 13/8994, S. 67; Just, in: Hauck/Noftz, SGB, 04/09, § 33a SGB I,

Rdnr. 2. 92  Vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 23.04.2003 – L 1 RJ 91/00 –, Rdnr. 21. 93  Seewald, SGB 2004, S. 185 (185).

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3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

2. § 46 Abs. 2a SGB VI: Vermutung der Versorgungsehe bei kurzer Ehedauer Ein Anspruch auf die kleine Witwen- bzw. Witwerrente besteht, wenn der verstorbene Ehegatte die allgemeine Wartezeit erfüllt hat.94 Bei der großen Witwen- bzw. Witwerrente muss zusätzlich eine der drei typisierten Bedarfssituationen vorliegen, also Kindererziehung, fortgeschrittenes Lebensalter oder Erwerbsminderung.95 Der rechtliche Status als Witwe bzw. Witwer verlangt, dass formal vor dem Todesfall eine Ehe bestand.96 Die Gewährung der Witwen- oder Witwerrente als sozialrechtlicher Vorteil hängt somit von einer zivilrechtlichen Gestaltung ab. Die Motive für das Eingehen einer Ehe sind rechtlich grundsätzlich irrelevant.97 Auch die Begründung eines sozialversicherungsrechtlichen Status ist ein legitimes Motiv zu heiraten. Es steht dem Gesetzgeber allerdings frei, die Gewährung von Sozialleistungsansprüchen von weiteren Voraussetzungen abhängig zu machen. Das Sozialrecht ist nicht gezwungen, allein an den Status der Ehe Vorteile zu knüpfen. Eine solche zusätzliche Voraussetzung enthält § 46 Abs. 2a SGB VI. Die Regelung sieht vor, dass die kleine oder große Witwen- / Witwerrente grundsätzlich ausgeschlossen ist, wenn der Versicherte vor Ablauf eines Jahres nach der Heirat verstirbt. Es handelt sich in der Rentenversicherung um eine relativ neue Regelung,98 die verhindern soll, dass eine Eheschließung vorrangig aus Gründen der Versorgung erfolgt. Sie soll „Mitnahmeeffekte“ zu Lasten der Versichertengemeinschaft verhindern.99 Vor Einführung dieser Norm war die Dauer der Ehe für den Witwen- und Witwerrentenanspruch irrelevant; auch bei einer Kurzzeitehe entstand der volle Rentenanspruch.100 Den Anspruch auf Witwenrente völlig unabhängig von der Dauer der Ehe zu 94  § 46

Abs. 1 SGB VI. Anpruchsvoraussetzungen nach § 46 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB VI müssen vorliegen. Ringkamp, in: Hauck/Noftz, SGB, 02/16, § 46 SGB VI, Rdnr. 20. 96  Ringkamp, in: Hauck/Noftz, SGB, 02/16, § 46 SGB VI, Rdnr. 5. 97  Siehe hierzu Eichenhofer, Trittbrettfahren im System sozialer Sicherung, in: Engel (Hrsg.), 1998, S. 219 (235). 98  Ähnliche (ältere) Regelungen finden sich in § 65 Abs. 6 SGB VII, § 38 Abs. 2 BVG und § 19 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BeamtVG. Auch die Satzungen der Versorgungswerke regeln den Ausschluss der Versorgungsehe in ähnlicher Weise. In den Satzungen der berufsständischen Versorgungswerke lassen sich auch Regelungen finden, die darauf abstellen, dass der Ehepartner nicht mehr als 15 Jahre jünger als der Verstorbene sein darf. Diese Regelungen sind wesentlich strenger als in der gesetzlichen Rentenversicherung. 99  So auch Pietrek, jurisPR-SozR 4/2012, Anm. 6. 100  Siehe hierzu BSG, Urteil vom 05.05.2009 – B 13 R 53/08 R –, Rdnr. 33. 95  Die



B. Implizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots189

gewähren, wurde als sozialpolitisch verfehlt und geradezu den Missbrauch herausfordernd angesehen.101 Bei der so genannten Versorgungsehe wird vom Gesetz vermutet, dass das Hauptmotiv der Eheschließung nicht die Begründung der ehelichen Lebensgemeinschaft ist, sondern die Eheschließung vorrangig dazu missbraucht wird, eine Versorgung durch eine Hinterbliebenenrente zu erhalten. Die Vermutungsregelung hat den Vorzug, dass die Motive der Eheschließung grundsätzlich beim Anspruch auf Witwen- / Witwerrente nicht hinterfragt werden müssen, wenn die Ehe formalrechtlich länger als ein Jahr bestanden hat. Die Typisierung dient dazu, ein Ausforschen der Intimsphäre durch den Sozialleistungsträger zu vermeiden.102 Die gesetzliche Vermutung für eine Versorgungsehe kann widerlegt werden, wenn nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Für die Widerlegung der gesetzlichen Vermutung einer so genannten Versorgungsehe ist der volle Erweis des Gegenteils nach § 202 SGG i. V. m. § 292 ZPO zu erbringen.103 In der Gesetzesbegründung wird als Beispiel für die Möglichkeit der Widerlegung einer Versorgungsehe der Unfalltod des Ehepartners genannt.104 Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass bei einer fehlenden Vorhersehbarkeit des Todes des Versicherten, die eine Vorplanung der Ehepartner ausschließt, die Vermutung nicht zutrifft, dass der Zweck der Heirat vorrangig in der Versorgung des überlebenden Ehepartners besteht. In der Rechtsprechung ist die Möglichkeit, die Versorgungsehe zu widerlegen, allerdings weit über den Tod des Ehepartners durch ein plötzliches unerwartetes Ereignis ausgeweitet worden. Maßgeblich sollen stets die besonderen Umstände des Einzelfalls sein.105 Schwierigkeiten in der Bewertung bereiten vor allem die Fälle, in denen ein Ehegatte bereits im Zeitpunkt der Eheschließung schwer krank oder sehr alt ist. Es ist eine Kasuistik entstanden, die es kaum vorhersehbar macht, unter welchen Umständen die gesetzliche Vermutung widerlegt werden kann, da ähnliche Lebenstatsachen unterschiedlich bewertet werden. So kann nach Auffassung des Landessozialgerichts BerlinBrandenburg beispielsweise die Dauer einer vorehelichen Lebensgemeinschaft sowohl ein Argument für als auch gegen das Vorliegen einer Versor101  Köbl,

