Recht und Moral: Zur gesellschaftlichen Selbstverständigung über »Verbrechen« vom 17. bis zum 21. Jahrhundert [1 ed.] 9783428539611, 9783428139613

Seit sich in der Frühen Neuzeit Naturrecht und positives Recht gegeneinander profilieren, sich die Unterscheidung von ›R

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Recht und Moral: Zur gesellschaftlichen Selbstverständigung über »Verbrechen« vom 17. bis zum 21. Jahrhundert [1 ed.]
 9783428539611, 9783428139613

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Schriften zur Literaturwissenschaft Band 39

Recht und Moral Zur gesellschaftlichen Selbstverständigung über „Verbrechen“ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert

Herausgegeben von Hans-Edwin Friedrich Claus-Michael Ort

Duncker & Humblot · Berlin

Recht und Moral

Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl

Band 39

Recht und Moral Zur gesellschaftlichen Selbstverständigung über „Verbrechen“ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert

Herausgegeben von Hans-Edwin Friedrich Claus-Michael Ort

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices, Wustermark Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 978-3-428-13961-3 (Print) ISBN 978-3-428-53961-1 (E-Book) ISBN 978-3-428- 83961-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Jörg Schönert gewidmet

Vorwort Mit Ausnahme des einleitenden Problemaufrisses von Joachim Linder und Claus-Michael Ort und eines Beitrages von Joachim Linder zu Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas gehen die folgenden Beiträge auf Referate zurück, die im Rahmen der Tagung Recht und Moral. Mediale Konstella­ tionen gesellschaftlicher Selbstverständigung über ‚Verbrechen‘ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vom 19. bis 21. Oktober 2011 gehalten worden sind. Die Veranstaltung setzt eine dreißig Jahre zurückreichende Reihe von wissenschaftlichen Kolloquien fort, in denen die von Jörg Schönert in der Münchner DFG-Forschergruppe Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900 etablierte interdisziplinäre Forschungsperspektive auf ‚Literatur und Kriminalität‘ kontinuierlich erprobt und unter Mitwirkung von Joachim Linder konsequent weiter entwickelt worden ist. Nach einer ersten sozialgeschichtlich ausgerichteten Tagung (‚Literatur und Kriminalität‘, München 15. und 16. Januar 1981) und einer thematisch sehr viel breiter angelegten Konferenz zu ‚Recht‘ und ‚Kriminalität‘ als Narrativ (‚Erzählte Kriminalität‘, Hamburg 10. bis 12. April 1985) erweiterte die Kieler Tagung von 1994 den Gegenstandsbereich über die Printmedien hinaus bis in die audiovisuelle Gegenwart (‚Verbrechen – Justiz – Medien‘, Kiel 19. bis 21. Oktober 1994).1 Dass die zweite Kieler Tagung im Oktober 2011, die die Konstanten und historischen Transformationen im Verhältnis von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert exemplarisch und fächerübergreifend diskutiert hat, darüber hinaus in zeitlicher Nähe zum 70. Geburtstag von Jörg Schönert stattfinden konnte, war Joachim Linder und uns ein willkommener Anlass, den vorliegenden Sammelband Jörg Schönert in Dankbarkeit zu widmen.2 1  Jörg Schönert (Hg. unter Mitarbeit von Joachim Linder): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850–1880. Tübingen 1983; Jörg Schönert (Hg. in Zusammenarbeit mit Konstantin Imm und Joachim Linder): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium. Tübingen 1991; Joachim Lin­ der / Claus-Michael Ort (Hg. in Zusammenarbeit mit Jörg Schönert und Marianne Wünsch): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen 1999. 2  Jörg Schönerts Beiträge zum Forschungsfeld ‚Literatur und Kriminalität‘ versammelt der für 2015 projektierte Band: Jörg Schönert: Kriminalität erzählen. Studien zur deutschsprachigen Literatur 1600–1920. Berlin / Boston (in Vorbereitung).

8 Vorwort

Der Tod des Initiators und Münchner Mitveranstalters der Kieler Tagung Joachim Linder im Januar 2012 hinterlässt eine auch wissenschaftlich kaum zu schließende Lücke, und die einleitende, bereits während der Vorbereitung der Konferenz gemeinsam mit Claus-Michael Ort verfasste und seither geringfügig überarbeitete Skizze zur Literatur- und Mediengeschichte der Beziehungen von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ (ebd. Abschnitt I. und II.) erweist sich als Joachim Linders letzte wissenschaftliche Publikation.3 Lediglich Abschnitt III. des Beitrages ist von Claus-Michael Ort nachträglich verfasst worden, um die Erträge der Tagung aufzugreifen und den sich ergebenden Weiterungen, Präzisierungen und Perspektivenverschiebungen Rechnung zu tragen. Zugleich haben wir uns erlaubt, Joachim Linders Interpretation von Kleists Michael Kohlhaas, die den literaturgeschichtlichen Horizont der auf der Kieler Tagung verhandelten Thematik trefflich zu erweitern vermag, posthum in den vorliegenden Sammelband aufzunehmen. Wir danken zuallererst der VolkswagenStiftung für die großzügige Finanzierung der Tagung und der vorliegenden Publikation und Jörg Schönert (Hamburg), der die Tagung als Diskussionsleiter unterstützt und die Publikation des Sammelbandes mit Rat und Tat begleitet hat, Nikolas Buck, Sabrina Hardel, Bastian Karkossa, Verena Kneiske, Olaf Koch, Alexander Pähler und Ulf Schütte (Kiel) für Recherche-, Redaktions- und Korrekturarbeiten sowie vielfältige Unterstützung und nicht zuletzt Yvonne Al-Taie (Kiel), die 2011 über die Kieler Tagung für die Arbeitsgemeinschaft historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland (AHFInformation Nr. 212) berichtet hat. Kiel, im Juli 2014 Hans-Edwin Friedrich und Claus-Michael Ort

3  Eine repräsentative Auswahl seiner Schriften enthält: Joachim Linder: Wissen über Kriminalität. Zur Medien- und Diskursgeschichte von Verbrechen und Strafjustiz vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. von Claus-Michael Ort. Würzburg 2013; s. auch Jörg Schönert: Nachruf. Auf neuen Wegen zu „Kriminalität und Literatur“: zum Gedenken an den Literaturwissenschaftler Joachim Linder. In: Kriminologisches Journal 44 (2012), H. 4, S. 321–325.

Inhaltsverzeichnis Recht und Moral. Mediale Konstellationen der gesellschaftlichen Selbstverständigung über ‚Verbrechen‘ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert Von Joachim Linder und Claus-Michael Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld Von Reinhard Merkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 I. Die Ausdifferenzierung von Recht und Moral in der Frühen Neuzeit Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit und Aufklärung: ‚Moral‘ vs. ‚Recht‘ Von Michael Titzmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Affekt und Amoral – Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers 1676 / 1734 / 1792 Von Hania Siebenpfeiffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Relationes Curiosae oder Merkwürdige Seltsamkeiten. Frühe Kriminalgeschichten aus Hamburg Von Holger Dainat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Die Sichtbarkeit der Folter. Zur Fallgeschichte Nickel List und seine Gesellen Von Thomas Weitin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 II. Zur Konkurrenz von Recht und Moral ‚Freie Rechtslehrer‘ und Rechtsreformziele in der Vernetzung von Moral und Rechtswidrigkeit Von John A. McCarthy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Zum Verhältnis von Recht und Moral bei der Zuschreibung von Zurechnungsfähigkeit in historischer Perspektive Von Michael Niehaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Rechtliche und moralische Paradoxa oder Dilemmata. Kleists Sonderbarer Rechtsfall, Klingemanns Selbstgefühl und Schirachs Volksfest Von Alexander Košenina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

10 Inhaltsverzeichnis Über die Verwandlung von Werten in Wissen. Wahrheitsstreben und Wertungen in der Kriminalwissenschaft um 1900 Von Christian Bachhiesl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 III. Die Autonomisierung des Literatursystems und die Konkurrenz von rechtlicher, moralischer und medizinischer Verbrechensdeutung Mobilisierung und Diabolisierung der Zeichen. Zu Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas Von Joachim Linder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Wertungen und Wertmaßstäbe in literarischen Texten. Analyse von Recht und Moral in E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi Von Katharina Prinz und Simone Winko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Gewaltsame Befriedung. Johann Peter Hebels Der Friedensstifter als Vermittler zwischen Recht und Literatur Von Johanna Bergann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Recht vs. Moral am Beispiel der Thematisierung von Sterbehilfe in literarischen Texten um 1900 Von Sebastian Bernhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Die Aktualität des Falls „Moosbrugger“ Von Ulrike Zeuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 IV. Verbrechen als Medium: Das Genre Kriminalroman „Mehr Lebensnähe im Krimi“. Die Indienstnahme eines populären Genres im Nationalsozialismus Von Carsten Würmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Kriminalliteratur als Genre der kulturellen Selbstbeschreibung. Am Beispiel einiger neuerer deutscher Kriminalromane Von Nele Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Nazi Noir: Deutsche Detektive und deutsche Verbrecher im englischsprachigen Kriminalroman Von Todd Herzog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

Inhaltsverzeichnis11 V. Audiovisuelle Formate: Verbrechen, Detektion und Justiz als Erfolgsmedien Recht und Moral in TV-Gerichtsshows mit vorsitzenden Richterinnen: Judge Judy und Richterin Barbara Salesch Von Greta Olson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Moralvorstellungen im Fernsehkrimi am Beispiel von CSI: Crime Scene In­ vestigation Von Katrin Bliemeister und Christian Wickert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Vom Denkmonster zur Killer-Applikation. Der Computer als Mörder und Mordwaffe im Film Von Stefan Höltgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547

Recht und Moral. Mediale Konstellationen der gesellschaftlichen ­Selbstverständigung über ‚Verbrechen‘ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert Von Joachim Linder und Claus-Michael Ort I. Historische Voraussetzungen und theoretische Vorentscheidungen 1. Autonomisierung des Rechts – Universalisierung der Moral Niklas Luhmann beschreibt die neuzeitliche Autonomisierung des Rechts vor dem Hintergrund der „zweitausendjährigen Evolution des römischen Zivilrechts“1 und zunehmender Verschriftlichung2 als „Durchbruch zu einer eigenständigen, auch gegen Moral und common sense […] differenzierbaren Rechtskultur“,3 die sich als eigenständiger gesellschaftlicher Handlungsbereich institutionalisiert, als „Rechtssystem […] Recht und Unrecht, rechtmäßiges und rechtswidriges Verhalten [übergreift]“ und ihre „Identität in der Orientierung an dieser Differenz [hat].“4 Ein derart spezialisiertes Rechtssystem löst sich also aus einer „breiter angelegten moralisch-rechtlichen Normenordnung“ heraus5 und etabliert die auf ‚Recht / Unrecht‘ reduzierte Unterscheidungssemantik im Verlauf des 18. Jahrhunderts als Garant eines kontingenten weil ‚positivierten‘ Rechts. Die Errungenschaft des positiven Rechts distanziert sich nicht nur von Moral und moralischen Unterscheidungen (wie z. B. ‚Tugend‘ / ‚Laster‘, ‚gut / böse‘), sondern profiliert sich zugleich gegen ein Vernunft- und Naturrecht (Pufendorf, Thomasius), das, so Luhmann, „selbst […] die Differenz 1  Niklas

Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1993, S. 256. S. 253. 3  Ebd., S. 263. 4  Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Frankfurt a. M. 1981, S. 35; ähnlich auch S. 138. 5  Ebd., S. 138; vgl. auch Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (Anm. 1), S. 215, und Niklas Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral [1989]. In: Ders.: Die Moral der Gesellschaft. Hg. von Detlef Horster. Frankfurt a. M. 2008, S. 270–347, hier S. 288. 2  Ebd.,

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von Naturrecht und positivem Recht [erzeugt]“ und deren Unterscheidung in das Naturrecht „hineincopiert“.6 Mit Hilfe einer moralisierten Natur vermittle Naturrecht zwischen abstraktem Recht und Gesellschaft, schwäche deren Juridifizierung ab, postuliere Menschenrechte und verrechtliche zugleich die vernünftige weil moralische ‚Natur‘ ständischer Arbeitsteilung und Eigentumsordnung sowie einer durch Geselligkeit regulierten Indivi­ dualität.7 Darüber hinaus befördert dieser Prozess die Freisetzung einer universalisierten Moral als „gesellschaftsweit zirkulierende Kommunikationsweise“, die „sich nicht als Teilsystem ausdifferenzieren [lässt]“,8 deren Erfolg im 18. Jahrhundert sich vielmehr gerade ihrer Unabhängigkeit von einem eigens und funktionsspezifisch institutionalisierten Kommunikationssystem verdankt: „Durch Ausdifferenzierung eines Normbezugs entsteht ein Rechtssystem, kein Moralsystem. Die Moral kann […] die Ausdifferenzierung des Rechts nicht mitvollziehen“9 und reagiert auf das „durch positives Recht geordnete Rechtssystem“10 mit der Ausbildung einer sie begründenden Ethik als ‚Reflexionstheorie‘ von ‚Moral‘.11 Solche Ethisierung der Moral führt zugleich unter den Vorzeichen frühneuzeitlicher Säkularisierung sowohl zur Ablösung der Moral „vom Medium des Religiösen“12 als auch umgekehrt zu einer „Moralisierung der religiösen 6  Luhmann:

Das Recht der Gesellschaft (Anm. 1), S. 510. S. 191 f.; zum Verhältnis von Naturrecht und Moral vgl. darüber hinaus Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001. 8  Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral (Anm. 5), S. 336. 9  Ebd.; vgl. auch ähnlich Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (Anm. 1), S. 211 und Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.  M. 1997, S. 396–405 zur ‚moralischen Kommunikation‘ und S. 1036–1045 zur ‚Universalisierung der Moral‘ im 18. Jahrhundert. 10  Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral (Anm. 5), S. 336. 11  Ebd., S. 286; schon 1971 / 72 interpretiert Luhmann „Moral […] [als] Versuch, Kontingenz durch Identität zu vertreiben“ und das „Recht“ als „Schutz gegen Moralisierung“ (Niklas Luhmann: Kontingenz und Recht. Rechtstheorie im interdiszi­ plinären Zusammenhang. Hg. von Johannes F. K. Schmidt. Frankfurt a. M. 2013, zu ‚Recht‘, ‚Moral‘ und ‚Gerechtigkeit‘ ebd. S. 140–172, hier S. 143 und 152). Zu Luhmanns ‚Kontingenzformel Gerechtigkeit‘ vgl. auch Moritz Renner: Kontingenz, Redundanz, Transzendenz? Zum Gerechtigkeitsbegriff Niklas Luhmanns. In: Ancilla Juris. 20.11.2008. URL: http: /  / www.anci.ch / doku.php?id=beitrag:renner (zuletzt: 3.5.2011) und Luhmann: Kontingenz und Recht (selbe Anm.), S. 154–172, ebd. zur „Gerechtigkeit als Gleichheit“ (S. 161), die „als eine Art moralischer Entwicklungsschutz für die begriffliche und satzmäßige Struktur des Rechts [fungiert]“ (S. 163). 12  So Armin Nassehi: Die Paradoxie der Unsichtbarkeit und die ‚Unbedingtheiten‘ von Religion und Moral [2001]. In: Ders.: Geschlossenheit und Offenheit. 7  Ebd.,



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Kommunikation“,13 die den schleichenden neuzeitlichen Geltungsverlust religiöser Handlungsmaximen auffängt und Religion darüber hinaus zu einem Funktionsäquivalent von Dichtung ästhetisiert und autonomisiert.14 Zwar ist v. a. das 18. Jahrhundert als saeculum der ‚Aufklärung‘ und der Aufwertung der ‚Schaubühne‘ zur ‚moralischen Anstalt‘ als Hochzeit einer hypertrophierten und universalisierten Moral einzustufen,15 deren Differenzsemantik sich ebenso unhintergehbar von derjenigen des Rechts unterscheidet, wie sie sich von Religion entkoppelt, so dass Recht und Religion – letztere im Rahmen des Theodizee-Problems – überhaupt erst explizit moralisch bewertet, gerechtfertigt oder kritisiert werden können.16 Moral schwingt sich zu einem generalisierten Beobachtungs- und Kommunika­ tionsmedium auf, das ausdifferenzierte, autonomisierte Funktionssysteme wie das Rechtssystem gesellschaftlich zu re-integrieren beansprucht und der „Metaregulierung durch einen moralischen Supercode“ unterwirft.17 Darüber hinaus durchläuft die Unterscheidungssemantik moralischer Kommunikation aber auch eine bis heute anhaltende, printmediale, später audio-visuelle Medienkarriere, durch die Moral ubiquitär einsetzbar wird. Diese Karriere setzt, nach einem frühneuzeitlichen Diskursivierungsvorlauf, im 17. und 18. Jahrhundert ein und verdankt sich der Autonomisierung des Rechtssystems, der Etablierung des ‚positiven Rechts‘ und der Unterscheidung von ‚Moralität‘ und ‚Legalität‘ (vgl. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, 1797, aber auch schon Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792 / 1851). Des weiteren führt die zunehmende Positivierung im Bereich des Strafrechts sowie die Durchsetzung des Grundsatzes nullum crimen sine lege (P. J. A. Feuerbach) seit dem 18. Jahrhundert zu einem „Kriminalisierungsschub“18 Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2003, S. 258–283, hier S. 272. 13  Ebd., S. 271. 14  So Karl Eibl: Aporien-Reflexion. Zur funktionalen Äquivalenz von Religion und Dichtung. In: Hans-Edwin Friedrich / Wilhelm Haefs / Christian Soboth (Hg.): Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Berlin u. a. 2011, S. 1–13, hier S. 9. 15  Vgl. Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral (Anm. 5), S. 289, und Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 9), S. 948, S. 1042. 16  Zur moralischen Beobachtung von ‚Laster‘ und ‚Verbrechen‘ in der dramatischen Literatur der Aufklärung siehe Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Göttingen 2005. 17  Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 9), S. 1043. 18  Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (Anm. 1), S. 283: „Strafbares Handeln wird jetzt nicht primär begriffen als Verletzung eines Opfers, das sich wehren bzw.

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und im späten 18. und im 19. Jahrhundert zur Formierung neuer anthropologischer, medizinischer und psychologischer Verbrechensdeutungen, die der strafrechtlichen (‚Recht / Unrecht‘, ‚strafbar / nicht-strafbar‘) und der moralischen Unterscheidungssemantik (‚gut / böse‘, ‚gerecht / ungerecht‘, ‚Tugend / Laster‘) eine weitere, pathologisierende (‚gesund / krank‘) hinzufügen. Damit beginnen zugleich auch die Debatten, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung einer ätiologischen, einerseits auf Täter und Tätertypen, andererseits auf gesellschaftliche Bedingungen der Verbrechensentstehung konzentrierten Kriminologie beitragen.19 Die Ausweitung des Geltungsbereichs strafrechtlicher Schuldzuschreibung und die damit einhergehende Spezialisierung und ‚Verfachlichung‘20 des Rechtsdiskurses erzeugt zudem einen gesellschaftlichen Kommunikationsund diskursiven Re-Integrationsbedarf. Diesen befriedigt ab der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts eine sozialorganisatorisch verselbständigte, funktionsautonom institutionalisierte, ‚schöne‘ Literatur – und weckt ihn zugleich, indem sie Fragen der Unterscheidung von ‚Recht‘ und ‚Gerechtigkeit‘ und der problematischen Kompatibilität von Recht und Moral verhandelt,21 die im Recht zu Gegenständen des fachsprachlichen und / oder Genugtuung verlangen kann, sondern als Verstoß gegen das Strafgesetz. Dadurch wird, im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert, ein Kriminalisierungsschub unvorhergesehenen Ausmaßes möglich […], der dann einerseits die modernen Kriminalitätstheorien (Beccaria usw.) auf den Plan ruft, Strafkolonien erfordert und die bürgerliche Gesellschaft veranlasst, sich selbst mit Arbeitsethos und moralischer Entrüstung zu sanieren“ – und zwar auch mit Hilfe der ‚schönen‘ Literatur oder genauer: im Medium neuer narrativer Genres wie ‚Kriminalerzählung‘ und ‚Fallgeschichte‘. 19  Grundlegend zur Geschichte des ‚kriminologischen‘ Diskurses sind Peter Strasser: Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen. Frankfurt a. M. u. a. 1984; Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002; Ylva Greve: Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der ‚Criminalpsychologie‘ im 19. Jahrhundert. Köln 2004. Vgl. auch den knappen Überblick bei Gabi Löschper: Kriminologien und der Komplex Verbrechen – Justiz – Medien. In: Joachim Linder / Claus-Michael Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen 1999, S. 81–100. 20  Dazu siehe insbesondere schon Wolfgang Naucke: ‚Verfachlichung‘ des Strafrechts im 19. Jahrhundert. In: Jörg Schönert (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850–1880. Tübingen 1983, S. 55– 67, sowie Joachim Rückert: Zur Verfachlichung der ‚Verfachlichung‘. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium. Tübingen 1991, S. 635–650. 21  Zu ‚Recht‘ und ‚Gerechtigkeit‘ siehe eingehend Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Rechts (Anm. 4), S. 374–418 und Ders.: Das Recht der Gesellschaft



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verfachlichten Diskurses werden. Jörg Schönert hat auf diesen Zusammenhang schon früh hingewiesen und die Ausdifferenzierung narrativer Genres wie ‚Kriminal-‘ und ‚Fallgeschichte‘ auf die „Auseinanderentwicklung der Sozialsysteme ‚Recht‘ und ‚Literatur‘ im 19. Jahrhundert“ bezogen.22 Demnach fungiert die ‚schöne‘ Literatur insbesondere seit der ‚Sattelzeit‘ des 18. Jahrhunderts als Medium unterhaltsamer Wissensvermittlung und bietet zugleich Reflexionsdiskursen ein Forum, die die Beziehungen zwischen strafrechtlicher und moralischer Unterscheidungssemantik verhandeln und die Konkurrenz ihres jeweiligen Deutungszugriffs auf ‚Verbrechen‘ reflektieren.23 Die von Luhmann veranschlagte Makro-Epoche des „Übergangs“ (Anm. 1), S. 214–238; als Ausgangspunkt der literarischen Diskursivierung der Beziehung von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ gilt nach wie vor Friedrich Schillers „wahre Geschichte“ Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte (1786) bzw. Der Verbre­ cher aus verlorener Ehre. […] (1792): siehe Klaus Bartels: ‚Gemischte Wesen‘. Friedrich Schiller, die Criminal-Psychologie und die Grenze zwischen Gut und Böse. In: Kriminologisches Journal 34 (2002), S. 21–34; Alexander Košenina: „Tiefere Blicke in das Menschenherz“: Schiller und Pitaval. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 55 (2005), S. 383–395 oder Steffen Martus: Verbrechen lohnt sich. Die Ökonomie der Literatur in Schillers ‚Verbrecher aus Infamie‘. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 99 (2005), S. 243–272. 22  Jörg Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive [1983]. In: Ders.: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zur Theorie und Praxis. Tübingen 2007, S. 63–82, hier S. 68; vgl. darüber hinaus Ders.: Zur Ausdifferenzierung des Genres ‚Kriminalgeschichten‘ vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Literatur und Kriminalität (Anm. 20), S. 96– 125 und aus erweiterter Perspektive v. a. Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. (Anm. 20); s. ferner Marianne Willems: Der Verbrecher als Mensch. Zur Herkunft ‚anthropologischer‘ Deutungsmuster der Kriminalgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 14 (2002), S. 23–48 und Nicolas Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung in Recht, Medizin und Literatur. In: Gereon Blaseio / Hedwig Pompe / Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005, S. 63–92. 23  Zum Konflikt von ‚Ressentiment‘ und ‚Gerechtigkeit‘ bei Dostojewski, Flaubert, Camus u. a. siehe Richard Weisberg: Rechtsgeschichten. Über Gerechtigkeit in der Literatur [1984]. Mit einem Nachwort von Bernhard Schlink. Frankfurt a. M. 2013, der den formaljuristischen ‚Wahnsinn‘ des ungerechten Kapitän Vere in Herman Melvilles Billy Budd Sailor (entst. 1886–1891) betont (S. 201–226, v.  a. S. 207 f.). Ein Seitenblick auf Jakob Wassermanns Roman Der Fall Maurizius (1928) liegt nahe: Dieser spielt nicht nur den moralischen Gerechtigkeitsfuror des Sohnes Etzel gegen eine autonome, irrtumsanfällige Justiz aus, die sich auf ihre Verfahrensroutinen und das positive Recht stützt, sondern überlässt auch das abschließende ‚Plädoyer‘ für die moderne Errungenschaft einer Entkopplung von Recht und Moral dem als Vater und Staatsanwalt gescheiterten Freiherrn Wolf von Andergast, der während der finalen diabolischen ‚Raserei‘ seines Sohnes („das ist ein Teufel“) apoplektisch zusammenbricht und danach in die ‚Heilanstalt‘ eingewiesen wird (Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman. Mit einem Nachwort von Fritz Martini.

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zur Neuzeit „vom 17. bis ins 20. Jahrhundert“ gibt „die moralische Einbeziehung des Menschen in die Gesellschaft“ also nicht nur nicht auf, sondern forciert sie geradezu.24 Unter den systemtheoretischen und makrosoziologischen Voraussetzungen Luhmanns erweisen sich diese re-integrativen Reflexionsdiskurse somit als Folgen – und Indizien – evolutionärer gesellschaftlicher ‚Modernisierung‘ sowie eines Umbaus der Semantiken, mit denen Teilsysteme von Gesellschaft ihre ‚Umwelten‘ beobachten und selbst beobachtet werden. Gerade in „der Vereinzelung zu Fällen wird Umweltkontingenz für das System in einer Form sichtbar“, in der „gesellschaftliche Umwelt […] als ein Raster von Bedingungen der Möglichkeit anderer Fälle [erscheint]“;25 gesellschaftliche Kontingenzbewältigung (‚Komplexitätsreduktion‘) durch ‚Erzählen‘ von Fall zu Fall bleibt also selbst auf medienspezifische – literarische – Kontingenzsteigerung angewiesen. Als ‚Differenzierungsgewinnler‘ erscheinen somit nicht nur das autonomisierte ‚Recht‘ und eine komplementäre ‚Moral‘ – ethisch universalisiert und von theologischen Legitimierungen befreit –, sondern auch das parallel dazu entstehende Genre-Spektrum literarischer Verbreitungsmedien, in denen Moral und Recht aufeinander bezogen und miteinander konfrontiert werden können. Und insofern katalysieren sich der Aufschwung narrativer Formate einschließlich der Genres ‚Kriminal‘- und ‚Fallgeschichte‘ und die nachhaltige Konjunktur moralischer Kommunika­ tion wechselseitig. Karl Eibls Diagnose ist somit nicht nur zuzustimmen, sondern kann als ein fundamentales Desiderat gelten: Die funktionale Differenzierung führt nicht nur zur Verselbständigung eines Bereichs Poesie, sondern sie führt zu einem generellen New Deal der Reflexionsinstanzen, den wir noch gar nicht so recht durchschaut haben.26 Gütersloh 1960, S. 533–540, hier S. 538); siehe eingehend Elisabeth Jütten: Diskurse über Gerechtigkeit im Werk Jakob Wassermanns. Tübingen 2007, S. 251–292, zur „moralischen Diktatur“ Etzels (Wassermann: Der Fall Maurizus [selbe Anm.], S. 109) ebd. S. 274–285. 24  Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral (Anm. 5), S. 286. – Zum ‚koevolutionären‘ Umbau der Semantik siehe Luhmanns vier Bände zu „Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft“ (1980–1995), insbesondere Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie: Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. In: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Band 1. Frankfurt a. M. 1980, S. 162–234. 25  Luhmann: Kontingenz und Recht [Anm. 11], S. 212 (Hervorheb. im Orig.). 26  Eibl: Aporien-Reflexion (Anm. 14), hier S. 9. Zur ‚Autonomisierung‘ der Literatur und zur „Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation“ am „Beispiel Roman“ siehe Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1989, S. 381–408, sowie problemfunktionalistisch Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a. M. 1995.



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Nach wie vor ungeklärt ist nämlich, ob und inwieweit die technischen Innovationen im Bereich audio-visueller Speicher- und Verbreitungsmedien im 20. Jahrhundert mit einem erneuten ‚New Deal‘ zwischen Recht und Moral verknüpft sind. Dass der bis heute anhaltende Erfolg ‚moralischer Kommunikation‘ seit dem 18. Jahrhundert sich wandelnden medialen Voraussetzungen unterliegt, sich also einem sich vergrößernden literarischen Markt und einem erweiterten Spektrum von Mediengattungen und -formaten (Familienzeitschriften, Massenpresse) verdankt, und dass v. a. das „Fernsehen […] zu einer unübersehbaren Alltagsaktualität moralischer Kommunikation geführt [hat]“, ist unzweifelhaft.27 Luhmann formuliert zwar das Problem, wie „das Verhältnis der Verbreitungstechnologien und der symbolisch generalisierten, aber problemspezifischen Kommunikationsmedien zur Moral“28 einzuschätzen sei, gelangt aber zu keiner medien- und diskursgeschichtlichen – oder gar genre-geschichtlichen – Konkretisierung. Dass die neuen literarischen Medien der Kontingenzbewältigung jedoch das, was sie verarbeiten sollen, auch selbst produzieren und das zu lösende Problem perpetuieren, ist schwerlich zu leugnen. 2. Diskurse – Semantiken – Medien Insofern der vorliegende Sammelband langfristig konstante oder sich wandelnde, je medienspezifische Beziehungen von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ exemplarisch fokussiert, knüpft er locker – und nicht zuletzt auch aus heuristischen Gründen – an das in Umrissen skizzierte Hypothesengerüst Niklas Luhmanns an. Es wird als produktiver, einzelwissenschaftlich zu überprüfender und möglicherweise zu revidierender, jedenfalls aber sozialgeschichtlicher Deutungsrahmen verstanden, dessen spekulatives Potential die exemplarische Einzelforschung zu einer diachronischen Erweiterung ihrer historischen Perspektiven von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart zu provozieren und eine kritische Diskussion bisheriger rechts-, literatur- und mediengeschichtlicher Periodisierungskriterien sowie die Erprobung diskursgeschichtlicher Alternativen anzuregen vermag. Zugleich wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass Luhmanns Beiträge zu einer historischen Wissenssoziologie und zur langfristigen Evolution von ‚Gesellschaft‘ und ‚Semantik‘ v. a. von der Literaturwissenschaft rezipiert worden sind, ohne dass seine theoriegeleiteten historischen Extrapolationen und Langzeitprojektionen konsequent diskurs-, literatur- und mediengeschichtlich überprüft worden wären. Deren Revision und kritische Applikation bleibt zu leisten. 27  Luhmann: 28  Ebd.,

Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 9), S. 396–405, hier S. 401. S. 400.

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Zu diesem Zweck sind einige theoretische Vorentscheidungen und Sprachregelungen zu treffen, die darüber hinaus das ebenfalls noch weitgehend ungeklärte Verhältnis von (Luhmannscher) System- und (Foucaultscher) Diskurstheorie betreffen und einer text- und mediengestützten Erforschung des Verhältnisses von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ als einer langfristig je unterschiedlich diskursivierten Beziehung entgegenkommen.29 Wir verstehen mit Michael Titzmann und im Anschluss an Michel Foucault unter ‚Diskurs‘ ein System des Denkens und Argumentierens […], das von einer Textmenge abstrahiert ist und das erstens durch einen Redegegenstand, zweitens durch Regularitäten der Rede, [und] drittens durch […] Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert ist. […]. Ein Diskurs ist also ein System, das die Produktion von Wissen regelt.30

Insofern die ‚Produktion von Wissen‘ über den ‚Redegegenstand‘ eines Diskurses – als Konstruktion dieses Gegenstandes – je spezifische Semantiken hervorbringt, mit denen diskursspezifisch kommuniziert und ‚beobachtet‘ wird, ergeben sich Anschlussmöglichkeiten an Luhmanns Definitionen von ‚Semantik‘ und ‚Beobachtung‘ – und zwar ganz unabhängig davon, ob eine Diskurssemantik mit oder ohne Sozialsystemanbindung vorliegt, also (wie im Falle des ‚Rechts‘) an einen funktionsspezifisch ausdifferenzierten und institutionalisierten, gesellschaftlichen Kommunikations- und Handlungsbereich gekoppelt ist oder nicht (wie im Falle ‚universalisierter Moral‘). Luhmann versteht unter ‚Semantik‘ einen „Themenvorrat“, der „eigens für Kommunikationszwecke aufbewahrt wird“,31 „Sinnvorgaben“ dauerhaft speichert und für die Selbstbeschreibung von Gesellschaften bereithält.32 Besondere Bedeutung gewinnen dabei diejenigen Unterscheidungssemanti29  Auch die Modellierung der Schnittstellen zwischen Diskurs- und Sozial- bzw. Systemtheorie ist nach wie vor ein dringliches Desiderat: Vgl. Rainer Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse. In: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 31. 2 (2006), S. 243–274, Dirk de Geest: Systemtheorie und Diskursivität. In: kultuRRevolution. zf. für angewandte diskurstheorie 50 (2006), S. 70–77, und Rolf Parr: Punktuelle Affinitäten, ungeklärte Verhältnisse: (Inter-)Diskursanalyse und Systemtheorie. Zur Einführung in die überfällige Debatte ‚Luhmann und / oder Foucault‘. In: kultuRRevolution. zf. für angewandte diskurstheorie 45 / 46 (2003), S. 55–57. Zu Luhmann und Foucault anlässlich der Differenz von ‚Recht‘ und ‚Literatur‘ (‚schön / hässlich‘) siehe neuerdings Thomas Weitin: Recht und Literatur. Münster 2010, S. 75 f. und S. 88 f. 30  Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395–438, hier S. 406 f. 31  Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984, S. 224. 32  Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 9), S. 887.



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ken (Leitdifferenzen), mit denen soziale Systeme wie Diskurse sich von ihrer Umwelt abgrenzen, sie ‚beobachten‘: „Beobachten ist das Handhaben einer Unterscheidung“,33 und: Umweltbeobachtung [stimuliert] Selbstbeobachtung und jeder Distanzgewinn zur Umwelt [wirft] die Frage des Selbst, der eigenen Identität [auf]. Denn weil man nur mit Unterscheidungen beobachten kann, macht die eine Seite der Unterscheidung […] neugierig auf die andere, stimuliert sie ein Überqueren […] der Grenzlinie.34

Die Unterscheidbarkeit, ja Trennung von Recht und Moral erweist sich als Unterscheidung zweier Unterscheidungssemantiken, nämlich von ‚Recht / Unrecht‘ bzw. ‚strafbar / nicht-strafbar‘ einerseits und ‚gut / böse‘ bzw. ‚Tugend / Laster‘ andererseits, die einander wiederum ‚beobachten‘ (unterscheiden) können und sich wechselseitig zu harmonisieren, zu dominieren, d. h. zu hierarchisieren oder zu inkludieren versuchen. Die ‚Ungerechtigkeit‘ des ‚Rechtmäßigen‘ (also des ‚Nicht-Strafbaren‘) bzw. die ‚Gerechtigkeit‘ des ‚Unrechts‘ (des ‚Strafbaren) einerseits, andererseits die Legalität (Straffreiheit) a-moralischen oder gar unmoralischen Handelns bzw. die Unrechtmäßigkeit (Strafbarkeit) des ‚Moralischen‘ zu beobachten, heißt zum einen, Recht durch Moral (Moralisierung von ‚Recht‘) und zum anderen, Moral durch Recht zu limitieren (Verrechtlichung von ‚Moral‘) und die sich überschneidenden Geltungsbereiche von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ zugunsten des ‚Rechts‘ oder der ‚Moral‘ zur Deckung zu bringen. Beide gegenläufigen Prozesse lassen sich seit dem 18. Jahrhundert bis heute in unterschiedlichen Akzentuierungen beobachten.35 Wenn ‚Recht‘ also „im Medium der Moral [begründet]“ wird oder „im Rechtsystem Moralnormen zitiert und damit juridifiziert werden“,36 dann wird die Unterscheidung von ‚Recht / Unrecht‘ einer moralischen Semantik oder umgekehrt die Unterscheidung von ‚gut / böse‘ (‚Tugend / Laster‘) einer rechtlichen Semantik unterworfen, also das eine im Medium des je anderen beobachtet, d. h. mittels der Semantik des ja anderen unterschieden und bezeichnet. Mit dieser Logik lässt sich auch die im 19. Jahrhundert auf dem Feld von Moral und Recht ins Spiel kommende Unterscheidung von ‚Gesundheit / Krankheit‘ modellieren. 33  Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. Hg. von Dirk Baecker. Heidelberg 2002, S. 143. 34  Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 9), S. 93. 35  S. dazu auch Ralf Dreier: Recht und Moral [1980]. In: Ders.: Recht – Moral – Ideologie. Studien zur Rechtstheorie. Frankfurt a. M. 1981, S. 180–216, und zur Beziehungs- und Unterscheidungsgeschichte von Recht und Moral seit der Antike Dietmar von der Pfordten: Zur Differenzierung von Recht, Moral und Ethik. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Recht und Moral. Hamburg 2010, S. 33–48. 36  Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (Anm. 1), S. 216.

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Wir präferieren außerdem einen semiotischen ‚Medien‘-Begriff mittlerer Reichweite, der zusammen mit den technischen Speicher- und Verbreitungsmedien und den symbolisch generalisierten sozialen ‚Erfolgsmedien‘ (Interaktions- oder Kommunikationsmedien im Sinne von Talcott Parsons bzw. Niklas Luhmann) ein flexibel anwendbares Mehrebenen-Konzept von ‚Medium‘ ergibt.37 Zugleich vermeiden wir damit den selbsterzeugten binaristischen Leerlauf zwischen ‚Paradoxie‘ und ‚Tautologie‘, in den Luhmann im Anschluss an die Logik von George Spencer Brown verfällt.38 Stattdessen sehen wir Anschlussmöglichkeiten an die ‚konstruktivistische Kriminalitätstheorie‘ von Henner Hess und Sebastian Scheerer,39 insofern sie die ‚Kriminalität‘ einer „Sinnprovinz“ zuordnen und angesichts des einschlägigen „kulturellen Symbolvorrat[s]“ erwägen, dass ‚Verbrechen‘ „nicht nur als ein Thema, sondern geradezu selbst als ein symbolisch-generalisiertes Medium der Kommunikation“ im Sinne von Talcott Parsons und Niklas Luhmann zu verstehen sei.40 Fraglich wird bei dieser Überlegung jedoch, ob die „Sinnprovinz Kriminalität“ durch den binären Code des Rechtssystems (‚Recht / Unrecht‘) konstituiert wird. Vielmehr scheint der Zugang durch einen ‚interdiskursiven Code‘41 geregelt zu werden, für den wir vorläufig die Bezeichnung ‚strafbar / nicht-strafbar‘ wählen, der nicht nur im Rechtssystem zur Anwendung kommt. Damit wird eine Deutungsperspektive für die am historischen Material zu validierende These markiert, derzufolge die gesellschaftliche Verständigung über Recht und Moral – nicht erst, aber insbesondere – seit der Einführung des Privatfernsehens in Deutschland (‚Duales System‘ seit 1984) zusehends selbst im Medium ‚Verbrechen‘ erfolgt, so dass zu Moral und Recht die Kriminalität selbst als ‚Sinnprovinz‘ 37  Ein semiotisch-narratologisches Modell von ‚Verbrechen als Zeichen‘ elaborieren bereits Joachim Linder / Claus-Michael Ort: Zur sozialen Konstruktion der Übertretung und zu ihren Repräsentationen im 20. Jahrhundert. In: Dies. (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien (Anm. 19), S. 3–80, v. a. S. 26–44. 38  Vgl. nur die Recht-Unrecht-Schematik in Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (Anm. 1), S. 169. Walter L. Bühl attestiert Luhmann eine theoretische Selbstblockade durch ‚Flucht in die Paradoxie‘ (Walter L. Bühl: Luhmanns Flucht in die Paradoxie. In: Peter-Ulrich Merz-Benz / Gerhard Wagner [Hg]: Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000, S. 225–256). 39  Henner Hess / Sebastian Scheerer: Was ist Kriminalität? Skizze einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie. In: Kriminologisches Journal 29, H. 2 (1997), S. 83–155. 40  Ebd., S. 90 f., im Anschluss an Peter L. Berger / Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality. New York 1966. 41  S.  zusammenfassend zur interdiskursiven Wissensproduktion Anne Wald­ schmidt / Anne Klein / Miguel Tamayo Korte: Das Wissen der Leute. Bioethik, Alltag und Macht im Internet, Theorie und Praxis der Diskursforschung. Wiesbaden 2009, insbesondere S. 182–184.



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hinzukommt. Übertretungen werden nicht nur im Medium von Recht und / oder Moral gedeutet, sondern Recht und Moral ihrerseits bevorzugt im Medium ‚Verbrechen‘ verhandelt, so dass Kriminalität einem Funktionswandel vom bevorzugten Gegenstand gesellschaftlicher Selbstverständigung hin zum populären Medium dieser Verständigung unterliegt. Fast scheint es, als hätten in der Medienlandschaft der Gegenwart ‚Recht‘ und ‚Moral‘ gleichermaßen ihren langfristigen Konkurrenzkampf um die Deutungshoheit als ‚symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien‘ von ‚Verbrechen‘ längst zugunsten des ‚Verbrechens‘ als Erfolgsgarant (straf-)rechtlicher und moralischer Unterscheidungen eingebüßt. 3. Diskurs- und mediengeschichtliche Periodisierungen Aus rechts- und moral-geschichtlicher sowie aus mediengeschichtlicher Perspektive sind jeweils divergierende Periodisierungen des in Rede stehenden Zeitraumes möglich. Es lassen sich vorläufig und hypothetisch zwei diskursgeschichtliche und vier mediengeschichtliche Makrophasen unterscheiden, die jeweils fundamentale Diskursivierungs- und Medialisierungsschwellen zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart bezeichnen. Diskursgeschichtlich gehen wir von zwei Makroperioden aus, nämlich von einer Phase zwischen 1650 bis 1700 / 1750, in der sich ‚Recht‘ positiviert, ‚Moral‘ von religiösen Fundierungen löst, ‚ethisiert‘ und nach und nach universalisiert und autonomisiert wird. Die Kongruenz von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ wird angestrebt, aber bereits problematisiert. Dieser Periode folgt ab 1750 / 1800 eine bis heute anhaltende Phase, in der ‚Recht‘ und ‚Moral‘ explizit und in allen Varianten der Moralisierung von ‚Recht‘ und der ‚Verrechtlichung‘ von ‚Moral‘ konkurrieren. Nach einem aufklärerischen ‚anthropologisierenden‘ Vorlauf42 kommt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darüber hinaus die Unterscheidungssemantik von ‚Gesundheit / Krankheit‘ verstärkt ins diskursive Spiel. Damit verändert sich das Verhältnis von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ insofern erneut, als sich das Rechtssystem moralischer Kodierungen und moralisierender Argumente – etwa im Rahmen einer moralisierenden ‚Criminalpsychologie‘ – bedient, um den pathologisierenden, später biologisierenden Geltungsanspruch psychiatrischer und medizinischer Verbrechensdeutung zu limitieren.43 Die Konkurrenz von Recht und Moral, später auch 42  Zur Anthropologie der ‚Goethezeit‘ vgl. resümierend auch Claus-Michael Ort / Wolfgang Lukas: Literarische Anthropologie der ‚Goethezeit‘ als Problem- und Wissensgeschichte. In: Michael Titzmann: Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte. Hg. von Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort. Berlin u. a. 2011, S. 1–27. 43  Vgl. die Debatten um die Kriterien für Zurechnungsunfähigkeit ab 1825 in der „Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten […]“; s. dazu

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von Recht, Moral und Medizin verdichtet sich konfliktreich besonders in Phasen der Krisenwahrnehmung um 1800 und während der ‚Weimarer Republik‘. Mediengeschichtlich können vier Entwicklungsschübe unterschieden werden, deren Ergebnisse einander teils ablösen, teils aber auch sukzessive koexistieren, nämlich erstens eine frühneuzeitlich printmediale, noch stark von Bildmedien geprägte Periode, zweitens ab etwa 1750 der Zeitraum eines sich autonomisierenden Literatursystems, dessen Ausdifferenzierung mit der Genese neuer Textsorten einhergeht, die u. a. auf die Verfachlichung des Rechts (Fallgeschichten) und im 19. Jahrhundert auf neue Öffentlichkeitsformen der Strafjustiz (Gerichtsberichterstattung, Massenpresse: Familienzeitschriften) reagieren.44 Die nachhaltige Formierung des Genres ‚Kriminalliteratur‘ im 19. Jahrhundert ist ebenfalls dieser Phase zuzuordnen. Zwischen 1850 und 1900 setzt drittens eine bis spätestens zur Einführung des ‚Dualen Systems‘ 1984 reichende Periode der sukzessiven und begleitenden Re-Visualisierung ein (Photographie, Film ab 1900, ab 1960 zunehmende Verbreitung des Fernsehens), die die Vielfalt der technischen Speicher- und Verbreitungsmedien erhöht, in denen ‚Verbrechen‘ ikonisch und narrativ diskursiviert wird und die Beziehungen von Recht, Moral und Medizin verhandelt werden. Die Konkurrenz der Deutungsmuster von ‚Verbrechen‘ trifft also zusehends auch auf Medienkonkurrenz, was – so unsere Hypothese – insbesondere im 20. Jahrhundert nicht zuletzt der Etablierung von ‚Verbrechen‘ selbst als ‚Erfolgsmedium‘ Vorschub leistet, das die Thematisierung rechtlicher und moralischer Deutungsmuster überhaupt erst ermöglicht. Eine vierte Phase nehmen wir für den Zeitraum seit der Einführung des ‚Dualen Systems‘ und v. a. seit dem Aufschwung der elektronischen audio-visuellen Medien an. Beides führt zu einer massiven kommunikativen Generalisierung von ‚Verbrechen‘ und Ausweitung der ‚Sinnprovinz Kriminalität‘ (im Sinne von Hess und Scheerer). Die mediale Beziehungsgeschichte der Leitsemantiken von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ kann mit Blick auf synchronische oder auch langfristige PartialClaus-Michael Ort: Das Problem der Schuldzurechnung und die Konkurrenz juristischen, medizinischen und moralischen Erzählens. Zur Diskussion über den Fall Schmolling und das Votum von E.T.A. Hoffmann. In: IASL 31, H. 2 (2006), S. 174– 202; s. ansonsten auch Michael Niehaus / Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.): Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1998. 44  Der Wandel vom Aktenversendungsverfahren des vormodernen Inquisitionsprozesses zur öffentlichen Hauptverhandlung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts impliziert einen Medienwechsel von Schriftlichkeit zu Mündlichkeit, den Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung. Hg. von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski. Frankfurt a. M. 2011, S. 98–129, trotz der „Mündlichkeitsschwärmerei und Unmittelbarkeitsverehrung“ des 19. Jahrhunderts (S. 111) als kleinteiligen Wandel der Differenz von ‚Schrift‘ und ‚Stimme‘ beschreibt.



