Rechtsmaschinen: Von Subsumtionsautomaten, Künstlicher Intelligenz und der Suche nach dem "richtigen" Urteil [1 ed.] 9783412520199, 9783412520175

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Rechtsmaschinen: Von Subsumtionsautomaten, Künstlicher Intelligenz und der Suche nach dem "richtigen" Urteil [1 ed.]
 9783412520199, 9783412520175

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Stephan Meder

Rechtsmaschinen Von Subsumtionsautomaten, künstlicher Intelligenz und der Suche nach dem „richtigen“ Urteil

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Funktionsweise des Automaten „Die mechanische Ente“ (Le Canard digérant) von Jacques de Vaucanson (1709 – 1782): Der Erfinder des ersten automatischen Webstuhls hat mehrere ausgeklügelte Automaten zur Vergnügung der vornehmsten europäischen Höfe hergestellt. Der Querschnitt zeigt die Funktionsweise des internen Mechanismus, der die Bewegung ermöglichte sowie die künstlichen Eingeweide, die auch die Funktionen der natürlichen Ausscheidung von Fäkalien ausführen konnten. Frankreich, 1739. © akg-images/Fototeca Gilardi Satz und Layout: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52019-9

Inhalt

Vorwort  ....................................................................................................................

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1 Einleitung  . . ........................................................................................................ 11 1.1 Automaten im ersten juristischen Maschinenzeitalter  ................... 12

1.2 Verwirrende Auskünfte über den Rechtsautomaten im 19. Jahrhundert  . . ................................................................................. 1.3 Automaten im zweiten juristischen Maschinenzeitalter  . . .............. 1.4 Wie funktioniert juristisches Denken?  .. ............................................. Anmerkungen  ...................................................................................................

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2 Rudolf von Jhering: Die Vaucanson’sche Ente als „Urteilsmaschine“  ................................................................................... 23 2.1 Jherings Angriffe gegen die ‚Begriffsjurisprudenz‘  .......................... 24

2.2 Von der Begriffsjurisprudenz zur Kritik des rechtswissenschaftlichen Formalismus  ........................................ 2.3 Erfolge von Jherings Rechtskritik in den USA  ................................ 2.4 Resümee und Ausblick  ........................................................................... Anmerkungen  ...................................................................................................

26 28 30 32

3 Hermann U. Kantorowicz: „Bewaffnet blos mit einer Denkmaschine“  . . .......................................................................... 39

3.1 Kritik des rechtswissenschaftlichen Formalismus durch das Freirecht  .................................................................................. 3.2 Kantorowicz als Theoretiker der Maschine im Recht  .................... 3.3 Formalismus als Bollwerk gegen staatliche Willkür und Kadijustiz?  ......................................................................................... 3.4 Kantorowicz’ „Geschichtskonstruktion“ im zeitgenössischen Kontext  ................................................................. 3.4.1 Oswald Spengler und der Untergang des Abendlandes  ..... 3.4.2 Kritik des „maschinellen“ Apparats bei Fritz Pringsheim  .... 3.5 Wirkungen bis in die Gegenwart? Franz Wieacker und die ‚Materialisierungsthese‘  .......................................................... Anmerkungen  ...................................................................................................

39 42 46 48 48 49 50 54

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Inhalt

4 Max Weber: „Die Verwandlung des Richters in einen Paragraphen- und Präjudizienautomaten“  .. ......................... 59

4.1 Wie weit reichen die Gemeinsamkeiten mit Kantorowicz’ Formalismus-Narrativ?  ........................................................................... 4.2 Webers Konzept rechtlicher Rationalisierung  .................................. 4.3 Die Beziehungen zwischen formal rationalem und material rationalem Recht  ............................................................ 4.4 Exkurs: Warum Max Weber kein ‚Begriffsjurist‘ war  . . ................... 4.5 Resümee  ..................................................................................................... Anmerkungen  ...................................................................................................

61 63 65 67 70 71

5 Franz Kafka: „Es ist ein eigentümlicher Apparat“  ................................ 77 5.1 Der Apparat als geschlossenes Rechtssystem  .................................... 77

5.2 Das Urteil über den Bediensteten: ­Identität von Gesetz und Entscheidung  . . .................................................................................. 5.3 Extremer Formalismus des Verfahrens  ............................................... 5.4 Kafkas Rechtsmaschine als Geschichtserzählung  ............................ 5.5 Das Urteil des Reisenden über den Offizier und das von ihm propagierte Verfahren  ............................................ 5.6 Das Urteil der Rechtsmaschine und seine Vollstreckung  . . ............ Anmerkungen  ...................................................................................................

78 81 82 84 85 88

6 Rückblende: Kritik der Rechtsmaschine bei Friedrich Carl von Savigny  .. ................................................................... 93

6.1 Vorbehalte gegen eine mechanische Rechtsanwendung schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts?  ............................ 93 6.2 Differenzen zwischen vernunftrechtlicher und ‚historischer‘ Richtung  .. ................................................................. 96 6.3 Das Zusammenspiel von formalen und materialen Elementen in Savignys Rechtsbegriff  ....................................................................... 98 6.4 Savignys Rechtsbegriff im Vergleich mit Kant, Jhering, Kantorowicz und Max Weber  .. ............................................................. 99 Anmerkungen  ................................................................................................... 104

Inhalt

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7 Algorithmen zwischen Berechenbarkeit und Wertung: Das Verhältnis von Recht und Ethik revisited  ........................................ 111 7.1 Formale Rationalität der Maschine  . . ................................................... 112

7.2 Zur Komplexität der „einfachen“ Fälle: Massenhafte Warenvernichtung im Online-Handel  ...................... 115 7.3 Die Schwäche der Innentheorie – eine petitio principii  .. ............... 118 7.4 Resümee  ..................................................................................................... 119 Anmerkungen  ................................................................................................... 121 8 Vom Subsumtionsautomaten zur Algokratie  .. ...................................... 127

8.1 Der Subsumtionsautomat 1.0 – erste Programme zur Formalisierung juristischer Entscheidungsrationalität  .................. 127 8.2 Der Subsumtionsautomat 2.0 – die künstliche Intelligenz und das „Leben“  . . ..................................................................................... 130 8.3 Anschlüsse an die Rechtskritik von Jhering und Kantorowicz  . . .. 132 8.4 Wo liegt der Unterschied zwischen Schach und Recht?  . . .............. 133 8.5 Die andere Seite des Rechts: situative Offenheit für die Welt  . . ... 135 8.6 Erfordernis menschlicher Kontrolle  .. .................................................. 136 8.7 Ausblick  ...................................................................................................... 138 Anmerkungen  ................................................................................................... 140 9 Schlussbemerkung  ......................................................................................... 147 Anmerkungen  ................................................................................................... 152

Vorwort Maschinenmetaphern beschäftigen die Jurisprudenz schon seit langem. So meinte der Historiker und Staatsrechtler August Ludwig Schlözer gegen Ende des 18. Jahrhunderts, „die instruktivste Art“, das Staatsrecht zu lehren, sei es, „den Staat als eine künstliche, überaus zusammengesetzte Maschine“ zu behandeln. Wer eine juristische Entscheidung trifft, wäre danach lediglich das Rädchen eines gewaltigen Apparats, dessen Funktion darin besteht, dem souveränen Willen des Fürsten durch gesetzestreue Rechtsanwendung Ausdruck zu verleihen. Das 19. Jahrhundert hat nicht nur dem absoluten Fürsten­staat, sondern auch dem mechanistischen Paradigma den Kampf angesagt. Der Vorwurf einer „mechanischen“ Rechtsanwendung und das Zerrbild vom „Subsumtionsautomaten“ stehen seitdem für die Kritik an einer Art des Urteilens, welches sich, fernab von den Bedürfnissen des ‚Lebens‘, sklavisch an vorgegebene Begriffe hält und ein Nachdenken über Recht und Gerechtigkeit entbehrlich macht. Als Pejorative sind auch Rudolf von ­Jherings „Urteilsmaschine“, Hermann Kantorowicz’ „Denkmaschine“ und Max Webers „Paragraphenautomat“ zu begreifen, in welchen „man oben die Akten nebst den Kosten und Gebühren hineinwirft, auf daß er unten das Urteil neben den mehr oder minder stichhaltigen Gründen ausspeie“. All diese Maschinen karikieren eine Methode, die es dem Richter selbst dann verbietet, eine eigenständige Wertung zu treffen, wenn die Umstände des Einzelfalls danach schreien. Von den älteren Apparaten sind die selbstlernenden, mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Rechtsmaschinen zu unterscheiden, die aktuell unter Stichworten wie autonome technische Systeme, Legal Tech oder Subsumtionsautomat 2.0 diskutiert werden. Auch hier gibt es freilich eine Vorgeschichte, die vor gut 50 Jahren begann. Die ersten EDV-orientierten Konzepte zur Formalisierung von Entscheidungsrationalität eröffnen der Juristischen Zeitgeschichte – nicht zuletzt wegen der erstaunlichen Vielfalt ihrer interdisziplinären, methodologischen und rechtstheoretischen Ansätze – ein bis heute kaum erschlossenes Arbeitsfeld. Dabei bleibt zu beachten, dass die im Folgenden vorgestellten Apparate, Automaten, Maschinen und Systeme im Detail sehr verschieden sein können. Eine Gemeinsamkeit besteht aber darin, dass die mit ihrer Hilfe getroffenen Entscheidungen Gefahr laufen, die Individualität der Fälle und die Besonderheiten zu verkennen, welche

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Vorwort

einem bestimmten Geschehen seine Einzigartigkeit verleihen. Dieser Befund führt über die Jurisprudenz hinaus zu der grundsätzlichen Frage: Was unterscheidet die Leistungen menschlicher Denkprozesse eigentlich von Urteilen, die durch Maschinen und künstliche Intelligenz getroffen werden? Ein erstes Interesse an dieser Frage weckten die Referate von Bewerberinnen und Bewerbern in Berufungskommissionen, die über die Besetzung von Professorenstellen an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover im Fach Rechtsinformatik zu befinden hatten. Den entscheidenden Anstoß zur eingehenderen Beschäftigung mit dem Thema gab dann ein Treffen mit dem Programmleiter der Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht, Herrn Dr. Jörn Laakmann, Mitte Dezember 2019 in Hannover. In diesem Gespräch über die Maschinenmetapher in Jurisprudenz, Literaturwissenschaft und Philosophie, an dem auch die Programmplanerin des Böhlau Verlags, Frau Dorothee Rheker-Wunsch, teilnahm, ist die Buchidee überhaupt erst gezeugt worden. Bei der Ausarbeitung des Manuskripts habe ich von vielen Seiten tatkräftige Unterstützung erfahren. Herrn Cedric Kühn und Frau Svenja Schierloh danke ich für die bisweilen nicht einfachen (durch die beginnende Corona-Krise noch erschwerten) Literaturrecherchen, Frau Ina Krückeberg für die kompetente Redaktion des Manuskripts einschließlich der Korrekturen. Darüber hinaus bedanke ich mich beim Böhlau Verlag, insbesondere bei Frau Julia Beenken und Frau Dorothee Rheker-Wunsch für die gute verlegerische Betreuung. Hannover, im März 2020

Stephan Meder

1 Einleitung „Digitalisierung“ lautet die Devise, und zwar nicht nur in Politik, Wirtschaft oder Bildung, sondern auch in der Jurisprudenz. Lernfähige Algorithmen und autonome Systeme beginnen heute Funktionen zu übernehmen, die traditionell dem Menschen vorbehalten waren. Wir pflegen von „künstlicher Intelligenz“ zu sprechen, wenn bestimmte Tätigkeiten, die Nachdenken oder Entscheiden verlangen, nun Maschinen überlassen bleiben. Schon vor gut zehn Jahren hat ein Buchtitel die provokante Frage nach dem „Ende der Anwälte“ gestellt.1 Welche Rolle spielen die neuen Technologien in den Staatsanwaltschaften und in den Gerichten? Können Legal Robots bald Vorschläge für Urteile unterbreiten? Und wann sind sie in der Lage, eigenständige Entscheidungen zu treffen? Oder dürfen sie nur zur Überprüfung von Standardfällen, zur Bearbeitung wiederkehrender Rechtsfragen eingesetzt werden, die einen gesteigerten Rechenaufwand erfordern? Gibt es Standardfälle überhaupt? Liegt nicht jeder Fall anders? Müssen nicht überall die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden? Sätze wie „judex non calculat“ (der Richter rechnet nicht) oder „error calculi non nocet“ (ein Rechenfehler schadet nicht) sind seit Jahrtausenden anerkannt: Rechenfehler erwachsen im Urteil nicht in Rechtskraft und können jederzeit berichtigt werden (§ 319 ZPO). Wie lange noch? Müssen die Grenzen zwischen Rechnen, Denken und Entscheiden neu gezogen werden? Und was geschieht, wenn die Maschine einen Fehler macht? Ist der Roboter für Schäden haftbar? Kann er Bewusstsein erlangen und sollte ihm nicht eigentlich Rechtsfähigkeit zuerkannt werden? Muss nicht die gesamte Rechtsordnung neu überdacht werden? Das sind nur einige Beispiele für Fragen, welche die fortschreitende Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens an die Jurisprudenz heranträgt. Unaufhaltsam dringen immer leistungsfähigere Rechner bis zum Kern der juristischen Tätigkeit vor – bis zu ihrem letzten Geheimnis, dem der Begriff „Rechtsanwendung“ nur ungenügend Ausdruck zu verleihen vermag. Lernfähige Algorithmen sind inzwischen imstande, logische Schlüsse zu ziehen und Argumente auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Hat die Digitalisierung unsere Vorstellungen über die Rechtsanwendung schon verändert, ohne dass wir es bemerkt haben? Was heißt eigentlich „Rechtsanwendung“? Warum ist der Begriff so umstritten? Können die neuen Technologien die Rechtsanwendung eines Tages bis zu dem Punkt determinieren, an dem nicht mehr Menschen, sondern Maschinen entscheiden?

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Einleitung

All diese Fragen sind nicht wirklich neu: Das „Recht ex machina“ ist ein Traum, den die Menschheit seit langem träumt. Die Idee einer Herrschaft des Gesetzes, die Unparteilichkeit, das Bindungspostulat und Hoffnungen auf eine Rationalisierung und Vereinfachung des Rechts lassen die richterliche „Urteilsmaschine“ – den berühmten „Subsumtionsautomaten“ als das Wunschziel schlechthin erscheinen. Derartige Apparate sind bislang freilich Utopie geblieben. Sie verkörpern lediglich das Bild eines Juristen, eine Metapher, die für das Ideal eines Bürokraten steht, der glaubt, im Wege von Deduktion und Subsumtion jeden erdenklichen Rechtsfall nach rein logischmechanischen Prinzipien lösen zu können.

1.1 Automaten im ersten juristischen Maschinenzeitalter Wer nach den Ursprüngen dieses Ideals fragt, muss mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurückgehen – in die Epoche des ersten juristischen Maschinenzeitalters, das gut 100 Jahre vor der industriellen Revolution seinen Anfang nahm. Damals begann im Anschluss an die Arbeiten des französischen Staatstheoretikers Jean Bodin (1529 – 1596) eine politische Philosophie zu herrschen, die auf Begriffe wie Gesellschaftsvertrag, Souveränität, Krieg und Maschine gebaut war. Zu ihren Mitbegründern gehört der englische Mathematiker und Rechtsphilosoph Thomas Hobbes (1588 – 1679), der den Ur- oder Naturzustand bekanntlich als Kriegszustand geschildert hat: Weil der Mensch dem Menschen von Natur aus ein Wolf sei, habe es des Abschlusses eines Gesellschaftsvertrags bedurft, dessen Zweck darin bestehe, den Naturzustand durch den Übergang in einen Rechtszustand zu beenden. Die einvernehmliche Übertragung der ungeteilten Macht auf einen Souverän soll den Frieden sichern und das private Eigentum schützen. Obwohl ein solcher Vertrag in Wirklichkeit nie geschlossen wurde, glaubte Hobbes, in ihm eine Zäsur und den ­eigentlichen Anfang der Geschichte erblicken zu können. Ausdrücklich qualifizierte er den Gesellschaftsvertrag als Schöpfungsakt (imitatio creationis), wodurch ein „künstlicher Mensch“ (artifical man), das Artefakt einer Maschine erzeugt wurde, welches den Staat in Gestalt eines Automaten erscheinen lässt. Diesen Automaten taufte er in seiner berühmten staatsphilosophischen Schrift von 1651 auf den Namen „Leviathan“.2 Es gibt natürlich viele andere Autoren, denen die Maschinenmetapher ebenfalls wichtige Impulse verdankt. Erwähnt sei nur der französische

Automaten im ersten juristischen Maschinenzeitalter

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­ aturwissenschaftler und Philosoph René Descartes (1596 – 1650), dessen N Rationalismus die Einheit der Welt als Mechanismus begreift – als ein gewaltiges Uhrwerk, das durch einen souveränen Willen in Gang gebracht und von diesem so verlässlich wie dauerhaft betrieben wird.3 Wer eine juristische Entscheidung treffen muss, wäre danach lediglich das winzige Rädchen einer gewaltigen Maschine, deren Funktion darin besteht, dem souveränen Willen des Herrschers Ausdruck zu verleihen. Auch Immanuel Kant (1724 – 1804) hat noch auf das Bild der Maschine zurückgegriffen. Ihm war freilich bald klar, dass sich ein Gegenstand wie der Staat unmittelbarer Anschauung entzieht und als bloßer Vernunftbegriff nur „symbolisch“ vorgestellt werden kann. In einer oft zitierten Formulierung hat er den Zusammenhang zwischen aufgeklärtem Absolutismus und Maschine wie folgt auf den Punkt gebracht: So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen nur symbolisch vorgestellt. Denn zwischen einem despotischen Staat und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.4

Die „Ähnlichkeit“ einer Reflexion über Staat und Handmühle rührt also daher, dass beide „durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht“ werden. Auch das Recht besitzt eine solche Ähnlichkeit mit der Maschine: Über Recht und Maschine lässt sich in der gleichen Weise „reflektieren“, weil die Staatsphilosophie des aufgeklärten Absolutismus auch das Recht so ‚vorstellt‘, als sei es, wie eine „bloße Maschine“, durch einen „einzelnen absoluten Willen beherrscht“. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Idee vom Juristen, der auf Befehl staatlicher Gesetzgebung handelt und durch mechanische Operationen jeden vorkommenden Fall entscheiden kann. Diese Idee lebt im Grunde noch heute fort. Sie tritt vornehmlich dort zu Tage, wo Methodenlehren in der Subsumtion oder gar im Justizsyllogismus eine zentrale Arbeitstechnik moderner Juristen sehen wollen. Würden erfahrene Juristen aber gefragt werden, was sie von Subsumtionsautomaten oder ähnlichen Maschinen halten, wäre die Antwort eindeutig: Solche Apparate stoßen traditionell auf Ablehnung. Für diesen seltsamen Widerspruch gibt es, stark verkürzt, einen doppelten Grund. Einmal, weil die Metapher vom Subsumtionsautomaten einer bestimmten Zeit ­entsprungen ist

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Einleitung

und zweitens, weil sie selbst ein Bild der Geschichte darstellt. Das Ideal vom Bürokraten, der auf hohem begriffstechnischen Niveau steht, der mit einer „Denkmaschine“ ausgestattet ist und jeden erdenklichen Rechtsfall im Wege von Deduktionen zu lösen vermag, soll Epochen entstammen, die durch den „rechtswissenschaftlichen Formalismus“ geprägt wurden. Um welche Epochen handelt es sich? Eine Antwort bereitet deshalb Schwierigkeiten, weil Unklarheiten darüber herrschen, welches Bild wir uns von der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts machen sollen.

1.2 Verwirrende Auskünfte über den Rechtsautomaten im 19. Jahrhundert Seit mehr als 150 Jahren wird hierzulande eine Geschichte der Rechtswissenschaft erzählt, die vom strengen Formalismus der Pandektistik zu nachpositivistischen Konzepten der Methodik führt. Sie lautet abgekürzt wie folgt: Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861) sei der wohl bedeutendste Jurist des 19. Jahrhunderts gewesen. Seine Historische Rechtsschule habe unsere Wissen­schaft geprägt und bestimme sie bis heute mit. Doch sei Savigny zugleich ein Wegbereiter des rechtswissenschaftlichen Formalismus, einer Art des juristischen Positivismus gewesen, der auf strengem Recht beharre und sich durch Lebensferne und maschinenmäßige Rechtsanwendung auszeichne. Erst Rudolf von Jhering (1818 – 1892) habe mit seinem „Zweck im Recht“ von 1877 versucht, die soziale Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft mit neuen Mitteln rechtswissenschaftlich zu durchdringen und zu bewältigen. So heißt es zum Beispiel noch heute in der Einleitung des „Palandt“, dem in Deutschland mit Abstand am weitesten verbreiteten Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB ): Im Jahre 1900, als das BGB in Kraft trat, war die „sogenannte Begriffsjurisprudenz die herrschende juristische Methode (bekannteste Vertreter: Savigny, Windscheid)“. Die Ausdifferenzierung „der Begriffe und ihre Zusammenfassung zu einem geschlossenen System wurde als logisch-formaler Prozeß verstanden“: Der Rechtsanwender brauchte „den Lebensvorgang nur unter die einschlägigen Rechtsbegriffe zu subsumieren“.5 Nun gehen Konzepte wie Formalismus oder Positivismus oft mit einer gewissen Unschärfe einher, zumal auch vermutet wurde, der Rechtspositivismus sei viel weniger positivistisch als der philosophische Positivismus. Um

Automaten im zweiten juristischen Maschinenzeitalter

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derartigen Irritationen vorzubeugen, sah sich der Göttinger R ­ echtshistoriker Franz Wieacker (1908 – 1994), Verfasser der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führenden „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“, 1967 zu einer Klarstellung veranlasst: Savignys rechtswissenschaftlicher Positivismus ist „aus dem erkenntniskritischen Formalismus Kants hervorgegangen“ und wäre daher „viel treffender als rechtswissenschaftlicher Formalismus zu bezeichnen“. Danach hätte Savigny einen Rechtsbegriff entwickelt, der von Kants philosophischem Idealismus abhängt. In der Tat ist derartiges lange behauptet und erst durch die jüngere Forschung wieder in Zweifel gezogen worden. Hier liegt auch der Grund dafür, warum noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geglaubt wurde und zum Teil bis heute die Auffassung herrscht, Savigny und die von ihm mitbegründete Pandektenwissenschaft hätten eine Arbeitstechnik propagiert, die als „Begriffsjurisprudenz“ den Juristen zu einem Subsumtionsautomaten herabwürdige.6 In Wahrheit gehört Savigny aber zu den ersten Autoren und Wortführern einer fundamentalen Kodifikationskritik, die jedes Ansinnen einer mechanischen oder maschinenmäßigen Rechtsanwendung in aller Schärfe zurückgewiesen haben.

1.3 Automaten im zweiten juristischen Maschinenzeitalter Nach verbreiteter Auffassung handelt es sich bei der Automaten-Metapher um einen von der sogenannten Freirechtsbewegung im frühen 20. Jahrhundert eingeführten Topos.7 Es gibt aber ältere Quellen, die eine deutlich frühere Skepsis gegenüber einer maschinenmäßigen oder mechanischen Rechtsanwendung belegen. Diese Zeugnisse lassen sich, wie soeben angedeutet, bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Danach ist maschinen­ mäßige Rechtsanwendung ein abwertender Ausdruck für eine Art juristischer Entscheidungsfindung, die keinerlei menschlicher Leistungen mehr bedarf und sich sklavisch an einen ‚vorgeschriebenen‘ Wortlaut hält. Eine solche pejorative Bedeutung teilt der Subsumtionsautomat mit Rudolf von Jherings „Urteilsmaschine“, Hermann Kantorowicz’ „Denkmaschine“ oder Max Webers „Paragraphenautomat“, in welchen „man oben die Akten nebst den Kosten und Gebühren hineinwirft, auf daß er unten das Urteil neben den mehr oder minder stichhaltigen Gründen ausspeie“. All diese Maschinen oder Automaten, die in den folgenden Kapiteln näher vorgestellt ­werden,

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Einleitung

karikieren jene Art der Formalisierung, wonach der Richter bei einer Rechtsanwendung ohne eigene Zutaten lediglich wiederholen soll, was im Gesetz bereits gesagt wurde. Durchaus ernst gemeint ist aber eine neue ‚Maschine‘, deren Funktionen aktuell unter Stichworten wie autonome technische Systeme, Legal Technology oder Legal Tech erörtert werden. Auch hier gibt es freilich eine Vorgeschichte, die vor rund 50 Jahren begann, als sich die ersten Anzeichen eines zweiten juristischen Maschinenzeitalters bemerkbar machten. So versuchte Ende der 1960er-Jahre eine Gruppe von Rechtswissenschaftlern, Logikern, Informatikern und Linguisten, Grundlagen für eine automatische Analyse der Interpretation von Gesetzestexten zu schaffen. Schon damals wurden jene Vorzüge einer technischen Problemlösung gepriesen, die auch heute wieder hervorgehoben werden: Erleichterung der richterlichen Tätigkeit, Schnelligkeit und Kostengünstigkeit der Entscheidungen, Ausschluss privater Meinungen der Entscheider. Ziel war es, Programme zur Formalisierung von Rechtssätzen und zur Ableitung von Subsumtionen aus einem formallogischen Vergleich von Ober- und Untersätzen zu entwickeln. Neue Impulse empfing der „Subsumtionsautomat“ auch dadurch, dass zuvor verpönte Begriffe wie Logik, Ableitung oder Deduktion nun ganz unbefangen und ohne Vorbehalte gebraucht werden konnten. Bald zeigte sich jedoch, dass regelbasierte Systeme beim Verstehen von Sprache kaum einsetzbar waren. Alltagsauf­ gaben, die der Mensch mühelos meistern konnte, bereiteten den Systemen fast unüberwindliche Schwierigkeiten. So wandten sich viele Forscher von den Gebieten der automatischen Entscheidung wieder ab. Im Rückblick wird diese Zeit als „Winter der künstlichen Intelligenz“ bezeichnet.8 Heute komponieren Computer Musikstücke und zeigen sich Menschen bei Dame, Schach oder Go überlegen. Die jüngsten technischen Fortschritte haben den Diskussionen über die Frage, ob nicht auch juristische Entscheidungen mit Automaten getroffen werden können, neuen Auftrieb gegeben. Künstliche juristische Intelligenz arbeitet aktuell nicht mehr primär auf Basis vordefinierter Regeln, sondern mit großen Datenmengen in Form von juristischen Sachverhalten, Rechtsprechung, Gesetzestexten, Kommentarliteratur, Urteilsrezensionen oder sonstigen Quellen, die in mathematische Gleichungen verwandelt und nach ihrer numerischen Häufigkeit in Bezug auf eine bestimmte Rechtsfrage untersucht werden. Wie das umstrittene Modell eines Justizsyllogismus reduziert freilich auch die Rechtsanwendung auf Basis von Algorithmen juristische Entscheidungen auf einen rein formalen Akt.

Wie funktioniert juristisches Denken?

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„Formalisierung“ ist dabei in einem doppelten Sinne zu verstehen, als Transformation von natürlicher in formale Sprache und als digitale Entscheidung von Rechtsfällen. Das zweite Maschinenzeitalter hätte seinen Namen nicht verdient, wenn die alte Skepsis gegenüber einem rechtswissenschaftlichen Formalismus inzwischen nicht einem schier grenzenlosen Optimismus gewichen wäre. So äußert sich der Zukunftsforscher und führende Digitalisierungs­ experte Philipp Otto in einem aktuellen Interview über die Zukunft digitaler Justiz mit den Worten: Die Justiz wird künftig ganz anders aussehen – vielleicht gibt es kein einziges Blatt Papier mehr. Vermutlich wird es ganz selbstverständlich sein, dass Menschen, die über wenig finanziellen Spielraum und so gut wie kein juristisches Grundwissen verfügen, problemlos und unbürokratisch anwaltliche Beratung annehmen können, weil die Prozesse so weit optimiert sind, dass sie kaum noch Kosten verursachen. Und vielleicht lachen wir dann nur noch, wenn wir dieses Interview dann nochmal lesen, weil uns die Fragen als etwas vorkommen, über das man längst nicht mehr nachdenken muß. All das fände ich sehr positiv und lässt mich äußerst optimistisch in die Zukunft blicken.9

1.4 Wie funktioniert juristisches Denken? Sie lebt also, die Vision, juristische Entscheidungen auf Grundlage formaler Verfahren einst so optimieren zu können, dass sich die Lösung eines Rechtsfalls aus der Programmierung künftigen Geschehens einfach ableiten lässt. Das lästige „Nachdenken“ über Recht und, um ein Beispiel zu nennen, über sein komplexes Wechselspiel mit den Wertungen der Ethik, wäre entbehrlich geworden. „Und vielleicht lachen wir dann nur noch“, weil uns solche Fragen „als etwas vorkommen“, was sich längst erledigt hat. Ein Diskurs über Formalismus, Positivismus oder autonome Systeme bringt also immer auch Vergangenheit und Zukunft und damit Geschichte ins Spiel. Wie aber funktioniert juristisches Denken wirklich? Gibt es eine Theorie, die erklären könnte, wie die Bedeutung von Sachverhalten und Rechtstexten korrekt zu ermitteln wäre? Mit welchen Informationen muss ein autonomes System gespeist werden, um statt eines Menschen entscheiden zu können? Das sind Fragen der juristischen Methodologie. Sie müssen gestellt werden, weil die intelligenten Systeme auf Juristen angewiesen sind: Rechtsexperten müssen Computerwissenschaftlern, Informatikern und Programmierern die

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Einleitung

­ unktionsweise juristischen D F ­ enkens erklären, wenn sie Rechtstexte in formale Sprache zu transformieren suchen.10 Die aktuelle Legal Tech-Literatur pflegt methodologische Themen eher stiefmütterlich zu behandeln und scheint nach wie vor den Akzent auf das Konzept kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens zu legen. So heißt es in einer viel zitierten neueren Studie über die „Formalisierung des Rechts“ durch autonome Systeme: „Das kontinentaleuropäische Recht fußt auf der Vorstellung des positiven geschriebenen Rechts und damit einer sehr strikten Trennung von Gesetzgebung und Rechtsanwendung.“ Die Studie sei daher „auf Fälle eingegrenzt, in denen das geschriebene Gesetz hinreicht und nicht durch Rechtsfortbildung ergänzt werden muss“.11 Es nimmt nicht wunder, dass dieser Ansatz auf energischen Widerstand gestoßen ist. Denn viele Autoren würden bezweifeln, dass eine strikte „Trennung von Gesetzgebung und Rechtsanwendung“ möglich ist.12 Lassen sich überhaupt konsensfähige Aussagen über die Aufgaben des juristischen Denkens und die Methode treffen? Auf diese Frage vermag natürlich auch die vorliegende Untersuchung keine letzte Antwort zu geben. Am Beispiel der Diskussionen über Rechtsmaschinen können aber Hauptpunkte markiert werden, zu denen das juris­ tische Denken immer wieder zurückzukehren scheint. Es empfiehlt sich, diese Punkte anhand einer Skala zu veranschaulichen, die vom altehrwürdigen Kodifikationsgedanken mit seiner strikten Trennung von Gesetzgebung und Rechtsanwendung bis zur freien Rechtsfindung mit der Behauptung reicht, ein jeder Fall habe seine eigene Methode. Zwischen den Extremen von Subsumtionsautomaten und Richterkönigen liegen freilich viele Abstufungen und Korrelate, sodass die These lauten wird: Nur eine dialektische Verknüpfung formaler und materialer Elemente vermag der Komplexität juristischen Denkens gerecht zu werden. Dabei ist vorausgesetzt, dass es viele Epochen gibt, in denen Fragen nach den Beziehungen von Automatismus und Wertung, Formalismus und Finalismus, strengeren und freieren Elementen der Rechtsbildung und Entscheidungsfindung aufgeworfen werden: Antike, Byzanz, Mittelalter, Renaissance, Vernunftrecht, Historische Rechtsschule und Pandektistik mit ihren Ausstrahlungen auf die heutige Zeit. Wenn die Wahl nun zuerst auf die „Begriffsjurisprudenz“ fällt, so sind damit primär die Pandektistik und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gemeint, in dem diese Methode entwickelt worden sein soll. Dass nach verbreiteter Meinung die Freirechtsbewegung den Topos des Subsumtionsautomaten eingeführt hat, wurde bereits angedeutet. Daran ist richtig, dass vor allem das Freirecht

Wie funktioniert juristisches Denken?

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in Opposition zur Begriffsjurisprudenz und zum rechtswissenschaftlichen Formalismus getreten ist und dabei die Vorstellung einer maschinenmäßigen Gesetzesanwendung bekämpft hat. Allerdings wurde der Terminus Begriffsjurisprudenz schon vorher, und zwar durch Rudolf von Jhering geprägt. Bei Jhering findet sich auch bereits jene Ablehnung von Urteilsmaschinen und logisch-mechanischer Rechtsanwendung, die das Freirecht später aufgegriffen und vertieft hat. Es sei daher zuerst Jherings Verständnis von Begriffsjurisprudenz und Urteilsmaschine skizziert.

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Anmerkungen

Anmerkungen 1

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Richard Susskind, The End of Lawyers? Rethinking the Nature of Legal Services (2008), Revised Edition, Oxford 2010. Wenn im Folgenden Fragen der juristischen Entscheidung und des juristischen Denkens aufgeworfen werden, so sind diese in einem weiten Sinne zu verstehen. Gemeint sind nicht nur die Urteile von Richtern, der Verwaltung oder von Professoren, die Urteile besprechen oder hypothetische Fälle lösen. Umfasst werden auch Gebiete wie private Rechtsetzung oder Governance sowie die Prognosen von Anwälten oder Entscheidungsvorschläge, welche diese in ihren Schriftsätzen unterbreiten. Mit Blick auf die besondere Offenheit juristischen Denkens (siehe 8. Kapitel) geht es letztlich um die Unterschiede zwischen menschlichem und artifiziellem Entscheiden überhaupt. Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Form and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil (1651), edited by Michael Oakeshott (1957), dt. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt am Main 1966. Dazu näher: Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986; Ethel Matala de Mazza, Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg im Breisgau 1999; Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank, Ethel Matala de Mazza, Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main 2007; Meder, Doppelte Körper im Recht. Traditionen des Pluralismus zwischen staatlicher Einheit und transnationaler Vielheit, Tübingen 2015, S. 112 – 136. René Descartes, Beschreibung des menschlichen Körpers und aller seiner Funktionen, ebenso von denen, die nicht von der Seele abhängen, wie von denen, die von ihr abhängig sind, außerdem über die wesentliche Ursache für die Bildung seiner Glieder, in: Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der ersten französischen Ausgabe von 1664 übersetzt und mit einer historischen Einleitung und Anmerkungen versehen von Karl Eduard Rothschuh, Heidelberg 1969, S. 137 – 194. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Text auf Grundlage der drei Originalausgaben von 1790, 1793 und 1799, hg. v. K. Vorländer, 7. Auflage, Hamburg 1990 (unveränderter Nachdruck der 6. Auflage von 1924), S. 256 (Hervorhebung im Original, die Seitenangaben entsprechen der dritten Originalausgabe von 1799). Siehe die Nachweise bei Meder, Rudolf von Jhering und der Aufstand gegen den rechtswissenschaftlichen Formalismus, in: JZ 74 (2019), S. 689 – 696, 689 f. Kyriakos N. Kotsoglou, Subsumtionsautomat 2.0., in: JZ 69 (2014), S. 451 – 457. Zu den Problemen von Wieackers Geschichtserzählung siehe Meder, Franz Wieackers „Wandlungen im Bilde der historischen Rechtsschule“ neu gelesen: Ein schiefes Bild der Rechtsgeschichte?, in FS Albert Janssen (im Erscheinen).

Anmerkungen

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Siehe nur Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1986, S. 5. 8 Ulrich Eberl, Was ist künstliche Intelligenz – was kann sie leisten?, in: APuZ 68 (2018), S. 8 – 14, 10. 9 Philipp Otto, in: juris – Die Monatszeitschrift 12/2019, S. 482 – 483. 10 Oliver Raabe u. a., Recht ex machina. Formalisierung des Rechts im Internet der Dienste, Berlin, Heidelberg 2012, S. 171. 11 Oliver Raabe u. a., Recht ex machina (Anm. 10), S. 7 und 8 (mit weiteren Nachweisen). Norm- bzw. Rechtsetzung ist nach allgemeiner Meinung eine generalisierende, vorwegnehmende Regelung einer Vielzahl von gleichgelagerten Fällen – eine Programmierung künftigen Geschehens, vornehmlich durch das staatliche Gesetz. Der Rechtsanwender treffe dagegen eine Entscheidung im Einzelfall, regele also ein einmaliges, vergangenes und nicht wiederholbares Geschehen. Wie die Rechtsprechung sei der Rechtsanwender nicht zukunfts-, sondern lediglich situationsbezogen. Hinzu komme, dass die Rechtsanwendung in erster Linie partikulare Interessen der Parteien berühre, während im Rahmen der Rechtsetzung überwiegend Beziehungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung erfasst werden. Gegen diese Sichtweise ist der Einwand erhoben worden, dass eine Prognose künftigen Verhaltens durch Gesetze nur beschränkt möglich sei. Außerdem sei Sprache immer auch ungenau und der Auslegung bedürftig. Die Ziele einer Regelung lassen sich daher meist nur im Zusammenwirken von Rechtsetzung und Rechtsanwendung erreichen. Hinzu komme, dass auch bei der Entscheidung eines Einzelfalles die präjudizielle Wirkung berücksichtigt werden müsse, weil aus Gründen der Rechtsgleichheit in gleichen oder ähnlichen Fällen die Norm gleich oder ähnlich auszulegen sei. Eine Gemeinsamkeit zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung bestehe ferner darin, dass es sich in beiden Fällen um Rechtsbildung – um Rechtsschöpfung im Sinne einer eigenständigen Konkretisierung oder Bewertung desjenigen handele, der einen bestimmten Konflikt zu entscheiden sucht. Es gibt also eine Kontroverse über die Frage, ob und inwieweit sich Rechtsetzung und Rechtsanwendung unterscheiden. Ein Merkmal des rechtswissenschaftlichen Formalismus besteht nun darin, dass er in diesem Streit eine klare Position bezieht. Der klassische Formalismus (aus der Epoche des ersten Maschinenzeitalters) beruht auf der Prämisse, dass eine Instanz existiert, die künftiges Geschehen durch generelle Vorschriften regeln kann. Zu denken wäre hier zunächst an die Legislative, deren vornehmste Aufgabe nach allgemeiner Meinung in der Rechtsetzung besteht. Dieser rechtswissenschaftliche Formalismus zieht zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung also eine scharfe Trennlinie: Allein der staatliche Gesetzgeber ist befugt, nach seinem souveränen Willen das künftige Geschehen zu regeln, während sich die Aufgabe der Rechtsanwendung darauf beschränkt, den Regeln im Wege von Entscheidungen – idealiter ohne aktives Zutun – zur Durchsetzung zu verhelfen. Es wurde freilich schon frühzeitig bestritten, dass es überhaupt möglich sei, solche Trennlinien zwischen

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Anmerkungen

Rechtsetzung und Rechtsanwendung zu ziehen (als jüngeres Beispiel sei nur auf die ansprechende Erörterung des Themas bei Matthias Jestaedt hingewiesen, der, wie so viele, freilich ebenfalls nicht ohne die Behauptung einer „subsumtionspositivistischen Begriffsjurisprudenz“ auskommt, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hans-Uwe Erichsen, Dirk Ehlers, Hg., Allgemeines Verwaltungsrecht, Berlin u. a. 2010, § 11 II, S. 334 f., mit Nachweisen aus dem Gebiet des öffentlichen Rechts). Raabe u. a. ignorieren diese Diskussion, wenn sie glauben, sich auf die Position eines kontinentaleuropäischen ‚Subsumtionsautomaten‘ zurückziehen zu können (vgl. 2. Kapitel bei Anm. 14; 4. Kapitel bei Anm. 13; 7. Kapitel bei Anm. 9). 12 Siehe nur die Kritik von Axel Adrian, Der Richterautomat ist möglich – Semantik ist nur eine Illusion, in: Rechtstheorie 48 (2017), S. 77 – 121, 82 f.; Kyriakos N. Kotsoglou, Subsumtionsautomat 2.0., in: JZ 69 (2014), S. 451 – 457.

2 Rudolf von Jhering: Die Vaucanson’sche Ente als „Urteilsmaschine“ Jacques de Vaucanson (1709 – 1782) war ein französischer Ingenieur und Erfinder, der davon träumte, einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Aufsehen erregte seine Konstruktion eines musizierenden Automaten in Menschengestalt – ein mechanischer Flötenspieler, den er 1738 der französischen Akademie der Wissenschaften in Paris vorstellte. Als sein eigentliches Meisterwerk gilt jedoch die Konstruktion einer automatischen Ente, die mit den Flügeln flattern, schnattern, Nahrung aufnehmen und verdauen konnte. Die Ente imitierte also nicht nur die äußeren Bewegungen von Kreaturen, was damals bereits viele konnten, sondern simulierte die Dignität des Organischen und damit „Leben“. In einem Brief an Abbé Desfontains beschreibt Vaucanson 1738 seine Erfindung nicht ohne Stolz mit den Worten: Sie strecket ihren Hals in die Höhe, um Körner aus der Hand zu nehmen, sie verschluckt, verdauet, und gibt das Verschluckte durch die gewöhnlichen Wege, nachdem sie es verdaut hat, wieder von sich […] Die in dem Magen verdaute Materie wird durch Röhren, wie bey einem Thiere durch seine Gedärme, in den Hindern abge1 führt, allwo eine Oeffnung ist, durch welche das Verdauete einen Ausgang findet.

Als der französische Wissenschaftstheoretiker und Philosoph Gaston Bachelard (1884 – 1962) 200 Jahre später einen Essay über den „Mythos der Verdauung“ (1938) verfasste, stellt er fest: „Die Verdauung ist der Ursprung der stärksten Form von Realismus“.2 Liegt in diesem „Realismus“ vielleicht der Grund für die Faszination, die Vaucansons Konstruktion auf Jhering ausübte? Jhering bezieht sich im ersten Band seines Werks „Der Zweck im Recht“ (1877) jedenfalls auf die Ente, und zwar im Zusammenhang mit einer Grundsatzfrage, die das Verhältnis von Gesetz und Recht betrifft: Vermag eine detailreiche Gesetzgebung den „Kopf des Richters“ zu ersetzen? Lässt sich eine juristische Entscheidung durch formal-logische und mechanische Methoden der Rechtsanwendung determinieren? „Die Erfahrung hat auch hier gerichtet“, meint Jhering und denkt wahrscheinlich an die fast 20.000 Vorschriften, mit denen das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 den juristischen Bedarf an Urteilskraft auf ein Minimum zu reduzieren suchte. Jhering misstraute den Realitätsansprüchen mechanischer Rechtsanwendung. Er glaubte nicht, dass

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Rudolf von Jhering: Die Vaucanson’sche Ente als „Urteilsmaschine“

dem Richter „Detailbestimmungen für jeden einzelnen Fall, juristische Recepte für die Entscheidung aller möglichen Rechtshändel“ an die Hand gegeben werden können, „welche ihn allen weiteren Suchens überheben“ würden: Die Unmöglichkeit, die unendlich bunte und mannigfaltige Gestaltung der Fälle im voraus zu übersehen, stempelt diesen Versuch der absoluten Fixirung der richterlichen Entscheidung zu einem von vornherein verfehlten. Der Gedanke, der dabei vorschwebt, ist der, die Anwendung des Gesetzes zu einer rein mechanischen zu machen, bei der das richterliche Denken durch das Gesetz überflüssig gemacht werden soll; man wird an die von Vaucanson construirte Ente erinnert, welche auf mechanischem Wege den Verdauungsprocess besorgte – vorn wird der Fall in die Urtheilsmaschine hineingeschoben, hinten kommt er als Urtheil wieder heraus.3

Jhering zeichnet hier ein durchaus drastisches, ja derbes Bild einer „Urtheilsmaschine“. Doch bleibt zu beachten, dass er den Richter keineswegs herabwürdigen möchte, wenn er dessen Tätigkeit mit der Verdauung eines Tieres und das Urteil mit den Exkrementen gleichsetzt. Die Parallelen sollen nur diejenigen abschrecken, welche das Erfordernis einer Determination juristischer Entscheidungen durch allgemeine Rechtssätze, durch Gesetz oder Dogmatik, postulieren. Jherings „Urtheilsmaschine“ ist also im weiteren Kontext seiner Rechtskritik zu verstehen, die unter dem Terminus „Begriffsjurisprudenz“ berühmt geworden ist.

2.1 Jherings Angriffe gegen die ‚Begriffsjurisprudenz‘ Am Anfang der Kritik des juristischen Formalismus und der mechanischen Rechtsanwendung steht der Terminus „Begriffsjurisprudenz“, der, von ­Jhering geprägt, noch heute weit verbreitet ist. Die Kontroverse um die Begriffs­ jurisprudenz hat auch außerhalb Deutschlands, vor allem in den USA, große Resonanz gefunden. Den Auftakt bildet Jherings Nachruf auf Savigny, der 1861, also noch in dessen Todesjahr, publiziert wurde. Hier finden sich bereits einige der wichtigsten Elemente von Jherings Rechtskritik. Savigny habe eine „Entfremdung zwischen Theorie und Praxis“ herbeigeführt und „die Bedeutung der menschlichen Thatkraft“ für die Rechtsentstehung unterschätzt, wobei auch der „Apparat allgemeiner Ideen“ missbilligt wird, „den Savigny gegen seine Gegner in Bewegung zu setzen für nöthig hält“.4

Jherings Angriffe gegen die ‚Begriffsjurisprudenz‘

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In den zunächst anonym publizierten „Vertraulichen Briefen über die heutige Jurisprudenz“ (1861 – 1866) und den „Plaudereien eines Romanisten“ (1880) vertieft Jhering seine Kritik. Berühmtheit erlangte das von ihm so genannte „Phantasiebild“ – eine satirische Abrechnung mit der Begriffsjurisprudenz, die er wenige Jahre später unter dem Titel „Im juristischen Begriffshimmel“ veröffentlichte. In Dialogen schildert Jhering die Philosophie von Kant, derzufolge „die Welt, welche Du bisher wahrzunehmen glaubtest“, nur als „Vorstellung“ und in Gestalt von „Formen Deiner subjektiven Anschauung“ existiere. Die den „Formen“ entsprungenen Begriffe „vertragen sich nicht mit dem Leben, sie haben eine Welt für sich nötig, in der sie ganz genau für sich allein existieren, fern von jeglicher Berührung mit dem Leben“.5 Tatsächlich verwirklicht Kant zufolge rechtliches Handeln eine Regel der Vernunft, deren Gegenstand „außer dem Begriff gar nicht angetroffen wird“. So ist auch die Freiheit ein „reiner Vernunftbegriff“, dem „kein angemessenes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann“. Wenn Jhering nun gegen die Unverträglichkeit von Begriff und Leben opponiert, dann zielt er zunächst gegen eine Art des „Idealismus“, der, wie eine Maschine, die Realität aus dem Recht möglichst zu verbannen sucht. Unter den Prämissen einer an Vernunftbegriffen ausgerichteten Philosophie können selbst die Umstände des Einzelfalls das Recht nicht mehr in Verlegenheit bringen. So muss Kant z. B. in Kauf nehmen, dass das höchste Recht zur höchsten Rechtsverletzung führen kann: summum ius summa est iniuria.6 Jherings Einwände gegen die ‚Begriffsjurisprudenz‘ erschöpfen sich nicht in einer Kritik von Kants philosophischem Idealismus. Er geht noch einen Schritt weiter, wenn er diesen Idealismus mit dem Denken führender Köpfe der Historischen Rechtsschule identifiziert. Damit nimmt er einen Ansatz vorweg, dem später viele andere Autoren folgen werden. Darüber hinaus finden wir bei Jhering eine Vielzahl weiterer Merkmale, die bis heute als Etiketten des rechtswissenschaftlichen Formalismus ausgewiesen werden. Dazu gehört die Behauptung, der Begriffsjurist würde die Entscheidung aus Begriffen im Wege der Deduktion und ohne Folgenabschätzung einfach ableiten. Auch die Gleichung von Jurisprudenz und Mathematik sowie der Scholastik- und Positivismus-Vorwurf finden bereits Erwähnung. Im Übrigen beruhe die Begriffsjurisprudenz auf der Vorstellung, das Recht sei ein nur der Logik verpflichtetes System, welches als „mos geometricus“ seine Prinzipien unabhängig von der sozialen Wirklichkeit entwickele.7 Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass Jhering häufiger auf das Bild von der Maschine

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Rudolf von Jhering: Die Vaucanson’sche Ente als „Urteilsmaschine“

in der Rechtsanwendung zurückgegriffen hat. So äußert er sich bereits 1868 unter dem Titel „Der positivistische Jurist – ein gedankenloses Rädchen der Rechtsmaschinerie“ über den urteilenden Richter: Aber schlimmer noch als diese äußere Abhängigkeit ist eine andere Gefahr, die der Jurisprudenz nicht von außen, sondern von innen droht: die Gefahr der inneren, der geistigen Abhängigkeit, die Gefahr, sich und sein Denken und Fühlen an das dürre, todte Gesetz dahin zu geben, ein willenloses und gefühlloses Stück der Rechtsmaschinerie zu werden, kurz die Flucht aus dem eigenen Denken.8

Auf den ersten Blick unterscheidet sich diese Aussage von Jherings Überlegungen zur Vaucanson’schen Ente und zur „Urteilsmaschine“: Nun sollen das Rechtssystem als solches und die gesamte Rechtspflege eine Maschine sein. Genau genommen lässt sich zwischen Juristen und Rechtssystem aber nicht trennen. Denn es ist gerade diese „Maschinerie“, die auch den einzelnen Juristen oder Richter zu einem „willenlosen und gefühllosen Stück“, zu einem mechanischen Teilchen oder ‚Rädchen‘ herabwürdigt.