in: Schulin, Handbuch Sozialversicherungsrecht, Bd. 3, § 28, Rdnr. 30. Hessen, Urteil vom 24.07.2015 – L 5 R 39/14 –, Rdnr. 37. 103  Zu den Problemen bei der Beweisführung siehe Steiner, SGB 2015, S. 589 (590 f.). 104  BT-Drs. 14/4595, S. 44. 105  So BSG, Urteil vom 05.05.2009 – B 13 R 55/08 R –, Rdnr. 24. 102  LSG

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3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

gungsehe sein.106 Besondere Bedeutung kommt der Beurteilung des Gesundheitszustands des Verstorbenen zu. Wenn die tödlichen Folgen einer Erkrankung zum Zeitpunkt einer Eheschließung noch nicht vorhersehbar oder den Ehepartnern nicht bekannt waren, kann bei einer Gesamtbetrachtung der Umstände die Vermutung einer Versorgungsehe widerlegt werden. Die Kenntnis einer letal verlaufenden Krankheit schließt die Widerlegung regelmäßig aus, es sei denn, dass sich die Eheschließung als die konsequente Verwirklichung eines bereits vor Erlangung dieser Kenntnis gefassten Heiratsentschlusses darstellt.107 Wird eine Hochzeit jedoch aus verschiedenen Gründen mehrmals verschoben, dann aber innerhalb kurzer Zeit nach Bekanntwerden der Erkrankung geschlossen, ist die gesetzliche Vermutung wiederum nicht ohne weiteres widerlegbar.108 Die Versorgungsvermutung tritt im Vergleich zu anderen Motiven umso mehr in den Vordergrund, je gewichtiger materielle Vorteile durch die Hinterbliebenenversorgung sind.109 Die Kasuistik zur Widerlegung der Versorgungsehe zeigt, wie problematisch das Anknüpfen an den unbestimmten Rechtsbegriff der „besonderen Umstände“ bei den Motiven einer Eheschließung ist. In den Fällen, in denen der Tod nicht durch ein plötzliches unerwartetes Ereignis wie einen Unfall oder ein Verbrechen eintritt, würde eine trennscharfe Abgrenzung der Versorgungsehe von anderen Ehen, die einen Versorgungsanspruch begründen, nur möglich sein, wenn sich eindeutige legitime Zwecke für das Eingehen einer Ehe definieren ließen. Dieses ist jedoch in einem säkularisierten Staat mit der grundrechtlich garantierten Freiheit, eine Ehe eingehen zu können, die nicht an weitere Voraussetzungen geknüpft ist, nicht möglich. Die Motive, die gegen eine Versorgungsehe sprechen, lassen sich auf Grund der Vielfältigkeit des Lebens nicht typisieren. Sie entziehen sich zudem einer Bewertung; eine Abwägung, ob das Interesse, „in geordneten Verhältnissen“ zu sterben, oder das, einen Versorgungsanspruch zu erlangen, überwiegt, ist kaum nachvollziehbar. Der Vorteil dieser Missbrauchsregelung besteht darin, dass eindeutig zu bestimmen ist, wann nach der Auffassung des Gesetzgebers keine Versorgungsehe vorliegt, nämlich dann, wenn die Ehe länger als ein Jahr gedauert hat. Die Festlegung des Zeitraums von einem Jahr mag willkürlich erscheinen; es liegt aber im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, anzunehmen, dass eine Ehe, die diesen Zeitraum überdauert hat, nicht allein aus Gründen der Versorgung eingegangen worden ist. Es handelt sich hier um eine Frist, die als klares Kriterium entweder erfüllt oder nicht erfüllt wird. Die vorgenommene Differenzierung innerhalb des Jahreszeitraums des Bestehens der 106  LSG

Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.07.2008 – L 8 R 583/08 –, Rdnr. 28. Beschluss vom 19.01.2009 – 2 B 14/08 –, Rdnr. 7. 108  LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 11.11.1999 – L 5 U 112/98 –, Rdnr. 27. 109  LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 07.03.2007 – L 8 R 207/06 –, Rdnr. 34. 107  BVerwG,



B. Implizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots191

Ehe führt dazu, dass die zunächst eindeutige Regelung dann doch wieder eine gewisse Rechtsunsicherheit mit sich bringt, da die sozialrechtliche Anerkennung der Ehe von den Details des Einzelfalls abhängt und auch ähnliche Lebenstatsachen unterschiedlich beurteilt werden. Die gewählte Regelungstechnik zum Ausschluss der Versorgungehe zeigt, dass eine gesetzgeberische Strategie dann Erfolg hat, wenn sie klare Kriterien vorgibt, bei denen ein Verhalten als missbräuchlich bewertet wird. Eine derartige Regelung ist aus Gründen der Rechtsklarheit allgemeinen Missbrauchsverboten vorzuziehen. Im Fall des Ausschlusses der Rente aus Versorgungsgründen bei einer Ehedauer von unter einem Jahr sind die Voraussetzungen auch nicht manipulierbar, da es allein auf das Datum der Eheschließung und den Eintritt des Todesfalls ankommt. Die Möglichkeit, die Vermutung der Versorgungsehe zu widerlegen, soll dazu dienen, in besonders gelagerten Fällen dem überlebenden Ehegatten trotz kurzer Ehedauer eine Hinterbliebenenversorgung zu gewähren. Wann diese besonders gelagerten Fälle vorliegen, lässt das Gesetz allerdings offen. Lediglich in der Gesetzbegründung wird beispielhaft der Unfalltod des Versicherten genannt. Der Missbrauch ist in den Vorschriften über die so genannte Versorgungsehe als Ausnahme von der Regel, nämlich der der sozialrechtlichen Anerkennung einer bürgerlich-rechtlich wirksam geschlossenen Ehe, konzipiert. Von der Ausnahme sind wiederum im Einzelfall Rückausnahmen möglich. An dieser Regelungsweise zeigt sich, dass eine derartige Normkonstruktion dann Probleme aufwirft, wenn nicht eindeutige Regelbeispiele genannt werden, wann kein Missbrauch vorliegen soll. Der Gesetzgeber hätte im Fall der Regelung der Hinterbliebenenversorgung zum Beispiel bestimmen können, dass auch bei einer Ehedauer von unter einem Jahr der Verdacht der Versorgungsehe dann als widerlegt gilt, wenn der Ehepartner als Folge eines unerwarteten Ereignisses verstirbt. Eine derartige Regelungstechnik hätte erheblich zur Vorhersehbarkeit der Normanwendung und Rechtssicherheit beigetragen. Der Preis der höheren Bestimmtheit wäre freilich geringere Adaptivität der Regelung gewesen. 3. § 52 SGB V: Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden Eine gänzlich andere Missbrauchsannahme liegt § 52 SGB V zu Grunde. Die Regelung hat die Funktion, die Versichertengemeinschaft vor grob unsolidarischem Verhalten zu bewahren.110 Sie ist Ausdruck des in § 1 SGB V genannten Grundsatzes der Eigenverantwortung des Versicherten. 110  Noftz,

in: Hauck/Noftz, SGB, 09/14, § 52 SGB V, Rdnr. 10.

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3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

Grundsätzlich ist im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung die Ursache des Leistungsfalls irrelevant. § 52 Abs. 1 SGB V ermöglicht jedoch die Kostenbeteiligung des Versicherten an der Krankenbehandlung in angemessener Höhe und sieht vor, dass das Krankengeld versagt bzw. zurückgefordert werden kann, wenn sich der Versicherte eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihm begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen hat. Die dogmatische Einordnung des normierten Verstoßes gegen den Grundsatz der Eigenverantwortung ist umstritten. Teilweise wird eine „sozialrechtliche Rechtswidrigkeit“ („Solidaritätswidrigkeit“) vertreten,111 teilweise ein bloßes „Verschulden gegen sich selbst“ angenommen.112. Jedenfalls soll die Solidargemeinschaft nach dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht zur Leistung verpflichtet sein, wenn der Versicherte den Leistungsfall durch eigenes Verschulden selbst herbeigeführt hat.113 Die Regelung macht somit eine kausalprinzipielle Ausnahme vom sonst bestehenden umfassenden Versicherungsschutz des Versicherten nach dem Finalprinzip.114 Nicht notwendig ist, dass der Versicherte sich bei § 52 Abs. 1 SGB V den Gesundheitsschaden selbst zugefügt hat.115 Zwischen dem Handeln und dem Eintritt der Krankheit muss ein Kausalzusammenhang bestehen. Der Versicherte muss vorsätzlich gehandelt haben. Das setzt Wissen und Wollen hinsichtlich der konkreten Handlung, des Eintritts des Erfolges und der Kausalität zwischen Handlung und Erfolg voraus.116 Grundsätzlich sind von der Möglichkeit der Leistungsbeschränkung alle Kosten erfasst, die auf dieselbe Krankheitsursache zurückgehen.117 Problematisch ist die Grenzziehung zwischen einem freiverantwortlichen selbstschädigenden Verhalten und dem vorsätzlichen Zuziehen einer Krankheit. So lässt sich fragen, ob bei übermäßigem Alkoholkonsum oder Zigarettenrauchen nicht bereits ein vorsätzliches Zuziehen einer Krankheit anzunehmen ist. Würde man zudem noch eine Leistungsbeschränkung für Verletzungen bei Risikosportarten – wie zum Beispiel dem Skilaufen – vorsehen, würde die Regelung eine erhebliche Einsparmöglichkeit für die gesetzliche Kranken111  Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, 1983, S. 134. 112  Boecken, Formen der Individualverantwortung in der Sozialversicherung, in: Individualverantwortung im Sozialversicherungsschutz, 1997, S. 7 (21, 23 ff.). 113  Boecken, Formen der Individualverantwortung in der Sozialversicherung, in: Individualverantwortung im Sozialversicherungsschutz, 1997, S. 7 (21, 23 ff.). 114  Eine ähnliche Regelung findet sich in § 103 SGB VI, wonach ein Renten­ anspruch ausgeschlossen ist, wenn der Versicherte seine Erwerbsfähigkeit absichtlich gemindert hat. 115  LSG Sachsen, Urteil vom 09.10.2002 – L 1 KR 32/02 –, Rdnr. 25. 116  Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB, 09/14, § 52 SGB V, Rdnr. 18. 117  Krauskopf, in: Krauskopf, Bd. 1, 91. EL, März 2016, § 52 SGB V, Rdnr. 13.



B. Implizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots193

versicherung eröffnen.118 Ein Kennzeichen der modernen Krankenversicherung, das zweifelsohne zur Verringerung von Transaktionskosten führt, besteht aber gerade darin, nicht auf die Ursache der Erkrankung abzustellen, sondern Leistungen unabhängig von Implikationen der privaten Lebensführung zu erbringen.119 Zudem wird sich in den genannten Fällen der Vorsatz nicht – wie bei § 52 SGB V – erforderlicherweise auf die Krankheit beziehen, so dass auch aus diesem Grund zumeist die Anwendung der Norm ausscheidet. Der praktische Anwendungsbereich der Regelung ist daher gering.120 § 52 Abs. 1 SGB V regelt im Weiteren einen Leistungsausschluss, wenn der Versicherte sich eine Krankheit bei einem von ihm begangenen Verbrechen oder einem vorsätzlichen Vergehen zugezogen hat.121 Hinter diesem Leistungsausschluss steht der Gedanke, dass derjenige, der eine Straftat begeht, nicht die Kosten für die Schäden, die er sich dabei zuzieht, auf die Solidargemeinschaft abwälzen darf. Neben dem Ausschluss der Kostenübernahme durch die Solidargemeinschaft für Folgen strafbaren Verhaltens könnte man der Norm auch eine Präventionswirkung zuschreiben. Allerdings erscheint es als unwahrscheinlich, dass sich jemand von einer Straftat abhalten lässt, weil er die Kosten der Behandlung selbst tragen müsste. Durch die Einführung des Absatzes 2 im Rahmen des GKV-WSG hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich der Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden erweitert. Nach dieser Regelung ist die Krankenkasse verpflichtet, den Versicherten an den Kosten der Behandlung zu beteiligen und das Krankengeld teilweise oder ganz zu versagen bzw. zurückzufordern, wenn sich der Versicherte bei einer medizinisch nicht indizierten ästhetischen Operation, bei einer Tätowierung oder einem Piercing eine Krankheit zuzieht. Die Entscheidung der Leistungsversagung steht im Gegensatz zu Abs. 1 nicht im Ermessen der Krankenkasse. Bis zum GKV-WSG waren die Folgekosten von Krankheiten durch Selbstverschulden grundsätzlich von den Krankenkassen zu tragen,122 denn mangels Vorsatzes bezogen auf die zugezogene Krankheit fiel derartiges Verhalten nicht unter § 52 Abs. 1 1. Var. SGB V. Auch hinter dieser Regelung steht die Intention, einen Missbrauch der Solidargemeinschaft auszuschließen.123 118  Wolf,

KrV 2009, S. 208 ff. SGB 2003, S. 705 (710 f.). Ein Grund hierfür dürfte auch die ersparte Sachverhaltsermittlung sein. 120  Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB, 09/14, § 52 SGB V, Rdnr. 6. 121  Eine Parallelvorschrift findet sich in § 104 SGB VI, wonach eine Rente ganz oder teilweise versagt werden kann, wenn der Versicherte sich die Beeinträchtigung bei einem Verbrechen oder vorsätzlichem Vergehen zugezogen hat. 122  BT-Drs. 16/3100, S. 108, zu Nr. 31. 123  Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB, 09/14, § 52 SGB V, Rdnr. 10. 119  Eichenhofer,

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3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

Ein Ausschluss der Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse lässt sich auch bei Abs. 2 damit begründen, dass es nicht Aufgabe der Solidargemeinschaft der Versicherten ist, für Kosten aufzukommen, die dadurch entstehen, dass sich jemand bewusst dazu entschließt, ein gesundheitliches Risiko einzugehen.124 Im Gegensatz zu § 52 Abs. 1 SGB V hat der Gesetzgeber in Abs. 2 die Frage entschieden, wann ein freiverantwortliches, gegebenenfalls selbstschädigendes Verhalten nicht mehr von der Solidargemeinschaft finanziert werden soll. Bei der Regelung handelt es sich um eine abschließende Aufzählung von Ausnahmen.125 Dieses scheint in gewisser Weise unbillig, da es zahlreiche andere selbstschädigende Verhaltensweisen gibt, die massiver als die in Abs. 2 genannten Maßnahmen in die körperliche Integrität eingreifen und auch erhebliche Folgekosten in der Behandlung für die Solidargemeinschaft nach sich ziehen können. Allerdings liegt es in der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, einen derartig begrenzten Leistungsausschluss festzulegen, solange er dabei nicht gegen Art. 3 GG verstößt. Im Hinblick auf die Zielsetzung der Norm, ein Kostensenkungsinstrument zu sein, dürfte der Regelung auf Grund ihres quantitativen Anwendungsbereichs eher eine symbolische Bedeutung zukommen. Auch die tatsächliche Steuerungsfunktion der Norm ist zweifelhaft. Es handelt sich eher um eine nachträgliche Sanktion. 4. §§ 31 f. SGB II: Leistungsminderungen Unter den Aspekt der Missbrauchsprävention und der Vermeidung von Fehlanreizen können auch die Sanktionsregelungen im SGB II gefasst werden. Das SGB II beruht auf dem Konzept des „Forderns und Förderns“.126 Maßgebliche Obliegenheit des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist seine Eingliederung in Arbeit, um seine Hilfebedürftigkeit zu beenden. Die Sanktionen, bei denen es sich nicht um Strafen handelt,127 dienen der Umsetzung dieses Ziels. Als Hintergrund der Missbrauchspräventionsvorschriften in diesem Zusammenhang kann die gesetzgeberische Erkenntnis angesehen werden, dass das Konzept des Förderns und Forderns auf vielfältige Weise umgangen werden kann. Insbesondere kann ein Arbeitsplatzverlust vom Arbeitnehmer herbeigeführt worden sein und der erwerbsfähige Leistungsberechtigte, beispielsweise durch entsprechendes Bewerbungsverhalten, dazu beitragen, dass er im Transferleistungsbezug verbleibt. Eintritt und 124  Krauskopf,

in: Krauskopf, Bd. 1, 91. EL, März 2016, § 52 SGB V, Rdnr. 9. auch BT-Drs. 16/7439, S. 96. 126  Vgl. nur Kapitel 1 SGB II. 127  Davilla, Die Eigenverantwortung im SGB III und SGB II, Obliegenheiten und Sanktionen zur Beendigung von Arbeitslosigkeit und Hilfebedürftigkeit, 2010, S. 291. 125  So



B. Implizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots195

Beendigung des Zustands der Hilfebedürftigkeit erweisen sich mithin als manipulierbar. Die in den §§ 31, 32 SGB II geregelten Pflichtverletzungstatbestände lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: erstens unzureichende Bemühungen um eine Integration in Arbeit oder die Fortführung einer Beschäftigung, zweitens Verringerung von Einkommen oder Vermögen sowie sonstiges unwirtschaftliches Verhalten, drittens Meldeverstöße. Auf der Rechtsfolgenseite ist vorgesehen, dass das Arbeitslosengeld II bei wiederholten Pflichtverletzungen in mehreren Stufen bis zum vollständigen Wegfall der Leistungen gemindert wird. Der Kürzungsumfang unterscheidet sich danach, ob Pflichtverletzungen der ersten beiden Kategorien (so genannte große Sanktion) oder der dritten Kategorie (so genannte kleine Sanktion) begangen werden. Bei Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wird das Arbeitslosengeld II bereits bei der ersten Pflichtverletzung der „großen Sanktion“ auf die Bedarfe von Unterkunft und Heizung beschränkt (§ 22 SGB II); bei einer weiteren Pflichtverletzung entfällt der Anspruch auf Arbeitslosengeld II vollständig. Bei Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr vollendet haben, erfolgt die Minderung in drei Stufen: zunächst um 30 %, bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung um 60 %, bei jeder weiteren Pflichtverletzung entfällt der Anspruch zur Gänze. Im Rahmen der „kleinen Sanktion“ beträgt die Stufenhöhe jeweils 10 %.128 Die Härte der Sanktionen kann zum Teil durch die Gewährung von Sachleistungen an den Leistungsberechtigten sowie Direktzahlungen an dessen Vermieter abgemildert werden (§ 31a Abs. 3 SGB II). Der Unterschied zu den Mitwirkungsobliegenheit des SGB I (§§ 60 ff.) liegt darin, dass diese letztgenannten vorrangig der Sachverhaltsaufklärung dienen. Sie gehören nicht zum eigentlichen gesetzlichen „Leistungsprogramm“ – dieses richtet sich nach Normen in den besonderen Teilen des SGB –, sondern sollen die Grundlage für die Feststellung schaffen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der eigentlichen Anspruchsgrundlagen vorliegen. Insoweit kann man von verfahrensrechtlichen Hilfsnormen sprechen. Dagegen sind die Sanktionsnormen der §§ 31 ff. SGB II integraler Bestandteil der gesetzlichen „Leistungsbeschreibung“ selbst. Sie dienen nicht der Schaffung einer Subsumtionsbasis für die Anwendung einer anderen Norm, sondern bestimmen selbst die Leistungshöhe mit. Eine von ihnen rechtsfolgenmäßig ausgelöste Kürzung der Leistungen erweist sich nicht als exogener Eingriff in eine an sich in höherem Umfang bestehende Leistung, sondern 128  Im Jahr 2015 wurden insgesamt rund 978.809 Sanktionen verhängt, wobei Meldeverstöße mit 76,5 % den größten Anteil ausmachten. Der Anteil der sanktionierten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten betrug 3 %. (Quelle: Bundesagentur für Arbeit; abrufbar unter: http://statistik.arbeit-sagentur.de).

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3. Teil: Gesetzgeberische Regelungstechniken

die Nichtverwirklichung ihres Tatbestandes stellt eine endogene Voraussetzung für einen Anspruch auf die Leistung in voller Höhe dar. Sie entsprechen – um eine gedankliche Anleihe aus dem Eigentumsverfassungsrecht heranzuziehen – nicht der Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG), sondern der Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wäre eine Regelungsweise vorzugswürdig, die dem rechtstheoretischen Befund Rechnung trüge, dass die gesamten Vorschriften über die Grundsicherungsleistung für erwerbfähige Leistungsberechtigte – sie stehen normhierarchisch auf ein und derselben Rangstufe – einen einheitlichen Anspruchstatbestand darstellen. Zweckmäßig wäre eine positivrechtliche Regelung, wonach etwa das Aufnehmen einer zumutbaren Arbeit129 ebenso als Anspruchsvoraussetzung erkennbar wäre wie beispielsweise die Erwerbsfähigkeit der antragstellenden Person.130 III. Ergebnis Der Gesetzgeber hat grundsätzlich weite Gestaltungsmöglichkeiten bei sozialrechtlichen Ansprüchen, vor allem bei Regelungen, die dazu dienen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme zu verbessern.131 Die Untersuchung der verschiedenen Strategien des Gesetzgebers, Missbrauch von Sozialleistungen zu verhindern, zeigt, dass es regelungstechnisch grundlegend verschiedene Ansätze gibt, dieses Ziel zu erreichen. Je weniger Ausnahmen von einer einmal getroffenen Regelung zulässig sind, desto eher lässt sich das vom Gesetzgeber mit der Regelung intendierte Ziel erreichen. Der Verzicht auf Ausnahmen hat jedoch auch zur Folge, dass im Einzelfall ein Ergebnis als unbillige Härte empfunden wird und die zulässigen Ausnahmen einer Regelung von der Rechtsprechung weit gefasst werden, was einen Verlust an Rechtssicherheit mit sich bringt. Ausnahmetatbestände sollten daher regelungstechnisch möglichst genau gefasst werden, um Rechtsklarheit über die Frage zu schaffen, ob ein Verhalten missbräuchlich ist oder nicht. Die Regelungsstrategien lassen sich klassifizieren. In Regelungen, die rechtlich eine Auslegung der Wirklichkeit festlegen, wie bei dem Beispiel der ein für allemal verbindlichen Angabe des Geburtsdatums nach § 33a SGB I. Diese spielen nur eine untergeordnete Rolle. Relevanter sind hinge129  Beziehungsweise, verwaltungspraktisch heruntergebrochen, das Unterlassen der Nichtbefolgung entsprechender gesetzeskonkretisierender Exekutivmaßnahmen – seien es zweiseitige, namentlich Eingliederungsvereinbarungen, seien es einseitige, namentlich eingliederungsvereinbarungsersetzende Verwaltungsakte. 130  Vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II. 131  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.02.1987 – 1 BvL 15/83 –, Rdnr. 41 f.



B. Implizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots

197

gen die Leistungsbeschränkungen, die daran anknüpfen, dass, wie im Falle des Versorgungsanspruchsausschlusses nach kurzer Ehedauer132 und der Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden,133 die Grenze der Solidarität überschritten ist und aus diesem Grund bewirken, dass eine Leistung nicht zu gewähren bzw. zurückzufordern ist. Bei der Missbrauchsbekämpfung sind die vielfältigen Verknüpfungen der einzelnen Sozialleistungsbereiche in besonderem Maße zu berücksichtigen. Schließlich greift der Gesetzgeber gelegentlich zu der Regelungsweise, Leistungen von der Befolgung regelungszwecksichernder Obliegenheiten abhängig zu machen, wie dies für §§ 31 f. SGB II zu beobachten ist. Das Spannungsverhältnis zwischen den Prinzipien Solidarität und Eigenverantwortung wird vom Gesetzgeber auf Regelungsebene nicht systematisch aufgelöst. Mit Ausnahme der allgemeinen Versicherungsregel, dass eine Leistung ausgeschlossen ist, wenn der Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt wurde, sind die Regelungen zum Teil eher symbolisch. Die Bewertung eines Verhaltens als missbräuchlich unterliegt dabei den divergierenden sozialpolitischen Missbrauchsvorstellungen. Der in einer Regelung zum Ausdruck kommende Missbrauchsgedanke kann das Spiegelbild der gerade vorherrschenden sozialpolitischen Vorstellung sein.

132  § 46

133  Z. B.

Abs. 2a SGB VI. § 52 SGB V.

Vierter Teil

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Die Figur des Rechtsmissbrauchs hat sich als ein ebenso aktuelles wie dogmatisch unaufgearbeitetes Phänomen erwiesen. Der sowohl im Zivil- wie auch im Steuerrecht ausgetragene Streit um die sogenannte Innen- und Außentheorie hat sich als für die Analyse der Figur des Rechtsmissbrauchs nicht weiterführend erwiesen. Während sich im Zivilrecht eine reiche Kasuistik um § 242 BGB rankt, bildet im Steuerrecht der Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO das zentrale Element, das von Regelungen über die wirtschaftliche Betrachtungsweise gemäß §§ 39–42 AO flankiert wird. Sowohl im Zivil- als auch im Steuerrecht dient die Figur des Rechtsmissbrauchs dazu, Einzelfallgerechtigkeit aus der Sicht der als maßgebliche Rechtsanwenderin in Erscheinung tretenden Judikative herzustellen. Mit Blick auf das Sozialrecht hat eine phänomenologische Betrachtung ergeben, dass die Figur des Rechtsmissbrauchs zunächst von der Eigenschaft der Rechtswidrigkeit sowie vom Moral Hazard abzugrenzen ist. Angesichts ihrer Kontextabhängigkeit und normativen Kontingenz entzieht sie sich einer positiven Definition; vielmehr hat es sich als sachgerecht erwiesen, auf Fallgruppen abzustellen, die implizit oder explizit eine gesetzgeberische Antwort auf vermeintlich sozialschädliches Verhalten darstellen. Als Untersuchungsgegenstände wurden aus dem Bereich des Sozialversicherungsrechts die Figur des missglückten Arbeitsversuchs sowie die Gründung so genannter Missbrauchsaktiengesellschaften (zur Umgehung der Rentenversicherungspflicht) betrachtet. Aus dem Bereich der steuerfinanzierten Existenzsicherungsleistungen erwies sich die Rechtsprechung über die Verwirkung materieller Rechte sowie über die (Nicht-)Anerkennung erbrechtlicher Gestaltungen zugunsten von behinderten und bedürftigen Menschen (und zu Lasten der öffentlichen Kassen) als ergiebig. Bezüglich des sonstigen Sozialrechts bot sich eine Betrachtung der Vermögensanrechnung im BAföG, des Lohnsteuerklassenwechsels beim Elterngeld und des Verzichts auf Einkommen an zur Analyse der Figur des Rechtsmissbrauchs an. Das BSG pflegt ebenfalls, gestützt auf Zitatketten dogmatischen, zuweilen mäßig belastbaren Gehalts, fallgruppenorientiert vorzugehen. In seiner jünge-