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Konstellationen intern differenziert und jedenfalls medien- und öffentlichkeitsgeschichtlich, literatur- und genregeschichtlich sowie strafrechts- und strafjustizgeschichtlich modifiziert werden. Die genannten Zeiträume und Wandelsschwellen dienen der groben Orientierung und überlappen sich je nach Teilperspektive unterschiedlich stark. Jede der Phasen generiert spezifische Konstellationen mit variabler historischer Dauer, so dass sich auch synchronische Parallelperspektiven für unterschiedlich lange Zeiträume ergeben. Die Rekonstruktion der historischen Entwicklung literarischer bzw. medialer Repräsentation von Gewalt und Verbrechen sowie der damit verbundenen Reflexion der Recht-Moral-Verhältnisse kann – so ist festzuhalten – allenfalls annähernd mit den gängigen literar- und medienhistorischen Epochenbildungen synchronisiert werden. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass fiktionale Verbrechensrepräsentationen notwendige Bezüge zu außerliterarischen Konstitutions- und Sinnbildungsprozessen herstellen müssen: ‚Verbrechen‘ ist nicht ohne ‚Recht‘ und die rechtliche Konstitution von ‚Verbrechen‘ (und seinen Repräsentationen) ist nicht ohne narrative Komponenten vorstellbar.45 ‚Verbrechen‘ operiert auf der Grenze zwischen Faktizität und Fiktionalität und seine im engeren Sinne fiktionale Konstitution appelliert stets an lebensweltliche Erfahrungen, die in eine zukünftige Epochenbildung eingehen müssen. II. Gesellschaftliche Selbstverständigung über ‚Verbrechen‘ – exemplarische Medienkonstellationen, leitende Fragestellungen 1. Ausdifferenzierung von Recht und Moral – Printmediale Bild-Text-Formate der Frühen Neuzeit Der Prozess der zunehmenden Autonomisierung des Rechts wird im 17. und 18. Jahrhundert von einem literarischen und ikonischen Diskurs begleitet, dessen Anstrengungen noch erkennbar dem Ziel gelten, Recht moralisch abzusichern und die Leitdifferenzen ‚gut / böse‘ und ‚recht / unrecht‘ mit Hilfe von ‚Gerechtigkeits‘-Vorstellungen zu harmonisieren. Schon seit dem 16. Jahrhundert gewinnen „Obrigkeit bzw. Staat eine wesentliche Rolle in der Definition von Norm und Normabweichung und damit im Ordnungsdiskurs, in dem verhandelt wird, was als Normabwei45  Vgl. Linder / Ort: Zur sozialen Konstruktion der Übertretung (Anm. 37). Grundlegend schon André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. [1930]. 6. unveränd. Auflage. Tübingen 1982, insbes. zu „Rätsel“ und „Kasus“.

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chung und als kriminell zu bezeichnen ist“.46 Dies wird seit dem 17. Jahrhundert unter den Stichworten ‚öffentliche Sicherheit‘ bzw. ‚innere Sicherheit‘ verhandelt und hat zwei Dimensionen: Einerseits die Sicherheit des Bürgers vor „unerlaubten Zugriffen auf seine Person, sein Eigentum und seine Rechte“, andererseits die Sicherheit des Staates, seiner Organe und Amtsträger „vor unerlaubten Eingriffen seiner Bürger und Fremder“. Mit dem vermehrten Zugriff des Staates auf den ‚Ordnungsdiskurs‘ intensivieren sich auch die „Versuche, Medien und Bilder zu beeinflussen, zu regulieren“ – z. B. in „Zensur, Steckbriefen und Diebslisten“, die der ‚Aufklärung‘ des Publikums dienen und gleichzeitig „Deutungshoheit“ für die Obrigkeit gewinnen wollen, und zwar in der Konkurrenz der strafenden bzw. strafverfolgenden Instanzen. Dabei werden seit dem 16. Jahrhundert verstärkt Bild-Text-Formate genutzt, die sowohl in Büchern (Illustrationen von gemeinrechtlichen Textausgaben) als auch in den Bildergeschichten der Einblattdrucke zugänglich sind. In den Darstellungen werden alltägliche Gewalterfahrungen (Familie, Nachbarschaft, Reisen etc.) aufgenommen. Sie zeigen und deuten Verbrechen und Verbrechensfolgen im Rahmen des christlichen Ordnungsmodells: „Die verletzte und wiederherzustellende normative Ordnung der Criminalbilder ist immer eine christliche und in Teilen soziale, keine obrigkeitliche, mittels Strafnormen gesetzte“47: Das diesseitige Gericht ist Vorahnung des Jüngsten Gerichts, die christliche Ordnung verschränkt Moral und Recht. Hinzu kommen aber auch Möglichkeiten der Diskursverschränkungen von Recht, Religion und Moral an Orten ‚universaler Gelehrsamkeit‘ wie der ‚Fruchtbringenden Gesellschaft‘, in deren Zusammenhängen dann auch Fallsammlungen / Fallgeschichten entstehen, die von der zeitgenössischen Justizpraxis abweichen und insofern auch konkurrierende Deutungsperspektiven eröffnen (vgl. z. B. Matthias Abeles Metamorphosis Telae Judiciariae […]. 1651 ff.).48 Neben Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte. […]. [1651 ff.] markiert vor allem sein Grosser 46  Karl Härter / Gerhard Sälter / Eva Wiebel: Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert: Einleitende Bemerkungen. In: Dies. (Hg.): Repräsentation von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Studien zur Policey und Policeywissenschaft) Frankfurt a. M. 2010, S. 1–23, hier S. 10. 47  Karl Härter: Criminalbildergeschichten: Verbrechen, Justiz und Strafe in illustrierten Einblattdrucken der Frühen Neuzeit. In: Ebd., S. 25–88, insbes. S. 55–57, hier S. 66. 48  Eckhardt Meyer-Krentler: ‚Geschichtserzählungen.‘ Zur Poetik des Sachverhalts im juristischen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. In: Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität (Anm. 20), S. 117–158, hier S. 121–125 (zu Abeles ‚Bratwurstfall‘).



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Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. Bestehend in CC. traurigen Begebenheiten. […] (8 Bde. 1650–52) eine frühe ‚novellistische‘ Formierungsphase des literarischen Diskurses über ‚Verbrechen / Strafe‘ und ‚Schuld / Sühne‘. Darüber hinaus dokumentiert der Schau-Platz die beginnende Autonomisierung des Rechts gegenüber einer religiös kodierten Moral und die Hierarchisierungs- und Harmonisierungsprobleme, die sich ergeben, wenn die Eindeutigkeit rechtlicher bzw. moralischer Schuldzurechnungsfähigkeit bedroht scheint. Zu fragen ist, inwieweit die Kongruenz von Recht und religiös abgesicherter Moral literarisch als – gefährdeter? – Idealzustand explizit oder implizit inszeniert wird, inwieweit also in den Exempeln Harsdörffers und in den ‚Tragica‘ des 17. Jahrhunderts (z. B. François de Rosset: Theatrum Tragicum […]. 1634; Martin Zeiller: […] Episteln […]. 1640 ff.; Matthias Abele [von und zu Lilienberg]: Metamorphosis Telae Judiciariae, Das ist: Seltzame Gerichts-Händel / Samt denen / hierauff gleichfalls selzam erfolgten Gerichts-Aussprüchen / […]. 1651 ff.; 8. A. 1712) ‚höhere Gerechtigkeit‘ mangelhafte Strafverfolgung noch kompensiert und dem „Recht […] moralische Deckung [leiht]“ bzw. umgekehrt „Moralverstöße […] in weitem Umfang […] auch geahndet werden“49 oder ob und in welchem Ausmaß sich diese Kongruenz nicht bereits als Folge einer nicht mehr aufhebbaren semantischen Differenz von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ erweist. Quellentexte können also konkret befragt werden 1. nach den konfliktreichen oder harmonischen Beziehungen zwischen juristischen und moralischen Deutungsmustern, 2. nach der je standes- oder geschlechtsspezifischen Deliktauswahl und den jeweiligen Tätermerkmalen, 3. nach dem Verhältnis von irdischer und göttlicher ‚Gerechtigkeit‘ (Theodizee-Problem) sowie 4. nach den Grenzen, an die eine ‚vernünftige‘, theologisch legitimierte und kohärente Weltordnung angesichts der innerweltlichen Kontingenz und Fülle menschlicher Laster und Sünden, Verbrechen und Unglücksfälle stößt.50 49  Luhmann:

Ethik als Reflexionstheorie der Moral (Anm. 5), S. 339. Breuer: Barocke Fallgeschichten? Zum Status der Trauer- und Mordgeschichten Georg Philipp Harsdörffers. In: Zf. für Germanistik 19 (2009), Nr. 2, S. 288–300; Guillaume van Gemert: Geschichte und Geschichten – Zum didaktischen Moment in Harsdörffer ‚Schauplätzen‘. In: Michele Battafarano (Hg.): G. Ph. Harsdörffer: Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Bern 1991, S. 313–331; Rudolf Schenda: Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Dieter Harmening / Erich Wimmer (Hg.): Volkskultur – Geschichte – Region. Würzburg 1990, S. 530–551; Hania Siebenpfeiffer: Narratio crimen – Georg Philipp Harsdörffers „Der große Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte“ und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur. In: Hans-Joachim Jakob / Hermann Korte (Hg.): Harsdörffer-Stu­ dien. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Frankfurt a. M. 2006, S. 157–176; Rosmarie Zeller: Harsdörffers Mordgeschichte in der Tra50  Ingo

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2. Die Autonomisierung des Literatursystems und die Konkurrenz von rechtlicher, moralischer und medizinischer Verbrechensdeutung seit dem 18. Jahrhundert Mit der Ausdifferenzierung und Institutionalisierung einer autonomisierten Rechtssphäre (vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart) werden ‚Moral‘ und ‚Recht‘ ausdrücklich unterschieden, in ihren Beziehungen reflektiert und in ‚Gerechtigkeitsdiskursen‘ thematisiert. Was ‚Unrecht‘ ist, kann moralisch ‚gut‘ sein und ‚Recht‘ kann sich moralisch ins ‚Unrecht‘ setzen; Moral wird ‚verrechtlicht‘, ‚Recht‘ kann seinerseits explizit re-moralisiert werden. Seit der Formierung aufklärerischer Anthropologie konkurrieren Recht und Moral außerdem auch mit anthropologischen, medizinisch und psychologischen Diskursen (Leitdifferenz ‚gesund / krank‘) um die Deutungshoheit über das ‚Verbrechen‘.51 Zugleich ist ab der Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch auch die Ausbildung und Autonomisierung des Literatursystems zu berücksichtigen, dessen Binnendifferenzierungen schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und beschleunigt dann im 19. Jahrhundert zahlreiche literarische, faktuale und fiktionale Formate für die Repräsentation und Deutung von Verbrechen und Strafjustiz hervorbringt. Verbrechen und Strafjustiz nehmen nach 1750 im Bereich der ‚schönen Literatur‘ einen immer breiteren Deutungsspielraum für sich in Anspruch. Zusehends dominieren Textformate, mit denen die ‚schöne Literatur‘ bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Position eines Leitmediums für die juristische und moralische Deutung von Devianz und Gesellschaft beansprucht und u. a. auch die Entwicklung der wissenschaftlichen Kriminologie im Verlauf dieses Jahrhunderts befruchtet. Zudem bildet sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch ein deutschsprachiges Genre ‚Kriminalroman‘ aus, das um 1900 verstärkt den Anschluss an internationale Entwicklungen sucht und zumindest teilweise Anerkennung findet. Speziell die Kriminalliteratur (im weiteren Sinne) wird über weite Strecken mit Blick auf ihre Orientierungsfunktionen produziert und verstanden – und kritisiert, wo sie dies zu verweigern scheint. Insofern können Leseunfähigkeit und / oder Rezeptionsverweigerung selbst schon als kriminogen reflektiert werden.52 dition der histoires tragiques. Ebd., S. 177–194, sowie Winfried Theiss: „Nur die Narren und Halßstarrigen, die Rechtsgelehrte ernehren …“ – Zur Soziologie der Figuren und Normen in G. Ph. Harsdörffers „Schauplatz“-Anthologien von 1650. In: Wolfgang Brückner / Peter Blickle / Dieter Breuer (Hg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Teil II. Wiesbaden 1985, S. 899–916. 51  Vgl. dazu Ort: Das Problem der Schuldzurechnung (Anm. 43).



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Spätestens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts breitet sich die Kritik an der überkommenen (frühneuzeitlichen) Kriminalpolitik, am Strafensystem und den Strafpraktiken aus; Beccaria, Voltaire und Montesquieu betonen deren Bedeutung für die Beurteilung staatlichen Handelns, und in der ‚schönen‘ Literatur werden alarmierende (und übertriebene) Hinrichtungszahlen vermittelt (Johann Pezzl: Faustin oder das philosophische Jahrhundert, 1783),53 aber auch eindrückliche Darstellungen von Körperstrafen (Christian Gotthilf Salzmann: Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend, 1783–87), mit denen einerseits die Effizienz der Strafjustiz in Frage gestellt wird, andererseits die Stimmen verstärkt werden, die dem staatlichen Gewaltmonopol in seiner realen Praxis die Legitimation absprechen.54 „Die Kunst des Strafens“ wird um so mehr zum Gegenstand der Literatur, als diese deren narrative Basis erkennt.55 52

Mit Friedrich Schillers Verbrecher aus Infamie / verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte (1786 / 1792) entsteht am Ende des 18. Jahrhunderts ein Erzähltext, der alsbald kanonischen Status erlangt, und zwar nicht so sehr bei den Lesern, als bei Autorinnen und Autoren. Seine Fiktionalisierungsstrategien lassen Verbrechen und Strafverfolgung gemeinsam in den Blick kommen und unterwerfen die Justiz einer auf Moral und Wissen fundierenden Kritik, mit der das Konkurrenzbewusstsein literarischer Kriminalitätskonstitution und -deutung auf lange Sicht gestützt wird, so dass eine Basis für variable Rekombinationen entsteht (vgl. nur Adolph Müllners Der Kali­ ber, 1828, Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche, 1842, Hermann Kurz‘ Der Sonnenwirth, 1855, Wilhelm Raabes Horacker, 1876, und auch 52  „Eunice Parchman killed the Coverdale family because she could not read or write“: so lautet der erste Satz in Ruth Rendells Kriminalroman A Judgement in Stone (1977), der die Textorientierung im Rückblick reflektiert. 53  S. von Pezzls Roman ausgehend: Wolfgang Behringer: Mörder, Diebe, Ehebrecher. Verbrechen und Strafen in Kurbayern vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: Richard van Dülmen (Hg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Studien zur historischen Kulturforschung II. Frankfurt a. M. 1990, S. 85–132. Historische Darstellungen u. a. bei Regula Ludi: Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik 1750–1850. Tübingen 1999; Martin Reulecke: Gleichheit und Strafrecht im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts. Tübingen 2007; Sylvia Kesper-Biermann / Diethelm Klippel (Hg.): Kriminalität in Mittelalter und Früher Neuzeit. Soziale, rechtliche, philosophische und literarische Aspekte. Wiesbaden 2007. 54  Gerhard Ammerer / Friedrich Adomeit: Armesünderblättchen. In: Härter et al. (Hg:): Repräsentation von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit (Anm. 46), S. 271–307. 55  Alois Hahn: Disziplin im Arsenal der Leidenschaften. Die Kunst des Strafens. In: Gertrud Koch / Sylvia Sasse / Ludger Schwarte (Hg.): Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, München 2003, S. 91–107.

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noch Alfred Döblins Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord von 1924). Schiller ist es aber auch, der (vor allem in seinen Bühnentexten) Staat und Verfassungsrecht in den Blick rückt.56 Insbesondere um 1800 und erneut um 1920 / 30 ist außerdem, so unsere Hypothese, von Krisenphasen auszugehen, die sich durch stark intensivierte und konfliktreiche Beobachtungs- und Austauschbeziehungen zwischen Recht und Moral und Medizin / Anthropologie auszeichnen. 3. Krisenwahrnehmungen: Konkurrenz zwischen Recht, Moral und Medizin a) Konkurrenzen um 1800 Die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Krisenwahrnehmungen der Zeit zwischen 1790 und 1820 schlagen sich in vielfältiger Weise literarisch nieder57 und sollen hier nur an zwei Beispielen zur Sprache gebracht werden:58 1.  In seinem Manuskript Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirk­ samkeit des Staates zu bestimmen, das Wilhelm von Humboldt im Jahr 1792 an Friedrich Schiller sendet, entwickelt er die Vision des ‚gerechten Strafens‘, mit deren Verwirklichung die Justiz dazu gebracht worden sei, in jedem einzelnen Kriminalfall umfänglichste ‚Hintergrundaufhellungen‘ zu betreiben, die nicht nur die individuellen Dispositionen des Täters und den jeweiligen sozialen Kontext zum Vorschein bringen sollten, sondern auch 56  S. dazu aus rechtswissenschaftlicher Sicht Klaus Lüderssen: ‚… daß nicht der Nutzen des Staats Euch als Gerechtigkeit erscheine.‘ Schiller und das Recht. Frankfurt a. M. / Leipzig 2005, und aus literarhistorischer Sicht Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. ‚Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe.‘ München 2009. 57  Vgl. insbesondere Robert S. Leventhal (Hg.): Reading After Foucault: Institutions, Disciplines, and Technologies of the Self in Germany, 1750–1830. Detroit, Mich. 1994; Gabriele Brandstetter / Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissens­ poetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004; Sandra Hei­ nen / Harald Nehr (Hg.): Krisen des Verstehens um 1800. Würzburg 2004; Hans Feger / Hans Richard Brittnacher (Hg.): Die Realität der Idealisten: Friedrich Schiller, Wilhelm von Humboldt, Alexander von Humboldt. Köln 2008. 58  S. dazu schon die beiden Tagungsbände von Schönert (Hg.): Literatur und Kriminalität (Anm. 20) und Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität (Anm. 20) sowie in der Folge Linder / Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien (Anm. 19); siehe ferner auch Ulrich Kronauer / Ulrike Zeuch (Hg.): Recht und Literatur um 1800. IASL 31 (2006), H. 1 und H. 2 und Claude D. Conter (Hg.): Literatur und Recht im Vormärz. Bielefeld 2010.



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die je augenblicklich wirksame Strafkultur. Humboldt skizziert damit ein Programm, das, ernst genommen, die Justiz hätte lahmlegen müssen,59 doch spiegelt sich darin Schillers Vorstellung, der zufolge in Kriminalverfahren Wissen über Psychologie, Anthropologie, Moral und Sittlichkeit produziert und archiviert wird, das die Literatur im Sinne ihrer eigenen ‚Gerichtsbarkeit‘ aufgreifen könne. Diese ‚Gerichtsbarkeit‘ beginnt bekanntlich dort, „wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt“,60 und korrespondiert wiederum mit Humboldts Intuition, dass „bei einem nicht kleinen Theil der Nation die Gesetze und Einrichtungen des Staates gleichsam den Umfang der Moralität abzeichnen“.61 Wo im Verständnis der Staatsbürger Recht und Moral zur Deckung kommen und Moralität sich auf Gesetzestreue beschränkt, da geht, so Humboldts Klage, aber auch der Standort verloren, von dem aus die Moralität sowohl des Individuums als auch des Staates beurteilt werden kann.62 An Schillers poetischer Praxis sowie an seinen Reflexionen einer Poetologie von Verbrechen und Strafen zeigt sich jedoch, dass Humboldts Konkretisierung der moralisch gerechtfertigten und ‚gerechten‘ Strafe ein literarisches Programm enthält, das mit den Räubern (1781 / 82) und der Sonnenwirt-Erzählung (1786 / 92) schon erste Realisierungen gefunden hat, deren ‚Wahrheit‘ eine Funktion gerade ihrer Fiktionalität und Literarizität ist. 2. Adolph Müllners Kurzroman Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten (1828 / 29) ist auf mehreren Ebenen als Versuch zu lesen, zeitgenössische Krisen darzustellen und zu überwinden:63 Müllner sah die Strafjustiz in einer Umbaukrise. Er hat dieser Wahrnehmung schon in der 59  In P. J. A. Feuerbachs Tatschuld-Programm, das nur wenig später entstehen wird, kann man den Gegenentwurf sehen. Aber Feuerbach denkt als Strafrechtsreformer, der Rationalität und Berechenbarkeit des Strafens erreichen will, während Humboldt sein Gerechtigkeitsprinzip verwirklichen will und dabei die punitiven Tendenzen des Liberalismus zu berücksichtigen scheint. 60  Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken. In: Sämtliche Werke, Bd. V, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 9. durchges. Aufl., München 1993, S. 818–832, hier S. 823. 61  Zit. nach der ersten vollständigen Veröffentlichung des Essays: Hg. und mit einer Einleitung von Eduard Cauer. Breslau 1851, S. 22. Jetzt in Andreas Flit­ ner / Klaus Giel (Hg.): Schriften zur Anthropologie und Geschichte. (Werke in fünf Bänden, Bd. 1). Darmstadt 2002, S. 56–233. 62  Vgl. dazu Reinhard Merkel in seiner umfangreichen Rekonstruktion der ‚liberalen Fundamente‘ und der ‚rechts-philosophischen Prämissen‘ in der Fackel von Karl Kraus: Reinhard Merkel: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus. Frankfurt a. M. 1998, hier insbesondere „Strafrecht und die Trennung von Recht und Moral“, S. 231–276, speziell zu Humboldt S. 233. 63  Joachim Linder: Gründungsszenen der Genreliteratur. Adolph Müllners Erzählung „Der Kaliber“ (1828 / 29) am Beginn der deutschen Krimigeschichte. In: Conter (Hg.): Literatur und Recht im Vormärz (Anm. 58), S. 105–121.

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Titeladressierung seiner Schrift Allgemeine Elementarlehre der richterlichen Entscheidungskunde (Leipzig 1806) Ausdruck gegeben: „Besonders für Richter, Sachwalter und Studierende, welche einen plötzlichen Übergang aus der alten Ordnung in eine neue fürchten“. Der ehemalige Anwalt und zeitweise erfolgreiche Schicksalsdramatiker macht dies in der Plotkonstruktion und der Präsentation fruchtbar. Müllner verbindet in Der Kaliber die biographische Krise des Dramenautors, der ein neues Betätigungsfeld sucht, mit den ‚Umbaukrisen‘, die er nicht nur im Rechtssystem erkennt (den Wandel vom Geständnis- zu einem Indizienparadigma, in dessen Zentrum die Unschuldsvermutung lokalisiert wird), sondern auch im Literatursystem, in dem die affektgesättigte Bühnenrepräsentation des Verbrechens durch die wissensgesättigte Erzählprosa Konkurrenz erhält. Das Verhältnis von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ wird mit Blick auf den Beschuldigten bzw. Angeklagten thematisiert (seine moralische Verpflichtung zur Mitwirkung und zum Geständnis), so dass das Strafverfahren die eigene Moralisierung betreibt und nicht zuletzt deshalb vom Scheitern (vom Fehlurteil) bedroht ist.64 In DrosteHülshoffs Erzählung Die Judenbuche (1842) wird dies (wenn auch ohne den dezidiert juristischen Blickwinkel Müllners) weiter zugespitzt, so dass die Sachverhaltsaufklärungen schon deshalb ins Leere laufen, weil sie vorwiegend auf der moralischen Einschätzung des Täters und seiner Lebensgeschichte beruhen.65 Diese beiden Blickrichtungen der moralischen Beurteilung oder der Moralisierung des Rechts sind auch in der Folgezeit stets zu beachten: Die eine zielt auf Tat und Täter(in) und zieht Urteile vor den ‚Gerichtshof‘ der Literatur, die andere zielt auf das Recht und seine Prozeduren, seine Rollen und seine spezifischen Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Moralisierung von Verbrechen und Verbrecherfiguren und deren Projektion auf die Gesellschaft, die dann auch ‚verantwortlich‘ gemacht werden kann, ist somit nur die eine Seite. Die andere ist in der Moralisierung der Ordnung und der Ordnungsinstanzen sowie der Figuren, die sie repräsentieren, zu sehen – Richter und Polizeibeamte, Ermittler aus den unterschiedlichsten Berufen, aber auch Repräsentanten staatlicher Herrschaft, die das Recht formulieren, durchsetzen oder missachten oder in die eine oder andere Richtung verändern. Dabei 64  Ähnlich, wenn auch weniger konzentriert und pointiert: Otto Ludwig (d. i. Otto Ludwig Emil von Puttkammer): Der Todte von St.-Anna’s Kapelle. Ein Criminalfall. Nach Acten und brieflichen Mittheilungen erzählt. In: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1840. Neue Folge. Zweiter Jahrgang. Leipzig 1840, S. 289–422. 65  Zur gesteigerten Kontingenz in Drostes „Sittengemälde“ s. im einzelnen ClausMichael Ort: Fallgeschichten im „Sittengemälde“. August von Haxthausens „Geschichte eines Algierer-Sklaven“ und Annette von Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“. In: Alexander Košenina (Hg.): Kriminalfallgeschichten (text + kritik V / 14, Sonderband). München 2014, S. 106–129.



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ist die Sicht der Herrschenden auf die Repräsentationen allem Anschein nach bis heute unveränderlich: Mit fiktionalen Fernsehsendungen und Charakteren, die zwischen Bürgern und Institutionen Vertrauen schaffen und dieses festigen können, leistet das Fernsehen somit einen wichtigen Beitrag zum reibungslosen Funktionieren unserer heutigen Gesellschaft.66

Die Herrschafts-Perspektive des ‚reibungslosen Funktionierens‘ von Gesellschaften ist von Anfang an nicht nur eine externe Zuschreibung an mediale Repräsentationen, sondern auch schon Thema in den Repräsentationen von Verbrechen und damit Teil der Reflexion von Moral und Recht. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die organizistischen Metaphern, die für die bzw. von den Ordnungsinstanzen eingesetzt werden: […] dieses großen Rechts Vertreter sind wir, die Fürsten, denen Gott ein groß Auge gab. Gleich wie der Gärtner in einem großen Garten zuschauen muß, daß Alles was da ist, lebt und blüht und Früchte trägt, und er schlägt ab die dürren Aeste und räutet aus die vertrockneten Pflanzen. So auch wir.“ (Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg in Willibald Alexis’ Roman Der Roland von Berlin, 1842).67

Das ‚Ausjäten‘, um dem neuen, lebenskräftigen Wachstum Raum zu bereiten – und um den Wildwuchs zu bekämpfen – lässt den Übergang zu den Ordnungsinstanzen in der Funktion des Arztes ahnen, der Krankheiten heilt oder kranke Körperteile amputiert, um zu verhindern, dass der „Brand“ (Schiller) den ganzen Körper ansteckt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts stimuliert v. a. die Konjunktur eines sozialdarwinistisch-eugenischen Diskurses (Ernst Haeckel, Alfred Ploetz u. a.) solche vitalistisch-organizistische Semantik und generiert literarische Narrationen, in denen sich die ‚Pathologisierung des Kriminiellen‘ bereits mit der latenten ‚Kriminalisierung des Kranken‘ überblendet.68

66  Milly Buonanno: Vertrauen in die Institutionen schaffen – Der Beitrag von Fernsehfiktionen. In: Europäische Kommission / Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (Hg.): Verhütung von Betrug durch Aufklärung der Öffentlichkeit. Runder Tisch zum Thema Betrugsprävention durch Kommunikation; Texte erstellt in den Jahren 2004, 2005, 2006, 2007 und 2008. Luxemburg 2010, S. 303–305. 67  Zit. nach: Willibald Alexis (d. i. Wilhelm Häring): Der Roland von Berlin. Historischer Roman. In 3 Bänden. Berlin o. J., hier: Dritter Band, S. 182. 68  Vgl. dazu auch Joachim Linder / Claus-Michael Ort: ‚Recht auf den Tod‘ – ‚Pflicht zum Sterben‘. Diskurse über Tötung auf Verlangen, Sterbehilfe und ‚Euthanasie‘ in Literatur, Recht und Medizin des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In: Achim Barsch / Peter M. Hejl (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914). Frankfurt a. M. 2000, S. 260–319, hier S. 286–301.

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b) Konkurrenzen in der Zeit der ‚Weimarer Republik‘ Die „Krisenjahre der klassischen Moderne“ (Peukert69) zwischen 1918 und 1933 verbinden sich mindestens da mit den vielfältigen Krisen um 1800, wo sie die Phantasien über Kriminalität und Phantasiekriminalität befördern,70 und wo die als krisenhaft wahrgenommenen Entwicklungen der Strafjustiz zum Thema unterschiedlicher literarischer und filmischer Formate werden,71 womit sich die Justizkrisen der Zeit erst im kollektiven Bewusstsein verankern (vgl. auch die Konjunktur der Justiz- und Strafvollzugsdarstellungen auf den Bühnen, die in dieser Zeit eine kurzfristigen Höhepunkt erlebt). Offenkundig werden in Literatur und Medien Erzähl-, Visualisierungsund Deutungsmuster reflektiert und einer Revision unterzogen, so dass auch die Gewissheiten der Trennung von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ in den autonomisierten Bereichen von Film und Literatur in Frage gestellt werden. Gerade die ‚Verfachlichung‘ selbst wird dabei moralisiert und der Anspruch der Richter, allein nach ihren fachlichen Qualitäten und Ergebnissen beurteilt zu werden, in Frage gestellt. Dies zeichnet sich bereits in Romanen wie Ricarda Huchs Der Fall Deruga (1917) ab, in dem die Anerkennung der Moralität der Sterbehilfe unmittelbar zum Zusammenbruch von Prozess-Strate­ gien führt. Doch auch die Ansprüche der Medizin und der Psychologie sowie der an sie anschließenden Täterkriminologien werden als Strategien der De-Personalisierung in Frage gestellt; die Zuschreibung von Schuldunfähigkeit kann als Entzug der individuellen Autonomie verstanden werden (vgl. exemplarisch die Täterdarstellung in Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen 69  Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt a. M. 1987. 70  S. Todd Herzog: Crime Stories: Criminalistic Fantasy and the Culture of Crisis in Weimar Germany. Oxford / New York 2009; Sace Elder: Murder Scenes: Normality, Deviance, and Criminal Violence in Weimar Berlin. Ann Arbor 2010. 71  Vielfältig beforscht, siehe schon Klaus Petersen: Literatur und Justiz in der Weimarer Republik. Stuttgart 1988; Joachim Linder: Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart: Straftäter und Strafverfahren in einer literarischen Reihe der Weimarer Republik. In: Kriminologisches Journal 26. 4 (1994), S. 249– 272; Cornelia Heering: Die Kultur des Kriminellen. Literarische Diskurse zwischen 1918 und 1933. Ernst Weiß. Mit einem Exkurs zu Rahel Sanzara. Münster 2008; Thorsten Miederhoff: „Man erspare es mir, mein Juristenherz auszuschütten.“ Dr. iur. Kurt Tucholsky (1890–1935). Sein juristischer Werdegang und seine Auseinandersetzung mit der Weimarer Strafrechtsreformdebatte am Beispiel der Rechtsprechung durch Laienrichter. Frankfurt a. M. u. a. 2008; Reiner Scheel: Literarische Justizkritik bei Feuchtwanger, Musil, Wassermann und A. Zweig. Essen 2008.



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Mörder, 1931, sowie die Falldarstellungen von Alfred Döblin, Theodor Lessing und Ernst Weiß in der Reihe Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart. Berlin: Die Schmiede 1924 / 25). 4. Recht und Moral seit dem 19. Jahrhundert (Fallsammlungen, Gerichtsberichterstattung, Kriminalgenre): Desiderata der Medien- und Genregeschichte Während des gesamten 19. und bis in das erste Viertel des 20. Jahrhunderts wird die Differenzierung der Deutungsmuster durch zahlreiche Sammlungen mit Fall- und Pitaval-Geschichten beschleunigt,72 deren erste Erfolge (Feuerbach 1808 / 11, Hitzig / Häring / Vollert 1842 / 1890) auch auf die fehlende Öffentlichkeit des Inquisitionsverfahrens zurückgeführt werden können. Dass dies in weiten Teilen nicht nur der fachlichen, sondern auch der allgemeinen Öffentlichkeit als rückständig und defizitär empfunden wurde, zeigt sich u. a. auch an der höchst lebendigen Berichterstattung über Sensationsverfahren vor den Geschworenengerichten im linksrheinischen Preußen.73 Schon in diesen Formaten, dann aber auch in Fallsammlungen werden dezidiert justiz- und rechtskritische Perspektiven entwickelt (z. B. Dronke 1846, Demme 1851–54, Löffler 1867 f., 1868–70), die bis in das 20. Jahrhundert mit den apologetischen Darstellungen konkurrieren (z. B. Harden 1913 neben Frank et al. 1903 ff.). Gemeinsam ist den apologetischen und den kritischen Varianten jedoch die Vorstellung, dass Verbrechen als Zeichen für gesellschaftliche Fehlentwicklungen verstanden werden können – und dass diese Deutung zur Grundlage erzählerischer Präsentation wird, und zwar selbst dann, wenn der spezifische Text Fehlentwicklungen dementiert.74 Die Standardkonflikte in Familienverhältnissen, Vater-Sohn-Beziehungen und Geschlechterverhältnissen werden gesellschaftlich grundiert (z. B. Großstadt, Migration, Klassenverhältnisse, Kapitalisierung der Lebensverhältnisse, Folgen von Krieg), so dass die Diskussion über das Verbrechen als sozialpathologische Erscheinung am Ende des Jahrhunderts (z. B. bei Franz von Liszt) auf breiter Materialbasis vorbereitet und angesichts der Rezep­ tionstiefe der Fallsammlungen auch präfiguriert wird. 72  Überblick über die Produktion zwischen 1750 und 1931 s. URL: http: /  / www. joachim-linder.de / data / fasa.html (zuletzt: 20.5.2014). 73  Exemplarisch der Fall Fonk, s. Ingrid Sybille Reuber: Der Kölner Mordfall Fonk von 1816. Das Schwurgericht und das königliche Bestätigungsrecht auf dem Prüfstand. Köln / Weimar 2002. 74  Joachim Linder: Deutsche Pitavalgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konkurrierende Formen der Wissensvermittlung und der Verbrechensdeutung bei W. Häring und W. L. Demme. In: Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität (Anm. 23), S. 313–348.

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Im Gefolge der endgültigen Durchsetzung der öffentlich-mündlichen Hauptverhandlung, der Entwicklung von Zeitungen und ihrer Gerichts- und Polizeiberichterstattung sowie der weiterhin zahlreich erscheinenden Fallsammlungen entsteht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein dichtes Netz populär-medialer Formate der Verbrechensdeutung, deren Rückwirkung auf die Rechts- und Urteilspraxis kaum untersucht ist und die auf jeden Fall in der Kriminalpolitik, aber auch in wissenschaftlichen Diskursen berücksichtigt werden.75 Damit geht auch die Kanonisierung von Kriminalfällen (vgl. im Bereich der Sexualpathologie: Richard von Krafft-Ebing) und historischen Gerichtsverfahren (z. B. der Fall Hau) einher, die z. T. lang anhaltend im kollektiven Gedächtnis nachweisbar sind. Das spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl printmedial (Massenpresse: Familienzeitschriften) als auch im Bereich der Bildmedien (Photographie, später Film) veränderte Feld der Kriminalitätsmedien muss im Kontext der zugleich stattfindenden Formierung des narrativen Kriminalgenres untersucht werden. Hier sind gravierende Desiderate festzuhalten: Nicht nur Überblicksdarstellungen zur Geschichte des deutschsprachigen Kriminalgenres für die Zeit vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart fehlen bislang.76 Hans-Otto Hügels Studie aus dem Jahr 197877 umfasst zwar immerhin das ganze 19. Jahrhundert; das in ihr zutage geförderte Material wird in der Forschung jedoch allenfalls punktuell genutzt.78 Unter diesem Mangel leiden Einzeldarstellungen zu Autoren, Epochen, Themen und Motiven der Genregeschichte nachhaltig. Darüber hinaus hat die literarhistorische Forschung auch keinen Konsens über eine Definition des Genres herstellen können,79 so dass Forschungsdiskussionen oft schon an 75  Sehr aufschlussreich: Michael Hagner: Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900. Berlin 2010. 76  Etwa im Sinne von Stephen Knight: Crime Fiction Since 1800: Detection, Death, Diversity. 2nd ed. Basingstoke, UK 2010 oder auch von Maurizio Ascari: A Counter-History of Crime Fiction: Supernatural, Gothic, Sensational. New York 2007. 77  Hans-Otto Hügel: Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1978. 78  Mittlerweile ergänzt durch die Bibliographie von Mirko Schädel, die freilich nur Buchveröffentlichungen berücksichtigt: Mirko Schädel: Illustrierte Bibliographie der Kriminalliteratur 1796–1945 im deutschen Sprachraum. 2 Bde. Butjadingen 2006. 79  Vgl. zur Unmöglichkeit einer Genre-Definition Thomas Wörtche: Art. ‚Kriminalroman‘. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte […]. Bd. II H–O. Berlin / New York 2000, S. 342–345; als Plädoyer für ‚exklusive‘ Korpusbildungen s. Volker Neuhaus: Mysterion tes anomias – Das Geheimnis des Bösen. Der Detektivroman als regelgeleitete Gattung. In: Dagmar Schier / Malchus Giersch (Hg.): Computergestützte Interpretation von Detektivromanen: CID. Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 11–45.



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der Schwelle der Korpusbildungen abgebrochen werden. Dabei ist aber unzweifelhaft, dass im 19. Jahrhundert die deutschsprachige Literatur eigenständige Formen der Kriminalliteratur entwickelt und sich erst peu à peu den angelsächsischen und den französischen Entwicklungen öffnet, weil deren Produktionen zunehmenden Erfolg am deutschen Buchmarkt hatten. Im Austausch zwischen der Literatur und insbesondere der (entstehenden) Genreliteratur einerseits und den unterschiedlichsten Justizerfahrungen andererseits werden spezifische Erzähl- und Deutungsmuster entwickelt, die sich von vornherein auf den Literaturmarkt einstellen, dort meist nur in Ausnahmefällen hohe Auflagen erzielen, doch spezialisierte Autoren hervorbringen, die unterschiedliche Formate bedienen. Es bildet sich nachgerade ein System ‚Kriminalliteratur‘ aus, das unter den Bedingungen der Markt­ orientierung intern alle Komponenten des Sozialsystems ‚Literatur‘ abbildet.80 Das Kriminalgenre öffnet sich überdies dem Medienwandel, so dass es heute sowohl printmediale als auch audiovisuelle Formate umfasst. Im Hinblick auf die Formationsphase der deutschsprachigen Kriminalliteratur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (im Anschluss an Schiller, Hoffmann, Müllner) warten vor allem die teils umfangreichen Erzählformate, die speziell für Almanache und Taschenbücher entwickelt wurden, auf weitere Auswertung. Schon dem ersten Blick (insbesondere auf die Novellenproduktion von W. Alexis, dem Pitaval-Herausgeber, zwischen 1820 und 1848) zeigt sich eine Moraldiskussion, die weiterhin Verbrechen und Strafverfolgung gleichermaßen verhandelt, um sie in die Diskussionen der Leserinnen und Leser in Familien, Salons und Lesegesellschaften einzuführen. Kriminalpsychologische, täterorientierte Deutungsinteressen stehen keineswegs unangefochten im Vordergrund, und die Strafverfolgung wird zumindest außerhalb der eigentlichen Rechtssphäre als ein Unternehmen gesehen, an dessen Erfolg oder Scheitern sich Moralität erweist und ein Gerechtigkeitsdiskurs festmachen lässt. Mit den neuen Medien der Familien- und Gerichtszeitschriften eröffnet sich der Kriminalliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein weiteres Experimentierfeld, dem sich kaum ein Autor verschließen kann.81 80  Vgl. dazu gegenwartsorientiert Thomas Wörtche: Das Mörderische neben dem Leben. Ein Wegbegleiter durch die aktuelle Krimiwelt. Konstanz 2008. 81  Zu Temme und zur Familienzeitschrift Die Gartenlaube s. Friederike Meyer: Zur Relation juristischer und moralischer Deutungsmuster von Kriminalität in den Kriminalgeschichten der „Gartenlaube“ 1855–1870. In: IASL 12 (1987), S. 156–189 sowie Julia Menzel: „Dies waren die Thatsachen“. Evidenzproduktion bei J. D. H.  Temme. In: Clemens Peck / Florian Sedlmeier (Hg.): Kriminalliteratur und Wissensgeschichte. Bielefeld (im Erscheinen) und Dies.: „Was sichtbar war, war gerade genug […]“. Theodor Fontanes Kriminalnovelle „Unterm Birnbaum“ im Lektüre-

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Dabei werden die Grenzen zwischen faktualen und fiktionalen Formaten deutlicher gezogen, auf Authentizitätsfiktionen (wie die Doppelrolle des Autors als Jurist und Schriftsteller) kann zunehmend verzichtet werden und „Criminalroman“ wird zur Bezeichnung eines Genres. Spätestens mit Adolf Rutenbergs Artikel über den „Criminalroman“ kann das Genre als etabliert gelten und Ansprüche auf moralische Rechtfertigung erheben, zumal Eugène Sues Geheimnisromane als Mustergeber durch Émile Gaboriau und seine Ermittlungsromane abgelöst werden. Rutenberg ist es denn auch, der dem ‚Criminalroman‘ kriminalpolitische Funktionen zutraut, aber auch Wirkungen für das Rechtsbewusstsein des Volkes – wenn er denn nur die „Quelle des Unheils […] mit freiem kühnen Griffel“ aufgreift: Diesen „edlen Zweck sollte sich der Criminalroman der Zukunft nicht entgehen lassen“, um zu einem legitimen Teilnehmer am Gerechtigkeitsdiskurs zu werden.82 Während nur wenige Spuren auf die unmittelbare Rezeption der ‚Gründungstexte‘ von E. A. Poe (1841 ff.) hinweisen,83 erfolgt die Lektüre der Sherlock-Holmes-Texte von Arthur Conan Doyle schon in den 1890er Jahren beinahe flächendeckend. Sie vermittelten Lesevergnügen, so der Tenor, weil sie sich weder für Verbrechen noch für Verbrecher, sondern für eine vom Medium ‚Strafverfahren‘ entkoppelte Ermittlung interessierten, der man Schritt für Schritt folgen könne. Dies erleichtert es der Kriminalliteratur sowie ihrer Leserschaft, sich weiter in konservative Nischen zurückzuziehen, während zugleich die Stimmen, die den ‚Wert‘ des Kriminalromans hervorheben, lauter werden.84 Kriminalliteratur wird gesellschaftsfähig auch um den Preis nachlassenden Interesses an ihrer Relevanz für Gerechtigkeitsdiskurse, ohne diese allerdings gänzlich unterdrücken zu können.85 kontext der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ (1885). In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 107, H. 1 (2013), S. 105–124. 82  Adolf Rutenberg: Der Criminalroman und das Zeitalter des Modernen. In: Die Gegenwart 5 (1874), S. 37–40, 70–73. 83  Edgar Allan Poe: Die Morde in der Rue Morgue. Marie Roget. Der entwendete Brief. In: Ausgewählte Werke, Bd. 1. Aus dem Englischen von William E. Drugulin, Leipzig 1853. Eine um die Theoriepassagen gekürzte Fassung von The Murders in the Rue Morgue als Fallgeschichte findet sich in Friedrich Steinmann: Volks-Pitaval. Gallerie denkwürdiger Verbrechen und interessanter Criminalgeschichten der Vorzeit und Gegenwart für das Volk. Berlin 1858. 84  Vgl. nur Alfred Lichtenstein: Der Kriminalroman. Eine literarische und forensisch-medizinische Studie mit Anhang: Sherlock Holmes zum Fall Hau. München 1908; Hans Hyan: Sherlock Holmes als Erzieher. Mit einem Vorwort von Rechts­ anwalt Dr. jur. Halpert. o. O. 1909. 85  Joachim Linder: Die Polizei als Reflexionsinstanz: Ermittlung in Kriminal­ romanen von Otto Soyka, Heimito von Doderer und Ernst Jünger. In: Gerald Sommer / Robert Walter (Hg.): Doderer, das Kriminelle und der literarische Kriminal­ roman. Zu Heimito von Doderers ‚Ein Mord den jeder begeht‘. Würzburg 2011, S. 69–90.