2.2 Von der Begriffsjurisprudenz zur Kritik des rechtswissenschaftlichen Formalismus Die Wissenschaft pflegt Jherings Schaffen in zwei Perioden einzuteilen, in eine ‚begriffsjuristische‘ und in eine späte kritische Phase, die Anfang der 1860er-Jahre begonnen habe. Dieses Bild ist brüchig geworden. Die neuere Forschung hat zeigen können, dass bereits 1844 kritische Elemente in Jherings Denken eingeflossen sind. Andererseits hat Jhering selbst für die Wahrnehmung eines doppelten, eines frühen und eines späten Werks, gesorgt, etwa wenn er von einer Wende oder Kehre, von „einer merkwürdigen Umwandlung meiner ganzen Anschauung“ spricht. Wer solche autobiographischen Äußerungen mit der überkommenen Einteilung ernst nimmt, wird zu der Feststellung gelangen, dass Jhering mit seiner Kritik sowohl der Begriffsjurisprudenz als auch der Maschinenmetapher wesentliche Argumente vorweggenommen hat, woran die Gegner des rechtswissenschaftlichen Formalismus anknüpfen werden. Den Begriff des ‚Formalen‘ hat der seit 1872 in Göttingen lehrende Rechtskritiker in diesem Sinne freilich nur äußerst selten zum Einsatz gebracht:

Von der Begriffsjurisprudenz zur Kritik des rechtswissenschaftlichen Formalismus

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Jhering spricht zwar von einer „formalen Selbständigkeit des Rechts“ und mitunter auch von „Formalismus“.9 Damit verbindet er aber meistens Fragen der Form und der Formstrenge, wie sie z. B. in Formvorschriften einen Niederschlag finden. Dass Jherings Überlegungen zu den Funktionen der Form im Recht und ihrem Zusammenhang mit der Freiheit einen Meilenstein rechtshistorischer Forschung bilden, ist heute weithin anerkannt. Sie münden in den berühmten Satz: „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit.“ 10 „Form“ versteht Jhering also keineswegs nur in pejorativer Bedeutung. Er hat den Formzwang im Recht gegen die Vorwürfe von Kritikern sogar verteidigt. Sein Urteil über den ‚Begriffsformalismus‘ ist dagegen unerbittlich. Die Problemkreise „Form im Recht“ und „Begriffsjurisprudenz“ müssen also sorgfältig auseinandergehalten werden. Jherings Kritik der Begriffsjurisprudenz und Historischen Rechtsschule fand in der Wissenschaft großen Anklang. Schon bald wird er als der „kräftigste Vorkämpfer“ jener Richtung gefeiert, welche die Jurisprudenz vom Kopfe wieder auf die Füße ihrer sozialen Grundlagen gestellt hat. Er habe zu Recht beanstandet, „daß die Jurisprudenz – ähnlich der Logik und Mathematik eine formale Wissenschaft ist, daß sie lediglich die Formen des menschlichen Denkens entwickelt, daß ihr […] die Realität abgeht“.11 Doch vermochte Jhering selbst, sich von formalistischen Vorstellungen kaum zu lösen. Dies kommt z. B. darin zum Ausdruck, dass er den materialen Elementen des Rechts mit großer Zurückhaltung begegnet. Im „Geist des römischen Rechts“ räumt er zwar ein, dass „der materielle Inhalt des Rechts von größtem Einfluß auf dessen Verwirklichung“ sei. Doch habe der Jurist über die materielle Angemessenheit „keine Macht“, eine derartige Macht habe nur der Gesetzgeber: Wohl handele auch seine Methode von einer Angemessenheit. Diese sei aber nicht materieller, sondern lediglich „formaler Art“.12 In der Wissenschaft ist darüber gerätselt worden, wie diese „Zwiespältigkeit“ zu erklären sei. Sie mag, so Rudolf Müller-Erzbach, „zum Teil daher rühren, daß dem Temperament Jherings ein planmäßiges Vorgehen weniger lag“. Nicht so freundlich ist hingegen die Erklärung des französischen Soziologen Georges Gurvitch, der meint, das „einzige Verdienst“ von Jhering würde darin liegen, „sich den Thesen seiner Vorgänger entgegenzustellen“.13

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Rudolf von Jhering: Die Vaucanson’sche Ente als „Urteilsmaschine“

2.3 Erfolge von Jherings Rechtskritik in den USA In der Rechtsvergleichung dient der Subsumtionsautomat als beliebte Metapher zur Umschreibung der Unterschiede von civil law und common law. So meinte der Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechtler Julius Hatschek (1872 – 1926) bereits 1905: Nach Maßgabe des Grundsatzes der Gewaltenteilung muss der Richter hierzulande „‚Subsumtionsautomat‘ sein“, weil er sich sonst legislative Kompetenzen anmaßen würde. Ähnliche Formulierungen finden sich bei Max Weber oder – nach dem Zweiten Weltkrieg – bei ­Konrad Zweigert, bisweilen auch bei jüngeren Autoren.14 Der Grund für einen Rekurs auf den Subsumtionsautomaten liegt auf der Hand: Er verkörpert das Bild des Gegensatzes zweier ‚Rechtskreise‘, von denen der eine durch Gesetzesrecht in Gestalt von Kodifikationen und der andere durch judge-made-law in Form von Präjudizien bestimmt sein soll. Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass Jherings Kritik der Begriffsjurisprudenz auch in Ländern des common law und namentlich in den Vereinigten Staaten von Amerika große Resonanz fand. So hat der Pionier der Rechtssoziologie und Rechtsphilosoph Roscoe Pound (1870 – 1964) die Zusammenhänge zwischen rechtswissenschaftlichem Formalismus, Begriffsjurisprudenz und mechanischer Rechtsanwendung aus US-amerikanischer Sicht in einem Werk erklärt, das er 1908 unter dem Titel „Mechanical Jurisprudence“ erscheinen ließ. Darin kritisiert Pound eine Art von Rechtswissenschaft, der es vornehmlich auf Berechenbarkeit ankomme – eine mechanische Jurisprudenz, die sich mehr an der Schönheit ihrer logischen Konstruktionen ergötze als auf Lebensnähe und Gerechtigkeit der Ergebnisse achte: „Principles were no longer resorted to in order to make rules to fit cases. The rules were at hand in a fixed and final form, and cases were to be fitted to the rules.“ 15 Dabei verschweigt Pound nicht, dass Jhering sein wichtigster Gewährsmann ist: „Ihering was the pioneer in the work of superseding this jurisprudence of conceptions (Begriffsjurisprudenz) by a jurisprudence of results (Wirklichkeitsjurisprudenz).“ Die Behauptung einer Abhängigkeit der Historischen Rechtsschule von der Philosophie des Idealismus findet sich ebenfalls bereits bei Pound: „If we adopt an idealistic interpretation of legal history and conceive of the development of law as a gradual unfolding of Kant’s idea of right […], we shall understand the position of the historical school.“ 16 Die große Wirkung Jherings auf das US -amerikanische Rechtsdenken ist oft betont worden. So meint der Politikwissenschaftler und Philosoph

Erfolge von Jherings Rechtskritik in den USA

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Arthur F. Bentley (1870 – 1957): Wer die soziale Funktion des Rechts verstehen möchte, muss Jherings Zweck im Recht „page for page“ gelesen haben. Der eigentliche Wegbereiter des US-amerikanischen „Aufstandes gegen den Formalismus“ ist freilich der langjährige Richter und Rechtstheoretiker ­Oliver Wendell ­Holmes (1841 – 1935). Dass Holmes, der über seine Lektüre Buch führte, Jhering gelesen hat, ist weithin bekannt.17 Holmes protestiert vornehmlich gegen den classical legal thought von Christopher Columbus Langdell (1826 – 1906), der 25 Jahre lang Dekan der juristischen Fakultät in Harvard war. Langdell habe im Recht eine Wissenschaft erblickt, die unveränderbare Prinzipien festlege, aus denen der Richter nach den Regeln der Logik seine Entscheidungen herleiten könne.18 Neuen Auftrieb erlangte die „Revolte gegen den Formalismus“ durch eine Reihe von Schriften, die in den Anfängen der Critical Legal Studies verfasst wurden. So opponieren etwa Duncan Kennedy und Morton J. Horwitz abermals gegen Bestrebungen, das Recht durch eine Beschränkung auf logisches Denken und Buchstabentreue von der sozialen Wirklichkeit abzuschneiden.19 Jüngst melden sich freilich auch neue Stimmen zu Wort, die z. B. „the caricature of Langdell as a simplistic formalist“ in Zweifel ziehen. Sie bestreiten, dass die Protagonisten des classical legal thought das Recht als ein geschlossenes, durch Deduktion und Logik beherrschbares System begriffen haben. Genauere Untersuchungen von Langdells Arbeiten hätten ergeben, dass die Formalismus-Kritiker ihre Argumente lediglich auf einen verschwindend kleinen Ausschnitt seines Werkes stützen können. Gefragt wird nun auch nach den Motiven und Zielen, welche die Kritiker einer mechanischen Jurisprudenz jeweils verfolgen. In den Vordergrund rückt dabei die These, der Formalismus-Vorwurf hänge oft mehr mit bestimmten ideologischen und politischen Bedürfnissen der Kritiker als mit den kritisierten Werken selbst zusammen.20 Zu den vielen Ungereimtheiten des Formalismus-Vorwurfs gehöre, dass die kritisierten Autoren oftmals selbst der Meinung waren, mit dem Formalismus gerungen und ihn erfolgreich überwunden zu haben. Dies glaubten auch die führenden Köpfe der Historischen Rechtsschule, worauf noch zurückzukommen ist.

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Rudolf von Jhering: Die Vaucanson’sche Ente als „Urteilsmaschine“

2.4 Resümee und Ausblick Jhering hat zutreffend erkannt, dass eine an Vernunftbegriffen ausgerichtete Rechtsphilosophie den Bedürfnissen der modernen Praxis zwangsläufig zuwiderläuft. Dies gilt namentlich für den philosophischen Idealismus mit seinen erkenntnistheoretisch fundierten Versuchen, das Recht auf die formale Seite zu beschränken. Es sind aber nicht nur epistemologische, sondern auch verfassungsrechtliche Gründe, warum Kant mit den meisten Vernunftrechtslehrern materiale Gesichtspunkte möglichst zu verbannen suchte. Denn die von Jhering eingeforderte Rücksicht auf die Bedürfnisse des Lebens würde den Juristen ein Maß an Gestaltungsmacht abverlangen, das mit dem Souveränitätskonzept des aufgeklärten Absolutismus nicht zu vereinbaren ist. Es empfiehlt sich, Jherings Rechtskritik in zwei selbstständige Komplexe aufzugliedern. Soweit sie sich auf den philosophischen Idealismus bezieht, kann ihr nur beigepflichtet werden. Die Rechtsquellenlehre von Kant vermag den Problemen moderner Rechtspraxis ebenso wenig gerecht zu werden wie die eines Hobbes, Pufendorf oder Bodin. Davon ist die Behauptung zu unterscheiden, Savigny oder Puchta hätten sich dem philosophischen Idealismus verschrieben. Hierfür sind in den Quellen keinerlei Belege ausfindig zu machen. Die Historische Schule vermag der Jurisprudenz ein Maß an Gestaltungsmacht zuzugestehen, das ihr Kant und andere Vertreter säkularen Naturrechts absprechen müssen. Auf ihre Offenheit gegenüber der Billigkeit, ihre großzügige Interpretationstheorie und plurale Rechtsquellentheorie ist noch zurückzukommen. Der eigentliche Grund für Jherings „Zwiespältigkeit“ dürfte in den Oszillationen seines Rechtsquellenverständnisses zu suchen sein. Ja, er kämpfte für einen engeren Anschluss der Jurisprudenz an die soziale Wirklichkeit. Doch war er auch ein glühender Bismarck-Verehrer und Verfechter einer etatistischen Rechtsquellentheorie. So wurden die Einfallstore, die er für das „Leben“ öffnete, schnell wieder verschlossen: Die Juristen haben über eine materielle Angemessenheit keine Macht, eine solche Macht besitze nur der Gesetzgeber.21 Das Problem liegt also darin, dass Savignys mehrgliedrige Rechtsquellenlehre mit der Unterscheidung zwischen einem technischen und einem politischen Element nicht nur über die von Jhering eingeforderte ‚Wirklichkeitsjurisprudenz‘ hinausweist, sondern gerade auch mit Blick auf neueste Einsichten in die „Vielfalt rechtlich legitimierter Steuerungsfaktoren“ ‚moderner‘ ist.22 Alles in allem verbindet sich mit dem Namen ­„Jhering“

Resümee und Ausblick

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also eine doppelte Koinzidenz von civil law und common law: Einmal die ­Kritik an der mechanical jurisprudence bzw. am juristischen Formalismus und zweitens die aktuelle Debatte über die Berechtigung dieser Kritik. Jhering hat mit seinen Angriffen gegen die ‚Begriffsjurisprudenz‘ gewiss über das Ziel hinausgeschossen und die Lehren seiner Vorgänger zu Unrecht in Verruf gebracht. Das zeigt sich auch darin, dass bereits Savigny und Puchta als erklärte Gegner einer mechanischen Rechtsanwendung aufgetreten sind und mit Nachdruck eine ‚Deautomatisierung‘ der Jurisprudenz gefordert haben. Damit soll nicht bestritten werden, dass Jhering auf vielen Gebieten seines Fachs Großes geleistet hat. Dies gilt trotz aller Zwiespältigkeiten und Fehldeutungen auch für seine Formalismus-Kritik.

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Anmerkungen

Anmerkungen 1

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Siehe Johann Andreas Erdmann Maschenbaur, Des Herrn Vaucanson Schreiben an den Herrn Abt D. F., in: ders. (Hg.), Beschreibung eines mechanischen Kunststücks und automatischen Flötenspielers, Augsburg 1748, S. 21 – 24, 21 (dt. Übersetzung von Vaucansons Brief aus dem Jahre 1738). Aus der reichhaltigen Literatur zu Vaucansons Konstruktionen sei hier nur hingewiesen auf Jessica Riskin, The Defecating Duck, or, the Ambiguous Origins of Artificial Life, in: Critical Inquiry 29 (2003), S. 599 – 633; Jochen Büchel, Psychologie der Materie. Vorstellungen und Bildmuster von der Assimilation von Nahrung im 17. und 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Paracelsismus, Würzburg 2005, S. 19 – 21; Carsten Priebe, Eine Reise durch die Aufklärung. Maschinen, Manufakturen und Mätressen. Die Abenteuer von Vaucansons Ente oder die Suche nach künstlichem Leben, Norderstedt 2007. Gaston Bachelard, Der Mythos der Verdauung, in: ders., Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes (1938), dt. Ausgabe 1978, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1984, S. 251 – 268, 251. Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. I (1877), 3. Auflage, Leipzig 1893, S. 394. Jhering, Friedrich Karl von Savigny, in: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 5 (1861), S. 354 – 377. Erneut in: ders., Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts in drei Bänden, Bd. 2 (1882), S. 1 – 21, 13, 14, 10; ders., Der Kampf ums Recht (1872), 5. Auflage (1977), S. 7 – 9 (Kritik des Vergleichs von Recht und Sprache; „nur das Gesetz, d. h. die absichtliche […] Tat der Staatsgewalt“ könne das Recht wirklich fortbilden und reformieren). Die „Vertraulichen Briefe“ und die „Plaudereien eines Romanisten“ sind (mit dem Schlusskapitel „Wieder auf Erden“) enthalten in „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum“, 1884 (verwendet wurde die 9. Auflage, Leipzig 1904). Dort findet sich auch der für die Kritik der Begriffsjurisprudenz wichtigste Text „Im juristischen Begriffshimmel“ (S. 247 – 333) mit den kritischen Bemerkungen zu Kants „philosophischem Idealismus“, für „den die reale Welt bloßer Schein, bloße Vorstellung des Subjekts ist“ (a. a. O., S. 274). Immer wieder beklagt Jhering den Realitätsverlust des Idealismus, seine Entfernung von der Praxis und vom „Leben“. An anderer Stelle heißt es: Der „mons idealis“ verschafft „dem Theoretiker die Gabe des idealen Denkens“, das auf der Fähigkeit beruht, „sich bei dem Denken juristischer Dinge von den Voraussetzungen ihrer praktischen Verwirklichung frei zu machen“ (a. a. O., S. 273). „Dem Adler gleich, der sich in die Wolken erhebt“, schwingt sich der Begriffsjurist „in die Regionen des idealen Denkens und badet sich hier in dem reinen Gedankenäther, unbekümmert um die reale Welt, die tief unter ihm liegt und seinen Blicken entrückt ist“

Anmerkungen

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(a. a. O., S. 274). Der häufige Gebrauch von Bezeichnungen wie „real“ oder „reale Welt“ ist in den USA bei den frühen Rechtsrealisten auf größtes Interesse gestoßen (siehe unten Kapitel 2.3). Die in diesem Absatz erwähnten Stellen finden sich bei Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage (1787), B 504, 506; ders., Metaphysik der Sitten (1797), in: Werksausgabe, Bd. VIII, 10. Auflage, Frankfurt am Main 1993, S. 326 (Beschränkung des Rechts auf Vernunftbegriffe und seine Verbannung aus der Empirie), S. 342 (keine Berücksichtigung der Billigkeit auf Grund einer kategorialen Trennung von Recht und Ethik). Dazu näher im 6. Kapitel. Obwohl Kant auf die Maschinenmetapher in seinen Werken wiederholt Bezug genommen hat, die Berücksichtigung der Billigkeit ausschloss und meinte, der Richter dürfe nach unbestimmten Bedingungen nicht entscheiden, gehört er nicht zu den Apologeten einer maschinenmäßigen Rechtsanwendung. Denn er hat die für die juristische Entscheidung relevante „bestimmende Urteilskraft“ nicht als formallogische Operation, sondern als ein gegenüber dem Verstand selbstständiges Vermögen charakterisiert. Urteilen verlange nicht nur ‚theoretische‘ Fähigkeiten, sondern ist auch ‚praktische‘ Tätigkeit, also das Spezifische von „Talent“ und „Mutterwitz“, deren „Mangel keine Schule ersetzen kann“ (näher Meder, Urteilen. Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre von der juristischen Entscheidungs- und Regelfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 27 – 34). Im Mittelpunkt von Jherings Kritik an der Begriffsjurisprudenz steht der Vorwurf der Praxisferne, vgl. Juristischer Begriffshimmel (Anm. 5), S. 253 (Herrschaft von Rechtslogik und reiner Wissenschaft), S. 273 (Fragen der Anwendung bleiben außer Betracht), S. 274 (Beschränkung auf das logische Denken; Gleichung von Jurisprudenz und Mathematik; Scholastik- und Positivismus-Vorwurf ). Siehe auch die Wiener Antrittsvorlesung (1868), in: Okko Behrends (Hg.), Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? Göttingen 1998, S. 19 – 92, 52 – 54. All diese Stichworte werden die Jurisprudenz des 20. Jahrhunderts prägen, weil sie von namhaften Autoren aufgegriffen werden. An erster Stelle wäre hier Franz Wieacker zu nennen, der ebenfalls das mechanistische Weltbild des rationalen Naturrechts und aufgeklärten Vernunftrechts mit der Rechtskritik etwa Savignys oder Puchtas vermengt (z. B. in der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage, Göttingen 1967, S. 401 (so habe sich „der wissenschaftliche Begriff vom Lebensgrund abgelöst und nur mehr intellektuelle Existenz“). Jhering, Wiener Antrittsvorlesung (Anm. 7), S. 50 f. Jherings kritische Bemerkungen zur „Urteilsmaschine“ und „Rechtsmaschinerie“ dürfen nicht mit seinem Lob eines Mechanismus des altrömischen Rechts verwechselt werden (zu solchen vor allem im literaturwissenschaftlichen Schrifttum verbreiteten Missverständnissen siehe die Nachweise im 5. Kapitel Anm. 4).

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Anmerkungen

Jhering, Geist des römischen Rechts, Zweiter Theil, Erste Abtheilung (1854), 4. Auflage, Leipzig 1880, z. B. § 24 (S. 22); Zweiter Theil, Zweite Abtheilung (1858), 4. Auflage, Leipzig 1883, § 45 (S. 470, 480); § 45a (S. 504, 519). Geist des römischen Rechts, Zweiter Theil, Zweite Abtheilung (Anm. 9), § 45 (S. 471). Dazu näher Peter Oestmann, Die Zwillingsschwester der Freiheit. Die Form im Recht als Problem der Rechtsgeschichte, in: ders. (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit (2009), S. 1 – 54, 20 – 23. Julius Ofner, Studien sozialer Jurisprudenz, Wien 1894, S. 17; Karl Georg Wurzel, Das juristische Denken, Wien 1904, S. 6 (Hervorhebung nicht im Original). Diese Befunde münden in die Forderung nach mehr Richterfreiheit, die dann das Freirecht als die radikalste Richtung im zeitgenössischen Methodenstreit aufgreifen wird. Schon vorher meinte Oskar Bülow, dass sich Gesetz und Richter die Rechtsetzungskompetenz teilen, Gesetz und Richteramt, Leipzig 1885, S. 41. Noch vor Bülow hat Franz Adickes in seiner „Lehre von den Rechtsquellen“, Kassel u. a. 1872, die „subjektive Vernunft“ des Richters zur Rechtsquelle erhoben. Auch Jhering erkennt eine gewisse „Produktivität“ des Richters an, vgl. seine Wiener Antrittsvorlesung (Anm. 7), S. 88 – 90. Doch beruft er sich lediglich auf die „Geschichte aller Völker und Zeiten“. In Parallele zur Polemik gegen die Begriffsjurisprudenz geht es ihm vornehmlich um eine Absage an all jene, die im „Richter nur ein Stück der Rechtsmaschinerie“ sehen wollen (a. a. O., S. 89). Jhering, Geist des römischen Rechts, Zweiter Theil, Zweite Abtheilung (Anm. 9), § 38, S. 325 (Hervorhebung im Original). Rudolf Müller-Erzbach, Die Hinwendung der Rechtswissenschaft zum Leben und was sie hemmt, Tübingen 1939, S. 21 (bisweilen wird auch auf die „Zerrissenheit des 19. Jahrhunderts“ verwiesen); Georges Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (1940), 2. Auflage, Darmstadt u. a. 1974, S. 73 (bezüglich Jherings Ablehnung des Recht-Sprache-Vergleichs, siehe die Nachweise oben Kapitel 2.2 bei Anm. 4). Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Bd. I: Die Verfassung, Tübingen 1905, S. 157, 154; Max Weber, Politische Gemeinschaften, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, 5. Auflage, Tübingen 1985, S. 514 – 868: So habe sich der moderne Kapitalismus entfalten können, „wo entweder, wie in England, die praktische Gestaltung des Rechts tatsächlich in den Händen der Advokaten lag, welche im Dienste ihrer Kundschaft: der kapitalistischen Interessenten also, die geeigneten Geschäftsformen ersannen, und aus deren Mitte dann die streng an ‚Präzedenzfälle‘, also an berechenbare Schemata gebundenen Richter hervorgingen. Oder wo der Richter, wie im bürokratischen Staat mit seinen rationalen Gesetzen, mehr oder minder ein Paragraphen-Automat ist, in welchen man oben die Akten nebst den Kosten und Gebühren hineinwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den mehr oder minder stichhaltigen Gründen ausspeie: – dessen Funktionieren also jedenfalls im großen und ganzen k­ alkulierbar

Anmerkungen

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ist“ (S. 826). Und bei Konrad Zweigert heißt es: „Der Richter erschien dem Gesetzespositivismus wie eine Art Automat, in den man den Fall hineinsteckt und der nach einem sanften Gehirnsummen die Entscheidung richtig zugeschnitten und griffbereit zutage fördert. Und die englische Welt sieht den Richter im kontinentalen Gesetzesstaat weithin noch heute so; wunderlicherweise nicht ohne einen gewissen Neid“ (Zum richterlichen Charisma in einer ethisierten Rechtsordnung, in: FS für Carlo Schmid, Tübingen 1962, S. 299 – 311, 303). 15 Roscoe Pound, Mechanical Jurisprudence, in: Columbia Law Review 8 (1908), S. 605 – 623, 607. Ähnlich erläutert Albert Kocourek (1875 – 1952) den Terminus „Begriffsjurisprudenz“ mit den Worten: „In its worst sense, it attempts to apply a rigorous logic to new situations […] The lawyer and the judge who operate with legal ideas in this blind denial of the facts, well may be compared to ‚the ­physician who preferred that his patients should die by rule rather than recover contrary to it‘“, Formal Relation between Law and Discretion, in: Illinois Law Review IX (1914), S. 225 – 245, 238 (in diese Richtung auch Benjamin N. Cardozo, The Nature of the Judicial Process, New Haven u. a. 1921, S. 102). Als ein frühes Zeugnis für die große Beachtung, die Jhering in der englischsprachigen Welt zuteilwurde, sei hier nur genannt: Alphonse Rivier, Rudolf von Jhering and Bernhard Windscheid, in: The Juridical Review V (1893), S. 1 – 12. 16 Pound, Mechanical Jurisprudence (Anm. 15), S. 610 (Hervorhebungen dt. im Original). An anderer Stelle betont Pound, Jhering habe erstmals die „logical deduc­ tions“ der Historischen Rechtsschule in Zweifel gezogen, die den Juristen „from the actual life of today“ trennten, The Spirit of the Common Law, Francestown 1921, S. 203 – 205. Dazu näher David M. Rabban, Law’s History, Cambridge u. a. 2013, S. 114. Siehe auch Pound, The Spirit of the Common Law, a. a. O., S. 153 (zu den Verbindungen von Begriffsjurisprudenz und philosophischem Idealismus). Wie Pound beruft sich Albert Kocourek vornehmlich auf Jherings „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ (Anm. 5). Dabei hebt er hervor, Jherings Kritik „has no special relation to code countries“, Formal Relation between Law and Discretion (Anm. 15), S. 235. Dies verdient angesichts der herkömmlichen Unterscheidung zwischen civil law und common law Hervorhebung. Den gemeinsamen Gesichtspunkt bildet der Formalismus-Vorwurf, der um die Frage kreist, ob Rechte einer Entscheidung durch verlässliche Formen überhaupt vorgegeben werden können. Dies bezweifelte z. B. Ernst Kantorowicz, der meinte, die Gerechtigkeit würde sich nur in der Immanenz einer konkreten Entscheidungssituation, d. h. nur im Richterspruch zeigen (dazu im 3. Kapitel). Nur am Rande sei bemerkt, dass sich Pound in seiner „Mechanical Jurisprudence“ auch bereits auf Kantorowicz’ Formalismuskritik bezogen hat (a. a. O., S. 607). Siehe ferner: Katharina Isabel Schmidt, Der „Formalismus-Mythos“ im deutschen und amerikanischen Rechtsdenken des frühen 20. Jahrhunderts, in: Der Staat 53 (2014), S. 445 – 473. Insbesondere der sogleich noch zu erörternde US-amerikanische Aufstand gegen den juristischen

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Anmerkungen

Formalismus macht deutlich, dass hier Probleme verhandelt werden, die common law und civil law gleichermaßen betreffen. Arthur Fisher Bentley, The Process of Government. A Study of Social Pressures, New York 1908, S. 56 – 90, 57. Siehe ferner das Kapitel „Jhering and the Kingdom of Justice on Earth“ bei Jerome Frank, Law and the Modern Mind, New York 1930, S. 217 – 221 und 279 – 280; Felix S. Cohen, The Legal Conscience, New Haven 1960, S. 113 („surely von Jhering’s critique of the jurisprudence of concepts gave a worthy start to the labors of Holmes, Oliphant, Llewellyn, and even Jerome Frank“). ­Gerhard Casper, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, Berlin 1967, S. 14; Mathias W. Reimann, Holmes’ Common Law and German Legal Science, in: Robert W. Gordon (Hg.), The Legacy of Oliver Wendell Holmes Jr., Stanford California 1992, S. 72 – 114, 101 – 104. Siehe auch die vergleichende Würdigung der Ansätze von Holmes und Jhering bei: Morton White, Social Thought in America. The Revolt Against Formalism, New York 1949, S. 15 – 18; Brian Z. Tamanaha, A Realistic Theory of Law, Cambridge 2017, S. 19 – 21. Oliver Wendell Holmes, Book Notice, Review of Langdell, in: American Law Review XIV (1880), S. 233 – 235. Duncan Kennedy, Legal Formality, in: Journal of Legal Studies 2 (1973), S. 351 – 398. „Formality“ begreift Kennedy als eine „mechanical application of rules“ (S. 358), wobei Jhering ihm ein wichtiger Gewährsmann ist (S. 353, 355, 360); ders., The Disenchantment of Logically Formal Legal Rationality, or Max Weber’s Sociology in the Genealogy of the Contemporary Mode of Western Legal Thought, in: ­Hastings Law Journal 55 (2004), S. 1031 – 1076 („Savigny developed a positivist version of normative formalism“, unter wiederholter Berufung auf Wieacker. Das Problem dieser Arbeit besteht also darin, dass sie, gewiss auch aus Mangel an Übersetzungen der jüngeren Literatur, an die überholte Kritik einer vermeintlichen Begriffsjurisprudenz anknüpft); Morton J. Horwitz, The Rise of Legal Formalism, in: American Journal of Legal History 19 (1975), S. 251 – 264 (mit Blick speziell auf das US-amerikanische Geschehen). Mit „critical“ zielten die Begründer der Critical Legal Studies vor allem auch auf eine Kritik des juristischen Formalismus. Roman J. Hoyos, Beyond Classical Legal Thought: Law and Governance in Postbellum America (1865 – 1920), in: Sally E. Hadden, Alfred L. Brophy (Hg.), A Companion to American Legal History, Chichester 2013, S. 86 – 104, 89; Brian Z. Tamanaha, Beyond the Formalist-Realist Divide. The Role of Politics in Judging, Princeton 2010, S. 45, 44. Als krasses Beispiel sei nur auf die Art und Weise hingewiesen, wie die NS-Jurisprudenz den Formalismus-Vorwurf instrumentalisiert und den Begriff des „Lebens“ für ihre Zwecke vereinnahmt hat (3. Kapitel bei Anm. 12). Jhering, Geist des römischen Rechts (Anm. 9), § 38, S. 325; Kampf ums Recht (Anm. 4), S. 7 – 9. Eine Zwiespältigkeit ist auch darin zu sehen, dass Jhering eine Ergebniskontrolle für geboten hält, der für die Abschätzung von Folgen einer

Anmerkungen

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­ ntscheidung so wichtigen Billigkeit aber ablehnend gegenübersteht. Die Beispiele E ließen sich vermehren. 22 ‚Moderner‘ auch deshalb, weil Savigny die Beziehungen zwischen formalen und materialen, zwischen technischen und politischen Elementen als komplexes Wechselspiel und Grundbedingung allen Rechts begreift (dazu näher im 6. Kapitel). Seine Rechtstheorie liegt jenseits der herkömmlichen Trennungen, deren Überwindung auch jüngst wieder gefordert wird, vgl. z. B. Tamanaha, Beyond the Formalist-­ Realist Divide (Anm. 20).

3 Hermann U. Kantorowicz: „Bewaffnet blos mit einer Denkmaschine“ Anfang des 20. Jahrhunderts wird Jhering mit seiner Kritik der Begriffsjuris­ prudenz als der kräftigste Vorkämpfer jener Richtung gefeiert, welche die Rechtswissenschaft vom Kopfe wieder auf die Füße gestellt habe. Es sei für ihn, nach den Worten von Hermann Kantorowicz, daher „der Ehrenplatz im Herzen des deutschen Juristen beansprucht, den noch immer Savigny besetzt hält“. Jhering habe ja nicht nur die ältere Historische Rechtsschule „mit entscheidendem Erfolge angegriffen“, sondern auch sein „eigenes Werk mit ‚Scherz und Ernst‘ bekämpft“. „Nur eine volle und systematische Entfaltung“ seiner „Gedanken“ bedeute – „im Auslande nicht weniger als in Deutschland – die freirechtliche Bewegung“.1

3.1 Kritik des rechtswissenschaftlichen Formalismus durch das Freirecht Was sind das für „Gedanken“, die das Freirecht voll und systematisch zu entfalten sucht? An erster Stelle steht zweifellos der Terminus „Begriffsjuris­ prudenz“, den Eugen Ehrlich, Hermann Kantorowicz oder Ernst Fuchs zum Ausgangspunkt ihrer Rechtskritik genommen haben. Denn Jhering sei es gewesen, der die Abkehr von einer um „die Bedürfnisse des Lebens unbekümmerten sog. Buchstaben- und Begriffsjurisprudenz“ eingeleitet habe.2 Die Freirechtsschule will bei der „Begriffsjurisprudenz“ aber nicht stehen bleiben, sucht nach Alternativen und wird in Bezeichnungen wie Pandektologie, Formaljurisprudenz oder formallogische Methode fündig. Ihr gebührt das Verdienst, den Begriff des rechtswissenschaftlichen Formalismus erstmals einer genaueren Betrachtung unterzogen zu haben. Dabei kommt sie freilich wieder nur auf jene Bestimmungen zurück, die bereits Jhering identifiziert hat. Als Stichworte mögen hier genügen: Deduktion, Subsumtion, Logik, Theorielastigkeit, Praxisferne, Positivismus, Verlust der sozialen Wirklichkeit, Entfernung vom „Leben“, Geometrie, Begriffsmathematik, Determinismus, Scholastik, Idealismus.3 Diese Merkmale wendet das Freirecht jedoch nicht nur auf Autoren der Historischen Schule oder Pandektistik, sondern auch auf das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 (BGB) und die Praxis des geltenden

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Hermann U. Kantorowicz: „Bewaffnet blos mit einer Denkmaschine“

Rechts an: „Der Formalismus […] durchseucht als formallogische Methode das ganze Recht.“ 4 Jhering hätte den vom Freirecht propagierten radikalen Antiformalismus wohl verworfen. Dafür spricht, dass er auch in seiner zweiten Werkperiode zwischen Verdammung und Lob des „Formalismus“ häufig schwankte. Seitens des Freirechts wurde ihm denn auch vorgeworfen, er habe am Formalismus zu stark festgehalten und sei auf halber Strecke stehen geblieben.5 Zu den wichtigsten Autoren der Freirechtsbewegung gehört der bereits erwähnte, nach seiner Entlassung 1933 in die USA emigrierte Professor für Strafrecht, Geschichte der Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie Hermann U. Kantorowicz (1877 – 1940). Seinen bis heute am meisten beachteten Text, den „Kampf um die Rechtswissenschaft“, publizierte Kantorowicz 1906 unter dem Pseudonym „Gnaeus Flavius“. Der Name des kurulischen Ädilen, der in der altrömischen Zeit vermutlich als Schreiber (scriba pontificus) sein Auskommen fand, war gut gewählt. Denn nach der Legende gebührt Gnaeus Flavius das Verdienst, um 300 v. Chr. die bis dahin geheim gehaltenen römischen Klagformeln allgemein zugänglich gemacht zu haben. Mehr als 2000 Jahre später sah sich Kantorowicz in der gleichen Rolle: Auch er glaubte, die Öffentlichkeit über die wahren Gründe und Motive aufklären zu müssen, welche die Rechtsanwendung bestimmen. Kantorowicz’ „Kampf um die Rechtswissenschaft“ gilt heute als eine der wichtigsten und meistzitierten juristischen Schriften des 20. Jahrhunderts. Gleich auf der ersten Seite beginnt das bekannteste Manifest der Freirechtsbewegung mit einer Schilderung der Rechtsfindung durch die Maschine: Die herrschende Idealvorstellung vom Juristen ist die: Ein höherer Staatsbeamter mit akademischer Ausbildung, sitzt er, bewaffnet bloß mit einer Denkmaschine, freilich von der feinsten Art, in seiner Zelle. Ihr einziges Mobiliar ein grüner Tisch, auf dem das staatliche Gesetzbuch vor ihm liegt. Man reicht ihm einen beliebigen Fall, einen wirklichen oder nur erdachten, und entsprechend seiner Pflicht, ist er imstande, mit Hülfe rein logischer Operationen und einer nur ihm verständlichen Geheimtechnik, die vom Gesetzgeber vorherbestimmte Entscheidung im Gesetzbuch mit absoluter Exaktheit nachzuweisen.6

Kantorowicz entwirft hier das bizarre Bild eines Bürokraten, der gegen jede Realität glaubt, die Lösung aller erdenklichen Fälle mit einer geheimen Technik dem Gesetz entnehmen zu können. Die Parallelen zu Jherings „­ Urteilsmaschine“

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sind unübersehbar. Auch Jhering polemisiert gegen die Illusion, „die unendlich bunte und mannigfaltige Gestaltung der Fälle im voraus“ übersehen zu können. Jeden Versuch, den Juristen auf das Gesetz zu fixieren, hält er für einen „von vornherein verfehlten“. Sein Vergleich mit der mechanischen Ente soll alle Bestrebungen verhöhnen, die darauf zielen, „das richterliche Denken“ durch eine mechanische Rechtsanwendung überflüssig zu machen. Als Jhering 1884 die Mängel der Rechtsanwendung anhand von Vaucansons berühmten Automaten vorführte, befand sich das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) noch in seiner Entstehungsphase. Das „Gesetz“ ist bekanntlich am 1. Januar 1900 in Kraft getreten, konnte damals also noch nicht zum „Mobiliar“ einer Zelle gehören oder auf einen „grünen Tisch“ gelegt werden. Der grüne Tisch dient seit jeher als Metapher für eine bürokratische Entscheidung, die den Bezug zur Realität, zum „Leben“ und zur Praxis vermissen lässt. Dass sich daran bis heute wenig geändert hat, zeigt der moderne Sportjournalismus, wo über die Lebensfremdheit von Entscheidungen geklagt wird, etwa, wenn Sportverbände nach Abbruch eines Fußballspiels am grünen Tisch ein bestimmtes Ergebnis festlegen. Grüner Tisch und Gesetz bilden das „einzige Mobiliar“. Die Maschine selbst gehört also nicht dazu. Die Lebensferne wird noch dadurch unterstrichen, dass die Entscheidungen unter den Bedingungen strenger Isolation, abgekapselt von der Wirklichkeit, in einer Zelle gefällt werden. Immerhin entscheidet ein Mensch, ein „höherer Staatsbeamter“. Doch ist dieser in einem Maße geschult, ja ‚überzüchtet‘, dass sein Gehirn nur als Maschine funktionieren kann. Der durch eine Maschine generierten Entscheidung mangelt es an Konkretion, an den Umständen des Einzelfalls, an Individualität, an aktivem Zutun, an „Leben“ und an Transparenz. Sie beruht auf einer Geheimtechnik, auf „rein logischen Operationen“, die, wenn überhaupt, nur demjenigen verständlich sind, der sie ausführt. Mit Blick auf die aktuellen Diskussionen über Legal Tech ist Kantorowicz’ Denkmaschine aus zwei Gründen aufschlussreich: einmal, weil sie auf eine Analogie von Gehirn und Maschine anspielt, und zweitens, weil sie das Problem der Opazität berührt. Auf beide Themen ist noch zurückzukommen.

3.2 Kantorowicz als Theoretiker der Maschine im Recht Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum Kantorowicz’ Denkmaschine aus heutiger Sicht und mit Blick auf Legal Tech besondere A ­ ufmerksamkeit

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Hermann U. Kantorowicz: „Bewaffnet blos mit einer Denkmaschine“

verdient: Seine Maschine eröffnet das Tor zu rechtsphilosophischen und geschichtstheoretischen Problemstellungen, die über einen gewöhnlichen Subsumtionsautomaten oder Jherings Urteilsmaschine hinausweisen. Wie bereits angedeutet, opponiert Jhering gegen eine vermeintliche Begriffsjurisprudenz, deren Formalismus den Anforderungen des Lebens und der sozialen Realität nicht gerecht werde. Das Freirecht greift diese vornehmlich gegen Savigny und Puchta gerichtete Kritik zwar auf, erweitert sie aber, und zwar in einem doppelten Sinne: einmal in die Zukunft, soweit der Formalismus auch das neue Bürgerliche Gesetzbuch und letztlich das ganze künftige Recht „durchseucht“, und zweitens in Richtung Vergangenheit über die Pandektenwissenschaft zurück in das Vernunftrecht des 17. und 18. Jahrhunderts, die Renaissance, das Mittelalter und die Antike. Genau genommen handelt es sich um eine Supertheorie des Rechts, die Kantorowicz in einem Essay formuliert, der 1914, also acht Jahre nach dem „Kampf um die Rechtswissenschaft“ in der 1909 gegründeten kulturkritischen Zeitschrift „Die Tat“ erschienen ist. Da die rechtsphilosophischen Zusammenhänge zwischen der Denkmaschine und den „Epochen der Rechtswissenschaft“ (EdR) bislang keine eingehendere Würdigung gefunden haben, sei eine knappe Wiedergabe der wichtigsten Stationen von Kantorowicz’ „Geschichtskonstruktion“ gestattet.7 Im Mittelpunkt des Essays steht eine These, welche die gesamte Rechtswissenschaft auf eine Spannung zwischen zwei gegenstrebigen Momenten oder Polen reduziert, die insofern ahistorisch sind, als sie zu allen Zeiten vorkommen. Wörtlich heißt es, dass sich „stets von neuem“ hinter immer wechselnden Formen und Namen der gleiche Gegensatz zwischen „Formalismus“ und „Finalismus“ auftut (EdR, 1). Kantorowicz warnt davor, die Bedeutung dieser Etiketten zu überschätzen. Formalismus und Finalismus seien „nichts als Schlagwörter“, die leicht in die Irre führen. Wer sie zu gebrauchen zaudere, könne auch von Rationalismus und Realismus, Positivismus und Verbalismus, Historismus und Modernismus, philologischer und teleologischer Methode oder, „wenn er Biegsamkeit und Bestimmtheit des Ausdrucks seiner Volkstümlichkeit opfern will, von strengerer und freierer Richtung reden“ (EdR, 2). Entscheidend sei, dass es sich der Sache nach um immer den gleichen Antagonismus zwischen den Polen handele, die als Formen des Denkens gleichsam über dem Recht stünden. Worin besteht dieser Gegensatz? Zunächst erinnert Kantorowicz an zwei konträre Grundvorstellungen, die bis heute spannungsreich geblieben sind. Danach wäre zu unterscheiden zwischen Regeln, die eine über der Gesellschaft stehende

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Autorität befohlen hat und Normen, die, unabhängig von einem souveränen Willen, gleichsam von unten herauf aus der Gesellschaft wachsen. Beide Standpunkte beruhen auf verschiedenen Vorstellungen über die Entstehung von Recht, das entweder durch Gesetz von der Obrigkeit befohlen wird oder sich als „spontane Ordnung“ sozusagen „von selbst“ bildet. Diese Differenz pflegen die Juristen mit der Einteilung in geschriebenes (scriptum) und ungeschriebenes (non scriptum) Recht zu veranschaulichen, wobei das ius scriptum dem Willen eines staatlichen Gesetzgebers und das ius non scriptum den Kräften der Gesellschaft Ausdruck verleihen soll. Dabei versteht sich, dass im Rahmen des ius non scriptum der richterlichen Rechtsfindung eine besondere Rolle zukommt. Der Finalismus bringt also eher die Kräfte der Gesellschaft zur Geltung, während der Formalismus mehr dem Befehl des Gesetzgebers Gehorsam leistet. Das Gebiet, worauf der Finalismus sich bezieht, ist die Wirklichkeit, die soziale Realität, das Leben. Dagegen bildet für den Formalismus der Rechtstext die Grundlage – das „staatliche Gesetzbuch“, eine Waffe in den Händen eines „höheren Staatsbeamten“. Das formalistische Rechtsdenken harmoniert also mit der Idee einer über der Gesellschaft stehenden Autorität, die durch Sätze und Begriffe ein geschlossenes System konstruiert, aus denen die Rechts­ erkenntnis dann mit geradezu mechanischer Konsequenz abgeleitet wird. Dagegen nimmt der Finalismus die Wirklichkeit zum Ausgangspunkt und sucht auf die Zwecke, Interessen und Bedürfnisse des Lebens eine Antwort zu geben. Kantorowicz nennt noch eine ganze Reihe weiterer begrifflicher Entgegensetzungen, welche aus der Differenz von Formalismus und Finalismus resultieren. So werde der Charakter der „formalistischen Richtung“ mehr verbalistisch, theoretisch, passiv, rezeptiv und konservativ sein, der Charakter der finalistischen Richtung mehr realistisch, praktisch, kritisch, produktiv und fortschrittlich. Jene wird den Blick gern in die Vergangenheit senden und sie in der Gegenwart am Leben zu erhalten streben, diese der Gegenwart zugekehrt sein und den in eine lebenskräftige Zukunft deutenden Strebungen den Boden zu ebnen suchen (EdR, 2).

Kantorowicz meint nun, beide Denkformen, also sowohl der Formalismus als auch der Finalismus, würden „allzeit“ präsent geblieben sein. Wie ist diese Aussage zu verstehen? Enthält jede Epoche der Rechtswissenschaft zugleich beide Elemente? Die Frage muss verneint werden, obwohl Kantorowicz ­bisweilen

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tatsächlich so verstanden wurde. Kantorowicz will sagen, dass die beiden Formen jeweils ‚rein‘, in Gestalt eines Entweder-Oder auftreten, sodass in den Epochen der Rechtswissenschaft „bald die eine, bald die andere herrschte“ (EdR, 2). Durch die Annahme einer kategorialen Differenz wird die Spannung zwischen den beiden Denkformen also nicht nur zugespitzt, sondern im Sinne eines Alles-oder-Nichts geradezu verabsolutiert. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur folgerichtig, wenn Kantorowicz einen Sieg des Finalismus über den Formalismus herbeisehnt: Man war formalistisch: wer ein Buch schreiben wollte […] fügte nach äußerlichen Gesichtspunkten die verschiedensten Erörterungen zusammen […] Man war spitzfindig: liebte unnütze Streitfragen und Unterscheidungen […] Man war pedantisch: führte die genannten Denkformen schematisch durch, auch wo sie unpassend wurden […] Man war vor allem blind und autoritätsgläubig […] Wir haben hier […] den vollendeten Historismus, der außerhalb seiner eigenen Zeit lebt, und dementsprechend einen fast gänzlichen Mangel an historischem Sinn vor uns. Das Leben ging seinen Weg und die Wissenschaft ihren (EdR, 4 f.).