4. Teil: Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse199

ren Rechtsprechung scheint es die Figur des Rechtsmissbrauchs vorrangig als Problem der teleologischen Auslegung zu begreifen. Eine Untersuchung der Verwendung der Figur des Rechtsmissbrauchs im Sozialrecht hat Divergenzen zum Zivilrecht und die Bedeutung der dogmatischen Figur des Sozialrechtsverhältnisses aufgezeigt. Dagegen kommt der Figur der Einheit der Rechtsordnung – insoweit bestätigen sich referenzgebietsartig und bereichsspezifisch für das Sozialrecht die allgemeinen verfassungsrechtlichen Befunde – keine über die eines Hilfsmittels zur ersten heuristischen Erfassung eines kontingenten positivrechtlichen Normbestandes hinausgehende Relevanz zu. Eine historische Längsschnittbetrachtung des Sozialrechts hat die gestiegene Bedeutung des subjektiven öffentlichen Rechts verdeutlicht. Erst mit der vermehrten Zuerkennung solcher Rechte erlangte die Vermeidung vermeintlichen Rechtsmissbrauchs die ihr heute zugemessene Bedeutung. Die Figur des Rechtsmissbrauchs erwies sich im Wesentlichen als Methodenproblem, das auf einer unzureichenden Überwindung tradierter Vorstellungen von richterlicher Tätigkeit als bloßer Rechtserkenntnis beruht und sich in vermeintlichen „Prinzipien“ zu verlieren droht. Dies ist kein rein rechtstheoretisches Problem, sondern hat, wie gezeigt werden konnte, Auswirkungen auf Fragen der konkreten Verfassungsdogmatik. Möglichen Alternativen zur Figur des Rechtsmissbrauchs nachspürend konnte zweigliedrig kategorisiert werden: An die Stelle einer normtextual nicht angeknüpften richterrechtlichen Leistungseinschränkung können zum einen explizite Regelungen des Rechtsmissbrauchsverbots treten, wie dies insbesondere bei der „Rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer im Asylbewerberleistungsgesetz“ geschehen ist. Zum anderen können verschiedene gesetzgeberische Ansätze, die sich als implizite Regelungen eines Missbrauchsverbots begreifen lassen, ausgemacht werden, namentlich etwa in § 33a SGB I, § 46 Abs. 2a SGB VI, § 52 SGB V und §§ 31 ff. SGB II. Derartige Reglungen sind aus Gründen der Rechtklarheit vorzugswürdig. Letztgenannte Normen stehen derzeit auf dem verfassungsgerichtlichen Prüfstand. Es bleibt abzuwarten, ob und wie das Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit nutzen wird, der Rechtsmissbrauchsdogmatik neue Impulse zu geben. Im Übrigen bleibt es bei der alten Erkenntnis: Missbrauchsbekämpfung seitens des Gesetzgebers lässt sich geradezu symbolisch als Ausdruck des insbesondere in der Demokratie notwendig Prozesshaften, inhärent Imperfekten der Gesetzgebung anführen. Sie geht selten über die Erfahrung des Hasen mit dem Igel hinaus.

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Sachwortverzeichnis Abstrakt-generelle Regelung  17, 167 Amtsermittlung  26, 70, 100 f., 149 Analogie  19, 51, 57 ff., 165, 187 Analogleistungen  173, 176, 178, 180 Anreizstruktur  76 Äquivalenzprinzip  81 Arbeitsversuch, missglückter  78 ff., 140 f., 146, 159 Asylbewerberleistungsgesetz  171 ff., 180, 184, 199 Aufgriffsgrenzen  64 Ausbildungsförderung  107 ff., 113, 116, 154 Auslegungsmethoden  159, 161 f. Außentheorie  41, 43 ff., 57 ff., 60, 65, 190 Ausweichgestaltungen  63 f. Bajazzo-Effekt  76 Bedürftigentestament  101 ff. Behindertentestament  101 ff. Bismarck’sche Sozialversicherung  153 Bundesausbildungsförderungsgesetz  107 ff., 113, 116, 154 Codierung, binäre  67 Contra legem  165 Darlehen, verwandtschaftliche  108, 114 ff. Darlehensvertrag  114 f., 117 Durchgangsfunktion der Figur des Rechtsmissbrauchs  140 f. Eheschließung  33, 188 ff. Eigenverantwortung  96, 185, 191 f. Eingriffsverwaltung  88, 168

Einheit der Rechtsordnung  94, 125, 150 f., 199 Einsparpotential  140 Einzelfallgerechtigkeit  18, 66, 198 Elterngeld  30, 117 ff., 137, 142, 150, 183, 198 Entwicklung des Sozialrechts  30, 152 ff. Erblasser  102, 104 Erbrecht  101 f., 105 ff., 198 Erbschaftsgestaltungen  101 ff., 141 Ergebnisse  141 f., 198 f. Existenzsicherung  8, 35, 77, 96 ff., 101, 198 Explizite Regelungen  38, 170 ff., 199 Fallbeileffekt  122 Familienangehörige, Beschäftigungs­ verhältnis  84 ff. Familienlastenausgleich  105, 107 Fehlanreize  194 Finalprinzip  26, 192 Formalmitgliedschaft  132 ff. Freibeträge  64, 107, 131 Freigrenzen  64, 107 Fremdvergleich  56, 64, 86, 114 ff., 142, 150 Fürsorge  101, 151 ff., 180 Geburtsdatum, erstmalige Angabe  186 f., 196 Gerechtigkeit  17 f., 44, 66, 70, 141, 158, 161, 166, 198 Gesetzesänderung  92, 95, 106 Gesetzeslücken  19, 43, 57, 94, 111, 161 f., 165 Gesetzesumgehung  25, 50 ff., 56 ff., 65