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Die damit eingeleitete Tendenz zur weiteren Internationalisierung auch der deutschen Krimiproduktion wurde in der Zeit des ‚Dritten Reiches‘ wenigstens teilweise unterbrochen. Die Literaturpolitik zwischen 1933 und 1945 präferiert Texte, in denen die Polizei und ihre Repräsentanten als die eigentlichen moralischen Instanzen auftreten, die ‚vor Ort‘ die Einteilung in Gefährdete, Besserungsfähige und Unverbesserliche vornehmen. Die Wirkungen der politischen Lenkung der Kriminalliteratur lassen nach 1945 allerdings keineswegs schlagartig nach.86 Vielmehr werden zahlreiche Texte ohne oder mit geringfügigen Änderungen neu aufgelegt, und ebenso können zahlreiche Autoren auch in der Bundesrepublik im gewohnten Genre weiterarbeiten. Dies kann hauptsächlich darauf zurückgeführt werden, dass die Literaturpolitik des ‚Dritten Reiches‘ in der Kriminalliteratur ein oberflächlich entideologisiertes Ordnungsmodell gefördert hat, in dem eine wohlwollende Polizei Täter dingfest machen konnte, die entweder den Bildern der Berufsverbrecher, der ‚geborenen Verbrecher‘ und Psychopathen entsprachen oder aus Bevölkerungsgruppen stammten, denen ein erhöhte Kriminalitätsanfälligkeit zugesprochen wurde. Insofern konnte die Autarkie-Politik, die im ‚Dritten Reiches‘ für den Kriminalroman versucht worden ist, an überkommene und gut verankerte Bilder anschließen, die auch in der frühen Bundesrepublik noch nicht als vollständig korrumpiert gelten. Als in den 1970er und 1980er Jahren der ‚neue deutsche Kriminalroman‘ die Aufmerksamkeit von Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern auf sich zieht, kommt es zur literarhistorischen Fehleinschätzung, dass der Krimi „kein deutsches Genre“ sei.87 Viel eher als einen Neubeginn markiert der 86  Joachim Linder: Polizei und Strafverfolgung in deutschen Kriminalromanen der dreißiger und vierziger Jahre. In: Michael Walter / Harald Kania / Hans-Jörg Albrecht (Hg.): Alltagsvorstellungen zur Kriminalität. Individuelle und gesellschaftliche Bedeutung von Kriminalitätsbildern für die Lebensgestaltung. Münster 2004; Cars­ ten Würmann: Zum Kriminalroman im Nationalsozialismus. In: Bruno Franceschini /  Ders. (Hg.): Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalgenre (JUNI Magazin für Literatur und Politik 37 / 38). Berlin 2004, S. 143–188. 87  Karl Ermert / Wolfgang Gast (Hg.): Der neue deutsche Kriminalroman. Rehberg-Loccum 1985; Wolf-Dieter Lützen: Der Krimi ist kein deutsches Genre. In: Ebd., S. 162–182. Vgl. trotz der vorliegenden Forschung zuletzt immer noch irrtümlich Jochen Schmidt: Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans. Überarb., akt. und stark erw. Ausgabe. Hildesheim 2009: „Daß die in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zaghaft einsetzende, gegen Ende des Jahrhunderts kräftigere Triebe treibende Blüte des deutschen Kriminalromans aus einer kriminalliterarischen Wüste heraus erfolgt ist, wird von niemandem ernsthaft bestritten.“ (S. 925). Noch Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft [2012]. Berlin 2013 behauptet mit Blick auf Conan Doyle und Georges Simenon sogar, dass der Kriminalroman ebenso wie der Spionageroman „in der englischen und französischen Literatur […] Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz unvermittelt in Erschei-

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‚neue deutsche Kriminalroman‘ jedoch das Ende der spezifisch nationalliterarischen88 und der auf die Printformate konzentrierten Entwicklungen. Die Trans- oder Internationalisierung setzt sich endgültig durch und geht nicht nur mit einer beschleunigten Binnendifferenzierung der Sub-Genres einher (und produziert auf die Dauer auch den vielgeschmähten ‚Regionalkrimi‘), sondern auch mit der lange vorbereiteten,89 nun aber unübersehbaren Institutionalisierung eines ‚transmedialen‘ Genres, das sowohl die Printmedien als auch die audiovisuellen Medien bedienen kann – sozusagen als Voraussetzung dafür, dass sich ‚Verbrechen als Erfolgsmedium‘ auf breiter Front durchsetzen konnte. 5. Re-Visualisierung und die Ausdehnung der ‚Sinnprovinz Kriminalität‘: ‚Verbrechen‘ als Erfolgsmedium Trotz aller sozialen, gesellschaftlichen und psychologischen Grundierung der Kriminalitätsrepräsentation verschwindet das ‚Böse‘ keineswegs aus den Medien.90 Es verbindet sich vielmehr mit ikonischen Figuren, die sich zwischen faktualen und fiktionalen Formaten hin und her bewegen, aber auch die Grenzen zu Wissenschaft und Alltagswelt überschreiten. Bereits im 19. Jahrhundert ist dieser Vorgang schon anlässlich der ‚Giftmörderin‘ zu beobachten, die über lange Zeit hinweg allein das Risiko verkörpert, das jeden betreffen und dessen Verursacherin auf ein nachvollziehbar-rationales Motiv für Gefährdung und Tötung verzichten kann. Die deutschsprachigen Medien wurden mit dieser Figur durch Feuerbach und Alexis bekannt gemacht, um schließlich noch die ätiologischen Kriminologien des 19. und 20. Jahrhunderts zu erreichen und bis heute in populären Verbrechensdarstellungen präsent zu bleiben.91 Aber erst mit ‚Jack the Ripper‘ kommt 1888 nung getreten“ sei (S. 16–17), konzediert aber frühe „Sherlock-Holmes-Avatare“ (S. 168–171, hier S. 170) im Gefolge Edgar Allan Poes bei Émile Gaboriau, Maurice Leblanc oder Gaston Leroux. 88  Vgl. dazu nur Jörg Fauser: Leichenschmaus in Loccum. In: J. F.: Blues für Blondinen. Essays zur populären Kultur. Frankfurt a. M. 1984, S. 189–198. 89  Gabriela Holzmann: Geschichte des Krimis als Mediengeschichte (1850–1950). Stuttgart / Weimar 2001. 90  Prominente neuere Thematisierungen (aus unterschiedlichen Perspektiven): Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen. München 2010; Jean Baudrillard: Die Intelligenz des Bösen. [2004] Wien 2006; Terry Eagleton: On Evil. New Haven 2010; Werner Faulstich (Hg.): Das Böse heute: Formen und Funktionen. München 2008. 91  Erste Überlegungen in Joachim Linder / Jörg Schönert: Ein Beispiel: Der Mordprozeß gegen Christiane Ruthardt (1844 / 45). Prozeßakten, publizistische und literarische Darstellungen zum Giftmord. In: Schönert (Hg.): Literatur und Kriminalität (Anm. 20), S. 239–359; Inge Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine



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die Figur ins Gespräch, die seitdem wie ein ‚Gestaltwandler‘ gegenwärtig ist – im Lustmörder der 1920er und 1930er Jahre,92 im Serial Killer, der in den 1970er Jahren durch und für das FBI populär wurde,93 und schließlich im Psychopathen, der in der forensischen Psychiatrie zwar auf ältere Konzepte der Psychopathie-Lehren zurückgeführt wird, seinen Siegeszug (mit und ohne Gewaltkomponenten) aber erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts angetreten hat.94 An diese Figur können Biologisierungsdebatten an­ docken und plausibilisiert und popularisiert werden;95 auch die Engführung von ‚Unfall‘ und ‚Verbrechen‘ ist mit dieser Figur korreliert.96 Der Gewinn für Nachhaltigkeit und Kohärenz von Deutungsmustern, der mit diesen Ikonen verbunden ist, bleibt weiter zu untersuchen. Dies gilt auch für die Möglichkeiten zur Integration textueller und visueller Formate, die sich schon am Ende des 19. Jahrhunderts (Francis Galton; Alphonse Bertillon: diskursgeschichtliche Studie. Tübingen 1998; Susanne Kord: Murderesses in German Writing, 1720–1860: Heroines of Horror. New York Press 2009. 92  Martin Lindner: Der Mythos ‚Lustmord‘. Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932. In: Linder / Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien (Anm. 19), S. 273–305; Thomas Kailer: Werwölfe, Triebtäter, minderwertige Psychopathen. In: Carsten Kretschmann (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin 2003, S. 323–359; Ders.: Biologismus und Soziologismus: Normative Deutungsmuster von Kriminalität? Zum Verhältnis von übergeordneter Sinnstiftung und Verbrecherkategorien in Deutschland, 1882–1933. In: Heike Franz / Werner Kogge / Torger Möller / Torsten Wilholt (Hg.): Wissensgesellschaft: Transformationen im Verhältnis von Wissenschaft und Alltag. Tagung vom 13.-14. Juli 2000 an der Universität Bielefeld. IWT-Paper 25, Bielefeld 2001, S. 50–84; Hania Siebenpfeiffer: „Böse Lust.“ Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik. Köln 2005. 93  Grundlegend: Philip Jenkins: Using Murder: The Social Construction of Serial Homicide. New York 1994. 94  Russell D. Covey: Criminal Madness: Cultural Iconography and Insanity. In: Stanford Law Review 61 (2009), S. 1375–1427; Thomas Thalmann: Neues vom Psychopathen. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 92 (2009), S. 376–394; Franziska Lamott / Friedemann Pfäfflin: Zur Konstruktion dis- bzw. antisozialer Persönlichkeiten. In: Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Praxis 12 (2008), S. 163–168; Peter Strasser: Das neue Kontrolldenken in der Kriminologie. In: Kriminologisches Journal 37 (2005), S. 39–52; Inga Golde: Der Blick in den Psychopathen. Struktur und Wandel im Hollywood-Psychothriller. Kiel 2002. 95  Zum Verhältnis der Biologisierungsdebatten um 1900 und um 2000 s. Peter Strasser: Die Rückkehr der Biowissenschaften in die Kriminologie. In: Arno Pilgram / Cornelius Prittwitz (Hg.): Kriminologie – Akteurin und Kritikerin gesellschaftlicher Entwicklungen. Baden-Baden 2005; S. 51–63; Stefan Krauth: Die Hirnforschung und der gefährliche Mensch. Über die Gefahren einer Neuauflage der biologischen Kriminologie. Münster 2008. 96  Wegweisend ist nach wie vor Stefan Andriopoulos: Unfall und Verbrechen. Konfigurationen zwischen juristischem und literarischem Diskurs um 1900. Pfaffenweiler 1996.

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‚Anthropometrie‘) abzeichnen und dann beispielsweise in den populärkriminologischen Monographien von Erich Wulffen nach 1900 aufgegriffen werden. Ziemlich genau zweihundert Jahre, nachdem Wilhelm von Humboldt Klage darüber geführt hatte, dass die Unterscheidung von Legalität und Moralität seinen Zeitgenossen fremd geworden sei, wird dieser Aspekt erneut aus juristischer Sicht thematisiert, allerdings aus gegensätzlicher Perspektive. Im Anschluss an Beobachtungen von Dieter Simon konstatiert Regina Ogorek 1994, dass in der allgemeinen, von den Massenmedien repräsentierten Öffentlichkeit die Trennung von ‚Recht‘ und ‚Moral‘ oder von ‚Recht‘ und ‚Politik‘ nicht mehr stattfinde. Urteile werden nicht unter rechtlichen (rechtssystematischen), sondern allein unter moralischen Gesichtspunkten diskutiert und beurteilt. Widersprechen sie dem augenblicklichen moralischen Konsens, dann werde dieser nie in Frage gestellt, sondern stets die Forderung an den Gesetzgeber laut, den Widerspruch durch die Anpassung des ‚Rechts‘ aufzulösen. Dabei gehe es nicht um falsche, einseitige oder unvollständige Berichterstattung (Darstellung) von ‚Recht‘, sondern um den Anspruch, in der unreflektierten Verbindung von ‚Recht‘, ‚Moral‘ und ‚Politik‘ jeweils auch über die Teilsysteme, zumal über das Rechtssystem zu berichten, und zwar in einem Kontext, der vor allem auf affektive Reaktionen ziele: „Mit der Vorführung von Missetätern lässt sich bei den Adressaten ein Gefühl von Betroffenheit und gemeinsamer Entrüstung, aber auch von positiver Differenz erzeugen (dessen Berechtigung nicht auf dem Prüfstand steht)“.97 Diese Einschätzung wurde von Klaus Tolksdorf, dem Präsidenten des BGH, bestätigt, der mehrfach die Rechtspolitik dafür kritisierte, dass sie sich in ihrem Handeln auf die Boulevardpresse beziehe und jeden neuen Sensationsfall mit neuen Tatbeständen und Strafverschärfungen beantworte – mit der paradoxen Folge, dass die überlastete Strafjustiz zunehmend mit Einstellungen von Verfahren reagiere.98 Wenn nun umgekehrt der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Vogt die ARD-Reihe Tatort geradezu als ‚wahren deutschen Gesellschaftsroman‘ 97  Regina Ogorek: Recht, Moral, Politik: Zum Richterbild in der Mediengesellschaft. Jetzt in Dies.: Aufklärung über Justiz, Bd. 1: Abhandlungen und Rezensionen. (Rechtsprechung 28.1) Frankfurt a. M. 2008, S. 343–360 (Zitat S. 353); Dieter Simon: Erwartungen der Gesellschaft an die Justiz. In: Werner Schmidt-Hieber / Rudolf Wassermann (Hg.): Justiz und Recht. Festschrift aus Anlass des 10jährigen Bestehens der Deutschen Richterakademie in Trier. Heidelberg 1983, S. 3–17. 98  S. Süddeutsche Zeitung vom 7.2.2010: http: /  / www.sueddeutsche.de / politik / ge faehrliche-straftaeter-bgh-praesident-warnt-vor-sicherheitshysterie-1.64240; vom 8.4. 2011: http: /  / www.sueddeutsche.de / L5F38v / 4019409 / Gegen-die-Masse-der-Gesetze. html; Berliner Zeitung 8.4.2010: http: / www.berlinonline.de / berliner-zeitung / archiv / . bin / dump.fcgi / 2011 / 0408 / politik / 0025 / index.html (letzter Zugriff auf alle Links: 5.5.2011).



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bezeichnet,99 so bestätigt sich insgesamt die Dominanz, die ‚Verbrechen‘ als Erfolgsmedium mittlerweile für die gesellschaftliche Selbstverständigung über ‚Recht‘ und ‚Moral‘ hat.100 Zwar sind Gesellschaften bei der Thematisierung ihrer Ordnungen notwendig auf die Repräsentationen von Übertretungen angewiesen, in denen sich diese Ordnungen manifestieren und auf eine Weise vor Augen geführt werden, dass kommunikative Anschlüsse möglich sind. Doch müssten Übertretungen dabei keineswegs als strafbare Sachverhalte auftreten, die mit positivrechtlichen Tatbestandsfestlegungen und ipso facto mit Strafjustiz verbunden sind.101 Alle Erfahrungen der Gegenwart zeigen jedoch, dass die herrschende Aufmerksamkeitsökonomie genau darauf eingerichtet ist: Übertretungen werden in ihr erst anschlussfähig und kommunikativ erfolgreich, wenn sie als Straf- und möglichst Gewalttaten repräsentiert und gedeutet werden können. Dies gilt im Bereich der audiovisuellen Massenmedien ganz besonders; vor allem im Fernsehen werden immer neue faktuale und fiktionale Formate entwickelt, die für sich in Anspruch nehmen, Verbrechen so verständlich zu machen, dass gleichsam durch es hindurch der Blick auf die Gesellschaft und ihre Fehlentwicklungen eröffnet wird. In den zeitgenössischen Verbünden der populären Medien hat sich nachhaltig eine Blickweise durchgesetzt, die ‚Schuld und Sühne‘ wiederum restlos in ‚Verbrechen und Strafe‘ aufgehen lassen will, ‚Moral‘ zugleich vollständig verrechtlicht und ‚Recht‘ damit immer schon moralisiert. Insofern scheint die Intuition Humboldts nun erst ihre inverse Bestätigung zu finden – expandierende Legalität und Moralität werden ununterscheidbar und ‚richtiges Recht‘ wird nur noch da gesprochen, wo Urteile vor dem ‚Gerichtshof‘ der populären Moraldiskurse bestehen können. Die Vorteile dieser Perspektive liegen auf 99  Jochen Vogt: Tatort – der wahre deutsche Gesellschaftsroman. In: Ders. (Hg.): MedienMorde. Krimis Intermedial. München 2004, S. 111–129; zur Raumsemantik des Regionalen s. Stefan Scherer / Claudia Stockinger: Tatorte. Eine Typologie zum Realismus des Raums in der ARD-Reihe Tatort und ihre Umsetzung am Beispiel Münchens. In: IASLonline [19.02.2010] URL: http: /  / www.iaslonline.de / index. php?vorgang_id=3166 (Datum des Zugriffs: 19.05.2014); das Verhältnis von Mitleid und Moral im ‚Tatort‘ beleuchtet dagegen Susanne Schmetkamp: Mitleid mit Tätern? Edith Stein und die Kraft der Empathie. In: Wolfram Eilenberger (Hg.): Der Tatort und die Philosophie. Schlauer werden mit der beliebtesten Fernsehserie. Stuttgart 2014, S. 144–159; zur Ästhetik des Bösen s. auch Svenja Flaßpöhler: Woher kommt das Böse? Hannah Arendt und die Ästhetik des Mordens. In: Ebd., S. 160– 172. 100  ‚Erfolgsmedium‘ verstanden als ‚symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium‘ im Sinne von Niklas Luhmann (vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [Anm. 9], S. 316–396). 101  Mit instruktiven Beispielen Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. 2. Aufl. München 1981, S. 330–334.

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der Hand: Sie partizipiert an den Rationalitätsansprüchen der Strafjustiz und an ihrer endlichen Prozedur, ohne doch die prinzipielle Dominanz von allgemeiner Moral über spezifisches Recht aufzugeben. In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt auch der Wandel der Rolle des Verbrechensopfers zu sehen: Strafverfahren und Strafen sollen ihm Genugtuung bringen sowie die Möglichkeit, seine Traumata zu thematisieren, um sie verarbeiten und überwinden zu können. Immer mehr sehen sich Gesellschaften vom individuellen Verbrechensopfer repräsentiert, da jedes Verbrechen das allgemeine Sicherheitsgefühl in Frage zu stellen scheint.102 So konstituiert sich Gemeinschaft: Jeder einzelne, der die Gewalt- und Verbrechensrepräsentationen in den Massenmedien rezipiert, weiß sich verbunden mit den Vielen, die diesen Rezeptionsvorgang gleichzeitig mit ihm vollziehen, aber auch mit dem Opfer, dessen Verwundungen unübersehbar sind und auf die vorangegangene Gewalttat verweisen, die das Leid hervorgerufen hat.103 III. Paradoxien der Moralisierung und Verrechtlichung – ein Ausblick über Kohlhaas und Moosbrugger hinaus (Claus-Michael Ort) Die neuzeitliche Unterscheidung von positivem Recht und Moral – so ist festzuhalten – generiert „Gerechtigkeit“ als „moralische Kategorie“ des Rechts104 und ermöglicht es, Übertretungen zugleich explizit rechtlich (‚strafbar / nicht-strafbar‘) und moralisch (‚gut / böse‘, ‚gerecht / ungerecht‘) zu ‚beobachten‘; sie gibt damit einem, zunächst noch religiös grundierten Natur- und Vernunftrecht Raum, das – zumindest aus der Perspektive von Hans Kelsens Rechtspositivismus – in einer konservativen Variante das „positive Recht“ nur als „Ausfluss einer natürlichen, göttlichen oder vernünftigen, das heißt absolut richtigen, gerechten Ordnung“ zu rechtfertigen versucht,105 während „die revolutionäre Naturrechtslehre […] die entgegengesetzte Absicht verfolgt“ und die „Geltung des positiven Rechts dadurch 102  David Garland: The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society. Oxford 2001, S. 8–15, 143 f. S. auch die unterschiedlichen Perspektiven in Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemtsma: Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit. München 2002. 103  S. dazu ausführlich und hier nicht im Einzelnen zu rekonstruieren: Mark Selt­ zer: True Crime. Observations on Violence and Modernity. New York 2007. 104  Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik. Studienausgabe der 1. Auflage 1934. Hg. von Matthias Jestaedt. Tübingen 2008, S. 26; vgl. auch Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit? [1953]. Nachwort von Robert Walter. Stuttgart 2000. 105  Kelsen: Reine Rechtslehre (Anm. 104), S. 29.



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in Frage zu stellen“ beabsichtigt, dass „sie dessen Widerspruch zu einer irgendwie vorausgesetzten absoluten Ordnung behauptet“:106 Versteht man die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral als […] Frage nach dem Verhältnis zweier Normensysteme und genauer dahin, welches Normensystem im Kollisionsfall den Vorrang haben solle, so sind mindestens drei Antworten möglich. Die erste fordert den Vorrang der Moral vor dem Recht, die zweite den Vorrang des Rechts vor der Moral, die dritte differenzierende Lösung, etwa derart, dass zwar in der Regel dem Recht, ausnahmsweise aber der Moral der Vorrang zu geben sei. Dabei ist mit „Recht“ […] stets das positive Recht und mit „Moral“ dasjenige gemeint, was traditionell „Naturrecht“ heißt und für die Neuzeit besser „Vernunftrecht“ genannt werden sollte (Ralf Dreier) .107

Wenn die „Reine Rechtslehre“ (Hans Kelsen) im 20. Jahrhundert das positive Recht weder „als gerecht zu legitimieren“ noch „als ungerecht zu disqualifizieren“ versucht,108 reagiert sie also bereits kritisch auf einen ­Begleit- und Beobachtungsdiskurs zum autonomisierten Recht, der spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Divergenz von „Rechtspflicht“ und „Moralpflicht“109 wenn nicht aufzuheben so doch zumindest wieder abzumildern sucht – und zwar entweder durch ein expandierendes Strafrecht (was ‚unanständig‘ war, wird illegal) oder durch die Reduktion von Moral auf Recht, was der von Humboldt kritisierten legalistischen Limitierung von Moral entspricht ( ‚erlaubt‘ ist, was nicht verboten ist).110 Beide Positionen bedürfen jedoch im Sinne Dreiers einer ‚moralischen‘, selbst wiederum reflexiv als ‚gerecht‘ zu begründenden Legitimation jenseits des je gesetzten Straf-, Zivil- oder Völkerrechts – auch und gerade die zuletzt genannte Minimalposition (‚erlaubt‘ ist, was nicht verboten ist‘), die seit der europäischen Aufklärung ‚vernunftrechtlich‘ auf der Idee eines maximalen Liberalismus und auf dem Minimalprinzip eines ‚Schädigungsverbotes‘ beruht, das keine politischen Ausnahmen verträgt (siehe die Beiträge im selben Band von Michael Titzmann, der solches ‚Vernunftrecht‘ von der Frühen Neuzeit über die ‚Menschenrechte‘, ‚Völkerrecht‘ und ‚Bürger‘- und ‚Grundrechte‘ bis zur Gegenwart rekonstruiert, und von John McCarthy, der das Verhältnis von ‚Moral‘ und ‚Rechtswidrigkeit‘ mit Blick auf die ‚freien Rechtslehrer‘ der ‚schönen‘ Literatur beleuchtet). Schon Gustav Radbruch, der in seiner Rechtsphilosophie (1932) ausdrücklich davon ausgeht, dass nur „die Moral […] die verpflichtende Kraft des Rechts zu begründen“ vermag,111 betont zugleich, dass dadurch 106  Kelsen:

Reine Rechtslehre (Anm. 104), S. 29. Recht und Moral (Anm. 35), S. 184. 108  Kelsen: Reine Rechtslehre (Anm. 104), S. 29. 109  Dreier: Recht und Moral (Anm. 35), S. 181. 110  S. erneut Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (Anm. 61). 107  Dreier:

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keineswegs die gewonnene inhaltliche Scheidung von Recht und Moral wieder zerstört, das Recht als ein bloßes Teilgebiet der Moral einverleibt, die Rechtsnorm zu einer moralischen Norm bestimmten Inhalts gemacht wird. Die Naturalisation der Rechtspflicht im Reiche der Moral stellt sich als ein Fall einer noch zu wenig untersuchten Allgemeinerscheinung dar: der Umkleidung desselben Materials mit doppeltem Wertcharakter. So wird der logische Wert der Wahrheit nochmals zum Objekt einer Bewertung, der ethischen Bewertung, zu einem moralischen Gut, wenn er zum Gegenstand der Tugendpflicht der Wahrhaftigkeit erhoben wird.112 111

Inzwischen sind solche Paradoxie-trächtigen Beobachtungen zweiter Ordnung, die rechtliche (‚nicht-strafbar / strafbar‘, ‚recht / unrecht), moralische (‚gerecht / ungerecht‘, ‚gut / böse‘) oder auch medizinische Leitunterscheidungen (‚gesund / krank‘) ihrerseits rechtlich oder moralisch ‚beobachten‘ – also bewerten – und sich der Autonomisierung des positiven Rechts verdanken, nicht zuletzt von Seiten der Systemtheorie (Niklas Luhmann, Gunther Teubner, Dirk Baecker) hinreichend beschrieben worden – im selbstreferentiell paradoxen Fall als re-entries, also als Rückkehr der Unterscheidung ins Unterschiedene.113 Gerade für den demokratischen Verfassungsstaat und seine Unterscheidung von Recht und Moral scheinen solche re-entries konstitutiv, da es in ihm kaum eine Gehorsamsverweigerung gibt, für die nicht versucht werden könnte und in der Regel auch versucht wird, sie durch Berufung auf positives Recht, insbesondere auf Grundrechte und Verfassungsprinzipien, zu rechtfertigen. Der Konflikt zwischen Recht und Moral verlagert sich damit ins positive Recht […].114

Dieser Vorgang verdankt sich nicht nur, aber auch den rechtspolitischen Konsequenzen aus dem nationalsozialistischen Sonderrechts- und Unrechtsstaat, dessen seinerseits paradoxen, ungerechten ‚Rechtszustand‘ Gustav Radbruch bekanntlich auf die Formel „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ gebracht hat, um im politischen Ausnahmefall die Geltung von 111  Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie [1932]. In: Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. Studienausgabe. Hg. von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson. 2. überarbeitete Auflage. Heidelberg 2003., S. 1–192, hier S. 47, zu „Recht und Moral“ ebd. § 5: S. 41–49. 112  Radbruch: Rechtsphilosophie (Anm. 111), S. 47. 113  Der rekursive ‚Wiedereintritt der Unterscheidung ins Unterschiedene‘ wird erläutert in Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. Hg. von Dirk Baecker. Heidelberg 2002, S. 166–167. 114  Dreier: Recht und Moral (Anm. 35), S. 182; zur Interferenz von Recht und Moral im Bereich der ‚Menschenrechte‘ und zum Problem individualethischer ‚moralischer Rechte‘ vgl. Hans Jörg Sandkühler: Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung. In: Sandkühler (Hg.) (Anm. 35 ), S. 9–32; dass die ‚Grenzen‘ des Rechts, etwa durch Einschränkung von Grundrechten im Interesse der ‚Sicherheit‘ in Zeiten der Terrorismusbekämpfung durchlässig, also durch ‚Moralisierung‘ aufgeweicht werden, behandelt eingehend Sven Opitz: An der Grenze des Rechts. Inklusion / Exklusion im Zeichen der Sicherheit. Weilerswist 2012.



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gesetztem Recht einschränken oder aufheben zu können.115 Vor diesem Hintergrund gewinnen die Beiträge von Carsten Würmann und Todd Herzog zusätzlich an Aussagekraft: Würmann (im selben Band) zeigt exemplarisch, wie sich das NS-Regime des Krimi-Genres bedient, um anhand dargestellter Rechtsstaatlichkeit deren Grenzen zugleich zu postulieren und zu überschreiten; Herzog (im selben Band) führt vor Augen, dass und wie die deutschen ‚Nazi‘-Detektive und -Verbrecher im englischsprachigen Nazi-Noir-Kriminalroman seit 1989 zur ‚ästhetischen Normalisierung‘ der NS-Zeit beitragen. Insofern systemtheoretische Modellierungen, wie sie etwa Gunther Teubner (Recht als autopoietisches System, 1989) vorgeschlagen hat, die selbstreflexive Komponente des neuzeitlich autonomisierten Rechts betonen, verstehen sie auch die zu Tage tretenden Paradoxien und Rekursionen der Selbstbeobachtung nicht als Blockade, sondern als Garanten für selbsterhaltende Systemdynamik und einen umwelt-offenen – gegebenenfalls also auch ‚Moral‘-sensiblen – Rechtssystemwandel: Sobald Rechtskommunikationen über die Leitunterscheidung Recht / Unrecht beginnen, sich aus der allgemeingesellschaftlichen Kommunikation auszudifferenzieren, treffen sie unweigerlich irgendwann auch auf sich selbst und sind gezwungen, sich selbst in Rechtskategorien zu thematisieren. Dies führt zu emergenten selbstreferentiellen Verhältnissen, zu „vicious circles“, zu Tautologien, Widersprüchen, Paradoxien und infiniten Regressen.116

Als gesellschaftliche Errungenschaft kann nachgerade dieser BegleitDiskurs selbst gelten, der Moral und autonomes Recht in ihrer neuzeitlichen Differenz ‚beobachtet‘ und die Verhandlung ihrer Geltungszuständigkeiten, Interferenzen und Begründungsfunktionen für einander institutionalisiert, ohne diese Differenz einseitig und vorschnell abschwächen oder die sich aus ihr ergebenden Paradoxien ausblenden zu wollen. Die einander bedingenden Extrempositionen einer strikten Trennung von autonomisiertem Recht und Moral einerseits und einer, auf den ersten Blick ‚vernunftrechtlich‘ legitimierbaren (Wieder-)Annäherung von Recht und Moral andererseits – und zwar entweder in einer sanktionenrechtlich expansiven (was ‚unanständig‘ war, wird illegal) oder in einer dazu inversen, die Moral limitierenden Variante (‚erlaubt‘ ist, was nicht verboten ist‘) –, erweisen sich 115  Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht [1946]. In: Radbruch (Anm. 111), S. 211–219; s. dazu mit Blick auf ‚Tugendgesetz‘ und ‚Widerstandsrecht‘ bei Immanuel Kant Dreier (Anm. 35), S. 186 f. und zu Radbruch ebd. S. 188–194. 116  Gunther Teubner: Recht als autopoietisches System. Frankfurt a.  M. 1989, S. 45. Fragen einer solchen soziologischen ‚Ethik‘ der Reflexion und Selbstbeobachtung sind von Luhmann kaum explizit und allenfalls ansatzweise im Gefolge von Walter L. Bühl verhandelt worden, s. Michaela Pichlbauer / Siegfried Rosner (Hg.): Systemdynamik und Systemethik. Verantwortung für Soziale Systeme. Gedenkschrift für Walter Ludwig Bühl. München, Mering 2008.

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dabei lediglich als ‚konservative‘ oder ‚liberale‘ Polarisierungen innerhalb dieses Diskurses. Festzuhalten ist vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die im Folgenden versammelten Beiträge ferner, dass sich im Zuge der Ausdifferenzierung eines autonomen Rechts und im 18. Jahrhundert auch einer autonomisierten Literatur das Begründungsproblem für ersteres (im Bezug auf Moral bzw. ‚Vernunftrecht‘) und das Funktionsproblem für letztere verschärfen bzw. überhaupt erst rechtstheoretisch und poetologisch in eine Phase expliziter und paradoxer Selbstreflexion eintreten (s. oben Abschnitt I.1.).117 Zugleich eröffnen ein selbstbezüglich operierendes positives Recht und die sich daraus spätestens seit der Aufklärung ergebenden rationalen ‚vernunftrecht­ lichen‘ Minimalpositionen im Bereich der ‚Menschenrechte‘ (‚Schädigungsverbot‘, s. Titzmann, im selben Band) und des Sanktionenrechts (‚Schadenshaftung‘, siehe Reinhard Merkel, im selben Band) einen umso größeren Diskurs- und Kommunikationsraum jenseits des ‚Rechts‘, den neben den je beteiligten alten (Jurisprudenz, Philosophie) und neuen wissenschaftlichen Disziplinen (Kriminologie seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert) nicht nur die Kunstliteratur, sondern eine Vielzahl faktualer und fiktionaler, printmedial und audiovisuell distribuierter Bild- und Text-Genres besetzen. Wenn etwa das Strafrecht (aus guten Gründen) eine genuin strafrechtliche Schuldzurechnung im Kontext prinzipiell problematisierter Willensfreiheit (‚Leib-Seele-Problem‘) zu gewährleisten sucht und sich deshalb auf die rechtsextern ‚vernünftige‘, gleichsam ‚ökonomische‘ Position der ‚Schadenshaftung‘ durch einen allerdings ‚normativ ansprechbaren‘ Übertreter zurückzieht, dann bleibt ein „dunkler Rest“ (Merkel, im selben Band S. 82, zum Geltungsanspruch der „verbietenden Norm“ als ein „primäres Schutzobjekt des Strafrechts“ S. 80),118 also eine moralische, kriminologische (zugleich medizinische, psychologische und soziologische) ‚Außenseite‘ nicht nur des Strafrechts im engeren Sinn, deren Moralisierung und Ver117  Zum ‚redundanten Recht‘ und zur ‚autonomen Kunst‘ siehe vergleichend aus dekonstruktionistischer und systemtheoretischer Perspektive Thomas Weitin: Recht und Literatur. Münster 2010, S. 64–74 und S. 75–87, dort auch zum Recht im Sinne Luhmanns als operativ geschlossenen, begründungsunabhängigen Systemzusammenhang (S.  79); zum „reflexiven Recht“ als binär operierende Kommunikation (recht / unrecht), die normativ und quasi-ästhetisch entscheidet sowie zum Verhältnis von ‚Kunstkommunikation‘ und ‚Rechtskommunikation‘ s. Andreas Fischer-Lesca­ no: Rechtskraft. Berlin 2013, S. 93–103, v. a. S. 97. 118  S. Reinhard Merkel, im selben Band, S. 81: „Der Primärzweck der Strafverhängung ist […] die Wiederherstellung der verletzten Normgeltung, die ‚Reparatur der gebrochenen Norm‘. Oder genauer (da die Norm selbst im strikten Sinn nicht beschädigt werden kann): die Restitution ihres Geltungsanspruchs […]“ und „den Täter einer Straftat für die von ihm erforderlich gemachte ‚Reparatur‘ der gebrochenen Norm ‚bezahlen zu lassen‘.“



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rechtlichung seit dem 18. Jahrhundert bis heute von Fallgeschichten und täter- wie detektionsorientierter Kriminalliteratur ‚beobachtet‘ und verhandelt wird (zum Problem der Schuldzurechnungsfähigkeit siehe im selben Band v. a. Michael Niehaus zum Fall der Gesche Gottfried). Den Wandel von der Frühen Neuzeit zum 18. Jahrhundert erhellen exemplarisch – neben Michael Titzmanns Skizze der komplementären Verrechtlichung moralisch-vernunftrechtlicher‘ Positionen – insbesondere die Beiträge von Hania Siebenpfeiffer, Holger Dainat und Thomas Weitin. So plausibilisiert Hania Siebenpfeiffer am Beispiel der Marquise de Brinvilliers die Umkodierungen, denen die hexenhafte Giftmischerei unterliegt; diese wird – als Schadenszauber-Äquivalent und maleficium noch an der Grenze von kirchlichem und weltlichem Recht situiert – bei Gayot de Pitaval zu einem säkularen Delikttyp entdämonisiert, also aus dem frühneuzeitlichen Dispositiv von Recht, Moral und (standesgebundenem) Affekt in das moderne Dispositiv von Recht, Moral und (pathologischer und geschlechtsspezifischer) ‚Natur‘ überführt (Hania Siebenpfeiffer im selben Band). Holger Dainat erinnert mit Blick auf frühneuzeitliche Flugschriften, auf das von Matthäus Merian begründete Theatrum Europaeum (1633–1738) und auf die tat-orientierten Kriminalfallgeschichten in Eberhard Werner Happels Periodicum Relationes Curiosae oder Merkwürdige Seltsamkeiten (1682–1691) an das prinzipielle „Erzählproblem“ der Kompilationsliteratur im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, das von der späteren Moralisierung ‚sensationeller‘ Facta in täter-orientierten Fallgeschichten von Meißner und anderen im 18. Jahrhundert verdeckt zu werden scheint – nach Art einer säkular innerweltlichen (‚psychologisch‘ und moraldidaktisch) deutenden, aber noch immer emblem-analog rahmenden Fallgeschichte (Dainat im selben Band, hier S. 212–215).119 Dieses narrative Kohärenz-‚Problem‘ einer potentiell infiniten Auflistung ‚ungerahmt‘, d. h. mehr oder weniger uninterpretiert bleibender ‚Fakten‘ („Delikte und Stationen der juristischen Aufarbeitung“, Dainat ebd., S. 214) prägt nicht nur Happels ‚Geschichten‘ (als „Exempel ohne Lehre“, Dainat im selben Band, S. 199), sondern unter anderen epistemologischen Vorzeichen auch noch Karl Philipp Moritz’ Erfah­ rungsseelenkunde („Fakta, und kein moralisches Geschwätz“, zitiert nach Dainat im selben Band, hier S. 199) und Kleists journalistische Anekdoten in den Berliner Abendblättern (dazu Alexander Košenina im selben Band).120 119  S. auch exemplarisch Ort: Fallgeschichten im „Sittengemälde“ (Anm. 65) zu Konstanz und Wandel des Narrativs ‚Fallgeschichte‘ von Harsdörffer über DrosteHülshoff bis zu Döblin. 120  Zu den Nachrichtendrucken im regionalen historischen Längsschnitt s. auch Daniela Kraus: Kriminalität und Recht in frühneuzeitlichen Nachrichtendrucken. Bayerische Kriminalberichterstattung vom Ende des 15. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Regensburg 2013.

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Wie Thomas Weitin schließlich am Beispiel des Falles des Räubers Nickel List und seiner Diskursivierung bis zum Neuen Pitaval herausarbeitet, stehen körperliche, ‚geistliche‘ und prospektiv vorgestellte Folter ebenso wie die von den Pitaval-Herausgebern als Fortschritt gedeutete Transformation körperlicher in imaginäre Gewalt und verbale Gewaltausübung („Geistestortur“, zitiert nach Weitin im selben Band, S. 225) in einem ‚Spannungsverhältnis‘ zu Verrechtlichung und Verfahrensgerechtigkeit, was eine moralische Selbstbeobachtung des Strafverfahrens impliziert. Eine Reihe von Beiträgen aus den diachronisch angeordneten Sektionen des vorliegenden Sammelbandes zeigt darüber hinaus, dass es vor allem auch rekursive und paradoxe Relationen zwischen dem Recht und seinem nichtrechtlichen ‚Außen‘ sind, die den historisch variablen „Rest“ (Merkel) jenseits des positiven Rechts als einen Kommunikationsraum strukturieren, in dem immer wieder von neuem und in unterschiedlichen literarischen und wissenschaftlichen Kontexten verhandelt wird, wie Recht und / als Moral, Recht und Medizin, Recht und / als (Natur-)Wissenschaft symbolisch verrechnet werden können.121 Wie dieser ‚Raum‘ je gefüllt und öffentlich medial repräsentiert wird, prägt somit wesentlich die gesellschaftliche Selbstverständigung über Kriminalität und stabilisiert oder destabilisiert das gesellschaftlich zirkulierende ‚Wissen‘ über Verbrechen, Täter und Opfer und ihre seit dem 18. und 19. Jahrhundert konkurrierenden Deutungen. Die Moral als Kehrseite eines verfachlichten Rechts fokussieren v. a. Alexander Košenina anläßlich von Kleist, Ernst August Friedrich Klingemann und Ferdinand von Schirach sowie Katharina Prinz und Simone Winko über E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi; und Greta Olson vergleicht die Beziehungen von (zivil-)rechtlicher und moralischer ‚Argumentation‘ in den TV-Gerichtsshows Judge Judy und Richterin Barbara Salesch, wobei die US-amerikanische Variante an der Grenze zur außergerichtlichen Streitschlichtung eine Art von Vergeltungsgerechtigkeit zu vertreten scheint, in der Recht sich an Moral orientiert und beide damit implizit und illusionär zur Deckung gebracht werden, während die fingierte Psycho-Forensik der ‚Richterin‘ Salesch einen ‚liberaleren‘ common sense befördert, der die Annäherung von Moral und Recht vorwiegend innerhalb rechtlicher Rahmenbedingungen inszeniert. Besonderen narrativen Reiz üben darüber hinaus und offenkundig die vielfältig variierbaren Divergenzen zwischen ‚gerechten‘ und legalen bzw. 121  „Das selbstreflexive Recht enthält […] in sich das Nichtrechtliche, von dem es sich unterscheidet. Das selbstreflexive Recht ist paradoxal verfasst: Es enthält in sich sein Anderes. Doch durch diese Paradoxie löst sich das selbstreflexive Recht nicht auf; es besteht vielmehr nur in deren Vollzug oder Durchführung (Christoph Menke: Recht und Gewalt. Berlin 2011, S. 69, Hervorh. i. Orig.).



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‚ungerechten‘ und illegalen Mitteln und Zwecken des Handelns aus, die Walter Benjamin schon 1921 als Differenzen zwischen ‚Naturrecht‘ und ‚positivem Recht‘ prägnant beschrieben hat: Kann das Naturrecht jedes bestehende Recht nur beurteilen in der Kritik seiner Zwecke, so das positive jedes werdende nur in der Kritik seiner Mittel. Ist Gerechtigkeit das Kriterium der Zwecke, so Rechtmäßigkeit das der Mittel. Unbeschadet dieses Gegensatzes begegnen beide Schulen sich in dem gemeinsamen Grunddogma: Gerechte Zwecke können durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden. Das Naturrecht strebt, durch die Gerechtigkeit der Zwecke die Mittel zu ‚rechtfertigen‘, das positive Recht durch die Berechtigung der Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke zu ‚garantieren‘.122

Insbesondere die Paradoxien des ‚guten‘ Verbrechers als ‚gemischtem Charakter‘ seit Friedrich Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre und August Gottlieb Meißners und Karl Müchlers Fallgeschichten beschäftigen den literarischen Diskurs langfristig und beruhen auf einer moralischen ‚Beobachtung‘ des Täters, die von der strafrechtlichen Bewertung seiner Taten abweicht, seine strafrechtliche Schuldfähigkeit jedoch nicht aufhebt.123 Nicht nur der eigentlich ‚gute‘ Charakter kann straffällig werden, was im 18. und 19. Jahrhundert zusehends weniger und allenfalls metaphorisch als diabolische Verführung zum ‚Sündenfall‘ dämonisiert und seit Schiller gesellschafts- und justizkritisch interpretiert wird,124 sondern auch ein als ‚ungerecht‘ bewertetes Strafrecht kann die Mittel zum moralisch ‚guten‘ Zweck kriminalisieren, was sich insbesondere an den literarischen Verhandlungen der Sterbehilfe und der ‚Tötung auf Verlangen‘ (§ 216 Reichsstraf­ gesetzbuch 1871) bei Theodor Storm, Paul Heyse, Ricarda Huch u. a. ablesen lässt (vgl. dazu mit Blick auf das Werk von Paul Heyse den Beitrag von Sebastian Bernhardt im selben Band).125 Als rechtsintern exzessiv potenzier122  Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt [1921]. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften II,1 (Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien). Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 179–203, hier S. 180. 123  S. Willems: Der Verbrecher als Mensch (Anm. 22) und Christian Kirchmeier: Moral und Literatur. Eine historische Typologie. München 2013, S. 7–28, der aus den je unterschiedlichen argumentativen Funktionen der „Moral des Verbrechers“ (ebd. S. 7 f.) Johann Friedrich Schwan im Bericht des Vikars Wilhelm Krippendorf über seine Gespräche mit dem ‚Sonnenwirt‘ vor seiner Hinrichtung 1760, in Schillers Verbrecher aus Infamie (1786) und in Jacob Friedrich Abels psychologisierender Lebens-Geschichte Friedrich Schwans (1787) drei langfristig koexistierende ‚Moraltypen‘ ableitet und eine „Geschichte der Moral im Medium der Literatur“ (ebd., S. 21) von Sebastian Brant bis Robert Musil zu schreiben beansprucht. 124  Vgl. auch Becker: Verderbnis und Entartung (Anm. 19) zur Entwicklung der Kriminologie von einer ‚Moralgeschichte‘ des Bösen (Sündenfall) zu seiner ‚Naturgeschichte‘ (erschwerte oder verhinderte Höherentwicklung zum ‚Menschen‘). 125  S. ansonsten Linder / Ort: ‚Recht auf den Tod‘ – ‚Pflicht zum Sterben‘ (Anm. 68).

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te Variante dieser Beobachtungsparadoxie des (moralisch) ‚guten‘ Straftäters erweist sich schließlich Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas, der als zivilrechtlich Geschädigter zunächst auf der Seite des Rechts für sein ‚Recht‘ ebenso wie für ‚Gerechtigkeit‘ und für den guten Zweck der Begrenzung von Adelswillkür kämpft und am Ende auch ‚Recht‘ bekommt, sich zugleich aber aufgrund seiner Mittel zum guten Zweck strafrechtlich längst auf der Seite des Unrechts und moralisch auf der Seite der ‚Ungerechtigkeit‘ befindet und für seine Verbrechen die Todesstrafe erleidet (s. Joachim Linder im selben Band) – was zugleich auch die Frage nach der Limitierung des Widerstandsrechts aufwirft.126 Als Gegenstück zur literarisch imaginierten Figur eines ‚guten‘ Verbrechers erweist sich die Figur des ‚bösen‘ Nicht-Verbrechers, eines Täters also, dessen moralisch verwerfliche Taten eindeutig unter Straftatbestände subsumiert und als Verbrechen bewertet werden können, der aber strafrechtlicher Schuldzurechnung durch die Einstufung als ‚krank‘ entzogen wird: Medizinische Beobachtung (‚gesund / krank) limitiert also in diesem Fall die rechtliche, potentiell aber auch die moralische Bewertung.127 Der geborene oder atavistisch de-zivilisierte ‚Verbrechermensch‘ nimmt seit Gayot de Pitavals Causes célèbres und lange vor dem delinquente nato von Cesare Lombroso128 in den z. T. schwach motivierten Mordserien weiblicher Giftmörder Gestalt an, wie sie mit der Brinvilliers, später u. a. mit der Anna Margaretha Zwanziger, der Gesche Gottfried und der Sophie Ursinus literarisch heraufbeschworen werden (vgl. im selben Band den Beitrag von Hania Siebenpfeiffer zum Verhältnis von ‚Affekt‘ und ‚Amoral‘ und zu Vorstufen einer Psychologisierung des ‚Bösen‘ in den Brinvilliers-Fallgeschichten; siehe außerdem Michael Niehaus im selben Band).129 Die Figur des ‚Trieb126  Dazu und zum ‚Gesellschaftsvertrag‘ sowie zu Kohlhaas als „ ‚Sozialfigur‘ der Gegenwart“ s. Andreas Voßkuhle / Johannes Gerberding: Michael Kohlhaas und der Kampf ums Recht. In: Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach. Hg. vom Deutschen Hochschulverband. o. O. 2012, S. 153–164, hier S. 159 f. 127  S. Niehaus / Schmidt-Hannisa (Hg.): Unzurechnungsfähigkeiten (Anm. 43) und zur Diskussion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere Ort: Das Problem der Schuldzurechnung (Anm. 43). 128  Cesare Lombroso: L’uomo delinquente studiato in rapporto alla Antropologia, alla Medicina Legale e alle discipline carcerarie. Milano 1876, 3. A. 1884; Dt. Ausgabe: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. Übers. von M. O. Fränkel mir einem Vorwort von v. Kirchenheim. 1. Bd. Hamburg 1887; 2. Bd. 1890. S. auch Hans Kurella: Naturgeschichte des Verbrechers. Grundzüge der Criminellen Anthropologie und Criminalpsychologie. Für Gerichtsärzte, Psychiater, Juristen und Verwaltungsbeamte. Stuttgart 1893. 129  S. außerdem bereits Michael Niehaus: Schicksal sein. Giftmischerinnen in Falldarstellungen vom ‚Pitaval‘ bis zum ‚Neuen Pitaval‘. In: IASL 31, 1 (2006), S. 133–149 und Weiler: Giftmordwissen (Anm. 91).