Diese Behauptungen sind gegen die Glossatoren gerichtet, die im ausgehenden 11. Jahrhundert in Bologna die Rezeption des römischen Rechts einleiteten. An ihrer „Pforte“ habe „eine formale, philologische Leistung“ gestanden: „die Auffindung mehrerer alter Bücher, die Verbesserung ihres Textes aus anderen alten Büchern“ (EdR, 4). Genau genommen setzt Kantorowicz’ Skizze des Formalismus in den Epochen der Rechtswissenschaft aber noch viel früher ein. Sie beginnt mit Justinian, der in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts in Byzanz das Corpus iuris hat kompilieren lassen. Im vorliegenden Zusammenhang verdient Hervorhebung, dass bereits auf dieser frühen Stufe vom Maschinellen und Mechanischen gesetzestreuer Rechtsanwendung die Rede ist. Die Ansprüche von Justinians Gesetzgebung auf Lückenlosigkeit und Kohärenz, auf starre Bindung an die Texte, seien jeder freieren Bearbeitung des Rechts im Wege gestanden. Denn Justinian habe jede über das Mechanische hinausgehende Bearbeitung der Quellen, zumal ihres Hauptstücks, der Digesten, bei der Strafe, die den Fälscher trifft, verboten. In ­diesen Worten des Byzantiners – nicht, wie man oft lehrt, im Autoritätsglauben des Mittel­ alters – liegt die historische Wurzel der späteren Auffassung der Jurisprudenz als der „Magd“ des Gesetzgebers (EdR, 4 f.).

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Mit Justinian „sehen wir zum ersten Mal“, dass der „Jurist das willenlose Werkzeug des Gesetzgebers sein müsse“. Und seit dem 11. Jahrhundert „beherrschte“ mit der Rezeption des römischen Rechts „diese Lehre die ganze Wissenschaft des europäischen Festlandes“:8 Die ganze Rezeption des römischen Rechts in Deutschland kann daher aufgefaßt werden als ein Vorgang der „Begriffsjurisprudenz“, jener Verirrung des juristischen Denkens, das seine Begriffe ohne praktische Rücksicht auf die praktischen Konse­ quenzen konstruiert oder irgendwoher übernimmt und dann auf noch so eigengeartete Verhältnisse anwendet (EdR, 8).

Von den Glossatoren zieht sich eine Linie über die Postglossatoren, die humanistischen Juristen und das Vernunftrecht bis zur Historischen Schule ­Savignys und Puchtas. Es bleibt die Frage: Gibt es auch eine Epoche, in welcher der Finalismus herrschte? Kantorowicz würde hier wohl unterscheiden, und zwar zwischen der klassischen römischen Jurisprudenz und einer Richtung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Einfluss gewonnen habe. Die Römer seien, jedenfalls in ihrer besten Zeit, „Praktiker reinsten Wassers“ gewesen: Sie waren „vom Historismus gar nicht, von der Begriffsjurisprudenz wenig angekränkelt“. Ihnen gebührt das Verdienst, das lückenhafte förmliche Recht „durch freies Recht“ ergänzt zu haben.9 Auslegung und Billigkeit spielten dabei eine entscheidende Rolle. Der besondere Vorzug der klassischen römischen Jurisprudenz bestehe namentlich darin, dass sie die „Billigkeit (aequitas) ganz in den Mittelpunkt der Rechtsanwendung“ rückte. Zwar haben die Römer oft nach dem „Gefühl“ entschieden und vermochten für ihren Bezug auf die Billigkeit kaum Begründungen zu geben. Ihre Entscheidungen trafen gleichwohl meist „ins Schwarze“. Denn ihr Rechtsgefühl sei an der Beobachtung der Bedürfnisse des Lebens „geschult“ und zu einer Art „Gefühlsjurisprudenz“ verfeinert worden. So waren sie imstande, die zur Befriedigung dieser Bedürfnisse „dienlichen Mittel des Rechts anzugeben“.10 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts würden sich die Anzeichen mehren, dass eine „realistische“ Richtung „allmählich das Oberwasser“ zurückgewinne. Kantorowicz meint damit die „jüngere historische Schule“, die im Gefolge von Jhering „noch heute die Herrschaft führt“ (EdR, 13). Diese jüngere Schule könne freilich „nur als ein Gemenge formalistischer und finalistischer Elemente“ begriffen werden (EdR, 13). „Gemenge“ deshalb, weil in dem doppelten Anliegen der Historischen Rechtsschule von juristischer Konstruktion

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und praktischer Jurisprudenz formalistische und finalistische Elemente leicht vermischt würden. Aber gerade darin bewähre sich die analytische Dimension der im Epochenaufsatz „errichteten Geschichtskonstruktion“: Das Formalismus-Narrativ helfe nämlich, die beiden Elemente so voneinander zu separieren und zu isolieren, dass auch der kleinste Rest von Formalismus identifiziert und ausgesondert werden kann. Die Ausführungen lassen erkennen, dass Kantorowicz das „Gemenge“ als Widerspruch begreift, der einer Auflösung bedarf (EdR, 13 f.). Auch von dieser Seite zeigt sich, dass er glaubt, zwischen Formalismus und Finalismus eine kategoriale Differenzlinie ziehen zu müssen. Mit eindrucksvoller Konsequenz verfolgt Kantorowicz das immer gleiche Ziel: Den Sieg des Finalismus, der erst gefeiert werden kann, wenn auch der kleinste Rest von Formalismus getilgt ist.

3.3 Formalismus als Bollwerk gegen ­staatliche Willkür und Kadijustiz? Wie ist dieser Ansatz zu bewerten? Die rigorose Absage an den Formalismus spielte, wenn auch ungewollt, den nationalsozialistischen Juristen in die Hände. Diese hatten nämlich ein ganz neues und bislang völlig unbekanntes Interesse daran, die Leistungen des 19. Jahrhunderts zu diskreditieren: Sie waren bestrebt, im Zeichen des ‚Antiformalismus‘ einer neuen ‚Weltanschauung‘ möglichst ungehindert zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Geschichte lehrt, dass die Jurisprudenz bei einer Preisgabe des formalen Rechts Übergriffen durch Politik, Ethik oder Werte hilflos ausgeliefert wäre. Erinnert sei nur an die schlimmen Folgen, die mit einer Verabschiedung des Grundsatzes abstrakter Gleichheit in der NS-Zeit verbunden waren, oder an die Rechtspraxis der Enteignungen, wonach formale Rechtspositionen durch die Behauptung eines heteronom bestimmten „Volksempfindens“ ausgehebelt wurden. Die Terminologie wurde durch das Freirecht teilweise schon vorweggenommen. So empfiehlt Kantorowicz dem Richter anstelle der „Buchstaben- und Begriffsjurisprudenz“ den „soziologischen Weg“ mit den Worten: „Dabei ist aber wohl zu beachten, daß es hierbei mehr auf gesundes, volkstümliches, nicht ‚weltfremdes‘ Empfinden und geraden Verstand, als auf theoretische Kenntnisse ankommt: Nicht alles, was man erlernen kann und erlernen muß, braucht und kann in der Form der Wissenschaft gelehrt werden.“ 11 ­Kantorowicz konnte natürlich nicht ahnen, dass die NS-Studienordnung (1935) gut 20 Jahre später

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einen neuen Typus des Juristen heranzuzüchten suchte, der kein „Bücherwurm“ mehr war und z. B. vor der Assessorprüfung ein Lagerleben mit morgendlichem Flaggenhissen und Geländeübung führen sollte.12 Nach dem Zweiten Weltkrieg neigten Teile der Wissenschaft denn auch wieder zu einer höheren Einschätzung formalen Rechts als die Freirechtsschule und die NS-Jurisprudenz. Die Erfahrungen mit den chaotischen Folgen totalitärer Herrschaft haben die Voraussetzungen für eine neue Anerkennung des Werts verlässlicher Formen für die Sicherung von Freiheit und Gerechtigkeit innerhalb einer demokratischen Gesellschaft geschaffen. Ein Problem von Kantorowicz’ Formalismus-Narrativ liegt auch darin, dass es schon vor dem Aufkommen der klassischen römischen Jurisprudenz, und zwar in der altrömischen Epoche, einmal einen Formalismus gegeben hat. Dieser hat aber weder mit Theorie, System oder Wissenschaft noch mit Praxisferne etwas zu tun, sondern ist auf die Oralität der altrömischen Rechtskultur zurückzuführen.13 Kantorowicz hat also verkannt, dass es einen Formalismus gibt, welcher den Erfahrungen des „Lebens“ unmittelbar entsprungen ist. Das gilt mutatis mutandis auch für den modernen Formalismus, soweit in ihm gesellschaftliche Wertungen zum Ausdruck kommen und er als ein Bollwerk gegen staatliche Willkür und Kadijustiz zu begreifen ist. Die in den Epochen der Rechtswissenschaft „errichtete Geschichtskonstruk­ tion­“ ist eine Verfallsgeschichte, die mit dem Niedergang des römischen Rechts in der nachklassischen Epoche einsetzt und über die Epochen von Mittelalter, Vernunftrecht und Pandektistik bis heute andauert. Zwar mögen das Freirecht und seine finalistische Methode als eine Art Licht in einem jahrtausendelangen Tunnel aufscheinen, aber die Gefahren für diese Richtung sind doch unübersehbar. Sie liegen „im Schicksal der scholastischen und rationalistischen Vorgänger“ (EdR, 14). Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Jurisprudenz zum Formalismus zurückkehrt, bis eine erneute Konstruktion und Abgeschlossenheit der Begriffe ihre lebensnahen Elemente verdrängt. Kantorowicz ahnte, dass das Freirecht, sollte es tatsächlich jemals zur Herrschaft gelangen, Episode bleiben wird.

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3.4 Kantorowicz’ „Geschichtskonstruktion“ im zeitgenössischen Kontext Begriffe wie Wirklichkeit, Leben, Sein oder Dasein waren auch nach 1914 noch en vogue und erreichten in den 1920er- und 1930er-Jahren einen wohl nie wieder erklommenen Gipfel kulturphilosophischer Relevanz: Martin ­Heidegger, Gottfried Benn, Hans Freyer oder Friedrich Gundolf werden oft als Beispiele für Autoren genannt, deren Denken um eine negative Abgrenzung gegen Rationalismus, Intellektualismus, Szientismus und um eine „neue Wirklichkeit“ kreist.14 Grundlage bildet eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene geistesgeschichtliche Strömung, die im Anschluss an so verschiedene Autoren wie Wilhelm Dilthey, Friedrich Nietzsche oder Henri Bergson „Lebensphilosophie“ genannt wurde. Sie sollte einen Gegenentwurf zum Positivismus und zum Neukantianismus darbieten, denen eine einseitige Betonung der Rationalität nach Art der Naturwissenschaften vorgeworfen wurde. Den Ausgangspunkt der Lebensphilosophie bildet die konkrete Erfahrung des einzelnen Menschen, dessen Ganzheitlichkeit allein mit begrifflichen Konstruktionen oder Logik nicht zu erfassen sei. Dass zu einem umgreifenden Leben kreative, nicht-rationale, dynamische Elemente und neben der Vernunft Gefühle, Intuitionen, Instinkte oder Triebe gehören, war vor allem auch die Meinung des promovierten Philosophen und Gymnasiallehrers Oswald Spengler (1880 – 1936). 3.4.1 Oswald Spengler und der Untergang des Abendlandes

1917, also nur drei Jahre nach Kantorowicz’ Epochen der Rechtsgeschichte, unterzieht Spengler in seinem kulturphilosophischen Hauptwerk, dem heute wieder häufiger gelesenen Bestseller über den „Untergang des Abendlandes“ (UdA), die Beziehungen von Recht und Wirklichkeit einer genaueren Betrachtung. Die Parallelen mit Kantorowicz’ Formalismus-Narrativ sind verblüffend: Spengler charakterisiert den Fachjuristen als „Sklaven von Begriffen“, wo doch „das Privatrecht den Geist des jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Daseins darstellen soll“.15 Auch ihm gilt das klassische römische Recht mit der freien Rechtsfindung durch den Prätor als Ideal, Muster und bis heute unübertroffenes Vorbild:

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Der Richter als Stand, der für diese Tätigkeit fachmännisch und sogar theoretisch ausgebildet wird, ist der Antike durchaus unbekannt […]. Die Römer waren hier weder Systematiker noch Historiker noch Theoretiker, sondern lediglich glänzende Praktiker. Ihre Jurisprudenz ist Erfahrungswissenschaft von Einzelfällen, eine durchgeistigte Technik, keine Gebäude von Abstraktionen (UdA, 625 f.)

Byzanz, Scholastik, Vernunftrecht und Pandektistik sind auch bei Spengler die Stationen, die zur „berühmten ‚Versteinerung des Amtsrechts‘“ führen – dem „echten Sinnbild einer späten Zivilisation“ (UdA, 633). Die Rechtsgeschichte des Abendlandes beginne mit den „germanischen Stammesrechten“, die durch die „Schöpfung Justinians“ freilich bald verdrängt wurden: Von der „völligen Bedeutungslosigkeit“ dieser Schöpfung zeuge „die Tatsache, daß sich der Hauptteil, die Pandekten, in einer einzigen Handschrift erhalten hat, die um 1050 zufällig – leider – gefunden wurde“ (UdA, 644). Seitdem mussten die Richter „jenseits der Alpen studieren und sie empfingen ihre Erfahrungen statt aus dem Leben, das sie umgab, aus einer begriffsspaltenden Philologie“ (UdA, 646). Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur allgemeinen „Mechanisierung der Welt“, die Spengler einige Jahre später in seinem ebenfalls häufig aufgelegten Werk über „Mensch und Technik“ beklagt. Diese wenigen Hinweise und Auszüge mögen genügen, um einen ersten Eindruck von den Verbindungen zwischen Kantorowicz’ Formalismus-Narrativ und der Lebensphilosophie als Verfallsgeschichte zu vermitteln. 3.4.2 Kritik des „maschinellen“ Apparats bei Fritz Pringsheim

Eine Wertung der Rechtswissenschaftsgeschichte als Verfallsgeschichte findet sich auch bei Fritz Pringsheim (1882 – 1967), dem Lehrer von Franz Wieacker, auf dessen Formalismus-Narrativ sogleich zurückzukommen ist. In seinem berühmten Aufsatz „Beryt und Bologna“ (1921) bevorzugt Pringsheim, der Kantorowicz’ Epochen der Rechtswissenschaft gut kannte, ebenfalls die frühe klassische römische Jurisprudenz: „In ganz eigenartiger Weise waren hier Theorie und Praxis verschlungen“; „alles war in voller Bewegung“.16 Byzanz und die Justinianische Kodifikation stoßen dagegen auf radikale Ablehnung. Erste Anzeichen eines Niedergangs und Bruchs, der in der byzantinischen Epoche vollendet wurde, seien bereits im Jahre 117, also mit Hadrian sichtbar geworden, als ein „Beamtenkörper nach dem Vorbilde der hellenistischen Monarchien“ gebildet wurde. Es entstand „ein Amtsbetrieb, eine ­Amtsführung“,

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die „festen Regeln gehorcht“ und mit „maschineller Genauigkeit“ arbeitet. Die Folgen für die Juristen sind gravierend. Pringsheim beschreibt sie mit den Worten: Der Apparat verträgt nur farblose Fachmänner. Sie werden erzeugt durch eine juristische Fachschulung. Man hat gesagt, die nachklassischen Juristen seien alle höchst mittelmäßig, obwohl es in dieser Zeit Schulen und Lehrer gäbe. Das Gegenteil ist richtig. Weil die Juristen nichts taugen, muß es Schulen und Lehrer geben.17

Wie bei Kantorowicz oder Spengler findet sich bei Pringsheim also ebenfalls der Antagonismus von Theorie und Praxis, Regel und Fall, Starre und Bewegung, Schul- und Erfahrungswissenschaft, System und Leben, um nur einige Beispiele zu nennen. Die genauere Betrachtung zeigt aber auch Unterschiede, die hier nur kurz angedeutet seien: Pringsheim spitzt die Differenzen zwischen den beiden Denkformen nicht so zu, dass sie als Entweder-Oder auftreten. So existierte im Idealzustand des frühen klassischen römischen Rechts zwar noch keine „Rechtslehre, die theoretisch vorging“. Das heißt aber nicht, dass es in diesem frühen Rechtszustand keine Theorie gegeben hätte: „In ganz eigenartiger Weise waren hier Theorie und Praxis verschlungen.“ Und es gab „Verlaß auf die einmal aufgestellte Regel“. „Regel und billige Anpassung an die Besonderheit des Einzelfalls kämpften miteinander“, standen folglich im Verhältnis einer steten Wechselwirkung.18 Anders als Kantorowicz und später Wieacker hielt es Pringsheim also durchaus für wünschenswert, dass Recht – zumindest innerhalb eines gewissen Rahmens – durch verlässliche Formen vorgegeben wird.

3.5 Wirkungen bis in die Gegenwart? Franz Wieacker und die ‚Materialisierungsthese‘ Die Unterscheidung zwischen formalem und materialem Recht gehört gegenwärtig zu den meistdiskutierten Themen in Theorie, Geschichte und Dogmatik des Privatrechts. Überall bildet die Feststellung von Franz Wieacker (1908 – 1994) den Ausgangspunkt, dass die Rechtsprechung unter der Ägide des Reichsgerichts „die formale Freiheitsethik, die der deutschen Privatrechtsordnung zugrunde lag, in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt“ habe.19 Die Formulierung zeigt: Wieacker, der ­Kantorowicz’

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Typen des wissenschaftlichen Denkens ebenfalls gut kannte, greift nur den ­„Formalismus“, nicht aber den „Finalismus“ auf. Anstelle von „final“ wählt er „material“ – einen Terminus, der in der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, etwa bei Bernhard Windscheid oder Gottlieb Planck, zwar schon anzutreffen ist, wirkliche Prominenz aber erst durch den weltweiten Erfolg der Rechtssoziologie Max Webers erlangte. Max Weber, dessen Unterscheidung zwischen formaler und materialer Rationalität den Gegenstand des nächsten Kapitels bilden wird, bezeichnete das klassische Rechtsmodell in dem Sinne als „formal“, als bei der Rechtsfindung „ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale beobachtet werden“. Dagegen könne unter den Prämissen „materialen“ Rechts auch auf Rechtssätze zurückgegriffen werden, die jenseits von generellen Tatbestandselementen in den Gebieten von Politik oder Ethik ihren Ursprung haben. Wieacker meint nun, die Rechtsprechung habe die formale Freiheitsethik der Historischen Rechtsschule deshalb in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandeln müssen, weil der im 19. Jahrhundert herrschende juristische Formalismus den Bedürfnissen der Praxis nicht habe genügen können. In Übereinstimmung mit Kantorowicz begreift also auch Wieacker den Formalismus als Kampfbegriff, der gegen die Lehren von Savigny und Puchta in Stellung gebracht werden muss: Savignys rechtswissenschaftlicher Positivismus ist „aus dem erkenntniskritischen Formalismus Kants hervorgegangen“ und wäre daher „viel treffender als rechtswissenschaftlicher Formalismus zu bezeichnen“.20 Verleugnung der „gesellschaftlichen Aufgabe“, Missachtung der „sozialen Gerechtigkeit“ und Entfernung vom „Leben“ sind die Merkmale, die Wieacker glaubt, der Historischen Rechtsschule zuschreiben zu müssen. Anliegen der ‚Materialisierungsthese‘ ist es also, diese Mängel zu beseitigen. Aber was folgt daraus für das formale Recht? Soll es gänzlich preisgegeben werden, um das Leben, die Praxis, den konkreten Einzelfall zum Maß aller Dinge zu erklären? Kantorowicz, der, wie angedeutet, eine vollständige Tilgung des juristischen Formalismus anstrebte, hätte diese Konsequenz tatsächlich gezogen. Gilt dies auch für Wieacker? Die Frage muss gestellt werden, weil seine ‚Materialisierungsthese‘ noch immer viele Anhänger hat. 1977 richtete der italienische Rechtshistoriker und Herausgeber der Quaderni Fiorentini Paolo Grossi an Wieacker die Frage, wie er heute zu seiner im Wesentlichen bereits in den 1930er-Jahren ausgearbeiteten Kritik des rechtswissenschaftlichen Formalismus stehe. Zwar würde er inzwischen v­ ieles

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anders sehen, so die Antwort von Wieacker, doch glaube er nach wie vor nicht, dass sich mit Hilfe des formalen Rechts ein „Bollwerk bürgerlicher Freiheiten“ errichten lasse.21 Dies verdient Hervorhebung, weil auch ­Wieackers Geschichtserzählung auf jenen Koordinaten beruht, die Kantorowicz in seinem „genialen Versuch geistesgeschichtlicher Stilcharakteristik“ unterschieden hat:22 Der Formalismus führe vom nachklassischen römischen Recht und der byzantinischen Epoche über Justinians Corpus iuris, die Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter, das Vernunftrecht und die Pandektistik bis zum geltenden Recht. Auch Wieacker glaubt, dass der Wirklichkeit ihre eigene Gerechtigkeit immanent ist und diese in der Entscheidungspraxis des Juristen einen unmittelbaren Ausdruck findet. Vor allem die frühe klassische römische Jurisprudenz habe das Ideal einer solchen, von der Theorie völlig losgelösten Praxis erreicht. Dagegen seien die Systembildungen der Byzantiner, Glossatoren, Vernunftrechtler oder Pandektisten Auswüchse einer beispiellosen Verfallsgeschichte.23 Rechte können durch verlässliche Formen zur Sicherung von Freiheit und Gerechtigkeit nicht vorgegeben werden. Wie Kantorowicz meint also auch Wieacker, das formale Recht sei aufzulösen, weil sich nur im Richterspruch, nur in der Praxis, nur in der Immanenz der Entscheidungssituation die Gerechtigkeit zeige. Das sind die Positionen der freien Rechtsfindung, die, freilich unbewusst, über die ‚Materialisierungsthese‘ noch immer fortleben. Auf das Bild der „Denkmaschine“ hat Wieacker, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich Bezug genommen. In einer frühen Schrift aus dem Jahre 1938 stritt er aber ab, dass der „deutsche Richter“ je ein „Subsumptionsautomat“ gewesen sei.24 Knapp 30 Jahre später kommt Wieacker unter ganz anderen Vorzeichen erneut auf Rechtsmaschinen zu sprechen: Der „Subsumptionsautomat“ verkörpere ein Richterbild, das „entfernt an die programmierten Elektronenrechner der Gegenwart“ erinnere.25 Der Historiker zeigt also Interesse an der noch jungen Disziplin der Rechtsinformatik, das in der Folgezeit durch mehrere Beiträge zur automatischen Entscheidung vertieft wird.26 Im Ergebnis warnt Wieacker vor einer Überschätzung der technologischen Errungenschaften binärer Systeme, weil es „in Rechtsfragen in der Regel keine apodiktischen Wahr-Unwahr-Entscheidungen gibt, sondern auch ‚richtigere‘ und ‚unrichtigere‘ Lösungen“. Hier liege der Grund dafür, warum die unterschiedlichsten Strömungen innerhalb der Rechtswissenschaft den offenen und beweglichen Teilen der Jurisprudenz so große Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Als Beispiele nennt Wieacker das Freirecht, aber, was überraschen

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mag, auch Puchta.27 Offenbar hatte er doch eine Vorstellung davon, wie sehr Puchta über Billigkeit und Interpretation materialen Elementen Einlass in seinen Systementwurf gewährte. Lediglich der Name Savigny fehlt, was angesichts der behaupteten Abhängigkeit von Kants „erkenntniskritischem Formalismus“ nur konsequent erscheint.

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Hermann U. Kantorowicz, Die Epochen der Rechtswissenschaft, in: Die Tat 6 (1914), S. 345 – 361; wieder abgedruckt in: Helmut Coing, Gerhard Immel (Hg.), Hermann Kantorowicz, Rechtshistorische Schriften, Karlsruhe 1970, S. 1 – 14, 14 (Hervorhebung nicht im Original) – im Folgenden zitiert EdR. Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie (1911), in: Thomas Würtenberger (Hg.), Rechtswissenschaft und Soziologie (1962), S. 117 – 144, 125 f.; ders., Was ist uns Savigny?, in: Recht und Wirtschaft 1 (1912), S. 47 – 54, 53 f.; ders., ­Iherings ­Bekehrung, in: Deutsche Richterzeitung 6 (1914), Sp. 84 – 87; Ernst Fuchs, Juristischer Kulturkampf (1912), S. 4; ders., Jhering und die Freirechtsbewegung (1918/19), in: ders., Gerechtigkeitswissenschaft (1965), S. 181 – 191; Eugen Ehrlich, Die juristische Logik, in: AcP 115 (1917), S. 125 – 439, hier zitiert nach der 2. Auflage (1918), S. 135, 295. Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie (Anm. 2), S. 120; Ehrlich, Die juristische Logik (Anm. 2), S. 134 f., 294 f.; Fuchs, Begriffsjurisprudenz (1912), in: Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform, hg. v. Albert S. Foulkes, Bd. 2 (1973), S. 43 – 60, 50 f.(dort u. a. zur Abgrenzung des „Begriffsformalismus“ von einem „Formformalismus“). Ernst Fuchs, Begriffsjurisprudenz (Anm. 3), S. 51. Vgl. z. B. Ernst Fuchs, Jhering und die Freirechtsbewegung (1918/19), in: ders., Gerechtigkeitswissenschaft (Anm. 2), S. 185 – 186. Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906, S. 7. Kantorowicz, Die Epochen der Rechtswissenschaft (EdR). Die Leitbegriffe, denen Kantorowicz die Rechtswissenschaft unterwarf, sind nicht neu. So charakterisierte bereits Windscheid die Rechtswissenschaftsgeschichte als Pendelschlag „zwischen der formalistischen und der auf die Sache sehenden Rechtsanwendung“, Die Voraussetzung (1892), in: Gesammelte Reden und Abhandlungen, hg. v. Paul Oertmann, Leipzig 1904, S. 375 – 409, 408 f. Ähnlich kennzeichnen Savigny (6. Kapitel) oder Leibniz (Meder, Der unbekannte Leibniz, Köln u. a. 2018, S. 87 – 114) die Rechtswissenschaftsgeschichte als Wechselspiel zwischen einer strengeren und einer ­freieren Richtung. Hans-Peter Haferkamp hat jüngst beanstandet, Kantorowicz habe „die Rechtsgeschichte wieder als Sinngeber für die Gegenwart zu nutzen“ versucht: „Rechtsdenken sagt etwas über Rechtsdenken. Über die Rechtswirklichkeit sagt es nichts“, Lernen aus der Rechtsgeschichte? Hermann Kantorowicz und Friedrich Carl von Savigny, in: JZ 74 (2019), S. 901 – 910, 906, 909. Daran ist richtig, dass Kantorowicz mit seinem Formalismus-Narrativ ein schiefes Bild der Rechtsgeschichte gezeichnet hat. Andererseits sind Historiker Kinder ihrer Zeit. Sie treffen eine Auswahl und haben ein bestimmtes Interesse an einem Thema. Wonach sie suchen, was sie fragen oder welche Antworten sie geben, hängt von ihrem Standort in der Gegenwart ab. Dass Kantorowicz darüber Rechenschaft abgelegt hat,

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verdient Anerkennung. Zutreffend Nils Jansen: „Solche Schilderungen [wie es wirklich gewesen war, St.M] vermehren das Wissen über die Vergangenheit, tragen aber ohne Erklärungen nur wenig zum Verständnis historischer Prozesse und sozialer Phänome bei“, Der Gegenstand der Rechtswissenschaft, in: JZ 75 (2020), S. 213 – 223, 219. 8 Beide Zitate aus Kantorowicz, Aus der Vorgeschichte der Freirechtslehre (1925), in: ders., Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, hg. v. Thomas Würtenberger, Karlsruhe 1962, S. 41 – 67, 48, 49. Zu den Zusammenhängen zwischen Werkzeug und Maschine siehe 5. Kapitel bei Anm. 12 und 13. 9 Kantorowicz, Aus der Vorgeschichte der Freirechtslehre (Anm. 8), S. 46, 45. 10 Kantorowicz, Aus der Vorgeschichte der Freirechtslehre (Anm. 8), S. 46. 11 Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie (Anm. 2), S. 127 (Hervorhebungen im Original). Siehe auch Fuchs, Gefühlsjurisprudenz (1912), in: Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform (Anm. 3), S. 61 – 74, 67. Dass ­Kantorowicz die Spannung zwischen Formalismus und Finalismus im Sinne eines EntwederOder begriff und eine Verdrängung des Formalismus zu erreichen suchte, zeigt sich auch in der Annahme, die Rechtsprechung habe den Charakter der Voraussehbarkeit und Gleichmäßigkeit verloren und in der Behauptung, die Ideale der Gesetzlichkeit, Begründetheit, Wissenschaftlichkeit und Rechtssicherheit seien nicht zu erreichen (Kampf um die Rechtswissenschaft, Anm. 6, S. 29 f.). Dem steht nicht entgegen, dass er bisweilen betonte, keine Befreiung der Gerichte von der Bindung an die Gesetze propagieren zu wollen (Rechtswissenschaft und Soziologie, Anm. 2, S. 124 f.). Denn Kantorowicz hielt es nirgendwo für nötig darzulegen, ob und wie das formale Recht gegen die Auswüchse einer totalen Finalisierung (oder Materialisierung) im Falle eines Konflikts Widerstand leisten könnte. Es scheint sich also eher um ein Lippenbekenntnis zu handeln. Ein selbstständiger Charakter kann dieser ‚Bindung‘ gegenüber dem Finalismus jedenfalls nicht beigemessen werden. 12 Näher Meder, Rechtsgeschichte, 6. Auflage, Köln u. a. 2017, S. 415 – 421, 426. Von einem solchen Lagerleben berichtet z. B. der Heidelberger Privatdozent Heinz Hildebrandt im Vorwort einer bisher wenig beachteten Schrift über „Rechtsfindung im neuen deutschen Staate“ (Berlin und Leipzig 1935), die im Anschluss an die Lehren des Freirechts um die „Begriffsjurisprudenz“ kreist. Seinen „obersten Leitgedanken“ fasst der radikale Formalismus-Kritiker und NS-Jurist Hildebrandt wie folgt zusammen: „Nicht der Begriff soll das Leben, sondern das Leben den Begriff bestimmen“ (S. 93 – Hervorhebung im Original). Es ist also das „Leben“, in dessen Zeichen die überkommene Rechtsordnung gesprengt und eine „unbegrenzte Auslegung“ (Bernd Rüthers, 1968) gerechtfertigt werden soll. Dieser Befund darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auslegung in der NS-Jurisprudenz auch stark ‚begrenzt‘ bzw. auf Null reduziert war, und zwar durch den Führerwillen, wie

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auch Hildebrandt hervorhebt. In Wahrheit müsste der „oberste Leitgedanke“ lauten: ‚Nicht der Begriff soll den Führerwillen, sondern der Führerwille soll den Begriff bestimmen.‘ Einer solchen Formel hätten die Freirechtler mit ihren eher „linken“, gegen das juristische Establishment gerichteten politischen Überzeugungen natürlich niemals beipflichten können. Der Terminus „unbegrenzte Auslegung“ erfasst also nur einen Teilaspekt und eignet sich kaum zur Bestimmung dessen, was die NS-Jurisprudenz ausmachen soll (für Diskussionen und Hinweise, nicht zuletzt auf die Monographie von Hildebrandt, danke ich Andrea Czelk). Rechtsgeschichte (Anm. 12), S. 55 – 72. Otto Gerhard Oexle, „Wirklichkeit“ – „Krise der Wirklichkeit“ – „Neue Wirklichkeit“. Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933, in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Die Rolle der Geisteswissen­ schaften im Dritten Reich 1933 – 1945, München 2002, 1 – 20 (siehe auch den ­„obersten Leitgedanken“ in Anm. 12). Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1917), Neubearbeitung 1922, Beck’sche Sonderausgabe, München 1981, S. 649 – 655, 650 – im Folgenden zitiert UdA, Hervorhebungen jeweils im Original); dazu näher: Lutz Martin Keppeler, Oswald Spengler und die Jurisprudenz, Tübingen 2014 (z. B. S. 86). Pringsheim differenziert zwischen einer „gelehrten Jurisprudenz“ und einer „praktischen Richtung“: „Die Unterscheidung berührt sich mit der zwischen formalis­ tischen und finalistischen Richtungen bei Kantorowicz, Die Epochen der Rechtswissenschaft“, Beryt und Bologna (1921), in: ders., Gesammelte Abhandlungen Bd. I, Heidelberg 1961, S. 391 – 449, 392. Zur Vorbildlichkeit der römischen Juristen und ihrem „Verstummen“: Höhe und Ende der römischen Jurisprudenz (1933), in: ders., Gesammelte Abhandlungen I (a. a. O.), S. 53 – 62, 55, 61. Siehe Viktor Winkler, Der Kampf gegen die Rechtswissenschaft, Hamburg 2014, S. 90. Zitate aus Pringsheim, Höhe und Ende der römischen Jurisprudenz (Anm. 16), S. 56 (Einsetzen des Verfalls schon mit Hadrian), 59 (Bürokratie als Maschine). Zu dem durch Byzanz und die Justinianische Kodifikation verursachten Niedergang: Pringsheim, Die archaistische Tendenz Justinians (1929), in: ders., Gesammelte Abhandlungen Bd.  II, Heidelberg 1961, S. 9 – 40, 10 („die Sehnsucht nach der Einfachheit und Primitivität der frühen Zeiten“ als das „Kennzeichen des sich vollendenden Verfalles“). Zitate aus Pringsheim, Höhe und Ende der römischen Jurisprudenz (Anm. 16), S. 55. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1953), in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung (1974), S. 9 – 35, 24. Zur aktuellen Diskussion siehe die Nachweise bei Claus-Wilhelm Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, in: AcP 200 (2000), S. 273 – 364; Gerhard

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Wagner, Materialisierung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht, in: Uwe Blaurock, Günter Hager (Hg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert (2010), S. 13 – 84; Günter Hager, Strukturen des Privatrechts in Europa (2012), S. 3 – 23; Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne (2014). Kantorowicz’ Formalismus-Narrativ mit seiner Einteilung der Denkformen hielt Wieacker für einen „genialen Versuch geistesgeschichtlicher Stilcharakteristik“, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage, Göttingen 1967, S. 20 (bei Note 19). Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (Anm. 19), S. 432. Wieacker, ‚Wandlungen der Eigentumsverfassung‘ revisited, in: Quaderni Fiorentini 5 – 6: Itinerari moderni della proprietá, Tomo II (1976 – 77), S. 841 – 859, 841 – 843. Zu dieser Einschätzung auch Okko Behrends, Nachruf Wieacker, in: SZ (RA) 112 (1995), S. XIII – LXII, XXXVII, XXX. So die erwähnte Formulierung von Wieacker in der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (Anm. 19), S. 20 (nur am Rande sei bemerkt, dass Kantorowicz den Epochen­ aufsatz im Rückblick selbst für sein wichtigstes Werk gehalten hat). Nachweise bei Meder, Franz Wieackers „Wandlungen im Bilde der historischen Rechtsschule“ neu gelesen: Ein schiefes Bild der Rechtsgeschichte?, in: FS Albert Janssen (im Erscheinen). Dazu näher Okko Behrends, Nachruf Wieacker (Anm. 21), S. XIII –LXII . Siehe auch Winkler, Der Kampf gegen die Rechtswissenschaft (Anm. 16), S. 370 – 377. Wieacker, Richtermacht und privates Rechtsverhältnis. Eine Übersicht zum Stand der Problematik im Privatrecht, in: AöR 68 (1938), S. 1 – 39, 2. Im Hintergrund steht offenbar Wieackers Wertschätzung der „deutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, vgl. Rechtsgewinnung durch elektronische Datenverarbeitung, in: FS Ernst v. Caemmerer, Tübingen 1978, S. 45 – 71, 60 sowie S. 50 (für Diskussionen und Hinweise auf diesen Beitrag danke ich Wolfgang Kilian). Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (Anm. 19), S. 436. Z. B. Recht und Automation, in: FS Eduard Bötticher, Berlin 1969, S. 383 – 404; Rechtsgewinnung durch elektronische Datenverarbeitung (Anm. 24). Zu den Anfängen der Rechtsinformatik siehe auch Kapitel 8.1. Wieacker, Recht und Automation (Anm. 26), S. 400. Der Umstand, dass eine Rechtsmaschine einen hohen Grad an „Schematisierung“, dass ihre Programmierung „die Festlegung auf binäre Entscheidungsmuster nach einer finiten Menge eindeutig festgelegter starrer Kriterien“ erfordert, wird auch in der aktuellen Literatur noch als Problem gesehen, vgl. nur Frederik von Harbou, Abschied vom Einzelfall? – Perspektiven der Digitalisierung von Verwaltungsverfahren, in: JZ 75 (2020), S. 340 – 348, 346 (dazu näher im 8. und im 9. Kapitel).

4 Max Weber: „Die Verwandlung des Richters in einen Paragraphen- und Präjudizienautomaten“ Max Weber (1864 – 1920) wird in der Wissenschaft vornehmlich als Soziologe und Nationalökonom, kaum aber als Jurist oder gar als Rechtshistoriker wahrgenommen. In seinem Werk finden sich facettenreiche Überlegungen zur Formalisierung der Rechtsanwendung, die auf bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Kantorowicz’ „Epochen der Rechtswissenschaft“ schließen lassen. In einer bislang kaum beachteten, in der Entstehungsphase des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB ) über „Römisches und deutsches Recht“ (1895) publizierten Studie sieht Weber die „zunehmende ausschließlich formale Denkfähigkeit der Juristen“ als Problem. Der Rechtsformalismus würde zwar „unentbehrliche Fortschritte“ enthalten, hätte aber auch zu einer Entfremdung von der Gesellschaft geführt. Die Folge sei, dass das Privatrecht keine „unmittelbar fühlbare Bedeutung“ für den Einzelnen mehr habe. Die Auswüchse von Formalismus und Rationalismus hätten die Rechtspflege in eine Situation gebracht, bei der die Notwendigkeit, daß Menschen und nicht Maschinen auf dem Richterstuhl sitzen, eigentlich nur als bedauerliche Unvollkommenheit erscheint. Das Ideal dieser Auffassung wäre die Verwandlung des Richters in einen Paragraphen- und Präjudizienautomaten, in den man oben den Thatbestand und die Kosten wirft, auf daß er unten das Urteil nebst Gründen ausspeie.1

Aus Sicht der Gerichte sei nichts bedenklicher, „als wenn sie in die Lage kommen, vom sozialpolitischen oder sozialethischen Standpunkte die ­Erscheinungen bewerten zu müssen“. Denn der „breiten Durchschnittsmasse der heutigen Juristen“ würden die Voraussetzungen „zur Ausfüllung einer größeren und würdigeren Rolle“ fehlen. Und in seiner knapp zehn Jahre später (1914) verfassten, posthum (1922) publizierten „Rechtssoziologie“ stellt Weber noch einmal die Frage: Was geschieht, wenn man dem Richter „den Glauben an die Heiligkeit des rein sachlichen Rechtsformalismus nimmt und ihn statt dessen darauf verweist, zu werten“?2

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Max Weber: „Die Verwandlung des Richters in einen Paragraphen- und Präjudizienautomaten“

Das moderne Recht ist offenbar in eine ‚Krise‘ geraten, die in einem übersteigerten Formalismus und Rationalismus zu Tage tritt. Vor diesem Hintergrund kann der Wunsch, dass in Zukunft Maschinen und nicht mehr Menschen „auf dem Richterstuhl sitzen“, nur konsequent erscheinen. Nun gibt es aber auch eine Kehrseite der Medaille, nämlich die radikale Forderung nach einer völligen Auflösung des Rechtsformalismus: Sollten nicht besser Laien „auf dem Richterstuhl sitzen“? Verstellen die abstrakten Allgemeinbegriffe, das System, die Logik, Wissenschaft und universitäre Ausbildung nicht den Blick auf das, worauf es eigentlich ankommt: auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und die soziale Gerechtigkeit – auf die Realität und das Leben? Derartige Fragen beginnen die Protagonisten antiformaler Strömungen nach der Wende zum 20. Jahrhundert mit immer größerem Nachdruck aufzuwerfen. Warum der Antiformalismus in so kurzer Zeit eine rasch wachsende Schar von Anhängern gewinnen konnte, versucht Weber mit den Worten zu erklären: Die Situation des an die bloße Interpretation von Paragraphen und Kontrakten gebundenen Rechtsautomaten, in welchen man oben den Tatbestand nebst der Kosten einwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den Gründen ausspeie, erscheint den modernen Rechtspraktikern subaltern und wird gerade mit Universalisierung des kodifizierten formalen Gesetzesrechts immer peinlicher empfunden. Sie beanspruchen „schöpferische“ Rechtstätigkeit für den Richter.3

Die Antiformalisten haben also den Richterkönig zum Leitbild erkoren. Den immer deutlicher vernehmbaren Ruf nach einer „schöpferischen“ Jurisprudenz deutet Weber als Folge eines übersteigerten Formalismus und Rationalismus, als Reaktion auf die „stetige Zunahme des formulierten Gesetzesrechts und namentlich der systematischen Kodifikationen“. Nicht zuletzt also im Schatten des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs fühlen sich „die akademischen Juristen“ in „ihrer Bedeutung und auch in den Chancen der Bewegungsfreiheit des wissenschaftlichen Denkens empfindlich bedroht“ (WuG, 509). Weber spielt hier sowohl auf das Jahr 1900 als auch auf die Tatsache an, dass die Juristen das staatliche Gesetz gleich nach seinem Inkrafttreten in erstaunlichem Umfang „teils praeter, teils sogar contra legem“ ergänzten, korrigierten und ­modifizierten. Bereits 1905 hatte das Reichsgericht den folgenreichen Satz ausgesprochen, dass eine Entscheidung im Bereich des bürgerlichen Rechts nicht in jedem Fall von den Paragraphen des BGB aus gewonnen werden müsse.4 Die „freirechtliche Doktrin“ glaubt daher den Nachweis erbringen zu können,

Wie weit reichen die Gemeinsamkeiten mit Kantorowicz’ Formalismus-Narrativ?

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daß dies Versagen das prinzipielle Schicksal aller Gesetze gegenüber der Irrationalität der Tatsachen, daß also in zahlreichen Fällen die Anwendung der bloßen Interpretation nur Schein sei und die Entscheidung nach konkreten Wertabwägungen, nicht nach formalen Normen, erfolge und erfolgen müsse (WuG, 507).

Die schöpferische Tätigkeit des Reichsgerichts beweist also einmal mehr: Rechtsprechung kann durch vorgegebene Normen nicht determiniert werden. Sie ist freie Rechtsfindung, was zugleich auf eine Überlegenheit des englischen Rechts mit seinen Präjudizien schließen lässt. Angesichts der Einseitigkeiten des Formalismus will Weber diesen Thesen des Freirechts eine gewisse Plausiblität keineswegs absprechen. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch pendele bisweilen zu stark in Richtung Formalismus: Den von den Gesetzesverfassern aus der Antike übernommenen Satz „Kauf bricht Miete“ nennt Weber als Beispiel für „eine rein logische Konsequenzmacherei“ (WuG, 459). Andererseits würden die Freirechtler den Bogen in die andere Richtung überspannen. Ihnen fehle das historische Verständnis für die Ergänzungen und Korrekturen des Reichsgerichts, die lediglich als das Symptom einer vorübergehenden Anpassung der Juristen an die Zwänge des ius scriptum zu begreifen seien. Weber hat die Freirechtsbewegung nirgendwo direkt kritisiert. Er bescheinigte ihr sogar, dass sie „heute zweifellos die besten Köpfe“ anzieht, und setzte sich dafür ein, dass Hermann Kantorowicz auf dem Ersten Deutschen Soziologentag (1910) als Redner auftreten konnte.5 Zwischen den Extremen von Rechtsautomat und Richterkönigtum lässt sich seine Kritik am Freirecht jedoch ziemlich klar rekonstruieren.

4.1 Wie weit reichen die Gemeinsamkeiten mit Kantorowicz’ Formalismus-Narrativ? Auf den ersten Blick scheint eine enge Verwandtschaft zwischen Kantorowicz’ „Epochen der Rechtswissenschaft“ und jener zeitgleich entstandenen Wissenschaftsgeschichte zu bestehen, die Weber in seiner „Rechtssoziologie“ formuliert. Weber unterscheidet ebenfalls zwei gegensätzliche Typen des Rechtsdenkens, den praktischen und den theoretischen Typ. Ein „ziemlich reiner Typus“ der praktischen Art sei die zunftmäßige Rechtslehre in England – ein empirischer Betrieb, der weder Subsumtion noch Syllogismus kenne. Dieser Typ schließe „immer vom einzelnen auf das einzelne“ und strebe nie nach

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„­ allgemeinen Sätzen, um dann aus diesen die Einzelentscheidungen deduzieren zu können“: Eine „rationale Rechtsschulung oder Rechtstheorie aber entsteht aus diesem Zustand heraus an sich überhaupt nicht“. Der zweite Typus des Rechtsdenkens, der theoretische, kreise um „Allgemeinbegriffe“. Sie werden „durch Abstraktion vom Anschaulichen, durch logische Sinndeutung, durch Generalisierung und Subsumtion gebildet und syllogistisch als Normen angewendet“.6 Eine Parallele mit Kantorowicz besteht also auch darin, dass Weber die Gegensätze mit ihren jeweiligen sozialen Trägern verknüpft, indem er die Ausbildung von Praktikern der akademischen Lehre gegenüberstellt. Im universitären Unterricht sieht Weber die Keimzelle eines jeden rationalen Rechtssystems, und mit der Rezeption des römischen Rechts sei diese Art des Rechtsdenkens über die Glossatoren und Kommentatoren bis in die Gegenwart fortgetragen worden. Wie Kantorowicz ist auch Weber der Meinung: Die Weichen wurden in Byzanz gestellt. Die dort gepflegte Schulwissenschaft habe Wirkungen entfaltet, die, jedenfalls auf dem Kontinent, bis heute spürbar seien. Wörtlich heißt es in der Rechtssoziologie: Dem römischen Recht fehlte bis in die Kaiserzeit nicht nur der synthetisch-konstruktive, sondern auch der rational-systematische Charakter weit mehr, als dies zuweilen angenommen wird. Die Systematik hat dem praktischen geltenden Recht erst die byzantinische Bürokratie verliehen, welche dagegen in Bezug auf formale Strenge des juristischen Denkens außerordentlich weit hinter den Leistungen der Rechtskonsulenten der republikanischen und der Prinzipatszeit zurückstand (WuG, 464 f.).

Ungeachtet aller Gemeinsamkeiten lässt diese Aussage freilich einen ersten Unterschied erkennen: Kantorowicz sieht den Vorzug der (frühen) klassischen römischen Jurisprudenz in der Freiheit der Rechtsfindung – im Finalismus, der jeder ‚formalen Strenge‘ entgegenwirkt und sie am Ende aufzulösen sucht. Weber erblickt in der „formalen Strenge“ indessen eine besondere Leistung der klassischen Jurisprudenz, eine der „welthistorisch wichtigsten Qualitäten des römischen Rechts“ (WuG, 463). Wie ist dieser Gegensatz zu erklären? Zunächst sei an Kantorowicz’ Warnung vor einer Überschätzung der Terminologie erinnert: Zur Umschreibung des Formalismus eigne sich auch der Begriff des „Rationalismus“. Formalismus und Rationalismus bedeuten bei ­Kantorowicz also in etwa das Gleiche, beide haben einen negativen Beigeschmack. Aus Sicht von Weber soll der Typus formalen Rechtsdenkens dagegen gerade der Motor für eine Rationalisierung, für eine ­„Berechenbarkeit“ des Rechts als

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­ ennzeichen moderner Kultur sein. Während Weber also im „Formalismus“ K ein unverzichtbares Merkmal rechtlichen Fortschritts erblickt, kommt er ohne den Begriff „Finalismus“ aus. Doch fußt auch seine Geschichtserzählung auf einer Grundspannung: Der Sache nach kennt sie ebenfalls eine ‚finale‘ Seite, die Weber mit Attributen wie unformal, material, ethisch, politisch, utilitaristisch oder irrational kennzeichnet. Er beschreibt, und so viel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, die Spannung zwischen formalem und materialem (finalem) Recht aber anders als Kantorowicz. Max Weber hat sich selbst als Romanist und im römischen Recht die „Grundlage“ einer jeden „juristischen Bildung“ gesehen.7 Dass sein Konzept rechtlicher Rationalisierung auf einer speziellen Geschichtserzählung fußt, ist in der Wissenschaft bislang kaum beachtet worden. Webers Sicht auf die historischen Zusammenhänge darf mit Kantorowicz’ Epochen der Rechtswissenschaft nicht verwechselt werden. Bevor darauf zurückzukommen ist, sei seine Idee rationaler Rechtsfindung kurz vorgestellt.