222 Sachwortverzeichnis Gesetzesvorbehalt  84, 94, 148, 168 f. Gesetzgeberische Strategien  63 f., 73, 184 f., 191 Gestaltungsspielräume  77, 136, 151, 155 Grundrechtsmissbrauch  22 f. Hase und Igel  63, 199 Individueller Rechtsmissbrauch  46 f. Innentheorie  14, 21, 41 ff., 57 ff. Insolvenzausfallgeld  136 Institutioneller Rechtsmissbrauch  48 Interessentheorie  39 f. Kasuistik  45, 60, 65, 171, 175 ff., 184, 189 f., 198 Kausalitätsprinzip  78 Kindergeld  125 ff. Kombinationstheorie  40 f. Konfliktverteidigung  20 f. Konsolidierung des Sozialstaats  155 f. Leading Case  78 ff., 132, 141 Legalität des Leistungsbezugs  72 Legitimität des Leistungsbezugs  72 Leistungsbeschränkung  191 ff., 197 Leistungsminderung  194 ff. Leistungsmissbrauch  25 f., 34 f., 67, 70 ff., 77, 108, 141, 149, 156 Leistungsverhältnis  148 Leistungsverwaltung  31, 84, 168 Lohnsteuerklassenwechsel  117 ff., 142, 198 Missbrauch rechtlicher Gestaltungs­ möglichkeiten  24 f., 72, 119 f., 198 Missbrauchsaktiengesellschaften  88 ff., 95, 198 Missbrauchsargument  23, 28, 35, 87 f., 95 f., 101, 137, 140 ff., 145 Missbrauchsregelungen, spezialgesetz­ liche  24 f., 50 f., 56, 62 ff., 170 ff. Missglückter Arbeitsversuch  78 ff., 140 f., 146, 159

Mitnahmeeffekte  71, 188 Mitwirkungspflichten  70, 99 f., 147 ff. Moral Hazard  67, 74 ff., 141, 198 Nacherbe  103 f. Nachranggrundsatz  102, 105, 108 f. Obliegenheiten  149, 197 Öffentliche Debatte  28, 34 f. Opferentschädigungsgesetz  134 f. Optimierung  119 Pflichtteilanspruch  103 ff. Pflichtteilverzicht  105 Pflichtverletzung  47, 71, 157, 195 f. Privatautonomie  105, 145 Rechtserkenntnismodell  160 ff. Rechtserzeugungsmodell  166 Rechtsethische Funktion  119 f. , 132, 135 ff. Rechtsfortbildung  18 f., 52, 57, 78 f., 82 f., 137, 161 f., 165 ff. Rechtssicherheit  18, 24, 36, 59, 90, 140, 187 ff. Rechtswidrigkeit  42 f., 67 ff., 141, 179, 192 f. Regelbeispiele  33, 191 Regelungstechniken, explizite, implizite  170 ff. Richterrecht  43, 52 ff., 87, 106, 145, 199 Risikoausschlüsse  81 Rückkopplungseffekt  76 Sanktion  194 ff. Scheinarbeitsverhältnis  85 Scheingeschäft  50, 56, 85, 109 Schenkung  109, 114 ff., 127 Schranken subjektiver Rechte  39 ff., 131 Schuldverhältnis  46, 146 f. Schutzbereich der Norm  119 f., 137

Sachwortverzeichnis223 Schwarzarbeit  73, 130 Selbstschädigendes Verhalten  28, 192 Selbstverschulden  191 ff. Solidargemeinschaft  26 ff., 135, 181, 192 ff. Sozialrechtsverhältnis  69, 146 ff. Sozialversicherung  75 f., 78 ff., 141, 153 f. Sozialwidrigkeit  181 ff. Spezialgesetzliche Missbrauchs­ regelungen  62 ff., 170 Steuerhinterziehung  72 ff., 141 Steuerumgehung  56 ff., 72 Stichtag  92 Subjektive Rechte  39 ff., 71 f., 151 ff. Subjektives Element  81, 163 Teilrechtsordnung  84, 150, 177 Teleologische Extension  82, 165 Teleologische Reduktion  18 f., 49 f., 57, 142, 157 Terminologie  15, 45, 148 Testamentsvollstrecker  104, 106 Testierfreiheit  102 Treu und Glauben  41 f., 46, 67, 82, 97 f., 144 ff., 192 Treuhandverhältnisse, verdeckte  112 f., 117 Typisierung  90, 93, 151, 154, 189

Verfassungsrechtliche Probleme  167 ff. Verjährung  50, 160 Vermögensanrechnung  108 ff., 150 Vermögensübertragung  108 ff., 112 Vermutungsregeln  33 Verrechtlichung des Sozialrechts  30, 154 Versicherungsfreiheit  89, 91 f., 95 Versicherungsprinzip  80, 83, 87 Versorgungsehe  33, 188 ff. Verwaltungsrechtsverhältnis  146 f. Verwandtschaftliche Darlehen  108, 114 ff. Verwirkung  14, 49 f., 96 ff., 198 Verzicht auf Einkommen  122 ff., 135 f., 142, 198 Vor-Aktiengesellschaft  92 ff. Vorbehalt des Gesetzes  84, 94, 148, 158, 167 ff. Vorerbe  103 f. Vorerkrankung  81, 87 Vorrang des Gesetzes  32, 168 ff. Vorsorgeverhältnis  147 Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft  88 ff. Vorversicherungszeit  139

Unbilligkeit  123 f. Untersuchungsgrundsatz  99

Wartezeiten  81 ff., 87 Willenstheorie  39 f. Wirtschaftliche Betrachtungsweise  55, 62, 65, 117, 138

Verbots des widersprüchlichen ­Verhaltens  97 Verdeckte Treuhandverhältnisse  112 f., 117

Zitatkette  198 Zivilrecht  37 ff. Zusammenfassung  65, 141 f., 198 f. Zweckargumentation  163