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verbrechers‘ Christian Moosbrugger dient Robert Musil in Der Mann ohne Eigenschaften schließlich als Kristallisationskern der kontroversen – heroisierenden, sakralisierenden, pathologisierenden – Diskursivierungen von Schuldunfähigkeit an den Grenzen von Recht, Moral und Medizin (siehe im selben Band den Beitrag von Ulrike Zeuch). Das Kohlhaas-Paradox – ‚Gerechtigkeit‘ generiert Verbrechen und ist nur illegal herstellbar – und das Moosbrugger-Paradox – der ‚Verbrecher‘ ist als Kranker nicht schuldfähig und bleibt straffrei – werden in den Narrativen über ‚Verbrecher‘ und ‚Verbrechen‘ auf vielfältige Weise kombiniert, hierarchisiert und wechselseitig limitiert; beide legen gleichermaßen die paradoxen oder zumindest paradoxiefähigen Implikationen im Verhältnis von Recht und Moral offen. Die Pathologisierung und Ästhetisierung des schwach oder gar nicht motivierten Verbrechens als Symptom eines Kranken erweist sich darüber hinaus am Ende des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert als Kippfigur, die über die argumentative Hilfskonstruktion einer moral insanity (James Cowles Prichard)130 phylogenetisch hochgerechnet immer wieder zu einer Biologie und Anthropologie des Lombrosianischen ‚Verbrechermenschen‘ zu tendieren scheint – mit Folgen für die strafrechtliche Schuldzurechnung. Deren Konstrukt der ‚verminderten Zurechnungsfähigkeit‘ gefährde, so z. B. Franz von Liszt, durch zu milde Strafen für „soziale Neurastheniker“ und psychisch „Desequilibrierte“131 die Sicherheit der Gesellschaft: Die Begriffe ‚Schuld‘ und ‚Sühne‘ mögen in den Schöpfungen unserer Dichter weiterleben wie bisher; strenger Kritik der geläuterten wissenschaftlichen Erkenntnis vermögen sie nicht stand zu halten. Damit tritt auch der Begriff der Strafe zurück hinter der heilenden Besserung und sichernden Verwahrung. Die begriff­ liche Scheidewand zwischen Wahnsinn und Verbrechen weicht und fällt – und mit ihr die starre Herrschaft […] der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit.132

Flankierende Konzeptionen eines ‚gesetzlosen Strafrechts‘ auf ‚psychologischer Grundlage‘ (siehe Christian Bachhiesl im selben Band über Hans Gross und die Kriminologie um 1900) lassen sich vor diesem Hintergrund als Verwissenschaftlichungstendenzen interpretieren, die sich im 20. Jahrhundert generalisieren und – das führen die criminal-scene-investigationNarrationen im Fernsehen vor Augen – eine tendenziell rechts- und justizfreie, aber naturwissenschaftlich ‚wahre‘ und insofern ‚gerechte‘, weil mo130  James Cowles Prichard: A Treatise on insanity and other Disorders effecting the Mind. London 1835; Ders.: On the different forms of insanity in relation to jurisprudence, designed for the use of persons concerned in legal questions regarding unsoundness of mind. London 1842. 131  Franz von Liszt: Die strafrechtliche Unzurechnungsfähigkeit [1896]. In: Franz von Liszt: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. 2. Band: 1892 bis 1904. Berlin 1905, S. 214–229 [Photomechanischer Nachdruck. Berlin 1970], hier S. 222. 132  Ebd., S. 229.

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ralisch unbestechliche, nicht korrumpierbare Labor-Kriminalistik als forensischen Normalfall inszenieren (vgl. Katrin Bliemeister und Christian Wickert im selben Band zur ‚Moral‘ der CSI-TV-Serien). Darüber hinaus tritt, wie der Beitrag von Stefan Höltgen (im selben Band) zeigt, im Computer-Horror-Film die Ko-Evolution von Mensch und Technik in ein neues Stadium, in dem Computer nicht nur als Mordwaffen, sondern auch als Mörder fungieren und sich als ‚Zwischen-Medien‘ zwischen Mensch und Maschine, Geist und Materie zu selbständig mordenden ‚Dritten‘ emanzipieren, bis schließlich im Internet-Thriller die „Täter-Ermittler-Opfer-Triade“ in einer Rückkopplungsschleife ‚implodiert‘ und die Unterscheidungssemantiken von Recht, Moral und Medizin endgültig funktionslos werden (Stefan Höltgen im selben Band, hier S. 539). Gerade das Auftreten von ‚Moralisierungen‘ und moralischer Kommunikation an den Grenzen des ‚Rechts‘ erweist sich – so ist mit Niklas Luhmann zu vermuten – als Indikator für Geltungsprobleme der Unterscheidung von ‚Recht / Unrecht‘: Wenn die Inkongruenz aller Codes untereinander und in ihrem Verhältnis zum Moralcode offen zutage tritt, muss die Gesellschaft darauf verzichten, sich selbst als moralische Anstalt zu begreifen. Aber das schließt moralisierende Kommunikation keineswegs aus. Manches deutet vielmehr darauf hin, dass die Moral jetzt eine Art Alarmierfunktion übernimmt. […]. Offenbar rekrutiert die Gesellschaft für gravierende Folgeprobleme ihrer eigenen Strukturen und vor allem ihrer Differenzierungsform moralische Kommunikation. […]. […]. Moralische Kommunikation wird jetzt freigegeben und dorthin geleitet, wo beunruhigende Realitäten sichtbar werden […]. […]. Zu den wichtigsten Problemen, die heute moralisch geladene Aufmerksamkeit auf sich ziehen, gehören Praktiken, mit denen die Trennung der Code-Werte […] sabotiert werden. Dies gilt für das Unterlaufen der Recht / Unrecht-Unterscheidung durch Korruption, es gilt für entsprechende Phänomene im Bereich der Parteipolitik (Watergate).133

Und Luhmann weiter: In […] diesen Fällen wird das Problem durch die Berichterstattung der Massenmedien in Skandale transformiert und damit moralisch aufgewertet. […].[…]. […]. [Es] wird […] auch kaum helfen, wenn man das Netz der ethischen Regulierungen auf Grund von Fallerfahrungen enger und enger strickt. Helfen kann nur das Recht, das Verstöße mit gravierenden Folgen sanktioniert (wenn es korrup­ tionsfrei gehandhabt werden kann).

Wie die skandalisierenden Debatten über ‚Raubkunst‘ im Anschluss an den Fall des Kunsterben Cornelius Gurlitt (2013 / 14)134 oder über die Ver133  Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm.  9), S. 396–404, hier S. 404; vgl. auch S. 403 zur ‚Moral‘ als eine Art ‚symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium‘. 134  „Das Skandalon ist also, dass sich alle an Regeln und Gesetze hielten, diese aber nicht ausreichen, um endlich Gerechtigkeit walten zu lassen“ (Kia Vahland: Die



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schärfung des Strafrechts zur Kinderpornographie (§ 184b) anlässlich des Falles Edathy (2013 / 14)135 vor Augen führen, dient der Rekurs auf ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Moral‘ in solchen Fällen dazu, die Expansion eines vermeintlich oder tatsächlich zu wenig weitreichenden Strafrechts nahezulegen, dem die legalen Mittel fehlten, seine ‚gerechten Zwecke‘ zu erreichen. Auch ein Großteil zumindest der deutschsprachigen Fernseh-Kriminalfilme spielt die ‚Moral‘ des Zwecks einer ‚gerechten‘ Sühne gegen die explizit oder implizit beklagte Insuffizienz der legalen Mittel von Justiz und Polizei aus und stellt auf diese Weise das reziproke Beobachtungs-Verhältnis von Moral (‚Naturrecht‘) und positivem Recht immer von neuem zur Disposition, das darüber hinaus auch selbst jeweils Gegenstand strafrechtlicher (der korrupte oder illegal agierende Polizist) und moralischer Bewertung werden kann (der Polizist als wider- und außerrechtlicher Agent der ‚Gerechtigkeit‘). Der ‚gerechte‘ Zweck rechtfertigt also die illegalen Mittel: Anzuführen wären all die zeitweise suspendierten oder, wie Horst Schimanski in der Fernseh-Reihe Schimanski,136 pensionierten Kriminalkommissare, deren legale Mittel nicht ausreichen, um ‚gerechte‘ Zwecke zu erfüllen und ‚Gerechtigkeit‘ herzustellen und die außerhalb des Rechts der moralischen ‚Reparatur‘ verletzter Normen dienen; und im Extremfall vermag sich eine ‚autopoietische‘ kriminelle Gegen- und Unterwelt nur mehr selbst zu zerstören, was von außen, also von nicht-legal handelnden Polizisten, immerhin noch katalysiert oder ausgelöst zu werden vermag.137 Rechtsverstöße ‚bestrafen‘ sich im kriminellen Milieu selbst – aus potenzierten Rechtsbrüchen wird ‚Gerechtigkeit‘. Dass dies auch für die ‚gute‘ und legale Gegenseite gilt, zeigt sich dann, wenn nicht nur zeitweise außerrechtlich handelnde Polizisten einem moralisierten Pseudo-Recht zur Geltung verhelfen, sondern sich die Strafverfolgungsbehörden selbst als korrupt erweisen und ihre Vertreter auf allen Ebenen der Hierarchie straffällig werden: So versucht die Folge Der Tod macht Engel aus uns allen aus der Reihe Polizeiruf 110 allseitig begangene Rechtsverstöße in die abschließend ‚versöhnende‘, aber rechtswidrige ‚gute‘ weil Bergpredigt aus Zelle 6. In München tauchte ein Meisterwerk auf, das Hildebrand Gurlitt 1943 Hitler verkaufte. Nun wurde es zurückgegeben – nicht an die Erben der Opfer, sondern an die Familie eines NS-Kasernenwartes. Süddeutsche Zeitung Nr. 158, 12. / 13.  Juli 2014, S. 11). 135  Vgl. dazu z. B. Heribert Prantl: Fall Edathy: Strafrecht ist kein Moralrecht. In: Süddeutsche Zeitung 16.2.2014 (http: /  / www.sueddeutsche.de / politk / 2.220 / falledathy-strafrecht-ist-kein-moralrecht-1.1890180 [15.6.2014]). 136  Schuld und Sühne, WDR 30.1.2011 (R: Thomas Jauch, B: Jürgen Werner) mit Götz George als Schimanski. 137  Besonders konsequent im ORF-Tatort Abgründe, 2.3.2014, mit Harald Krassnitzer als Moritz Eisner und Adele Neuhauser als Bibi Fellner (R: Harald Sicheritz, B: Uli Brée) und im NDR-Tatort Kopfgeld, 9.3.2014, mit Til Schweiger als Nick Tschiller (R: Christian Alvart, B: Christian Darnstädt).

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‚gerechte‘ Tat des Kriminalkommissars umzumünzen.138 Dieser ermittelt intern gegen Streifenpolizisten, deren Bestechlichkeit und ‚Kriminalität‘ sich nur graduell von seiner eigenen und derjenigen seines Vorgesetzten unterscheiden. Die am Ende erzielte ‚Gerechtigkeit‘ besteht in einer unrechtmäßigen finanziellen Entschädigung für den transsexuellen Freund des transsexuellen Mordopfers, die sich ausschließlich dem rechtswidrigen und fehlerhaften aber moralisierenden Agieren des intern ermittelnden Kriminalpolizisten verdankt – und ungestrafte Rechtsverstöße zumindest im fingierten Einzelfall zur Grundlage von Rechtsfrieden und ‚Gerechtigkeit‘ erhebt (vgl. im selben Band auch Nele Hoffmann zur feministisch motivierten ‚Legitimierung von Gewalt‘ und zur Rechtsbeugung durch die Kriminalkommissarin Bella Block in Doris Gerckes Kriminalroman Weinschröter, du mußt hängen, 1988).139 Nicht zuletzt wirft Johanna Berganns Beitrag zu den Paradoxien einer ‚gewaltsamen Befriedung‘ im ‚Außen des (Zivil-)Rechts‘, die den Frieden stört, um ihn zu stiften (am Beispiel von Johann Peter Hebels Kalendergeschichte Der Friedensstifter, 1814) die Frage auf, inwieweit ‚Frieden‘ als ‚moralische‘ und soziale Kategorie überhaupt innerhalb des Rechts hergestellt werden kann. Als Repräsentant eines Mediationsverfahrens, das aggressive Konfliktbearbeitungen anwendet, die, so Bergann, dem Verrechtlichungsprozess zum Opfer gefallen sind, agiert der Friedensstifter – wie der Souverän – als eine ‚Grenzfigur‘ des Rechts in dessen ‚Außenraum‘, und wie die Literatur selbst ‚beobachtet‘ er es von dort aus als eigenes ‚Außen‘. Diese Figur des „Anderen des Rechts“ (Johanna Bergann im selben Band, S. 377) wird spätestens seit dem 18. Jahrhundert völkerrechtlich extrapoliert (z. B. bei Emer de Vattel: Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, 1758) und (paradoxerweise) zugleich wieder rechtlich kodifiziert (siehe ebd. S. 365–367; umfassend auch Michael Titzmann im selben Band). Wie die Beiträge zur Tagung und zum vorliegenden Sammelband zeigen, wäre die Literaturwissenschaft gut beraten, ihre immer noch nachklingende genregeschichtlich bedingte Fixierung auf die (detektionsorientierte) Kriminalliteratur und das Strafrecht zu überwinden. Nur eine um Zivil- und Völkerrecht und Menschenrechte erweiterte, diachronische Perspektive wird Konstanten und Wandel im Verhältnis von Recht und Moral von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart ebenso erfassen können wie die medial unterschiedlich verfassten Diskursivierungen des Kommunikationsraumes jenseits des positiven Rechts, der die gesellschaftliche Selbstverständigung über ‚Verbrechen‘ überhaupt erst ermöglicht. 138  BR 14.7.2013 (R: Jan Bonny, B: Günter Schütter) mit Matthias Brandt als Kriminalkommissar Hanns von Meuffels. 139  Dass sich die Beiträge in Der Tatort und die Philosophie (Eilenberger [Hg.] [Anm. 99]) als rechtsphilosophisch eher blind erweisen, ist vor diesem Hintergrund zu bedauern.

Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld Von Reinhard Merkel I. Willensfreiheit als Gegenstand der Literatur? Ein Beispiel Haben Menschen einen freien Willen, die meisten immerhin und manchmal wenigstens? Seit Aristoteles ist das eine der meistumstrittenen und rätselhaftesten Fragen der abendländischen Philosophie. Nun dürfte es unter den Grundproblemen menschlicher Existenz nicht ein einziges geben, das nicht auch zum Sujet bedeutender Literatur geworden wäre, welcher Gattung und nationalen Provenienz immer. Gleichwohl fällt es mir schwer, dies auch für die Frage des freien Willens mit einem Hinweis auf handfeste Belege zu beglaubigen. Das hängt gewiss mit zu großen Lücken in meiner Kenntnis der Weltliteratur zusammen, aber, so möchte ich unerschrocken vermuten, nicht nur damit. Deshalb will ich meine Wahrnehmung vorderhand als Indiz für einen prima facie erstaunlichen Sachverhalt nehmen: Selbst den großen Autoren der Literatur scheint das Problem des freien Willens bislang weniger Kopfzerbrechen bereitet zu haben als den Philosophen. Wenn dies zutrifft, woran könnte es liegen? Zur Vermeidung von Missverständnissen ist zunächst eine Klarstellung erforderlich. Bekanntlich ist das Thema der menschlichen Freiheit und vor allem Unfreiheit in unzähligen Varianten ein nachgerade unerschöpflicher Fundus literarischer Sujets. Aber dabei geht es regelmäßig um die äußere Freiheit des Handelns, ihre erzwungenen Schranken in Systemen politischer Herrschaft oder in Beziehungen asymmetrischer persönlicher Macht, um Sieg und Scheitern, Tragik und Triumph im Kampf gegen Unfreiheit, und um tausend andere Dinge mehr. Nur selten aber ist dabei, wenn meine exemplarische Beobachtung stimmt, die Rede von dem Problem der inneren Freiheit des Willens, also von etwas, das äußerlich freie wie unfreie Menschen gleichermaßen betrifft. Ich vermute, dass es vor dem Hintergrund unzähliger Fragen der allgemeinen personalen Freiheit nur selten als etwas wahrgenommen wird, dem im Medium der Literatur nachzugehen sich lohnte. „Die Gedanken“, sagt oder singt der Volksmund, „sind frei“. Und jedenfalls hierin scheinen ihm die meisten Autoren der Weltliteratur, denen die Freiheit zum Problem geworden ist, beizupflichten. Deshalb klammern sie, so vermute ich, aus diesem

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Problem dessen etwas entlegeneren metaphysischen Aspekt meistens aus: die Frage der Freiheit des Willens. Man mag es an der Galionsfigur deutscher Freiheitsdichtung, an Friedrich Schiller, überprüfen. Dass Freiheit ein Grundmotiv seines dramatischen Schaffens wie seines persönlichen Weltbilds war, muss man nicht eigens beglaubigen. Aber Willensfreiheit? Aus freier Erinnerung ist mir keine Stelle seines Werkes gegenwärtig, an der er sich gerade damit auseinandergesetzt hätte. Auch die berühmte Bitte des Marquis Posa an seinen König „Geben Sie Gedankenfreiheit“1 ist selbstverständlich ein Postulat der Handlungsfreiheit, nämlich der Freiheit zur Äußerung der Gedanken, und nicht einer buchstäblich verstandenen Gedankenfreiheit (was ja eine mehr als seltsame Forderung wäre). Schiller war sich seines grundsätzlichen Absehens vom Problem der Willensfreiheit bewusst. Andere waren dies auch. Am 31. Juli 1799 schreibt Goethe nach seiner erneuten Lektüre von Miltons Paradise lost an den Freund in Jena: Unter anderen Betrachtungen bei diesem Werke war ich auch genötigt, über den freien Willen, über den ich mir sonst nicht leicht den Kopf zerbreche, zu denken; er spielt in dem Gedicht, so wie in der christlichen Religion überhaupt, eine schlechte Rolle. Denn sobald man den Menschen von Haus aus für gut annimmt, so ist der freie Willen das alberne Vermögen, aus Wahl vom Guten abzuweichen und sich dadurch schuldig zu machen; nimmt man aber den Menschen natürlich als bös an […], so ist alsdann der freie Wille freilich eine vornehme Person, die sich anmaßt, aus Natur gegen die Natur zu handeln. Man sieht daher auch, wie Kant notwendig auf ein radikales Böses kommen mußte und woher die Philosophen, die den Menschen von Natur so scharmant finden, in Absicht auf die Freiheit desselben so schlecht zurechte kommen […].2

In seiner Antwort vom 2. August nimmt Schiller das Thema auf, wenngleich ein wenig sibyllinisch: Ich erinnere mich nicht mehr, wie Milton sich bei der Materie vom freien Willen heraushilft, aber Kants Entwicklung ist mir gar zu mönchisch, ich habe nie damit versöhnt werden können. Sein ganzer Entscheidungsgrund beruht darauf, dass der Mensch einen positiven Antrieb zum Guten so wie zum sinnlichen Wohlsein habe; er brauche also auch, wenn er das Böse wählt, einen positiven innern Grund zum Bösen, weil das Positive nicht durch etwas bloß Negatives aufgehoben werden könne.3 1  Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 7, I: Don Karlos. Hamburger Bühnenfassung 1787. Rigaer Bühnenfassung 1787. Letzte Ausgabe 1805. Unter Mitw. von Lieselotte Blumenthal hg. von Paul Böckmann und Gerhard Kluge. Weimar 1974, S. 122. 2  Goethe an Schiller, 31. Juli 1799. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 4. Mit Schiller. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt a. M. 1998, S. 703 f. (Hervorhebungen ebd.). 3  Schiller an Goethe, 2. August 1799. In: Friedrich Schiller: Werke und Briefe. Bd. 12. Briefe II. 1795–1850. Hg. von Norbert Oellers. Frankfurt a. M. 2002, S. 471.



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Dann tadelt er dies, Kant gegenüber eher irrig, als Gleichbehandlung zweier „unendlich heterogener Dinge“, nämlich des Triebs zum Guten und des Triebs zum sinnlichen Wohl, und fährt fort: „Gottlob, daß wir nicht berufen sind, das Menschengeschlecht über diese Frage zu beruhigen, und immer im Reich der Erscheinung bleiben dürfen.“ Das wird man wohl exemplarisch nehmen dürfen. Den meisten Dichtern des Problems menschlicher Freiheit ist nicht das der Freiheit des Willens Gegenstand ihrer Berufung. Freilich gibt es Ausnahmen, und ganz gewiss mehr, als mir bekannt sind. Aber eine ist mir bekannt – Dostojewski. Und wäre nicht gerade er eine solche Ausnahme, ich wüsste nicht, bei welchem anderen Autor sie dann noch zu erwarten wäre. In „Schuld und Sühne“4 räsoniert sich Raskolnikoff durch eine qualvolle Wirrnis zwischen Verstand und Seele, bevor er seinen Plan ausführt und zum Mörder wird. „O Gott!“ betet er kurz zuvor, „zeig mir meinen Weg, und ich sage mich los von dieser meiner … verfluchten Idee!“ Dann heißt es: „Es war, als sei das Geschwür an seinem Herzen, das den ganzen Monat herangereift war, plötzlich aufgegangen. Freiheit! Freiheit! Er war jetzt befreit von dieser Verzauberung, dieser Behextheit, diesem Wahn […].“ Er war es nicht. Unaufhaltsam führen ihn seine weiteren Schritte, geistig wie physisch, zur Tat: Sie hatten alle eine besondere Eigenschaft; je endgültiger sie wurden, desto abscheulicher und dümmer erschienen sie ihm selbst. Trotz des qualvollen inneren Kampfes, den er führte, konnte er doch die ganze Zeit über keinen Augenblick an die Durchführbarkeit seiner Pläne glauben. […] Indessen war, wie man meinen sollte, die ganze Analyse im Sinne der moralischen Lösung der Frage von ihm doch schon ins reine gebracht; seine Kasuistik war schon so geschärft wie ein Rasiermesser, und er fand in sich selbst keine klaren Entgegnungen mehr. Zu guter Letzt glaubte er sich einfach selbst nicht und suchte eigensinnig, sklavisch immer abseits tastend, nach Entgegnungen, als ob ihn jemand dazu zwänge und hinter sich herzöge. Der letzte Tag aber, der so unerwartet eintrat und der alles mit einem Male zur Entscheidung brachte, wirkte auf ihn fast rein mechanisch: wie wenn ihn jemand an der Hand genommen und unwiderstehlich, blindlings, mit einer übernatürlichen Kraft nach sich gezogen hätte, ohne Widerrede, ganz als wäre er mit einem Zipfel seines Rockes in das Rad einer Maschine geraten und mitgerissen worden.5

Das ist ein gewaltiges Dokument. Es bringt in staunenswerter Unmittelbarkeit etwas zum Ausdruck, das weder der Philosophie noch der Wissen4  Beiläufig: die neue Übersetzung des Titels Verbrechen und Strafe mag sprachlich korrekter sein; sie trifft aber (gerade aus der Sicht des Strafrechtlers) den Sinn des gewaltigen Werkes weit weniger als die hier zitierte, fast hundertjährige von E. K. Rahsin in der Ausgabe des Piper-Verlags. 5  Fjodor M. Dostojewski: Rodion Raskolnikoff. Schuld und Sühne. In: Fjodor M. Dostojwski: Sämtliche Werke in 18 Bänden (Nachdruck der Sämtlichen Werke, übers. von E. K. Rahsin 1922 / 23). Lausanne o. J., Bd. VIII, S. 98, 99 f.

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schaft erreichbar wäre: die innere, nachgerade empathische Anschauung einer sogar subjektiv erlebten Unfreiheit des Mörders vor seiner Tat. Ob Literatur „Erkenntnisse“ über die Welt vermittle, ist eine alte und wenig fruchtbare Streitfrage. Was immer sie vermitteln mag, Erkenntnis im strikten Sinn der Wissenschaften oder der Philosophie ist es nicht. Aber an Raskolnikoff lässt sich eindrucksvoll zeigen, was sie in Wahrheit vermittelt, und zwar auch in der Sphäre des rationalen, vor allem des ethischen Räsonnements, etwas, das man zu den Bedingungen der Möglichkeit moralischer Erfahrung rechnen darf. In den Worten des amerikanischen Philosophen Hilary Putnam: If moral reasoning, at the reflective level, is the conscious criticism of ways of life, then the sensitive appreciation in the imagination of predicaments and perplexities must be essential to sensitive moral reasoning. Novels and plays do not set moral knowledge before us, that is true. But they do (frequently) do something for us that must be done for us if we are to gain any moral knowledge.6

Wie ist das: den Fortgang der Begebenheiten als das Rad einer Maschine erleben und sich selbst nur als deren Bestandteil? So vielleicht, wie wir’s an Raskolnikoff wahrnehmen, ja beinahe mit ihm erfahren? Könnte das nicht auch für andere, für viele Verbrecher wahr sein? Und hätte das Bedeutung für die Legitimität des Vorwurfs, den Recht und Gesellschaft nach der Tat erheben? Damit bin ich zurück in der Sphäre des theoretischen Fragens. Und in dieser Perspektive will ich Raskolnikoffs Problem nun aufnehmen. Jörg Schönert, dem ich meine Überlegungen mit Dank für vieles widme, das ich seinen Schriften an Einsicht entnommen habe, hat sich stets für den analytischen Zugriff auch der Wissenschaften außerhalb seiner eigenen auf die Themen der Literatur interessiert, und für keinen stärker als den des Strafrechts auf die Probleme von Verbrechen und Schuld. So mögen ihm die folgenden Zeilen nicht unwillkommen sein. II. Grundbegriffe „Freiheit“ hat viele Bedeutungen. Die meisten von ihnen lassen sich plausibel in kontrastierenden Begriffspaaren erhellen, indem man jede einzelne in spezifischer Abgrenzung zu einer anderen erläutert. Das gilt etwa für die politische Freiheit als ein System gesellschaftlich institutionalisierter Garantien der äußeren Autonomie7 im Unterschied zur individuellen Frei6  Hilary Putnam: Literature, Science, and Reflection. In: Hilary Putnam: Meaning and the Moral Sciences. London 1978, 83–94; hier S. 87. 7  Knapp: die Rechtsordnung; in Kants berühmter Definition der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach



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heit von Personen. Beschäftigen wird uns hier nur die letztere. Auch sie legt eine Differenzierung nahe: die zwischen der Freiheit des Handelns und der des Willens. Für jede dieser beiden personalen Freiheiten kann mit Blick auf ihre möglichen Hindernisse (auf die Frage „frei wovon?“) weiter unterschieden werden zwischen negativer und positiver Freiheit. „Negativ“ heißt die Freiheit von externen, „positiv“ die von internen Zwängen des Handelnden. Dabei ist „extern“ ein Zwang, der als Außenweltbedingung die Freiheit des Wollens und / oder des Handelns hindert, „intern“ einer, der seinen Ursprung im Handelnden selbst hat, der als determinierendes Prinzip schon in den Entstehungsbedingungen des Willens bzw. der Handlung wirkt und beide sich nur in den Bahnen einer regelhaften Zwangsläufigkeit entwickeln lässt.8 Das ist eine grobe, aber für unsere Zwecke ausreichende begriffliche Systematik. Hält man diese Bedeutungen nicht auseinander, drohen Missverständnisse, etwa jenes durchaus komische, das mir in der Bemerkung eines Teilnehmers an einer Podiumsdiskussion über Willensfreiheit begegnet ist: Wofür denn die Aufklärer des 18. Jahrhunderts gekämpft hätten, wenn man heute den Neurowissenschaften die Behauptung abnehme, dass Freiheit unmöglich sei? „What men have esteemed and fought for in the name of liberty“, heißt es bei John Dewey, „is varied and complex – but certainly it has never been metaphysical freedom of the will“.9 Gewiss nicht. Um diese metaphysische Freiheit des Willens geht es im Folgenden. Sie interessiert uns vor allem in der ihr zugeschriebenen Funktion, die Zurechnung von Handlungen und Handlungsfolgen zu Akteuren zu begründen: als Fundament individueller Verantwortlichkeit. Dabei kommt es mir nicht auf eine genauere Analyse der Beziehungen zwischen Wollen und Handeln an. Apodiktisch vorausgesetzt sei lediglich, dass uns allein eine (negative) Handlungsfreiheit ohne gleichzeitige (positive) Freiheit des Handlungswileinem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (Imma­ nuel Kant: Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe (AA) Abt. 1. Werke 6: Die Religionen innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten. Berlin 1907, S. 230). „Willkür“ heißt bei Kant die Freiheit des äußeren Handelns (vgl. a. a. O., S. 226); von Willensfreiheit ist dabei nicht die Rede. 8  Hier können Probleme der Abgrenzung auftreten, deren Lösung auch von metaphysischen Prämissen abhängen dürfte. Ist eine Zwangsneurose, die ihren Inhaber zum ständigen Händewaschen nötigt, ein externer oder ein interner Zwang? Beeinträchtigt sie die negative oder die positive Freiheit? Man neigt vielleicht zum Letzteren, denn der Zwang scheint aus dem seelischen Innern des Handelnden zu stammen. Doch bedarf, soweit wir wissen, der mentale Zustand eines solchen zwangsneurotischen Wollens einer neuronalen Grundlage im Gehirn. Und da diese Teil der physischen Welt ist, lässt sie sich vielleicht eher als externer Zwangsfaktor für den Willen und damit als Störung der negativen Freiheit begreifen. 9  John Dewey: Human Nature and Conduct. New York 1957, S. 303.

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lens wenig befriedigend und als Grundlage eines Schuldverdikts eher zweifelhaft erschiene.10 Meine Überlegungen zur Willensfreiheit können daher mutatis mutandis auch auf jene Handlungsfreiheit bezogen werden, die wir als Grundlage einer Zuschreibung von Verantwortung und Schuld verlangen. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen lässt sich nun die damit in den Blick genommeine Freiheit in einem starken Sinn etwa so definieren: PAM: „Frei“ ist eine Handlung dann, wenn der Handelnde auch anders hätte handeln oder einfach jedes Handeln hätte unterlassen können. „PAM“ steht hier und im Folgenden als Kürzel für „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“.11 Für die Freiheit des Willens ist die Formulierung nur entsprechend zu modifizieren. Zweckmäßig ist es allerdings, den unklaren Begriff des Willens durch den einfacheren der Entscheidung (zu einem bestimmten Handeln oder Nichthandeln) zu ersetzen. PAM scheint eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung freier Handlungen zu sein.12 Unseren Intuitionen und der Alltagsauffassung von Handlungs- bzw. Willensfreiheit dürfte der so bestimmte starke Freiheitsbegriff ziemlich genau entsprechen. Auch in den Diskussionen des Strafrechts spielt er eine wichtige Rolle. Viele rechnen ihn zu den Voraussetzungen des strafrechtlichen Schuldbegriffs. Möglicherweise tut das implizit auch § 20 des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB), der die Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit – jedenfalls prima facie – über bestimmte, in der Norm benannte Mängel der Freiheit des Handelns bestimmt. Bevor ich mich aber dieser Frage zuwende, will ich untersuchen, ob ein solcher Freiheitsbegriff plausibel ist. Das erscheint in mancherlei Hinsicht zweifelhaft. 10  Das ist in der Philosophie nicht unumstritten; Hobbes und Hume haben es anders gesehen; allein die Freiheit zu tun, was man wolle, hielten sie (bei vorausgesetzter „Unfreiheit“ / Determiniertheit des Handlungswillens) für möglich, aber auch nur sie für bedeutsam; s. Thomas Hobbes: De Corpore, 1655, Chap. 25 (dt. hrsg. von Karl Schumann. Hamburg 1997, S. 267); David Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding, 1777, Sect. VIII, Part I (dt.: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hg. von Jens Kulenkampff. Hamburg 1984, S. 96 ff.). Vgl. dagegen Kant: Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. 5, Berlin 1908, S. 96 f.: „elender Behelf“ und „Freiheit eines Bratenwenders“. 11  Entsprechend dem international geläufigen Akronym „PAP“ („principle of alternative possibilities“). 12  Knapp: Allein die Möglichkeit eines Akteurs A, im Zeitpunkt t seines Handelns auch anders zu handeln, genügt nicht, um seine Handlung „frei“ zu nennen. Er muss zur Vornahme einer solchen Handlung auch generell in der Lage sein, also Handlungen des fraglichen Typs im Prinzip wiederholen können. – Für „unfreie“ Handlungen (erzwungene Unterlassungen von Alternativen!) gilt reziprok das Gleiche: Unfrei sind sie nur, wenn die nicht verwirklichte Handlungsalternative einem Typus zugehört hätte, den der Unterlassende generell beherrscht. (Wer ertrinkt, weil er nicht schwimmen kann, stirbt nicht, weil er unfrei ist, sondern wegen eines Unvermögens.)



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III. Zum Verhältnis Determinismus, Freiheit und Verantwortlichkeit: philosophische Grundpositionen Definiert man Verantwortlichkeit maßgeblich über die Möglichkeit des Andershandelns, dann scheint sie Handlungs- bzw. Willensfreiheit im Sinne von PAM zu fordern. PAM wiederum scheint vorauszusetzen, dass jedenfalls nicht alle Ereignisse der Welt vollständig determiniert sind, nämlich zumindest manche menschlichen Handlungen nicht. Den schwierigen und umstrittenen Ausdruck „determiniert“ verwende ich hier in einem etwas ungewaschenen, aber geläufigen Alltagssinn.13 Dass etwas „naturgesetzlich“ bzw. „determiniert“ verläuft, soll nicht mehr besagen, als dass es naturgegebenen Regularitäten (Naturgesetzen) folgt, die – wie unvollkommen verstanden oder benannt auch immer – jedenfalls nicht von Menschen gemacht und menschlichem Einfluss nicht zugänglich sind. Auf die Frage, wie sich ein so verstandener Determinismus einerseits zur Willens- und Handlungsfreiheit und andererseits zur Möglichkeit von Verantwortlichkeit und Schuld verhält, sind drei grundsätzliche Antworten möglich, oder genauer, drei Typen von Antworten, denn zu jedem dieser Typen sind zahlreiche Einzelvarianten mit jeweils mehr oder weniger markanten Besonderheiten entwickelt worden: (1) Der Determinismus bzw. eine streng deterministisch aufgebaute physische Welt ist weder mit Willens- und Handlungsfreiheit, noch mit individueller Schuld vereinbar. (2) Er bzw. sie ist sehr wohl mit einer vernünftig verstandenen Freiheit des Wollens und Handelns und daher auch mit Verantwortlichkeit und Schuld vereinbar. (3) Er / sie ist zwar weder mit Willens-, noch mit Handlungsfreiheit vereinbar, sehr wohl aber mit persönlicher Schuld oder Verantwortlichkeit.14 Die Position (1) ist die des Inkompatibilismus. Sie scheint einer unbefangenen Auffassung des Problems am ehesten zu entsprechen: Wenn alle Ereignisse der Welt determiniert sind, dann auch alle menschlichen Handlungen. Denn Handlungen sind, was immer sie sonst noch sein mögen, jedenfalls auch Ereignisse.15 Sind sie aber determiniert (vorherbestimmt), dann können 13  Grob lassen sich physischer (bzw. physikalischer), logischer, psychologischer, metaphysischer und theologischer Determinismus unterscheiden, und zu jeder dieser Grundformen zahlreiche Varianten. 14  Eine vierte Antwort – Determinismus vereinbar mit Willens- und Handlungsfreiheit, nicht aber mit Verantwortlichkeit – ist zwar logisch möglich, aber sachlich ohne Sinn. 15  Hiervon ist die umstrittene Frage zu unterscheiden, ob auch die Ursachen von Handlungen nur Ereignisse sein können. Das bedarf hier keiner weiteren Klärung.

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sie nicht frei im Sinne von PAM sein. Diese Position kann ersichtlich von Befürwortern wie von Gegnern eines strikten physikalischen Determinismus bezogen werden. Für beide Seiten ist die Frage „Ist der menschliche Wille frei oder ist die Welt determiniert?“ nur als ausschließende Alternative sinnvoll. Beides zusammen sei nicht möglich; daher müsse diese Frage, will man eine Lösung des Freiheitsproblems, eindeutig beantwortet werden. Das bestreiten die beiden anderen Positionen (2) und (3), die kompatibilistischen oder Vereinbarkeitstheorien. Manche Anhänger der Position (2) lassen die Frage des physischen Determinismus der Welt offen und geben gleichwohl eindeutig bejahende Antworten auf die Freiheits- und / oder die Schuldfrage.16 Andere bekennen sich zum Determinismus und dennoch ebenfalls zur Möglichkeit von Freiheit und Schuld. Theoretiker der Gruppe (3) schließlich halten zwar beide Freiheitsannahmen für (zumindest möglicherweise) unvereinbar mit dem Determinismus. Gleichwohl möglich, also kompatibel auch mit einer deterministischen Welt ohne personale Freiheit, erscheint ihnen aber die Zuschreibung individueller Verantwortlichkeit und Schuld. Im Folgenden seien einige der grundlegenden Argumente, aber auch der prinzipiellen Schwierigkeiten beider Theorielager knapp erörtert. 1. Inkompatibilistische Positionen: prinzipielle Argumente und Grenzen Ein Inkompatibilist kann also Determinist oder Indeterminist sein. Beide Positionen gründen in starken Intuitionen, nämlich in allgemeinen Erfahrungen des Menschen mit sich und der Welt. a) Determinismus Der Determinismus verweist auf unsere naturwissenschaftlich beglaubigte Erfahrung von der Regelhaftigkeit aller Ereignisse der physischen Welt. Jedenfalls im Hinblick auf unbelebte und wohl auch auf außermenschliche belebte Vorgänge ist das eine weithin akzeptierte Position. Problematisch wird sie, wenn man die ihr zugrundeliegende Erfahrung auf menschliche Handlungen bezieht. Gibt es zu jeder Handlung eine bestimmte Menge vorausliegender Umstände, aus denen sie mit nomologischer Zwangsläufigkeit folgen muss?17 16  Dem Inkompatibilisten steht eine solche agnostische Haltung logisch nur um den Preis offen, dann auch auf die Freiheits- und die Schuldfrage keine Antwort geben zu können. 17  Welche Ereignisse der Welt Handlungen sind, ist nicht abstrakt, nämlich nicht unabhängig davon zu beantworten, wie man die fraglichen Vorgänge beschreibt. Eine universale Ontologie des Handelns gibt es nicht.



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Grundlage für die Plausibilität des universalen Determinismus waren bis ins 20. Jahrhundert die Naturwissenschaften, vor allem die klassische Physik. Man hielt es für zweifelsfrei, dass alle Vorgänge der physischen Welt von einem kosmologischen Kausalprinzip beherrscht würden. Auch Verteidiger der Willensfreiheit haben das im allgemeinen nicht bezweifelt. Bis ins 20. Jahrhundert sind deshalb die meisten von ihnen entweder Kompatibilisten gewesen18 oder haben irgendeine Form des dualistischen Interaktionismus von Gehirn und Geist postuliert.19 Die physikalische Basis des universalen Determinismus ist im 20. Jahrhundert mit der Entdeckung der quantenphysikalischen Phänomene hinfällig geworden.20 Heute sind die meisten Physiker und Wissenschaftsphilosophen der Auffassung, die Einsichten der modernen Physik deuteten jedenfalls für den mikrophysikalischen Bereich auf einen ontologischen Indeterminismus der Welt. Berühmte Physiker und Philosophen des 20. Jahrhunderts, vor allem Arthur Compton, Pascual Jordan und Sir Karl Popper, haben aus dieser Einsicht Konsequenzen für die Frage der menschlichen Willensfreiheit abgeleitet – zumindest im Sinne eines Nachweises ihrer realen Möglichkeit: kein physikalisches Gesetz schließe sie aus.21 Freilich ist schon die indeterministische Deutung der Quantenmechanik umstritten, und erst recht, welche Bedeutung sie ggf. für die Vorgänge der makrophysikalischen Welt hätte, also etwa für die im menschlichen Gehirn. 18  Berühmtestes Beispiel ist Kant, für den die Willensfreiheit kompatibel ist mit einer kausal geschlossenen physischen Welt. Freilich ist die Zuordnung Kants zum Kompatibilismus problematisch; denn für determiniert hält er den Menschen nur als „homo phaenomenon“: in dessen Zugehörigkeit zur Welt der „Erscheinungen“. Der (vernünftige) Wille gehöre jedoch zur transzendentalen Sphäre des „homo noumenon“; daher existiere er weder in Raum und Zeit noch unter dem Gesetz der Kausalität, unterliege also keinen deterministischen Bestimmungen; gleichwohl soll er kausal determinierte Wirkungen in der phänomenalen Welt haben: eben menschliche Handlungen; zur Kritik hieran Reinhard Merkel: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Baden-Baden 2008, S. 51 ff.). 19  Locus classicus: René Descartes: Meditationes de prima philosophia. Hg. von Ludger Gäbe. Hamburg 1977, VI. Med., S. 128 ff.: der Geist als „res cogitans“ unabhängig von, aber wechselwirkend mit der „res extensa“ der materiellen Welt. 20  Einführungen bei Max Planck: Das Weltbild der neuen Physik. In: Max Planck: Vorträge und Erinnerungen. Stuttgart 51949, S.  206 ff., 214 ff.; Pascual Jor­ dan: Das Bild der modernen Physik. Hamburg-Bergedorf 21947, S. 15–57. 21  Vgl. Arthur Compton: The Freedom of Man. New Haven 1935; Pascual Jor­ dan: Die Quantenmechanik und die Grundprobleme der Biologie und Psychologie. In: Naturwissenschaften 20 (1932), S. 815 ff.; vorsichtiger Karl Popper: Über Uhren und Wolken. In: Karl Popper: Objektive Erkenntnis. Hamburg 21974, Kap. VI, S.  230 ff.; Karl Popper / John Eccles: Das Ich und sein Gehirn. München 1977, S. 56 ff.; 637 ff.; heute ähnlich Julian Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit. Stuttgart 2005.

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Es sieht so aus, als sei es für philosophische Beweisführungen jederlei Richtung riskant geworden, ein klares „Weltbild der Physik“ als Grundlage zu reklamieren.22 Das hängt nicht nur mit den Lücken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zusammen, sondern auch mit deren Grundbegriffen, soweit sie für unsere Debatte bedeutsam sind – „Naturgesetz“, „Kausalität“, „Determinismus“ u. a. Sie alle enthalten einen erheblichen Anteil ungeklärter Metaphysik. Schon deshalb dürfte im Streit um die Willensfreiheit schwerlich der Physik die Zuständigkeit für letztverbindliche Entscheidungen zukommen. Wenn sich den Debatten der Physiker etwas Belangvolles für diesen Streit entnehmen lässt, dann wohl ein für dessen beide Seiten beruhigender Befund. Erstens scheint es kein Naturgesetz zu geben, das die Möglichkeit eines (indeterminierten) freien Willens strikt ausschlösse. Zweitens, und sozusagen umgekehrt: Wären es quantenmechanisch indeterminierte physische Vorgänge, was unseren Entscheidungen und Handlungen zugrunde liegt, so wäre damit für den Nachweis eines freien Willens nichts gewonnen. Quantenphänomene sind diesseits ihrer statistischen Regelmäßigkeit Zufall. Zufällig zustande gekommene Entscheidungen sind aber nicht das, was wir mit Freiheit meinen. Und jedenfalls nichts, worauf sich Schuld und Verantwortung gründen ließen.23 Beide Einsichten sind seit langem geläufig. Gegen Veränderungen in den Weltbildern der Physik scheinen sie weitgehend immun zu sein. Deshalb dürfen wir die Diskussionen der Physiker an dieser Stelle wieder verlassen – ohne verbindliche Auskunft, aber guten Gewissens. Für unser Freiheitsproblem sind sie unergiebig. b) Indeterminismus Ausgangspunkt des Indeterminismus ist die Erfahrung menschlicher Entscheidungsmacht und damit die subjektive Gewissheit der Urheberschaft an den eigenen Handlungen. Auf dieser Grundposition lassen sich drei Argumenttypen unterscheiden, die für den Indeterminismus bzw. gegen den Determinismus vorgebracht werden: begrifflich-logische, metaphysisch-on22  Zu den zahlreichen möglichen und ungeklärten Weltbild-Varianten der gegenwärtigen Physik Brian Greene: Der Stoff, aus dem der Kosmos ist. München 2004; vgl. auch Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker. München 2006. 23  Dass schlechterdings („absolut“) indeterminierte Handlungen keine Grundlage für Schuldzurechnungen böten, betonen auch Strafrechtler; vgl. Arthur Kaufmann: Strafrecht und Freiheit. In: Arthur Kaufmann: Über Gerechtigkeit. Köln 1993, S. 66; Paul Bockelmann. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 75 (1963), S.  372 ff. (385 f.); Rolf Dietrich Herzberg: Willensunfreiheit und Schuldvorwurf. Tübingen 2010, S. 35 ff.; ähnlich schon Karl Binding: Die Normen und ihre Übertretung Bd. II / 1, Leipzig 21914, S.  18 f.