4.2 Webers Konzept rechtlicher Rationalisierung „Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können entweder rational oder irrational sein. Irrational sind sie formell dann, wenn für die Ordnung von Rechtsschöpfung und Rechtsfindungsproblemen andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel angewendet werden, z. B. die Einholung von Orakeln oder deren Surrogaten. Materiell sind sie irrational insoweit, als ganz konkrete Wertungen des Einzelfalls, seien sie ethische oder gefühlsmäßige oder politische, für die Entscheidung maßgebend sind, nicht aber generelle Normen. ‚Rationale‘ Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können wieder in formeller oder in materieller Hinsicht rational sein.“ Formal rational ist ein Recht insoweit, „als ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale materiell-rechtlich und prozessual beachtet werden“. Materiell rational dagegen ist ein Recht insoweit, als Normen anderer qualitativer Dignität als logische Generalisierungen von abstrakten Sinndeutungen auf die Entscheidung von Rechtsproblemen Einfluß haben sollen: ethische Imperative oder utilitaristische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder politische Maximen, welche sowohl den Formalismus des äußeren Merkmals wie denjenigen der logischen Abstraktion durchbrechen (WuG, 396).

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Max Weber: „Die Verwandlung des Richters in einen Paragraphen- und Präjudizienautomaten“

Diese Stelle ist oft interpretiert und ebenso häufig missverstanden worden.8 Hier liegt nicht nur der Schlüssel zum Verständnis von Webers Theorie der juristischen Entscheidung, sondern auch der Kern seines Rechtsbegriffs. Die meisten Autoren glauben, Webers Typologie auf einer Vier-Felder-Tafel mit den beiden Gegensatzpaaren rational-irrational und formell-materiell abbilden zu können. Genau genommen umfasst die Typologie aber sechs Felder. Hinzu kommt noch das Gegensatzpaar formal-material, das mit der Differenz von formell-materiell nicht identisch ist. Dies wird leicht übersehen, weil Weber die Begriffe formell-materiell und formal-material nicht immer konsequent handhabt: Formell bezieht sich auf das Verfahren, materiell auf die inhaltliche Seite des Rechts, und zwar so, wie wir noch heute zwischen Zivilprozess und bürgerlichem Recht, Strafprozess und Strafrecht unterscheiden. Formale Qualitäten besitzt ein Recht, wenn es auf „eindeutigen generellen Tatbestandsmerkmalen“ beruht. Material ist ein Recht dagegen, das „Normen anderer qualitativer Dignität“ enthält. Dazu gehören namentlich „ethische Imperative“ oder „politische Maximen“, die sowohl „den Formalismus des äußeren Merkmals wie denjenigen der logischen Abstraktion durchbrechen“. Von den sechs Feldern interessieren hier vor allem die Begriffspaare formal-material und rational-irrational. Denn sie versprechen näheren Aufschluss über Webers Verständnis des Rechtsautomaten, seine Erzählung der Rechtswissenschaftsgeschichte, sein Verhältnis zum Freirecht und zur Germanistik. In der Forschung herrscht die Auffassung, Weber sei ein Anhänger des rechtswissenschaftlichen Formalismus und der „Begriffsjurisprudenz“ gewesen. Daran ist richtig, dass er in der ungebremsten Materialisierung des Rechts keine Option für die Moderne erblickte, und die lange Herrschaft der Historischen Rechtsschule als das Niveau einer Wissenschaft würdigte, das „in keinem anderen Lande auch nur annähernd“ erreicht worden sei.9 Andererseits hat er, wie bereits angedeutet, immer wieder vor den negativen Begleiterscheinungen eines überzogenen Formalismus gewarnt. Daher gibt es auch Autoren, die glauben, seine Rechtssoziologie in die Nähe des Freirechts rücken zu müssen. Keine dieser Einordnungen trifft zu. Denn sowohl das formale als auch das materiale Element sind absolute Typen, die für sich genommen jeweils einen eingliedrigen Rechtsbegriff darstellen. Webers Rationalisierungskonzept fußt dagegen auf dem Gedanken, dass der Rechtsbegriff nicht nur formale oder strenge, sondern auch materiale und damit unstrenge Elemente enthält. Prinzipiell kann nämlich nicht nur formales, sondern auch materiales Recht den Anforderungen der Rationalität genügen. Webers Idee

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der Rationalisierung beruht damit auf einem zweigliedrigen Rechtsbegriff, der neben dem strengen Recht (ius strictum) auch ethische Elemente, etwa in Form der Billigkeit (aequitas) berücksichtigen kann. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei noch hinzugefügt, dass die unstrengen Elemente nicht außerhalb des Rechts liegen, sondern Teil des Rechts sind. Genau genommen transformieren sich die „ethischen Imperative“, sobald sie in das Recht aufgenommen werden, in ‚Rechtsethik‘.10 Bei Weber gewinnt die „Formalisierung“ also eine doppelte Bedeutung. Sie erscheint einerseits als untrügliches Kennzeichen des Rechtsfortschritts, andererseits als Gefahr: Der Formalismus kann leicht in Irrationalismus umschlagen, wenn er Ethik, Politik oder Utilität aus der Rechtsanwendung möglichst auszuklammern sucht. Gerade an diesem Punkt entfaltet die Metapher vom Entscheidungsautomaten ihre eigentliche Bedeutung: Die Subsumtionsmaschine steht für einen eingliedrigen Rechtsbegriff, der idealiter Recht und Moral in einer Weise trennt, dass „Wertungen“, also ethische Imperative, utilitas oder politische Maximen aus der Rechtsfindung von vorneherein ausgeschlossen bleiben müssen. Auch von dieser Seite zeigt sich also, dass die materialen Elemente ein unverzichtbarer Teil von Webers Konzept rechtlicher Rationalisierung sind.

4.3 Die Beziehungen zwischen formal rationalem und material rationalem Recht In welchem Verhältnis stehen nun das formal rationale und das material rationale Recht? Den Ausgangspunkt bildet für Weber die Überlegung, dass „die rein fachjuristische Logik“, die sogenannte „juristische ‚Konstruktion‘“ mit den Erwartungen der Öffentlichkeit nur schwer vereinbar ist.11 Die Definition des „Elektrizitätsdiebstahls“, die ein Laie „niemals“ wird verstehen können, dient ihm als Beispiel dafür, dass der Protest der Interessenten gegen das juristische Fachdenken „immer erneut“ entstehen wird. Weber sieht ein strukturelles Problem, wenn er sagt, dass ein Juristenrecht ohne gänzlichen Verzicht auf den „ihm selbst immanenten formalen Charakter“ mit den Erwartungen der Öffentlichkeit „niemals völlig zur Deckung“ gebracht werden kann: „das heute in dieser Hinsicht bei uns oft glorifizierte englische, so wenig wie das altrömische Juristenrecht wie die modernen kontinentalen juristischen Denkgepflogenheiten“. Dieser seit jeher bestehende Konflikt zwischen formaler und materialer

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Rationalität sei von jüngeren materialen Forderungen zu ­unterscheiden, die als Folge des „Erwachens moderner Klassenprobleme“ zu begreifen sind. Sie werden teils von der „Arbeiterschaft“, teils von „Rechtsideologen“ auf Grundlage „pathetischer sittlicher Postulate“ an das Recht ­herangetragen. Genau genommen handele es sich um „antiformale Normen“, die nicht „juristischen“, sondern „rein ethischen Charakter haben: materiale Gerechtigkeit statt formaler Legalität beanspruchen“. Das Neue an diesen ‚Materialisierungen‘ sieht Weber darin, dass sie jegliche Beziehung mit dem formalen Recht aufkündigen, den Formalismus also „grundsätzlich in Frage“ stellen.12 Von diesem Befund aus zieht Weber eine Linie zu den „internen Standesideologen der Rechtspraktiker“ und namentlich den Anhängern der „freirechtlichen Doktrin“, die im Prinzip jede Art des Formalismus mit dem „Rechtsautomaten“ identifizieren und dabei glauben, eine „unformale“ Rechtsfindung selbst dann zulassen zu müssen, wenn sie in Irrationalität umschlägt. Hinzu komme die Neigung, die „Überlegenheit der Präjudizien“ gegenüber der „rationalen Satzung objektiver Normen“ zu behaupten. Dieser „Vorliebe“ für das englische Recht trete aber wiederum der Anspruch entgegen, „daß auch die Präjudizien […] nicht über den Einzelfall hinaus bindend sein dürften“.13 Ja, Weber hat Recht: Die Präjudizien besitzen ihren eigenen Formalismus und können für die Antiformalisten keine Lösung sein. Vielen Freunden des „bei uns oft glorifizierten“ englischen Rechts geht es also gar nicht um die Vorzüge der Präjudizien, sondern um die vollständige Tilgung formalen Rechts. Die Perspektiven in Richtung einer Verselbstständigung des materialen Rechts kommentiert Weber ebenso trocken wie despektierlich mit dem Ausdruck „Wertirrationalismus“. Zu den Konsequenzen dieses Irrationalismus gehöre, dass dem Gegenextrem Vorschub geleistet werde, wonach das Recht als „bloße ‚Technik‘“ und der Richter als Maschine, als „Paragraphen-Automat“ qualifiziert werde. Die vom Freirecht propagierten „Materialisierungen“ haben mit dem rechtswissenschaftlichen Formalismus also eine Gemeinsamkeit: Beide Richtungen fußen auf einem eingliedrigen Rechtsbegriff. Das formale Recht tilgt das Leben, das materiale Recht die Form. Dagegen will Weber mit seinem Rechtsbegriff sowohl der Form als auch dem Leben Genüge leisten. So meint er, auch das formale Recht beruhe meist auf Wertungen, die unmittelbar der Gesellschaft entsprungen sind. Wer dem Richter abverlange, seine wirk­lichen Entscheidungsmotive umfassend darzustellen, würde die juristische mit einer soziologischen Kritik vermengen. Die ‚wirklichen‘ Motive seien dem

Exkurs: Warum Max Weber kein ‚Begriffsjurist‘ war

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­ ichter oft selbst unbekannt, und wenn er sie kennen würde, müsse das nicht R bedeuten, dass er sich damit auch professionell auseinandersetzen könnte. Die juristische Methode biete ihm hierfür jedenfalls keine Anhaltspunkte. Andererseits hat Weber schon in seiner Dissertation über die „Handelsgesellschaften“ (1889) der juristischen Literatur einen Mangel an „wirtschaftlicher oder gar sozialer Theorie“ vorgeworfen und deren Wertungen dafür kritisiert, nur das „Ergebnis abstrakter Konstruktion“ zu sein.14 Auch in seiner Habilitationsschrift über die „Römische Agrargeschichte“ (1891) geht es ihm darum, das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit oder, in seinen eigenen Worten: das Recht in seiner „praktischen Bedeutung für die Entwicklung der agrarischen Verhältnisse“ zu erörtern.15 Als Vorbild für eine gelungene Verbindung von Theorie und Praxis dient ihm das Handels- und Wechselrecht. In diesen Gebieten herrsche der Wunsch, „den Formalitäten der normalen Rechtsprozeduren zu entgehen im Interesse einer dem konkreten Fall angepassteren und schleunigeren Rechtspflege“ (WuG, 504). Der „sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung“ müsse durch eine praktische Angepasstheit des Rechts vorgebeugt werden. Andernfalls bliebe nur die „Flucht in das Irrationale“, vergleichbar mit einer durch esoterische Strömungen bewirkten „Irrationalisierung des Religiösen“ (WuG, 509). Von hier aus schließt sich der Kreis zur Sechs-Felder-Tafel: Theorie und Praxis gehören zusammen. Webers Konzept rechtlicher Rationalisierung enthält nicht nur formale, sondern auch materiale Elemente.

4.4 Exkurs: Warum Max Weber kein ‚Begriffsjurist‘ war Wer die Kernelemente von Max Webers Soziologie mit wenigen Worten zusammenfassen wollte, wird zuerst an Begriffe wie Berechenbarkeit, Rationalität, Formalisierung und Entzauberung denken. „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung der modernen Gesellschaft“ habe zur Konsequenz, dass es „prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das“.16

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Die Entzauberung erscheint danach als Folge von Berechenbarkeit und Rationalisierung, die wiederum auf technische Mittel, auf Formalisierung und Expertenwissen angewiesen sind. Zu den Gebieten, die am frühesten dem Alltagsverstand entzogen und durch das „Fachmenschentum“ monopolisiert wurden, gehört das Recht. Seine Funktion besteht vor allem darin, Berechenbarkeit, und zwar unter einem doppelten Gesichtspunkt zu garantieren: Einmal durch eine Vorhersehbarkeit juristischer Entscheidungen und zweitens ihre Durchsetzung mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols. Weber verbindet also die Berechenbarkeit als Merkmal des modernen Rechts mit der Notwendigkeit einer verlässlichen Zwangsgewalt: „Die moderne Verkehrsgeschwindigkeit“ fordere „ein promt und sicher funktionierendes, d. h.: ein durch die stärkere Zwangsgewalt garantiertes Recht […]. Die universelle Herrschaft der Marktvergesellschaftung verlangt […] ein nach rationalen Regeln kalkulierbares Funktionieren des Rechts“.17 Berechenbarkeit ist also das Kennzeichen und Schicksal der modernen Kultur. In einer seiner raren Äußerungen zur künftigen Entwicklung der Menschheit hat Weber hervorgehoben, dass namentlich das Recht dieses Schicksal ereilen wird. „Unter allen Umständen ist als Konsequenz der technischen und ökonomischen Entwicklung“ die Fachmäßigkeit des Rechts und die zunehmende Wertung des jeweils geltenden Rechts als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats sein unvermeidliches Schicksal. Dieses Schicksal kann durch die aus allgemeinen Gründen vielfach zunehmende Fügsamkeit in das einmal bestehende Recht zwar verschleiert, nicht aber wirklich von ihm abgewendet werden.18

Diesem „jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparat“ schreibt Weber nun einen „rational-systematischen Charakter“ zu. Durch „Analyse gewonnene Rechtssätze“ werden in einer Weise systematisiert, dass sie „untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Tatbestände unter einer seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können“.19 Das Wort „logisch“ kommt in dieser Formulierung gleich dreimal vor. Erinnert sei nur an die Rechtskritik von Jhering, der bezweifelte, dass es möglich sei, „alle denkbaren Thatbestände“ vorauszusehen, um darunter subsumieren zu können. Überhaupt

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rekurriert Weber mit solchen und ähnlichen Aussagen auf eine Terminologie, die gewöhnlich einen ‚Begriffsjuristen‘ auszeichnet. Schwebt ihm ein System­begriff vor, welcher so eng gefasst ist, dass der Rechtsanwender wie ein Automat oder vermeintlicher Begriffsjurist eine Entscheidung ohne aktives Zutun treffen muss? Abgesehen vom Konzept materialer Rationalität spricht dagegen, dass die Formulierung „prinzipiell lückenlos“ auch auf Ausnahmen, auf ethische Imperative oder politische Maximen schließen lässt, für deren Aufnahme sich das System offen zeigt. Weber selbst hat sich nicht dazu geäußert, ob und inwieweit die Pandektenwissenschaft, also etwa Savigny, Puchta oder der frühe Jhering, ihm als Vorbild für sein Konzept rechtlicher Rationalisierung dienten. In der Wissenschaft sind daher, insbesondere von Soziologen, Versuche unternommen worden, Systementwürfe der Pandektistik einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, um festzustellen, ob sie ein Maß an Formalismus erreichten, das Übereinstimmungen mit Webers Konzept rechtlicher Rationalisierung erkennen lässt.20 Soziologische Interpreten pflegen vor allem die strengrechtlichen Elemente der Pandektenwissenschaft ins Auge zu fassen, was angesichts der Diskussionen über Webers Abhängigkeit von der Begriffsjurisprudenz nicht überraschen kann. Es müssen aber auch ihre beweglichen Teile berücksichtigt werden, die ethischen Imperativen, utilitaristischen Zweckmäßigkeitsregeln oder politischen Maximen erhebliche Spielräume gewähren. Die Zweigliedrigkeit des Rechtsbegriffs bildet den Schlüssel zum Verständnis der Verbindungen zwischen Max Webers Konzept rechtlicher Rationalisierung und der Pandektenwissenschaft, wovon das sechste Kapitel handeln wird. Ansonsten ist in der Tat anzunehmen, dass Weber den Lehren des romanistischen Zweigs der Historischen Rechtsschule nahestand. Aus seinen Einwänden gegenüber dem Freirecht oder der Germanistik kann nicht gefolgert werden, er habe den ‚Begriffsjuristen‘ oder Subsumtionsautomaten postulieren wollen. Denn Savigny oder Puchta sind ja, wie noch auszuführen ist, ebenfalls als scharfe Kritiker einer maschinenmäßigen Rechtsanwendung aufgetreten und es darf vermutet werden, dass der Romanist Weber die beweglichen Teile ihrer Systementwürfe kannte. Die Parallele mit der Pandektenwissenschaft besteht nicht in einem bestimmten Grad an Formalismus, sondern darin, dass diese nach dem Vorbild der klassischen römischen Jurisprudenz sowohl den Ansprüchen der formalen als auch der materialen Rationalität zu entsprechen suchte. Das Recht besitzt also nur eine relative Autonomie, es hat nicht nur einen offenen Anfang, sondern auch ein offenes Ende.

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4.5 Resümee Webers Konzept rechtlicher Rationalisierung fußt auf einem zweigliedrigen Rechtsbegriff, der sowohl formale als auch unformale Elemente umfasst. Die beiden Elemente stehen seit jeher in einem Konflikt, der struktureller Art ist und sich daher niemals gänzlich auflösen lässt. Eine Verselbstständigung oder Isolierung eines der Elemente lehnt Weber ab. Für die Einseitigkeit ungebremster Formalisierung steht die Metapher des Rechtsautomaten, während eine lediglich materiale Rechtsordnung in eine Art des Irrationalismus führt, der mit den Makeln der politischen Willkür und Kadijustiz behaftet wäre. Anders als bei Kantorowicz können die finalen oder materialen Elemente bei Weber also durchaus in Misskredit geraten: Wo jegliche Verbindung mit dem Formalismus abreißt, wird dem Irrationalismus Tür und Tor geöffnet. An diesem Punkt scheiden sich auch die Wege mit den Germanisten: Was sie „wissenschaftlich reizte, war gerade das irrationale, antiformale Element“ (WuG, 495). Das Etikett „formal“ gebraucht Weber in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, zumeist in einem positiven Sinne, sodass sein Formalismus-Narrativ gewiss keine Verfallsgeschichte darbietet. Andererseits wäre es zu einfach, in Weber nur den Fortschrittsoptimisten zu sehen. Zwar erblickt er im Rechtsformalismus ein untrügliches Kennzeichen der Moderne. Er wird aber auch nicht müde, vor den negativen Begleiterscheinungen eines überzogenen Rationalismus und insbesondere vor dem Gespenst des Irrationalismus zu warnen. Es ist müßig hinzuzufügen, dass die NS-Juristen den Ball, den ihnen die ‚irrationalen‘ Strömungen des Freirechts oder der Germanistik zuspielten, gerne aufgenommen und die schlimmste Befürchtungen Webers noch bei weitem übertroffen haben.21

Anmerkungen

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Anmerkungen 1

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Max Weber, „Römisches“ und „deutsches“ Recht (1895), in: Christliche Welt 9 (1895), Sp. 521 – 525. Erneut in: Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892 – 1899, Band 4, 1. Halbband, Tübingen 1993, S. 526 – 534, 533 f. (MWG I/4 – 1). Max Weber, Rechtssoziologie (1922), in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, 5. Auflage, Tübingen 1985, S. 387 – 513, 512 – im Folgenden zitiert WuG (erneut in: Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 22, 3. Teilband, Tübingen 2010, S. 274 – 639, MWG I-23). Rechtssoziologie (WuG), S. 507. Es ist behauptet worden, dass Begriffe wie Rechtsautomat, Urteils- oder Subsumtionsmaschine generell abwertend gemeint seien. Die Formulierung von Weber sei „irritierend“, weil sie suggeriere, es habe einmal eine Zeit gegeben, in der eine mechanische Sicherheit im Gebiet der Rechtsanwendung für eine Notwendigkeit oder gar für erstrebenswert gehalten wurde, vgl. Clara Günzl, Subsumtionsautomaten und -maschinen. Rechtshistorische Anmerkungen zu einem beliebten Vorwurf, in: JZ 74 (2019), S. 180 – 188, 181. Anders als Jhering, Kantorowicz und viele andere Autoren wird Weber hier gewiss nicht an die angebliche Begriffsjurisprudenz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gedacht haben (den Terminus „Begriffsjurisprudenz“ gebraucht er nicht, die Thesen von Jhering hält er in den wesentlichen Punkten für überholt). Das heißt aber nicht, dass eine solche Zeit nicht existiert hätte, worauf im 6. Kapitel noch zurückzukommen ist. Im Übrigen gibt es viele Stellen in Webers Werk, in denen die Maschinen-Metapher eine wichtige Rolle spielt. Sie können hier nicht alle aufgeführt werden (siehe noch Anm. 13). Es sei nur bemerkt, dass Weber die Maschine nicht nur mit der juristischen Entscheidungsfindung, sondern auch mit dem allgemeineren Phänomen einer zunehmenden Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens in Zusammenhang bringt: „Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur, daß sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen […]. Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt“ (Soziologie der Herrschaft, in: WuG, S. 541 – 868, 835). „Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich [zu den vorbürokratischen Formen] genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer […] Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert“ (Soziologie der Herrschaft, a. a. O., S. 651).

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Anmerkungen

Urteil des Reichsgerichts vom 28. Januar 1905, in: RGZ 60, S. 56 – 65, 58 f. (zwar hätten die Verfasser des BGB die clausula rebus sic stantibus nicht in das Gesetzbuch aufgenommen, unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit könne den veränderten Umständen „im einzelnen Falle“ aber gleichwohl Rechnung getragen werden; warum dem so ist und so sein muss, hat das Reichsgericht anspruchsvoll begründet). Max Weber, Brief an Hermann Beck v. 12. September 1910, in: Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung II: Briefe, Band 6, Tübingen 1994, S. 606 – 607, 607 (MWG II /6). Alle Stellen aus der Rechtssoziologie (WuG), S. 465, 457, 458. Max Weber, Brief an Professor Frensdorff in Göttingen v. 22. Januar 1887, in: ders., Jugendbriefe, Tübingen 1936, S. 214 – 216, 215 f. Dem steht nicht entgegen, dass Weber, insbesondere in seinen frühen Arbeiten, häufig auch germanisches Recht herangezogen hat. Versuchen, ihn unter methodischen Gesichtspunkten eher als Germanisten einzustufen, sollte mit Zurückhaltung begegnet werden; in diese Richtung Gerhard Dilcher, Von der Rechtsgeschichte zur Soziologie. Max Webers Auseinandersetzung mit der Historischen Rechtsschule (2007), in: ders. (Hg.), Die Germanisten und die Historische Rechtsschule. Bürgerliche Wissenschaft zwischen Romantik, Realismus und Rationalisierung, Frankfurt am Main 2017, S. 393 – 413, 399 – 404, 402 f. Webers methodologische Widerstände gegen die „germanistische Partei der historischen Rechtsschule“ stehen im Zeichen des Irrationalismus und harmonieren insoweit mit der Kritik am Freirecht. Was die Germanisten als Histo­ riker „wissenschaftlich reizte, war gerade das irrationale, der ständischen Rechtsordnung entstammende, also antiformale Element“ (WuG, S. 495). Aus der kaum übersehbaren Menge an Literatur seien hier nur genannt: Nico Roos, Antiformale Tendenzen im modernen Recht – eine These Max Webers, diskutiert am Beispiel der Laienfrage, in: Stefan Breuer, Hubert Treiber (Hg.), Zur Rechts­soziologie Max Webers, Opladen 1984, S. 223 – 267, 233 – 237; Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht – Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1993, S. 519 – 521; Richard Swedberg, Max Weber and the Idea of Economic Sociology, Princeton u. a. 1998, S. 91; Hans-Peter M ­ üller, Max Weber – eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 237 f.; Hubert Treiber, Max Webers Rechtssoziologie – eine Einladung zur Lektüre, Wiesbaden 2017, S. 34 – 40. Von den in der Stelle formulierten Unterscheidungsmerkmalen zieht sich eine Linie zur Frage nach der Geltung des Rechts – oder in den Worten Webers: nach dem „eigent­lichen Sitz des ‚geltenden‘ Rechts“. Hier wäre zunächst zwischen staatlichem Recht und Juristenrecht zu unterscheiden. Während das staatliche Recht Regeln setzt, die von einer über der Gesellschaft stehenden Autorität befohlen werden, hat das Juristenrecht seinen „Sitz“ in der konkreten Entscheidung eines Einzelfalls. Eine Parallele besteht aber darin, dass auch das Juristenrecht, wie Weber es versteht, um „Allgemeinbegriffe“ kreist. Seine „Rechtssätze“ werden durch „Generalisierung“, „logische Sinndeutung“, „Abstraktion vom Anschaulichen“ gewonnen

Anmerkungen

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„und ­syllogistisch als Normen angewendet“ (WuG, S. 457). Diese bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Historische Rechtsschule formulierte Idee des Juristenrechts, das, wie Weber zutreffend hervorhebt, regelmäßig in der Form von Gewohnheitsrecht auftritt (WuG, S. 508), ist nun durch die freirechtliche Doktrin um die Behauptung erweitert worden, der „Rechtssatz“ sei lediglich „das Sekundäre“ und die Entscheidung das Maßgebliche. Danach sei es unzutreffend, überhaupt von einer Rechtsfindung durch „Anwendung“ allgemeiner Normen auf einen konkreten Tatbestand zu sprechen, weil die Produkte der Juristentätigkeit „der eigentliche Sitz des ‚geltenden‘ Rechts“ seien (WuG, S. 507). Ein solcher Ansatz schließt also „immer vom einzelnen auf das einzelne“ und strebt nie nach „allgemeinen Sätzen, um dann aus diesen die Einzelentscheidungen deduzieren zu können“ (WuG, S. 457). Das Juristenrecht des Freirechts unterscheidet sich also von dem Juristenrecht, welches die Gründer der Historischen Rechtsschule in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts formuliert haben. Eine derartige, auf den Einzel­fall beschränkte ‚Geltungstheorie‘ ist mit Webers Konzept rechtlicher Rationalisierung aus vielen Gründen nicht in Einklang zu bringen. Im Folgenden können nur einige dieser Gründe aufgezeigt werden. 9 Rechtssoziologie (WuG), S. 495. Weber hat also eine ganz andere Sicht auf die Dinge als etwa Jhering oder Kantorowicz. Das muss natürlich nicht bedeuten, dass der romanistische Zweig der Historischen Rechtsschule schon alle Probleme gelöst hätte. Eine „Neusystematisierung des alten Rechts“ ist auch ihm „begreiflicherweise nicht in überzeugender Weise“ gelungen (a. a. O., S. 495). Webers Gebrauch der Worte „begreiflicherweise“ oder „Neusystematisierung“ (aber auch die Kritik an der Germanistik) sind im Lichte der Positionen seines Lehrers Theodor Mommsen („Sohn, da hast Du meinen Speer, meinem Arm wird er zu schwer“) zu verstehen, was hier nur anhand weniger Stichworte angedeutet werden kann (Die Aufgabe der historischen Wissenschaft und die Bedeutung des römischen Rechts, in: ders., Juristische Schriften, Bd. III, Berlin 1907, S. 580 – 600): „daß wir wieder ein Rechtssystem besitzen anstatt eines Haufens von brocardicis“ (S. 586); „aus dem Wuste, der am Ende des XVIII. Jahrhunderts Recht hieß, das Recht zu finden, ganz von neuem begonnen“ (S. 585); „Aufgabe für Jahrhunderte“ (S. 581). Weber warnt also lediglich davor, an den romanistischen Zweig der Historischen Rechtsschule zu hohe Erwartungen heranzutragen. Als Kritik der ‚Begriffsjurisprudenz‘ darf diese Bemerkung, wie in der soziologischen Literatur oft behauptet, nicht verstanden werden (siehe unten Kapitel 4.4). 10 Siehe Okko Behrends, Die rechtsethischen Grundlagen des Privatrechts, in: Franz Bydlinski, Theo Mayer-Maly (Hg.), Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, Wien 1994, S. 1 – 33. 11 Rechtssoziologie (WuG), S. 506. Im Gegensatz zum Freirecht lehnt Weber die Laienjustiz ab: „Irrationale Kadijustiz“ (WuG, S. 511). Dass der Konflikt zwischen populären Rechtsvorstellungen und juristischem Fachdenken bis heute in u­ nverminderter

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Anmerkungen

Schärfe ausgetragen wird, zeigen die aktuellen Diskussionen über das Theaterstück und den Film „Terror“ von Ferdinand von Schierach (dazu näher im 7. Kapitel bei Anm. 7). 12 Alle Stellen in diesem Absatz aus der Rechtssoziologie (WuG), S. 506 – 507. 13 Alle Stellen in diesem Absatz aus der Rechtssoziologie (WuG), S. 507 – 508. In § 8 der Rechtssoziologie erörtert Weber das sogenannte England-Problem, d. h. die Frage, warum England den rationalen Kapitalismus hervorgebracht hat, obwohl sein Recht sich gerade nicht durch jene Art von Formalismus auszeichnete, auf den diese Wirtschaftsform angewiesen ist (nach wie vor lesenswert David M. Trubek, Max Weber on Law and the Rise of Capitalism, in: Wisconsin Law Review 3, 1972, S. 720 – 753). Auf Webers Erklärungen mit den Stichworten: Konzentration der Rechtspflege in London, Kostspieligkeit der Verfahren, Justizverweigerung für die Unbemittelten, ökonomische Advokateninteressen (WuG, S. 511) kann hier nicht eingegangen werden. Jedenfalls wurde auch in England, wenngleich in unterschiedlicher Weise, die Chance auf eine Berechenbarkeit des Rechts gewahrt, sodass der moderne Kapitalismus sich entfalten konnte „wo entweder, wie in England, die praktische Gestaltung des Rechts tatsächlich in den Händen der Advokaten lag, welche im Dienste ihrer Kundschaft: der kapitalistischen Interessenten also, die geeigneten Geschäftsformen ersannen, und aus deren Mitte dann die streng an ‚Präzedenzfälle‘, also an berechenbare Schemata gebundenen Richter hervorgingen. Oder wo der Richter, wie im bürokratischen Staat mit seinen rationalen Gesetzen, mehr oder minder ein Paragraphen-Automat ist, in welchen man oben die Akten nebst den Kosten und Gebühren hineinwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den mehr oder minder stichhaltigen Gründen ausspeie: – dessen Funktionieren also jedenfalls im großen und ganzen kalkulierbar ist“, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens (1918), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1958, S. 306 – 443, 323 (Hervorhebungen im Original), sowie in WuG, S. 815 – 868, 826. Bereits 1905 gebrauchte der Staatsrechtler und Kenner des englischen Verfassungsund Verwaltungsrechts Julius Hatschek (1872 – 1926) im Anschluss an den Heidelberger Privatdozenten und Jellinek-Schüler Bruno Schmidt die Metapher vom Subsumtionsautomaten, um die Eigenarten der kontinentalen Rechtspflege zu pointieren: „Kurz gesagt, auf dem Kontinent ist der Richter, um Br. Schmidt’s treffenden Vergleich zu wiederholen, ‚Subsumtionsautomat, in welchen man auf der einen Seite das Zehnpfennigstück des konkreten Tatbestandes hineinwirft, um dann auf der anderen vermöge des geräuschlos in ihm arbeitenden Gesetzesapparates das Urteil, vollendet bis ins einzelne herausfallen zu sehen‘“ (Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Bd. I: Die Verfassung, Tübingen 1905, S. 154). Ob Weber diese Formulierung kannte, wissen wir nicht. Jedenfalls ist der Rechtsautomat als vermeintliches Kennzeichen kontinentaleuropäischer Rechtspflege auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Anmerkungen

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noch anzutreffen: „Der Richter erschien dem Gesetzespositivismus wie eine Art Automat, in den man den Fall hineinsteckt und der nach einem sanften Gehirnsummen die Entscheidung richtig zugeschnitten und griffbereit zutage fördert. Und die englische Welt sieht den Richter im kontinentalen Gesetzesstaat weithin noch heute so; wunderlicherweise nicht ohne einen gewissen Neid“ (Konrad Zweigert, Zum richterlichen Charisma in einer ethisierten Rechtsordnung, in: FS für Carlo Schmid, Tübingen 1962, S. 299 – 311, 303). Max Weber, Die Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen, Stuttgart 1889, S. 151. Erneut in: Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 1, Tübingen 2008, S. 109 – 347 (MWG I/1). Max Weber, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, Stuttgart 1891, S. 1. Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1919), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Auflage, Tübingen 1988, S. 582 – 613, 594 (Hervorhebungen im Original). Max Weber, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen, in: WuG, S. 181 – 198, 198. Rechtssoziologie (WuG), S. 513. Rechtssoziologie (WuG), S. 396 (Hervorhebung nicht im Original). Siehe die ambitionierten, letztlich aber nicht überzeugenden Bemühungen von Nico Roos, Antiformale Tendenzen im modernen Recht (Anm. 8), S. 238 – 246 (früher Jhering); Hubert Treiber, Max Webers Rechtssoziologie (Anm. 8), S. 150 – 161 (Puchta). Urteile über pandektenwissenschaftliche Werke setzen romanistisches Spezialwissen voraus, das heute selten geworden ist. Sonst könnte darin leicht ein Maß an Formalismus entdeckt werden, das bereits zuvor festgelegt wurde. Mindestens müsste auch die, freilich nur schwer zugängliche, romanistische Spezial­ literatur berücksichtigt werden (angesichts zunehmender Deutungsversuche durch Nicht-Romanisten äußerte sich ein namhafter Romanist kürzlich mit den Worten: „mit dem Urteil über eine Partitur sollte sich zurückhalten, wer außerstande ist, Noten zu lesen“). Weder Hermann Kantorowicz noch Max Weber konnten 1914 jene Erosionen der Rechtsordnung vorhersehen, die der Nationalsozialismus herbeigeführt hat. Aus gegenwärtiger Perspektive dürfte aber kaum zu bezweifeln sein, dass das freirechtliche Streben nach einer radikalen Tilgung formalen Rechts den nationalsozialistischen Juristen in die Hände spielte. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit den chaotischen Folgen staatlicher Willkürherrschaft haben die Voraussetzungen für eine angemessene Würdigung der zukunftsweisenden Bedeutung von Webers Rechtsbegriff geschaffen. Zwar hob er, soweit ersichtlich, nirgendwo hervor, dass sich mit Hilfe formalen Rechts ein ‚Bollwerk bürgerlicher Freiheiten‘ errichten lasse. Der Sache nach ist dieser Gedanke in seinem Konzept rechtlicher Rationali­sierung aber überall präsent. Das zeigen nicht nur seine Vorbehalte gegenüber Irrationalismus und Kadijustiz, sondern auch sein Rekurs auf Jherings berühmtes Diktum über

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Anmerkungen

die Form als „Zwillingsschwester der Freiheit“: Zur Vermeidung von ­Kadijustiz habe die juristische Wissenschaft „die einmal bestehenden Rechtsnormen nach ihrer formalen Methode logisch“ zu bearbeiten und dadurch „ihre Anwendung der Willkür zu entziehen“, und zwar „auch derjenigen Form der Willkür, welche sich in das Gewand sozialethischer Erwägung kleidet“, Max Weber, Besprechung von Philipp Lotmars „Der Arbeitsvertrag, Bd. I“, in: Archiv für Soziale Gesetz­gebung und Statistik 17 (1902), S. 723 – 734, 725 (Hervorhebungen im Original).

5 Franz Kafka: „Es ist ein ­eigentümlicher Apparat“ 1914 ist bekanntlich das Jahr der allgemeinen Mobilmachung und des Pessi­ mismus, der in Reaktion auf den industrialisierten Maschinenkampf die romantische Kriegsbegeisterung abzulösen beginnt. 1914 ist zugleich das Jahr, in dem Hermann Kantorowicz die „Epochen der Rechtswissenschaft“ und Max Weber seine „Rechtssoziologie“ abgeschlossen haben. Im Oktober desselben Jahres, also zwei Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, entstand noch ein dritter Text, welcher ebenfalls von einem Apparat handelt, der im weiten Sinne als ‚Rechtsmaschine‘ bezeichnet werden darf. Autor der erst nach Kriegsende (1919) publizierten Erzählung „In der Strafkolonie“ (SK) ist kein Geringerer als Franz Kafka (1883 – 1924), der als promovierter Jurist zu den wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellern gehört.1

5.1 Der Apparat als geschlossenes Rechtssystem Ort der Handlung ist ein kleines Tal auf einer abgelegenen Insel in den Tropen: Ein hochrangiger Forschungsreisender aus einem nicht näher genannten europäischen Lande folgt der Einladung eines Offiziers, der ihm eine seltsame Maschine vorführen möchte. „Es ist ein eigentümlicher Apparat“ – so beginnt die Geschichte mit einer Beschreibung der Maschine, die auf den ersten Blick nur dazu dient, Todesurteile zu vollstrecken. Wahrscheinlich hat Kafka Anregungen aus einem Reisebericht des Kriminologen Robert Heindl (1883 – 1958) aufgenommen, der in seiner ein Jahr zuvor publizierten „Reise nach den Strafkolonien“ (1913) beschreibt, wie ein Hinrichtungsgehilfe in einer Strafkolonie eine Exekutionsmaschine entworfen hat.2 Heindl war ein Bekannter des berühmten Kriminologen Hans Gross (1847 – 1915), der seit 1902 an der Juristischen Fakultät in Prag Strafrecht lehrte. Es wird vermutet, dass Kafka durch Gross, dessen Vorlesungen er besuchte, auf Heindl aufmerksam wurde.3 Die Parallele mit der Erzählung besteht darin, dass Heindl im Auftrag des Deutschen Reichs, sozusagen als Forschungsreisender, Strafkolonien der noch jungen Kolonialmacht in der Südsee besichtigte. Kafkas Rechtsmaschine ist mit Heindls Exekutionsmaschine nicht identisch. Über die Vollstreckung der Todesstrafe hinaus schreibt und verkündet

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Franz Kafka: „Es ist ein eigentümlicher Apparat“

sie auch das Urteil. Genau genommen bilden das Urteil, seine Verkündung und die Vollstreckung ein Ganzes in Form eines geschlossenen Rechtssystems, das der frühere, inzwischen verstorbene Kommandant erfunden hat. Der Offizier erklärt dem Besucher die einzelnen Teile der Rechtsmaschine, für die sich inzwischen volkstümliche Bezeichnungen herausgebildet haben: „der untere heißt das Bett, der obere heißt der Zeichner, und hier der mittlere, schwebende Teil heißt die Egge“ (SK , 9). Die Egge wurde aus Glas gemacht, um es jedem „zu ermöglichen, die Ausführung des Urteils zu überprüfen“ (SK , 15). Das Bett ist ganz und gar mit einer Watteschicht bedeckt, worauf der Verurteilte, „natürlich nackt“, bäuchlings gelegt wird. Das wichtigste Element des Apparats ist der vollautomatisierte Zeichner. Er arbeitet nach Vorlagen und steuert die Egge, deren spitze Nadeln in den Körper des Verurteilten eindringen. Es hat „einige technische Schwierigkeiten verursacht“, die Egge aus Glas zu machen. Nach „vielen Versuchen“ ist es aber gelungen: „Wir haben keine Mühe gescheut“, um die Transparenz des Verfahrens zu gewährleisten. Und nun kann jeder durch das Glas sehen, wie die Egge das Urteil ausführt, indem sie dem Verurteilten den Text des Gesetzes auf den Rücken schreibt.4

5.2 Das Urteil über den Bediensteten: ­Identität von Gesetz und Entscheidung Die Vollstreckung des Urteils beginnt also damit, dass das Gebot, welches übertreten wurde, „auf den Leib geschrieben wird“ (SK, 12). „Zitternd sticht“ die Egge „ihre Spitzen in den Körper“ des Verurteilten ein, bis er qualvoll zu Tode kommt. Hat sie ihr grausames Werk beendet, wird seine Leiche in einer Grube verscharrt. Mit großem Enthusiasmus schildert der Offizier die technischen Errungenschaften der Maschine. Der Betrieb ihres Räderwerks könnte sogar als ‚schön‘ bezeichnet werden, wenn da nicht dieses höllische Kreischen wäre, das ein abgeschliffenes Zahnrad im Zeichner verursacht. Das Interesse des Forschungsreisenden an derartigen Details hält sich in Grenzen. Er möchte vor allem etwas über das Urteil wissen und nach welcher Methode es zustande kommt: „Wie lautet denn das Urteil?“ Der Offizier schildert zunächst den Tatbestand:

Das Urteil über den Bediensteten: ­Identität von Gesetz und Entscheidung

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Ein Hauptmann hat heute morgen die Anzeige erstattet, dass dieser Mann, der ihm als Diener zugeteilt ist und vor seiner Türe schläft, den Dienst verschlafen hat. Er hat nämlich die Pflicht, bei jedem Stundenschlag aufzustehen und vor der Tür des Hauptmanns zu salutieren. Gewiß keine schwere Pflicht und eine notwendige, denn er soll sowohl zur Bewachung als auch zur Bedienung frisch bleiben. Der Hauptmann wollte in der gestrigen Nacht nachsehen, ob der Diener seine Pflicht erfülle. Er öffnet Schlag zwei Uhr die Tür und fand ihn zusammengekrümmt schlafen. Er holte die Reitpeitsche und schlug ihm über das Gesicht. Statt nun aufzustehen und um Verzeihung zu bitten, fasste der Mann seinen Herrn bei den Beinen, schüttelte ihn und rief: „Wirf die Peitsche weg, oder ich fresse dich.“ – Das ist der Sachverhalt (SK , 14).

Der Hauptmann erstattet beim Offizier also Anzeige. Dazu heißt es: „Ich schrieb seine Angaben auf und anschließend gleich das Urteil“ ( SK , 14). Gewöhnlich ringen Angeklagter und Richter in einem Strafprozess um den wahren Sachverhalt, um das Maß der Schuld und um die richtige Entscheidung. In der Strafkolonie steht die Schuld dagegen von vorneherein fest, sie ist „immer zweifellos“ (SK, 13). Es gibt keinen Diskurs, keine ­Kommunikation – zwischen Angeklagtem und Richter werden keine Argumente ausgetauscht. Warum der Offizier trotz seiner Jugend das Amt des Richters überhaupt bereits ausüben darf, begründet er wie folgt: „Ich stand dem früheren Kommandanten in allen Strafsachen zur Seite und kenne auch den Apparat am besten“ (SK, 13). Die Angaben zum Sachverhalt werden also nicht überprüft. Dem Urteil mangelt es damit an der für eine Rechtsfolge unverzichtbaren ­Anschauung und Feststellung aller tatsächlichen Umstände des Falles. Der Grund dürfte in der Zirkularität des Verfahrens liegen, welche die Wirklichkeit des Geschehens auf einen Punkt zusammenschrumpfen lässt:5 Die Ermittlung des Lebenssachverhalts ist entbehrlich, weil der Wortlaut des Urteils lediglich aus dem Gesetz besteht, dessen Buchstabe dem Verurteilten „mit der Egge auf den Leib geschrieben“ wird (SK , 12). Die Rechtsmaschinerie erfüllt ihre Aufgaben also nur scheinbar in mehreren Schritten. In Wahrheit beruht das Verfahren auf einer in sich geschlossenen, einheitlichen Operation: Sachverhalt, Norm und Entscheidung werden simultan festgestellt. Anzeige, Niederschrift und Vollstreckung des Urteils fallen zusammen. Das Urteil „klingt“ eigentlich gar „nicht streng“, meint der Offizier. Denn es enthält lediglich „das Gebot“, welches der Verurteilte „übertreten hat“. Im vorliegenden Fall lautet es: „Ehre deinen Vorgesetzten!“ (SK , 12)

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Franz Kafka: „Es ist ein eigentümlicher Apparat“

Die Identität von Gesetz und Entscheidung markiert den Gipfel eines jeden rechtswissenschaftlichen Formalismus. In diesem Punkt treffen sich Jherings „Urteilsmaschine“, Kantorowicz’ „Denkmaschine“ und Max Webers „Paragraphenautomat“ mit Kafkas „eigentümlichem Apparat“. All diese Maschinen halten einen maximalen Abstand zum ‚Leben‘, zu den Umständen des Einzelfalls und damit zur Praxis, weil sie den ‚Richter‘ idealiter darauf beschränken, lediglich zu wiederholen, was im Gesetz geschrieben steht. Über die Probleme dieser ‚Methode‘ pflegt die Rechtswissenschaft bis heute zu diskutieren. Gegenwärtig scheint die Auffassung zu herrschen, sie sei ein „Relikt des 19. Jahrhunderts und der subsumtionspositivistischen Jurisprudenz“. Diese Art von Jurisprudenz wird, wie bereits angedeutet, noch immer gerne als „Begriffsjurisprudenz“ bezeichnet, obwohl die jüngere Forschung längst beweisen konnte, dass es im 19. Jahrhundert keine Begriffsjurisprudenz gegeben hat. Ihr Merkmal soll darin bestehen, dass der Gesetzesanwender die Entscheidung „ohne aktives Zutun“ treffe.6 „Ohne aktives Zutun“ bedeutet vor allem zweierlei: Ohne Interpretation und ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls oder – in der Terminologie von Max Weber – ohne Rücksicht auf „materiale“ Gesichtspunkte, die eine Abweichung vom strengen Recht ausnahmsweise legitimieren könnten. Auf die kontrovers diskutierte Frage, ob eine pauschale Verurteilung der Jurisprudenz des vorvergangenen Jahrhunderts gerechtfertigt ist, wird noch zurückzukommen sein. Jedenfalls sind keine Anzeichen ersichtlich, dass auch Kafka Vorbehalte gegen die im 19. Jahrhundert begründete Rechtswissenschaft hegte. Eine Gemeinsamkeit mit den in der Jurisprudenz geführten Diskussionen lässt sich aber darin erkennen, dass in seiner Erzählung ebenfalls eine ältere, strengere Methode mit einer jüngeren, freieren Richtung in Konflikt gerät. Wenn Jhering, Kantorowicz oder Weber auf die Rechtsmaschine als Metapher für extremen Formalismus rekurrieren, spielt es zunächst keine Rolle, ob der Mensch wie ein Automat entscheidet oder er sich eines Automaten bedient, der dann für ihn das Urteil fällt. Der Offizier operiert wie ein Automat, wenn er das Gebot „ehre deinen Vorgesetzten“ einfach auf das Urteil schreibt, sich also ohne eigene Prüfung der Umstände des Einzelfalls, ohne Interpretation oder sonstige Zutaten darauf beschränkt, den Gesetzestext als Entscheidung auszugeben. Das schließt freilich nicht aus, dass er zugleich als Teil einer größeren Rechtsmaschinerie handelt, die auch die Jurisprudenz vom Entscheidungsautomaten im engeren Sinne zu unterscheiden pflegt.7 Diese

Extremer Formalismus des Verfahrens

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Befunde sind aber nur die Spitze eines Eisbergs. Die Erzählung enthält eine ganze Reihe von weiteren Elementen, die auf einen extremen Formalismus des Verfahrens schließen lassen.

5.3 Extremer Formalismus des Verfahrens Den Ausgangspunkt des auf der Insel gepflegten Formalismus bildet der „Grundsatz, nach dem ich entscheide: Die Schuld ist immer zweifellos“ (SK , 13). Es soll also die bloße Übertretung des Gebots für eine Verurteilung genügen. Gründe in der Person des Täters, die, wie Minderjährigkeit, Unvermeidbarkeit oder Unzurechnungsfähigkeit, eine Milderung des Urteils oder einen Freispruch rechtfertigen könnten, müssen außer Betracht bleiben. „Die Tat tötet den Mann“, so lautet das berühmte Rechtssprichwort, das nach heutigem Verständnis dem Prinzip der Erfolgshaftung Ausdruck verleiht:8 In dieser formalen Art der Zurechnung, die zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht zu differenzieren weiß, erblickt der Offizier nun den großen Vorzug seiner ‚Rechtstheorie‘, ja, ohne sie könnte die Maschine wohl gar nicht funktionieren. „Andere Gerichte“ sind außerstande, einen solchen Grundsatz zu befolgen. „Sie sind vielköpfig und haben auch noch höhere Gerichte über sich“ (SK , 13). Da die bloße Übertretung eines Gebots für die Verurteilung schon ausreicht, ist jeder Anspruch auf rechtliches Gehör überflüssig. So zeigt sich der Formalismus auch darin, dass der Verurteilte keine „Gelegenheit hat, sich zu verteidigen“ (SK , 13). Insbesondere ist es ihm nicht gestattet, auf die Widersprüchlichkeit eines Gebots hinzuweisen, das einerseits verlangt, „bei jedem Stundenschlag aufzustehen“, und andererseits bezweckt, den Betroffenen „zur Bedienung frisch“ zu halten. Der extreme Formalismus des Verfahrens wird darüber hinaus noch mit einem Argument verteidigt, das, für den Einsatz von Maschinen typisch, auf Effizienz abzielt: Der Hauptmann kam vor einer Stunde zu mir, ich schreibe seine Angaben auf und anschließend gleich das Urteil. Dann ließ ich dem Mann die Ketten anlegen. Das alles war sehr einfach. Hätte ich den Mann zuerst vorgerufen und ausgefragt, so wäre nur Verwirrung entstanden. Er hätte gelogen, hätte, wenn es mir gelungen wäre, die Lügen zu widerlegen, diese durch neue Lügen ersetzt und so fort. Jetzt aber halte ich ihn und lasse ihn nicht mehr. – Ist nun alles erklärt? (SK, 14)

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Franz Kafka: „Es ist ein eigentümlicher Apparat“

Auch diese „Erklärung“ bezweckt, den Ausschluss diskursiver Elemente zu verteidigen. Derartiger Rechtfertigungen bedarf es, weil das Postulat einer mechanischen Rechtsanwendung in der Strafkolonie umstritten ist. Kafka karikiert eine Art Schulenstreit, dessen Ausgangspunkt wieder der Apparat bildet, der unter der Führung des alten Kommandanten konstruiert wurde: Seit dem Tod des alten Kommandanten sei „die Einrichtung so in sich geschlossen“ worden, dass „sein Nachfolger, und habe er tausend neue Pläne im Kopf“, wenigstens „während vieler Jahre nichts von dem Alten wird ändern können“ (SK, 9). Die Anhänger des neuen Kommandanten wollen sich damit aber nicht abfinden, sodass die ältere, streng formale auf den Widerstand einer jüngeren, weniger formalen Richtung stößt. Genau genommen handelt es sich um die Parodie einer Kontroverse über die Rechtspflege, um eine Art ‚Methodenstreit‘, wobei die Verfechter der „neuen milden Richtung“ bezweifeln, dass der Formalismus der älteren Rechtsauffassung zu gerechten Ergebnissen führe (SK, 21). Während nun der Glaube des Offiziers an die Gerechtigkeit seines Verfahrens unerschütterlich ist, scheinen die Gegner immer mehr an Boden zu gewinnen. So kommt es zur Farce einer politischen Auseinandersetzung, die der Offizier wie folgt charakterisiert: Früher habe die Lehre von der mechanischen Rechtsanwendung unangefochten geherrscht. Noch heute gebe es viele Anhänger, „aber keiner gesteht es ein“. Wenn Sie an einem Hinrichtungstag „ins Teehaus gehen und herumhorchen, werden Sie vielleicht nur zweideutige Äußerungen hören“: Das sind „lauter Anhänger“. Heute gibt es keine „offenen Anhänger“ des Verfahrens mehr. Ich bin „der einzige Vertreter, gleichzeitig der einzige Vertreter des Erbes des alten Kommandanten“. Aber soll wegen des neuen Kommandanten „und seiner Frauen, die ihn beeinflussen, ein solches Lebenswerk – er zeigte auf die Maschine – zugrunde gehen? Darf man das zulassen?“ (SK, 22)

5.4 Kafkas Rechtsmaschine als Geschichtserzählung Zu den Eigenarten der Automaten-Metapher gehört, dass ihr nicht selten Geschichtsbilder unterlegt werden, die höchst verschieden sein können. So zielt Jherings Rechtskritik gegen eine den „Formen“ entsprungene Jurisprudenz, gegen einen angeblichen philosophischen Idealismus der älteren Histo­ rischen Rechtsschule, welcher das ‚Leben‘ und die Praxis aus dem Recht ­möglichst zu verbannen suchte. Kantorowicz’ Verfallsgeschichte setzt dagegen

Kafkas Rechtsmaschine als Geschichtserzählung

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viel ­früher, nämlich in Byzanz, an. Seine Denkmaschine fungiert als Gegenbild zur vermeintlich freien Rechtsfindung der klassischen römischen Jurisprudenz, welche die Umstände des Einzelfalls zum Maß aller Dinge erklärt habe. Und Max Weber sieht im Formalismus ein unverzichtbares Merkmal allen Fortschritts, ohne es freilich zu versäumen, vor den negativen Begleiterscheinungen eines überspannten Rationalismus zu warnen. Auch Kafka kleidet den Antagonismus zwischen einer streng formalen und einer weniger strengen, freieren Richtung, die auch Milde kennt, in das Gewand einer historischen Darstellung. Trotz der Leitdifferenz eines älteren und eines jüngeren Verfahrens darf Kafkas Narrativ nicht chronologisch oder gar im Sinne einer Fortschritts­ geschichte aufgefasst werden. Die Erzählung handelt in Parallele zu den rechtshistorischen, rechtsphilosophischen und rechtssoziologischen Diskursen eher von verschiedenen ‚Methoden‘, wobei ältere den jüngeren durchaus überlegen sein können. Daran ändert auch die neuestens wieder vorgetragene These nichts, der Fortschritt des Rechts bestehe in seiner „sukzessiven Milde“.9 Diese Annahme beruht auf einer bis heute allgemein verbreiteten Vorstellung, die Grausamkeiten des europäischen Mittelalters würden eine Kontrastfolie für den Begriff der Moderne und damit auch für die Epochen des Fortschritts bilden. Dabei wird übersehen, dass noch Kant, den Viele für den entscheidenden Denker der juristischen Moderne halten, meinte, die Billigkeit sei eine „stumme Gottheit“, die „nicht gehöret werden“ dürfe.10 Bodin, Hobbes oder Pufendorf, auf deren Staatsphilosophie noch zurückzukommen ist, haben ebenfalls versucht, „materiale“ Elemente aus dem Recht möglichst zu verbannen. Im Vergleich zu solchen Autoren des rationalistischen Vernunftrechts war das klassische römische Recht sehr viel „milder“, weil es neben dem strengen Recht auch Gesichtspunkten der Billigkeit (aequitas) eine große Bedeutung beimaß. Für sich genommen kann freilich auch die „Milde“ keine Option sein. So ist das byzantinische Recht für seine überzogene Wohltätigkeit kritisiert worden, weil es dadurch Willkür und Kadijustiz Vorschub leistete. Milde eignet sich also, wenn überhaupt, nur mit Einschränkungen als Seismograph rechtlichen Fortschritts. In diesem Sinne erzählt auch Kafka keine Fortschrittsgeschichte, wenngleich dem Leser so manche Ungerechtigkeit des Formalismus vor Augen geführt wird. Seine Darstellung beschränkt sich auf ein bloßes Beschreiben von Abläufen innerhalb eines sich in kleinem Kreis entwickelnden Geschehens. Kafka will nur „zeigen, wie es eigentlich gewesen ist“, parodiert also

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Franz Kafka: „Es ist ein eigentümlicher Apparat“

eine Manier des Historismus oder Geschichtspositivismus, die bis heute einflussreich geblieben sind. Dies bedeutet, jedenfalls innerhalb des Narrativs, einen grundsätzlichen Verzicht auf Kritik. Denn wie alle Kritik ist auch die Rechtskritik immer auf einen Standpunkt angewiesen, der jenseits des Geschehens liegt.

5.5 Das Urteil des Reisenden über den Offizier und das von ihm propagierte Verfahren Wie alle Figuren der Erzählung bleiben der Offizier und der Forschungsreisende ohne Namen und werden lediglich über ihre sozialen Funktionen oder Rollen identifiziert. In direkter Rede sucht der Offizier den Reisenden von der Leistungsfähigkeit der Maschine zu überzeugen: „Der Reisende war schon ein wenig für den Apparat eingenommen“, wobei unklar bleibt, ob es sich um eine Wahrnehmung des Offiziers oder um eine Mitteilung des Erzählers handelt. Im festen Glauben an die Fairness des Verfahrens kommentiert der Offizier die Arbeit der laufenden Maschine: „Jetzt geschieht Gerechtigkeit“ (SK, 23). Erste Zweifel kommen dem Reisenden, als ihm offenbart wird, dass der Verurteilte sein Urteil gar nicht kennt, dass er sich weder verteidigen darf noch die Angaben des Hauptmanns überprüft werden. „Die Mitteilungen über das Gerichtsverfahren hatten ihn nicht befriedigt“ (SK, 14). Und später heißt es kurz und bündig, abermals aus der Perspektive des Reisenden: „Die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekution war zweifellos“ (SK, 20). Gleichwohl suchte der Reisende seine indifferente, auf kontemplatives Verstehen beschränkte Haltung zu wahren. Er missbilligte zwar die Inhumanität des ganzen Vorgangs, glaubte aber als Bürger eines fremden Landes zu einer Wertung nicht befugt zu sein (SK, 20). Außerdem sagte er sich, „daß es sich hier um eine Strafkolonie handelte, daß hier besondere Maßregeln notwendig waren und daß man bis zum Letzten militärisch vorgehen mußte“ (SK, 14). Ob Kafka, vom Kolonialrecht einmal abgesehen, das Sonderrecht der im Haager Abkommen von 1907 enthaltenen Haager Landkriegsordnung (HLKO) kannte, wissen wir nicht. Nach Maßgabe des zur Zeit des Ersten Weltkriegs geltenden Kriegsrechts waren kriegsbedingte Grausamkeiten jedenfalls nur insoweit abzumildern, als „es die militärischen Interessen gestatten“.11

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Andererseits schien alles „darauf hinzudeuten, daß man sein Urteil“, also das Urteil des Reisenden, „über dieses Gericht verlangte“ (SK , 20 f.). Die Erzählung beginnt allmählich, den Akzent vom Urteil über das Verhalten des Bediensteten auf ein zweites Urteil – das Urteil über den Offizier und das von ihm propagierte Verfahren zu verschieben. „Wohl aber will“ der neue Kommandant „mich Ihrem, dem Urteil eines angesehenen Fremden aussetzen“ (SK, 24). Dabei sucht der Offizier alle Rechte in Anspruch zu nehmen, die er dem Bediensteten zuvor verweigert hat: Sorgfältige Prüfung und Würdigung des Sachverhalts, Gelegenheit zur eigenen Verteidigung, Unvoreingenommenheit des ‚Richters‘ und die Kenntnis des Urteils schon vor Verkündung und Vollstreckung durch die Maschine. Hinzu kommen seine hartnäckigen Versuche, auf die Entscheidung des Reisenden Einfluss zu nehmen, ja, ihn regelrecht zu manipulieren, etwa mit der Bitte, sein „Urteil über das Verfahren möglichst zurückzuhalten“ (SK, 27). Schon vorher hatte er den Reisenden gebeten, sich dem neuen Kommandanten gegenüber positiv zur Maschine zu äußern. Das lehnte der Reisende zwar ab, versicherte aber, dass er öffentlich auch nicht negativ über die Maschine sprechen werde. Er wolle seine Bedenken dem neuen Kommandanten nur unter vier Augen vortragen.

5.6 Das Urteil der Rechtsmaschine und seine Vollstreckung Als der Offizier bemerkt, dass der Besucher sein Urteil längst getroffen hat, er ihn also nicht mehr umstimmen kann, lässt er den verdutzten Bediensteten aus der Maschine befreien und seine bereits weggeworfenen Kleidungsstücke wieder anlegen. Er entkleidet sich nun statt seiner, um nackt auf das Gerät zu steigen, dessen Räderwerk er so einstellt, dass ihm die Egge die Worte „sei gerecht“ in den Rücken stechen kann. Abermals soll das Urteil also in Gestalt des Gebots, welches übertreten wurde, „auf den Leib geschrieben“ werden (SK , 12). Und abermals wiederholt das Urteil lediglich, was das Gesetz sagt. Doch folgt die Maschine jetzt einer ganz anderen ‚Logik‘. Dies bedarf der Erläuterung. Zu Kafkas Zeiten gab es viele Autoren, die über das Verhältnis von Mensch und Maschine nachgedacht haben.12 Es herrschte die Auffassung: Die Maschine soll der verlängerte Arm des Menschen, sie soll Werkzeug sein, und der Mensch soll regieren. Abgesehen davon, dass viele kritische Stimmen existierten, die

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vor einer Herrschaft der Maschine über den Menschen warnten, fußt die zeitgenössische Philosophie der Maschine auf einer Extensionslogik, wonach das Äußerliche einem Inneren entstamme und die Maschine etwas Äußerliches sei, das der Mensch aus seinem Inneren herausgestellt, aus seinem Geist hervorgebracht habe. Max Weber wollte, wie schon angedeutet, die Maschine denn auch als „geronnenen Geist“ bezeichnen.13 Bei Kafkas Rechtsmaschine handelt es sich zunächst ebenfalls um eine solche eher gewöhnliche Maschine. So wird sie im Verfahren gegen den Bediensteten wie ein großes Werkzeug auf ganz konventionelle Weise in Gang gebracht. „Sehen sie doch“, ruft der Offizier dem Besucher zu. „Er sprang auf die Leiter, drehte ein Rad, rief ­hinunter: ‚Achtung, treten Sie zur Seite!‘, und alles kam in Gang“ (SK, 17). Im Verfahren gegen den Offizier setzt sich die Maschine dagegen selbstständig in Bewegung. Auch arbeitet sie nun ganz anders als vorher. Nicht kreischend, sondern völlig lautlos und ohne das geringste Surren startet der Mechanismus und gewinnt zunehmend an Fahrt. Dabei heben sich die Zahnräder aus den Schaltkästen, und die gesamte Maschine scheint auseinanderspringen und in Trümmer gehen zu wollen. Auch die Nadeln der Egge schreiben anders als vorher und stechen immer tiefer in den von Blut triefenden Körper des Offiziers: „das war ja keine Folter, wie sie der Offizier erreichen wollte, das war unmittelbarer Mord“ (SK, 36). Der Erzähler will damit sagen, dass die Maschine nicht mehr der Extensionslogik als verlängerter Arm dem Befehl des Menschen folgt, sondern aus eigener Entscheidung heraus operiert. Die Maschine ist offenbar ‚intelligent‘ und verfügt nicht nur über die Fähigkeit, zwischen den beiden Urteilen, zwischen dem Bediensteten und dem Offizier zu unterscheiden, sondern trifft am Ende sogar noch ein drittes Urteil – ihr eigenes Todesurteil. Heute würden wir vielleicht sagen: Sie lernt, während sie einen Input in einen Output umwandelt. Die Parallele zwischen Kafkas Rechtsmaschine und den im digitalen Zeitalter geführten Diskursen besteht darin, dass sich nicht immer mit Gewissheit sagen lässt, zu welchem Output ein bestimmter Input führen wird. Bei lernfähigen Maschinen kann nach Abschluss der Lernphase nur noch mit erheblichem Aufwand oder überhaupt nicht mehr vorausgesagt werden, wie die Entscheidung ausfällt. Kafkas Rechtsmaschine erinnert an moderne Computersysteme, die als „autonom“ bezeichnet werden, weil sie die Fähigkeit haben, auf Grund von künstlicher Intelligenz nicht-prognostizierbare Entscheidungen zu treffen. Sie sind, anders als herkömmliche mechanische Systeme, keine reinen Werkzeuge mehr und agieren anstelle von Menschen

Das Urteil der Rechtsmaschine und seine Vollstreckung

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„in opaken Bahnen, die menschlicher Vernunft und menschlichem Verstehen unzugänglich sind“.14 Kafkas Rechtsmaschine darf mit einem bloßen Werkzeug also nicht verwechselt werden. Denn ein „Mord“ ist auf Grund seiner komplexen Willens­ momente von einem Folterinstrument sehr verschieden. Und auch die Selbstzerstörung kann nur einer eigenen Entscheidung entsprungen sein. So sehr die Schlussakte der Erzählung das Schreckgespenst einer Herrschaft der Maschine über den Menschen heraufbeschwören, so deutlich sind auch die Signale, die in eine gegenläufige Richtung weisen und eine Versöhnung mit der menschlichen Vernunft vermuten lassen. Tut die Maschine nicht nur das, was von einem Standpunkt außerhalb der Erzählung ‚gerecht‘ sein könnte? Dafür sprechen mehrere Argumente: Sie verhängt gegen sich die ‚Todesstrafe‘, und zwar nicht nur, weil sie die Grenzen ihrer Funktionen überschritten hat, sondern weil mit dem Tod des Offiziers das vom alten Kommandanten eingerichtete Verfahren obsolet geworden ist. Aber auch der ‚Mord‘ selbst stößt bei den Akteuren auf Akzeptanz: Als der Offizier sich zu entkleiden beginnt und nackt vor dem Reisenden steht, um das Gerät zu besteigen, sagt der Erzähler: „Der Reisende hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt“ (SK, 33). Sogar der Offizier scheint mit seinem Schicksal einverstanden zu sein. Denn nach der Exekution blickt sein Gesicht den Forschungsreisenden „ruhig und überzeugt“ mit offenen Augen an (SK, 37). Und auch der zuvor verurteilte Bedienstete hat verstanden: „Was ihm geschehen war, geschah nun dem Offizier.“ Das war also das Urteil der Maschine: „Ein breites Lachen erschien nun auf seinem Gesicht und verschwand nicht mehr“ (SK, 34).

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Anmerkungen

Anmerkungen 1 2

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Franz Kafka, In der Strafkolonie, in: ders., In der Strafkolonie. Ein Landarzt. Ein Hungerkünstler, Köln 2011, S. 7 – 39 – im Folgenden zitiert SK. Mit Heindls Namen ist eine der wichtigsten Methoden der Verbrecherfahndung verbunden, die sogenannte „Daktyloskopie“. Die relevante Passage der 1913 bei Ullstein (Berlin, Wien) erschienenen „Meine Reise nach den Strafkolonien“ lautet: „Er ist nur ein Sonderling, ein Projektenmacher, ich möchte sagen, ein Stubenhocker. Er hat eine Maschine erfunden, die fünf Personen in drei Minuten enthaupten kann, ohne daß der Henker genötigt ist, eine Sperrklinke zu berühren. Man schneidet sich selbst den Kopf ab durch den Betrieb des Schaukelbretts, das automatisch das Fallbeil herabfallen läßt. Wenn mehrere Patienten nacheinander an die Reihe kommen, guillotiniert der zweite den ersten; er braucht nur den Fuß auf die Planke zu setzen und der Apparat beginnt zu arbeiten“ (S. 53). Anders als die bei Kafka geschilderte Maschine ist die Funktion dieses Apparats also auf die Hinrichtung beschränkt. Eine Gemeinsamkeit mit der Erzählung besteht aber darin, dass auch Heindl das vorgefundene Strafsystem ablehnt, freilich mehr aus ökonomischen Gründen und mit Blick auf mangelnde Effizienz, Praktikabilität und Rentabilität, vgl. Walter Müller-Seidel, Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ im europäischen Kontext, Stuttgart 1986, S. 135. Hans Gross ist der Vater des Psychiaters Otto Gross (1877 – 1920), der Beziehungen u. a. mit der Sozialwissenschaftlerin Else Jaffé, geb. von Richthofen (1874 – 1973), unterhielt. Else von Richthofen war die Geliebte von Max und Alfred Weber, dessen Lebensgefährtin sie nach dem Tode ihres Mannes wurde, vgl. Evelyn Höbenreich, Marianne Webers „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“. Beziehungsmodelle zwischen römischem Recht und deutscher Kodifizierung, Lecce 2018; Albrecht Götz von Olenhusen, Hintergründe zu Max Webers Presse-Enquete und das Presse- und Urheberrecht seiner Zeit, Bern 2015. Speziell zu den Verbindungen zwischen Gross und Kafka siehe Müller-Seidel, Die Deportation des Menschen (Anm. 1), S. 50 – 71. Kafkas Maschine unter Glas erinnert an Jherings Beschreibung der analytischen Methode der altrömischen Jurisprudenz, die er mit den Worten charakterisiert: „Wie unter einem durchsichtigen Glase das Innere einer Maschine, so arbeitet sie unter unsern Augen, gleich als ob der Mechanismus eigens zur Belehrung, zum Schulunterricht verfertigt worden wäre; was anderwärts bloß auf dem Wege des inneren Denkens vor sich geht, geschieht hier in Form einer sichtbaren äußerlichen Einrichtung – im alten Proceß sieht man das Rechtsverhältnis, so zu sagen, unter das Schneidewerk gerathen, wodurch es zersetzt werden soll“ (Rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Theil, Erste Abtheilung, 4. Auflage, Leipzig 1888, S. 14). Auf die Stelle ist in der Kafka-Literatur wiederholt hingewiesen worden, Lida Kirchberger, Franz Kafka’s

Anmerkungen

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Use of Law in Fiction. A New Interpretation of In der Strafkolonie, Der Prozess, and Das Schloss, New York u. a. 1986, S. 30 – 39; Thomas Weitin, Revolution und Routine. Die Verfahrensdarstellung in Kafkas Strafkolonie, in: Arne Höcker, Oliver Simons (Hg.), Kafkas Institutionen, Bielefeld 2007, S. 255 – 267, 264. Unter den Aspekten von „Sichtbarkeit“ und „Form“ mögen hier Ansätze zu einer Parallele bestehen. Die Frage ist nur, wie weit sie tragen. Jhering lobt diese Art des Mechanismus, hebt seine zukunftsweisenden Funktionen hervor und unterscheidet ihn von einer „formal-dialektischen Scheidewuth“, wie sie „in Zeiten wissenschaft­ licher Impotenz als Zerrbild wahren Denkens aufzutreten pflegt“ (Geist, a. a. O., S. 13). Gerade dieses „Zerrbild wahren Denkens“ wird später (und zum Teil von Jhering selbst) mit Begriffen wie „Urteilsmaschine“ oder „Subsumtionsautomat“ umschrieben werden (siehe 2. Kapitel bei Anm. 8 sowie 3. und 4. Kapitel). Über die Frage, ob es ein direktes Vorbild für Kafkas Maschine gibt, ist in der Literatur viel spekuliert worden (siehe den Überblick bei Csilla Mihály, Franz Kafka: In der Strafkolonie, in: Zoltán Szendi, Hg., Wechselwirkungen I, Wien 2012, S. 371 – 388, 373 – 375). Die Bemühungen um „Transparenz“ sollen wohl eher dem (niederen) Bedürfnis entgegenkommen, sich der eigenen (physischen und psychischen) Unversehrtheit durch das Miterleben des Leides von anderen zu vergewissern. Das Verfahren will offenbar dafür sorgen, dass Zuschauer eines Spektakels – oder wie wir heute abwertend sagen würden: Schaulustige und Gaffer – auf ihre Kosten kommen (bzw. durch Grausamkeiten von unangepasstem Verhalten abgeschreckt werden). Auch von dieser Seite zeigt sich eine Verbindung mit den rechtshistorischen und frühen rechtssoziologischen Diskursen über den Subsumtionsautomaten. Denn in aller Regel wird hier nur die Anwendung des Gesetzes auf einen feststehenden Sachverhalt thematisiert. Die Ermittlung des Sachverhalts bleibt außen vor, auch um behaupten zu können, die Maschinerie würde ein geschlossenes System darbieten. So habe der Formalismus eine Stufe erreicht, wo die Praxis, die Realität, das ‚Leben‘ nicht mehr zur Geltung kommen können. An diesem Punkt setzen heute wieder jene Autoren an, die glauben, eigens betonen zu müssen, dass im Gebiet des Legal Tech mit den Angaben des Beteiligten „alle für den Einzelfall bedeutsamen Umstände zu berücksichtigen“ seien, z. B. Ariane Berger, Der automatisierte Verwaltungsakt, in: NVwZ 2018, S. 1260 – 1264, 1263. Der Formalismus zeigt sich ferner in dem hohen Stellenwert, den die Erzählung der Schrift beimisst. Die Schrift erfüllt in der Jurisprudenz ganz verschiedene Aufgaben, die mehr oder weniger mit der Form zusammenhängen. Dazu gehört auch die Funktion, durch Promulgation solchen Regelungen, Entscheidungen, Geboten oder Befehlen einen Anstrich von Legitimität zu verleihen, deren Inhalte mit den Maßstäben der Gerechtigkeit in Konflikt geraten, dazu näher Meder, Ius non scriptum, 2. Auflage, Tübingen 2009. Kyriakos N. Kotsoglou, Subsumtionsautomat 2.0., in: JZ 74 (2014), S. 451 – 457, 454. Auf das Thema wird im nächsten Kapitel (bei Anm. 2 und 8) zurückzukommen sein.

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Anmerkungen

Vgl. Jhering, der sich unter dem Titel „Der positivistische Jurist – ein gedankenloses Rädchen in der Rechtsmaschinerie“ 1868 in seiner Wiener Antrittsvorlesung äußert: „Aber schlimmer noch als diese äußere Abhängigkeit ist eine andere Gefahr, die der Jurisprudenz nicht von außen, sondern von innen droht: die Gefahr der inneren, der geistigen Abhängigkeit, die Gefahr, sich und sein Denken und Fühlen an das dürre, todte Gesetz dahin zu geben, ein willenloses und gefühlloses Stück der Rechtsmaschinerie zu werden, kurz die Flucht aus dem eigenen Denken“, in: Okko Behrends (Hg.), Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, Göttingen 1998, S. 50 f., 89. Jhering versieht hier also nicht den ‚Richter‘, sondern das Rechtssystem als solches mit dem Makel der Maschine (vgl. 2. Kapitel bei Anm. 8). 8 Siehe den Überblick über das Thema bei Meder, Rechtsgeschichte, 6. Auflage, Köln u. a. 2017, S. 43 – 47, 139 („die Tat tötet den Mann“). Zu den Anfängen einer Korrektur formstrengen Rechts durch die aequitas (um dem Einzelfall Rechnung zu tragen) in der klassischen römischen Jurisprudenz siehe Meder, Der unbekannte Leibniz. Die Entdeckung von Recht und Politik durch Philosophie, Köln u. a. 2018, S. 59 f. 9 Gertrude Lübbe-Wolff, Das Dilemma des Rechts. Über Strenge, Milde und Fortschritt im Recht, Basel 2017 (siehe Meder, Der unbekannte Leibniz, Anm.  8, S. 87 – 89). 10 Dazu näher im folgenden Kapitel unter den Stichworten Vernunftrecht, Staat als Maschine, mechanistisches Paradigma, eingliedriger, auf das formale Element beschränkter Rechtsbegriff. In der Kafka-Literatur sind die Zusammenhänge mit dem Thema ‚Staat als Maschine‘ bereits angesprochen worden. Kafka-Forscher glauben, mit diesem Topos freilich eine allgemeine Aussage über das Recht treffen zu können, dessen Merkmal darin bestehe, dass ein Richter generell nur nach formalen Gesichtspunkten entscheiden könne, vgl. Hermann-Josef Röllicke, Wie kommt das Recht ins Gesetz? Kafkas Maschine in der Erzählung „In der Strafkolonie“, in: Coincidentia 5 (2014), S. 343 – 374, 370 f. In diese Richtung auch ­Martina G. Lüke, „In the Penal Colony“ and Beyond: Anxieties about Technology in an Era of Increasing Mechanization, in: Journal of the Kafka Society of America 31 – 32 (2007 – 08), S. 80 – 87, 82. Auf eine solche Deutung will sich Kafka aber gerade nicht festlegen lassen (siehe auch 7. Kapitel bei Anm. 7). 11 Alan Kramer, Kriegsrecht und Kriegsverbrechen, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 3. Auflage, Paderborn u. a. 2009, S. 281 – 292; Oswald Überegger, „Verbrannte Erde“ und „baumelnde Gehenkte“. Zur europäischen Dimension militärischer Normübertretungen im Ersten Weltkrieg, in: Sönke Neitzel, Daniel Hohrath (Hg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 2008, S. 241 – 278. 12 Vgl. etwa Max Eyth, Poesie und Technik. Vortrag gehalten vor der Hauptversammlung des Vereins Deutscher Ingenieure zu Frankfurt am Main am 6. Juni 1904, in: ders., Lebendige Kräfte. Sieben Vorträge aus dem Gebiete der Technik, Berlin

Anmerkungen

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1919, S. 1 – 22; Friedrich Dessauer, Technische Kultur? Sechs Essays, Kempten, München 1908; Walther Rathenau, Zur Kritik der Zeit (1912); ders., Zur Mechanik des Geistes (1913). Weitere Nachweise bei Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution (1993), 2. Auflage, Darmstadt 1995, S. 70 – 78; Thomas Weitin, Notwendige Gewalt. Die Moderne Ernst Jüngers und Heiner Müllers, Freiburg im Breisgau 2003, S. 43 – 81; Benno Wagner, Connecting Cultures. Heinrich Rauchberg, Franz Kafka, and the Hollerith Machine, in: Austriaca 60 (2005), S. 53 – 68; Wolf ­Kittler, In dubio pro reo. Kafkas „Strafkolonie“, in: Kafkas Institutionen (Anm. 4), S. 33 – 72, 56 – 68; Andrea Polaschegg, Maschinen (nicht) verstehen. Das kollabierte Paradox in Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82 (2008), S. 654 – 679, 664 – 670. Auch die Untersuchungen des französischen Philosophen und Schriftstellers Raymond Roussel (1877 – 1933) wären in diesem Zusammenhang zu nennen. Siehe dazu die Nachweise bei Michel Foucault, Raymond Roussel, Frankfurt am Main 1989, S. 87 – 113; Hans Ulrich Beck, Harald Szeemann (Hg.), Die Junggesellenmaschine, 2. Auflage, Wien u. a. 1999, S. 212 – 217; Andreas Wolffsteiner, „… a new human being, half robot and half four dimensional“. Duchamp, Roussel, Maschine, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde: Theatrum machinarum, Berlin, New York 2008, S. 391 – 406 (für Hinweise auf Roussels Entscheidungstheorie danke ich Roberto Ohrt, Hamburg). Zur Mechanisierung unter dem Gesichtspunkt von Kafkas Tätigkeit als Verwaltungsjurist in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, wozu auch Stellungnahmen zur Sicherheit moderner Industriemaschinen gehörten, vgl. Klaus Wagenbach, In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914, Berlin 1998, S. 83 – 93. 13 „Geronnener Geist“ sei auch „jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation […] darstellt“, Soziologie der Herrschaft, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, 5. Auflage, Tübingen 1985, S. 541 – 868, 835. Von hier aus ergeben sich vielfache Berührungspunkte mit dem Werk seines Bruders, dem Nationalökonomen, Soziologen und Juristen Alfred Weber (1868 – 1958), bei dem Kafka 1906 zum Doktor der Rechte promovierte. Alfred Weber erörtert die moderne Bürokratisierung des sozialen Lebens unter den Gesichtspunkten eines „riesenhaften ‚Apparats‘“, der „Herrschaft der Maschine“ und einer zunehmenden Mechanisierung der gesellschaftlichen Abläufe, welche „die geistigen Kräfte von der inneren auf die äußere Existenz zu richten“ suchen, Alfred Weber, Der Beamte, in: Die neue Rundschau XXI (1910), S. 1321 – 1339, 1321, 1323, 1330. Speziell zu den Verbindungen zwischen Alfred Webers Bürokratiekritik und Kafka siehe Wagenbach, In der Strafkolonie (Anm. 12), S. 80, 100 – 102; Müller-Seidel, Die Deportation des Menschen (Anm. 1), S. 71 – 80. 14 John Danaher, The Threat of Algocracy: Reality, Resistance and Accomodation, in: Philosophy & Technology 29 (2016), S. 245 – 268, 249 (näher 8. Kapitel bei Anm. 7).

6 Rückblende: Kritik der Rechtsmaschine bei Friedrich Carl von Savigny Wer hat die Automatenmetapher ‚erfunden‘? Wer hat sie zum ersten Mal gebraucht? Wo also liegen die Anfänge? Auf diese Fragen pflegt die Rechtswissenschaft sehr verschiedene Antworten zu geben. Es scheint die Auffassung zu herrschen, das Freirecht habe in Opposition gegen die ­Pandektistik begonnen, die Denkmaschine als Schreckensbild und Verfallsgeschichte zu entwerfen.1 Daran ist richtig, dass der Subsumtionsautomat im Gefolge von Jherings Kritik der ‚Begriffsjurisprudenz‘ als abwertender Ausdruck für eine Art der Rechtsanwendung gebraucht wird, die im 19. Jahrhundert herrschend gewesen sein soll. In dieser Epoche hätten die Juristen geglaubt, dass die Rechtsanwendung keiner individuellen Leistungen mehr bedürfe, dass es genüge, sich sklavisch an den Wortlaut der Gesetze zu halten und eine Entscheidung ohne Folgenreflexion, d. h. ohne ‚Praxis‘ und ohne ‚Leben‘ auskommen könne. Als „Relikte des 19. Jahrhunderts und der subsumtionspositivistischen Jurisprudenz“ seien Begriffsjurisprudenz und Formalismus Etiketten einer ‚Methode‘, die dem Rechtsanwender eine Entscheidung „ohne aktives Zutun“ abverlangt.2 Von hier aus führt eine direkte Linie zu ­Kafkas „Strafkolonie“, wo eine „repetirende Maschine“ lediglich wiederholt, was im Gesetz geschrieben steht. Genau genommen bedeutet „ohne aktives Zutun“ vor allem zweierlei: Ohne Interpretation und ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls oder – in juristischer Terminologie – ohne Rücksicht auf Treu und Glauben (bona fides) oder Billigkeit (aequitas), die eine Abweichung vom strengen Recht (ius strictum) unter bestimmten Voraus­ setzungen rechtfertigen können.

6.1 Vorbehalte gegen eine mechanische Rechtsanwendung schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Der Terminus ‚Begriffsjurisprudenz‘ ist, wie schon angedeutet, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von Rudolf von Jhering geprägt worden. Jherings Rechtskritik zielt gegen die Jurisprudenz der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, speziell gegen die Gründer und ersten Protagonisten der Historischen

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Rückblende: Kritik der Rechtsmaschine bei Friedrich Carl von Savigny

Rechtsschule Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861) und Georg Friedrich Puchta (1798 – 1846). Aus heutiger Sicht gehen mit dieser Kritik zwei fundamentale Probleme einher, die eng miteinander verwoben sind. Erstens ist in der neueren Forschung bezweifelt worden, dass es eine Begriffsjurisprudenz jemals gegeben hat. Und zweitens haben nicht nur Savigny oder Puchta, sondern auch viele andere Autoren der historischen Richtung bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor einer mechanischen Rechtsanwendung gewarnt und eine ‚Deautomatisierung‘ der juristischen Entscheidungsfindung gefordert. Savignys Widerstand gegen ein Verständnis der Rechtsfindung als „mechanischer Vorgang“ zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. Schon in frühen, ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedachten Notizen skizziert er telegrammstilartig die Umrisse seiner Kritik: „Die Richter zu sehr Maschinen: darauf das ganze Gesetzbuch eingerichtet.“ Savigny beanstandet die „mechanische Einrichtung des Richterverfahrens“ und das damit einhergehende „Hangen am Buchstaben“. Überall warnt er vor einer fabrikmäßigen Herstellung von Urteilen, vor einer mechanischen oder automatischen Anwendung von Regeln auf den zu beurteilenden Sachverhalt. In seinen nur skizzenhaft formulierten, ebenfalls nicht für den Druck bestimmten „Vorlesungen über Juristische Methodologie“ finden sich die Bedenken gegenüber einem solchen Urteilen ohne Urteilskraft in komprimierter Form zusammengefasst: „Gewöhnlichste Ansicht, die sogenannte praktische – Erklärung: Aggregat von Rechtsregeln, unmittelbar zu erlernen und gleichsam mechanisch anzuwenden“.3 Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zum „Takt“, den Savigny im Anschluss an in der Goethezeit geführte Diskussionen in die Rechtswissenschaft eingebracht hat.4 Den Ausgangspunkt bildet hier der Gedanke, dass das Leben ständig neue Fälle produziert, das Streben des Gesetzgebers nach Vollständigkeit und Lückenlosigkeit illusorisch sei und Spielräume belassen werden müssen. Mit Begriffen wie Takt, Gefühl oder Urteilskraft verschiebt sich der Akzent vom Buchstaben des Gesetzes auf die individuelle Leistung des ‚Rechtsanwenders‘, auf seine Fähigkeit, auch die Folgen seiner Entscheidung zu überblicken. „Takt“ apostrophiert also geradezu das Gegenmodell jener „gewöhnlichsten Ansicht“, die im Recht eine Anhäufung „mechanisch anwendbarer Regeln“ erblicken möchte. Savigny hält diese „Ansicht“ für das Produkt einer Reihe von Fehlvorstellungen, insbesondere einer falschen Rechtsentstehungs- und Rechtsquellenlehre, worauf noch zurückzukommen ist.

Vorbehalte gegen eine mechanische Rechtsanwendung?

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In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als eigentlich ‚Begriffsjurisprudenz‘ und ungebremster Formalismus herrschen müssten, gibt es viele Autoren, die, wie Savigny oder Puchta, das Bild vom Richter als bloß „repetirender Maschine“ karikieren. So meint 1828 auch Gustav Hugo (1764 – 1844), Mitbegründer oder zumindest wichtigster Vorläufer der Historischen Rechtsschule, „daß man nicht wohl thue, wenn man den Richter zur bloßen UrteilsMaschine machen will“. Johann Friedrich Kierulff (1806 – 1894), Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, spricht 1839 von einer „alten unwissenschaftlichen Ansicht, welche auf dem Gebiete des Rechts eine mechanische Sicherheit für möglich hält“. Und Georg Beseler (1809 – 1888), Repräsentant des germanis­tischen Zweigs der Historischen Schule, polemisiert wenig später in aller Schärfe gegen ein „starres Formenwesen“ und die „bloß das Äußerliche erfassende Urtheilsfabrication“.5 Die Liste könnte unschwer fortgesetzt werden. Im Folgenden soll aber eine andere Spur verfolgt und an eine bereits zitierte Formulierung von Max Weber angeknüpft werden, wonach die Rechtsmaschine den modernen Juristen „subaltern“ erscheine und „gerade mit Universa­lisierung des kodifizierten formalen Gesetzesrechts immer peinlicher empfunden“ werde.6 Weber unterstellt also, es habe einmal eine Zeit gegeben, in der solche Maschinen nicht als peinlich empfunden, sondern als Normalität betrachtet oder gar für wünschenswert gehalten wurden. Wer nun Anfang des 20. Jahrhunderts gefragt hätte, wann die Rechtsmaschine eine derartige Akzeptanz erfahren habe, dem würde so mancher akademische Jurist wohl geantwortet haben: Zu Zeiten der Begriffsjurisprudenz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts! Nun lässt sich anhand der Quellen und in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der neueren Forschung leicht beweisen, dass diese Antwort nicht zutreffen kann. Es muss daher schon vorher, und zwar im 18. Jahrhundert, eine Auffassung gegeben haben, die eine mechanische Sicherheit bei der Rechtsfindung für möglich und erstrebenswert gehalten hat. Die zeitgenössische Literatur bietet viele Zeugnisse, die belegen, dass eine solche Richtung tatsächlich existiert, dass es also eine Epoche gegeben hat, in der das Maschinenideal nicht als peinlich, sondern als Normalität betrachtet wurde. So spricht etwa Kierulff von einer „alten unwissenschaftlichen Ansicht“ oder Savigny von einer „gewöhnlichsten Ansicht“, deren Anhänger glauben, Rechtsregeln „gleichsam mechanisch“ anwenden zu können. Wer waren diese Anhänger? Die Angriffe zielen gegen das rationalistische Natur- und Vernunftrecht und gegen die politische Metaphorik des aufgeklärten Absolutismus, der im Staat ein Uhrwerk, eine Maschine, einen Apparat – oder wie

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Rückblende: Kritik der Rechtsmaschine bei Friedrich Carl von Savigny

Thomas Hobbes im „Leviathan“ – einen Automaten sehen wollte. „Warum [ist] überhaupt die Rede von historischer Schule oder Methode, da doch das historische nur eine von mehreren nothwendigen Bedingungen ist?“ Savigny entgegnet auf diese von ihm selbst gestellte Frage, „daß in der unmittelbar vorhergehenden Zeit die historische Behandlung vorzugsweise vernachläßigt worden, daß also die Wiedereinführung dieser Methode das Characteristische der folgenden Zeit ward“.7 Die Antwort zeigt, dass der Kampf gegen das mechanistische Paradigma des vernunftrechtlichen Rationalismus den eigentlichen Anstoß zur Gründung der Schule gegeben hat und ‚historisch‘ zur Umschreibung ihrer Ziele nicht ausreicht. Dass hier der Widerstand gegen den später sogenannten „Subsumtionsautomaten“ seinen Anfang nimmt, sei anhand von Savignys Rechtskritik kurz erläutert.

6.2 Differenzen zwischen vernunftrechtlicher und ‚historischer‘ Richtung Obwohl die Lehren des Freirechts schon frühzeitig überholt erschienen, hat der Konnex von Rechtsmaschine und ‚Begriffsjurisprudenz‘ alle Stürme überstanden. Er ist auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierend geblieben und lebt in abgeschwächter Form bis heute fort. Erst seit einigen Jahren beginnt sich das Bild zu verändern, das wir uns von der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zu machen pflegen. In jüngeren rechtshistorischen Arbeiten über Savigny, Puchta oder Windscheid ist bestritten worden, dass es den Formalismus von Historischer Rechtsschule und Pandektistik jemals so gegeben hat, wie in der Literatur behauptet.8 Hier interessieren vor allem die Folgerungen, die für die Automatenmetapher aus der neueren Forschung zu ziehen sind. Es wurde gesagt, eines der Hauptmerkmale der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angeblich gepflegten Begriffsjurisprudenz bestünde darin, dass dem Rechtsanwender eine Entscheidung „ohne aktives Zutun“ abverlangt werde. „Ohne aktives Zutun“ ist ein abwertender Ausdruck für eine Rechtsanwendung, die keinerlei menschlicher Leistungen mehr bedarf, sondern im Wege eines maschinenhaften Formalismus ihre Resultate generiert. Als probates Mittel zur Durchführung eines Lackmustests für einen derartigen Formalismus kommen Billigkeit (aequitas) und Interpretation in Betracht. Denn je mehr eine Entscheidungstheorie Billigkeit und Interpretation ausschließt, desto formaler ist sie. Oder umgekehrt und in Anlehnung

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an die Terminologie von Max Weber: Umso größer der Raum, den Billigkeit und Interpretation bei der Rechtsfindung einnehmen, desto „materialer“ ist sie. Im Rahmen von Billigkeit und Interpretation kommen also jene Zutaten ins Spiel, die den Subsumtionsautomaten von einem Urteil unterscheiden, das den Umständen des Einzelfalls gerecht werden will. An diesen Zutaten scheiden sich zugleich die Wege, die das rationalistische Vernunftrecht und die Historische Rechtsschule beschreiten. Dass die ‚historische‘ von der ‚naturrechtlichen‘ Schule sehr verschieden sein kann, ist oft hervorgehoben worden. Es seien daher nur einige Differenzlinien in Erinnerung gerufen, welche die beiden Richtungen voneinander trennen. Zu den Grundlagen vieler Naturrechtslehren gehört das Narrativ vom Urzustand und vom Gesellschaftsvertrag, worauf so verschiedene Autoren wie Hobbes, Pufendorf, Thomasius, Rousseau oder Kant ihre Rechts- und Staatsphilosophie gegründet haben. Den Urzustand schildert Hobbes bekanntlich als eine Art Kriegszustand, der erst durch den Übergang in einen Rechtszustand beendet wurde. Weil der Mensch dem Menschen von Natur aus ein Wolf sei, habe es des Abschlusses eines Gesellschaftsvertrags bedurft, dessen Zweck darin bestehe, durch die einvernehmliche Übertragung der ungeteilten Macht auf einen Souverän den Frieden zu sichern und das private Eigentum zu schützen.9 Gemäß dieser Erzählung sind der Staat, das Gemeinwesen oder die Rechtsordnung nicht von Anfang an vorhanden, sondern werden erst durch eine übereinstimmende Willenserklärung, den Gesellschafts- oder Unterwerfungsvertrag künstlich geschaffen. Die Folge ist eine Liquidation jeder Normbildung, die außerhalb des staatlichen Gesetzes bestehen könnte, etwa durch Gewohnheitsrecht oder Wissenschaft. Savigny übt Kritik an den Versuchen, das Recht im Gesetz zu monopolisieren und hält dem Voluntarismus einer etatistischen Rechtsquellentheorie seine Idee der Quellenmehrheit entgegen. Die Lehre vom ‚Naturzustand‘ lehnt er als eine bloße Fiktion ab, weil er nicht glauben will, dass es „in dem Leben der Völker“ eine „Zeit vor Erfindung des Staates“ gegeben habe.10 Savignys Rechtskritik ist gegen den im 17. und 18. Jahrhundert herrschenden staatsphilosophischen Positivismus gerichtet, der auch extrem ungerechtes Recht für Recht halten und jene Kontrollprinzipien ausschalten will, die traditionell unter dem Begriff der aequitas versammelt wurden. So verschwindet bereits bei Bodin die Billigkeit hinter dem Befehl des Souveräns: „Ein gesetzliches Verbot ist stärker als selbst offenbare Forderungen der Billigkeit.“ Hobbes, Pufendorf oder Kant haben die Billigkeit ebenfalls a­ usgesondert,

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weil „ein Richter nach unbestimmten Bedingungen nicht sprechen kann“.11 Sie klammern die empirische Ebene aus, wenn sie bestreiten, dass die konkreten Umstände des Einzelfalls das formale Recht in Verlegenheit bringen können. Damit überfordern sie das staatliche Gesetz und nehmen in Kauf, dass das „höchste Recht zur höchsten Rechtsverletzung“ führt: In der Parömie summum ius summa est iniuria ist jene Erfahrung sprichwörtlich geworden, die Kant aus seinem formalen, allein der Vernunft entnommenen Freiheitsbegriff ausblenden muss.