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tologische und empirische. Manche der dazu entwickelten Einzelpositionen gehören mehreren dieser drei Sphären gleichzeitig an. In allen dreien formuliert der Indeterminismus aber nicht nur seine Einwände gegen den Determinismus, sondern begegnet er selber profunden Schwierigkeiten.24 Ich beschränke mich hier auf die knappe Erörterung eines vor allem in Deutschland prominent gewordenen Arguments. Man kann es knapp und sprechend das „Gründe versus Ursachen-Argument“ nennen. Es besagt das Folgende: Handlungen sind in rein kausalen Begriffen regelmäßig nicht verständlich zu machen. Man braucht für ihre Erklärung mentalistische Begriffe, um die damit beschriebenen mentalen Zustände eines Handelnden zu erfassen: Wünsche, Absichten, Gefühle, Überzeugungen, Überlegungen u. ä. Solche mentalen Zustände haben aber Eigenschaften, die es ausschließen, sie als unmittelbare Ursachen anstatt als Gründe aufzufassen. Die wichtigste dieser Eigenschaften ist ihre Intentionalität, ihr Gerichtetsein auf etwas außerhalb ihrer bzw. des Handelnden selbst. Diese Intentionalität verknüpft den in einem solchen Bewusstseinszustand Handelnden bzw. dessen Handlungsentschluss mit externen symbolischen Sphären, eben denen seiner Gründe. Sie sind nicht weniger real als die physische Welt, vielmehr nur auf eine andere Weise: als Normen, Werte, kollektive Überzeugungen oder kulturelle Bedeutungen von Gegenständen und Sachverhalten. Dem Handelnden, der sie kennt, sind sie auf eine bestimmte Weise verfügbar zur Orientierung seines Handelns. Er kann sie in seine subjektive Motivation aufnehmen und den Handlungsvollzug davon leiten lassen. Handlungen, die sich an solchen externen symbolischen Entitäten orientieren, sind ohne deren Berücksichtigung nicht verständlich. Hier ein triviales Beispiel: Schiedsrichter S produziert im Spiel der XMannschaft gegen die Y-Mannschaft auf seiner Trillerpfeife einen Pfiff. Warum hat er das getan? Fragt man nach der Ursache des Pfiffs, so könnte die Antwort lauten: „Im Körper des S fanden diverse physiologische Vorgänge statt, die zu einem Luftstoß aus dessen Lungen in ein kleines Instrument führten, aus dem dann bestimmte Luftschwingungen austraten, die als Pfiff hörbar wurden.“ Das ist gewiss unbestreitbar. Aber danach fragt die WarumFrage ersichtlich nicht. Die Antwort, die uns zufriedenstellen könnte, muss anders aussehen, etwa so: „Grund für den Pfiff war, dass der Stürmer A des X-Teams im Abseits stand. Motiv des Pfiffs war, dass S den Angriff des XTeams stoppen und dem Y-Team einen Freistoß zusprechen wollte. Die Be­ deutung des Pfiffs war, dass eben dieser Freistoß tatsächlich gegeben wurde.“ Nur Grund, Motiv und Bedeutung des Pfiffs erklären die Handlung, ihr „Warum“. Nichts davon könne eine Ursache des Pfiffs genannt werden. 24  Genauer

dazu Reinhard Merkel: Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 36 ff.

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Einerseits, so das Argument, führen Gründe nicht mit der gleichen gesetzmäßigen Notwendigkeit wie Ursachen zu bestimmten Folgen; sie „disponieren“ nur, zwingen aber nicht. Andererseits, und bedeutsamer, sind sie etwas kategorial anderes als Ursachen. Sie sind aus einem anderen Stoff als die kausal relevanten Eigenschaften der physischen Welt und gehören deshalb ontologisch nicht zu dieser. Nur dort finden aber kausale Verknüpfungen statt. Gründe sind dagegen etwas Abstraktes und deshalb schon grundsätzlich nicht geeignet zur direkten Hervorbringung konkreter Ereignisse der physischen Welt. Außerdem sind sie eben – genauso wie die mentalen (intentionalen) Zustände, die sich auf sie beziehen – stets mit externen immateriellen Sphären verknüpft: Normen, Werten, Überzeugungen, Wünschen etc. Daher befinden sich auch individuelle Gründe nicht räumlich im Kopf dessen, der sie „hat“ und an ihnen sein Handeln ausrichtet. Und schon deshalb können sie dieses nicht verursachen. Alles das ist einleuchtend.25 Aber daraus folgt nicht, dass „Willensentschlüsse“ und die zugehörigen Handlungen nicht kausal determiniert sind. Die Erfassung von Handlungen und Handlungsentscheidungen unter Gründen ist eine Form ihrer Beschreibung: Nur so werden sie uns verständlich. Aber keine begriffliche Form ihrer Darstellung und Deutung könnte etwas daran ändern, dass sie auch physische Naturvorgänge sind oder solche involvieren: neuronale und andere physiologische Prozesse im Körper des Handelnden. Solche Vorgänge sind in ihrer Existenz und ihren physischen Eigenschaften offensichtlich ontologisch unabhängig von jeder möglichen Form ihrer Beschreibung. Damit wird nun die Kehrseite des „Gründe vs. Ursachen“-Arguments sichtbar: Gerade weil Gründe kategorial etwas anderes sind als Ursachen, berühren sie die physische Welt von Ursachen und Wirkungen überhaupt nicht. Aber dieser Welt gehören Handlungen und Handlungsentscheidungen ebenfalls an. Und in ihr sind sie als Endpunkte geschlossener Kausalketten vollständig beschreibbar. Zwar erklären wir uns diese mittels der Annahme von Gründen. Doch wäre es mehr als seltsam, hinge das physische So-Sein der natürlichen Welt von dem gedanklichen und begrifflichen Modus ab, in dem wir sie allenfalls begreifen können. Jeder konkreten Handlungsbeschreibung unter Gründen lässt sich deshalb prinzipiell ein exaktes und vollständiges Pendant unter Kausalbegriffen beistellen.26 Damit erhebt sich die Frage, ob und ggf. wie die beiden Beschreibungen miteinander vereinbar sind. Lässt man beide unverbunden 25  Wenngleich die Behauptung, Gründe seien keine Ursachen, in der Philosophie umstritten ist; dagegen etwa Donald Davidson: Handlungen, Gründe, Ursachen. In: Donald Davidson: Handlung und Ereignis. Frankfurt a. M. 1985, insbes. S. 27 ff. 26  Die Handlung verständlich machen könnte uns, wie dargelegt, die letztere Beschreibung allein nicht.



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nebeneinander stehen und setzt stillschweigend ihre Gleichberechtigung und wechselseitige Unabhängigkeit für die Lösung des Problems der Willensfreiheit voraus (womit diese auch schon beglaubigt wäre), dann erweitert man mit einem riskanten Griff die Ontologie der Welt. Irgendeiner Variante des starken metaphysischen Dualismus, der das mentale Sein des Menschen von den physiologischen Vorgängen im Gehirn abkoppelt, ist man dann verpflichtet. Das zieht dieser Position eine schwer einlösbare Beweislast zu. Auch auf weitere naheliegende Fragen kann sie keine einleuchtende Antwort geben. Wie kommt der Grund einer Handlung in eine kausal wirksame Verbindung mit deren physischer Basis, der Körperbewegung? Denn irgendwie muss er das, wenn gerade er gerade diese Handlung erklären soll. Nehmen wir als Beispiel eines Handlungsgrundes die einfache ethische Norm „Hilf (so gut du kannst) Menschen in Not!“ Wie kommt diese Norm oder die aus ihr ableitbare Pflicht für den konkreten Anwendungsfall zu ihrer Wirkung als funktionale Bewegerin buchstäblich von Nervenzellen und Muskeln eines Handelnden, der sie befolgt? Gibt man darauf keine Antwort, so reißt man in das „Gründe vs. Ursachen“-Argument für die Willensfreiheit eine klaffende Lücke. Beantworten kann man die Frage aber nur, wenn man zu einer ganz anderen Form der Beschreibung übergeht: eben der in Begriffen von Ursache und Wirkung. Grob (und laienhaft27) lässt sie sich so skizzieren: (1.) Gründe (z. B. eine Pflicht) müssen, um handlungswirksam zu werden, „übersetzt“ werden in das physische Substrat der Handlung: irgendein körperliches Verhalten. (2.)  Dazu muss der Grund zunächst zum Motiv des Handelnden werden. Das geschieht über eine neuronale Realisierung dessen, was wir „Motiv“ nennen. Zustande kommt diese durch (a) die Bewusstwerdung der tatsächlichen Anwendungsbedingungen des Grundes (der Pflicht)28 und durch (b) den Antrieb zum entsprechenden Handeln. (3.) Die Bedingungen dieses Handlungsantriebs müssen, um Körperbewegungen als den physiologischen „Rohstoff“ einer Handlung erzeugen zu können, ebenfalls neuronal realisiert sein – was auch immer zu ihnen gehören mag: neuronale Residuen von Ererbtem, Gelerntem, Erinnertem, Gefühltem etc. (4.) Nur so wird die Verbindung zwischen Grund und Handlung erklärbar – und sie ist nun ersichtlich eine zwischen Ursache und Wirkung. 27  Von dieser für Neurowissenschaftler naiven Terminologie hängt nichts ab; auf die darin skizzierte Perspektive kommt es an. Eine Expertenbeschreibung der Zusammenhänge klänge selbstverständlich anders. 28  Also, in unserem Beispiel, durch die Wahrnehmung, dass ein Mensch in Not geraten ist.

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Alle diese Abläufe sind im Prinzip (nicht de facto) vollständig als kausale Sequenzen physischer Vorgänge beschreibbar. Gewiss setzt diese Behauptung eine metaphysische Hypothese voraus. Deren abstrakte Grundannahme, die als gemeinsamer Nenner den meisten Varianten der heutigen Philosophie des Geistes zugrunde liegt, besagt, dass alles Mentale irgendeiner neuronalen Grundlage bedarf. Mit einem gängigen Slogan: Keine Änderung im Mentalen ohne Änderung im Neuronalen. Empirisch vollständig beweisen lässt sich diese Annahme nicht. Doch ist sie bei weitem plausibler als ihre Verneinung: die Behauptung, es könne mentale Vorgänge geben, denen neurophysiologisch schlechterdings nichts entspreche. Ein derart starker Dualismus erscheint nicht nur unplausibel, sondern widerspricht zahllosen empirischen Befunden aus Neurowissenschaften, Medizin, Biologie und Physik. Die metaphyische Voraussetzung, allen mentalen Ereignissen korrespondierten irgendwelche neuronalen, ist deshalb vernünftig. Solche neuronalen Ereignisse sind als Naturvorgänge beliebig genau „kausalistisch“ beschreibbar. In einer Beschreibung dieser Art wäre jedes denkbare Segment der mentalistischen, auf Gründe gestützten Beschreibung stets zugleich im Spiegel seiner neuronalen Entsprechung restlos darstellbar. Das heißt nicht, dass die mentalistische Beschreibung gänzlich auf die physiologische reduziert werden könnte. Es bedeutet nur, dass nach dem Erkenntnisstand der zuständigen Wissenschaften und nach einer Metaphysik, die sich über diesen nicht einfach hinwegsetzt, zu jedem identifizierbaren Element einer mentalistischen Handlungsbeschreibung „nach Gründen“ prinzipiell eine parallele Beschreibung in physikalistischen Begriffen existiert, in der allein von Ursachen und Wirkungen die Rede ist. Die Welt der letzteren unterliegt aber naturgesetzlichen Regularitäten, die unserem Zugriff entzogen sind. Damit stellt sich das Problem „Freiheit oder Determinismus“ erneut – wenn man will: auf einer höheren Ebene, aber gänzlich ungelöst. Und für eine solche Lösung gibt die Unterscheidung von Gründen und Ursachen nichts her. So populär das entsprechende Argument vor allem in der deutschen philosophischen Debatte der vergangenen Jahre gewesen ist: für die ihm zugedachte Funk­ tion – den Nachweis der Freiheit des Willens von den neurophysiologischen Vorgängen des Gehirns – ist es untauglich. c) Zwei Folgeprobleme und eine pessimistische Prognose Wenn alles dies zutrifft, wenn also Handlungsentscheidungen als mentale Vorgänge neuronal realisiert sein müssen, dann drängen sich zwei Anschlussfragen auf. Die erste ist die nach der autonomen Urheberschaft: Wie kann man sich eine solche Entscheidung als unabhängig oder doch als irgendwie emanzipiert vom physikalischen System des Gehirns vorstellen –



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als frei im starken Sinne von PAM? Die zweite ist die nach der Möglichkeit mentaler Verursachung: Wie kann ein geistiges Phänomen wie der Wille (oder eine Entscheidung) auf die physische Welt des eigenen Körpers Wirkungen ausüben, nämlich körperliche Bewegungen als das physische Substrat von Handlungen hervorbringen? Die Frage nach der Willensfreiheit zeigt sich hier als ein Spezialfall des Leib-Seele- oder Geist-Gehirn-Problems, einer der ungelösten Ewigkeitsfragen der Philosophie. Ihr kann ich hier nicht genauer nachgehen.29 Worauf es mir ankommt, ist lediglich eine knappe und pessimistische Prognose: Die Chancen der (aller) inkompatibilistischen „Libertarier“ (Freiheitsbefürworter), auf die beiden obigen Fragen eine befriedigende Antwort zu finden, sind gering. Entweder müssen sie Lücken im makrophysikalisch determinierten Lauf der Welt annehmen, die ein freier Wille irgendwie nutzen kann. Oder sie müssen die Unabhängigkeit dieses Willens von der (makrophysikalischen) Materie des Gehirns behaupten. Beides ist wenig plausibel. Hier ist der prinzipielle Einwand: Alles Determinierte lässt keine Alternative und alles Indeterminierte lässt keine Kontrolle zu. Für den Begriff eines freien Willens im Sinne von PAM brauchen wir aber unabdingbar beides. Für den inkompatibilistischen Deterministen gibt es dagegen keine Probleme, jedenfalls keine der Konsistenz: In einer Welt, in der der makrophysikalische Ablauf aller Ereignisse den Regularitäten der Naturgesetze folgt, ist für einen freien Willen im Sinne von PAM kein Raum – was immer das für unser Menschenbild und für die Möglichkeit der Zuschreibung von Verantwortung bedeuten mag. Das ist eine klare und schlüssige Position. Aber ist wirklich die Physik die letzte Instanz, vor der wir unser Menschenbild und unser Schuldprinzip legitimieren und ggf. revidieren müssen? Vielleicht helfen ja die Kompatibilisten weiter. 2. Der Kompatibilismus und seine Grundprobleme a) Das Leib-Seele-Problem und seine Bedeutung für die Freiheitsfrage Nimmt man an, ein freier Wille sei vereinbar mit einer Welt, in der jede äußere Veränderung naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten folgt, dann drängen sich zwei Fragen auf: Erstens, wie dieser Wille selbst, und zweitens, wie sein Zusammenhang mit der physischen Natur zu denken ist. „Willensentschlüsse“ (Handlungsentscheidungen) sind, was immer sie sonst 29  Knappe Skizze der für unser Thema einschlägigen Fragen (m. w. N.) bei Rein­ hard Merkel: Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 80 ff.

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noch sein mögen, jedenfalls auch und vor allem etwas Mentales, also Vorkommnisse im Bewusstsein. Andererseits werden sie auf eine zwar schwer verständliche, aber kaum in toto bestreitbare Weise vom Gehirn hervorgebracht30 – von einem Teil der materiellen Welt also, die sich (voraussetzungsgemäß) nur in deterministischen Bahnen manifestiert. Wie könnte ein „Wille“, der von einem determinierten neuronalen System hervorgebracht wird, das Prädikat „frei“ verdienen? Und ferner: welche eigene kausale Rolle käme in einem solchen Spiel vollständig regulierter Naturvorgänge dem Mentalen noch zu? In einer naturalistischen Erklärung lässt sich jede äußere Körperbewegung prinzipiell über eine beliebig fein geknüpfte Kausalkette physiologischer (physikalischer) Vorgänge zurückverfolgen bis in ihre Ursprünge im Gehirn. Weder für eine veranlassende noch für eine steuernde Wirkung des Willens scheint sie Platz zu lassen. Damit würde der Wille zum Epiphänomen des Gehirns: zu dessen Produkt, aber ohne Möglichkeit eigener kausaler Rückwirkung – und damit ohne jede Wirkung auf die äußere Welt. Allen kompatibilistischen Lehren, die den „Geist“ vollständig integrieren wollen in eine natürliche Welt, in der alles „mit rechten Dingen“, nämlich regelhaft zugeht, folgt deshalb der Epiphänomenalismus wie ein Schatten. Und keines der Modelle zur Erklärung des systematischen Zusammenhangs zwischen beiden erscheint zur Lösung dieses Grundproblems rundum befriedigend.31 Ich selbst bekenne mich in diesem Punkt vor allem als Agnostiker, allerdings mit der Neigung zu einem nicht-reduktiven Physikalismus, der das Mentale als supervenient über dem Physischen begreift, und zwar primär, wenn auch nicht ausschließlich, über der neuronalen Substanz des Gehirns.32 30  Selbstverständlich steht das Gehirn dabei stets in zahlreichen weiteren Zusammenhängen; für jeden „Willensentschluss“ bedarf es zahlloser sensorisch vermittelter Daten aus der Außenwelt sowie intrasomatischer Einwirkungen vonseiten des zugehörigen Körpers. 31  Knappe Diskussion der wichtigsten dieser Modelle – Kausalzusammenhang? Emergenz? Parallelität? Reduzierbarkeit (von Geist auf Gehirn)? Identität? Super­ venienz (des Geistes über dem Gehirn)? – und einiger ihrer Schwierigkeiten vgl. Reinhard Merkel: Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 80 ff. – Auch Identitätstheorien lösen das Problem der mentalen Verursachung nicht wirklich, solange unklar bleibt, ob das (monistisch) verursachende Ereignis kraft seiner mentalen oder doch nur (trivialerweise) kraft seiner neuronalen Eigenschaften kausal wird. 32  Zu den Gründen meiner Ablehnung eines vollständigen Reduktionismus, v. a. zu dem ungelösten Qualia-Problem, vgl. Reinhard Merkel: Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 87 ff. – Dass der „Geist“ nicht als nur über dem Gehirn (also „lokal“) supervenierend gedacht werden sollte, hängt damit zusammen, dass mentale Gehalte stets begriffliche Verbindungen zur sozialen Welt der Bedeutungen und Normen haben; diese existieren nicht in einzelnen Gehirnen, wenngleich sie jeweils nur dort repräsentiert und angewandt werden können.



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„Supervenienz“ ist ein philosophischer Kunstbegriff. Er tritt in verschiedenen Spielarten und Unterformen auf, betont aber eine durchgängige Grundthese: den schon oben erwähnten Slogan „keine Veränderung im Mentalen ohne Veränderung im Neuronalen“. Die Relation zwischen beiden Sphären ist dabei nicht als kausale aufzufassen. Wie sie genau zu verstehen sei, wird mit der bloßen Kennzeichnung „Supervenienz“ natürlich nicht geklärt, so wenig wie von irgendeinem der anderen Modelle. Immerhin wird sie, und das hat sie mit Kausalbeziehungen gemeinsam, als in bestimmter Weise „gerichtet“ aufgefasst. Auf diese zweite Implikation der Supervenienz-These kommt es mir hier vor allem an: die Hervorhebung einer prinzipiellen Asymmetrie im Verhältnis von Geist und Gehirn, nämlich eines ontologischen Vorrangs des Gehirns vor dem Geist. Dieser superveniert über jenem, nicht umgekehrt. Das lässt sich, jedenfalls im Deutschen, plastisch ausdrücken: Indem in unseren Gehirnen neuronale Prozesse stattfinden, haben wir Bewusstsein. Nicht dagegen gilt umgekehrt: Indem wir Bewusstsein haben, finden neuronale Prozesse in unseren Gehirnen statt. Diese These eines ontologischen Vorrangs des Gehirns halte ich für richtig. So wenig sie (vollständig) empirisch beweisbar ist, so plausibel fügt sie sich in unser wissenschaftliches Weltbild und so klar entspricht sie zahlreichen empirischen Einsichten, deren radikale Verwerfung wir uns selbst für eine ferne Zukunft nicht gut vorstellen könnten. b) Die Zurückweisung von PAM als begriffliche und normative Grundlage für Freiheit und Verantwortlichkeit: die kompatibilistische Theorie Harry Frankfurts All das legt es für Kompatibilisten nahe, von einem Begriff des freien Willens abzurücken, der diesen auf PAM, das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“, gründet. In einer Welt, in der alle Ereignisse einschließlich willentlicher menschlicher Handlungen sich jedenfalls ex post als unausweichlich darstellen, wird sich PAM kaum verteidigen lassen.33 Dass es als begriffliches Fundament für Willensfreiheit und Verantwortlichkeit auch gar nicht verteidigt werden sollte, hat Harry Frankfurt in einem berühmt gewor33  Damit ist für den Handelnden ex ante eine epistemisch offene Zukunft ohne weiteres vereinbar. Neuere Forschungen zeigen übrigens, dass Menschen, die aus dem Erleben dieser epistemischen Freiheit die subjektive Überzeugung ihrer „wirklichen“ Willensfreiheit ableiten, tatsächlich ein breiteres Spektrum von Handlungsalternativen realisieren als andere, die an den Determinismus glauben und deshalb zum Fatalismus neigen. Dieses Modell einer (durchaus objektiven!) Freiheit wird als „epistemischer Libertarismus“ eingehend und mit empirischen Belegen entwickelt in Bettina Walde: Willensfreiheit und Hirnforschung. Paderborn 2006.

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denen Gedankenexperiment zu zeigen versucht. Ich übernehme hier nur die abstrakte Struktur von Frankfurts Szenario und fülle sie mit einem eigenen Beispiel aus.34 Nehmen wir also Folgendes an: A rollt mit seinem PKW eine steile Straße hinab, den rechten Fuß neben dem Gaspedal auf dem Boden, als ihm betrunken sein Feind B vors Auto läuft. A hält das Lenkrad und seine Füße unverändert und überfährt, wie beabsichtigt, B tödlich. Was A nicht weiß: X, der auf jeden Fall sicherstellen will, dass A den B überfährt, hat zuvor die Elektronik in A’s Auto manipuliert und beobachtet nun das ganze Geschehen über einen Monitor. Er hält sich bereit, per Fernsteuerung Bremsen und Lenkung des PKW des A sofort zu blockieren, sollte dieser sich anschicken zu bremsen oder um B herumzulenken. A kommt jedoch nicht entfernt auf diese Idee. Denn er will B tödlich überfahren und tut das auch. Freilich könnte er selbst dann nichts anderes tun, wenn er das wollte und versuchte, denn X würde intervenieren und das verhindern. X muss aber gar nicht eingreifen; A tut ganz von sich aus, was X will. Es stehe außer Frage, so Frankfurt, dass A für sein Handeln genauso verantwortlich sei, wie er es ohne Überwachung durch X wäre. X habe ja zu dem realen Geschehen keinerlei Beitrag geleistet. Gleichwohl hätte A wegen der Überwachung durch X nicht anders handeln, sein konkretes Handeln also nicht vermeiden können. In einer Erklärung, warum er so gehandelt habe, spiele der Umstand des Überwachtwerdens jedoch keinerlei Rolle. Somit sei es irrelevant, dass er wegen dieser Überwachung nicht anders hätte handeln können; denn auch wenn er’s gekonnt hätte, hätte er es nicht. Also müsse PAM aufgegeben werden.35 Beispiel und Erläuterung haben eine hohe Suggestivität. Bei schärferem Hinsehen möchte man freilich einwenden. A hätte sehr wohl anders handeln können. Hätte er pflichtgemäß versucht zu bremsen oder auszuweichen, so hätte er sofort festgestellt, dass ihm das unmöglich war. Gewiss hätte er B dann ebenfalls und auf genau dieselbe äußerliche Weise tödlich überfahren. Doch wäre ihm dieses Weiterfahren nicht einmal mehr als Handlung, sein Nichtbremsen etc. nicht als Unterlassen zuzurechnen gewesen. Aus seiner 34  Harry G. Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility. In: Journal of Philosophy 66 (1969), S. 829 ff. 35  Harry G. Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility. Nach diesem Angriff auf PAM entwickelt Frankfurt seine eigene Freiheitskonzeption v. a. in „Freedom of the Will and the Concept of a Person“. In: Journal of Philosophy 68 (1971), S. 5 ff.: eine „hierarchische“ Konzeption, in der unmittelbare „first-order desires“ in bestimmten „second-order volitions“ der rationalen und emotionalen Beglaubigung gleichsam ratifiziert werden, und erst dann Handlungen auslösen. Das lasse ich hier unerörtert; s. aber zu den Grenzen dieses Konzepts Reinhard Merkel: Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 102 ff.



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Sicht wäre das tödliche Überfahren des B ein böses Schicksal, aus objektiver Sicht die böse Tat eines anderen gewesen. A hätte also durch sein An­ derswollen und den Versuch, dieses handelnd umzusetzen, sich zu einem Nichthandelnden gemacht. Ein Nichthandeln ist aber im Vergleich zum Handeln ein Sich-anders-Verhalten, und zwar auch dann (wie gerade dieser Fall zeigt), wenn beide äußerlich völlig identisch sind.36 Frankfurts These, ein Andershandelnkönnen sei für die Zurechnung von Verantwortlichkeit nicht erforderlich, wird daher von der bislang erörterten Variante seines Beispiels nicht plausibel gemacht. Hier kann A eben anders handeln, und das unterscheidende Kriterium ist sein Wille. Daran zeigt sich zugleich, dass dieses Frankfurt-Szenario unser eigentliches Problem noch gar nicht berührt: Hätte A denn auch anders wollen können? Aber die Kontrollinstanz in Frankfurts Gedankenexperiment lässt sich unschwer bis ins Gehirn des handelnden A zurück verlegen. Dann geriete nicht nur A’s Handeln, sondern schon sein Wille unter fremde Herrschaft. X würde etwa über von ihm kontrollierte Sensoren im Schädel des A die Vorgänge in dessen Gehirn genau beobachten, im Falle des Aufbaus eines sog. „Bereitschaftspotentials“ zum Bremsen oder Herumlenken sofort korrigierend eingreifen und ein gegenläufiges Bereitschaftspotential (zum Überfahren) erzeugen.37 Und dies geschähe sogar, bevor A selbst auch nur bewusst würde, was die beginnenden neuronalen Vorgänge in seinem Kopf (Bereitschaftspotential) soeben an Wollen und Handeln (Bremsen) bei ihm auszulösen im Begriff wären. Erneut gilt aber: X muss gar nicht intervenieren. A baut sozusagen von Anfang an das gewünschte „bösartige Bereitschaftspotential“ selber auf. Damit erst erhält Frankfurts Beispiel die erforderliche Schärfe.38 Denn jetzt hätte A buchstäblich auch nicht anders „wollen“, sich nicht anders entscheiden können. Und dennoch würden wir ihn ohne weiteres für verant36  Unser Beispiel könnte problemlos so modifiziert werden, dass ceteris paribus nicht ein kontrollierender X, sondern ein natürlicher Umstand, etwa ein Ausfall der Elektronik in A’s PKW, jede Möglichkeit des Bremsens oder Lenkens ausgeschlossen hätte, aber ebenfalls ohne Relevanz geblieben wäre, weil A keine Sekunde bremsen oder lenken wollte. Nach Frankfurt ändert das für die Zurechnungs- / Schuldfrage nichts. Strafrechtler sehen das ein wenig anders: A würde in dieser Variante nur wegen Versuchs bestraft, weil er hinsichtlich des Tötungshandelns tatsächlich nicht „anders handeln“ hätte handeln, nämlich den Todeserfolg seines Tuns nicht hätte vermeiden können. Sein „böser Wille“ würde ihm dabei aber ebenfalls als „frei“ zugerechnet. 37  Zum Bereitschaftspotential (das in den 60er Jahren zuerst von Kornhuber und Deeke beschrieben worden ist), v. a. Benjamin Libet: Time of Conscious Intention to Act. In: Brain 106 (1983), S. 623 ff. 38  Frankfurt sieht und erwähnt (etwas undeutlich) die Möglichkeit der Erstreckung seines Gedankenexperiments auf die Willenskontrolle; vgl. Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility, S. 836 Fn. 3.

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wortlich halten, strafrechtlich gesprochen: zumindest als Versuchstäter. Er hätte, so möchte man sagen, eben mit dem Aufbau eines anderen („guten“) Bereitschaftspotentials beginnen müssen, wiewohl ihm das, hätte er’s getan, wegen der dann unvermeidlichen Intervention des X nicht einmal bewusst geworden wäre. Da er sich aber ab initio für das Böse entschieden hat, wird er mit Recht getadelt und bestraft. Belegt dies Frankfurts These, dass ein Andershandelnkönnen keine Voraussetzung für Verantwortlichkeit ist, weil nicht einmal ein Anderswollenkönnen dafür zwingend erforderlich ist? Das hängt davon ab, aus welchem Grund ein Anderswollen unmöglich ist. Liegt der Grund darin, dass jeder potentielle andere Wille von einer externen Kontrollinstanz verhindert würde, sollte er sich denn sozusagen anschicken zu entstehen, so schließt das weder Freiheit noch Verantwortlichkeit aus, sofern nur der tatsächliche Wille des Handelnden allein aus ihm selbst stammt. Ist dagegen ein Anderswollen deshalb unmöglich, weil eine externe Instanz genau diesen tatsächlichen Willen im Handelnden er­ zeugt, etwa durch direkte Gehirnmanipulation, und deshalb kein anderer (genuin eigener) Wille des Handelnden entstehen kann, so würde niemand einen solchen fremderzeugten Willen frei nennen. Knapp und technischer: Jede negative Freiheit (zur Willensalternative) kann fehlen, wenn nur die positive Freiheit (zur Willenserzeugung) gegeben war. Und diese reicht als Grundlage für Verantwortlichkeit. Damit macht unsere Zuspitzung des Frankfurtschen Gedankenexperiments zugleich die Grenzen seiner Beweiskraft deutlich. Denn zu der Frage, ob ein alternativer Wille immerhin positiv hätte initiiert werden können, sagt das Beispiel gar nichts. Es stellt nur fest, dass die bereitstehende externe Blockade einer Willensalternative Verantwortlichkeit nicht ausschließt, wenn sich der Handelnde schon intern und ganz von selbst gegen jede solche Alternative entschieden hat. Damit stehen wir aber erneut vor unserer Ausgangsfrage: Hätte ein Handelnder positiv einen anderen Willen bilden oder doch damit beginnen können? Und dieses Anderswollenkönnen scheint unser Begriff von Freiheit und Verantwortlichkeit doch weiterhin zu fordern. Zu ihm sagt Frankfurts Szenario jedoch nichts. Es fragt nicht danach. Damit sind wir erneut vor unserem Ziel ins Stocken geraten. Noch immer haben wir keinen rundum überzeugenden Freiheitsbegriff – kompatibel sowohl mit der natürlichen Welt gesetzmäßiger Regularitäten, als auch geeignet zur Begründung von Verantwortung und Schuld. Und nun liegt es nahe, den Blick zum Strafrecht zu wenden und zu fragen, welcher Begriff von Freiheit dort als Bedingung der Schuldfähigkeit eines Täters eigentlich verlangt wird.



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IV. Strafrecht: normative Ansprechbarkeit und die Legitimation des Schuldvorwurfs 1. Zur geltenden gesetzlichen Regelung Das Strafrecht setzt die Schuld eines rechtswidrig Handelnden als Normalfall grundsätzlich voraus. Daher regelt das StGB nicht die Schuldfähigkeit, sondern deren Ausschluss. Der einschlägige § 20 lautet so: Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Der erste der beiden genannten (kursiv hervorgehobenen) Defekte, der kognitive, ist problemlos und unstreitig: Wer nicht wissen kann, dass er so, wie er handelt, nicht handeln darf, handelt ohne Schuld. Problematisch ist der zweite, der sog. motivationale oder Steuerungsdefekt. Er berührt ersichtlich das Problem der Willensfreiheit. Gedeutet werden kann er auf zweierlei Weise: (1.) „Der Täter ist jemand, von dem wir wissen, dass er sich generell normgemäß verhalten kann, also ‚normtreu‘ motivierbar ist. Somit ist er jemand, der im Sinn des § 20 ‚fähig‘ ist, ‚nach seiner Einsicht‘, nämlich in den Normbefehl, zu handeln. Bei Begehung der Tat lag keiner der in § 20 genannten Umstände vor (krankhafte seelische Störung etc.). Also ist der Täter schuldfähig.“ (2.) „Der Täter ist jemand, von dem wir genau wissen, dass er unmittelbar bei Begehung seiner ganz konkreten Tat nach seiner normativen Einsicht hätte handeln können, also anders als er es getan hat. Somit ist er schuldfähig.“ Die erste Lesart hat keinerlei Probleme mit einer deterministischen Prämisse. Mag die generelle normative Motivierbarkeit determiniert sein oder nicht – Hauptsache, sie ist feststellbar. Ist das der Fall, dann ist der Handelnde genau zu dem fähig, was § 20 voraussetzt: zu normtreuem Verhalten. Ob er in einer konkreten Situation rechtswidrigen Handelns auch zu dessen Vermeidbarkeit fähig gewesen wäre, ist irrelevant. Diese Deutung ist mit dem Wortlaut des § 20 vereinbar. Sie hat aber ersichtlich ein Legitimationsproblem für die Zuschreibung von Schuld. Denn dass jemand (beispielsweise) vierzig Jahre seines Lebens keine einzige der sich bietenden Gelegenheiten benützt hat, einen anderen zu berauben, heißt eben nicht, dass er im einundvierzigsten Jahr, in dem er’s dann doch getan hat, auch diese Tat hätte unterlassen können. Kann man aber das nicht feststellen, ist es dann gerecht, ihn zu bestrafen?

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Die zweite Lesart hat dagegen, wenn sie wahr ist, keinerlei Legitima­ tionsproblem. Freilich ist ihre Wahrheit nicht überzeugend. Ihr sind sämt­ liche Einwände unserer bisherigen Analyse gegen PAM entgegenzuhalten. Genau diese zweite Lesart entspricht aber der im Strafrecht herrschenden Auffassung. Und auch die klassischen juristischen Methoden der Gesetzesauslegung dürften zu diesem Ergebnis führen: So ist das „Fähig“- bzw. „Unfähig“-Sein in § 20 ersichtlich gemeint.39 Im Moment der konkreten Tat muss der Täter in der Lage gewesen sein, anders zu handeln. Das ist, nach allem, was wir bislang erörtert haben, in der Sache nicht plausibel. Zwar ist es richtig, dass für die Schuldfähigkeit des Täters einer konkreten Tat die Feststellung nicht genügt, er könne im Allgemeinen, also jedenfalls bei anderen Gelegenheiten, anders handeln. Vielmehr muss er die Eigenschaft, die seine Schuldfähigkeit ausmacht, auch nach dem Gesetzeswortlaut genau „bei Begehung der Tat“ aufweisen. Aber diese Eigenschaft kann nicht die Fähigkeit sein, im Moment des Ansetzens zur Tat anders zu handeln, also die Tat zu unterlassen. Willensfreiheit im gängigen Sinn von PAM kann keine Voraussetzung strafrechtlicher Schuld sein. Was vielmehr erforderlich ist, ist eine andere Art von Autonomie, die mit PAM nichts zu hat: die Fähigkeit zu einer bestimmten Möglichkeit hinreichender Selbstkontrolle. Auch in einer vollständig determinierten Welt wäre sie ohne weiteres denkbar und empirisch feststellbar. Zu ihrer Bezeichnung bietet sich ein Begriff an, den vor allem Claus Roxin bekannt gemacht hat40, und den ich im Folgenden entwickeln will. 2. Normative Ansprechbarkeit Das ist ein sog. Dispositionsprädikat mit zwei Grundelementen: (1.) dem Erfordernis einer (hinreichenden) Rezeptivität des Täters für die normativ relevanten tatsächlichen Umstände seines konkreten Handelns sowie für den Sinn des Normbefehls unter diesen Umständen; und (2.) dem Erfordernis seiner (hinreichenden) Reaktivität gegenüber dem Inhalt des Normbefehls. Dispositionsprädikate (wie „löslich, zerbrechlich, dehnbar“ etc.) sind dadurch definiert, dass sich die von ihnen benannten dispositionellen Eigenschaften prinzipiell irgendwann in sog. kategorischen Eigenschaften (wie 39  Prinzipiell abweichend, nämlich § 20 deterministisch deutend und darauf eine scharfsinnige Schuldkonzeption gründend, aber neuestens Herzberg: Willensunfreiheit und Schuldvorwurf; zur Kritik Reinhard Merkel. In: Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag. Berlin 2011, S. 739– 752, hier S. 737. 40  Vgl. Claus Roxin: Strafrecht: Allgemeiner Teil Bd. I, München 42006, § 19 Rn. 36–49; dazu eingehend Reinhard Merkel (ebd.), S.  752 ff.



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„aufgelöst, zerbrochen, gedehnt“ etc.) manifestieren können. Ihre Bedeutung lässt sich am besten dadurch explizieren, dass man eine oder mehrere ihrer potentiellen Manifestationen vorführt. Was es etwa heißt, dass Zucker löslich und Glas zerbrechlich ist, zeigt sich regelmäßig sofort, wenn man jenen in Flüssigkeit und dieses auf den Boden wirft. Für unser Kriterium der Schuldfähigkeit bedeutet das: „Normativ ansprechbar“ ist ein Täter nur, wenn sich die entsprechende Disposition in bestimmten Situationen tatsächlich in seinem normadäquaten Verhalten manifestieren kann. Doch muss zu diesen Situationen nicht die der konkreten Tat gehören. In ihr hat sich die Disposition zur Normbefolgung ja offensichtlich gerade nicht manifestiert; und die Annahme, unter absolut identischen, die mikrophysikalischen Zustände des Tätersgehirns einschließenden Weltbedingungen hätte sie sich auch hier manifestieren (und er also anders handeln) können, ist ohne fassbaren Sinn. Gleichwohl kann die normative Ansprechbarkeit auch bei dieser konkreten Tat vollständig gegeben gewesen sein – nicht anders als bei einem zerbrechlichen Glas, das einen ersten Fall auf den Boden ausnahmsweise heil übersteht, aber eben auch dabei schon zerbrechlich gewesen ist, wie der anschließende zweite Fall, bei dem es zerbricht, zweifelsfrei macht.41 Was die für die Schuldfähigkeit hinreichende Rezeptivität und Reaktivität eines Täters genau ausmacht, kann ich hier nur andeuten.42 Hinreichend rezeptiv für den Sinn des Normbefehls unter den konkreten Umständen seiner Tat ist ein Handelnder dann, wenn er (1.) ein bestimmtes Maß an kognitivem Realismus in der Wahrnehmung der Umstände seines Handelns besitzt, (2.) die Fähigkeit hat, die Handlungssituation als Anwendungsbedingung des (ihm bekannten) Normbefehls zu identifizieren, und wenn er schließlich (3.) über ein hinreichendes und konsistentes Verständnis für den Rang der Norm in der Hierarchie unseres Normensystems verfügt. Hinreichend reaktiv gegenüber dem Inhalt des Normbefehls ist er, wenn er (1.) den von der Norm auch auf ihn ausgeübten Nötigungsdruck begreift und die generelle Fähigkeit zur Befolgung hat, und wenn er (2.) darüber hinaus grundsätzlich versteht, was es bedeutet, Adressat einer Pflicht zu sein, nämlich im Fall ihrer Verletzung mit sanktionierenden Reaktionen seitens der Mitwelt rechnen zu müssen. Mit dieser abstrakten und groben Skizze muss es hier sein Bewenden haben.43 41  Auch bei diesem Glas hat die Behauptung, es hätte unter absolut (bis ins letzte Atom der involvierten Materie) identischen Bedingungen auch schon beim ersten Fall zerbrechen können, keinerlei Sinn; zerbrechlich war es aber gleichwohl schon dabei. 42  Genauer dazu Reinhard Merkel. In: Strafrecht (wie Anm. 39). 43  Ausführlich Reinhard Merkel. In: Strafrecht, S. 754 ff.

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Was als „Schuldfähigkeit“ allenfalls zu haben ist, ist also gerade nicht eine Willensfreiheit im Sinne des Anderswollen- und -handelnkönnens. Worauf es vielmehr ankommt, ist die grundsätzliche normative Ansprechbarkeit des Täters im Moment der Begehung seiner Tat. Das bedeutet freilich, dass wir Täter für schuldfähig erklären, von denen wir annehmen müssen, dass sie die konkrete Tat, die man ihnen vorwirft, (vielleicht) nicht vermeiden konnten. Sie mögen, heißt das, für ihre Tat „nichts können“, wenn man dieses Dafürkönnen im strikten Sinn einer autonomen Letztverantwortung auffasst. Dennoch werden sie, nach der hier entwickelten Lösung, dafür zur Verantwortung gezogen, sofern sie eben immerhin normativ ansprechbar waren. Dass dies ein Problem der Strafgerechtigkeit aufwirft, ist offensichtlich. Zu lösen ist es (wenn es zu lösen ist) jedenfalls nicht mit Blick allein auf das, was ein Täter höchstpersönlich verdient. Aber seit eh und je decken wir die unaufhebbare Differenz zwischen einem „letztverantwortlichen“ persönlichen Dafürkönnen des Täters und seiner zur Schuldfähigkeit hinreichenden Autonomie mit einem klandestinen Rekurs auf die unumgänglichen Notwendigkeiten zur Verteidigung unserer Rechtsordnung. Wir sollten uns dieses Umstands illusionslos bewusst werden und seine legitimationstheoretischen Grundlagen klären. Auch dazu müssen hier einige knappe Bemerkungen genügen. 3. Die Funktionsbedingungen der Rechtsordnung Anders als viele juristische Laien und manche Strafrechtler annehmen, liegt die Primärfunktion des Strafrechts nicht im Schutz konkret individueller Lebensgüter (Leib, Leben, Eigentum, Freiheit etc.). Sie liegt im Schutz der jeweiligen gesellschaftlichen (vorstrafrechtlichen) Verhaltensnormen, die zur Gewährleistung einer friedlichen Gesellschaft den Übergriff des einen in die geschützten Rechtssphären des anderen verbieten. Gewiss schützt das Recht damit mittelbar auch die in diesen rechtlichen Schutzsphären befindlichen Güter von Personen. Aber dabei kommt es nicht auf die Existenz oder Unversehrtheit dieser Güter selbst an. Das wird evident an dem Umstand, dass sich jeder selber schädigen, ja umbringen darf, ohne dass ihm dies die Aufmerksamkeit des Strafrechts zuzöge. Als „Rechtsgüter“ geschützt sind seine Lebensgüter nur gegen andere, nicht gegen ihn selbst. Nicht die Unversehrtheit des physischen Guts, sondern die der einen Übergriff darauf verbietenden Norm ist also primäres Schutzobjekt des Strafrechts. Will A soeben beginnen, sein altes Fahrrad zu zerstören, so darf er seinen anstürmenden Feind B, der erkennbar dasselbe plant, mit physischer Gewalt und unter Zufügung erheblicher Verletzungen abwehren (Notwehr), auch wenn er sofort danach eben das tut, was B zu tun beabsichtigt und woran ihn A gewaltsam gehindert hat.



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Das Strafrecht ist in erster Linie nicht eine Veranstaltung zum Güter-, sondern zum Normenschutz. Der Primärzweck der Strafverhängung ist damit die Wiederherstellung der verletzten Normgeltung, die „Reparatur der gebrochenen Norm“. Oder genauer (da die Norm selbst im strikten Sinn nicht beschädigt werden kann): die Restitution ihres Geltungsanspruchs, der als universaler die Verhinderung jeder Straftat intendiert und in diesem Anspruch von der konkreten Tat diskreditiert worden ist. Ohne eine glaubhafte symbolische Wiederherstellung der Universalität ihres Geltungsanspruchs müssten gebrochene Normen allmählich erodieren. Damit stünde die Existenz der Normenordnung als ganzer auf dem Spiel. Wir kennen aber keine gegenwärtige Gesellschaft und können uns für die Zukunft keine vorstellen, die ohne ein funktionierendes System ihrer Verbotsnormen lebensfähig oder jedenfalls lebenswert wäre. Der symbolisch erste Adressat einer verhängten Strafe ist daher nicht der Täter, nicht einmal das von ihm verletzte Opfer. Vielmehr ist dies der Rest der (rechtstreuen) Bürger: Ihnen muss die Strafe demonstrieren, dass an der Geltung der Norm festgehalten wird. Eine solche Demonstration kann, nach allem, was wir heute wissen, nicht glaubhaft gelingen, ohne den Täter einer Straftat für die von ihm erforderlich gemachte „Reparatur“ der gebrochenen Norm „bezahlen zu lassen“.44 Verzichten kann die Gesellschaft darauf nur, wenn sie die Tat plausibel an der Persönlichkeit des Täters vorbei erklären kann: mit dem Verweis auf seine Geisteskrankheit etwa, also auf die „Natur“, oder mit jenen anderen Umständen, die § 20 StGB als faktischen Ausgangspunkt eines Schuldausschlusses ausdrücklich nennt und anerkennt. Kann sie das aber nicht, weil der Täter, salopp gesprochen, „einer von uns“, nämlich normativ ansprechbar ist, so lässt sich die Fortgeltung der gebrochenen Norm nicht anders garantieren als über die Zurechnung persönlicher Schuld an diesem Bruch. Ob das fair ist gegenüber Tätern, von deren Unvermögen, im Zeitpunkt ihrer Taten anders zu handeln, wir auch dann ausgehen müssen, wenn sie keinen der in § 20 genannten Defekte aufweisen, darüber mag man streiten. Aber eine moderne liberale Gesellschaft, die primär über Normen, nicht über Polizeigewalt gesteuert werden soll und anders übrigens auch gar nicht zu steuern wäre, hat hier keine rationale Alternative. Vielleicht wird damit ein Straftäter am Ende auch, ja sogar vornehmlich, für sein schieres So-Sein und So-Gewordensein haftbar gemacht. Aber für den Erhalt der Normgel44  Das ist der Grundgedanke von Peter Strawsons berühmtem Aufsatz, Freedom and Resentment (in Peter Strawson: Freedom and Resentment and Other Essays. London 1974, S. 1–28); eingehend R. Jay Wallace: Responsibility and the Moral Sentiments. Cambridge / MA. 1994.

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tung und damit der Normenordnung selbst gibt es keinen erkennbaren anderen Weg. Unter dem Gesichtspunkt der Fairness lässt sich immerhin sagen, der Täter habe vor seiner Tat wie alle anderen Bürger ebenfalls im Schutz dieser Normenordnung gelebt und von ihr profitiert, und er werde dies weiterhin auch nach seiner Verurteilung. V. Der dunkle Rest Sieht man die Dinge so, dann wird verständlich, warum die Legitimation der Strafe ein hoffnungslos umstrittenes Ewigkeitsthema der Strafrechts­ theorie ist und wohl bleiben wird. Wie eine allseits befriedigende Lösung aussehen und dass es sie überhaupt geben könnte, ist nicht zu erkennen. Ein wenig metaphorisch: Die Straftat bringt einen Riss in die normative Welt. Die Strafe kann die Welt nicht wirklich heilen, so als hätte es den Riss nicht gegeben. Aber sie kann den Fortbestand der normativen Welt sichern: durch „Reparatur“ der gebrochenen Norm. Und deshalb muss und darf das Recht für die Kosten der unvermeidlichen Reparatur dieses Risses den „bezahlen“ lassen, der ihn erzeugt hat. Jedenfalls grob unfair ist dies auch dann nicht, wenn der Täter möglicherweise nichts für seine Tat konnte und deshalb im strikten Sinne einer individuellen Letztverantwortung die Belastung mit der Strafe nicht verdient hat. Und dennoch bleibt ein Rest an Unbehagen. Auch ihn sollten wir nicht leugnen. Zumindest die Wissenschaft des Strafrechts, die das praktische Geschäft der Justiz nicht betreiben muss, sollte ihn anerkennen. Im Alltagsverständnis des Begriffs meinen wir mit Schuld eben das, was der Bundesgerichtshof in dem berühmten Beschluss seines Großen Senats vom März 1952 als Kriterium strafrechtlicher Verantwortlichkeit festhält: höchstpersönliche Vorwerfbarkeit.45 Das setzt ein Dafürkönnen im Sinne jener oben apostrophierten „Letztverantwortung“ voraus, die Vorwürfe gegen den Einzelnen sogar vor und von seinem ewigen Richter plausibel zu machen vermöchte. Eine solche Letztverantwortung ist in einer unreinen Welt aus Endlichkeit und Empirie nicht möglich, sie als rechtliches Maß zu postulieren verfehlt, sie dem Einzelnen zuzuschreiben ungerecht. Bei allem gebotenen Bemühen um eine humane Fortentwicklung des Strafrechts bleibt daher, mit Goethe zu sprechen, wohl unausweichlich „ein Erdenrest, zu tragen peinlich, / und wär er von Asbest, er ist nicht reinlich.“46 45  BGH, Amtliche Entscheidungssammlung Strafsachen, Bd. 2 (1953), S. 194, S. 200. 46  Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 7 / 1. Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1994, S. 459 (Faust II, V. 11954–11957).