6.3 Das Zusammenspiel von formalen und materialen Elementen in Savignys Rechtsbegriff Während es Kant also in Kauf nimmt, dass summum ius summa iniuria sein kann, unterscheidet Savigny zwischen einem „reinen“ Rechtsprinzip, das formale Zuständigkeiten schafft, und einem „gemischten“ Rechtsprinzip, vermöge dessen auch materiale Gesichtspunkte zur Geltung kommen können. Unter Berufung auf die entwickelte römische Jurisprudenz behauptet er, dass Recht ohne strukturellen Formalismus nicht möglich sei, der Formalismus aber eines Korrektivs bedürfe, das aequitas genannt werde. Diese „beiden Elemente des Rechts“ treten nicht selten „in einem bestimmten Gegensatz aus einander, bekämpfen und beschränken sich wechselseitig, um sich späterhin vielleicht in einer höheren Einheit aufzulösen“.12 Savigny erblickt im Widerstreit zwischen formalen und materialen Elementen also eine Grundbedingung allen Rechts. Gleichwohl herrschte auch nach 1968 noch die Auffassung, im 19. Jahrhundert sei die „Billigkeit als Kategorie des Rechts ausgeschaltet“ gewesen. Man begnügte sich mit einem Hinweis auf die Autorität von Kant, dessen Trennung von „Recht und Sittlichkeit als eigenständige Bereiche“ im 19. Jahrhundert allgemein anerkannt worden sei.13 Unter den Prämissen einer vom Maschinenideal abhängigen Formal- und Begriffsjurisprudenz musste diese Aussage plausibel erscheinen. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis Rechtshistoriker allmählich misstrauisch wurden. Auch in Bezug auf die Interpretation gilt: Je restriktiver sie eine Rechtslehre handhabt, desto ‚mechanischer‘ ist sie. So neigt die Rechtsquellentheorie des Vernunftrechts, das nur das Formalrecht anerkennt, dazu, vor den Gefahren der Interpretation zu warnen oder sie gleich ganz auszuschließen. Erinnert sei nur an Hobbes’ Empörung über die Willkür interpretierender Juristen

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oder an das Kommentierungsverbot im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794.14 Aufgeklärter Absolutismus und staatsphilosophischer Positivismus wollen den Richter auf den Buchstaben, auf den Wortlaut des Gesetzes, beschränken. In diesem Sinne ist gegen Savignys Modell der juristischen Herme­neutik ebenfalls der Formalismus-Vorwurf erhoben worden. Seine Hermeneutik könne modernen Anforderungen nicht genügen, da sie den Richter zum „Vollstrecker des Gesetzes“ und sein Urteil zu einer „mechanischen Kopie des zur Entscheidung stehenden Lebensabschnitts“ herabwürdige.15 Diese Kritik verkennt, dass Savigny mit der Lehre von den vier canones dem „Buchstaben“ seine Prävalenz in der Auslegungslehre genommen hat. Alle vier Elemente haben den gleichen Rang und dienen nur noch als Hilfsmittel zur nunmehr ‚freien‘ Ermittlung des „Gedankens“ des Gesetzgebers. Im Übrigen wurde Savigny nicht müde, den produktiven Charakter der Auslegung zu betonen. Denn der „Gedanke“ muss bei jedem Gesetz, „wenn es in das Leben eingreifen soll“, rekonstruiert werden. „Wir müssen“, sagt der angebliche Begriffsjurist an anderer Stelle, „von unsrer Seite etwas dazu thun“, wenn eine „Regel in das Leben übergehen“ soll.16 Es ist Savigny zufolge also gerade die soziale Wirklichkeit, die den Interpreten herausfordert, mehr zu sagen als schon gesagt ist. Heute würden wir mutatis mutandis von Produktivität, Konkretisierung oder materialer Gerechtigkeit sprechen. Der Rekurs auf das „Leben“ zeigt an, dass seine Hermeneutik für Empirie offen ist, was eine erhebliche Erweiterung des Gegenstands der Auslegung, eine Verlagerung des Akzents vom Willen des Gesetzgebers auf die Individualität des Interpreten und die soziale Wirklichkeit zur Folge hat. Es nimmt daher nicht wunder, wenn bei Savigny häufiger von Takt, Gefühl, Kunst oder Urteilskraft die Rede ist. Insoweit unterscheidet er sich geradezu von Jhering, der weder der Hermeneutik noch der Lehre von der Interpretation oder Billigkeit eine vergleichbare Aufmerksamkeit gewidmet hat.

6.4 Savignys Rechtsbegriff im Vergleich mit Kant, Jhering, Kantorowicz und Max Weber Savigny hat einen zweigliedrigen Rechtsbegriff formuliert, der als eine Art philosophischer Dualismus – als Dichotomie, Differenz oder gar Inkommen­ surabilität von Recht und Billigkeit charakterisiert werden kann. Dabei versäumt er es nicht, auf die Bedeutung materialer Elemente des Rechts für

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die Rechtsfortbildung aufmerksam zu machen. Die Berücksichtigung der Billigkeit habe zu ganz neuen Rechtslösungen geführt, aus denen im Lauf der Zeit selbstständige Rechtsinstitute entstanden sind und in Zukunft noch entstehen werden. Dagegen fußt Kants Rechtsdenken auf einer eingliedrigen Quellenlehre, wonach die Billigkeit eine „stumme Gottheit“ sei, „die nicht gehöret werden kann“. Das Wort „hören“ zeigt an, dass die Billigkeit auch Klangpotenziale hat. Sie erzeugt ein Rauschen, ein Raunen und irritiert so denjenigen, der auf Grundlage formalen Rechts zu urteilen hat. Doch darf der Richter Kant zufolge nur die Gleise strengen Rechts befahren und keine neuen Wege bahnen: Er hat sich taub zu stellen, muss also alle Geräusche, Signale oder Warnzeichen ignorieren, bis sich eines Tages vielleicht ein Gesetzgeber dazu bequemt, eine neue Regelung zu schaffen. Ähnlich haben Bodin, Hobbes oder Pufendorf gedacht. Sie alle propagieren einen eingliedrigen Rechtsbegriff, der nur die formale Seite anerkennt und so dem Richter jenen Spielraum versagt, der für eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls unverzichtbar ist. Ein solcher Ansatz vermag nicht nur mit der Vorstellung vom Staat als Maschine, sondern auch mit dem Postulat einer mechanischen Rechtsanwendung in idealer Weise zu harmonieren. Die Quellenlehre des aufgeklärten Absolutismus beruht also auf der Prämisse, das Recht habe seinen Sitz in staatlicher Gesetzgebung, während die Historische Rechtsschule das Modell eines Juristenrechts zu postulieren beginnt. Danach bildet das staatliche Gesetz nur noch eine, freilich nach wie vor wichtige, unter mehreren Rechtsquellen. Das Juristenrecht hat seinen Sitz nicht im Befehl eines souveränen Willens, sondern in der konkreten Entscheidung eines Einzelfalls. Die Praxis greift darauf zumeist dann zurück, wenn es an gesetzlichen Regeln mangelt oder sie zu ungerechten Ergebnissen führen. Wie bereits Max Weber bemerkte, wird das Juristenrecht, da es einer besonderen Legitimation bedarf, regelmäßig in Gestalt von Gewohnheitsrecht auftreten.17 Dieser Befund gibt Anlass, auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Wer hat den Automaten zum ersten Mal kritisiert? Im 19. Jahrhundert dürfte es Savigny gewesen sein, der als erster in einem pejorativen Sinne von „Maschine“, „Urteilsfabriken“ oder „mechanischer Rechtsanwendung“ sprach. Der Ausdruck „Subsumtionsautomat“ tritt dagegen erst viel später auf. Er soll von dem Heidelberger Privatdozenten und Jellinek-Schüler Bruno Schmidt stammen, der in seiner Schrift über „Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemeinwillens“ (1899) zunächst mit der Behauptung verblüfft, Gewohnheitsrecht würde nur entstehen, wenn ein Rechtsanwender die Grenzen seiner

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Kompetenzen überschreite. Der Staat könne diesem Verhalten widersprechen oder es stillschweigend akzeptieren. Schweige er und folge die communis opinio der Entscheidung, entstehe neues Recht in Form von Gewohnheitsrecht. Zur Vermeidung von Missverständnissen fügt Schmidt freilich noch hinzu: Wer eine juristische Entscheidung treffe, müsse generell einen gewissen Spielraum in Anspruch nehmen können. Diese nach Gründung des Kaiserreichs, jedenfalls im öffentlichen Recht, keineswegs mehr selbstverständliche Feststellung nimmt er nun zum Anlass für eine denkwürdige Aussage, die ein Licht auf die komplexen Zusammenhänge von Subsumtionsautomat, Juristen- und Gewohnheitsrecht wirft: Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wollte man glauben, in irgend einem Staate, und sei es der kleinste, könne die Gesetzgebung so detailliert und ausführlich sein, daß in ihr die Entscheidung für alle nur möglichen Vorkommnisse des praktischen Lebens im voraus enthalten wäre, und folglich die Unterorgane sich bloß auf Anwendung und Ausführung des fertig bereits vorliegenden Socialwillens zu beschränken hätten. Das ist nicht einmal bezüglich der Jurisdiktion möglich, wiewohl gerade hier die meisten das ausschließliche Heil in der Degradierung des Richters zu einem maschinenmäßigen „Subsumtions“-Automaten erblicken, in welchen man auf der einen Seite das Zehnpfenningstück des konkreten Thatbestandes hineinwirft, um dann auf der anderen vermöge des geräuschlos in ihm arbeitenden Gesetzesapparates das Urteil, vollendet bis ins einzelnste, herausfallen zu sehen.18

Wie Savigny meint also auch Schmidt, das Streben nach Vollständigkeit und Lückenlosigkeit sei illusorisch, weil nicht alle Ereignisse vorhergesehen werden können und das Leben ständig neue Fälle produziert. Dem Richter müsse daher ein Spielraum zur Entfaltung seiner produktiven Urteilskraft belassen bleiben. Wer dies bestreite, degradiere ihn zu einem „maschinenmäßigen ‚Subsumtions‘-Automaten“. Damit schließt sich der Kreis zur Logik des Maschinenmodells: Die Epoche des Vernunftrechts musste die Billigkeit mit der Behauptung aus dem Recht verbannen, ein Richter könne „nach unbestimmten Bedingungen nicht sprechen“. Ihr Rechtsbegriff vermochte der Jurisprudenz jenen Spielraum nicht zuzugestehen, den so verschiedene Autoren wie Savigny oder Schmidt für unverzichtbar hielten. Zu den Merkmalen des Juristenrechts gehört, dass es imstande ist, zu abstrahieren und allgemeine Begriffe zu erzeugen. Einer derartigen Begriffsbildung jenseits staatlicher Gesetzgebung kommt, soweit die communis ­opinio

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sie anerkennt, durchaus formaler Charakter zu. Auch diese Art formalen Rechts darf unter bestimmten Voraussetzungen durch Zutaten des Urteilenden ergänzt oder korrigiert werden. Von einer mechanischen Rechtsanwendung kann also auch hier keine Rede sein. Damit bleibt es dabei: Savigny hat einen zweigliedrigen Rechtsbegriff entwickelt, in welchem formale und materiale Elemente zusammenspielen. Eine gewisse Verwandtschaft zwischen der klassischen Lehre vom Juristenrecht und den Freirechtlern besteht nun insoweit, als letztere annehmen, das Recht habe seinen Sitz vornehmlich in der konkreten Entscheidung eines Einzelfalls. Das Freirecht schließt aber, und in dieser Hinsicht besteht ein fundamentaler Unterschied, „immer vom einzelnen auf das einzelne“ und strebt nie nach „allgemeinen Sätzen“, um auf ihrer Grundlage eine Lösung zu entwickeln.19 Wie das englische Recht will also das Freirecht nicht von einer ‚Anwendung‘ allgemeiner Normen auf einen Tatbestand sprechen. Das Freirecht ist die Kehrseite säkularen Vernunftrechts, weil es alle formalen Elemente zu tilgen sucht. Zwar propagiert auch das Freirecht einen eingliedrigen Rechtsbegriff. Nur bildet dieses eine Glied nicht das formale, sondern das materiale Element des Rechts. Angesichts seines Oszillierens zwischen Verdammung und Lob des Formalismus hätte Jhering den Rechtsbegriff des Freirechts wohl verworfen. Denn er versteht die Form keineswegs nur in pejorativer Bedeutung. Erinnert sei nur an sein berühmtes Diktum „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“. Andererseits hat er die „Begriffsjurisprudenz“ mit ihrem vermeintlichen Formalismus in aller Schärfe kritisiert. Auch der von ihm propagierte „Zweck“ lässt sich für Willkür – für unformale und irrationale Rechtsbildungen leicht vereinnahmen.20 In der Wissenschaft ist oft darüber gerätselt worden, wie dieser „Zwiespalt“ zu erklären sei. Hier genügt es festzuhalten, dass sich angesichts seines fortwährenden Schwankens zwischen extremen Positionen nicht eindeutig sagen lässt, ob Jhering eher einen ein- oder zweigliedrigen Rechtsbegriff bevorzugt hätte. ‚Klare Kante‘ zeigt dagegen Max Weber mit seinem Konzept rechtlicher Rationalisierung. Er sieht im Formalismus ein unverzichtbares Merkmal der Moderne, ohne es zu versäumen, zugleich vor negativen Begleiterscheinungen zu warnen: Der überzogene Formalismus einer ‚Rechtsmaschine‘ kann rasch ins Irrationale umschlagen. Da nicht nur formale, sondern auch materiale Elemente imstande sind, den Anforderungen der Rationalität zu genügen, hat Weber seine Rechtssoziologie auf einen zweigliedrigen Rechtsbegriff gebaut, der neben dem strengen Recht auch politische Maximen oder ethische Imperative,

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etwa in Form der Billigkeit zu berücksichtigen vermag. Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Savigny und Weber stimmen in einem zentralen Punkt überein. Beide haben einen zweigliedrigen Rechtsbegriff entwickelt. Ein Unterschied besteht aber darin, dass Savigny, wie im folgenden Kapitel auszuführen ist, auch die Frage nach den Beziehungen formaler und materialer Elemente des Rechts einer genaueren Betrachtung unterzogen hat.

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Anmerkungen

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Siehe nur Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat. Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1986, S. 5 (erstmalig hergestellt wurde der Konnex zwischen mechanischer Rechtsanwendung und Begriffsjurisprudenz „in den Lehren der Freirechtsschule, welche ihre Forderung nach ­größerem Entscheidungsspielraum für den Richter mit dem Negativbild des Subsumtionsautomaten früherer [positivistischer] Tage kontrastierte“); Peter Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Claes Petersson (Hg.), Juristische Theoriebildung und rechtliche Einheit, Lund 1993, S. 69 – 89, 88 (die Darstellung „des Juristen des 19. Jahrhunderts als ‚Subsumtionsautomat‘“ ist eine „Karikatur der Jahrhundertwende“). In der neuesten Literatur ist diese Auffassung zutreffend bezweifelt worden, vgl. Christoph-Eric Mecke, Begriff des Rechts und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering, Göttingen 2018, S. 308 f.; Clara Günzl, Subsumtionsautomaten und -maschinen. Rechtshistorische Anmerkungen zu einem beliebten Vorwurf, in: JZ 74 (2019), S. 180 – 188, 181 (jeweils mit weiteren Nachweisen). Kyriakos N. Kotsoglou, Subsumtionsautomat 2.0., in: JZ 69 (2014), S. 451 – 457, 454 (siehe Kapitel 5.2). Nachweise für Autoren, die noch heute behaupten, im 19. Jahrhundert habe die Begriffsjurisprudenz geherrscht bei Meder, Rudolf von Jhering und der Aufstand gegen den rechtswissenschaftlichen Formalismus, in: JZ 74 (2019), S. 689 – 696 (zu möglichen Gründen für diesen merkwürdigen Befund siehe unten Anm. 8). Einleitung zu den Pandekten 1821/1822 – 1823/1824, in: Aldo Mazzacane (Hg.), ­Friedrich Carl von Savigny. Vorlesungen über juristische Methodologie 1802 – 1842 (1993), 2. Auflage, Frankfurt am Main 2004, S. 271 – 275, 271 („Unmöglichkeit das Ziel so zu erreichen, gegründet in der stets neu sich erzeugenden Mannigfaltigkeit der Fälle“). Siehe auch ders., Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 5 („man verlangte neue Gesetzbücher, die durch ihre Vollständigkeit der Rechtspflege eine mechanische Sicherheit gewähren sollten, indem der Richter, alles eigenen Urtheils überhoben, blos auf die buchstäbliche Anwendung beschränkt wäre“); System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, Berlin 1840, S. 8 („diese lebendige Construction des Rechtsverhältnisses in jedem gegebenen Fall ist das geistige Element der juristischen Praxis, und unterscheidet ihren edlen Beruf von dem bloßen Mechanismus, den so viele Unkundige darin sehen“). Weitere Nachweise bei Meder, Urteilen. Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre von der juristischen Entscheidungs- und Regelfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 43 f. Nur am Rande sei bemerkt, dass Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770 – 1831) in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Savignys Rechtsquellenlehre in einem Punkt zustimmt: „Daß es bei der Anwendung der Gesetze Kollisionen gibt, wo der Verstand des Richters seinen Platz hat,

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ist durchaus notwendig, weil sonst eben die Ausführung etwas durchaus Maschinenmäßiges würde“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 211 a. E.). Siehe die Nachweise bei Meder, Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, Tübingen 2004, z. B. S. 86 – 88. Maschinenmäßige Rechtsanwendung als bloße Wiederholung des Gesetzes: Georg Friedrich Puchta, Vorlesungen über das heutige römische Recht. Aus dessen Nachlaß, hg. v. Adolf August Friedrich Rudorff, Bd. I, Leipzig 1847, §§ 5 – 9, S. 17 („es mag sein, daß mancher Gesetzgeber von der Vorstellung ausgegangen ist, nur Er brauche Kenntniß und Geist; dann könnte der Richter eine bloße repetirende Maschine sein“). Maschinenmäßige Rechtsanwendung versus Billigkeit: Gustav Hugo, Rezension Schlosser Briefe über die Gesetzgebung überhaupt, und den Entwurf des Preussischen Gesetzbuchs insbesondere (1789), in: Beyträge zur civilistischen Bücher-Kenntniß der letzten vierzig Jahre, Bd. 1, Berlin 1828, S. 114 („dieser Billigkeit war im ganzen schönen Römischen Rechte sehr Viel überlassen, und auch in diesem Puncte macht die simple historische Bemerkung es schon sehr wahrscheinlich, daß man nicht wohl thue, wenn man den Richter zur bloßen Urteils-Maschine machen will, der jeden Fall nur, es sey in einem so detaillirten Gesetz-Buche oder in seinem Pandekten-Hefte, aufsuchen dürfe, um ihn gleich in terminis entschieden zu sehen“). In diese Richtung auch Georg Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, Leipzig 1843, S. 261 („diese Berücksichtigung der thatsächlichen Verhältnisse, auf welcher die Herrschaft der bona fides beruht, ist namentlich in Civilsachen unerläßlich, wenn nicht statt einer lebendigen, das Wesen der Dinge durchdringenden Gerechtigkeit ein starres Formenwesen oder gar die bloß das Äußerliche erfassende Urtheils­fabrication einer oberflächlichen Routine zur Geltung gelangen soll“). Siehe ferner: Johann Friedrich Kierulff, Theorie des Gemeinen Civilrechts, Bd. I, Altona 1839, S. XXIX (keine Spielräume nach der „alten unwissenschaftlichen Ansicht, welche auf dem Gebiet des Rechts eine mechanische Sicherheit für möglich hält, und in dem gedächtnismäßigen Lernen und Abschreiben eine wirkliche Theorie, in der handwerksmäßigen Anwendung eine wirkliche Praxis sieht. Wirkliche Jurisprudenz ist juristische Kunst, freies Hervorbringen, Production“). Weitere Nachweise bei Mecke, Begriff des Rechts und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering (Anm. 1), S. 309; Günzl, Subsumtionsautomaten und -maschinen (Anm. 1), S. 185 – 187. Zum Bild des Richters als Automat siehe auch die Nachweise bei Wolfgang Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung. Methodenorientierte Vorstudie, Frankfurt am Main 1974, S. 3 – 5. Max Weber, Rechtssoziologie (1922), in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, 5. Auflage, ­Tübingen 1985, S. 387 – 513, 507 (dazu bereits oben 4. Kapitel bei Anm. 3). Savigny, Einleitung zu den Pandekten 1827/1828 – 1841/1842, in: Vorlesungen über juristische Methode (Anm. 3), S. 282 – 289, 286 (Hervorhebung nicht im Original).

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Den Auftakt bildete eine Arbeit über Windscheid, von dem behauptet wurde, sein Name stehe für die „blutleere Begriffsjurisprudenz in Gestalt des rationalis­tischen Gesetzespositivismus“ (dagegen Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz, Frankfurt am Main 1989). Ähnlich wurde die Hermeneutik Savignys, u. a. von so prominenten Autoren wie Hans-Georg Gadamer mit der Begriffsjurisprudenz in Zusammenhang gebracht (dagegen Meder, Mißverstehen und Verstehen, Anm. 4; siehe auch Anm. 15). Und schließlich sind zu Puchta, der seit jeher im Zentrum der Kritik stand, in kurzer Abfolge gleich drei Monographien erschienen (Hans-Peter ­Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt am Main 2004; Thomas Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta, Köln u. a. 2004; Christoph-Eric Mecke, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta, Göttingen 2009). Über die Frage, warum sich die Wissenschaft gegenüber dieser Forschung weitgehend resistent zeigt und die Behauptung eines Konnexes von Rechtsmaschine und Begriffsjurisprudenz bis heute fortlebt (siehe oben Anm. 2), kann nur spekuliert werden. Einer der Gründe mag darin liegen, dass die Juristen Schwierigkeiten haben, konsensfähige Aussagen über die Aufgaben juristischen Denkens und die Methode zu treffen. So empfiehlt es sich, eine „Methode“ heranzuziehen, über die, obwohl es sie nie gegeben hat, Konsens besteht, dass sie abzulehnen ist. Oder anders ausgedrückt: Die Jurisprudenz erfindet eine „Methode“, die sie nicht will, weil es ihr schwer fällt zu sagen, was sie will. Die Lehre von der „Begriffsjurisprudenz“ hätte dann die Funktion eines Sündenbocks, auf den die Rechtswissenschaft ihren Wunsch nach einem Konsens über das juristische Denken und die Methode zu verschieben (bzw. zu projizieren) pflegt. 9 Siehe hierzu und zum Folgenden die Nachweise bei Meder, Doppelte Körper im Recht, Tübingen 2015, S. 25 – 27, 89 – 91, 86 – 94, 119 – 120; 321 – 328; Barbara ­Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986; Ethel Matala de Mazza, Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg im Breisgau 1999. Eine Ausnahme bildet Leibniz, dessen historisches Naturrecht viele Berührungspunkte mit den Lehren der Historischen Rechtsschule aufweist, vgl. Meder, Der unbekannte Leibniz, Köln u. a. 2018, S. 279 – 311. 10 Savigny, System I (Anm. 3), S. 9 (S. 23). 11 Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1576), hg. v. Peter Cornelius MayerTasch, München 1981, I 8 (S. 231); Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Werksausgabe, Bd. VIII, 10. Auflage, Frankfurt am Main 1993, S. 341 – 342 und 326. Nach wie vor ist die Meinung verbreitet, das neuzeitliche Vernunftrecht und namentlich Kant hätten mit der Zentralität der Person und den subjektiven Rechten die ‚Moderne‘ im Privatrecht begründet. Daran ist richtig, dass Denker wie John Locke, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Gottfried Wilhelm L ­ eibniz, Moses

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Mendelssohn oder Immanuel Kant Freiheit, Leben und Eigentum als unveräußerliche Rechte des Bürgers postulierten. Von Leibniz einmal abgesehen, hat die Mehrzahl der vernunftrechtlichen Autoren die Abgrenzung individueller Freiheitsrechte (Autonomie, subjektive Rechte) im sogenannten Gesellschaftsvertrag verankert. Savigny stimmt, soweit es um die Gewährung von Freiheitsrechten geht, mit dem Vernunftrecht zwar überein, lehnt mit der Lehre vom Gesellschaftsvertrag die (im Vernunftrecht herrschende) Idee einer lediglich formalen Freiheit aber ab (vgl. Meder, Doppelte Körper im Recht, Anm. 9, S. 25 – 27, 89 – 91, 321 – 328). Insbesondere verwirft er die für den Subsumtionsautomaten und andere Rechtsmaschinen so wichtige Abspaltung der Jurisprudenz von der Moral (Kapitel 7.1) und die Verbannung der Billigkeit mit ihrer rigorosen Absage an die Einzelfallgerechtigkeit, die nicht zuletzt auch Kants Rechtsphilosophie auszeichnet und die – mit guten Gründen – jüngst wieder als Entpersonalisierung des Rechts, Verschwinden des Subjekts oder Erosion des anthropozentrischen Systems gedeutet wurde, vgl. ­Frederik von Harbou, Abschied vom Einzelfall? – Perspektiven der Digitalisierung von Verwaltungsverfahren, in: JZ 75 (2020), S. 340 – 348, 348 (siehe auch 7. Kapitel bei Anm. 17 und 9. Kapitel a. E.). Vor diesem Hintergrund erscheinen die am römischen Recht orientierten Traditionen aus (mindestens) zwei Gründen ‚moderner‘ als die meisten vernunftrechtlichen Theorieentwürfe. Erstens, weil das römische Recht mit seiner dreiteiligen Gliederung des Stoffs in persona, res, actio eine Abgrenzung von ­Freiheitssphären vorgenommen hat (vgl. Jan Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, Tübingen 1998, S. 53 – 63), die nicht nur der „Person“ (bzw. absoluten und relativen subjektiven Rechtspositionen), sondern auch den materialen Elementen des Rechts (aequitas, Verhältnismäßigkeit, Einzelfallgerechtigkeit etc.) hinreichend Rechnung zu tragen vermag. Und zweitens, weil dieser Ansatz gegenüber den im 17. und 18. Jahrhundert formulierten eingliedrigen Konzeptionen ‚Recht‘ behalten hat. Denn heute würde kaum noch jemand bestreiten, dass neben dem ius strictum auch aequitas, bona fides, Verhältnismäßigkeit oder ähnliche unbestimmte Rechtsbegriffe eine maßgebliche Rolle in der Jurisprudenz spielen können. Eine eigene Untersuchung bedürfte die Frage, warum die moderne Kantforschung über diese Befunde hinwegzusehen (vgl. nur den Abschnitt über „Billigkeit und Notrecht“ bei Otfried Höffe, Der Kategorische Rechtsimperativ. „Einleitung in die Rechtslehre“, in: ders., Hg., Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin 1999, S. 41 – 62, 58 – 62, oder Philipp-Alexander Hirsch: Kants Einleitung in die Rechtslehre von 1784. Immanuel Kants Rechtsbegriff in der Moralvorlesung „Mrongovius II“ und der Naturrechtsvorlesung „Feyerabend“ von 1784 sowie in der „Metaphysik der Sitten“ von 1797, Göttingen 2012) und nach wie vor den „Kantischen Einfluß“ auf Savigny zu betonen pflegt (z. B. Höffe, Einführung in die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Immanuel Kant, a. a. O., S. 1 – 18, 17). 12 Savigny, System I (Anm. 3), § 15 (S. 54 – 56); § 22 (S. 112); § 59 (S. 407 – 410). Näher Okko Behrends, Struktur und Wert (1990), in: ders., Institut und Prinzip, Bd. I,

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Anmerkungen

Göttingen 2004, S. 55 – 89, 58 – 60. Dass mit der aequitas auch soziale und damit materiale Gesichtspunkte im Recht einen Platz finden können, ist keineswegs nur die Auffassung von Savigny. Ähnliche (und zum Teil erweiterte) Ansätze finden sich auch bei vielen anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, von denen neben Puchta vor allem Baron, Regelsberger oder Dernburg hervorzuheben wären, vgl. Meder, Aequitas und ius strictum in der Historischen Rechtsschule und Pandektistik, in: Matthias Armgardt, Hubertus Busche (Hg.), Recht und Billigkeit (im Erscheinen). Materiale Elemente können, zumal die Billigkeit letztlich ein Sammelbegriff ist, noch über viele andere Kanäle einfließen. Als Beispiele nennt Savigny neben aequitas, naturalis ratio, Natur der Sache oder ius gentium: publica utilitas, ratio utilitatis, Treu und Glauben, Gute Sitten (boni mores) und andere unbestimmte Rechtsbegriffe (System I, a. a. O., S. 55 – 66). Clausdieter Schott, Aequitas cerebrina, in: FS Hans Thieme, Köln u. a.  1977, S. 132 – 160, 139. Vgl. das 26. Kapitel des Leviathan (1651). Ähnlich der von Jhering bewunderte Begründer des klassischen Utilitarismus, Jeremy Bentham: „Wenn sich der Richter untersteht und die Macht anmaßt, die Gesetze zu interpretieren, so wird alles völlig unberechenbare Willkür“ (Works, Part II, Edinburgh 1838, S. 325). So Ernst Forsthoff, Hermeneutische Studien, in: Recht und Sprache, Halle an der Saale 1940, S. 18 – 44, 23 – 31. Ähnlich Hans-Georg Gadamer in „Wahrheit und Methode“, Tübingen 1960, dessen Argumente gegen Savignys Hermeneutik weitgehend von Forsthoff abhängen (dazu Meder, Mißverstehen und Verstehen, Anm. 4, S. 1 – 8). Savigny, System I (Anm. 3), z. B. § 32 (S. 207 und 206). Seine Auslegungen enthalten daher auch Rechtsfortbildungen, in denen materiale Elemente eine Rolle spielen (aequitas hermeneutica), z. B. System I (a. a. O.), § 37, S. 235 – 236. Puchtas Auslegungslehre weicht von Savigny zwar ab. Doch gewährt auch er dem Interpreten Freiheiten, die ein Formalist niemals zulassen könnte. Max Weber, Rechtssoziologie (Anm. 6), S. 508. So auch schon die BGB-Verfasser und die Anhänger der Historischen Rechtsschule nach der Wende zum 19. Jahrhundert, vgl. nur Benno Mugdan (Hg.), Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. I, Berlin 1899 (ND Aalen 1979), S. 570. Bruno Schmidt (1865 – 1905), Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemeinwillens, Leipzig 1899, S. 15 („diese Ansicht wird praktisch schon durch die zahlreichen Fälle widerlegt, in denen das Gesetz selbst ausdrücklich darauf verzichtet, die künftig zu treffenden Entscheidungen bis in jedes Detail hinein unveränderlich festzulegen“). Dass Bruno Schmidt erstmals den Ausdruck „Subsumtionsautomat“ gebraucht hat, meint Erich Jung (Das Problem des natürlichen Rechts, Leipzig 1912, S. 13; siehe die Nachweise bei Günzl, Subsumtionsautomaten und -maschinen, Anm. 1, S. 182). Wie bereits angedeutet, hat Julius Hatschek Schmidts Formulierungen übernommen (4. Kapitel bei Anm. 13). Während es Schmidt aber für ausgeschlossen

Anmerkungen

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hält, dass ein Richter jemals Subsumtionsautomat sein kann, rekurriert Hatschek auf die Metapher, um den Unterschied zum englischen Recht zu pointieren. Im Gebiet der Rechtsvergleichung wird der Konnex mit der Begriffsjurisprudenz also aufgegeben und der „Subsumtionsautomat“ seiner negativen Konnotationen enthoben (weitere Beispiele aus der Literatur im 4. Kapitel bei Anm. 13). Als Staatsrechtler geht Hatschek sogar noch einen Schritt weiter. Der Grundsatz der Gewaltenteilung sage, dass der „Richter ‚Subsumtionsautomat‘ sein müsse“, weil er sich andernfalls legislative Kompetenzen anmaßen würde, Englisches Staatsrecht mit ­Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Bd. I: Die Verfassung, Tübingen 1905, S. 157 („das ergibt sich schon aus der Lehre, die scharf die Rechtsprechung von der Gesetzgebung getrennt wissen möchte. Soll der Richter mehr sein, als bloß Anwender des Gesetzes, dann wird er ja selbst Gesetzgeber! Das muß unter allen Umständen vermieden werden“; von einer Grenzüberschreitung ist auch bei Schmidt die Rede, nur dass er andere Folgerungen zieht). Noch heute gibt es nicht wenige Autoren, welche die Rechtsetzung jenseits des Staates auf Basis eines „legal centralism“ beurteilen, vgl. Meder, Doppelte Körper im Recht (Anm. 9), z. B. S. 250. 19 Max Weber, Rechtssoziologie (Anm. 6), S. 457. 20 Siehe nur die Hinweise auf Vereinnahmungen von Jherings „Zweck“ durch die NS-Jurisprudenz in „Rudolf von Jhering und der Aufstand gegen den rechtswissen­ schaftlichen Formalismus“ (Anm. 2), S. 691.

7 Algorithmen zwischen Berechenbarkeit und Wertung: Das Verhältnis von Recht und Ethik revisited Kann Technologie das Urteilsvermögen ersetzen? Sind die Tage gezählt, in denen Menschen über Menschen richten? Wann wird die Vision vom Ende der Juristen Wirklichkeit? Das sind Fragen, die seit einigen Jahren in einer kaum übersehbaren Flut von Publikationen über „Legal Tech“ gestellt werden.1 Und in der Tat: Es gibt eine ganze Reihe von Gebieten, in denen es möglich scheint, juristische Entscheidungen anhand weniger Parameter ohne Ansehen der Person zu treffen. Als Beispiele werden immer wieder genannt: Die Ahndung von Straßenverkehrsverstößen oder die automatische Prüfung von Schadensersatzforderungen, etwa von Erstattungsansprüchen bei verspäteten Flügen auf Grundlage der EU-Fluggastrechteverordnung. Andererseits haben Richter offene Tatbestände und unbestimmte Rechtsbegriffe auszufüllen, sie müssen Ermessen ausüben, Wertungen treffen und bisweilen sogar praeter oder contra legem entscheiden, um den Anforderungen der ‚Gerechtigkeit‘ zu entsprechen. Im Erfordernis einer Wertung pflegt man heute das wichtigste Argument dafür zu sehen, dass die juristische Entscheidung auch in Zukunft ein Reservat menschlicher Kompetenz bleiben wird. Wertungen spielen im juristischen Alltag oft schon dort eine Rolle, wo die Aufgabe darin besteht, zur Ermittlung des Sachverhalts die relevanten von den irrelevanten Daten zu trennen. Die „Regeln“, die eine Entscheidung tragen könnten, müssen dabei gleichzeitig mit den „Tatsachen“ des Geschehens ins Visier genommen werden. In der Praxis haben wir es also mit einem Verfahren zu tun, bei dem der Blick zwischen Lebenssachverhalt und potenziell anwendbarer Norm immer hin und her wandert.2 Aber selbst wenn eine geeignete Regel gefunden wäre, ist die Entscheidung längst nicht fertig. Sie muss unter Wertungsgesichtspunkten noch einmal einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden. Eine holistische Perspektive ist aus vielen Gründen geboten: für die öffentliche Akzeptanz, für die Identifikation ungerechter Härten formalen Rechts, für die Rechtsfortbildung und in extremen Fällen – für die contra legem-Entscheidung einer Rechtsänderung. Wie schnell die Judikatur in eine solch extreme Situation geraten kann, wird sogleich anhand eines einfachen Beispiels aus der aktuellen R ­ echtspraxis

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demonstriert werden. Zunächst genügt es festzuhalten, dass im Erfordernis einer Wertung das Hauptproblem gesehen wird, wenn es um die Frage geht, ob Algorithmen in Zukunft an die Stelle menschlicher Entscheidungen treten können. Der Begriff der Wertung ist dabei im weiten Sinne von situativer Offenheit zu verstehen. Er entspricht im Wesentlichen den ethischen Imperativen, utilitaristischen Zweckmäßigkeitsregeln oder politischen Maximen, die Max Weber als materiale Rationalität von der formalen Rationalität unterschieden hat.

7.1 Formale Rationalität der Maschine Mit der Unterscheidung von formalen und materialen Elementen des Rechts ist zugleich das Stichwort genannt, das die folgenden Ausführungen leiten wird: Welche Folgerungen sind aus der Annahme einer Zweigliedrigkeit des Rechtsbegriffs für das Verhältnis von Recht und Ethik zu ziehen? Wer die Geltung extrem ungerechter Vorschriften oder die rücksichtslose Ausnutzung von Rechtspositionen nicht zulassen möchte, bringt mit der Billigkeit auch die Ethik, Moral, Sittlichkeit oder Politik ins Spiel. Soweit die Billigkeit nicht „stumm“ bleibt, sondern „gehöret wird“, kommt es zu einer Überschneidung der Gebiete von Recht und Ethik. So sah es jedenfalls Savigny mit seinem berühmten Konzept des Rechts als Grenze. Danach muss zwischen den „Kreisen“ von Recht und Ethik, Savigny spricht von Sittlichkeit, eine scharfe Trennlinie gezogen werden: In den Vermögensverhältnissen herrscht prinzipiell das formale Recht. Hier „kann der Reiche den Armen untergehen lassen durch versagte Unterstützung“.3 Recht und Sittlichkeit sind aber keineswegs nur verschieden, sondern auch verwandt. Denn das Recht ist imstande, die durch formale Rationalität gesicherte Freiheit einzuschränken, indem es z. B. Härten mildert oder Ungerechtigkeiten korrigiert, die auf eine Ausnutzung formaler Rechtspositionen zurückzuführen sind: Damit ist zugleich die Verwandtschaft und Verschiedenheit zwischen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen inwohnenden, Kraft sichert. Sein Daseyn aber ist ein selbstständiges, und darum ist es kein Widerspruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unsittlicher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behauptet wird.4

Formale Rationalität der Maschine

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Ein Kläger kann im Prozess also selbst dann auf formale Rechtspositionen rekurrieren, wenn deren Durchsetzung mit ethischen Imperativen oder politischen Maximen in Konflikt geraten würde. Denn das Recht ist zwar autonom, von den Gebieten materialer Rationalität aber auch nicht völlig abgekoppelt. In welchen Situationen nun die Billigkeit gegen die formale Rationalität zur Anwendung gebracht werden darf, ist schwer zu sagen. Schon Leibniz meinte, das Billige könne nur „difficillime generaliter“ bestimmt werden.5 Die Rede ist vom situativen Charakter der Billigkeit, von Umständen des Einzelfalls, extremer Ungerechtigkeit, Härte, Unzumutbarkeit, Ausnutzung formaler Rechtspositionen, rechtsmissbräuchlichem Verhalten, Unverhältnismäßigkeit, Ausnahmen von Regeln, neuen Fällen, Lücken oder vom Schweigen des Gesetzes. Auf den ersten Blick könnte dies so aussehen, als würde das formale Recht dort aufhören, wo im Einzelfall eine Ausnahme (exceptio) für zulässig erachtet wird. Doch besteht die Geltung formalen Rechts auch dann fort, wenn es im konkreten Fall auf Grund ethischer Imperative oder politischer Maximen einmal nicht respektiert wird.6 Ob formalen oder materialen Elementen der Vorrang gebührt, lässt sich pauschal nicht beantworten. Es darf aber angenommen werden, dass für die ‚Anwendung‘ des formalen Rechts die Vermutung seiner Richtigkeit spricht. Diese Vermutung entlastet denjenigen, der sich darauf berufen möchte, weil er die Werte, auf denen es fußt, nicht in jedem Fall neu herleiten oder begründen muss. Würde eine Anwendung formalen Rechts jedoch zu Ungerechtigkeiten führen, muss derjenige, der sich genötigt sieht, seine Härten zu mildern, einleuchtende Gründe dafür angeben, warum er ein Abschwenken ausnahmsweise für geboten hält. Aus der Vermutung folgt also, dass derjenige, der sie widerlegen möchte, eine besondere Argumentationslast zu tragen hat. Würde dem formalen Recht kein selbstständiges Gewicht, kein eigener Rang zukommen, so wäre im Fall der Abweichung jede nähere Begründung überflüssig. Die Auferlegung der Argumentationslast erschwert die Möglichkeit einer Ausschaltung formalen Rechts, sodass dieses selbst dort eine Bindungswirkung entfaltet, wo es mit Billigkeitserwägungen durchbrochen wird. Das Wechselspiel zwischen Regel und Ausnahme lässt sich also dahingehend präzisieren, dass die Strenge des formalen Rechts in bestimmten Fällen gemildert, dass es in seiner Ausübung oder Durchsetzung beschränkt und zugleich als fortbestehend gedacht wird. Die Vorteile des formalen Rechts liegen auf der Hand. Es ist auf Dauer angelegt, es vermittelt Klarheit, Sicherheit, Berechenbarkeit und wird nicht zuletzt aus diesem Grund mit dem

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Subsumtionsautomaten oder mechanischer Anwendung in Zusammenhang gebracht. Auf Details muss hier nicht eingegangen werden. Es genügt die Feststellung, dass Savignys Rechtsbegriff nicht auf das formale Recht beschränkt ist, sondern auch ethische Imperative und politische Maximen umfasst. Die formalen und materialen Elemente des Rechts begreift er als Wechselspiel, dessen paradoxale Strukturen auf Grundlage von „Verschiedenheit“ und „Verwandtschaft“ erklärt werden. Kants philosophischer Idealismus fußt dagegen, wie schon angedeutet, auf einem apriorischen Freiheitskonzept. Sein Rechtsbegriff vermag nur die „Verschiedenheit“, also nur das formale, von der Moral rigoros abgespaltene Recht anzuerkennen. Auf der Basis eines eingliedrigen Rechtsdenkens postuliert Kant gerade jene Art der Formalisierung, welche die Metapher vom Subsumtionsautomaten, jedenfalls in ihren kritischen Varianten, zu karikieren sucht. Dass die formale Sichtweise ungeachtet der Lehren der Historischen Rechtsschule, des Freirechts, der Rechtssoziologie und diversen nachpositivistischen Strömungen in der Öffentlichkeit bis heute fortlebt, zeigt die Antwort des „rasenden Populärphilosophen“ und Publizisten David Precht in einem aktuellen Interview auf die Frage, ob nicht sämtliche Denkprozesse eines Tages von Maschinen übernommen werden könnten: Beim Denken bin ich auch skeptisch, aber bei Jura muß man nun wirklich nur selten denken! Die Juristerei ist ja letztlich nichts anderes als ein einziges grosses Ordnungssystem, das man ganz leicht durchrattern kann. Das gibt’s auch bereits: Kennen Sie ‚Watson‘, die semantische Suchmaschine von IBM? Ein Computer, in den Sie jede normale juristische Frage eingeben können und daraufhin Ihre Expertise ausgedruckt bekommen. Natürlich wird es weiterhin Juristen geben, die sich mit komplizierten Dingen befassen, die kreative Lösungen verlangen. Aber der FeldWald-und-Wiesen-Jurist, der wird wie etliche andere Dienstleister verschwinden.7

Davon abgesehen, dass Watson bislang nicht für juristische Entscheidungen eingesetzt wurde, sticht mit „ganz leicht durchrattern“ sofort das mechanistische Paradigma ins Auge, das die rechtliche Ordnung und die juristische Tätigkeit determinieren soll. Wer im digitalen Wörterbuch für die deutsche Sprache die Bedeutung von „rattern“ einmal nachschlägt, wird auf die folgenden Anschauungsbeispiele stoßen: „die [Näh]maschine, der Presslufthammer rattert, der Wagen rattert durch die Straßen“. Auch Precht bedient sich also des Bildes der Maschine, wobei er im Vergleich zu Kantorowicz oder Kafka ein eher älteres Modell vor Augen zu haben scheint. Denn Kafkas Apparat

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arbeitet ja, zumindest auf der letzten und höchsten Stufe, schon beim Start „völlig lautlos und ohne das geringste Surren“. Das mechanistische Paradigma soll freilich nur auf die große Mehrzahl der vermeintlich eindeutig geregelten Fälle, die ‚niedere Jurisprudenz‘ der „Feld-Wald-und-Wiesen-Juristen“ angewendet werden. In den eher entlegenen Gefilden der ‚höheren Jurisprudenz‘, den sogenannten hard cases, gebe es weiterhin eine Nachfrage nach „kreativen Lösungen“. Dieses hierarchische Bild einer nach der Kompliziertheit aufgebauten Klassengesellschaft der Fälle ist leider zu schön, um wahr zu sein. Jeder Jurist, der Gelegenheit hatte, in der Praxis Erfahrungen zu sammeln, weiß: Auch die einfachsten Fälle können schier unüberwindliche Probleme aufwerfen: Selbst dort, wo die Rechtsordnung den Grad an Formalisierung, etwa bei Zahlen oder Fristen, auf die Spitze treibt, kann es zu Einbrüchen der Lebenswelt kommen, deren materiale Rationalität den Richter dazu zwingt, gegen das Gesetz zu entscheiden.

7.2 Zur Komplexität der „einfachen“ Fälle: ­Massenhafte Warenvernichtung im Online-Handel Ein Beispiel für den ubiquitären Einbruch der Lebenswelt in das formale Recht und die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten eines scheinbar simplen Falles bildet der sogenannte Verbraucherwiderruf im Online-Handel. Das Recht auf Widerruf ist überaus einfach zu handhaben. Jeder „Feld-Waldund-Wiesen-Jurist“ müsste eigentlich imstande sein, die Ansprüche seiner Mandanten zu realisieren. Es gibt mindestens drei Gründe dafür, warum Online-Bestellungen nach dem ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers ganz unkompliziert rückgängig gemacht werden können: Das Widerrufsrecht ist tatbestandslos, es verlangt zur Ausübung keinen besonderen Grund, die Motive des Verbrauchers sind völlig unbeachtlich.8 Der Verbraucherwiderruf bildet also das Muster eines reinen, strengen, „formalen“ Rechts, vergleichbar mit einer Regelung der Verjährung oder Volljährigkeit. Anders als bei unbestimmten Rechtsbegriffen oder Tatbeständen, die der Billigkeit Raum bieten, tendiert hier das Ermessen des Richters gegen Null. Nun kommt es vor, dass Verbraucher so tun, als möchten sie die bestellte Ware prüfen, obwohl sie von vorneherein wissen, dass sie sie nicht behalten wollen. Beispiele sind hochwertige Fernseher, die kurz vor Sportgroßveranstaltungen, oder Brautkleider, die unmittelbar vor der Hochzeit geordert und danach

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qua Widerruf retourniert werden. Die Kosten für massenhafte Retouren sind immens. Sie verursachen beträchtliche ökologische Schäden und beginnen, die Verbraucherpreise negativ zu beeinflussen. So sehen sich die Gerichte zunehmend mit dem Bedürfnis konfrontiert, ethischen Imperativen und politischen Maximen, etwa der Nachhaltigkeit oder des Klimaschutzes zu folgen, um im Interesse des Gemeinwohls Ausnahmen vom formalen Recht zuzulassen. Wie aber können sie diesem Bedürfnis Rechnung tragen? Die Antwort ist einfach, passt aber nicht ins Bild, das sich Populärphilosophen von der Tätigkeit eines „Feld-Wald-und-Wiesen-Juristen“ zu machen ­scheinen: Durch eine contra legem-Entscheidung! In diesem Zusammenhang sei noch einmal an das bereits zitierte Diktum des Staatsrechtlers Julius Hatschek erinnert: Nach Maßgabe des Grundsatzes der Gewaltenteilung müsse der Richter in Deutschland „Subsumtionsautomat“ sein: „Soll der Richter mehr sein, als bloß Anwender des Gesetzes, dann wird er ja selbst Gesetzgeber! Das muss unter allen Umständen vermieden werden.“ 9 Es ist oft kritisiert worden, dass Richter hierzulande solchen Imperativen zu viel Tribut zollen. Ein Beispiel bildet die Kontroverse um die Lehre von der sogenannten „objektiven Auslegung“, die es Richtern ermöglicht, die Gewaltenteilung zu umgehen, indem sie die eigene Entscheidung als Entscheidung des Gesetzgebers ausgeben. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass nach dem Vorbild des Gnaeus Flavius immer wieder gefordert wurde, endlich die wirklichen Motive in den Entscheidungsgründen zu benennen. Den Richter hindert aber die Gewaltenteilung oft daran, sich über die wahren Gründe – vorausgesetzt, er würde sie kennen – auszulassen. Denn die Wahrheit, und sei sie noch so „gerecht“, könnte den Verdacht erregen, die Rechtsprechung wolle sich gegen das Gesetz auflehnen oder sich gar selbst zum Gesetzgeber erheben. Eine solche Rolle hat das civil law für den Richter bekanntlich nicht vorgesehen. Darin dürfte einer der Gründe dafür liegen, dass wiederholt auf die Überlegenheit der Entscheidungsbegründungen in den Ländern des common law hingewiesen wurde.10 Der simple Fall der Ausübung eines Widerrufsrechts im Online-Handel rüttelt also am Prinzip einer Dreiteilung der Gewalten und damit an den Grundfesten unseres Demokratieverständnisses. Lässt sich eine Korrektur des Widerrufsrechts, das letztlich auf einer EU-Richtlinie beruht, überhaupt legitimieren? Zwischen Skylla und Charybdis sucht der Bundesgerichtshof (BGH) seit seiner ersten Entscheidung zu den Grenzen des Verbraucherwiderrufs im Online-Handel (2005) nach einem Ausweg und findet ihn, wie auf dem

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Kontinent nicht anders zu erwarten, im Gesetz. Die Ausnahme vom formalen Recht begründet er mit dem Satz: „Das in § 242 BGB verankerte Prinzip von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung.“ 11 Was heißt das? Darf der Richter im Namen von Treu und Glauben oder Billigkeit das Recht nach Belieben ändern? Gibt es sie also doch, die oft beschworene „unbegrenzte Auslegung“ und die Kadijustiz? Wer in den Entscheidungsgründen nach einer Antwort sucht, wird enttäuscht werden. Denn die Rechtsprechung beschränkt sich auf die immer gleiche Formel von der „allen Rechten immanenten Inhaltsbegrenzung“. Nur das erste Urteil von 2005 enthält einen diskreten Hinweis, und zwar auf den berühmten juristischen Gesetzeskommentar des „Palandt“. Dieser rekurriert auf die umstrittene „Innentheorie“ und nennt einige ältere BGH-Urteile und Autoren, die ebenfalls dieser Lehre folgen. Nun mag die Diskretion damit zusammenhängen, dass die Innentheorie in den 1930er-Jahren durch Wolfgang Siebert, einen in der NS-Zeit führenden Juristen, entwickelt wurde.12 Sie übt auf die Judikatur nach wie vor große Anziehungskraft aus, da sie es jederzeit und ohne nähere Begründung ermöglicht, das formale Recht aufzulösen und contra legem-Entscheidungen den Anstrich einer Legitimation zu verleihen. In der NS-Zeit hatten derartige Legitimationen eine besondere Konjunktur. Im Hintergrund steht das Bestreben, den überkommenen Dualismus von Regel und Ausnahme in einem Monismus der ‚Materialisierungen‘ aufzulösen. Das dem 19. Jahrhundert entsprungene, mit Attributen wie formalistisch, begriffsjuristisch, buchstabengetreu, liberal, praxisuntauglich, römisch, undeutsch oder fremd diskreditierte Rechtsdenken sollte der neuen Weltanschauung weichen. Die Forderung nach einer Zerstörung der formalen Rationalität durch eine „allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung“ war also das Gebot der Stunde. So sah z. B. der gefürchtete NS-Ideologe Roland Freisler in der Entkoppelung von Richter und Gesetz einen Höhepunkt, der erst erreicht sei, wenn sich „die Erneuerungskräfte aus der Verschüttung unter die Schuttmassen einer anders denkenden liberal-individualistischen Vergangenheit“ herausgearbeitet hätten.13 Der seitens der NS-Jurisprudenz postulierte richterliche Herkules war in Wirklichkeit freilich ein Schwächling, der auf Befehl von oben einer bestimmten Ideologie zur Durchsetzung verhelfen musste. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Stimmen leiser, aber es gab noch immer Versuche, die Vorzüge der Innentheorie anzupreisen: Mit guten Gründen ziele die Idee einer „allen Rechten immanenten Inhaltsbegrenzung“ auf eine Relativierung der „starren Regeln“ der

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römischen Jurisprudenz und auf eine Auflösung jener Differenzlinien, welche die Historische Rechtsschule zwischen formalem und materialem Recht gezogen hat. Es sei nämlich ein inakzeptabler Widerspruch, dass das Recht Positionen einräume, die im Einzelfall wieder beschränkt werden können. Stattdessen müssten das formale Recht und die Grenzen seiner Ausübung zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen werden. Die Schranken des Rechts sollen also aus dem jeweiligen Recht selbst ermittelt werden: Aus dessen „ethischen und sozialen Funktionen“ würde sich ergeben, „daß eine zweckfremde, funktionswidrige Ausübungshandlung durch den Inhalt des Rechts nicht mehr gedeckt wird“.14

7.3 Die Schwäche der Innentheorie – eine petitio principii Am Beispiel des Verbraucherwiderrufs lassen sich die Probleme dieser Sichtweise gut veranschaulichen: Das Widerrufsrecht soll nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers ohne Angabe von Gründen ausgeübt werden dürfen. Dem Recht selbst sind also keinerlei Schranken oder Grenzen zu entnehmen. Die Anhänger der Innentheorie müssen denn auch einräumen, dass Normen über ihre „ethischen Funktionen“ zumeist schweigen, sodass offen bleibt, ob nun ein wirklicher oder „nur noch scheinbarer Gebrauch des Rechts“ stattfindet. Es obliege daher dem Richter von Amts wegen und im Einzelfall, „die Grenzen“ zu bestimmen“. Dabei sind sie sich darüber im Klaren, dass ihre Lehre nicht nur von den Prämissen des römischen Rechts und der Pandektistik, sondern auch vom BGB erheblich abweicht: Schon die Verfasser des BGB haben einen rechtsbegrifflichen Monismus in Gestalt einer generellen Beschränkung formalen Rechts für bedenklich gehalten, weil sie „an die Stelle der objektiven Rechtsnorm das Gefühl des Richters setze und die Grenze zwischen Recht und Moral verwische“. Diese Bedenken würden letztlich daher rühren, dass die um 1900 „herrschenden liberalen Anschauungen dem Gedanken einer generellen Beschränkung der Rechtsausübung nicht gerade günstig waren“.15 Die Innentheorie beseitigt also das Primat formalen Rechts und lässt den Doppelschritt von Regel und Ausnahme (exceptio) in einer einzigen, offenen Abwägung aufgehen. Sie reißt das Bollwerk nieder, das die Vermutung individueller Selbstbestimmung gegen politische Vereinnahmung errichtet und bricht den Widerstand, den das Erfordernis ihrer Widerlegung erzeugt. So läuft mit dem formalen Recht auch die „Freiheit“ Gefahr, jeden Maßstab zu

Resümee

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verlieren: Der richterliche Herkules kann die „Werte“, die er für „vernünftig“ hält, in den Begriff der Freiheit hineinlegen, um sie als Begründung wieder aus ihm herauszuziehen. An die Stelle des Regel-Ausnahme-Verfahrens wäre dann eine petitio principii getreten.16 Max Weber hätte in einer solchen zirkulären Methodologie das Beispiel einer irrationalen Rechtsbildung gesehen.

7.4 Resümee Der Judikatur des Bundesgerichtshofs zum Verbraucherwiderruf ist im Ergebnis ohne Einschränkungen beizupflichten. In Zeiten des Klimawandels, der Ressourcenknappheit und ökologischer Katastrophen gehört es zu den vornehmsten Aufgaben der Rechtsprechung, einer ungebremsten Massenvernichtung von Waren entgegenzuwirken. Wie bereits ausgeführt, gibt es sowohl eine Eingliedrigkeit des „formalen“ als auch eine Eingliedrigkeit des „materialen“ Rechts. Beide Arten des rechtsbegrifflichen Monismus sind abzulehnen. Die formale Eingliedrigkeit, weil sie extremem Unrecht Tür und Tor öffnen würde, und die materiale Eingliedrigkeit, weil sie subjektiver Willkür und Kadijustiz zum Einzug in die Rechtsordnung verhelfen könnte. Was speziell die Innentheorie anbelangt, so hatte diese in der Geschichte hinreichend Gelegenheit, die Ideologieanfälligkeit einer materialen Eingliedrigkeit unter Beweis zu stellen. Es ist an der Zeit, sie endlich für obsolet zu erklären. Im Übrigen wirft die Rechtsprechung zum Verbraucherwiderruf auch ein Licht auf die Entstehung von Gewohnheitsrecht. Es darf an die Aussagen von Bruno Schmidt erinnert werden, Gewohnheitsrecht würde nur entstehen, wenn ein Rechtsanwender nicht als „Subsumtionsautomat“ auftrete und die Grenzen seiner Kompetenzen überschreite.17 Diese Voraussetzungen sind beim Verbraucherwiderruf zweifellos erfüllt, weil nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers die Motive für den Widerruf nicht überprüft werden dürfen, also auch rechtsmissbräuchliches Handeln zulässig sein soll. Nun könne, so Schmidt, der Staat einer abweichenden richterlichen Entscheidung entweder widersprechen oder sie stillschweigend akzeptieren. Schweige er und folge die communis opinio der Entscheidung, entstehe neues Recht in Form von Gewohnheitsrecht. In diesem Sinne ist es heute gewohnheitsrechtlich anerkannt, dass die Gerichte Motive für einen Verbraucherwiderruf prüfen dürfen. Allen Unkenrufen zum Trotz: Gewohnheitsrecht ist nach wie vor imstande, Gesetzesrecht zu derogieren!

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Die dritte, am nächsten liegende Möglichkeit, nämlich durch staatliche Gesetzgebung das Problem zu regeln, hat Bruno Schmidt begreiflicherweise gar nicht in Betracht gezogen. Offenbar war er sich darüber im Klaren, dass es ungeachtet aller Normenflut überaus selten ist, dass ein Gesetzgeber in solchen Fällen die Initiative ergreift. So hat es fast 100 Jahre gedauert, bis zuvor nur gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsfiguren wie z. B. culpa in contrahendo, positive Forderungsverletzung oder Wegfall der Geschäftsgrundlage Eingang ins Gesetz gefunden haben. Der besondere Reiz der contra legem-Entscheidungen zum Verbraucherwiderruf im Online-Handel rührt nun daher, dass das Umweltministerium jüngst tatsächlich einen Gesetzentwurf zur Eindämmung massenhafter Warenvernichtung vorgelegt hat.18 Den Ansatzpunkt bilden hier jedoch nicht die Folgen des vom Gesetzgeber selbst erzeugten Problems eines ungehemmten Widerrufsrechts, sondern die Online-Händler, denen die Vernichtung der massenhaften Rücksendungen verboten werden soll. Sinn und Unsinn dieses Unterfangens können hier dahingestellt bleiben. Aus rechtsquellentheoretischer Perspektive interessiert vielmehr die Frage: Wo liegen die Grenzen eines Subsumtionsautomaten? Und wie können Wertungen, zu denen sich die Rechtsprechung genötigt sieht, neues Recht erzeugen? Der jüngste Gesetzentwurf des Umweltministeriums zur Vermeidung von Warenvernichtung legt es jedenfalls nahe, auf eine stillschweigende Akzeptanz der Rechtsprechung zum Verbraucherwiderruf zu schließen. Denn wer erklärtermaßen massenhafter Warenvernichtung Einhalt gebieten möchte, wird sich hüten, unter Verweis auf die Gewaltenteilung Entscheidungen zu widersprechen, die das gleiche Ziel verfolgen. Von hier aus zeigt sich ein weiteres Problem, das, soweit ersichtlich, in der Legal- Tech-Literatur bislang nicht angesprochen wurde: Der Begriff der „Wertung“ muss, und zwar selbst in den scheinbar einfachsten Fällen, in einem weiten Sinne verstanden werden. Die Aufgabe besteht keineswegs nur darin, Härten zu lindern oder Lücken der Rechtsordnung zu füllen. Die Wertungen können auch zur Anpassung vorhandenen Rechts an gewandelte gesellschaftliche Gegebenheiten und zur Korrektur von Fehlentscheidungen des Gesetzgebers durch Rechtsänderungen und Erzeugung neuen Rechts führen. Solche Feststellungen wird man in den Entscheidungsgründen der höchstrichterlichen Rechtsprechung freilich vergeblich suchen. Denn sie konterkarieren die Idee vom Subsumtionsautomaten und müssen, wie Hatschek nicht ohne Ironie hervorgehoben hat, „unter allen Umständen vermieden werden“.

Anmerkungen

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Siehe nur den Titel des „global bestsellers“ von Richard Susskind, The End of Lawyers. Rethinking the Nature of Legal Sciences (2008), Revised Edition, Oxford 2010. Weitere Nachweise im nächsten Kapitel. Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Auflage, Heidelberg 1963, S. 14 f. Der Sache nach finden wir die Idee einer solchen Simultaneität bereits bei Savigny, der das Thema unter dem Stichwort „Methode der Römischen Juristen“ erörtert (Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidel­berg 1814, S. 30 f.). Anders als bei Engisch nimmt die ‚Wanderung‘ bei Savigny aber nicht beim „Obersatz“, sondern der „lebendigsten Anschauung“ des Einzelfalls ihren Ausgangspunkt. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, Berlin 1840, § 56 (S. 371). Savigny, System I (Anm. 3), § 52 (S. 332). Dort auch zum Konzept des Rechts als Grenze: „Die Regel, wodurch jene Gränze und durch sie dieser freye Raum bestimmt wird, ist das Recht“ (System I, a. a. O., S. 332). Die Aussage ist häufiger als Beleg dafür genommen worden, dass Savigny kantianisch gelesen werden müsse, weil er wie Kant alles Recht aus der sittlichen Freiheit jedes einzelnen Menschen ableite und damit lediglich individualethisch argumentiere, z. B. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage, Göttingen 1967, S. 353. Diese Deutung verkennt, dass Savigny nicht nur von Verschiedenheit, sondern auch von Verwandtschaft spricht, also kein Problem damit hat, ethische Elemente ebenfalls in seinem Rechtsbegriff unterzubringen (zum formalen Recht des Reichen siehe den Nachweis Anm. 3; zum Gebot einer Milderung von Härten System I, a. a. O., § 15, S. 54 – 56). Da die Billigkeit (lediglich) ein Sammelbegriff ist und auch utilitaristische Zweckmäßigkeitserwägungen (ratio utilitatis) umfasst, würde das Recht Savigny zufolge auch eine Kompensation von Machtungleichgewichten bewirken können. Weniger elaboriert, im Kern aber identisch, findet sich dieser Dualismus auch bei vielen anderen Autoren des romanistischen Zweigs. Ja, es ließe sich wohl sagen: Der Dualismus bildet geradezu das Proprium des Rechtsbegriffs der Histo­ rischen Rechtsschule, vgl. Meder, Aequitas und ius strictum in der Historischen Rechtsschule und Pandektistik, in: Matthias Armgardt, Hubertus Busche (Hg.), Recht und Billigkeit (im Erscheinen). Savignys komplexe Vorstellungen über die „Verwandtschaft“ von Recht und Sittlichkeit (System I, a. a. O., § 52) können hier freilich nicht eingehender erörtert werden. Gottfried Wilhelm Leibniz, Elementa Juris Naturalis (1669 – 1671), in: AkademieAusgabe VI 1, S. 431 – 485, 455. In der Literatur ist wiederholt bemerkt worden, dass die „Algorithmenlogik“ zu einer Entpersonalisierung – zu einem Verschwinden des Subjekts im Recht führen könne (siehe die Nachweise bei Frederik von Harbou, Abschied vom Einzelfall? – Perspektiven der Digitalisierung von Verwaltungsverfahren, in: JZ 75, 2020, S. 340 – 348, 346, 348). Daran ist richtig, dass eine

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Anmerkungen

an Mustern und gleichförmigen Merkmalen ausgerichtete Entscheidung Gefahr läuft, die Individualität der Fälle und die Besonderheiten zu verkennen, die einem bestimmten Geschehen seine Einzigartigkeit verleihen (siehe auch Anm. 17 sowie 9. Kapitel a. E.). Es bleibt aber zu beachten, dass die Billigkeit, vereinfacht gesagt, ein Sammelbegriff für ‚Ethik‘ ist, die, etwa in Gestalt der Nachhaltigkeit, nicht nur das Individuum oder sein subjektives Interesse, sondern auch das Gemeinwohl schützt (siehe das Beispiel unten Kapitel 7.2). Dazu näher Okko Behrends, Struktur und Wert. Zum institutionellen und prinzipiellen Denken im geltenden Recht (1990), in: ders. (Hg.), Institut und Prinzip. Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden republikanischen Konzeptionen in den kaiserzeitlichen Rechtsschulen, II Bände (2004), Band I, Göttingen 2004, S. 55 – 89. Zu den rechtsphilosophischen Grundlagen des Schemas von Ausnahme und Regel siehe Meder, Der unbekannte Leibniz, Köln u. a. 2018, S. 77 – 83. Dabei versteht sich, dass zur „Regel“ im Sinne von formaler Rationalität insbesondere auch Freiheit und Gleichheit gehören (vgl. Anm. 4: „der freye Raum“). Gierke hat bestritten, dass Freiheit und Gleichheit dem individuellen Willen eine unumschränkte Herrschaftsmacht verleihen können. Nach seiner Auffassung widerspricht es „der tieferen Einsicht in das Wesen der Dinge, das Princip der Gleichheit zu setzen, um es sofort durch hundert Ausnahmen wieder aufzuheben. Denn entweder ist das Princip richtig: dann sind die Ausnahmen principwidrig und drängen auf Beseitigung: Oder die Ausnahmen sind begründet: dann ist das Princip eine leere und schädliche Abstraktion“ (Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. II, Berlin 1873, S. 35). Gierke nimmt also Anstoß an einer Trennung von Regel und Ausnahme und sucht den rechtsphiloso­phischen Dualismus in einem „materialen“ Monismus aufzulösen. Insofern wird er zu Recht als ein Vordenker der berüchtigten „Innentheorie“ bezeichnet (siehe unten Kapitel 7.2 und 7.3), den, in den Worten Max Webers, „gerade das irrationale, antiformale Element“ wissenschaftlich reizte (Kapitel 4.5). „Der Philosophie steht eine neue grosse Zeit bevor“, Interview von Claudia Mäder mit David Precht, in: Neue Zürcher Zeitung vom 19. November 2016, S. 48. Als weiteres Beispiel könnte das Stück „Terror“ des gelernten Juristen, Schriftstellers und Dramatikers Ferdinand von Schierach genannt werden, der ‚Recht‘ ebenfalls auf seine formalen Qualitäten zu reduzieren sucht. Das Stück ist mit großem Erfolg im Theater gelaufen und am 17. Oktober 2016 als Fernsehfilm von der ARD ausgestrahlt worden. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Entführung eines Verkehrsflugzeugs mit 164 Passagieren, das Terroristen über einem mit 70.000 Zuschauern besetzten Fußballstadion zum Absturz bringen wollten. Angeklagt wurde ein Pilot der Bundeswehr, der das Flugzeug gegen den Befehl seines Vorgesetzten abschoss. Der Prozess dreht sich um die Frage, ob ein abstraktes Prinzip es dem Piloten verwehren könne, durch die Tötung von 164 Passagieren 70.000 Menschenleben zu retten. Das Prinzip, um das es geht, ist die Menschenwürde, wonach jedes einzelne

Anmerkungen

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Leben absoluten Schutz verdiene. Dem Drehbuch zufolge hätte der Pilot nach geltendem Recht wegen Mordes an 164 Menschen verurteilt werden müssen. Dass er durch seine Tat 70.000 Menschenleben rettete, hätte wegen des formalen Charakters der Menschenwürde nicht berücksichtigt werden können: Denn zwischen Recht und Ethik müsse scharf getrennt werden, nur in der Ethik, nicht aber im Recht hätte für derartige Kollisionslagen eine Lösung gefunden werden können. So sehr diese Rechtskritik den Erwartungen der Öffentlichkeit entgegenkommen mag, so unzutreffend ist sie. Die Rechtsordnung kann durchaus über die Billigkeit, hier in Gestalt der persönlichen Zumutbarkeit, Ausnahmen vom formalen Recht zulassen, worauf in der Wissenschaft auch hingewiesen wurde, vgl. Wolfgang Schild, Verwirrende Rechtsbelehrung. Zu Ferdinand von Schierachs ‚Terror‘, Münster 2016; Thomas Fischer, „Terror“ – Ferdinand von Schierach auf allen Kanälen (Zeit online, https://www.zeit.de/autoren/F/Thomas_Fischer/index). Im Übrigen hat das Drehbuch Kants Rechtsphilosophie (unter dem Gesichtspunkt einer radikalen Trennung von Recht und Ethik) zwar korrekt gewürdigt (anders Fischer, a. a. O., S. 5), aber verkannt, dass sie angesichts ihrer Eingliedrigkeit hinter den Leistungen einer am römischen Recht orientierten Tradition weit zurückbleibt. Mit dem Stück „Terror“ reiht sich Ferdinand von Schierach in jene lange Reihe von Autoren ein, die glauben, dass Recht in erster Linie Formalrecht sei. Dann müsste man „bei Jura“ in der Tat „wirklich nur selten denken“ und könnte das ganze „Ordnungssystem“ wie eine Maschine „ganz leicht durchrattern“ (siehe auch die Nachweise zu Stimmen aus dem Gebiet der Literaturwissenschaften im 5. Kapitel bei Anm. 10). 8 Zum Widerrufsrecht des Verbrauchers siehe etwa § 355 Absatz 1 Satz 4 BGB. Näher Meder, Das Verbraucherwiderrufsrecht, in: jurisPR-BKR 7/2018, Anm. 1 (mit weiteren Nachweisen). 9 Hatschek, Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Bd. I: Die Verfassung, Tübingen 1905, S. 157 (siehe auch 6. Kapitel, Anm. 18). 10 Siehe z. B. Oskar Hartwieg, Tatsachen- und Normarbeit im Rechtsvergleich, Tübingen 2003, S. 73 – 74. 11 Zur aktuellen Rechtsprechung: BGH, NJW-RR 2005 (Urteil v. 16. Februar 2005), S. 619, 621; BGH, NJW 2016 (Urteil v. 12. Juli 2016), S. 3516, 3517 Rn. 43; OLG Stuttgart, BKR 2017 (Urteil v. 7. Februar 2017), S. 195, 198 Rn. 65 (jeweils mit dem Hinweis, nur im Einzelfall könne ermittelt werden, „welche Anforderungen sich daraus ergeben“). Zum ersten Urteil BGH, NJW-RR 2005 (Urteil v. 16. Februar 2005), S. 619, 621, mit Hinweis auf Palandt/Heinrichs, BGB, 64. Auflage, München 2005, § 242 Rn. 38. 12 Zur Innentheorie: Palandt/Heinrichs, BGB (Anm. 11), § 242 Rn. 38; BGHZ 30, 140, 145; Hans Carl Nipperdey, in: Ludwig Enneccerus, Allgemeiner Teil des Bürger­ lichen Rechts, 15. Auflage (1960), § 239 III (S. 1439 – 1443). Grundlegend Wolfgang Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung, Marburg 1934; ders.,

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Anmerkungen

Die neueste grundsätzliche Entscheidung des Reichsgerichts über die Verwirkung, in: JW 1937, S. 2495 – 2496. Dazu näher Hans-Peter Haferkamp, in: HistorischKritischer Kommentar zum BGB, Bd. II, 1, Tübingen 2007, § 242 Rdnr. 53 f. Siehe die Nachweise bei Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, München 1988, S. 860. In diesem Kontext sind auch die Freiheiten zu begreifen, welche die Innentheorie dem Richter gegenüber dem Gesetz einräumt (siehe auch 3. Kapitel bei Anm. 12). Hans Carl Nipperdey, in: Ludwig Enneccerus, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Auflage, Tübingen 1960, § 239 III , S. 1439 – 1443, 1440. Gerne wird daher betont, dass sie nicht dem liberalen, sondern „dem deutschen Rechtsdenken“ entspricht, Enneccerus/Nipperdey, a. a. O., S. 1440, 1442 f.; Siebert, Die neueste Entscheidung (Anm. 12), S. 2495 f. „Liberal“ darf hier in abwertendem Sinne als Kritik an der formalen Rationalität verstanden werden. In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal an die oben (Anm. 6) zitierte Gierke-Stelle erinnert. Nachweise bei Enneccerus/Nipperdey (Anm. 14), S. 1440. Abermals wird deutlich, dass sich hinter einer vermeintlich „unbegrenzten Auslegung“ die politische Intention verbirgt, die überkommene Rechtsordnung aufzulösen, um dem „neuen Staate“ und der „neuen Weltanschauung“ die Bahn zu brechen (siehe auch 3. Kapitel bei Anm. 12). Vgl. nur Siebert, Die neueste Entscheidung (Anm. 12), S. 2495 f. („deutschrechtliche“ Sicht auf den Vertrag, dessen „Gestaltungsaufgabe in der Gesamtordnung“ sich aus dem heteronom determinierten „Gemeinschaftsgedanken im Rechtsverkehr unter den Volksgenossen“ ergebe). Siehe auch Karl Larenz, Der Vertrag als Gestaltungsmittel der völkischen Ordnung, in: Vertrag und Unrecht, Hamburg 1937, S. 31 – 36 (Kritik der formalrechtlichen Betrachtungsweise des Liberalismus; Vertrag als „von vornherein“ zweckbestimmte und durch die „völkische Ordnung“ geprägte „Gestaltungsmöglichkeit“); Franz Wieacker, Der Stand der Rechtserneuerung auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts, in: Karl August Eckhardt (Hg.), Deutsche Rechtswissenschaft, Hamburg 1937, S. 3 – 27, 15 und 23 (Kritik der „liberalindividualistischen Gesellschaftstheorie“, woraus das „Rechtssubjekt“ mit der „um seiner selbst willen verliehenen Willensmacht hervorging“). Bruno Schmidt, Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemeinwillens, Leipzig 1899, S. 15 (siehe auch 6. Kapitel bei Anm. 18). Die Legitimation einer solchen ‚Grenzüberschreitung‘ hängt abermals am Postulat eines zweigliedrigen Rechtsbegriffs, dessen Merkmale unter Stichworten wie Umstände des Einzelfalls, Härte oder rechtsmissbräuchliches Verhalten in diesem Kapitel eingehender erörtert wurden (siehe z. B. oben Kapitel 7.1 bei Anm. 5). Zutreffend ist jüngst festgestellt worden, dass „sich allgemeine Grundsätze der Einzelfallgerechtigkeit nur schwer aus der Verfassung ableiten lassen“ (Harbou, Abschied vom Einzelfall, Anm. 5, S. 348): „Am ehesten noch aus den Grundrechten, die dann eine Sonderbehandlung von Personen erfordern, wenn die Anwendung formaler Regeln“ eine „unbillige ­Belastung bedeutete“

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(Harbou, a. a. O., S. 348 – Hervorhebungen nicht im Original; im Anschluss an Gabriele Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung, Tübingen 2008, S. 12). Auch von dieser Seite zeigt sich also, dass die Idee der Einzelfallgerechtigkeit im Spannungsfeld von ius strictum und aequitas (im Sinne eines Sammelbegriffs, der auch Natur der Sache, Verhältnismäßigkeit, Sachlogik oder ‚Leben‘ umfasst) liegt. Aber treffen die Grundrechte, die sich nicht zuletzt durch ihre Unbestimmtheit auszeichnen, wirklich eine Aussage über jene komplexen Wechselbeziehungen von formalen und materialen Elementen, die den Kern des Rechtsbegriffs ausmachen? Ließe sich mit all denjenigen, die das Prinzip der Gewaltenteilung ins Spiel bringen, nicht genauso das Gegenteil behaupten? Für den kontinentaleuropäischen Juristen ist die Versuchung groß, von Erkundungen auf den Gebieten des Rechtsbegriffs abzusehen und die Frage nach der Legitimation von ‚Grenzüberschreitungen‘ mit einem hermeneutischen Zirkel, d. h. dem schlichten Hinweis auf die Verfassung, Gesetzgebung oder sonstige ‚Normen‘ zu erledigen. Sehr zu Recht betont ­Harbou, dass die Entscheidung, ob die „Anwendung  formaler Regeln“ eine „unbillige Belastung“ bedeutet, „aufwendige materielle Wertungen“ erfordert (a. a. O.). Aber was sind das für Wertungen? Werden sie nur im öffentlichen Recht oder auch im Privat­recht getroffen? Und: Wie groß ist der Aufwand? Zielen die Bemerkungen von Harbou auf jenen Begründungsaufwand, den die Anhänger der Innentheorie (siehe oben Kapitel 7.2 und 7.3) glauben, sich ersparen zu können? Handeln sie vom Aufwand, den betreiben muss, wer die Billigkeit als Sammelbegriff für eine Art von ‚Ethik‘ begreift, die als die „andere Seite des Rechts“ (Kapitel 8.5) in bestimmten Ausnahmefällen die Vermutung einer Geltung „formaler Regeln“ zu widerlegen weiß (zu den Spannungen zwischen individualer und sozialer Rechtsethik vgl. Meder, Zwischen strengem Formalismus und totaler Materialisierung, in: FS Wiethölter, KJ 52, 2019, S. 528 – 542, 534 f.)? Diese zweite Frage, die zugleich eine Antwort ist, wirft auch ein Licht auf die sogenannte „Drittwirkung der Grundrechte“ und die Unterscheidung von „einfachem Recht“ und Verfassungsrecht: Die „aufwendigen materiellen Wertungen“ müssen dort getroffen werden, wo das Problem auftritt (siehe. oben Kapitel 7.2 und 7.3). Einfaches Recht kann also schwierig sein. 18 Vgl. nur den aktuellen Bericht, Regierung will massenhafte Warenvernichtung stoppen, Die Zeit v. 12. Februar 2020, S. 12 (der Bericht weiß natürlich nichts von den Problemen, die das vom Gesetzgeber befohlene freie Widerrufsrecht des Verbrauchers in der Rechtspraxis aufwirft).

8 Vom Subsumtionsautomaten zur Algokratie Das erste juristische Maschinenzeitalter begann, wie bereits ausgeführt, gut 100 Jahre vor der industriellen Revolution um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Ein berühmtes Beispiel für die staatsphilosophischen Prämissen des vernunftrechtlichen Rationalismus bildet Hobbes’ übermächtiger Automat namens Leviathan, der in Gestalt eines artificial man auf einer tabula rasa operiert und über alles und jedes disponieren kann. Nach der politischen Metaphorik des Staats als Maschine besteht die vornehmste Aufgabe des Souveräns darin, die Gesetze nach seinem Willen möglichst genau und detailliert ‚vorzuschreiben‘, um den Richter auf den Buchstaben und Wortlaut eines Textes zu beschränken. Savigny, Puchta und viele andere sind Anfang des 19. Jahrhunderts gegen die formale Entscheidungsrationalität des politischen Voluntarismus angetreten, um bald darauf selbst zur Zielscheibe der Kritik zu werden. Dass die Fehldeutungen der ‚Begriffsjurisprudenz‘ noch im vorigen Jahrhundert dominierend wirkten und im Grunde bis heute fortdauern, ist ebenfalls bereits ausgeführt worden. Neue Impulse empfing die Idee vom Subsumtionsautomaten vor rund 50 Jahren, als sich die ersten Anzeichen eines zweiten juristischen Maschinenzeitalters bemerkbar machten, dessen Merkmale unter Stichworten wie autonome technische Systeme, Legal Technology oder Legal Tech aktuell wieder lebhaft diskutiert werden.

8.1 Der Subsumtionsautomat 1.0 – erste Programme zur Formalisierung juristischer Entscheidungsrationalität In den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren unternahm in Deutschland eine Gruppe von Rechtswissenschaftlern, Logikern, Informatikern und Linguisten den Versuch, Grundlagen für eine automatische Analyse der Interpretation von Gesetzestexten zu schaffen. Schon damals wurden jene Vorzüge einer technischen Problemlösung gepriesen, die auch heute wieder hervorgehoben werden: Erleichterung der richterlichen Tätigkeit, Schnelligkeit und Kostengünstigkeit der Entscheidungen, Ausschluss privater Meinungen der Entscheider. Ziel war es, Programme zur Formalisierung von Rechtssätzen und zur Ableitung von Subsumtionen aus einem f­ormallogischen

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­ ergleich von Ober- und Untersätzen zu entwickeln. Dies sollte auf Basis V eines engen, neopositivistischen Wissenschaftsbegriffs geschehen, der nur solche Forschungsmethoden anerkennt, die in hohem Maße formalisiert und aus Logiken abgeleiteten Algorithmen erarbeitet sind. 1 Was die Terminologie anbelangt, so fällt auf, dass zuvor verpönte Begriffe wie mechanische oder automatische Subsumtion, aber auch Logik, Deduktion und Mathematik selbst in rechtstheoretisch informierten Kreisen nun ganz unbefangen und ohne Vorbehalte gebraucht werden konnten. Die Situation eines Entscheidungsautomaten scheint im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, jedenfalls bei einem beachtlichen Teil der Rechtsgelehrten, ihre pejorativen Konnotationen verloren zu haben: Sie wurde jetzt nicht mehr als peinlich, sondern wieder, wie im ersten juristischen Maschinenzeitalter, als Fortschritt und als Wunschziel betrachtet. Im Rückblick zeigt sich freilich ein verblüffend unreflektierter Subsumtionsbegriff, der intuitive oder in subjektiven Vorverständnissen versteckte Wertungen mit logischen Kalkülen vermengte.2 Hier setzten die Gegner dieser ersten Bemühungen um eine neue Formalisierung der Entscheidungsrationalität an. Erinnert sei nur an einige Einwände, welche die Brüder Hubert L. und Stuart E. Dreyfuß im Jahre 1986 vorgetragen haben. 80 Jahre nach Kantorowicz’ „Kampf um die Rechtswissenschaft“ sprechen nämlich auch sie, und zwar schon im Untertitel ihres viel diskutierten Buches über die Grenzen informationstechnologischen Fortschritts, wieder von einer „Denkmaschine“:3 Alle Versuche, die natürliche Sprach­fähigkeit auf einem Computer abzubilden, seien zum Scheitern verurteilt, da menschliche Alltagskompetenzen nicht auf Normen, sondern auf Intuition als Form leibgebundenen Wissens basieren. Dieses Wissen sei grundsätzlich nicht mit Regeln zu rekonstruieren. Der Mensch müsse daher notwendigerweise einen Vorsprung vor dem Computer behalten. Dominierend wirkte also die bis heute lebhaft diskutierte These, dass bestimmte menschliche Leistungen nicht von „Denkmaschinen“ erbracht werden sollten, weil diese eben doch anders als Menschen funktionieren. Daneben gab es auch Stimmen, die Computer tatsächlich für so leistungsfähig hielten, wie die Visionäre der Informationstechnologie es behaupteten. Gerade deshalb sollten ihnen bestimmte Entscheidungen auf keinen Fall überlassen bleiben, selbst wenn sie die Fähigkeit hierzu eines Tages erlangen würden. Unbeeindruckt von derartigen Einwänden setzten viele Autoren ihre Hoffnungen freilich weiterhin auf den Subsumtionsautomaten, weil sie glaubten, die c­ omputergestützte Rechtsanwendung könne eine kostengünstigere und unabhängigere Entscheidung gewährleisten. 4

Erste Programme zur Formalisierung juristischer Entscheidungsrationalität

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Um normativ unerwünschten individuellen Präferenzen oder Vorurteilen entgegenzuwirken, wurde schon frühzeitig versucht, Automaten in einer Weise zu programmieren, dass sie nur innerhalb von Entscheidungsbäumen operieren. Der Entscheidungsbaum (decision tree) vermag auf die kontinentale Rechtswissenschaft deshalb so große Anziehungskraft auszuüben, weil sein Diagramm eine Struktur anbietet, die mit einem Justizsyllogismus in vieler Hinsicht übereinstimmt: Entscheidungsbäume sind vertikal strukturiert und arbeiten auf Grundlage vordefinierter Regeln. Da jedem Pfad die sogenannte „if-then“-Regel zugrunde liegt, können logische Schlüsse gezogen und Ergebnisse abgeleitet werden. Juristisch gesehen finden sich an den Astenden die Tatbestandsvoraussetzungen von Rechtsnormen, deren Anwendung eindeutig entweder zu bejahen oder zu verneinen ist. Unter den Prämissen gesetzestreuer Rechtsanwendung muss eine solche binäre Opposition unmittelbar einleuchten, weil durch Tatbestände formulierte Regeln oft ebenfalls auf einem „wenn-dann“-Schema, d. h. auf einem Konditionalprogramm beruhen, wonach die Rechtsfolge im konkreten Fall immer nur dann eintritt, wenn dieser sämtliche normativen Voraussetzungen tatsächlich erfüllt.5 Der Justizsyllogismus bildet das Paradebeispiel für eine im Rahmen von Konditionalprogrammen vollzogene Subsumtion. Damit soll nicht behauptet werden, dass es nicht auch Schlussverfahren gäbe, die über eine schlichte justizsyllogistische Rekonstruktion der Subsumtion hinausgingen. Soweit aber Baumstrukturen in Rede stehen, treten Abwägungen und Wertungen hinter das „Mit-dem-Recht-Rechnen“ zurück. Die durch Baumstrukturen bewirkten Formalisierungen der Entscheidungsrationalität harmonieren mit einer Juristenausbildung, die, jedenfalls in Deutschland, nach wie vor auf die traditionellen Formen vertikaler Regelbildung, auf Gesetz, Verordnung und Verwaltungsakt, also letztlich auf Gebote und Verbote konzentriert ist. Dass diese Art von ‚Rationalität‘ auf einer naiven Vorstellung davon beruht, was geschieht, wenn Menschen urteilen, ist schon oft hervorgehoben worden. Jeder Jurist, der Gelegenheit hatte, in der Praxis Erfahrungen zu sammeln, weiß, dass Rechtsfragen nur selten auf Grundlage von Konditionalprogrammen entschieden werden können. Mit dem „wenn-dann“-Schema sind also zugleich die Grenzen einer regelgeleiteten Software und des Entscheidungsbaums angezeigt. Das „Rechnen mit dem Recht“ gestaltet sich in Baumstrukturen deshalb so schwierig, weil Tatbestände auch unbestimmt und Rechtsbegriffe offen formuliert sein können, die Rechtsfindung also nicht vertikal, sondern horizontal verläuft. Hinzu kommt, dass die Rechtssprache

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vielfältige Interpretationen zulässt und die juristische Entscheidung selbst in scheinbar einfach gelagerten Fällen oft eine Berücksichtigung ‚materialer‘ Faktoren verlangt, die jenseits der geschriebenen Normen liegen. Aus diesen Gründen ist jüngst neben die regelgeleitete Software noch eine zweite Spielart automatischer Subsumtion hinzugetreten, und zwar die Entscheidungsfindung mit Hilfe „lernfähiger“ Computersysteme.

8.2 Der Subsumtionsautomat 2.0 – die künstliche Intelligenz und das „Leben“ Dass Computer Musikstücke komponieren und sich dem Menschen bei Dame, Schach oder Go überlegen zeigen, hat den Diskussionen über die Frage, ob nicht auch juristische Entscheidungen mit Automaten getroffen werden können, im 21. Jahrhundert neuen Auftrieb verschafft. Anders als Entscheidungsbäume arbeitet künstliche juristische Intelligenz aktuell nicht primär auf Basis vordefinierter Regeln, sondern auf Grundlage großer Datenmengen in Form von juristischen Sachverhalten, Rechtsprechung, Gesetzestexten, Dogmatik, Kommentarliteratur, Urteilsrezensionen, Lehrmeinungen oder sonstigen Quellen, die in mathematische Gleichungen verwandelt und nach ihrer numerischen Häufigkeit in Bezug auf eine bestimmte Rechtsfrage untersucht werden. Solche Systeme formulieren keine übergeordneten Theorien, die in Form allgemeiner Sätze einen Sachbereich strukturieren könnten; sie suchen Korrelationen zwischen gegebenen Datenpunkten und entwickeln Annahmen und Prognosen über die Plausibilität von Mustern mit den Mitteln von Wahrscheinlichkeit und Statistik. Künstliche Intelligenz pflegt man einer Maschine dann zu attestieren, wenn sie „lernfähig“ ist und nach Abschluss der Lernphase neue, noch unbekannte Daten so verarbeiten kann, dass sich der Output gegenüber dem Input verselbstständigt.6 Die auch „Emergenz“ genannte fehlende Determinierung intelligenter Systeme hat zur Folge, dass sich einzelne Schritte im Zweifel nicht mehr rekonstruieren lassen, die Entscheidung also, wenn überhaupt, nur noch mit Einschränkungen verstanden oder vorhergesehen werden kann. Es ist, um ein in diesem Zusammenhang häufig gebrauchtes Wort aufzugreifen, „opak“, ob das Programm vorhandene Muster lediglich identifiziert und reproduziert oder etwas „hinzutut“ – und damit „neues“ Recht produziert. Das Adjektiv „neu“ gewinnt in den Gebieten künstlicher Intelligenz freilich

Der Subsumtionsautomat 2.0 – Die künstliche Intelligenz und das „Leben“

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eine eigene Färbung. Intelligente Systeme können zwar durchaus auch ‚werten‘ oder ‚abwägen‘. Dabei arbeiten sie jedoch auf Basis vorgegebener Daten. Ihre Informationen und Ergebnisse beruhen nicht auf direkter Anschauung eines Sachverhalts oder unmittelbaren Wahrnehmungen bislang unbekannter Phänomene, sondern nur auf Wertungen, die bereits zuvor getroffen, und Fällen, die in der Vergangenheit entschieden wurden. So bleibt die mangelnde Transparenz mit ihren Schreckensvisionen, denen die Befürchtung zugrunde liegt, dass in einer Algokratie Systeme operieren, deren Entscheidungen menschlicher Vernunft und Verstehen letztlich unzugänglich sind.7 Künstliche Intelligenz kann formal determinierte Regeln abarbeiten und nach den Maßstäben von Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit Muster in Form allgemeiner Aussagen, Prognosen oder Entscheidungen bilden. Aber kann sie auch auslegen, interpretieren, die Bedeutung von Texten verstehen? Die Frage hat interdisziplinären Charakter. Sie berührt sowohl Sprachwissenschaft als auch Philosophie und Rechtstheorie: Gibt es eine objektive Bedeutung von Texten, insbesondere von Gesetzen und Rechtstexten? Nach dem sogenannten „linguistic turn“ wäre hier eine abschlägige Antwort zu erteilen. Die moderne Linguistik bestreitet nämlich, dass die Sprache ein transparentes Medium zur Erfassung dessen ist, was wir Wirklichkeit, Realität oder Leben nennen. Sie nimmt an, alle menschliche Erkenntnis sei durch Sprache ‚strukturiert‘ und die Realität jenseits von Sprache entweder überhaupt nicht existent oder zumindest unerreichbar. An diesem Punkt ergibt sich eine Verbindung zur von Kant eingeleiteten kopernikanischen Wende: Die Parallele zu der modernen Sprachwissenschaft besteht darin, dass schon Kant es aufgegeben hat, die Wirklichkeit zu beschreiben, indem er das ‚Ding an sich‘ in das Reich der Transzendenz verbannte. Nach der kopernikanischen Wende begann er, seine Forschungen auf die Bedingungen der Erkenntnis zu konzentrieren und wurde bekanntlich nicht in den Dingen, der Realität, Wirklichkeit, Welt oder im „Leben“, sondern in den Strukturen der Vernunft fündig. Wer nun bezweifelt, dass eine Software imstande ist, durch die Verarbeitung noch so großer Datenmengen einen Text zu verstehen, muss sich die Frage gefallen lassen: Ist denn ein Mensch dazu in der Lage? Mit der modernen Sprachwissenschaft wäre diese Frage zu verneinen. Denn die Linguistik glaubt, im Text selbst könne keine semantische Bedeutung enthalten sein, diese „werde vom Leser vielmehr erst selbst ‚konstruiert‘“.8 Ein objektives Textverständnis gäbe es danach nicht. Besteht die Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Computer also darin, dass sie Texte, wenn überhaupt, nur ­annähernd

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verstehen können und die Wirklichkeit nur in den Konstruktionen ihrer Vernunft oder Sprache bzw. in den Operationen eines Rechners existiert? Vor dem Versuch einer Antwort sei noch eine Bemerkung zum Zusammenhang mit den Formalismus-Vorwürfen gestattet, die Jhering, Kantorowicz und andere Autoren um die Wende zum 20. Jahrhundert vorgetragen haben.

8.3 Anschlüsse an die Rechtskritik von Jhering und Kantorowicz Jhering schilderte in dialogisch arrangierten Sätzen Kants Transzendentalphilosophie als eine Lehre, der zufolge „die Welt, welche Du bisher wahrzunehmen glaubtest“, nur als „Vorstellung“ und in Gestalt von „Formen Deiner subjektiven Anschauung“ existiere. Mit Blick auf die Resultate der modernen Linguistik wären die „Formen Deiner subjektiven Anschauung“ durch ‚Formen Deiner sprachlichen Konstruktionen‘ auszutauschen oder zu ergänzen. Die daraus entsprungenen Rechtslösungen „vertragen sich nicht mit dem Leben, sie haben eine Welt für sich nötig, in der sie ganz genau für sich allein existieren, fern von jeglicher Berührung mit dem Leben“.9 Jhering beanstandet also, dass die Jurisprudenz durch Kants Transzendentalphilosophie zu einer bloß formalen Wissenschaft herabgewürdigt wird, die jeden Bezug zur gesellschaftlichen Realität – und damit zum „Leben“ – verloren hat. Tatsächlich verwirklicht Kant zufolge rechtliches Handeln eine Regel der Vernunft, deren Gegenstand „außer dem Begriff gar nicht angetroffen wird“. Wie ausgeführt, besteht das Problem von Kants Rechtsphilosophie darin, dass sie nur die formale Seite der Jurisprudenz anerkennt und Elemente der materialen Rationalität möglichst auszublenden sucht.10 Von der Annahme einer konstruierten Wirklichkeit schließt sich also der Kreis zu einer Rechtskritik, die vor mehr als 100 Jahren entworfen wurde. Aus heutiger Sicht knüpfen sich an diesen Befund zwei Fragen, nämlich, ob es ein „Leben“ jenseits vernunftgeleiteter bzw. sprachlicher Formen überhaupt gibt und, falls dies zu verneinen wäre: Kann es uns gleichgültig sein, ob ein Mensch oder eine Maschine interpretiert, weil ohnehin kein objektives Textverständnis und keine Wirklichkeit jenseits der „Formen“ und sprach­ lichen „Konstruktionen“ existiert? In der Jurisprudenz scheint es Stimmen zu geben, die mit Blick auf die Resultate der modernen Sprachphilosophie dazu neigen, diese zweite Frage zu bejahen: „Wenn eine Software anders abwägt

Wo liegt der Unterschied zwischen Schach und Recht?

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als ein Mensch, ist das notwendig schlechter?“ 11 Da die Anhänger des linguistic turn in die Jahre gekommen sind und die Philosophie der juristischen künstlichen Intelligenz noch in den Kinderschuhen steckt, ist es nicht einfach, über die Unterschiede zwischen menschlichen und maschinenmäßigen Interpretationen etwas auszusagen. Vielleicht ließen sich anhand einer konkreten Frage zumindest einige Thesen formulieren.

8.4 Wo liegt der Unterschied zwischen Schach und Recht? Intelligente Systeme liefern dem Menschen Muster, die dieser nie oder nur viel langsamer erkennen könnte. Es erscheint daher verständlich, dass jede neueste „Super-Software“ bei der Veröffentlichung auf Bewunderung stößt und ihr bisweilen sogar übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben werden. Das maschinelle Denken ist aber begrenzt, weil ein Computer nur aus vorgegebenen Datenmengen errechnete Muster zu vermitteln vermag. Zwar gibt es Schach-Software, Schach-Engines, Endspiel- und Eröffnungsdatenbanken, die jeden Großmeister in Staunen versetzen können. Aber diese Fähigkeiten berühren nur einen kleinen Ausschnitt „aller menschlichen Fähigkeiten“, meint Philipp Slusallek vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken: „Die menschlichen Fähigkeiten sind offensichtlich dramatisch viel breiter, allgemeiner und flexibler, als es jeder Computer auf absehbare Zeit sein wird.“ 12 Müssen nicht auch die Fähigkeiten derjenigen „dramatisch viel breiter, allgemeiner und flexibler“ sein, die einen Rechtsfall zu beurteilen haben? Wo liegen die Unterschiede zwischen Schach und Recht? Vereinfacht gesagt beruht Schach auf einer geschlossenen, Recht auf einer offenen Ordnung. Schach ist formal strukturiert, also durch strenge Regeln determiniert, die keine Ausnahmen zulassen. Alle Figuren müssen abhängig von ihrem Typ in einer bestimmten Weise gezogen werden. Ein Schachgebot ist stets zu parieren, der König darf niemals einer Bedrohung ausgesetzt werden und „berührt-geführt“ bedeutet nichts anderes, als dass unbedingt gezogen werden muss. Über diese Beispiele hinaus ließen sich noch viele andere Regeln nennen, die einen reibungslosen Spielablauf gewährleisten sollen und deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass ihre Strenge keine Milderungen kennt. Schachregeln besitzen also einen immanenten Charakter, sie können durch äußere Einflüsse nicht beschränkt, erweitert oder gar korrigiert werden. Nun

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wird auch das Recht als eine Art Schach begreifen, wer den Akzent auf seine formalen Qualitäten legen und es auf eine Summe immanenter Regeln, auf ein geschlossenes System reduzieren möchte. Das ist die Auffassung jener Autoren, die in der Epoche des vernunftrechtlichen Rationalismus glaubten, externe Einflüsse auf das Recht, etwa über Billigkeit oder Interpretation, möglichst ausschalten zu können. Aller Formalismus-Kritik zum Trotz ist diese Sichtweise keineswegs überwunden. Mutatis mutandis lebt sie in den ubiquitären Methodologien gesetzestreuer Rechtsanwendung oder populären Rechtsvorstellungen noch heute fort. Erinnert sei nur an die Bemerkungen des Philosophen David Precht, der meint, das Recht sei „nichts anderes als ein großes Ordnungssystem, das „man ganz leicht durchrattern“ könne. Die Behauptung, das Recht sei letztlich formaler Art, ist aber nicht nur unter Laien, sondern auch unter Juristen nach wie vor verbreitet.13 Sie harmoniert zudem mit einem Verständnis von Juristenausbildung, die den Akzent auf Elemente vertikaler Normsetzung, auf Gesetz und Verordnung, auf Gebot und Verbot legt. Auch an den Subsumtionsautomaten 2.0 ist die Formalismus-Kritik schon herangetragen worden, wenn gefragt wurde, ob Legal Tech angesichts der rezeptiven Struktur algorithmischer Selektion nicht als eine neue Strömung etwa in Richtung auf einen digitalen Neo-Positivismus zu deuten sei.14 Komplexere nachpositivistische Konzepte der Methodik müssen vielleicht tatsächlich bald verabschiedet werden: Denn umso geschlossener ein System auftritt, desto leichter können seine Regeln nach den Maßstäben einer formalisierten Entscheidungsrationalität erfasst werden. Die These würde also lauten: Wir werden eine Renaissance des rechtswissenschaftlichen Formalismus erleben. Die Kritik an der ‚Begriffsjurisprudenz‘ wird stillschweigend ad acta gelegt werden. An ihre Stelle tritt eine Idee von Jurisprudenz als geschlossenem Ordnungssystem, das man nach den Maßstäben gesetzestreuer Rechtsanwendung „ganz leicht durchrattern“ kann. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Unerschütterlichkeit des Glaubens, Juristen könnten durch künstliche Intelligenz bald ersetzt werden. Gewiss lassen sich bereits unter den Prämissen von Neopositivismus und Formalrecht Unterschiede zum Schach feststellen, weil im Recht z. B. die Zahl an Regeln erheblich größer ist und die Rechtssprache eine grundsätz­liche Offenheit für Interpretationen zeigt, die beim Schach den Spielfluss rasch ins Stocken bringen würden. Davon einmal abgesehen, bliebe es aber dabei: Recht und Schach bestehen aus einem Aggregat von Regeln, das durch Faktoren, die außerhalb des Systems liegen, möglichst nicht irritiert werden darf.