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Er macht das Schuldprinzip nicht illegitim. Aber er wirft einen nicht restlos aufhellbaren Schatten. Ihn dürfte der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch mit seinem vielzitierten Wort gemeint haben, ein guter Jurist könne nur werden, wer es mit einem schlechten Gewissen ist.47

47  „[…] ein guter Jurist kann nur der werden, der mit einem schlechten Gewissen Jurist ist“, in: Gustav Radbruch: Vorwort zu einer geplanten Ausgabe des Vortrages von J. H. Kirchmann „Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ 1847, in: Ders.: Eine Feuerbach-Gedenkrede sowie drei Aufsätze aus dem wissenschaftlichen Nachlaß. Mit einer Vorbemerkung hrsg. von Eberhard Schmidt. Tübingen 1952, S. 19–24, hier S. 24.

I. Die Ausdifferenzierung von Recht und Moral in der Frühen Neuzeit

Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit und Aufklärung: ‚Moral‘ vs. ‚Recht‘ Von Michael Titzmann I. Die Ausgangssituation: Frühe Neuzeit Wie groß auch die regionalen Differenzen sein mögen, finden wir doch in West- und Mitteleuropa zu Beginn des Untersuchungszeitraums ein ideologisches System vor, das für seine Behauptungen einen universalen und außerzeitlichen Wahrheitsanspruch, für seine Normsetzungen einen universalen und außerzeitlichen Verbindlichkeitsanspruch erhebt: das System der christlichen (zunächst noch konkurrenzlos: katholischen) Theologie. Das System ist tendenziell totalitär: Es neigt dazu, alle Lebensbereiche zu durchdringen und seine Geltungsansprüche jeder sozialen Praxis aufzuzwingen. Seine moralischen Normen, zu Recht oder zu Unrecht aus seinen ‚heiligen Texten‘, Konzilsbeschlüssen, päpstlichen Dekreten usw. abgeleitet, gibt es als ‚gottgewollt‘ aus: Sie sollten folglich im Idealfalle auch zu juristischen Normen werden.1 Den Herrschaftsanspruch des theologischen Systems hat der Autor eines Handbuchs der Inquisition von 1578, Francisco Peña, klar formuliert: Wohl glauben wir schließlich, dass der Papst, der der Stellvertreter von Jesus Christus ist, Macht nicht nur über die Christen hat, sondern auch über alle Ungläubigen […]. […] und so ist nach dem vorher Gesagten klar, dass der Papst über alle de jure, wenn auch nicht de facto, die Gerichtsbarkeit und die Macht hat.2 1  Welche Teilmenge der Normen eines sozialen Systems aufgrund welcher Kriterien als ‚Moral‘ bzw. ‚Recht‘ zu klassifizieren wäre, diskutiere ich hier nicht, sondern gebe mich mit dem üblichen, normalsprachlichen Gebrauch zufrieden. Was die Differenz von ‚Moral‘ und ‚Recht‘ anlangt, wird man sich wohl darauf einigen können, dass juristische Normen nur von einer politischen Herrschaftsinstanz erlassen werden können und die Sanktionierung von Normverletzungen Institutionen übertragen ist und nicht, wie bei anderen sozialen Normen, von beliebigen Gruppen übernommen werden kann. 2  Peña 1578, z.  A., S. 353: „Bene tamen credimus, Papa, qui est Vicarius Jesu Christi, potestatem habet non tantum super Christianos, sed etiam super omnes infideles […]. […] & sic per praedicta apparet, quod Papa super omnes habet iuris-

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Gegeben ist also ein System mit absolutem autoritativen Anspruch: Nun aber tritt in zwei Schritten eine Pluralisierung der ‚Autoritäten‘ ein, zunächst in der Renaissance mit der Reaktivierung der antiken Philosophiesysteme, die sich nicht nur untereinander widersprechen, sondern deren jede auch dem Christentum widerspricht (so sehr sich dieses auch seit der Antike bei Platonismus, Stoizismus, Aristotelismus bedient hat); dann aber – und noch gravierender, weil sich hier die bislang höchste ‚Autorität‘ aufspaltet – in der Reformation und den diversen Protestantismen. Die Krise der Wahrheits- bzw. Verbindlichkeitsansprüche, die sich nur qua Berufung auf eigene oder fremde ‚Autorität‘ legitimieren („Ihr habt X zu glauben, weil Y es gesagt hat, und wenn Y etwas sagt, ist es wahr, weil Y eben Y ist“), verschärft sich durch zwei Ereignisse. Das eine ist die Serie der sogenannten „Entdeckungsreisen“ seit Columbus 1492, die nicht nur Weltvorstellungen manches antiken Philosophen, sondern – schlimmer noch – solche höchstrangiger antiker „Kirchenväter“ (etwa Lactantius, Augustinus) widerlegen. Das zweite und wichtigere ist die Genese der neuen Naturwissenschaft,3 wie sie im frühen 17. Jahrhundert mit Kepler und mehr noch und vor allem mit Galilei einsetzt; in ihrer astronomischen Komponente negiert sie nicht nur das Weltbild des Aristoteles und des Ptolemaios, sondern auch das der Bibel, die laut Theologen von einem ‚Gott‘ „geoffenbart“ worden wäre. Aus dem Erfolg dieser neuen Wissenschaft resultiert schon im 17. Jahrhundert das Konzept eines (hier noch rein intellektuellen, wissenschaftlichen ) „Fortschritts“, das die Aufklärung im 18. Jahrhundert allmählich auf alle theoretischen Diskurse und alle sozialen Praktiken ausweiten wird: Damit aber werden als außerzeitlich gedachte Wahrheits- bzw. Verbindlichkeitsansprüche autoritativer Instanzen durch das neue Postulat der Wünschbarkeit permanenter Optimierung von Theorien und Praktiken ersetzt. disctionem & potestatem de iure, licet non de facto.“ Auch im aktuell geltenden katholischen Kirchenrecht von 1983 fungiert der Papst noch als Stellvertreter des christlichen Gottes auf Erden, als „Vicarius Christi“ (Codex iuris canonici. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Kevelaer 62009, canon 331). Die Liste der Primärtexte findet sich, chronologisch geordnet, im Anhang: „Z. A.“ = verwendete Ausgabe, „verwendete Ausgabe“ bedeutet, dass ich die im Anhang als „verw. A.“ markierte Ausgabe zitiert habe. In den Fällen, wo ich einen fremdsprachlichen Text nicht in Übersetzung oder in einer zweisprachigen Ausgabe verwende, verantworte ich die Übersetzungen. Texte, die nicht zu dem für meine Argumenta­ tion zentralen Korpus gehören (wie z. B. der aktuelle Codex iuris canonici), finden sich nur in den Anmerkungen; dasselbe gilt für die wissenschaftliche Literatur. 3  Vgl. dazu Michael Titzmann: Die Emanzipation der Wissenschaft im denk- und wissensgeschichtlichen Kontext. In: Galileo Galilei: Lettera a Cristina di Lorena /  Brief an Christine von Lothringen. Hg. und kommentiert von Michael Titzmann und Thomas Steinhauser. Passau 2008, S. 213–549.



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Wenn übrigens fast alle bedeutenden, also innovativen Intellektuellen des 16. und 17. Jahrhunderts explizit oder implizit Aristoteles angreifen, dann nicht nur deshalb, weil sie seine Ontologie, seine Metaphysik, seine Physik, oder was auch immer, für falsch halten: Nicht selten – um das Sprichwort zu zitieren – „schlagen sie den Sack und meinen den Esel“, soll heißen, die christliche, genauer: die katholische Theologie, die sich seit der hochmittelalterlichen Scholastik der aristotelischen Denkkategorien zur Fundierung ihrer Theologeme bedient hatte. Was also bleibt dem Menschen, der sich jetzt plötzlich zwischen den Wahrheitsansprüchen unterschiedlicher ‚Autoritäten‘ – denen verschiedener Philosophien und verschiedener Theologien – entscheiden muss, als letzte Instanz, an die er sich wenden kann? Zumindest für eine kleine intellektuelle Minorität kann dies nur mehr die eigene Vernunft – und seit ‚Entdeckungsreisen‘ und neuer Naturwissenschaft zudem die ‚sinnliche Erfahrung‘, die Empirie – sein. Für Fragen nach der Geltung moralischer und / oder juristischer Normen mag die neue Bedeutung von Empirie irrelevant scheinen: Sie ist es aber nicht. Die neue ernstliche Auseinandersetzung mit der Antike macht bewusst, dass in der griechischen oder römischen Antike – und in jenen sonstigen Kulturen, über die griechische oder lateinische Texte berichtet haben – ganz andere Normensysteme gegolten haben als in den christlich dominierten Kulturen der Frühen Neuzeit; signifikant ist natürlich schon die Rolle, die das römische Recht in den frühneuzeitlichen juristischen Diskussionen spielt.4 Und wo die Texte der Antike von diachron vergangenen Kulturen berichten, erzählen die Berichte der „Entdeckungsreisen“ von synchron existierenden Kulturen; im 18 Jahrhundert wird es gar mit Forschungsaufträgen ausgestattete und durch entsprechend kompetente Wissenschaftler begleitete Entdeckungsreisen geben. Das Wissen über vergangene und gegenwärtige andersartige Kulturen und deren Normensysteme, das wir als ethnohistorisches Wissen zusammenfassen können, wird schon im 17. und mehr noch im 18. Jahrhundert eine wesentliche ideologische Rolle spielen:5 Jedes bekannt werdende fremde Normensystem erzeugt – sobald 4  Der bedeutende Jurist Paul Johann Anselm Feuerbach wird seine Studenten noch 1804 darauf hinweisen, wie unentbehrlich gute Lateinkenntnisse seien, da man sich unbedingt mit dem römischen Recht zu befassen habe (vgl. Feuerbach 1804). 5  Dank der Entdeckungsreisen von Bougainville (vgl. dessen Voyage autour du monde, Paris 1771) und Cook (vgl. den Reisebericht von Georg Forster: A Voyage round the world, London 1777; dt. Ausgabe Berlin 1778–1780) wird etwa in der Spätaufklärung das radikal vom europäischen abweichende System der Sexualnormen der Polynesier, insbesondere Tahitis, eine wesentliche Rolle in moraltheoretischen Diskursen spielen (vgl. z. B. Denis Diderot: Supplément au voyage de Bougainville, Ms. 1772, Druck 1796).

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man von sich selbst ‚Rationalität‘ verlangt – den Druck, das eigene Normensystem zu legitimieren oder zu revidieren. Wir können nun definitorisch festlegen, wann und wo die (europäische) Neuzeit beginnt: Sie beginnt überall dort und genau dann, wo eine intellektuelle Gruppe bis dahin unbefragt geltende ‚Autoritäten‘ vor dem Richterstuhl der ‚Vernunft‘ infrage stellt und nicht mehr einfach als ‚häretisch‘ ausgeschlossen werden kann,6 weil solche Exklusion die intellektuell relevanten Gruppen nicht mehr überzeugt, auf die man angewiesen bleibt. Dieser Prozess aber setzt sowohl regional zeitlich verschieden ein, in (Ober-)Italien wohl im 15. Jahrhundert, in Frankreich, in England, im „Deutschen Reich“ wohl im 16. Jahrhundert, als er auch in unterschiedlichen Diskursen nicht im selben Zeitraum beginnt. Schon im 16. Jahrhundert wird es jedenfalls sogar Indizien nicht nur, wie bekannt, für innerchristlich heterodoxe Tendenzen, sondern sogar für antichristliche geben:7 nur Indi­ zien, weil natürlich ‚Häretiker‘ postwendend verbrannt würden (und tatsächlich, sofern sie sich tollkühn „geoutet“ haben, verbrannt wurden). Trotz aller Zwangsmaßnahmen kirchlicher wie politischer Instanzen begann jedenfalls in der Frühen Neuzeit ein denk- und mentalitätsgeschichtli­ cher Wandlungsprozess, dessen historische Relevanz und dessen langfristige Folgen kein Zeitgenosse vorhersehen konnte und der, bis in die Gegenwart hinein, besonders die katholische Kirche getroffen hat, die nicht zuletzt dank der Fehlentscheidung ihrer quasi-‚juristischen‘ Institutionen im Falle Copernicus bzw. Galilei für Jahrhunderte jeden Kontakt mit der jeweiligen ‚intellektuellen Moderne‘ verloren hat. Zurecht hat man das Denken der – innovativen!8 – Intellektuellen des 17. Jahrhunderts unter den Begriff des ‚Rationalismus‘ subsumiert: Und zurecht hat man davon das Denken vergleichbarer Gruppen im 18. Jahrhundert als ‚Aufklärung‘ unterschieden. Im gegebenen Kontext kann ich die Differenz nur simplifizierend und plakativ auf eine Formel bringen. Die Autoren zur Zeit des ‚Rationalismus‘, z. B. also Galilei, Descartes, Hobbes, 6  Auch wenn man es versucht: z. B. Verurteilung des Copernicus 1616, Verurteilung Galileis 1633. 7  Vgl. etwa Michael Titzmann: Antichristliche und antireligiöse Diskurse in Früher Neuzeit und Aufklärung. In: Thorsten Burkard / Markus Hundt / Steffen Martus / Steffen Ohlendorf / Claus-Michael Ort (Hg.): Natur – Religion – Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2013, S. 135–196. 8  Wozu ich die theologischen Autoren nicht zähle. Die innerchristlichen ‚Häresien‘ hingegen sind nicht nur manchmal – logischerweise – Vertreter der Toleranz, sondern auch moralischer als die je herrschende Theologie: so z. B. die ‚Quaker‘, die sich früh gegen Sklaverei engagieren. Darüber hinaus ist ‚Theologie‘ seit dem 17. Jahrhundert nirgendwo mehr für die weitere intellektuelle Entwicklung Europas relevant gewesen.



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Leibniz, denken bzw. schreiben noch unter den Zwängen eines von der politischen Macht gestützten theologischen Systems, dem sie ihre Verbeugung machen müssen, wenn sie nicht ‚juristisch‘ verfolgt werden wollen; wie abweichend auch die Gottesvorstellungen dieser Autoren gewesen sein mögen, müssen sie doch irgendwann, irgendwie ihre – tatsächliche oder scheinbare – Unterwerfung unter die christliche Theologie signalisieren, die zufällig in ihrem Aufenthaltsraum gilt.9 Ihre Positionen mögen längst unvereinbar mit christlicher Theologie sein: wenigstens verbal müssen sie ihre Verbeugung vor dieser machen; anderenfalls werden sie, wie Hobbes oder Spinoza, als „Atheisten“ verschrien. Was wir ‚Aufklärung‘ nennen, läuft hingegen darauf hinaus, dass Autoren explizit oder implizit die Umkehrung der bisherigen Diskurs-Hierarchie postulieren: nicht mehr der ‚theologische Diskurs‘ soll alle anderen dominieren, sondern der ‚philosophische‘; hier sei daran erinnert, dass ‚Philosophie‘ – vgl. noch Kants Der Streit der Fakul­ täten (1798) – alle später als ‚Disziplinen‘ ausdifferenzierten Diskurse umfasst, die weder ‚Theologie‘ noch ‚Medizin‘ noch ‚Jura‘ sind; die ‚Naturwissenschaft‘ fällt noch als ‚philosophia naturalis‘ unter ‚Philosophie‘.10 Was wir ‚Aufklärung‘ nennen, wird sich im wesentlichen in den protestantischen Staaten Europas – plus Frankreich, das entgegen seiner offiziellen Ideologie schon im 17. Jahrhundert in seinen intellektuellen Eliten nur sehr bedingt als „katholisch“ bezeichnet werden kann – ereignen. Solange der Autoritätsanspruch der (katholischen, später auch der protestantischen) Kirche ungebrochen ist, tendiert sie zum einen dazu, ihr als ‚gottgewollt‘ betrachtetes Normensystem zugleich auch als weltliches Recht verbindlich zu machen, soweit es die jeweiligen regionalen, politischen, sozialen Gegebenheiten erlauben. Zum anderen erlässt sie selbst Gesetze, einerseits im sogenannten kanonischen Recht, einer Serie kirchlicher Beschlüsse, die seit dem Decretum Gratiani von ca. 1140 gesammelt werden,11 andererseits im Inquisitionsrecht: den Spielregeln für die Verfolgung Andersgläubiger, also der „Ketzer“ (in meinem Textkorpus durch Peñas Direc­ 9  Descartes‘ Principia philosophiae von 1644 stellen ein extremes Beispiel dar: Einerseits vertritt er eine mit biblischer Theologie gänzlich unvereinbare ‚Naturphilosophie‘; anderseits signalisiert er unentwegt seine Unterwerfung unter christliche Theologie. Spinoza ist ohnedies ein Extremfall: Sein ‚Pantheismus‘ wird schon von so intelligenten Zeitgenossen wie Pierre Bayle und Samuel Clarke als ‚Atheismus‘ interpretiert. Auch Hobbes wird ja als angeblicher ‚Atheist‘ ausgegrenzt, ist aber gleichwohl wie Spinoza unübersehbar im intellektuellen Diskurs präsent. 10  Vgl. den Titel von Newtons Hauptwerk, das zum ‚Paradigma‘ (im Sinne von Thomas S. Kuhns The Structure of scientific revolutions. Chicago 1962) der neuen Physik wird: Philosophiae naturalis principia mathematica. London 1687. 11  Einen Eindruck von der ursprünglichen Form des kanonischen Rechtes und seiner Regelungen in meinem Untersuchungszeitraum vermitteln Sintenis / Schilling 1834.

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torium Inquisitorum, 1578, und Farinacius‘ Tractatvs De Haeresi, 1620, vertreten). Als weltliches Recht steht dem zunächst die peinlich gerichtes ordnung Kaiser Karls V. von 1533 (PGO, auch als CCC = Constitutio Cri­ minalis Carolina bekannt) gegenüber: das einzige überregional geltende Recht im „Deutschen Reich“ bis zu dessen Auflösung. Der Katalog der vorgesehenen Strafen ist eindrucksvoll: Verbrennen, Köpfen, Vierteilen, Rädern, Hängen, Ertränken, lebendig Begraben, Pfählen, „reissen mit glüenden zangen“ (Art. 194), Auspeitschen, Abschneiden der Zunge, Abschneiden der Ohren, Abhacken der Finger. Gefängnisstrafen gibt es kaum; die Körperstrafen haben gern einen symbolischen Status – man wird an dem Glied gestraft, mit dem man „gesündigt“ hat. Im ‚weltlichen‘ wie im ‚geistlichen‘ Recht gilt, dass man das Geständnis des aufgrund von Zeugenaussagen oder Indizien Verdächtigten will, das man, liefert er es nicht freiwillig, durch Folter zu erzwingen sucht; was deren Praktiken anlangt, wird man den Henkern und ihren Auftraggebern eindrucksvollen Erfindungsreichtum zugestehen müssen. Ist schon das weltliche Recht von ungeheurer Brutalität, wird es vom Inquisitionsrecht erheblich überboten. Verlangt die PGO zwei unverdächtige Zeugen, lässt etwa Peña auch nur einen Zeugen zu, der zudem anonym bleiben und selbst „kriminell“ sein darf; gilt in der PGO, dass, wer die Folter ohne Geständnis übersteht, nicht ohne neue Indizien erneut gefoltert werden darf, erklärt Peña, dass man erneute Folter eben nur als „Fortsetzung“ der ersten deklarieren müsse; verfolgt die PGO im wesentlichen nur Taten, verbrennt man in Inquisitionsprozessen Menschen aufgrund bloßer Meinungen. Peña weiß alle diese Verschärfungen zu rechtfertigen: „Verbrechen gegen Gott“, also heterodoxe Meinungen, seien das ranghöchste und scheußlichste Verbrechen überhaupt … Ausgerechnet diese „Verbrechen“ werden nun aber von keinem Artikel der PGO erfasst: wie es scheint, eine erste Folge des Konflikts der ‚Autoritäten‘ – die konkurrierenden Konfessionen hätten sich nicht auf Definitionen von „Häresie“ einigen können.12 Das hat sie natürlich nicht gehindert, in ihrem jeweiligen Herrschaftsbereich zu verfolgen, was aus ihrer Sicht ‚häretisch‘ war. II. Anthropologische, theologische, politologische Faktoren Jede Rechtsordnung basiert natürlich auf Wertentscheidungen und anthropologischen Annahmen, die in den Gesetzestexten selbst im Regelfalle nicht artikuliert werden. Dass etwa Folter kirchlich wie staatlich als ‚Beweisverfahren‘ legitimiert war, basiert, scheint mir, auf einer christlich geprägten Anthropologie: einem ihr eigentümlichen Konzept der ‚Person‘, demzufolge 12  So der Herausgeber der PGO, Friedrich-Christian Schroeder, in seinem Nachwort (z. A., S. 211).



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diese in der als unsterblich aufgefassten ‚Seele‘ im theologischen Sinne besteht, während der Körper nur deren ‚Hülle‘, wo nicht gar deren ‚Gefängnis‘ ist13 – und um des ‚Heils‘ der ‚Seele‘ willen darf man den Körper quälen. In dem gänzlich anderen Konzept der ‚Person‘, das die Aufklärung vertreten wird, wird der Körper Teil der ‚Person‘ sein und folglich Folter problematisiert werden. Zwei weitere – nicht nur, aber insbesondere theologisch relevante – anthropologische Annahmen der Frühen Neuzeit seien noch hervorgehoben. Die wenigen, ausnahmslos selbst heterodoxen Verteidiger der Toleranz in der Frühen Neuzeit verweisen gegen die kirchliche Verfolgung abweichender religiöser Positionen darauf, niemand könne sich zwingen, etwa zu glauben, selbst wenn er es wolle. Die katholischen wie die protestantischen Verfolger von Abweichung postulieren hingegen, dass, wer glauben wolle, auch glauben könne: Nur unter dieser Bedingung kann schließlich die Abweichung als ‚Schuld‘ aufgefasst und bestraft werden. So seltsam uns das nun auch erscheinen mag: In dieser Anthropologie ist, ob ich etwas glaube oder nicht glaube, das Produkt einer Willensentscheidung, für die ich verantwortlich bin. ‚Glauben‘ kann demnach auch nicht heißen, von etwas ‚überzeugt‘ zu sein. Es heißt nur, einer gegebenen These nicht zu widersprechen, sondern ihr explizit zuzustimmen. Eine – besonders radikale – Gruppe theologischer Abweichungen bildet mein zweites Beispiel. Ungemein viele Traktate bekämpfen „Atheismus“, und das schon lange, bevor überhaupt auch nur ein atheistischer Text bezeugt ist. Atheisten dürften unter keinen Umständen geduldet werden; denn sie seien zu jeder Verletzung moralischer oder juristischer Normen fähig und bereit, sofern sie hoffen könnten, sich der staatlichen Justiz zu entziehen. Selbst ein John Locke – und ausgerechnet in seiner Letter Concerning Toleration (1690) – legt fest: Letztlich sind diejenigen ganz und gar nicht zu dulden, die die Existenz Gottes leugnen. Versprechen, Verträge und Eide, die das Band der menschlichen Gesellschaft sind, können keine Geltung für einen Atheisten haben. Gott auch nur in Gedanken wegnehmen, heißt alles dieses auflösen.14

Solche Postulate von Theologen und Nicht-Theologen scheinen mir erklärbar nur unter einer Bedingung: Man nimmt nicht an, dass es im Prozess der Sozialisation zu einer Verinnerlichung von affektiv besetzten Normen 13  Das ließe sich z. B. an unzähligen literarischen Texten des deutschen Sprachgebiets im 17. Jahrhundert bestens belegen. Es wird im übrigen wohl nicht zuletzt auf Vorstellungen Platons zurückgehen. 14  „Lastly, Those are not at all to be tolerated who deny the being of God. Promises, covenants, and oaths, which are the bonds of human society, can have no hold upon an atheist. The taking away of God, though but even in thought, dissolves all.“ Zitiert nach: Ein Brief über Toleranz. Englisch – deutsch. Übs. und hg. von Julius Ebbinghaus. Hamburg 1957, S. 94 bzw. 95.

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kommt, deren Produkt das wäre, was man – heute! – „Gewissen“ nennt; wohl kennt man das Lexem „Gewissen“, aber z. B. der bedeutende Dichter und Sprachtheoretiker Kaspar Stieler erläutert in seinem Der Deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs / oder Teutscher Sprachschatz (1691) „Gewißen“ als „conscientia, religio, mens sibi conscia“ (Sp. 2568), was impliziert, dass „conscientia“ und „religio“ quasi semantisch äquivalent sind. Nur der religiöse Mensch hätte somit ein „Gewissen“, was dann aber offenbar nur bedeutet, dass er „Strafen im Jenseits“, nach seinem Tode, befürchtet, nicht aber, dass eine Interiorisierung von Normen angenommen wird.15 Wiederum wird mit der Aufklärung im Rahmen der Substituierung des grundsätzlich pessimistischen Menschenbildes des Christentums durch ein optimistischeres eine mehrfache Veränderung eintreten, die sich in (damals noch sehr minoritären) Positionen in der Frühen Neuzeit vorbereitet hat. So bekämpft Francis Bacon in seinen Essays (A. l. H.: 1625) zwar im Kapitel Of Atheism eben diesen, um im folgenden Kapitel Of Superstition klar zu stellen, dass Atheismus sehr wohl mit ‚Moralität‘ vereinbar sei, was für den „Aberglauben“ (gemeint ist religiöser Fanatismus = Fundamentalismus), dem man die Religionskriege der Gegenwart verdanke, nicht gelte; und Pierre Bayle behauptet in seinen Pensées à l’occasion de la comète (1683) gar, entgegen dem christlichen Gerücht sei ein Staat von Atheisten denkbar, der durchaus nicht weniger moralisch sei als ein christlicher. Zweitens behauptet schon Pietro Pomponazzi im Tractatus de immortalitate animae (1516), das Prädikat ‚moralisch‘ verdiene im Grunde nur, wer das ‚Gute‘ um seiner selbst willen tue und das ‚Böse‘ um seiner selbst willen vermeide.16 Wirklich ‚moralisch‘ ist somit keine Handlung, die aus Hoffnung auf Lohn im „Jenseits“ vollzogen bzw. aus Furcht vor Strafe ebendort unterlassen wird. Diese Position werden sich in der Folge so erstrangige Intellektuelle wie Spinoza, Hume, Kant zu eigen machen. Drittens wird das Thema der „tugendhaften Heiden“ der nicht-christlichen Antike neu verhandelt, in meinem Korpus exemplarisch von La Mothe Le Vayer in De la vertu des païens (1641), wo er heidnischen Philosophen nicht nur „Tugenden“ zubilligt, sondern bei einigen sogar erwägt, sie könnten dank besonderer „Gnade Gottes“ womöglich auch „erlöst“ sein; selbst dem in christlicher Historiographie als „Apostata“ verpönten und verhassten Kaiser Julianus, der sich nach der ihm aufgezwungenen christlichen Sozialisation im Erwachsenenalter von dieser Religion wieder abkehrte, weiß er doch erheb­ liche „Tugenden“ zuzuschreiben. Wenn aber ‚Moralität‘ auch bei NichtChristen möglich ist, nicht nur bei antiken „Heiden“, sondern z. B. auch, wie wiederholt behauptet werden wird, bei den chinesischen Oberschichten, 15  Zur Geschichte des Gewissens siehe Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1995 – ein bedeutendes Buch. 16  Pomponazzi 1516, z. A. S. 222 bzw. 223.



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die der Lehre des Konfuzius anhängen würden, dann beginnt sich die bisherige Koppelung von ‚Moralität‘ und ‚richtiger Religion‘, welche das Christentum wäre, aufzulösen. Viertens schließlich muss ein wichtiger Texttyp genannt werden, die literarische Utopie, einsetzend mit Thomas Morus‘ namensgebender Utopia von 1516; dieser im 17. und 18. Jahrhundert sehr beliebte Texttyp bietet ein intellektuelles Experimentierfeld, in dem man in fiktiven Reiseberichten Kulturen entwerfen darf, die gänzlich andere politische und soziale Strukturen aufweisen als das christliche Europa und in denen ganz andere Normensysteme gelten;17 in quasi allen Utopien aber wird die Sozialisation des Nachwuchses, seine Einübung in die Regeln des fingierten Sozialsystems, zu einem zentralen Thema. Jenes pädagogische Jahrhundert, welches das der Aufklärung ist, wird sich solchen Glauben an die – auch ‚moralische‘ – Sozialisierbarkeit des Menschen zu eigen machen, und damit wird sich auch die Annahme einer Interiorisierbarkeit von Normen, der Glaube an die Möglichkeit eines individuellen, funktionsfähigen „Gewissens“ definitiv etablieren. Mehr als andere literarische Texttypen belegen diese Utopien (wie neben ihnen auch die Berichte von Reisen in andere Kulturen) im übrigen, welche Relevanz die Diskussion von moralischen bzw. juristischen Normen(systemen) im 17. und 18. Jahrhundert hat; zumindest für minoritäre Gruppen sind offenbar Alternativen zum eigenen Normensystem denkbar. Ein Beleg dafür ist im Frankreich des 17. Jahrhunderts auch die Gruppe der sogenannten „Libertins“, die sich nicht zuletzt erhebliche Abweichungen vom tradierten System der Sexualnormen leisten.18 Fast schon systematisch infrage gestellt wird dieses System dann in jener Teilmenge der französischen erotischen Literatur im 18. Jahrhundert, die man „philosophisch-pornographische Romane“ nennen kann.19 Wo es in Utopie und Pornographie um die Auseinandersetzung mit normativen Inhalten von ‚Moral‘ und ‚Recht‘ geht, werden in einem Texttyp, wo man es nicht unbedingt erwarten würde, juristi­ sche Verfahrensweisen relevant: in speziell christentums- oder generell reli­ gionskritischen Texten. 17  Vgl. z. B. Michael Titzmann: Die Relation von Glauben und Wissen(schaft) in europäischen Utopien der Frühen Neuzeit. In: Hartmut Schröder / Ursula Bock (Hg.): Semiotische Weltmodelle. Mediendiskurse in den Kulturwissenschaften. Festschrift für Eckhard Höfner zum 65. Geburtstag. Münster 2010, S. 570–634. 18  Vgl. Jacques Prévot (Hg.): Libertins du XVIIe siècle. 2 Bde. Paris 1998 und 2004. 19  Diese Textgruppe setzt wohl mit dem Gervaise de Latouche zugeschriebenen Roman Histoire de Dom B***, portier des Chartreux [Geschichte des Dom B***, Kartäuserpförtner] von 1741 ein. Zu diesen Texten vgl. Michael Titzmann: Sexualität und Anthropologie in der französischen Aufklärung: Der philosophisch-pornographische Roman. In: Ders.: Anthropologie der Goethezeit. Hg. von Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort. Berlin 2012, S. 433–483.

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Seit der Zeit um 1600 sind deistische Texte überliefert, um 1700 häufen sie sich, unter den einigermaßen konsequenten Aufklärern im 18. Jahrhundert scheint mir Deismus die dominante Position zu werden. Zum Begriff hier nur so viel: ‚Deismus‘ bedeutet die Annahme, es gäbe genau einen, jedem Menschen mit Hilfe der ‚Vernunft‘ aus der ‚Natur‘ – ohne ‚Offenbarungen‘ – erkennbaren ‚Gott‘, der die Welt und die Menschen geschaffen habe, der moralische Normen gesetzt habe, die alle Menschen auch ohne Offenbarung erkennen könnten, der das Glück seiner Geschöpfe will, und zwar (im Gegensatz zum christlichen Gott) nicht erst im ‚Jenseits‘, sondern schon im ‚Diesseits‘. Diese Überzeugungen hält der Deist für eine natür­ liche oder vernünftige Religion, wodurch sie sich vom Christentum unterschiede. Etwa im selben Zeitraum treten auch – noch minoritärer als die deistischen – atheistische und agnostizistische Texte auf. Die Kritik an Christentum bzw. Religion im allgemeinen unterwirft nun gern ‚heilige Texte‘ bzw. theologische Dogmen, nicht zuletzt auch die angeblichen ‚Wunder‘, einem quasi juristischen Prozess: Man behandelt die einschlägigen Äußerungen wie Zeugen vor Gericht, deren Glaubwürdigkeit zu beurteilen ist (wobei sie, wie erwartbar, nicht besonders gut abschneiden). Besonders tödlich ist dabei die Anwendung eines römischen, in den von Justinian veranlassten Digesten (533 u. Z.) überlieferten, äußerst vernünftigen, wiederholt zitierten Rechtsgrundsatzes: Ei incumbit probatio, qui dicit, non qui negat.20 [Dem fällt die Beweislast zu, der etwas behauptet, nicht dem, der es bestreitet.]

Eine theoretische Diskussion über moralische und juristische Normensysteme ist jedenfalls in Früher Neuzeit und Aufklärung weit über die im engeren Sinne moral- oder rechtstheoretischen Diskurse hinaus relevant. Noch eine letzte relevante Klasse von Faktoren muss erwähnt werden: die neuzeitlichen politologischen Diskurse seit Machiavelli (Discorsi, 1531; Il Principe, 1532), der eine nicht-normative, eine deskriptive politische Theorie begründet, und Bodin (Six livres de la republique, 1577), der den absolutistischen Staat entwirft, und die tatsächlichen politischen Interessen und Praktiken. Die Territorien, aus denen hier Texte einbezogen sind, sind alle durch die Erfahrung der konfessionellen Spaltung und der daraus resultie20  Zitiert nach: Digesta seu Pandectae, Kapitel De probationibus et praesump­ tionibus, 22.3.2 (webu2.upmf-grenoble.fr / DroitRomain / Corpus, eingesehen 13.03. 2013); das Dictum wird von den Digesten einem Juristen namens Paulus zugeschrieben. Die Digesten sind eine systematische Sammlung von Rechtsgrundsätzen, die aus den Werken römischer Juristen zusammengestellt wurden, während der Codex Justinianus (1529, 2534) eine Sammlung von Erlassen mit Gesetzeskraft ist. In der Kurzform „Affirmanti incumbit probatio“ wird der Grundsatz in meinem Korpus etwa vom anonymen Cymbalum mundi (nach 1692) gegen die ‚geoffenbarten‘ Religionen verwendet.



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renden „Religionskriege“ geprägt. Wenn es aber eine ideologische Ausdifferenzierung, inklusive einer solchen moralischer Vorstellungen, in einem Staatsgebilde gibt, bestehen für die, die die politische Macht haben, nur zwei Alternativen: Man rottet möglichst eine der Teilgruppen aus, was man ja durchaus nicht ohne Erfolg in einigen Staaten versucht hat, oder man versucht, eine für alle akzeptable Rechtsordnung zu schaffen, die dann logischerweise mit keiner der konkurrierenden Ideologien bzw. Moralen der Gruppen identisch sein kann; bis hin zu letzterer – der humaneren und rationaleren – Lösung war es freilich ein weiter Weg. Wenn man diese Lösung wählt, um der neuen tendenziell pluralistischen Gesellschaft gerecht zu werden, bedeutet das automatisch eine erste Abkoppelung des ‚Rechts‘ von der ‚Moral‘: Wenn wir unter ‚Moral‘ ein quasi vor- oder außerstaatliches Normensystem einer ‚Gesellschaft‘ oder einer ‚sozialen Gruppe‘ innerhalb einer solchen verstehen, unter ‚Recht‘ hingegen ein von den ‚politischen Institutionen‘ dieser ‚Gesellschaft‘ verfügtes und sanktioniertes Normensystem verstehen, können ‚Recht‘ und ‚Moral‘ höchstens in einer extrem homogenen Gesellschaft identifiziert werden. Es wird also im folgenden erstens um einige Aspekte des Prozesses der Loslösung des ‚Rechts‘ von der ‚Moral‘ und damit zugleich von den normativen Ansprüchen der Theologie, zweitens die tendenzielle Ablösung der ‚Moral‘ von der Theologie, drittens um die daraus resultierenden neuen Probleme der Begründung ‚moralischer‘ und ‚juristischer‘ Normen gehen. Diese Prozesse aber sind wiederum nicht nur mit anthropologischen und religionsphilosophischen Transformationen korreliert, sondern viertens auch mit politologischen: mit Veränderungen der Konzeption des Staatszwecks, der Legitimation von politischer Macht und der Relation zwischen dieser Macht und den Staatsbürgern. Im Ausgangszustand gibt es bei Katholiken und Lutheranern eine eindeutige theologische Legitimation von – selbstverständlich als monarchisch – gedachter Herrschaft: Der jeweilige Herrscher ist ‚gottgewollt‘ und folglich, wäre er auch der schlimmste Tyrann, in ‚christlicher Demut‘ zu ertragen;21 bei den Kalvinisten gibt es immerhin schon im 16. Jahrhundert die minoritäre Fraktion der – von Barclay22 so genannten – ‚Monarchomachen‘, die die gewaltsame Auflehnung gegen ungerechte Herrschaft legitimieren. Den ‚Staatsbürger‘ gibt es nicht: Es 21  Genannt sei eine katholische Ausnahme: des Jesuiten Juan Mariana De rege et regis institutione (Toledo 1599) sieht den „Tyrannenmord“ vor; ‚Tyrann‘ ist freilich bei ihm nur, wer von der ‚wahren Religion‘, d. h. seiner ‚Religion‘, abfällt. Da er somit den „Königsmord“ legitimiert, wird sein Buch vom obersten Pariser Gericht, dem „Parlement“ öffentlich verbrannt. 22  William Barclay: De Regno et Regali Potestate adversus Buchananum, Brutum, Boucherium et reliquos Monarchomachos (1600); ich kenne den Text nicht selbst.

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gibt nur den ‚Untertanen‘, der sich willig allen Anordnungen der ‚Obrigkeit‘ zu fügen hat. Mein Beitrag ist ein denk- und mentalitätsgeschichtlicher, kein rechtshistorischer (wofür ich auch nicht kompetent wäre); auch wird es nur um moral- bzw. rechtstheoretische Texte gehen, nicht um die tatsächliche juristische Praxis (sofern sie nicht Thema in einem meiner theoretischen Texte wird). Mein Akzent wird, wie wohl schon sichtbar ist, auf den nicht-juris­ tischen Voraussetzungen der juristischen Veränderungen liegen. Rechtswandel kann zwar scheinbar innerjuristisch begründet werden, ist aber tatsächlich immer außerjuristisch begründet. Mein Textkorpus (siehe Anhang) wäre zweifellos durch viele weitere wichtige Autoren zu ergänzen; aber es dürfte die wichtigsten Positionen stellvertretend repräsentieren. III. ‚Naturrecht‘ – ‚Naturzustand‘ – ‚(Gesellschafts)Vertrag‘ 1. Die traditionellen Varianten Nach antiken23 und mittelalterlichen Vorläufern, die hier nicht interessieren müssen, rekurrieren insbesondere seit dem 17. Jahrhundert nicht wenige Theoretiker auf das Konstrukt eines ‚Naturrechts‘. Dessen Normen wären solche, die ‚von Natur aus‘, also, da solche ‚Natur‘ als invariante Ordnung gedacht wird, immer und überall gelten würden, somit auch in nicht-christlichen Gesellschaften. Solche Annahmen versuchen natürlich auch das nunmehr oder wieder aktuelle Problem der intra- und interkulturellen ideologischen Differenzen aufzufangen, indem sie ein von diesen abstrahierendes und für sie alle verbindliches ‚Recht‘ postulieren. Nun ist der Begriff einer ‚Natur‘ an sich schon ein Problem: Was als ‚Natur‘ gilt, wie auch, was als ‚Kultur‘ gilt, ist natürlich immer schon etwas, das erst die jeweilige Kultur explizit oder implizit als solches definiert; doch das wird, scheint mir, noch nicht diskutiert. Noch in der Aufklärung werden sich Christen, vor allem aber Deisten, Pantheisten, Atheisten unentwegt auf ‚Natur‘ berufen und dabei folglich zu gänzlich unvereinbaren Behauptungen gelangen. Die ‚Natur‘, um die es im ‚Naturrecht‘ geht, kann nicht die sein, mit der sich die neue Physik Galileis und Newtons befasst; aus phy23  So definiert etwa Ulpianus: „Das natürliche Recht ist das, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat. […]. Von da stammt die Verbindung von Mann und Frau ab, die wir Ehe nennen, von da die Erzeugung von Kindern, von da deren Aufzucht.“ (Digesta (Anm. 20), 1.1.1.3: „Ius naturale est quod natura omnia animalia docuit […]. Hinc descendit maris atque feminae coniunctio, quam nos matrimonium appellamus, hinc liberorum procreatio, hinc educatio.“).



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sikalischen Sachverhalten werden sich schwerlich moralische bzw. juristische Normen ableiten lassen. Das könnte somit allenfalls die ‚Natur des Menschen‘ sein, was immer das sein mag. Aber selbst, wenn man über eine solche zuverlässiges Wissen hätte, würden aus deskriptiven Aussagen niemals präskriptive folgen.24 Mit anderen Worten: Jede Konzeption eines ‚Naturrechts‘ läuft auf eine uneingestandene Erschleichung einer Normenlegitimation hinaus; jede – wie auch immer verstandene – ‚Natur‘ kann nur dann eine juristische Ordnung gewährleisten, wenn hinter ihr ein – sei er christlich oder deistisch oder was auch immer – ‚Gott‘ steht, der dieses Normensystem in die ‚Natur‘ hineingelegt hätte und dessen Einhaltung verlangt.25 Nun sind die Naturrechtler in dieser Frage gespalten; der erste und vielleicht wichtigste in meinem Korpus und Zeitraum, Hugo Grotius, setzt in seinem De iure belli ac pacis (1625), einem verdienstlichen Versuch eines Völkerrechts: Aber auch das, wovon wir handeln, nämlich das natürliche Recht oder das gesellschaftliche oder was ungenau so genannt wird, kann dennoch zurecht Gott zugeschrieben werden, selbst wenn es aus inneren Prinzipien des Menschen hervorgeht, weil Gott selbst gewollt hat, dass solche Prinzipien in uns existieren.26

Rekurriert wird hier auf eine (‚gottgegebene‘) ‚Natur des Menschen‘, und jene „inneren Prinzipien“, aus denen jenes Recht erschlossen wird, müssen also jedem Menschen, welcher Kultur auch immer, qua ‚Vernunft‘ zugänglich sein. Damit klar ist, dass der Geltungsbereich dieses Rechts nicht auf jene beschränkt ist, die einen solchen Gott annehmen, was einem Anspruch auf internationale Verbindlichkeit nicht eben förderlich wäre, postuliert Grotius an anderer Stelle: … diese Dinge freilich, die wir bislang gesagt haben, würden auch gelten, selbst wenn wir annehmen würden, was ohne höchstes Verbrechen [sic!] nicht angenommen werden kann: dass es keinen Gott gäbe oder dass die menschlichen Geschäfte nicht von ihm besorgt würden.27

Analog wird sich Christian Wolff in Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen (1720) äußern: 24  Jedes (heutige) Handbuch der deontischen Logik belehrt uns zutreffend, dass normative Aussagen nur aus anderen normativen Aussagen, nicht aber aus deskriptiven, abgeleitet werden können. 25  Weshalb denn auch, wenn ich recht sehe, heute nur noch allenfalls die katholische Kirche die Existenz eines solchen Naturrechts annimmt. 26  „Sed & illud ipsum de quo egimus naturale ius sive illud sociale, sive quod laxius ita dicitur, quamquam ex principiis homini internis profluit, Deo tamen merito adscribi potest, quia ut talia principia in nobis existerent ipse voluit.“ (z. A. S. IX). 27  „haec quidem, quae jam diximus, locum aliquem haberent, etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum aut non curari ab eo negotia humana.“ (z. A., Buch II, cap. 3, § 19).

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Weil diese Regel wegen der Verbindlichkeit ein Gesetz wird: die Verbindlichkeit aber von der Natur kommt, so ist das Gesetz der Natur durch die Natur festgestellet worden, und findet statt, auch wenn gleich der Mensch keinen Obern hätte, der ihn dazu verbinden könnte, ja es würde stattfinden, wenn auch gleich kein Gott wäre.28

Ähnlich argumentieren auch Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (1734). Welche Normen werden nun in Konzeptionen von ‚Naturrecht‘ durch Juristen als ‚natürlich‘ ausgegeben? Die drei einschlägigen Texte in meinem Korpus – Pufendorfs De officiis Hominis et Civis Juxta Legem Naturalem, 1673, Heineccius‘ Elementa Ivris Natvrae et Gentium, 1738, Achenwalls und Pütters Elementa Ivris Natvrae, 1750 – können wohl als hinreichend repräsentativ gelten,29 zumal auch von der Philosophie herkommende ‚Naturrechts‘-Theoretiker wie eben Wolff und Gottsched in etwa dieselben Normen vertreten. Pufendorfs Text, meines Erachtens – die Rechtshistoriker mögen mir verzeihen – der argumentativ schwächste und ideologisch reaktionärste der drei, soll zugleich der erfolgreichste, der nicht nur in Europa, sondern auch Nordamerika verbreitetste gewesen sein.30 Bei allen drei Autoren gilt, dass das ‚Naturrecht‘ ein Normensystem sei, das der Mensch – jeder Mensch, welcher Kultur, Religion, etc. auch immer – dank seiner Vernunft als verbindlich zu erkennen vermöge (wenn auch bei Pufendorf nur teilweise: diesen Vorbehalt benötigt er wohl zur Rettung der Notwendigkeit einer „Offenbarung“, die sonst überflüssig würde). Bei Pufendorf ist dieses Recht eindeutig durch einen Gott gesetzt, der wiederum eindeutig der christliche ist; Letzeres ist bei seinen Nachfolgern Heineccius und Achenwall / Pütter nicht evident, und zumindest bei Wolff und Gottsched handelt es sich sicher um den deistischen Gott bzw. einen christlichen, der sich so transformiert hat, dass er von einem deistischen nicht mehr eindeutig unterschieden werden kann. „Da es ohne Religion kein Gewissen gäbe“31 [siehe dazu oben unter 2.!], verlangt Pufendorfs ‚Naturrecht‘ denn auch die Bestrafung von „Gottlosigkeit“.32 Sein ‚Naturrecht‘ gliedert sich in die „Pflicht 28  Op.

cit., § 10. diese Texte rechtsgeschichtlich – nach dem Votum ihrer Herausgeber – relevant sind, kann ich natürlich nicht beurteilen; auch ihre Unterschiede sind in meinem Argumentationszusammenhang nur begrenzt relevant. Formal auffällig sind nur Achenwall / Pütter 1750, weil sie sich um definitorische Begriffsfestlegungen und logische Systematik bemühen. 30  So der Herausgeber der hier verwendeten Ausgabe von Pufendorfs Text, Klaus Luig: z. A., S. 231. 31  Pufendorf z. A., S. 57. 32  Im Gegensatz zu Grotius, Wolff, usw. behauptet Pufendorf denn auch: „Wenn auch der Nutzen dieser Gebote offensichtlich ist, so ist doch für ihre Geltung als Gesetz notwendige Voraussetzung, daß es einen Gott gibt […]“ (z. A., S. 48). 29  Warum



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gegen Gott“, die „Pflicht gegen sich“ und die „Pflicht aller gegen alle“. Pufendorf projiziert nun einfach die moralischen, familiären, sozialen, politischen Vorstellungen des Christentums seiner Zeit auf die angebliche ‚Natur‘, womit sie unangreifbar würden und eben auch Nicht-Christen aufgezwungen werden können; Heineccius und Achenwall / Pütter setzen das mit einigen Abmilderungen m. E. im wesentlichen nur fort. Einige Beispiele mögen ausreichen. Selbstverständlich kann hier der Mensch nicht einmal über sein eigenes Leben autonom entscheiden: ‚Suizid‘ ist – in christlicher Tradition, der gemäß nur Gott über das Leben zu befinden hat – strikt verboten. Besonders auffällig christlich geraten ist das System der Sexualnormen. Sexualität ist selbstverständlich nur in der Ehe und nur zum Zwecke der Prokreation zulässig, alle nicht der Vermehrung dienenden erotischen Praktiken sind somit sträflich; die Ehe dient nicht der Lust, sondern der Vermehrung und Erziehung; sie hat selbstverständlich lebenslänglich zu sein,33 selbst wenn dieser Ehezweck längst erfüllt ist; die Frau ist dem Manne drastisch untergeordnet, die Kinder sind der „väterlichen Gewalt“ unterworfen und bedürfen zu ihrer eigenen Eheschließung der Zustimmung des Vaters. Von der Frau wird Monogamie gefordert, vom Manne nicht unbedingt. Selbstverständlich übernimmt man auch die Inzest-Verbote (obwohl man damit – wie freilich auch die Theologie – in ein Problem mit der biblischen Genesis gerät, derzufolge die Menschheit sich zunächst munter per Inzest fortgepflanzt hätte34). Dieses ‚Naturrecht‘ legitimiert auch Sklaverei, die im übrigen sogar als erblich gedacht wird, also auch für die Kinder von „Sklav(inn)en“ gilt; auch die christliche Theologie hatte ja gegen Sklaverei nichts einzuwenden;35 das wird auch noch z. B. für Achenwall / Pütter oder Gottsched gelten. Dem ungeschriebenen ‚Naturrecht‘ steht nun natürlich das ‚positive Recht‘ gegenüber, das in einem Staatsgebilde erlassen wird. Wo meinem Eindruck nach Samuel Pufendorf dazu tendieren würde, das ‚Naturrecht‘, also eine letztlich christliche ‚Moral‘, möglichst unverändert in ‚positives Recht‘ zu überführen, scheinen beide bei Achenwall / Pütter nicht mehr notwendig in allen Punkten identisch sein zu müssen. Ersteres soll jedenfalls immer und überall gelten, letzteres gilt nur räumlich und zeitlich befristet. Damit sind wir nun bei den Fragen nach der ‚naturrechtlichen‘ Legitimation von Staatsentstehung, Staatsform, Staatszweck angelangt: diese aber werden 33  Während etwa Heineccius immerhin für den Fall der Unvereinbarkeit der Partner, wenn auch eher unwillig, die Scheidung erlaubt (z. A., S. 352). 34  Heineccius thematisiert das (z. A., S. 345 f.). 35  Paulus verlangt in 1 Kor 7,20, jeder habe in seinem „Stand“ zu bleiben; in Kol 3,22 heißt es: „servi oboedite per omnia dominis carnalibus“ („Sklaven, gehorcht in allem euren fleischlichen Herren“); analog in 1 Tim 6,1; so auch Petrus in 1 Petr 2,18.

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im 17. und 18. Jahrhundert vom Konstrukt eines vorgesellschaftlichen, vorstaatlichen ‚Naturzustandes‘ des Menschen aus gedacht: einem Zustand vor allen sozialen, politischen, juristischen Zwängen, in dem der Mensch nur genau das wäre, was er ‚von Natur aus‘ ist; in den Annahmen darüber differieren die Theoretiker freilich radikal. Aber beginnen wir zunächst mit der Frage nach dem Realitätsstatus, den man dem ‚Naturzustand‘ zuschreibt, und auch hierin differieren die Theoretiker: hat ein solcher ‚Naturzustand‘ jemals irgendwo wirklich existiert oder ist er nur eine nützliche Fiktion, um staatsrechtliche Annahmen rational begründen zu können? Einen Pufendorf z. B. zwingt sein christlicher Glaube zu einiger intellektueller Verrenkung, da ein ‚Naturzustand‘ in der Bibel benannten Textsammlung nicht vorgesehen ist: So wird z. B. im Naturrecht das Bild von der Lage, in der sich der erste Mensch befand, als er in die Welt gesetzt wurde, unter Absehung von der Kenntnis, die aus der Heiligen Schrift geschöpft wird, so gezeichnet, wie es die bloße Vernunft begreifen kann. Dieses Bild dem entgegen zu halten, was in der Heiligen Schrift über die Lage des ersten Menschen überliefert wird, wäre übelste Böswilligkeit.36

Selbst bei ihm sind also seine Bibel-Gläubigkeit und sein Anspruch auf Rationalität offenkundig nicht mehr wirklich vereinbar, während andere Theoretiker einen ‚Naturzustand‘ ohne Rücksicht auf die Bibel annehmen. In Pufendorfs Konzeption des ‚Naturzustands“ jedenfalls gilt das ‚Naturrecht‘ auch schon im ‚Naturzustand‘, auch wenn sich der Mensch nicht daran hält, weil er zum ‚Bösen‘ neigt. Deshalb, und weil der Mensch als einzelner schwach ist, folglich der Unterstützung anderer bedarf, schließe man sich zwecks Selbsterhaltung zu staatlichen Gebilden zusammen: zum „Schutz gegen das Böse […], was dem Menschen vom Menschen droht“.37 Auch bei Heineccius ist der hauptsächliche Staatszweck die Sicherheit und die Selbsterhaltung jedes Einzelnen: die Gegenwehr gegen „die Gewalt der Bösen“;38 erst bei Achenwall / Pütter gibt es zudem einen positiven Staatszweck, den der Erhaltung oder gar der Vermehrung der „Vollkommenheit“ des Menschen39 – und das ist nun eine für die Aufklärung typische Konzeption. Den ‚Naturzustand‘ verlässt man in den Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts durch einen expliziten oder impliziten ‚Vertrag‘ zwischen zunächst freien und gleichberechtigten, abstimmungsberechtigten Individuen, und das sind nur die männlichen „Familienoberhäupter“; denn die „Familie“ setzt 36  Pufendorf

z. A., S. 14. z. A., S. 161. 38  Heineccius z. A., S. 394. 39  Achenwall / Pütter z. A., S. 210: „Omnium hominum idem finis, conservare et augere perfectiones suas.“ 37  Pufendorf



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man immer als angeblich selbstverständliche, ‚natur‘- bzw. ‚gottgewollte‘, auch im ‚Naturzustand‘ schon gegebene, in sich hierarchische, soziale Organisationsform voraus. Das Konstrukt eines solchen ‚Vertrags‘ hat, wie Achenwall / Pütter erläutern, zwei Komponenten: zum einen die Einigung auf einen wie auch immer gearteten Zusammenschluss der Mitglieder der Gruppe („pactum unionis“), zum anderen die Einigung auf einen der denkbaren Staatstypen, also auf die Art der Herrschaftsinstanz („pactum subiectionis“).40 Was die möglichen Formen von Herrschaft anlangt, übernehmen die Theoretiker die Klassifikation des Aristoteles, der bekanntlich ‚Monarchie, ‚Aristokratie‘, ‚Demokratie‘ (und deren jeweilige negative Entartungsform) unterschied. Auch bei Pufendorf gibt es zwar theoretisch alle drei Alternativen, aber aus seien weiteren Ausführungen wird überdeutlich, dass er eigentlich nur an die Staatsform einer absolutistischen Monarchie denkt, bei der einem „Herrscher“, einer „Obrigkeit“, nicht „Bürger“, sondern „Untertanen“ gegenüber stehen, die, ist der Pakt einmal geschlossen, keine Rechte mehr gegen einen nur ‚Gott‘ verantwortlichen Herrscher haben, wie auch Heineccius betont. Dieser Herrscher erlässt nun das ‚positive Recht‘, an das er selbst aber nicht gebunden ist, da er es verändern kann; nicht verändern kann er nur das ‚Naturrecht‘ oder – so Achenwall / Pütter – ein eventuell beim ‚Vertrag‘ ausgehandeltes „Grundgesetz“ („lex fundamentalis“). Seine Rechtsetzung hat dem „Gemeinwohl“ („salus publica“) zu dienen, das aber nicht näher präzisiert wird. Die von den europäischen Fürsten in Anspruch genommene Erblichkeit der Herrschaft stellt für diese Theoretiker offenkundig kein Problem dar: das einmal eingegangene „pactum subiectionis“ verpflichtet offenbar alle Nachkommen, ohne dass diesen das Recht zugestanden würde, den ‚Vertrag‘ ihrer Vorfahren aufzukündigen. Wenn der ‚Monarch‘ zum ‚Tyrannen‘ entartet, hat man das als ‚gottgewollt‘ mit Fassung zu ertragen; einzig im späten Text Achenwalls und Pütters kündigt sich eine Modernisierung an: ein Widerstandsrecht, das sich auch der Gewalt bedienen darf,41 während etwa Heineccius auch in diesem Falle heftig gegen jede Auflehnung und die (oben erwähnten) ‚Monarchomachen‘ polemisiert. Generell wird man sagen müssen, dass solches angebliche ‚Naturrecht‘ nur die sozialen, theologisch begründeten Normen der eigenen Gesellschaft als ‚natürliche‘ ausgibt, und dass dieses ‚Naturrecht‘ nur „Pflichten“ des Menschen, aber keine „Rechte“ kennt, abgesehen von dem Recht auf Selbstverteidigung gegen Angreifer.

40  Achenwall / Pütter

z. A., S. 210. z. A., S. 262: Im Falle der Tyrannei gilt: „iure populus in hostem utitur, suamque quovis modo contra tyrannum securitatem obtinere studet.“ 41  Achenwall / Pütter

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2. Die radikalen Varianten Einer der wichtigsten und folgenreichsten Autoren – mit dem sich explizit oder implizit alle bisher erwähnten juristischen und philosophischen ‚Naturrechts‘-Theoretiker auseinander gesetzt haben – war zweifellos Thomas Hobbes mit seinem Leviathan (engl. 1651; lat. 1668), einem in vieler Hinsicht damals ungemein provokanten Text. Aus diesem komplexen Werk greife ich wiederum nur einige wenige, für meine Fragestellungen relevante Aspekte heraus. Hobbes beginnt die rechts- und moraltheoretischen Ausführungen mit seiner bekannt radikalen Konzeption des ‚Naturzustandes‘. Wie zwar auch in anderen solchen Konzeptionen sind in diesem Zustand alle Menschen frei und gleich,42 aber mit anderen Konsequenzen. Auch hier ist das Ziel hauptsächlich die Selbsterhaltung („their owne conservation“), aber manchmal auch nur ihr Vergnügen („their delectation“); aus den ‚Leidenschaften‘ resultiert nun aber, … that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that condition which is called Warre; and such a warre, as is of every man against every man.43 [… dass während der Zeit, in der Menschen ohne eine übergeordnete Macht leben, die sie alle in Furcht erhält, sie sich in einem Zustand befinden, den man Krieg nennt; und zwar ein Krieg eines jeden gegen jeden.]

Wo Pufendorfs Pessimismus bezüglich des ‚Naturzustands‘ wohl aus seiner christlichen Anthropologie resultiert, scheint der von Hobbes eher deskriptiv auf den Erfahrungen der politischen Geschichte und des Bürgerkriegs begründet. Aber wirklich provokant wird Hobbes‘ Abkehr vom theologisch geprägten Denken, wenn er setzt, weder die Begierden und sonstigen Leidenschaften des Menschen noch die daraus resultierenden Handlungen seien „Sünden“, solange es kein „Gesetz“ gibt, dass sie verbietet:44 Gesetze wird es aber erst im staatlichen Zustand geben, und sie werden vom politischen Souverän („Soveraign“) erlassen. Die Quelle des Rechts ist hier also eine rein menschliche, die sich weder auf ‚göttliches Recht‘ beruft noch ein solches verwirklicht: in meinem Korpus eine erste und radikale Abkoppelung des Rechts von der Theologie. Das Gesetz kann denn auch nicht der Erlangung der „ewigen Seligkeit nach dem Tode“ dienen, sondern nur der Erhaltung des Lebens, und man kann den ‚Vertrag‘ auch nicht aus religiösen Motiven aufkündigen:45 42  Hobbes

z. A., z. B. S. 79: „all men are equal“. z. A., S. 64; in der lateinischen Fassung wird dann daraus der bekannte „bellum omnium contra omnes“. 44  Hobbes z. A., S. 65. 45  Wie dies jeweils religiöse Gruppen in den Bürgerkriegen in England und Frankreich für sich in Anspruch genommen haben. 43  Hobbes



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit105 Denn da es keine natürliche Kenntnis vom Zustand des Menschen nach dem Tode gibt, noch weniger von einer Belohnung des Treubruchs dort, sondern nur einen Glauben, der darauf gegründet ist, dass andere Menschen sagen, sie wüssten es auf übernatürliche Weise, oder dass sie solche kennen, die Leute kannten, die andere kannten, die es auf übernatürliche Weise gewusst hätten, kann Treubruch daher keine Vorschrift der Vernunft oder der Natur genannt werden.46

Solcher Hohn auf ‚Offenbarungen‘ und folglich auf Theologie dürfte bei Pufendorf und seinen Anhängern Entsetzen ausgelöst haben. Der ‚Naturzustand‘ ist also frei von Normen; in ihm darf jeder tun, was ihm beliebt und wozu seine Macht aufgrund seiner Fähigkeiten ausreicht. Dennoch kennt Hobbes ein ‚Naturrecht‘, das aber weder durch einen Gott noch eine Natur begründet wird, sondern nunmehr tatsächlich einzig und allein aus der Vernunft, wenn auch nicht als ein ihr irgendwie und irgendwo vorgegebenes Normensystem, sondern als brauchbare Verhaltensregeln aus rein praktischen, sozusagen egoistischen Erwägungen. Denn der Mensch wolle einerseits Todesgefahr durch andere von sich abwenden, andererseits ungestört seinen Antrieben nachgehen und sein Ziele verwirklichen; es geht demnach nur um „Friedensartikel“ („Articles of Peace“). Sofern der Mensch diesen „Frieden“ nicht erlangen kann, hat er das Recht, sich auf jede Weise zu verteidigen. Diese „Friedensartikel“ bestünden nun darin, „mit so viel Freiheit gegenüber anderen zufrieden zu sein, als man anderen gegenüber sich selbst erlauben würde“,47 was auch das „Gesetz aller Menschen“ sei: „das, von dem du nicht willst, dass es dir geschehe, sollst du auch keinem anderen tun“.48 Im ‚Vertrag‘ nun findet eine Übertragung aller Rechte des Ausgangszustands auf den Souverän statt, dessen Rolle wiederum sowohl monarchisch als aristokratisch als demokratisch besetzt sein kann. Seine Macht wird als absolute gedacht: Er gibt nach Gutdünken Gesetze, die im Idealfalle dem dienen, was er als „Gemeinwohl“ („Common-wealth“) erachtet; er selbst ist den Gesetzen nicht unterworfen. Er hat auch das Recht, den „Untertanen“ eine Religion zu verordnen, deren öffentliche Ausübung – sei diese Reli­gion nun „wahr“ oder „falsch“, worüber der „Untertan“ nicht zu urteilen habe – dann für alle verbindlich ist; was der „Untertan“ tatsächlich glaubt, ist ihm 46  Hobbes z.  A., S. 76: „But because there is no naturall knowledge of mans estate after death; much lesse of the reward that is then to be given to breach of Faith; but only a beliefe grounded upon other mens saying, that they know it supernaturally, or that they know those, that knew them, that knew others, that knew it supernaturally: Breach of Faith cannot be called a Precept of Reason, or Nature.“ 47  Hobbes z. A., S. 67: „… be contented with so much liberty against other men, as he would allow other men against himselfe.“ 48  Hobbes z. A., S. 67: „that Law of all men, Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris“ (die sogenannte „goldene Regel“ schon der vorchristlichen Antike).

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überlassen; Religionsausübung ist hier zur beliebigen politischen Konvention geworden.49 Aus Hobbes‘ Überlegungen zum staatlichen Recht sei hier nur noch ein Punkt hervorgehoben; er greift auf einen römischen Rechtsgrundsatz zurück:50 Whatsoever is done to a man, conformable to his own Will signified to the doer, is no Injury to him.51 [Was immer einem Mann / Menschen getan wird, ist, wenn es gemäß seinem eigenen, dem Täter mitgeteilten Willen geschieht, kein Unrecht gegen ihn.]

Eine solche – an sich wiederum sehr einleuchtende – Regel aber ist gänzlich unvereinbar mit der christlichen Moral; sie würde z. B. die Beihilfe zum Suizid legitimieren, und beide Akte sind christlich streng verboten. Aber auch ein zweiter der großen Intellektuellen des 17. Jahrhunderts hat ähnlich radikal die traditionellen Konzeptionen von ‚Naturzustand‘ und ‚Naturrecht‘ revidiert. Beide fallen in Spinozas unvollendetem Tractatus politicus (1677) quasi zusammen und werden gänzlich entmoralisiert. Auch hier gilt, der Mensch strebe ‚von Natur aus‘ primär nach Selbsterhaltung: Woraus folgt, dass das Recht und die Regel der Natur, unter denen alle Menschen geboren werden und die meiste Zeit leben, nichts untersagen außer dem, was zu tun niemand die Lust verspürt oder die Macht hat. Diese Gesetze stehen weder dem Kampf noch dem Hass noch der Wut noch dem Betrug noch überhaupt etwas entgegen, was das Gelüst anrät.52

Das hieße: die Natur erlaubt alles; diese Radikalisierung erklärt sich, scheint mir, wenn man annimmt, dass Spinoza von ‚natürliche Gesetzen‘ (der Moral im tradierten Sinne) verlangt, dass sie ‚Naturgesetze‘ (im Sinne der neuen Naturwissenschaft) seien: also Gesetze, die keine Ausnahme kennen und den Objekten oder Subjekten, die ihnen unterworfen sind, keine Freiheit, keine Wahl zwischen Alternativen, lassen (während gegen ‚moralische‘ und ‚juristische‘ Normen verstoßen werden kann). Konsequent zieht er denn auch den (antichristlichen) Schluss: 49  Hobbes

z. A., S. 270. in den Digesten (Anm. 20), 47.10.1.5: „nulla iniuria est quae in volentem fit.“ In meinem Zeitraum gern in der Kurzform „volenti non fit iniuria“ zitiert. 51  Hobbes z. A., S. 77. 52  Spinoza z.  A., S. 18. Der lat. Text findet sich im Artikel Natur=Gesetze in Zedlers Universal Lexicon, Bd. 23, Sp. 1087: „Ex quibus sequitur, jus & institutum naturae, sub quo omnes nascuntur homines, & maxime ex parte vivunt, nihil, nisi quod nemo cupit, & nemo potest prohibere: non contentiones, non odia, non iram, non dolos, nec absolute aliquid, quod appetitus suadet, adversari.“ 50  Ulpianus,



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit107 […] im Zustand der Natur gibt es keine Sünde, oder, sofern es eine gibt, nur eine solche gegen sich und nicht gegen andere […]. […] und nichts ist gut oder schlecht für den Menschen außer dem, von dem er infolge seiner eigenen Verfassung entscheidet, es sei ein Gut oder ein Übel. Und das Naturrecht untersagt absolut nichts außer dem, was nicht in der Macht der Person liegt. […]. Die Sünde kann folglich nur in einem Staat gedacht werden, d. h. wenn infolge des Befehlsrechts, das der Gesellschaft zusteht, entschieden worden ist, welche Sache gut ist, welche schlecht […].53

Damit ist zum einen das ‚Naturecht‘ als inexistent erklärt und zum anderen sind alle Normen nurmehr arbiträre Produkte des Menschen. Auch Spinozas Ethica (1677) bestätigt diese Position: „Überhaupt ist nach dem höchsten Naturrecht jedem erlaubt, das zu tun, was ihm nach seiner Meinung, zum Vorteil gereicht.“54 Und für die Gesetzgebung gelte: Quae ad hominum communem Societatem conducunt, sive quae efficient, ut ­homines concorditer vivant, utilia sunt; & illa contra mala, quae discordiam in Civitatem inducunt. [Was zur gemeinsamen Gesellschaft der Menschen führt, oder was bewirkt, daß die Menschen in Eintracht leben, ist nützlich, dagegen ist das schlecht, was Zwietracht in den Staat bringt.]55

Normsetzung ist hier eine rein innermenschliche Angelegenheit und ‚so­ ziale Nützlichkeit‘ hier der neue Wert und das Kriterium sinnvoller Legislative. Die Moral, die die Ethica entwickelt, scheint demselben Kriterium der Nützlichkeit, diesmal für die Optimierung des Zustandes des Individuums, zu folgen, und sie ist beileibe nicht hedonistisch. Der Tractatus politicus bricht nach der Erörterung der Staatsformen der Monarchie und der Aristokratie ab. Aber Spinozas Tractatus theologicopoliticus (1670) informiert uns, Staatszweck sei nicht die Unterwerfung, sondern die Freiheit:56 zwecks Entfaltung aller Kräfte des Individuums und also seiner unbehinderte Entwicklung, sofern sie „ohne Schaden für sich und andere“ („absque suo et alterius damno“) möglich ist. Kriterium nor­ mativer Verbote ist hier also nurmehr die Verhütung von Schädigung, und dieses Kriterium wird in der weiteren Geschichte der Rechtskonzeptionen eine wesentliche Rolle spielen. Die hier als notwendig geforderte Freiheit ist aber laut Spinoza am besten in einer Demokratie verwirklicht; denn die „demokratische Regierung“ komme „dem Naturzustand am nächsten“57 – 53  Spinoza

z. A., S. 22. z. A., S. 598: „& absolute id unicuique summo naturae iure facere licet quod ad ipsius utilitatem conferre iudicat.“ (= pars IV, appendix, caput VIII). 55  Spinoza z. A., S. 526 f. (= pars IV, propositio 40). 56  Spinoza z. A., S. 604: „Finis ergo reipublicae revera libertas est.“ 57  Spinoza z. A., S. 616 bzw. 617: „In imperio enim democratico (quod maxime ad statum naturalem accredit) …“ 54  Spinoza

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und in meinem Korpus ist er der erste, der diese Präferenz artikuliert. Dass er zudem postuliert, zum optimalen Staat gehöre auch die Freiheit des Denkens und des Redens,58 folglich auch die – bei ihm im Gegensatz zu Locke uneingeschränkte – Religionsfreiheit, ist in dieser Zeit ebenfalls eine absolut minoritäre Position. Wo Hobbes ‚Naturzustand‘ und ‚Naturrecht‘ von der Theologie befreit, hat Spinoza, hier noch radikaler, das ‚Naturrecht‘ ganz getilgt, das Hobbes zumindest als pragmatische Verhaltensempfehlung bestehen ließ. Solche Positionen finden zunächst Zustimmung nur in antireligiösen Texten wie z. B. dem bedeutenden Manuskript Cymbalum mundi (nach 1692), einem Text, der atheistisch die Götter aller seinerzeit bekannten Religionen als evident unsinnig negiert und sich gegenüber hypothetisch denkbaren, würdigeren Gottesvorstellungen agnostizistisch verhält. Im vierten Teil des Werkes äußert sich der Autor „ex doctrina Hobbesii“ § 12. Aus all diesem ist daher zurecht zu schließen, dass die den Menschen angeborene Freiheit durch kein Gesetz, sei es von Gott, sei es von der Natur, begrenzt wird, weil nichts von Natur aus gut oder böse ist, und Verbrechen erst mit der Gesellschaft und somit [erst] durch Verträge existieren.59

Konservative Moral- bzw. Rechtstheoretiker werden hingegen an einem ‚gottgewollten Naturrecht‘ festhalten und heftig gegen Hobbes und Spinoza polemisieren, so etwa der Autor des Artikel Naturrecht in Zedlers Universal Lexikon.60 Am Ende des Artikels gibt er folgende Erklärung des Gesetzes der Natur: es ist dasjenige Göttliche Gesetz, welches alle Menschen zu solchen Handlungen, die eine Verknüpfung mit der menschlichen Natur haben, verbindet und aus deren Beschaffenheit und Endzweck durch die Vernunfft erkannt wird, daß dadurch ihre Glückseligkeit möge befördert werden.61

Da er in dieses ‚Recht‘ auch die „Pflichten gegen Gott“ aufgenommen hat, kommt es zu einem hübschen Widerspruch, wenn er behauptet, dieses ‚Recht‘ verpflichte auch Atheisten … Einer Erläuterung bedarf wohl sein Begriff der „Glückseligkeit“: In allen traditionellen Texten ist damit nicht gemeint, was Aufklärer als Anspruch des Menschen auf „Glück“ einfordern werden, sondern allenfalls eine klag58  Spinoza z. A., S. 620: „caeterum unicuique et sentire, quae velit, et quae sentiat, dicere concedatur.“ 59  Cymbalum mundi z. A., S. 276: „§ 12. Ex quibus omnibus proinde merito concludendum est libertatem hominibus connatam nulla lege sive a Deo sive a natura restrictam esse, proinde natura nihil esse bonum vel malum, ac crimina ex societate demum adeoque ex pactis originem trahere.“ 60  Bd. 23, 1740, Sp. 1086–1098. 61  Ebd. Sp. 1098.



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lose Ergebung in den gegebenen Zustand ohne Veränderungswunsch bzw. -hoffnung – ob eine postmortale „Glückseligkeit“ im christlichen „Jenseits“ mitgemeint ist, lässt der Text offen. Werfen wir zum Vergleich einen Blick auf den Artikel Droit naturel in Diderots und d’Alemberts Encyclopédie (ab 1751 erscheinend, hier Bd. V, 1755), verfasst von keinem Geringeren als Diderot selbst: und wir befinden uns in einer anderen Welt. An keiner Stelle diskutiert Diderot religiöse bzw. theologische Postulate, und es sind auch nicht theoretische Annahmen über die ‚menschliche Natur‘, aus denen hier ‚Recht‘ abgeleitet wird: Wenn wir aber dem Individuum das Recht nehmen, darüber zu entscheiden, was das Wesen des Gerechten und des Ungerechten ist, zu welcher Instanz sollen wir dann diese große Frage tragen? wohin? vor das menschliche Geschlecht; allein ihm steht es zu, zu entscheiden; denn das Wohl aller ist die einzige Leidenschaft, die es hat. Der Wille aller Einzelnen ist verdächtig; er kann gut oder böse sein, aber der allgemeine Wille [= ‚volonté générale‘] ist immer gut: Er hat nie getäuscht, er wird nie täuschen.62

Die Basis des ‚Naturrechts‘ wird hier in einem deskriptiven Vergleich der Normensysteme aller Kulturen ermittelt: quasi durch die Abstimmung aller Menschen, ohne dass eine metaphysische Instanz bemüht würde. Durch den Rekurs auf die ‚volonté générale‘ aller Menschen versucht Diderot zu verhindern, dass jedes Individuum bzw. jede Kultur für sich ein eigenes Normensystem setzt; hier wird noch einmal ein universalistischer Anspruch vertreten (den Diderot später anderenorts selbst in Frage stellen wird: z. B. in seinem Supplément au voyage de Bougainville, Ms. 1772, Druck 1796). Signifikant ist auch, dass es um die Opposition ‚gerecht vs. ungerecht‘, nicht um ‚gut vs. böse‘ geht: nicht um moralische Bewertung eines Verhaltens an sich, sondern um die Bewertung seiner Relation zum Wohl der anderen; denn alle wollen „glücklich“ sein,63 und dieses „Glück“ ist nicht mehr die „Glückseligkeit“ aus Zedlers Lexikon (dazu später). Was den Inhalt dieses radikal transformierten ‚Naturrechts‘ anlangt, rekurriert auch Diderot auf einen römischen Rechtsgrundsatz: Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique ­tribuere.64 62  Diderot / d’Alembert z. A.: „Mais si nos ôtons à l’individu le droit de décider de la nature du juste & et de l’injuste, où porterons-nous cette grande question? où? devant le genre humain: c’est à lui seul qu’il appartient de la décider, parce que le bien de tous est la seule passion qu’il ait. Les volontés particulières sont suspectes; elles peuvent être bonnes ou méchantes, mais la volonté générale est toujours bonne: elle n’a jamais trompé, elle ne trompera jamais.“ Texte aus der Encyclopédie werden auch im Folgenden immer zitiert nach: http: /  / gallica.bnf.fr / ark: / 12148 / bpt6k5785794x /  f9.image.r=encyclop %C3 %A9die %20ou %20dictionnaire.langFR. 63  Z. A. [wie Anm. 62]: „Nous voulons être heureux.“ 64  Z. A.: So Ulpianus, Digesten (Anm. 20), 47.10.1.5.

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[Die Vorschriften des Rechts sind die folgenden: ehrenhaft leben, den Anderen nicht beschädigen, jedem das Seine zugestehen.] Les préceptes du droit se trouvent tous renfermés dans ces trois points: vivre honnêtement, ne point offenser personne, & rendre à chacun ce qui lui appartient.65 [Die Vorschriften des Rechts sind in diesen drei Punkten beschlossen: anständig leben, niemanden schädigen, und jedem geben, was ihm gehört.]

Dieses antike Postulat wird im 17. und 18. Jahrhundert oft zitiert, und kann ebenso von extrem konservativen wie extrem progressiven Positionen zitiert werden: Die Regel hat den doppelten Vorteil, zum einen spontan einzuleuchten, aber zum anderen äußerst verschiedene inhaltliche Interpretationen zuzulassen – wie Kants „kategorischer Imperativ“. Auch der erste nachweisbare deutsche Atheist, Matthias Knutzen, beruft sich in seiner Flugschrift Amicus Amicis Amica („Der Freund den Freunden Freundschaftliches“) von 1675 auf diese Regel;66 der ansonsten theoretisch eher unbedeutende Autor ist hier interessant, weil er behauptet, es gäbe eine Sekte der nicht nur un-, sondern sogar antichristlichen „Gewissener“; diese aber würden einem, ihnen „von der gütigen Mutter Natur“ verabreichten „Gewissen“ folgen, ohne dass es eines Gottes bedürfe.67 Ein ‚Gewissen‘ – und das wäre neu – hat man hier auch ohne Religion, was auf eine Abkoppelung der Moral von der Religion hinausliefe (auch dazu später): das ‚Gewissen‘ wird schon einmal versuchshalber autonom. Doch noch einmal zurück zu Diderots Artikel; eine zentrale Uminterpretation des Begriffs ‚Naturrecht‘ muss hervorgehoben werden – es heißt da: Je suis homme, & je n’ai d’autres droits naturels inaliénables que ceux de l’humanité. [Ich bin Mensch, und ich habe keine anderen unveräußerlichen natürlichen Rechte als die der Menschheit.]

Wo das traditionelle ‚Naturrecht‘ unter ‚Recht‘ eben fast nur Pflichten verstand, ist hier eindeutig von Rechten die Rede, die die Menschheit habe, und diese sind unveräußerlich: Wir sind auf dem Weg zu dem neuen Konzept allgemeiner Menschenrechte, das im 18. Jahrhundert artikuliert werden wird. Mit Diderots Text sind wir jedenfalls in der ‚Aufklärung‘, während der Zedler-Artikel eher noch dem ‚Rationalismus‘ angehört.

Diderot z. A. [wie Anm. 62]. [wie Anm. 62], S. 38: „neminem laedere, honestè vivere, & suum cuique tribuere.“ 67  Vgl. dazu auch Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens (Anm. 15), S. 106. 65  So

66  Z. A.



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IV. „Was ist Aufklärung?“ Bisweilen muss man zitieren, was zu zitieren man sich scheut: weil man annehmen darf, dass jedermann es kennt – in unserem Falle also Immanuel Kants zu recht berühmte Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in der Berlinischen Monatsschrift von 1783. In der Tat geht es – nach der „Vorarbeit“ des Rationalismus – in der Aufklärung, wie Kant ausführt, um die Emanzipation des Menschen gegenüber allen autoritativen Ansprüchen: um das Ziel einer Autonomie, in der die letzte Instanz für alle Fragen nach Wahrheit oder Verbindlichkeit von Propositionen die menschliche Vernunft wäre, folglich Berufungen auf ‚heilige Texte‘ oder deren Exegesen durch die Theologie(n) irrelevant werden. Zu recht betont er, „Aufklärung“ sei nicht ein gegebener Zustand, sondern ein (übrigens bis heute) unabgeschlossener Prozess.68 Wiederum setzt dieser Prozess sowohl in unterschiedlichen Regionen als auch in unterschiedlichen Diskursen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein. Grundsätzlich sind Frankreich und England früher an diesem Prozess beteiligt als das Deutsche Reich, in welchem zunächst nur protestantische Staaten betroffen sind, am Ende des Jahrhunderts aber sogar die katholischen Staaten Bayern und das Habsburger Reich; grundsätzlich ist die Aufklärung in Frankreich „radikaler“ (d. h.: konsequenter) als anderswo; das mag sich, wie schon im 17. Jahrhundert, unter anderem durch den besonders repressiven, zu Auflehnung provozierenden Druck des Katholizismus erklären. Dass das theoretisch katholische Frankreich so heftig an der Aufklärung beteiligt ist, während die katholischen Länder Italien und mehr noch Spanien zu diesem Prozess eher keinen oder nur einen geringen Beitrag leisten, mag darauf beruhen, dass die kirchliche und politische Macht in Frankreich schon im 16. Jahrhundert die ideologische Ausdifferenzierung nicht und im 17. Jahrhundert nur scheinbar unterdrücken und ausrotten konnte. Zwei Aspekte dieses Prozesses sind für meine weitere Argumentation relevant. Zum einen gilt zu jedem Zeitpunkt, dass synchron unterschiedliche Grade von Aufklärung koexistieren. Das sei erläutert am Beispiel der religiösen Einstellungen: Abgesehen von den wenigen atheistischen oder agnostizistischen Positionen haben wir am einen Ende der Skala die durchaus nicht68  Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1783] In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. VI. Darmstadt 1964, S. 51–61. – Generell sind im Deutschen des späten 18. Jahrhunderts Substantivierungen auf ‚-ung‘ Benennungen von Prozessen, nicht von Zuständen; das gilt auch z. B. für das folgenreiche Lexem ‚Bildung‘, das in dieser Phase als Neologismus eingeführt wird.

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christlichen Deisten, am anderen Ende ein durch die Aufklärung modifiziertes ‚Christentum‘, das sich auch seinerseits deutlich von den offiziellen christlichen Theoremen des 17. Jahrhunderts verabschiedet hat, indem es z. B. unter dem Druck der neuen nicht-christlichen Religionsphilosophien, etwa der Deisten, aus dem früheren unberechenbar gefährlichen Gott einen ‚guten Vater‘ macht, der schon ‚Glück‘ im Diesseits entweder will oder zumindest zulässt, und das zunehmend, wie der Deismus, auf die Annahme einer ‚Hölle‘ verzichtet. Zum anderen existieren diachron unterschiedliche Grade an Aufklärung. Wo die Aufklärung konsequent ist, werden allmählich immer mehr Bereiche, immer mehr Diskurse der Entscheidungsinstanz ‚Vernunft‘ unterworfen: die Religionsphilosophie, die Rechts- und Moralphilosophie, die Wirtschaftstheorie, und – und gravierender noch als die Religionsphilosophie, weil es jetzt die Herrschaftsverhältnisse betrifft – die Gesellschaftstheorie und die politische Philosophie. Der theoretischen Ausweitung der Aufklärung korreliert ihr zunehmender Anspruch auf praktische Realisierung ihrer Theorien, der das je vorgefundene ökonomische, soziale, politische System bedroht: im Extremfall bekanntlich mit revolutionären Konsequenzen. Von der frühen bis zur späten Aufklärung findet also zugleich ein Ausdifferenzierungsprozess innerhalb der Aufklärung statt: konservative, moderate konsequente Aufklärer unterschieden sich im Verlaufe der Zeit immer mehr: Wo die einen sich Grenzen des Denkens auferlegen, denken die anderen konsequent weiter. Die ersteren werden denn auch bis zur Spätaufklärung zunehmend jammern, ob es nicht Grenzen der Aufklärung geben müsse. Die historischen Prozesse der Neukonzeption von ‚Moral‘ und ‚Recht‘ en détail darzustellen, fehlt mir der Raum: Ich werde im folgenden nur einige systematische Ergebnisse dieser – teils voneinander unabhängigen, teils interagierenden – Prozesse festhalten. 1764 klagt Voltaire, es gäbe in keinem Land gute Gesetze;69 um 1800 werden eine Reihe neuer Gesetzbücher entstehen,70 die in unterschiedlichem Ausmaß von den Diskursen der Aufklärung geprägt sind.

69  Dictionnaire philosophique, z. A., S. 267: „Il n’y a aucun bon code en aucun pays.“ 70  In meinem Korpus: 1794 ALR, 1803 GBV, 1804 CC, 1810 CP, 1811 ABG, 1813 StGB.



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V. Innovative Staatsrechtskonzeptionen 1. Auf dem Weg zur ‚Volkssouveränität‘: John Locke In der Letter Concerning Toleration hatte Locke postuliert, es sei nicht Aufgabe des Staates, den „wahren Glauben“, sondern „Moralität“ durchzusetzen: Aber es ist nicht die Aufgabe der Gesetze, für die Wahrheit von Meinungen, sondern für das Wohl und die Sicherheit des Gemeinwesens und der Güter und der Person jedes Einzelnen Sorge zu tragen. […] Ein guter Lebenswandel, in dem der nicht geringste Teil der Religion und wahren Frömmigkeit besteht, geht auch die Obrigkeit an.71

Zentral ist die Sicherung von Besitz, der „zur Bequemlichkeit und zum Glück dieses Lebens“ beiträgt.72 Im selben Jahr 1690 erscheinen auch die Two Treatises on Government, deren erster eine Auseinandersetzung mit aus der Bibel abgeleiteter, christlicher und absolutistischer Staatstheorie, deren zweiter ein modernerer Alternativentwurf ist. Darin verteidigt Locke die Konzepte von ‚Naturzustand‘, ‚Naturrecht‘, ‚(Gesellschafts-)Vertrag‘ gegen Einwände, und wie andere postuliert er, im ‚Naturzustand‘ habe Gleichheit aller und Freiheit, begrenzt allerdings durch das schon hier geltende ‚Naturrecht‘, geherrscht. Staatsziel ist natürlich selbstverständlich auch die Sicherheit der Bürger vor einander, aber ein Staatsziel wird nun – und das scheint mir in meinem Korpus neu – besonders betont: Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung ihres Eigentums.73

Dem Eigentum als einem neuen Zentralwert gilt denn auch einer der längsten Paragraphen des Textes. Nun ist aber evident, dass in den Gesellschaften des Untersuchungszeitraums eine radikale ökonomische Ungleichheit herrscht; wenn also Besitzsicherung dominantes Staatsziel ist, dann ist auch klar, dass der Staat vor allem den Interessen der wenigen ökonomisch Privilegierten dient; und bei allen Verdiensten der Lockeschen Staatstheorie, von denen gleich die Rede sein wird, muss konstatiert werden, dass eine solche Konzeption, wie sich denn auch in der politischen Geschichte Englands gezeigt hat, nicht eben direkt zu Demokratie, sondern eher zu einer Oligarchie der Besitzenden führt. 71  Locke

z. A., S. 80 f. z. A., S. 85. 73  Locke z. A., S. 278; Hervorhebung im Original. 72  Locke

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Im ursprünglichen, als aus ‚demokratischer‘ Abstimmung hervorgegangen gedachten ‚Vertrag‘ überträgt eine Gruppe die Macht auf eine Herrschaftsinstanz; Eroberung hingegen legitimiert Herrschaft nicht. Locke thematisiert, dass zwar in den meisten Staaten Monarchie herrsche, was aber nicht selbstverständlich sei, und er lehnt eindeutig eine absolute Monarchie und das postulierte „Gottesgnadentum“ ab; selbstverständlich sei der Fürst „den Gesetzen Gottes und der Natur“ unterworfen;74 ‚Gesetz der Natur‘ und ‚Wille Gottes‘ sind bei ihm übrigens identisch. Nun basiert die monarchische Herrschaft in Europa seinerzeit fast ausnahmslos auf dem Postulat der Erblichkeit von Herrschaft: Der Staat wird dabei als ein Eigentum aufgefasst, das legitim durch Erbschaft an die Nachkommen des Herrschers fällt, was die früheren Theoretiker des ‚Naturrechts‘ als selbstverständlich angenommen hatten – hier aber setzt Lockes Modernität ein. Denn er bestreitet, dass ein ‚Vertrag‘ auch die Nachkommen der Vertragsschließenden verpflichten könne; kein Kind werde als „Untertan“ eines Herrschaftssystem geboren.75 Das hätte im übrigen Auswirkungen auf die Sklaverei, die man in den eigenen Kolonien praktiziert, wobei Sklaverei als erblich konzipiert ist; diese Konsequenz thematisiert Locke interessanterweise nicht, und seine Ausführungen zu Sklaverei bleiben merkwürdig ambivalent. Locke verlangt eine deutliche Trennung von Legislative und Exekutive. Ihm zufolge können beide Unrecht begehen, erstere durch ungerechte Gesetze, letztere durch ungesetzliche Praktiken.76 Wenn systeminterne Appellation nicht nutzt, um den Missstand zu beseitigen, räumt Locke dem Vertragspartner, also denen, die sich zu einer Gesellschaft zusammengeschlossen haben, ein Widerstandsrecht ein, da die Herrschaftsinstanz den ‚Vertrag‘ gebrochen habe: Erstmals bleibt also die Souveränität potentiell bei der beherrschten Population bzw. deren angeblich ‚natürlichen‘ Repräsentanten, d. h. den ‚Familienvätern‘ (evtl. auch nur den Besitzenden unter ihnen). Denn die Herrschaftsinstanz darf, wenn anders keine Besserung zu erreichen ist, auch abgesetzt und entmachtet werden, was natürlich mit dem konservativen Ideologem vom ‚Gottesgnadentum‘ des Herrschers unvereinbar ist. Aber Locke geht noch weiter. In der absolutistischen Ideologie ist der Herrscher nur Gott verantwortlich und nur dieser kann ihn richten. Bei Locke hingegen darf ein – abgesetzter – ‚Tyrann‘ auch vor das Gericht 74  Locke z. A., S. 322. Das hat natürlich auch der theoretische „Begründer“ des Absolutismus, Bodin, in seinen Six livres de la republique, 1577, genau so gesagt. ‚Absolutismus‘ hieß bei ihm ja nur, dass der Fürst den ‚positiven Gesetzen‘ nicht unterworfen sei, weil er diese ändern könne, sofern das ‚gottgewollte (Natur-)Recht‘ dabei nicht tangiert werde. Im Gegensatz zu seiner Theorie wurde der Absolutismus in der Praxis natürlich oft anders realisiert. 75  Locke z. A., S. 273–275. 76  Locke z. A., S. 327.



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seiner ehemaligen Untertanen gestellt und verurteilt werden (wie das in England ja mit der Hinrichtung von Charles I. 1649 der Fall war – im konservativen Europa wurde das mit Schaudern als quasi sakrales Delikt wahrgenommen). Aber selbst ein so „gemäßigter“ Aufklärer wie Gottsched wird in der Folge für den Extremfall des Verstoßes eines Herrschers gegen das ‚Naturrecht‘ oder ein bei ‚Vertragsschluss‘ vereinbartes ‚Grundgesetz‘ die Möglichkeit vorsehen, den Herrscher abzusetzen: Wenn man aber, dem bisherigen zu Folge, nicht alle Uebertreter der Gesetze, oder ungehorsame Bürger, für Feinde des Vaterlandes erklären kann: so darf man es auch kein Laster der beleidigten Majestät nennen, wenn ein ganzes Volk diejenige Macht und Gewalt, die es einem Regenten gegeben hat, bey verspürtem Misbrauche derselben, wieder zurück nimmt.77

Lockes Position, dass Verpflichtungen aus einem ‚Vertrag‘ der Vorfahren von den Nachkommen aufgekündigt werden können, impliziert jedenfalls logisch die Möglichkeit, auch das politische System zu wechseln, z. B. von einer Monarchie zu einer Demokratie – eine Transformation, die bis dahin von den Theoretikern eigentlich nicht vorgesehen war. 2. Kulturrelativität politischer, religiöser, juristischer Systeme: Montesquieu 1748 erscheint ein ebenfalls ausgesprochen folgenreicher Text: der Esprit des loix des Baron de Montesquieu. Schon kurz nach seinem Erscheinen wird er heftig theologisch angegriffen, worauf er 1750 mit der brillanten Défense de L’Esprit des loix antwortet. 1751 wird der Esprit des loix auf den Index librorum prohibitorum, den immer wieder ergänzten Katalog der Bücher, deren Besitz und Lektüre Katholiken verboten ist, gesetzt; der Index ist nun nicht nur eine Mahnung, sondern wird in katholisch dominierten Ländern wie Frankreich mit Hilfe der Staatsgewalt, also mit juristischen Sanktionen, durchgesetzt. Das wiederum wird den Mitherausgeber der En­ cyclopédie, Jean Le Rond d’Alembert, nicht hindern, anlässlich des Todes von Montesquieu dem fünften Band der Encyclopédie 1755 eine ausführ­ liche Würdigung von dessen Person und Werk voranzustellen. Montesquieu – selbst Jurist in hochrangiger Position – zehrt von einem breiten ethnohistorischen Wissen über fremde – antike wie zeitgenössische – Kulturen und deren Normensysteme. Auch er macht sich die Fiktion eines ‚Naturzustandes‘ und eines alle Menschen verpflichtenden ‚Naturrechts‘ zu eigen, um vor diesem Hintergrund politische Systeme und deren 77  Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, 1734, z.  A., Bd. II, S. 282.