Die andere Seite des Rechts: situative Offenheit für die Welt

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8.5 Die andere Seite des Rechts: situative Offenheit für die Welt Ein rechtsphilosophischer Monismus vermag, wie schon ausgeführt, der Komplexität von Jurisprudenz nicht gerecht zu werden. Neben der „formalen Rationalität“ gibt es, um mit Max Weber zu sprechen, im Recht auch eine „materiale Rationalität“. Das bedeutet, dass unter bestimmten Voraussetzungen ethische Imperative, politische Maximen oder utilitaristische Zweckmäßigkeitserwägungen von außerhalb auf das ‚System‘ einwirken und dieses ergänzen, korrigieren oder einzelne seiner Merkmale sogar derogieren können. Anstelle von „außerhalb“ oder „extern“ ließen sich auch erkenntnisoder wissenschaftstheoretische Begriffe wie Realität, Wirklichkeit, Welt und „Leben“ zum Einsatz bringen, die alle jenes zweite Element umschreiben, das als materiale Rationalität von einer lediglich formalen Rationalität unterschieden werden muss. Als Beispiel für ein Gebiet, in welchem die formalen Elemente eine starke Ausprägung erfahren haben, war vorstehend der Verbraucherwiderruf im Online-Handel genannt worden. Während sich die Verbraucher dieses Rechts massenhaft bedienten, ja, es zu ihrem Vorteil schamlos ausnutzten, begann die Öffentlichkeit über Nachhaltigkeit, Ressourcenknappheit, Klimawandel, Müllberge, Wegwerfgesellschaft, Verschwendung seltener Erden etc. zu debattieren. So markierten die ersten höchstrichterlichen Entscheidungen zur Anwendung der Billigkeit auf den Verbraucherwiderruf jenen Punkt, an dem eine externe Kraft – die Wirklichkeit, Gesellschaft oder das „Leben“ – in die Routine einer formalen Konstruktion, in ein nach dem Willen des Gesetzgebers voraussetzungslos ausübbares Widerrufsrecht einbricht und damit bestimmten politischen Maximen, ethischen Imperativen oder Zweckmäßigkeitserwägungen zur Geltung verhilft. Von hier aus fällt zugleich ein Licht auf die Aussage, Schach beanspruche, trotz nahezu unendlicher Spielvariationen und unglaublicher Größe seines Spielbaumes, nur einen „minimalen Ausschnitt menschlicher Fähigkeiten“. Es sind in der Tat begrenzte Fähigkeiten, die ausreichen, weil ein Brettspiel auch bei maximaler Spiel-Komplexität jene Offenheit gar nicht benötigt, die ein Umgang mit der Ungewissheit über den Zustand der Welt erfordert. Unter den Prämissen einer Zweigliedrigkeit des Rechtsbegriffs muss mit Einbrüchen der Welt in die formale Rationalität also jederzeit ‚gerechnet‘ werden. Aber was heißt „Welt“? Es ist doch bezweifelt worden, dass Vernunft oder Sprache ein

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adäquates Mittel zur Erfassung der Wirklichkeit darstellen. Leben wir nicht in einer durch Medien gefilterten, konstruierten Welt? Linguisten, Transzendentalphilosophen und Postmodernisten verschiedenster Provenienz würden dies wohl so sehen. Aber vielleicht würden sie noch hinzufügen: Der Filter wirkt bei künstlicher Intelligenz stärker! Denn hier müssen die Informationen in symbolische Elemente übersetzt, bereits gefilterte Wirklichkeiten also noch einmal auf mathematische Zeichen geschrumpft werden. So käme es beim Einsatz künstlicher Intelligenz zu einer Multiplikation der Filter, was den Abstand zur ‚Wirklichkeit‘ dramatisch vergrößern würde. Im Übrigen besitzen Maschinen bekanntlich keinen biologischen Körper. Sie ‚leben‘ in einer anderen ‚Welt‘ und können viele Erfahrungen mit dem Menschen gar nicht teilen. Niemand war, wohl aus diesem Grund, bislang imstande, menschliche Denkprozesse nachzubilden. Die Programme für Dame, Schach oder Go funktionieren anders als menschliche Intelligenz. Außerdem kennen Menschen ihre eigene Denkweise, wenn überhaupt, nur ungenügend. Noch niemandem ist es daher gelungen, die Spielweise eines Schachgroßmeisters in Form von Algorithmen zu beschreiben. Die n ­ eueste „Super-Software“ mag auf noch so große Bewunderung stoßen: Sie wurde nicht durch Nachahmung menschlicher Intelligenz modelliert. Die in einer Algokratie getroffenen Entscheidungen sind dem Verstehen deshalb unzugänglich oder „opak“, weil sie nicht auf menschlichen Denkprozessen beruhen. Dieser Makel trifft insbesondere die juristische Argumentation und den Inhalt der Begründungen, letztlich also die Legitimation: Solange unklar ist, was das System hinzutut, bleibt nur der Satz „auctoritas non veritas facit legem“. Über die Gefahren eines politischen Dezisionismus oder totalitärer Herrschaft können auch die oft behauptete „Intelligenz“ und „Lernfähigkeit“ der Systeme nicht hinweghelfen. Solche Attribute verniedlichen und vermögen letztlich nur einem naiven Antropomorphismus Ausdruck zu verleihen.

8.6 Erfordernis menschlicher Kontrolle Künstliche Intelligenz kann das Leistungsvermögen des Menschen in vielen Gebieten übertreffen. Die Einsatzbereiche von Legal Tech sind vielfältig und in stetem Wandel begriffen. Online Dispute Resolution, Smart Contracts, Legal Robots oder Rechts-Generatoren wie Fristen- und Gebührenrechner, die vor wenigen Jahren noch utopisch schienen, gehören heute schon fast zur

Erfordernis menschlicher Kontrolle

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Normalität.15 Hinzu kommen Automaten, die an den Rändern der Rechtsordnung operieren, um weiße Flecken auf der juristischen Landkarte zu beseitigen. Gemeint sind Kleinbeträge, die aus dem Recht herausfallen, weil ihre Realisierung mit erheblichen Prozesskostenrisiken verbunden ist. So lohnte es sich für Bahnreisende oder Fluggäste angesichts hoher Anwaltskosten bisher kaum, im Falle von Verspätungen Ansprüche rechtlich geltend zu machen.16 Myright, Flightright oder Bahn-Buddy haben aus der Masse dieser Fälle ein eigenes Geschäftsmodell entwickelt, das freilich noch der rechtstheoretischen Erkundung bedarf. Handelt es sich um eine bisher unbekannte Form von Selbstregulierung, Governance und privater Rechtsetzung? Sind solche „disruptiven Alternativen zum klassischen Anwaltsgeschäft“ (Flightright) Q ­ uellen neuen Rechts, das ohne die technischen Anwendungen überhaupt nicht existieren würde? Bislang müssen Anwälte jedenfalls noch vor Gericht auftreten, wenn auf Basis standardisierter Arbeit keine Lösung zu finden ist. Niedrigbeträge spielen auch in der Versicherungswirtschaft eine wichtige Rolle. Hier entscheiden fast überall schon Algorithmen, wenn eine bestimmte Versicherungssumme unterschritten wird. Zeigen Schadenshergang und Profil des Versicherten keine Auffälligkeiten, erfolgt die automatische Auszahlung ohne weitere Prüfung. Legitimationsprobleme sind hier nicht ersichtlich, da allein die Versicherung das Risiko einer Fehlentscheidung trägt.17 Allerdings soll ein Computer die Ansprüche des Versicherungsnehmers nicht automatisch ablehnen dürfen. Ablehnungen müssen der Kontrolle eines Sachbearbeiters vorbehalten bleiben. Dieser wird dann prüfen, ob längere Geschäftsbeziehungen mit dem Kunden bestehen, ob Wertungen in Gestalt von Billigkeits- oder Kulanzaspekten ins Spiel kommen und eine Zahlung ohne Rechtsgrund ausnahmsweise geboten erscheint. An diesem Punkt kommt wieder die Offenheit einer Rechtsordnung zum Tragen, welche an die Unterschiede zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz erinnert. Eine Kontrolle wird also immer dann erforderlich sein, wenn eine Entscheidung zum Nachteil der Betroffenen ergehen kann. Der Grund liegt abermals darin, dass die Resultate künstlicher Intelligenz nicht auf einer Nachbildung menschlicher Denkprozesse beruhen. Zu Recht wird daher betont, dass an die menschlichen Kontrollinstanzen höchste Anforderungen zu stellen sind. Bloße Plausibilitätskontrollen reichen nicht aus. Angesichts der Defizite formaler Entscheidungsrationalität in offenen Gebieten müssen die Menschen jederzeit in der Lage sein, durch Automaten getroffene Entscheidungen mit unabhängigen Mitteln zu hinterfragen.18

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8.7 Ausblick Eine formale Entscheidungsrationalität wird in offenen Ordnungen wie dem Recht die Probleme kaum lösen können. Zu fordern wäre daher eine eher natürliche als künstliche ‚Maschine‘, die, wie das Gehirn oder das Bewusstsein, idealiter alle menschlichen Fähigkeiten jederzeit abrufen und unmittelbar wahrnehmen kann. Nicht ohne Grund ist jüngst wiederholt davor gewarnt worden, den Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Dingen zu unterschätzen. Als abschreckendes Beispiel gilt das „Human Brain Project“, wofür die Europäische Kommission die gigantische Summe von rund einer Milliarde Euro an Drittmitteln zur Verfügung stellte.19 Die Aufgabe der Projektleiter bestand darin, mit ihrem Team das menschliche Gehirn im Computer nachzubauen. Das hätte einen echten breakthrough bedeutet, wie er in den Ausschreibungen für Drittmittelprojekte so häufig verlangt wird. Nur weiß die Menschheit bis heute noch nicht einmal, wie das Gehirn eines Fadenwurms mit lediglich 300 Neuronen funktioniert. Es war daher von vorneherein unmöglich, das menschliche Gehirn mit über 100 Milliarden Neuronen nachzubauen. Weder das Gehirn noch das menschliche Bewusstsein lassen sich digital reproduzieren, weil sie sich nicht in Rechenleistungen erschöpfen. Das Projekt musste gestoppt werden, nachdem Experten eine unglaubliche Verschwendung von Fördergeldern angemahnt hatten. Mit Blick auf die Naivitäten des „Human Brain Projects“ und die Zweigliedrigkeit des Rechtsbegriffs lässt sich zusammenfassend feststellen: Die Jurisprudenz ist keine geschlossene, sondern, wie die Sprache, eine offene Welt. Eine formale Entscheidungsrationalität wird spätestens dann auf Schwierigkeiten stoßen, wenn der Druck materialer Rationalität auf das strenge Recht ein Maß erreicht, das zur Anpassung an externe Ereignisse nötigt. Das Erfordernis einer solchen Anpassung pflegen Rechtsprechung und Wissenschaft unter Hinweis auf die „Umstände des Einzelfalls“ zu legitimieren. Daran ist richtig, dass es zumeist Einzelfälle sind, welche die Unzulänglichkeit formaler Entscheidungsrationalität offenbaren. Dieser Befund darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den „Umständen des Einzelfalls“ etwas sehr Grundsätzliches und ‚Allgemeines‘, nämlich die situative Offenheit des Rechts für die Ungewissheit über den Zustand der Welt zu Tage tritt. Künstliche Intelligenz hat sich bisher „hauptsächlich mit ‚geschlossenen‘ Welten beschäftigt“, sagte ein Sachkenner vor Kurzem.20 Die Probleme o­ ffener Ordnungen können allein durch Rechenleistungen nicht bewältigt werden,

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und zwar auch dann nicht, wenn diese in den nächsten Jahren weiterhin exponentiell ansteigen. Es bedürfte einer Nachbildung menschlicher Denkund Entscheidungsprozesse, wie sie im Gehirn oder im Bewusstsein vollzogen werden. Die Überzeugung, dass die Denkfähigkeit des Menschen einst vollständig maschinell reproduzierbar sein wird, ist heute weit verbreitet. Andererseits sollten auch die Irrationalität der aktuellen Debatten über künstliche Intelligenz und die berühmten „Visionen“ nicht unterschätzt werden. Der Informatiker Rodney Brooks hat sie jüngst auf die Formel gebracht: Aus dem „Aufstieg effizienterer Verbrennungsmotoren“ folgern viele, „Warp-Antriebe“ würden heute „in greifbarer Nähe liegen“.21 Gewichtige Stimmen wollen die Analogie von Gehirn und Computer mit der Behauptung bestreiten, dass die offenen Welten des Denkens und der Sprache auf Dauer ein m ­ enschliches Proprium bleiben.22 Im zweiten Maschinenzeitalter fällt also ein neues Licht auf Savignys berühmten Vergleich des Rechts mit der Sprache.23 Niemand kann gegenwärtig freilich vorhersehen, welche Rolle Algorithmen in der Jurisprudenz künftig spielen werden. So ist auch nicht auszuschließen, dass sie die juristische Entscheidung einst so stark bestimmen werden, dass Formalismus-Kritiker wieder auf den Plan treten und eine Rückbesinnung auf die reale Welt und das Leben fordern. Diese Kritiker sollten sich dann aber eher auf die Zweigliedrigkeit des Rechtsbegriffs als auf den Irrationalismus eines rechtsphilosophischen Monismus berufen.

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Die Epoche des Subsumtionsautomaten 1.0 zeichnet sich durch ein gesteigertes Interesse an methodologischen und rechtstheoretischen Fragen aus. So greifen zeitgenössische Arbeiten häufig auch das Thema der angeblichen ‚Begriffsjurisprudenz‘ des 19. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur Interessen- oder Wertungsjurisprudenz auf. Da es an eigener rechtshistorischer Expertise mangelt, wird aber überall die Polemik von Jhering und Kantorowicz zum Maßstab erhoben, und zwar in der Gestalt, wie sie von Wieacker, Larenz, Canaris und ungezählten anderen Autoren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts postuliert und weitergetragen wurde, vgl. nur die Nachweise bei Thomas Jandach, Juristische Expertensysteme – Methodische Grundlagen ihrer Entwicklung, Berlin u. a. 1993, S. 105 – 109; Svenja Lena Gräwe, Die Entstehung der Rechtsinformatik. Wissenschaftsgeschichtliche und -theoretische Analyse einer Querschnittsdisziplin, Hamburg 2011, S. 183 – 185. So gehört die noch junge Rechtsinformatik erstaunlicherweise zu jenen Gebieten der Jurisprudenz, in denen von ‚Begriffsjurisprudenz‘ am häufigsten die Rede ist. Eine frühe kritische Auseinandersetzung mit dem Positivismus-Vorwurf gegenüber einer formalen Entscheidungsrationalität findet sich bei Wolfgang Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung. Methodenorientierte Vorstudie, Frankfurt am Main 1974, S. 22 – 24. Zur zeitgenössischen Diskussion über Rechtsmaschinen und Entscheidungstheorie siehe auch die Arbeiten von Wieacker, 3. Kapitel bei Anm. 24 – 27. Dokumentiert wird das Projekt in: Dieter Rave, Hans Brinckmann, Klaus Grimmer (Hg.), Paraphrasen juristischer Texte. Referate und Protokolle der Arbeitstagung im Deutschen Rechenzentrum Darmstadt, 24. – 26. Juni 1971, Darmstadt 1971. Die vorstehende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf Dietrich Busse, Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, Berlin 1993, S. 140 – 161. Siehe ferner: Bernd Jeand’Heur, Die neuere Fachsprache der juristischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Verfassungsrecht und Rechtsmethodik, in: Hugo Steger, Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 14.1, Berlin u. a. 1998, S. 1286 – 1295, 1294; Dietrich Busse, Textlinguistik und Rechtswissenschaft, in: Armin Burkhardt, Hugo Steger, Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 16.1, Berlin u. a. 2000, S. 803 – 811, 804 – 807; Friedemann Vogel, Rechtslinguistik: Bestimmung einer Fachrichtung, in: Handbuch Sprache im Recht, hg. v. Ekkehard Felder, Friedemann Vogel, Berlin u. a. 2017, S. 209 – 230, 215, 223. Marc Queudot und Marie-Jean Meurs führen die wissenschaftlichen Versuche der Anwendung quantitativer Methoden auf die juristische Entscheidung (Jurimetrics) bis auf das Jahr 1963 zurück, Artificial Intelligence and Predictive Justice:

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­ imitations and Perspectives, in: Malek Mouhoub u. a. (Hg.), Recent Trends and L Future Technology in Applied Intelligence, Cham 2018, S. 889 – 897, 889. Hubert L. und Stuart E. Dreyfuß, Künstliche Intelligenz. Von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition (1986), Reinbek 1987; Joseph ­Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft (1976), Frankfurt am Main 1976. Zur Diskussion über die automatisierte Subsumtion in den 1980er- und 1990erJahren siehe Peter Gerathewohl, Erschließung unbestimmter Rechtsbegriffe mit Hilfe des Computers, München 1987; Manfred Weihermüller, Künftiges Informationsmanagement von Juristen, in: Carl-Eugen Eberle (Hg.), Informationstechnik in der Juristenausbildung, München 1989, S. 192 – 204; Heiner Hastedt, Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik, Frankfurt am Main 1991 (insbesondere S. 69 f.); Thomas Jandach, Juristische Expertensysteme (Anm. 1); Hans Kudlich, Information als Herausforderung und Informatik als Hilfsmittel für die Rechtsanwendung im Straf- und Strafprozessrecht, in: Jürgen Taeger, Irini Vassilaki (Hg.), Rechtsinformatik und Informationsrecht im Spannungsfeld von Recht, Informatik und Ökonomie, Edewecht 2009, S. 13 – 23 (insbesondere S. 19); Gräwe, Die Entstehung der Rechtsinformatik (Anm. 1). So schien z. B. für Niklas Luhmann das Recht eines modernen Rechtsstaats für Automatisierung geradezu prädestiniert, weil beide mit dem Konditionalschema über die gleiche Grundstruktur verfügten (Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1966, S. 35, 43 f.: „Die Programminstruktionen“ betreffen „Wahlakte zwischen je zwei Möglichkeiten, deren Entscheidung von jeweils vorgegebenen Bedingungen abhängt“). Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu Luhmanns später formulierter Annahme, die Geltung des Rechts würde auf einer binären Codierung von Recht und Unrecht beruhen (kritisch Meder, Schuld, Zufall, Risiko, Frankfurt am Main 1993, S. 265 – 269). Einen guten Überblick über die Funktionsweise von Entscheidungsbäumen bieten Christoph Beierle, Gabriele Kern-Isberner, Methoden wissensbasierter Systeme. Grundlagen, Algorithmen, Anwendungen, 6. Auflage, Wiesbaden 2019, S. 106 – 116; Wolfgang Ertel, Grundkurs Künstliche Intelligenz, 4. Auflage, Wiesbaden 2016, S. 217 – 219, 308 f.; Brijain R. Patel, Kushik K. Rana, A Survey on Decision Tree Algorithm. For Classification, in: International Journal of Engineering Development and Research 2 (2014), S. 1 – 5; Vladan Vuckovic, Djordje Vidanovic, A New Approach to Draw Detection by Move Repetition in Computer Chess Programming, 2014 (https://arxiv.org/abs/ cs/0406038, zuletzt abgerufen: 11. März 2020). Die binäre Opposition spielt auch in den aktuellen, intelligenten Programmen (siehe unten Kapitel 8.2 – 8.5) noch eine wichtige Rolle. So werden bei der Eingabe von Judikatur zwei Kategorien gebildet, nämlich, ob eine Klage Erfolg hatte oder ob sie abgewiesen wurde, vgl. Rhuan Barros u. a., Case Law Analysis with Machine Learnig in Brazilian Court, in: Malek Mouhoub u. a. (Hg.), Recent Trends and Future Technology in Applied

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Anmerkungen

Intelligence (Anm. 2), S. 857 – 868, 866; Queudot, Meurs, Artificial Intelligence and Predictive Justice (Anm. 2), S. 893. 6 Im Rahmen maschinellen Lernens bauen Algorithmen ein auf Trainingsdaten beruhendes statistisches Modell auf. Dabei werden nicht einfach Regeln oder Beispiele auswendig gelernt, sondern in den Lerndaten Muster und Gesetzmäßigkeiten erkannt. So kann das System in Form eines Lerntransfers auch unbekannte Daten erkennen – oder am Lernen unbekannter Daten eben scheitern. Was speziell die juristische Entscheidung anbelangt, so wird in einem ersten Schritt eine große Zahl von Urteilen in einzelne Hauptkategorien (siehe Anm. 5) und ausdifferenzierte Merkmale gegliedert. Im Anschluss wird untersucht, welche Kombinationen der Merkmale wie oft eine bestimmte Rechtsfolge erzeugen. Wenn eine Merkmalskombination bezogen auf ihre absolute Häufigkeit also in der Mehrheit der Fälle zu einer bestimmten Rechtsfolge führt, lernt der Computer für sich die allgemeine Regel, dass diese Merkmalskombination diese Rechtsfolge hervorruft. Zur „Lernfähigkeit“ intelligenter Systeme siehe: Ulrich Eberl, Was ist ­künstliche Intelligenz – was kann sie leisten?, in: AP uZ 68 (2018), S. 8 – 14, 11 f.; Thomas Wischmeyer, Regulierung intelligenter Systeme, in: AöR 143 (2018), S. 9 – 18, 11 – 14; Ertel, Grundkurs Künstliche Intelligenz (Anm. 5), S. 195; Felix Stalder, Kultur der Digitalität (2016), 2. Auflage, Frankfurt am Main 2017, S. 177 – 181. 7 John Danaher, The Threat of Algocracy: Reality, Resistance and Accomodation, in: Philosophy & Technology 29 (2016), S. 245 – 268; Jörn Erbguth, Juristische Entscheidungen nach maschinellem Bauchgefühl, in: Deutsche Richterzeitung 2018, S. 130 – 131; Sebastian Unger, Demokratische Herrschaft und künstliche Intelligenz, in: ders., Antje von Ungern-Sternberg (Hg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, Tübingen 2019, S. 113 – 128; Frederik von Harbou, Abschied vom Einzelfall? – Perspektiven der Digitalisierung von Verwaltungsverfahren, in: JZ 75 (2020), S. 340 – 348, 345 („nicht selten bleiben die Zwischenschritte […] im Dunkeln“). 8 Siehe nur Axel Adrian, Der Richterautomat ist möglich – Semantik ist nur eine Illusion, in: Rechtstheorie 48 (2017), S. 77 – 121, 84. 9 Näher dazu im 2. Kapitel (bei Anm. 5 – 7). 10 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, B 594, 506 (dazu näher im 2. Kapitel bei Anm. 6; 7. Kapitel bei Anm. 7). 11 Martin Fries, Legal Tech, Vorlesungsfolien, München 2018, Einheit 3: Künstliche juristische Intelligenz, S. 8 (https://www.jura.uni-muenchen.de/personen/f/fries_ engel_martin/veranstaltungen/vorlesung-legal-tech/index.html, zuletzt abgerufen: 11. März 2020). Schon Luhmann meinte, für die logische Stringenz und Richtigkeit einer juristischen Entscheidung sei es unerheblich, ob Entscheidungsprogramme nun durch das menschliche Gehirn oder Maschinen verarbeitet würden (Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, Anm. 5, S. 46 f.): „Aufs letzte gesehen, gibt es keine rationalen Gründe, die Menschenleistung der Maschinenleistung vorzuziehen“ (Recht und Automation, a. a. O., S. 60).

Anmerkungen

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12 Zitiert nach Norbert Lossau, Diese Super-Software bringt sich übermenschliche Leistungen bei (https://www.welt.de/wissenschaft/article169782047, zuletzt abgerufen: 8. März 2020). Das Schachspiel wurde seit jeher als der geeignete Problembereich angesehen, der zuerst bearbeitet werden sollte, um die Leistungsfähigkeit der künstlichen Intelligenz unter Beweis zu stellen. Ursprünglich glaubte man, die gleichen Ergebnisse auch für die Sprache, etwa für das freie Sprechen von Englisch erzielen zu können. Dies hatte sich aber als wissenschaftliche Naivität erwiesen. Bis heute ist kein künstliches System in Sicht, das auch nur annähernd Englisch oder eine andere Sprache sprechen könnte. Der Grund für den Unterschied wird darin gesehen, dass Schach im Vergleich zur Sprache einen eher geschlossenen Problembereich darstellt, vgl. Heinz Mühlenbein, Grenzen der künstlichen Intelligenz – Ein Plädoyer für Bescheidenheit, in: KI 9 (1995), S. 1 – 14, 9 – 11. 13 Im Hintergrund steht der bereits in der Epoche des Vernunftrechts formulierte Gedanke, der Begriff des Rechts sei Normen staatlichen Ursprungs vorbehalten, siehe die Nachweise zur aktuellen Diskussion und dem Problem, auf dieser Grundlage transnationalen Normbildungen entsprechen zu können, bei Meder, Doppelte Körper im Recht. Traditionen des Pluralismus zwischen staatlicher Einheit und transnationaler Vielheit, Tübingen 2015, S. 1. 14 Wolfgang Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung durch Algorithmen, in: AöR 142 (2017), S. 1 – 42, 17. 15 Zum aktuellen Einsatzbereich digitaler Technologien siehe nur: Oliver Raabe u. a., Recht ex machina. Formalisierung des Rechts im Internet der Dienste, Berlin, Heidelberg 2012; Jens Wagner, Legal Tech und Legal Robots in Unternehmen und den diese beratenden Kanzleien, in: BB 2017, S. 898 – 905; Anika Klafki u. a. (Hg.), Digitalisierung und Recht, Hamburg 2017; David Jost, Johann Kempe, E-Justice in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme zur Digitalisierung der Justiz, in: NJW 2017, S. 2705 – 2708. 16 Ulrike Barth, Legal Tech in Deutschland – zwischen Buzz Word und Anwaltsschreck, in: Markus Hartung, Micha-Manuel Bues, Gernot Halbleib (Hg.), Legal Tech. Die Digitalisierung des Rechtsmarktes, München 2018, S. 47 – 52, 48 f.; Ralf B. Abel, Automatisierte Entscheidungen im Einzelfall gem. Art. 22 DS-GVO, in: ZD 2018, S. 304 – 307, 306; Christian Wolf, Der Schlüssel zu einem effizienten Zivilprozessrecht, in: ZRP 2018, S. 183 – 185, 185. 17 Unter diesen Prämissen scheint es legitim, wenn der Algorithmus (im Rahmen von Selbstregulierung und privater Rechtsetzung) nicht offengelegt werden muss. Das Thema „Subsumtionsautomaten in der Versicherungsbranche“ ist, soweit ersichtlich, in der Wissenschaft noch nicht eingehender erörtert worden. Für wertvolle Hinweise danke ich Alexander Djazayeri. 18 Albrecht von Graevenitz, „Zwei mal Zwei ist Grün“ – Mensch und KI im Vergleich, in: ZRP 2018, S. 238 – 240, 340; Ariane Berger, Der automatisierte Verwaltungsakt, in: NVwZ 2018, S. 1260 – 1264, 1264; Abel, Automatisierte Entscheidungen im

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Anmerkungen

Einzelfall gem. Art. 22 DS-GVO (Anm. 16), S. 304 – 307; Mario Martini, David Nink, Wenn Maschinen entscheiden … Persönlichkeitsschutz in vollautomatisierten Verwaltungsverfahren, in: NVwZ 2017, S. 681 – 682; Wischmeyer, Regulierung intelligenter Systeme (Anm. 6), S. 61 – 65. 19 Siehe die Nachweise bei Meder, Leibniz und das autonome Fahren. Zur Vorgeschichte der Ideen von selbststeuernden Maschinen, technischer Kinetik und Robotik, in: Bernd H. Oppermann, Jutta Stender-Vorwachs, Autonomes Fahren. Rechtsprobleme, Rechtsfolgen, technische Grundlagen, 2. Auflage (2020), S. 41 – 47. 20 Mühlenbein, Grenzen der künstlichen Intelligenz (Anm. 12), S. 10. 21 Rodney A. Brooks, Die Verwechslung von Performanz und Kompetenz, in: John Brockmann, Was sollen wir von künstlicher Intelligenz halten? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über intelligente Maschinen, Frankfurt am Main 2017, S. 149 – 152, 152. Die Liste an Beispielen ließe sich leicht fortsetzen. So wendet Raymond Kurzweil, einer der Mitbegründer algorithmischer Spracherkennung, das Moore’sche Gesetz wachsender Rechenleistung auf die Vision des mind uploadings an, um am Ende zu der Prognose zu gelangen: Ab 2025 werden sich Kopien des menschlichen Gehirns herstellen lassen und spätestens 2045 sei diese natürlich-künstliche Intelligenz so weit, die menschliche Sterblichkeit besiegt zu haben, Michael Pilz, Natürlich Unsterblich, in: Die Welt, vom 31. Januar 2020, S. 21. Der berühmte Internet-Pionier und Erfinder des Turing-Tests Alan Turing (1912 – 1954) glaubte, Schach und Sprache einfach gleichsetzen zu können. Während aber Schachprogramme, wie ausgeführt, heute die meisten Spieler schlagen können, ist kein künstliches System in Sicht, das auch nur annähernd eine Sprache sprechen könnte, vgl. Mühlenbein, Grenzen der künstlichen Intelligenz (Anm. 12), S. 10. Weitere Beispiele für ungebremsten Optimismus und die Irrationalität aktueller Debatten bei Eberl, Was ist künstliche Intelligenz? (Anm. 6), S. 9. Die Corona-Krise scheint die Euphorie der Visionäre noch zusätzlich beflügelt zu haben. „Unsere Gesellschaft wird nie mehr die gleiche sein wie vorher.“ Eine Lehre des Virus bestünde darin, „uns mit Gewalt und Macht in das digitale Zeitalter zu schieben“ (so der Medientheoretiker Peter Weibel, Virus, Viralität, Virtualität: Wie gerade die erste Ferngesellschaft der Menschheitsgeschichte entsteht, in: Neue Zürcher Zeitung vom 20. März 2020). Dagegen einige sarkastische Bemerkungen des Kunsttheoretikers Bazon Brock: Der „Verkehrsfluss wird zum Zeichenfluss“, die Reste „der Verdauungsprozesse werden virtualisiert“, weil man sich das Kauen und Schlucken nur noch „vorzustellen“ braucht; das wäre in der Tat ein wichtiger Schritt für die Steigerung der „Abstraktionskraft“ der Evolution, nämlich ohne „Leben“ auskommen zu wollen (Das Leben nach dem Virus, in: Die Welt, 30. März 2020, S. 9). Es darf daran erinnert werden, dass Leben, Abstraktion, Vorstellung, Verdauung, Realität die Stichworte sind, um die bereits Jherings Kritik der „Urteilsmaschine“ kreist (2. Kapitel).

Anmerkungen

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22 Siehe nur den Abschnitt über „Geist als Computer“ bei Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit (2016), Reinbek 2018, S. 193 – 203. 23 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 9.

9 Schlussbemerkung Das „Recht ex machina“ ist ein Traum, den die Menschheit seit Jahrhunderten träumt. Die Idee einer Herrschaft des Gesetzes, das Bindungspostulat, die Unparteilichkeit und Hoffnungen auf eine Rationalisierung und Vereinfachung des Rechts mussten im ersten juristischen Maschinenzeitalter die Idee einer mechanischen Rechtsanwendung als das Wunschziel schlechthin erscheinen lassen. Der Terminus „Subsumtionsautomat“ ist freilich erst im Zuge der Formalismus-Kritik aufgekommen und hatte zunächst eine ebenso pejorative Bedeutung wie Jherings Urteilsmaschine, Kantorowicz’ Denkmaschine oder Max Webers Paragraphenautomat, in welchen „man oben die Akten nebst den Kosten und Gebühren hineinwirft, auf daß er unten das Urteil neben den mehr oder minder stichhaltigen Gründen ausspeie“. All diese ‚Maschinen‘ sollen jene Art der Formalisierung karikieren, wonach der Richter lediglich wiederholen darf, was schon im Gesetz gesagt wurde. Als Zielscheibe diente ein Modell, das bis heute als „Relikt des 19. Jahrhunderts“ angesehen wird. Namentlich Jhering und Kantorowicz polemisierten gegen eine angeblich „subsumtionspositivistische Jurisprudenz“, die geglaubt habe, der Gesetzesanwender könne das Recht ohne eigenes Zutun ‚mechanisch‘ finden. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass gerade die Autoren des frühen 19. Jahrhunderts mit ihrer radikalen Kodifikationskritik und ihrer auf Takt, Gefühl und Urteilskraft ausgelegten Interpretationslehre gegen jede Art der fabrik- und maschinenmäßigen Rechtsanwendung zu Felde zogen. Die Dinge liegen also komplizierter als vielfach angenommen. Wer dem Narrativ einer automatischen Subsumtion auf die Spur kommen möchte, muss die unterschiedlichen Epochen sorgfältig auseinanderhalten. Hinter den Diskussionen über Rechtsmaschinen verbergen sich methodologische Fragen, die in verschiedenen Zeiten abweichend beantwortet wurden: Wo hat das Recht seinen Sitz? Wo rührt seine Geltung her? Wo liegen die Grenzen zum Nicht-Recht? Zunächst lassen sich zwei Grundvorstellungen identifizieren, die bis heute spannungsreich geblieben sind. Danach wäre zu unterscheiden zwischen Regeln, die eine über der Gesellschaft stehende Autorität befohlen hat und Normen, die, unabhängig von einem souveränen Willen, gleichsam von unten herauf aus der Gesellschaft wachsen. Beide Standpunkte beruhen auf verschiedenen Vorstellungen über die Entstehung von Recht, das entweder durch Gesetz von oben befohlen wird oder sich als

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„spontane Ordnung“ von unten sozusagen „von selbst“ bildet. Diese Differenz pflegen die Juristen mit der Einteilung in geschriebenes (scriptum) und ungeschriebenes (non scriptum) Recht zu veranschaulichen, wobei das ius scriptum dem Willen eines staatlichen Gesetzgebers und das ius non ­scriptum den Kräften der Gesellschaft Ausdruck verleihen soll. Dabei versteht sich, dass im Rahmen des ius non scriptum nicht nur dem Juristenrecht und der richterlichen Rechtsfindung, sondern auch dem Gewohnheitsrecht und anderen Rechtsquellen eine besondere Rolle zukommt. Die erste Grundvorstellung ist der Epoche des Vernunftrechts, dem sogenannten Kodifikationszeitalter entsprungen, das mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794), dem französischen Code Civil (1804) und dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (1811) die ersten großen europäischen Gesetzgebungswerke hervorgebracht hat. Sie spielt auf dem Kontinent bis heute eine wichtige Rolle, etwa in der Juristenausbildung oder in der Methodenlehre. Juristische Laien oder Populärphilosophen neigen, wie gezeigt, ebenfalls dazu, das Recht auf seine formalen Qualitäten zu reduzieren. Auch im Gebiet des Legal Tech scheint der Kodifikationsgedanke gerade ­wieder eine ungeahnte Renaissance zu erleben, was daher rührt, dass lernfähige Systeme auf Juristen angewiesen sind: Rechtsexperten müssen Computer­ wissenschaftlern, Informatikern und Programmierern beim Versuch, Jurisprudenz in formale Sprache zu transformieren, eine Idee davon vermitteln, wie juristisches Denken funktioniert. Es obliegt also den Juristen, das für die Fütterung der Systeme geeignete Material bereitzustellen und zu pflegen. Bei der Auswahl leiten sie bestimmte Kriterien, die, je nach methodologischem Vorverständnis, mehr an Gesetzen, Dogmatik oder Einzelfällen orientiert sind. Erinnert sei nur an eine aktuelle Studie zur automatisierten Rechtserzeugung, deren Autoren den Kodifikationsgedanken mit den Worten für maßgeblich erklären: „Das kontinentaleuropäische Recht fußt auf der Vorstellung des positiven geschriebenen Rechts und damit einer sehr strikten Trennung von Gesetzgebung und Rechtsanwendung.“ 1 Nach der Wende zum 19. Jahrhundert ist diese – letztlich dem juristischen Maschinenzeitalter entsprungene – Sichtweise im sogenannten Kodifikationsstreit erstmals einer grundlegenden Kritik unterzogen und darauf aufmerksam gemacht worden, dass es neben dem Gesetz noch andere Quellen gibt, die eine juristische Entscheidung determinieren können. An diesem Punkt kommt die zweite Grundvorstellung ins Spiel, nämlich das Juristenrecht, welches seinen Sitz nicht im Befehl eines souveränen Willens, sondern in

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der konkreten Entscheidung eines Einzelfalls hat. Die Praxis greift zumeist dann darauf zurück, wenn es an gesetzlichen Regeln mangelt oder diese zu ungerechten Ergebnissen führen.2 Gesetzgebung und Einzelfallentscheidung markieren also die beiden Pole, die einen Unterschied zwischen Rechtsmaschinen und Richterkönigen generieren können. Unter dem Gesichtspunkt rechtlicher Rationalisierung gibt es freilich auch bemerkenswerte Verbindungen zwischen Gesetzes- und Juristenrecht. Die Ähnlichkeit liegt darin, dass das Juristenrecht ebenfalls zu abstrahieren und allgemeine Begriffe zu erzeugen vermag. Seine Generalisierungen oder, in den Worten Max Webers, „Abstraktionen von Anschaulichem“ in Form von „Rechtssätzen“ produzieren für den kontinentaleuropäischen Staatsrechtler, wie Dogmatik überhaupt, nach wie vor kaum lösbare rechtsquellentheore­ tische Probleme. Weil das Juristenrecht seine Geltung nicht vom Staat empfängt, benötigt es eine besondere Legitimation. So ließe sich mit Max Weber und im Anschluss an die Lehren der Historischen Rechtsschule sagen, dass Juristenrecht meistens Gewohnheitsrecht ist.3 Auch die von Juristen produzierten Rechtssätze besitzen also, vorausgesetzt, dass die communis opinio sie anerkennt und der Gesetzgeber nicht widerspricht, formale Qualitäten. So tritt das Gewohnheitsrecht neben das Gesetzesrecht und kann dieses, wie angedeutet, in extremen Fällen sogar derogieren.4 Das Gewohnheitsrecht darf ebenfalls durch Zutaten des Urteilenden ergänzt und unter bestimmten Voraussetzungen korrigiert werden: Es ist auf dieselben Korrektive angewiesen, über die in bestimmten Situationen materiale Elemente in das Gesetzes­ recht einfließen. Die Zweigliedrigkeit des Rechtsbegriffs erstreckt sich auf alle Quellen. Parallelen gibt es nicht nur zwischen Gesetzes- und Juristenrecht, sondern auch zwischen Juristen- und Freirecht. Wie die Anhänger klassischen Juristenrechts nehmen auch die Protagonisten des Freirechts an, das Recht entstehe vornehmlich aus der Entscheidung eines Einzelfalls. Die Idee vom Juristenrecht ist nun durch die freirechtliche Doktrin, wie bereits Max Weber hervorgehoben hat, um die Behauptung erweitert worden, der „Rechtssatz“ sei lediglich „das Sekundäre“ und die Entscheidung das Maßgebliche. Danach sei es unzutreffend, überhaupt von einer Rechtsfindung durch „Anwendung“ allgemeiner Normen auf einen konkreten Tatbestand zu sprechen, weil die Produkte der Juristentätigkeit „der eigentliche Sitz des ‚geltenden‘ Rechts“ seien.5 Ein solcher Ansatz würde „immer vom einzelnen auf das einzelne“ schließen und nie nach „allgemeinen Sätzen“ streben, um auf ihrer Grundlage

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Lösungen auch für künftige Fälle zu entwickeln. Wie das englische Recht wolle folglich auch das Freirecht nicht von einer ‚Anwendung‘ allgemeiner Normen auf einen Tatbestand sprechen.6 Unter diesen Prämissen ist der Abstand zwischen (klassischem) Juristenrecht und Freirecht größer als der zwischen Juristenrecht und Gesetzesrecht. Die Gemeinsamkeit zwischen einem richtig verstandenen – also nicht nur auf seine Formen beschränkten – Gesetzesrecht und Juristenrecht besteht darin, dass beide Rechtsquellen auf Basis eines zweigliedrigen Rechtsbegriffs operieren. Dagegen ist es erklärtes Ziel des Freirechts, alle formalen Elemente zugunsten einer teleologischen Betrachtung aufzulösen. Das Freirecht propagiert einen eingliedrigen Rechtsbegriff und beschränkt sich damit auf jenes Element, welches Max Weber als das „materiale“ gekennzeichnet hat. Geltung würde danach nur dasjenige Recht erlangen, das in einer konkreten richterlichen Entscheidung ausgesprochen wird. Dagegen können (klassisches) Juristen- und Gesetzesrecht Rechte durch verlässliche Formen prinzipiell vorgeben. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass es den Inhabern solcher Rechte im Einzelfall verwehrt sein mag, sich darauf zu berufen. Wo hat das Recht nun seinen Sitz, wenn lernfähige Algorithmen entscheiden? Im Gesetz? In allgemeinen Rechtssätzen? In Entscheidungen von Einzelfällen? Und: Wie ziehen Algorithmen ihre Schlüsse? Vom Allgemeinen auf das Besondere? Vom Besonderen auf das Allgemeine? Vom Besonderen auf das Besondere? Zwar gibt es, wie ausgeführt, noch immer Autoren, die glauben, Entscheidungsautomaten würden nach kontinentaleuropäischem Vorbild auf Basis einer regelgeleiteten Software entscheiden.7 Aktuell arbeitet künstliche Intelligenz primär aber nicht mehr mit vordefinierten Regeln, sondern auf Grundlage großer Datenmengen in Form von juristischen Sachverhalten oder Rechtsprechung, wobei das Gesetz allenfalls eine unter vielen Quellen bildet. Die Rechtstexte werden auf Basis binärer Oppositionen in mathematische Gleichungen verwandelt und nach ihrer numerischen Häufigkeit in Bezug auf eine bestimmte Rechtsfrage analysiert. Die Systeme suchen nach Korrelationen zwischen gegebenen Datenpunkten (Variablen) und entwickeln Annahmen und Prognosen über die Plausibilität von Mustern mit den Mitteln von Wahrscheinlichkeit und Statistik. Den auf diese Weise ermittelten Zusammenhängen kann ein gewisser Allgemeinheitscharakter nicht abgesprochen werden. Andererseits formulieren autonome Systeme keine übergeordneten Sätze, die, wie Dogmatik, geeignet wären, einen Sachbereich zu strukturieren. Sie mögen Wertungen oder Abwägungen berücksichtigen

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können, soweit diese in früheren Entscheidungen vorkommen und irgendwelche Muster bilden. Die Gegenstände und Inhalte dieser Wertungen resultieren aber nicht aus unmittelbarer Anschauung oder diskursiv aktualisierten Wirklichkeiten, sondern aus einem Vergleich mit Mustern vergangener Situa­ tionen. So entscheidet letztlich nicht die Individualität konkret betroffener Personen oder die Singularität des jeweiligen Falles, sondern die mit Hilfe statistischer Verfahren ermittelte Zugehörigkeit des Lebenssachverhalts zu bestimmten Mustern oder Gruppen von Mustern. Allgemeines und Besonderes gehören zu den Begriffspaaren, die seit der Antike in der Philosophie und in vielen anderen Disziplinen eine Schlüsselrolle spielen. Die Jurisprudenz bildet hier mit ihrer Unterscheidung zwischen genereller Norm und Einzelfall keine Ausnahme.8 Autonome Systeme bewirken eine grundsätzliche Auflösung der kategorialen Differenz von Allgemeinem und Besonderem. Zwar können Algorithmen in nahezu unbegrenztem Ausmaß und höchster Geschwindigkeit Muster ermitteln und so eine unglaubliche Menge von Einzelfällen entscheiden. Sie sind aber außerstande, die Umstände zu berücksichtigen, die in einer konkreten Situation eine radikale Abweichung von Mustern rechtfertigen, oder Lösungen zu entwickeln, die zwischen diesen Mustern liegen: Sie sind sozusagen auf einem Auge blind, weil sie nur die eine Seite des Rechts sehen, die traditionell mit dem Begriff der „Form“ umschrieben wird. Was die andere Seite des Rechts, seine situative Offenheit, anbelangt, fehlt es den Systemen trotz aller „Intelligenz“, an Perzeption – an Gefühl, Körper, Takt, Urteilskraft und all den Ingredienzen, welche die Jurisprudenz auch in Zukunft von einer Rechtsmaschine unterscheiden werden.

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Anmerkungen

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Siehe die Nachweise im Kapitel 1.4. Vgl. nur Savignys Aussagen über die „Methode der Römischen Juristen“, Nachweise bei Meder, Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, Tübingen 2004, S. 72 – 74 (sowie im 7. Kapitel bei Anm. 2). Auch Max Webers Überlegungen zum Juristenrecht kreisen im Wesentlichen um diese Art von „Methode“, vgl. Kapitel 4.2 – 4.4. Max Weber, Rechtssoziologie (1922), in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, 5. Auflage, Tübingen 1985, S. 387 – 513, 508. So schon Max Weber, Rechtssoziologie (Anm. 3), S. 508 (an dessen Terminologie hier angeknüpft wird). Diesen Gedanken haben bereits die Verfasser des BGB ausgesprochen. Soweit die erwähnten Rechtslösungen zwischen Gesetz und Einzelfall liegen, wird es sich um Dogmatik handeln, näher Meder, Was bedeutet Dogmatik? Eine Skizze aus rechtshistorischer Perspektive, in: Andreas Raffeiner (Hg.), Auf der Klaviatur der Rechtsgeschichte (FS Kurt Ebert), Teilband II, Hamburg (2019), S. 519 – 540. Max Weber, Rechtssoziologie (Anm. 3), S. 507. Max Weber, Rechtssoziologie (Anm. 3), S. 457. Siehe die Nachweise im Kapitel 1.4. Davon handelt mein Buch Urteilen. Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre von der juristischen Entscheidungs- und Regelfindung, Frankfurt am Main 1999.