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Gesetzgebung zu analysieren. Die Differenz der unterschiedlichen Herrschaftssysteme, Religionen, Normensysteme zwischen den ihm bekannten Kulturen scheint ihm korreliert mit den Unterschieden der Lebensbedingungen der jeweiligen Kulturmitglieder: mit Umweltfaktoren der Landschaft und des Klimas, denen die Einwohner ihren Lebensunterhalt abgewinnen müssen, und damit korrelierten Faktoren wie den Einstellungen der Einwohner. Das führt zu nicht unbedingt erwartbaren Folgerungen: Mit „despotischen“ Regierungen sei der Islam besser kompatibel, mit „gemäßigten“ das Christentum, und die ökologischen, klimatischen, mentalen Faktoren hätten bestimmt, in welchen Regionen sich jedes dieser politisch-religiösen Systeme ausgebreitet habe und warum ihm keine Ausbreitung darüber hinaus beschieden gewesen sei. Innerhalb Europas gelte, dass Katholizismus besser mit Monarchie und beide mit dem europäischen Süden, und Protestantismus besser mit Republik und beide mit dem europäischen Norden, bei dessen Bewohnern der Geist der Freiheit und der Unabhängigkeit herrsche, kompatibel seien. Entworfen wird also scheinbar nur eine deskriptive Kulturtheorie, die bekannte Daten auszuwerten vorgibt: faktisch ist diese Theorie, die in der Anthropologie der Aufklärung sehr folgenreich sein wird, ausgesprochen subversiv. Sofern man Frankreich dem ‚Süden‘ zuordnen will, legitimiert das zwar scheinbar, dass dort Monarchie und Katholizismus herrschen, aber es relativiert beide zugleich. Denn eine monarchische Verfassung gilt den Theoretikern des Bestehenden als eine ‚gottgewollte‘, nicht als eine bestimmten Umweltbedingungen besser angepasste, neben anderen Alternativen. Und gerade die katholische Kirche hat einen unbedingten, universalistischen Anspruch; sie wird hier zu einer regional brauchbaren Variante von Religion gemacht, während anderswo Protestantismus oder Islam oder sonstige Religionen angemessener wären. Diesen Kulturrelativismus muss Montesquieu natürlich tarnen, will er nicht juristisch behelligt werden, weshalb er denn immer wieder betont, das Christentum sei die wahre Religion, und er spräche hier nicht als Theologe, sondern als Politologe.78 So stellt er denn die Frage nach dem sozialen Nutzen der Religionen; man könne untersuchen, welche von den falschen Religionen diejenigen sind, die am angemessensten für das Wohl der Gesellschaft sind. […]. Ich werde folglich die verschiedenen Religionen der Welt nur in Hinblick auf das Wohl prüfen, das man im Gesellschaftszustand aus ihnen ziehen kann.79 78  So seine wiederkehrende Scheinentschuldigung. Z.  B.: Montesquieu z. A., Bd. II, S. 187: „à ne parler que politiquement“. 79  Montesquieu z. A., Bd. II, S. 139: „ainsi l’on peut chercher, entre les religions fausses, celles qui sont les plus conformes au bien de la société. […]. Je n’examinerai donc les diverses religions du monde, que par rapport au bien que l’on en tire dans l’état civil.“



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Religionen werden also nur nach ihrem sozialen Nutzen beurteilt: Und der hängt davon ab, inwieweit sie die Moralität der Anhänger garantieren: Die wahrsten und heiligsten Dogmen können sehr schlimme Konsequenzen haben, wenn man sie nicht mit den Prinzipien der Gesellschaft verknüpft; und umgekehrt können die falschesten Dogmen bewundernswerte Folgen haben, wenn man weiß, dass sie sich auf eben diese Prinzipien beziehen.80

So lobt er denn auch, welche gerechten und bewundernswürdigen Folgen die Philosophien von Zenon und Konfuzius gehabt hätten, und preist an anderer Stelle die Moralität mancher römischer Caesaren, inklusive des Julianus Apostata. Ebenso merkt er beiläufig an, die katholischen Inquisi­ tionstribunale seien in keinem Staat zu dulden;81 und wenn in einem Staat mehrere Religionen bestünden, müssten die Gesetze sie zwingen, sich wechselseitig zu tolerieren, und sie hindern, Unruhe im Staat zu schaffen82 – das war nun wahrlich nicht die Einstellung der katholischen Kirche, die weder Religionsfreiheit noch Toleranz akzeptierte. Moralität der Gesell­ schaft ist also wichtiger als „wahre“ Religion, und solche Moralität hat die Gesetzgebung zum Wohle der Gesellschaft zu befördern; wie schon bei Machiavelli in dessen Discorsi (1531) ist Religion hier ein Instrument sozialer Kontrolle und politischer Herrschaft. In der Défence wird er betonen, er habe Religion in seinem politologisch-juristischen Kontext eben nur insoweit behandelt, als sie eine „menschliche Institution“ sei.83 Die Moral des ‚Naturrechts‘ wäre universell verbindlich und wird nicht angegriffen; die ‚positiven Gesetze‘ hingegen sind kulturrelativ. Von den Gesetzen verlangt Montesquieu wie nach ihm viele weitere Aufklärer, sie hätten präzise und einfach formuliert zu sein. Lockes Trennung von Legislative und Exekutive fügt er noch als dritte unabhängige Institution die Judikative hinzu. Diesem modernen System der Gewaltenteilung zwecks wechselseitiger Kontrolle entspräche dann wohl, falls der Staat monarchisch verfasst ist, wie bei Locke am ehesten eine konstitutionelle Monarchie mit Kontrolle durch ein Parlament.84

80  Montesquieu z. A., Bd. II, S. 153: „Les dogmes les plus vrais et les plus saints peuvent avoir de très mauvaises conséquences, lorsqu’on ne les lie pas avec les principes de la société; et, au contraire, les dogmes les plus faux en peuvent avoir d’admirables, lorsqu’on sait qu’ils se rapportent aux mêmes principes.“ 81  Montesquieu z. A., Bd. II, S. 187. 82  Montesquieu z. A., Bd. II, S. 169 f. 83  Montesquieu z. A., Bd. II, S. 436. 84  Vgl. dazu die englische Bill of Rights von 1689, die die Rechte des Parlaments gegen die Monarchie festschreibt; das Parlament selbst ist freilich nicht im geringsten „demokratisch“ zustande gekommen.

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3. Das problematische Konzept der ‚volonté générale‘: Jean-Jacques Rousseau Das erste Kapitel von Rousseaus Du Contrat social, ou principes du droit politique (1762) beginnt mit einer Herausforderung: L’homme est né libre, et partout il est dans les fers.85 [Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.]

‚Freiheit‘ gehört hier zu den Menschenrechten („les droits de l’humanité“ vgl. zum Begriff auch Diderot 1755 – s. 3.2.), auf die man nicht verzichten könne, ohne auf das Menschsein zu verzichten;86 es könne folglich auch kein „Recht der Sklaverei“ geben. Diese ‚Freiheit‘ („liberté“) kann denn auch nach dem ‚Gesellschaftsvertrag‘ nicht abgegeben, sondern nur durch die Gesetze eingeschränkt werden: Sie ist zusammen mit der ‚Gleichheit‘ („égalité), ohne die sie nicht bestehen könne, „das größte Gut aller“. Um sie zu erhalten, muss das Ausmaß der Differenz zwischen den Besitzverhältnissen durch den Staat so begrenzt werden, „dass kein Bürger genügend reich ist, um sich davon einen anderen kaufen zu können, und keiner genügend arm, um gezwungen zu sein, sich zu verkaufen“:87 In der Tat sind die Gesetze immer denen nützlich, die besitzen, und denen schädlich, die nichts haben. Woraus folgt, dass der Gesellschaftszustand den Menschen nur insoweit vorteilhaft ist, als alle etwas haben und keiner von ihnen etwas zu viel hat.88

Folglich sollte jeder auch nur so viel an Grund und Boden besitzen dürfen, wie man zum eigenen Erhalt braucht und selbst bearbeitet. Während bei Locke eine uneingeschränkte Sicherung des Besitzes durch den Staat gefordert war, würde sie bei Rousseau nur in den genannten Grenzen garantiert. Im ‚Gesellschaftsvertrag‘ verbleibt die Souveränität, als unveräußerliche und unteilbare, bei den Vertragschließenden, und allein der „allgemeine Wille“ („volonté générale“ – das Konzept auch schon in Diderot 1755 – vgl. III. 2.) entscheidet über Regierungsform und Gesetzgebung. Die „volonté générale“ habe immer recht und strebe nach dem „öffentlichen Nutzen“; freilich sehe das ‚Volk‘ diesen nicht immer, wenn es getäuscht werde. Sie wird durch Zählung aller Stimmen ermittelt: Während jeder Einzelne „Privatinteressen“ vertrete, vertrete sie das „Gemeinschaftsinteresse“; sie ist 85  Rousseau

z. A., S. 43. z. A., S. 46. 87  Rousseau z. A., S. 88: „que nul citoyen ne soit assez opulent pour en pouvoir acheter un autre, et nul assez pauvre pour être contraint de se vendre“. 88  Rousseau z. A., S. 59, Anm. 86  Rousseau



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das, was bei Abzug der Einzelinteressen übrig bleibt. Das Konzept hat unverkennbar eine totalitäre Komponente: Ein wirklicher Dissens in der Volksversammlung über das „Gemeinschaftsinteresse“ scheint unmöglich (folglich auch so etwas wie „demokratische Parteien“) und wäre Symptom eines Zerfalls des politischen Systems.89 Die Legislative verbleibt immer beim Volk, die Exekutive wird an die Regierung delegiert, die Diener des Souveräns, also der ‚Bürger‘ („citoyens“) und der „volonté générale“ sein soll, folglich abberufbar ist; eine Judikative als dritte Größe scheint keinen eigenen Status zu erhalten. Rousseau diskutiert die drei klassischen Regierungsformen. In Variation Montesquieus geht er davon aus, dass unter verschiedenen Bedingungen verschiedene Herrschaftsformen angemessener seien: so für reiche Länder die Monarchie, für mittelreiche die Aristokratie, für arme – und kleine – die Demokratie. Bei den beiden ersteren sei Erblichkeit der Regierungsinstanz schädlich, und unter „Demokratie“ versteht Rousseau nur den Fall, dass alle Entscheidungen in Volksversammlungen aller (natürlich nur männlichen) Bürger getroffen werden, weshalb diese Form eben nur für kleine Länder, eigentlich nur für Stadtstaaten, geeignet ist; er empfiehlt dabei die Ernennung der Magistrate nicht durch Wahl, sondern durch Losentscheid. Eine denkbare „parlamentarische Demokratie“, bei der die Versammlung aller Stimmberechtigten durch „Abgeordnete oder Repräsentanten des Volkes“90 ersetzt werde, lehnt er strikt ab: Das Volk könne sich bei der Gesetzgebung nicht vertreten lassen. Da Aristokratie aber zur Monarchie, diese wiederum, deren Ziel nicht das „öffentliche Glück“ sei, zum Absolutismus tendiere, bleibt im Grunde offen, in welcher Regierungsform in großen Staaten die Verwirklichung der „volonté générale“ einigermaßen gesichert werden kann. Im Staat soll eine „zivile Religion“ als Moralgarant verpflichtend sein, deren Inhalte auf einen Deismus hinauslaufen;91 das Christentum wird explizit abgewertet.92 Über diese „zivile Religion“ hinaus darf jeder glauben, was ihn glücklich macht: … on doit tolérer toutes celles [= religions], qui tolèrent les autres […].  Mais quiconque ose dire: „Hors de l’église point de salut“ doit être chassé de l’Etat.93 [Man soll alle Religionen tolerieren, die die anderen tolerieren […]. Aber wer auch immer zu sagen wagt: „Außerhalb der Kirche kein Heil“, muss aus dem Staat verjagt werden.] z. B. Rousseau z. A., S. 147. z. A., S. 134: „députés ou représentants du peuple“. 91  Rousseau z. A., S. 179. 92  Rousseau z. A., S. 177: „Les vrais chrétiens sont faits pour être esclaves“: also untauglich für einen freiheitlichen Staat. 93  Rousseau z. A., S. 180. 89  So

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Die Aggression gilt hier natürlich dem katholischen Prinzip des „extra ecclesiam nulla salus“; der Kirche dürfe auch keine politische Macht im Staat eingeräumt werden. Eine – wenn auch nur in einem Teil der Erstauf­ lage enthaltene – folgenreiche Anmerkung muss noch erwähnt werden: Rousseau plädiert für die Einführung der „Zivilehe“, also für die Möglichkeit der Eheschließung ohne Beteiligung des Klerus: eine extrem wichtige und folgenreiche Innovation. 4. Neukonzeptionen des Zwecks der Vergesellschaftung: „größtmögliches Glück für die größtmögliche Zahl“ Zu den Ausdifferenzierungsprozessen, die im 18. Jahrhundert stattfinden, gehört auch die Einführung einer neuen Kategorie, der ‚Gesellschaft‘, die nicht mehr mit dem ‚Staat‘ identisch ist. Im älteren Modell gehen die Individuen, die sich per ‚Vertrag‘ zu einer neuen Einheit verbinden, aus dem ‚Naturzustand‘ in den ‚Staat‘ über, in dem sie als ‚Untertanen‘ aufgehen und alle ursprünglichen ‚Rechte‘ aufgeben: In der neuen Konzeption hingegen – besonders deutlich bei Locke und Rousseau – verbleiben ihnen, in variablem Umfang, ‚Rechte‘ aus dem Ausgangszustand. Das aber heißt, die vertragsschließenden Menschen gehen nicht mehr in der neuen Funktion als ‚Untertanen‘ bzw. ‚Bürger‘ auf: Und das wiederum erfordert die Bildung einer neuen intermediären Kategorie zwischen dem ‚Freien‘ des ‚Naturzustands‘ und dem ‚Untertanen‘ des ‚Staatszustands‘. Diese neue intermediäre Kategorie wird die ‚Gesellschaft‘ sein.94 ‚Gesellschaft‘ erscheint dabei als dem ‚Staate‘ logisch vorgeordnet, und das bedeutet wiederum, dass der ‚Staat‘ eine Funktion der ‚Gesellschaft‘ ist: dass die ‚Gesellschaft‘ den ‚Staatszweck‘ bestimmt. Nur scheinbar war das schon in den älteren Konzepten des „Gemeinwohls“, des „Commonwealth“, usw. angelegt. Denn diese verlangten vom ‚Staat‘ nur die Konservierung des Gegebenen, z. B. also die Erhaltung der physischen Unversehrtheit und des Besitzes: Die neuen Konzepte verlangen vom ‚Staat‘ die Optimierung des Gegebenen. Das wiederum ist auch eine Funktion einer neuen Geschichtskonzeption und einer neuen Anthropologie: Die sich herausbildende neue Geschichtsphilosophie verlangt ‚Fortschritt‘ (d. h. eine wie auch immer verstandene positive Entwicklung, wofür die neue ‚Naturwissenschaft‘ das Modell geliefert hat), die sich herausbildende neue Anthropologie verlangt die Selbstoptimierung des Individuums, das in den kulturellen Prozessen der Ausdifferenzierung und Autonomisierung gegenüber früher überge94  Charakteristische Beispiele solcher quasi-soziologischen Ansätze sind in meinem Korpus etwa Fergusons Essay of the History of Civil Society, 1767, oder Millars Observations Concerning the Distinction of Ranks in Society, 1771.



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ordneten und früher allein relevanten Systemgrößen nun zu einer selbst relevanten, von anderen unterscheidbaren, einen ‚Wert‘ darstellenden Größe wird. Diesen komplexen Prozess kann ich hier nur voraussetzen, nicht darstellen. Sind also die einzelnen Individuen des ‚Staates‘ bzw. der ‚Gesellschaft‘ nun um ihrer selbst willen relevant, stellt sich folglich die Frage des ‚Staatszwecks‘ neu – und damit auch die Frage, welche Bedingungen eine für die ‚Gesellschaft‘ akzeptable Gesetzgebung zu erfüllen hätte. Wenn alle Individuen – qua Individuum – relevant sind, muss die Gesetzgebung ihnen allen dienen. Als erster scheint Francis Hutcheson in An Inquiry Concerning Moral Good and Evil (1725) die neue Zielsetzung von ‚Staat‘ und Gesetzgebung explizit formuliert zu haben: Wenn wir die moralische Qualität von Handlungen vergleichen, führt uns unser moralischer Sinn für Tugend zu dem Urteil: dass, bei gleichen Graden von Glück, die man von der Handlung erhofft, die Tugend eine Funktion der Anzahl der Personen ist, auf die sich das Glück ausdehnen wird (und hier mag die Würde oder die moralische Bedeutung der Personen die Anzahl kompensieren); und dass bei gleicher Anzahl die Tugend in der Menge des Glücks oder des natürlichen Guts liegt; oder dass die Tugend in einer Proportion zwischen der Menge des Guten und der Anzahl der Nutznießer besteht, so dass die Handlung die beste ist, die das größte Glück für die größte Zahl schafft; und das es die schlechteste Handlung ist, die – analog – Elend verursacht.95

Die Formel, moralisch sei am positivsten, was „the greatest happiness für the greatest numbers“ bewirke, macht also den sozialen Nutzen zum Kriterium für die Güte der Norm; und quasi im Geiste der neuen Naturwissenschaft wird der Nutzen in einer Art Gleichung als quantifizierbar, folglich auch maximierbar gedacht; problematisch ist freilich der Passus in der Klammer: er würde auch „Standesvorrechte“ legitimieren. Die Formel wird jedenfalls erfolgreich sein. Ebenfalls noch in den 1720er Jahren findet sie sich bei dem Atheisten Fréret in seiner Lettre de Thrasybule à Leucippe: Wenn die Menschen immer vernünftig wären, würden sich alle Gesetze darauf beschränken: Sie hätten kein anderes Ziel, als die Ruhe in der Gesellschaft zu 95  Hutcheson, zitiert nach der Stanford Encyclopedia of Philosophy (plato.stanford.edu / entries / utilitarism-history / – eingesehen am 25.03.2013): „In comparing the moral qualities of actions … we are led by our moral sense of virtue to judge thus: that in equal degrees of happiness, expected to proceed from the action, the virtue is in proportion to the number of persons to whom the happiness shall extend (and here the dignity or moral importance of persons, may compensate numbers); and, in equal numbers, the virtue is the quantity of the happiness, or natural good; or that the virtue is in a compound ratio of the quantity of good, and number of enjoyers; so that action is best, which procures the greatest happiness for the greatest numbers; and that worst, which, in like manner, occasions misery.“

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erhalten und alles zu verhüten, was das Glück der größten Zahl derer, die sie ausmachen, verhindern kann.96

Und Cesare Beccaria wird schon in der Einleitung seines berühmten rechtstheoretischen Traktats Dei delitti e delle pene (1764) setzen: Öffnen wir die Geschichtsbücher und wir werden sehen, dass die Gesetze, die doch Verträge freier Menschen sind oder sein sollten, im Regelfalls nichts gewesen sind als das Instrument der Leidenschaften einiger weniger, oder entstanden sind aus einer zufälligen und vorübergehenden Notwendigkeit; nicht aber diktiert von einem kalten Prüfer der menschlichen Natur, damit er die Handlungen einer Vielzahl von Menschen in einem einzigen Punkt zusammengeführt hätte, und den er in diesem Gesichtspunkt gesehen hätte: das größte Glück verteilt auf die größ­ te Zahl.97

Das ‚Gemeinwohl‘ wird jedenfalls nicht mehr unabhängig vom Wohl jedes Einzelnen gedacht. Nun kann freilich „Glück“ – je nachdem, welche Anthropologie und welches Normensystem vorausgesetzt wird – inhaltlich ganz verschieden interpretiert werden, was natürlich auch schon für das ‚Gemeinwohl‘ galt; doch verbreitert sich eben im 18. Jahrhundert das Spektrum der Alternativen (dazu später). Eine tendenziell utilitaristische Moral und folglich eine entsprechende Gesetzgebung scheint jedenfalls unter den konsequenten Aufklärern potentiell konsensfähig, wie auch Voltaires Artikel Vertu („Tugend“) in seinem Dictionnaire philosophique (1764) belegt: Was ist eine Tugend? Wohltätigkeit gegenüber dem Nächsten. Kann ich etwas anderes Tugend nennen als das, was mir Gutes tut? […]. Aber was! Wird man nur solche Tugenden zugestehen, die dem Nächsten nützlich sind? Ach, wie kann ich andere Tugenden anerkennen? Wir leben in Gesellschaft; es gibt folglich nichts wirklich Gutes für uns als das, was zum Wohl der Gesellschaft beiträgt.98

Das wendet sich direkt gegen tradierte christliche Tugendkataloge, die ja auch religiöse Praktiken (Gebete, diverse Bußübungen, usw.), Praktiken der 96  Fréret z. A., S. 381: „Si les hommes étoient toujours raisonnables, voilà à quoi se borneroient toutes les loix: elles n’auroient d’autre but que celui de maintenir la tranquillité dans la société et de prévenir tout ce qui peut empêcher le bonheur du plus grand nombre de ceux qui la composent.“ 97  Beccaria z.  A., S. 35: „Apriamo le istorie e vedremo che le leggi, che pur sono o dovrebbon esser patti di uomini liberi, non sono state per lo più che lo stromento delle passioni di alcuni pochi, o nate da una fortuita e passegiera necessità; non già dettate da un freddo esaminatore della natura umana, che in un sol punto concentrasse le azioni di una moltitudine di uomini, e le considerasse in questo punto di vista: la massima felicità divisa nel maggior numero.“ 98  Voltaire z.  A., S. 373: „Qu’est-ce qu’une vertu? Bienfaisance envers le prochain. Puis-je appeler vertu autre chose que ce qui me fait du bien? […]. Mais quoi! n’admettra-t-on de vertus que celles qui sont utiles au prochain? Eh! Comment puisje en admettre d’autres? Nous vivons en société; il n’y a donc de véritablement bon pour nous que ce qui fait le bien de la société.“



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Selbstdomestikation und Selbstfrustration (sexuelle Enthaltsamkeit, usw.) umfassten. Damit ist auch eine Abkoppelung des ‚Rechts‘ von der ‚Moral‘ angelegt, durch die sich zugleich auch ein vom sozialen Raum abgetrennter Privatraum konstituiert. Denn solange ein ‚gottgewolltes Naturrecht‘ gilt, das der Gesetzgeber bis in die – in unserer Sicht „privatesten“ – Verhältnisse von Liebe, Sexualität, Ehe, Familie hinein durchzusetzen hat, wie dies Pufendorf und seinesgleichen forderten, gibt es eigentlich keinen ‚Privatraum‘: ‚Privatheit‘ bedeutet unvermeidlich, dass es einen Raum gibt, in dem das Subjekt jeder – kirchlichen, staatlichen, sozialen – Kontrolle entzogen ist (und eventuell auch einer ‚göttlichen‘, sofern es sich von seinem jeweiligen Glaubenssystem befreit). Voltaire führt im selben Artikel konsequent aus: Aber Sie sagen mir: wenn ein Single verfressen, versoffen, heimlicher Ausschweifung mit sich selbst [= Onanie] hingegeben ist, ist er lasterhaft: folglich ist er tugendhaft, wenn er die entgegengesetzten Eigenschaften hat. Damit kann ich nicht übereinstimmen: Er ist ein sehr übler Mensch, wenn er die Fehler hat, von denen Sie sprechen; aber er ist keineswegs lasterhaft, böse, strafbar in Bezug auf die Gesellschaft, der seine Schändlichkeiten kein Übel zufügen.99

Zu verbieten wäre also nur, was jemanden schädigt (dazu später). 5. Das Problem sozialer Ungleichheit Wenn die Gesellschaft dem Wohlergehen möglichst aller Bürger dienen soll und das staatliche ‚Recht‘ dieses zu sichern hat, konnte es bei konsequentem Denken nicht ausbleiben, dass man nicht nur über die ‚Gerechtigkeit‘ der Gesetze, sondern auch über die der Einkommensverteilung nachdachte, zumal in den damaligen Gesellschaften – auch das ein heute immer noch aktuelles Problem – die Differenz zwischen den Ärmsten und den Reichen gigantisch war. Als einer der ersten hat sich Rousseau des Problems angenommen. Im Discours sur […] l’inégalité (1755) führt er das Problem grundsätzlich – wie vor ihm schon etliche frühneuzeitliche Utopien – auf die Einführung des ‚Privatbesitzes‘ zurück: Der erste, der ein Stück Land einschloss und auf die Idee kam, zu sagen, Das gehört mir, und hinreichend einfältige Leute fand, die ihm glaubten, war der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.100 99  Voltaire z.  A., S. 374: „Mais, me dites-vous, si un solitaire est gourmand, ivrogne, livré à une débauche secrète avec lui-même, il est vicieux: il est donc vertueux s’il a les qualités contraires. C’est de quoi je ne peux convenir: c’est un très vilain homme, s’il a les défauts dont vous parlez; mais il n’est point vicieux, méchant, punissable, par rapport à la société, à qui ses infamies ne font aucun mal.“ 100  Rousseau z. A., S. 205: „Le premier qui, ayant enclos un terrain, s’avisa de dire, Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile.“

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Da diese erste Fehlentscheidung nicht mehr rückgängig zu machen war, handelt Rousseau im Artikel Economie der Encyclopédie (Bd. 5, 1755) vom aktuellen Zustand. Der Staat habe die extreme ‚Ungleichheit des Besitzes‘ zu verhindern (was er natürlich nicht tat, da er primär den Interessen der Reichen dient[e]): Die Reichen würden mehr vom Gesellschaftszustand profitieren als die Armen, die vor den Reichen, die sie entrechten und ausbeuten, geschützt werden müssen. Rousseau schlägt vor allem drei Maßnahmen vor: Der Staat habe die Pflicht der Unterhaltssicherung für die Armen, das Erbrecht sei abzuschaffen, Steuergerechtigkeit müsse hergestellt werden. Was letzteres betrifft, ist seine Minimalforderung, derselbe Steuersatz habe für alle zu gelten (während der damalige Staat steuerlich die Reichen begünstigte); im Idealfalle müssten die Ärmeren steuerfrei bleiben, die Reichen hingegen erhöhte Steuersätze zahlen, die im Extremfall bis zu einer Reduktion der Einkommen auf das für menschenwürdige Lebensführung Notwendige gehen könnten (zu Rousseau vgl. auch V. 3.). Aber Rousseau ist keineswegs der einzige, der die radikale ökonomische Ungleichheit als Problem erkennt. Im selben Jahre 1755 erscheint EtienneGabriel Morellys Code de la Nature, ou le véritable Esprit de ses Loix; der Titel nimmt zugleich Bezug auf das ‚Naturrecht‘ wie auf Montesquieu. Auch Morelly postuliert einen ‚Naturzustand‘ der Freiheit und Gleichheit. Habgier („avarice“) sei die „universelle Pest“: die Ursache aller ‚Laster‘ und der sozialen Ungleichheit.101 Die Abschaffung des Privateigentums wäre die Lösung aller moralischen und sozialen Probleme. Basisnormen der ‚Moral‘ seien zwei Gebote: „tue Gutes, um Gutes zu empfangen“ und „schade nicht, damit dir nichts schadet“.102 Ihm zufolge soll „das Glück des Einzelnen untrennbar an das Gemeinwohl gebunden“103 sein, was bedeutet, dass im utopischen Gesetzbuch, das der Text entwirft, alle auf strikte Normen verpflichtet werden, deren Indoktrination die Erziehung zu leisten hat und die Gleichheit garantieren sollen. Intellektuell relevanter ist zweifellos De la Législation ou Principes des Loix (1776) des Abbé de Mably. Von der ‚Natur‘ sei der Mensch zur Gleichheit bestimmt: Man müsse daher „die ungeheuerliche Ungleichheit verbannen, die sich in fast allen Staaten Europas eingeschlichen habe“,104 und zwar im Interesse der „Rechte der Menschheit“ („droits de 101  Morelly

z. A., S. 288 f. z. A., S. 329: „fais du bien pour en recevoir“, „ne nuis pas pour que rien ne te nuise“. 103  Morelly z. A., S. 368: „le bonheur particulier inséparablement attaché au bien commun“. 104  Mably z. A., S. 45: „proscrire la monstrueuse inégalités qui s’est introduit dans presque tous les états de l’Europe“. 102  Morelly



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l’humanité“).105 Eine Ungleichheit der ‚natürlichen‘ physischen wie intellektuellen Fähigkeiten gesteht Mably ohne weiteres zu; sie soll im Wettstreit für das Gemeinwohl funktionalisiert werden, ohne dass daraus die Existenz verschiedener Klassen von Menschen folgen würde. Mably macht eine ebenso interessante wie folgenreiche Anwendung seiner Prinzipien auf das Verhältnis von Staat und Kirche, deren strikte Trennung er vorsieht. Wie der Staat sich nur um das ‚diesseitige‘ Wohl der Bürger zu kümmern habe, solle sich die Kirche nur um deren ‚jenseitiges‘ Wohl sorgen.106 Das hat zweierlei Implikationen: Erstens darf der Klerus keine politische Macht haben und muss wie jeder andere Bürger der staatlichen Jurisdiktion unterworfen werden (während die katholische Kirche hingegen die alleinige Jurisdiktion über Priester usw. beanspruchte); zweitens darf die Kirche keinen eigenen Reichtum besitzen, da sie immer dann Unordnung in der Welt schaffe; Priester seien vom Staate zu besolden, und zwar bescheiden. Aber die Probleme einer ökonomischen Ungleichheit werden – wenn auch ohne solche Radikalität wie bei Morelly oder Mably – auch von einem Rechtstheoretiker wie Beccaria (Dei delitti e delle pene, 1764) als relevant anerkannt. Nicht nur macht er eine gravierende Unterscheidung: La sicurezza della propria vita è un diritto di natura, la sicurezza dei beni è un diritto di società.107 [Die Sicherheit des eigenen Lebens ist ein Naturrecht, die Sicherheit der Besitztümer ist ein Gesellschaftsrecht.]

Die Eigentumsgarantie könnte folglich sehr verschieden gestaltet werden, eventuell eben auch so, dass die von Beccaria wiederholt als ungerecht thematisierte Eigentumsverteilung korrigiert würde. Dem Armen, der zum Räuber wird, legt er diese Rede in den Mund: Welche sind die Gesetze, die ich respektieren soll und die eine so große Kluft zwischen mir und dem Reichen lassen? […] Wer hat diese Gesetze gemacht? Reiche und mächtige Menschen, die niemals geruht haben, die elenden Hütten des Armen zu besuchen, die niemals ein verschimmeltes Brot unter den unschuldigen Schreien ausgehungerter Kinderchen und den Tränen der Gattin geteilt haben.108 105  Mably

z. A., S. 41. z. A., S. 377: „Que le législateur, en se bornant à nous rendre heureux dans ce monde, force donc les ministres de la religion à ne s’occuper que de l’autre: qu’il y ait donc des loix fondamentales qui tiennent toujours séparées les choses spirituelles et les choses temporelles.“ 107  Beccaria z. A., S. 89 (§ XXX). 108  Beccaria z. A., § XXXVIII, S. 83: „Quali sono queste leggi ch’io debbo rispettare, che lasciano un così grande intervallo tra me e il ricco? […]. Chi ha fatte queste leggi? Uomini ricchi e potenti, che non si sono mai degnati visitare le squallide capanne del povero, che non hanno mai diviso un ammufitto pane fralle innocenti grida degli affamati figliuoli e le lagrime della moglie.“ 106  Mably

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Der Text legt nahe, dass eine moralisch akzeptable Gesetzgebung auch den sozialen Problemen abzuhelfen hätte. Eine sehr radikale Gegenstimme muss erwähnt werden, nämlich Mandevilles The Fable of the Bees: or, Private Vices Publick Benefits (Teil I: 1714; Teil II: 1729); die eigentliche Fabel wird eingangs in einer Versdichtung (The Grumbling Hive or Knaves turn’d Honest) erzählt und in Prosa kommentiert; dem folgen moraltheoretische Abhandlungen. Die Pointe der Fabel ist, dass es dem Staat gut geht, solange die oberen Schichten sich in allen möglichen Lastern und Ungerechtigkeiten ergehen,109 weil ihre Bedürfnisse die Armen ins Brot setzen; selbst Prostitution lässt sich vertreten, weil damit die ‚Tugend‘ der anderen Frauen geschützt werde. Als sich alle zur ‚Tugend‘ bekehren, geht der Wohlstand zugrunde. Mandeville kennt keine ursprüngliche Güte des Menschen im ‚Naturzustand‘, sondern nur das Streben jedes Einzelnen nach Lustgewinn; ‚Moralität‘ im traditionellen Sinne wäre nur durchsetzbar, wenn man eine extrem repressive Herrschaft einführte, mit Abschneidung von Handel und Fremdenverkehr, mit Unterdrückung aller Bücher außer der Bibel, mit Bereicherung des Klerus, dem man die absolute politische Macht übergeben und alle Laster erlauben müsse;110 an anderer Stelle vertritt er die Kulturrelativität der Normen und der Religionen.111 Mandeville schreibt einerseits eine Satire auf die gegebene Gesellschaft und rechtfertigt andererseits die extreme soziale Ungleichheit und Ausbeutung. VI. Das Problem der Normbegründung 1. Moraltheorien: ‚rationalistische‘ vs. ‚emotionalistische‘ Vor der Aufklärung – und in religiös konservativen Kreisen auch während und sogar nach der Aufklärung – schien das System der ‚moralischen‘ Normen nicht begründungsbedürftig: Die Theologien behaupteten, solche Normen seien ableitbar aus den ‚heiligen Texten‘, in denen sich ein Gott ‚geoffenbart‘ hätte, im katholischen Falle zudem aus Traditionen der Kirche und als solchen anerkannten ‚Kirchenvätern‘ (= eine Menge spätantiker Theologen), die derselbe Gott ‚inspiriert‘ hätte. Soweit diese Annahmen geglaubt werden, ist das Normensystem zwar nicht rational begründet, aber sozial akzeptiert. Seit den Religionsspaltungen gibt es nun aber ideologische 109  Mandeville z. A., S. 71: „Such were the Blessings of that State; / Their Crimes conspir’d to make them Great / […] / The worst of all the Multitude / Did something for the Common Good.“ 110  Mandeville z. A., S. 266. 111  Mandeville z. A., S. 360.



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit127

Ausdifferenzierungen, innerchristliche wie nicht-christliche, und zudem soll das Normensystem auch für alle ‚Ungläubigen‘ gelten und kann somit nicht aus christlichen ‚Offenbarungen‘ legitimiert werden. Die konservativen ‚Naturrechts‘-Theoretiker z. B. versuchen, das Problem zu lösen, überzeugen aber nur ihresgleichen. Der neue Gott des Deismus aber hat sich nur in seiner ‚Schöpfung, der ‚Natur‘, nicht aber in Texten, ‚geoffenbart‘, so dass hier ohnedies eine andere Normbegründung notwendig wird. Natürlich kann man wegen dieses Problems in der Praxis resignativ auf das Christentum regredieren, wie dies spätere restaurative Bewegungen versuchen werden: aber nicht mehr guten Gewissens. Denn früh schon war klar, dass aus einer ‚Offenbarung‘ eines Gottes zwar vielleicht Normen abgeleitet werden könnten, dass es aber eine solche ‚Offenbarung‘ nur geben könne, wenn es einen Gott gäbe, welcher also, wie z. B. der Earl of Shaftesbury in The Moralists (1709) ausführt, vorgängig zu beweisen wäre;112 dann aber hat das Christentum dem Deismus nichts mehr voraus; die Existenz eines Gottes zu beweisen, dürfte erheblich schwieriger sein, als sich in einer gegebenen Gesellschaft auf ein Normensystem zu einigen. Irgendwie zu bewältigen ist also das Problem der offenkundigen Kultur­ relativität von Normen; das diesbezügliche ethnohistorische Wissen hat Fréret in der Lettre de Thrasybule (1720er Jahre) noch einmal ausgewertet: […] es gibt keine Gesellschaft, die nicht aus gewissen, in sich für die Ruhe und das Glück der größten Zahl gleichgültigen Handlungen todeswürdige Verbrechen gemacht hat, wohingegen sie als tugendhaft und unsterblichen Ruhmes würdig Handlungen betrachtet, die andere Gesellschaften als verrückt erachten, wenn sie ihnen nicht gar als schändlich erscheinen. So sehr ist wahr, dass die Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Tugend und Laster, von Ruhm und Schande absolut willkürlich sind und von der Gewohnheit abhängen!113

Das 18. Jahrhundert wird folglich eine Serie von immer erneuten Versuchen der Normbegründung erleben: Und allein, dass der Versuch immer wieder erneut unternommen wird, ist schon ein stillschweigendes Eingeständnis, dass ein jeder von ihnen scheitert. Zwei Punkte können vorweg festgehalten werden: Zum einen werden übereinstimmend – begründet durch die neuen Forderung sozialer Nützlichkeit von Normen – spezifisch katholische ‚Tugenden‘ wie mönchisches Leben, Eheverzicht usw. aus dem Ka112  Shaftesbury

z. A., S. 96. z. A., S: 381 f.: „… il n’y a point de société qui n’ait fait des crimes, dignes de mort, de certaines actions indifférentes en elles-mêmes pour le repos et le bonheur du plus grand nombre, tandis qu’elle regarde come vertueuses et dignes d’une gloire immortelle des actions que les autres sociétés regardent comme insensées, si elles ne leur paroissent pas infâmes. Tant il est vrai que les idées de justice et d’injustice, de vertus et des vices, de gloire et d’infamie sont absolument arbitraires et dépendent de l’habitude.“ 113  Fréret

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talog positiver Werte ausgeschlossen; Mönche und Nonnen, vor allem die Bettelorden, erscheinen als soziale Parasiten, die nichts für die Gesellschaft leisten. Zum anderen wird, wo die Autoren sich nicht nur formal über, sondern inhaltlich zu Normensystemen äußern, das tradierte Normensystem, von wenigen Ausnahmen abgesehen, erstaunlich konstant gehalten, unabhängig davon, ob der Autor sich als Christ oder Deist oder Atheist geriert; ein hübsches Beispiel für letzteres böte etwa das Système de la Nature (1770) des Baron d’Holbach:114 Bis dahin theologisch motivierte Normen werden einfach zu medizinisch oder sozial motivierten uminterpretiert.115 Solche Invarianz der Normen bei Wechsel ihrer Begründungen demonstriert, dass Normensysteme sozial wichtiger sind als Religionen: Die neue Hierarchie Moral > Religion statt der christlichen Hierarchie Moral < Religion (bzw. genau genommen Moral ↔ Religion) basiert natürlich auf den neuzeitlichen Erfahrungen der ideologische Ausdifferenzierung, auf die auch die neueren Staatstheorien reagiert haben. Bei diesen Normbegründungen können wir einen ‚rationalistischen‘ Strang, der von den Theoretikern des ‚Naturrechts‘, Wolff, Gottsched, usw. bis zu Kant reicht, und einen ‚emotionalistischen‘ Strang der sog. ‚moral sense‘-Theorien unterscheiden, der vielleicht beim eben erwähnten Shaftesbury einsetzt und sich ebenfalls auf (menschliche) ‚Natur‘ beruft, und zwar auf das ‚Gefühl‘, das die Aufklärung, die zunächst nur auf die ‚Vernunft‘ setzte, vor allem in der Phase der – literaturgeschichtlich so genannten – ‚Empfindsamkeit‘ in ihre Anthropologie zu integrieren sucht: In jüngerer Zeit ist eine Kontroverse in Gang gekommen, die viel eher eine Untersuchung verdient. Sie gilt der allgemeinen Grundlegung der Moral, ob diese eher aus dem Verstand oder aus dem Gefühl herzuleiten sei […],116

resümiert David Hume 1751. Beide Stränge haben antike Vorgänger. So hatte z. B. schon Cicero in De legibus (ca. 52 / 51 v. u. Z.) dekretiert: 114  Im 14. und letzten Kapitel – Abrégé du Code de la Nature („Abriss des Gesetzbuches der Natur“) – lässt d’Holbach die rhetorisch personifizierte ‚Natur‘ dem Menschen ihre angeblichen Moralgesetze verkünden. Da soll einerseits gelten: „J’approuve tes plaisirs lorsque sans te nuire à toi-même ils ne seront pas funestes à tes frères, que j’ai rendus nécessaires à ton propre bonheur.“ (Z. A., S. 459. „Ich billige Deine Vergnügungen, solange sie, ohne dir selbst zu schaden, deinen Brüdern, die ich für dein Glück notwendig gemacht habe, nicht verderblich sind.“) Andererseits soll aber gelten: „Sois retenu, tempéré, chaste, parce que la volupté, l’intempérance et les excès détruiront ton être et te rendront méprisable.“ (Z. A., S. 460. „Sei zurückhaltend, mäßig, keusch, weil Wollust, Unmäßigkeit und Exzesse dich zerstören und verächtlich machen werden.“). 115  Vgl. zur neuen pseudomedizinischen Rechtfertigung christlicher Normen Co­ rinna Wernz: Sexualität als Krankheit. Der medizinische Diskurs zur Sexualität um 1800. Stuttgart 1993. 116  Hume: An Enquiry Concerning the Principles of Morals; z. A., S. 88.



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit129 … natura propensi sumus ad diligendos homines, quod fundamentum iuris est.117 [Von Natur aus sind wir geneigt, die Menschen zu lieben, was das Fundament des Rechtes ist.]

Laut Shaftesbury nun tritt der Mensch nicht mehr nur aus Angst und aus Hilfsbedürftigkeit in den Gesellschaftszustand ein, sondern auch wegen eines von der ‚Natur‘ angelegten Bedürfnisses nach Geselligkeit mit anderen Menschen, die ein positiver Wert an sich wäre: Daraus resultiere eine grundsätzlich wohlwollende Einstellung gegen andere. Er strebt nach „Glück“, das er in der „Lust“ findet, freilich nicht zu verwechseln mit „niedrigen und schmutzigen Lüsten“.118 Was „Glück“ bzw. „Lust“ ist, wird auch hier noch nicht der Entscheidung des Individuums gemäß seinen Wünschen überlassen, sondern – wenngleich hypothetisch – normativ vorgegeben: Können wir nicht jenen Selbstgenuß für Glückseligkeit halten, der aus Übereinstimmung des Lebens und der Sitten, aus Harmonie der Neigungen, aus Freiheit vor dem Vorwurf der Schande und des Verbrechens, aus dem Bewußtsein unseres Wertes und des Verdienstes um das menschliche Geschlecht, unsere Gesellschaft, Vaterland und Freunde entspringt, – was alles doch auf Tugend allein gegründet ist?119

Die Präferenz für ‚Tugend‘ wird also affektiv – in einem subtilen Egoismus – motiviert: ‚Tugend‘ tut gut. Es ist somit nur konsequent, wenn Shaftesbury postuliert, dass „Tugend durch sich selbst belohnt erscheint und Laster größtenteils seine eigene Strafe ist“.120 Die These, dass ‚Tugenden‘ ihren Lohn und ‚Laster‘ ihre Strafe in sich, in den Folgen für die Psyche des Handelnden, trügen, wird in der Aufklärung erfolgreich sein (allerdings auch die vulgarisierte Version, nach der von der „Weltordnung“ schon im „Diesseits“ eine materielle Belohnung bzw. Bestrafung erwartet wird); explizit verlangt er, „daß weder Lohn noch Strafe unsere Triebfeder sei“,121 womit denn auch die traditionellen religiösen Drohungen mit dem „Jenseits“ entbehrlich werden. ‚Moralität‘ wird also unabhängig von ‚Religiosität‘ und kann ihr logisch vorangehen, nicht wie in der Theologie nur aus ihr folgen.122 Zentral wird die emotionalistische Normbegründung dann in Hutchesons Illustrations on the Moral Sense (1728): 117  Marcus Tullius Cicero: De legibus. Lat.-dt. Übs. und hg. von Rainer Nickel. München / Zürich 1994, S. 48 = Buch I, XV, 43. 118  Shaftesbury z. A., S. 69. 119  Shaftesbury z. A., S. 204 f. 120  Shaftesbury z. A., S. 101. 121  Shaftesbury z. A., S. 99. 122  Shaftesbury z. A., S. 95.

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Alle Menschen sind von Natur aus so veranlagt, daß sie das Glück jedes ihnen bekannten empfindungsfähigen Wesens erstreben, wenn es nicht mit etwas unvereinbar ist, das noch stärker erstrebt wird […].123

Schon diese Basisprämisse verdeutlicht ein doppeltes Dilemma: Solche „wohlwollende Neigung gegenüber jedem Menschen“124 gilt zunächst nur den bekannten Menschen, und sie kann zudem durch andere affektive Antriebe außer Kraft gesetzt werden, etwa egoistische Bedürfnisse. Hutcheson folgert jedenfalls aus seinem Grundprinzip eine – ihrerseits ebenfalls bekanntlich nicht unproblematische – Forderung, man habe „sich seine Mitmenschen als moralisch gut vorzustellen“,125 ihnen also immer einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Eine solche Moral aus „Mitgefühl“ kann aber, wenn sie logisch bleiben will, nur solches Verhalten zur ‚Tugend‘ erklären, das anderen Menschen nützt; folglich kann sie eine Menge tradierter christlicher Normen nicht rechtfertigen; außerdem bleibt der Begriff des ‚Glücks‘ wiederum offen für sehr verschiedene Interpretationen, will man ‚Glück‘ nicht normativ wie Shaftesbury auf eine bestimmte psychische Verfassung festlegen. Hutchesons dezidiert rein anthropologische Argumentation laboriert zudem am Problem des Atheismus, dem er unter seinen Annahmen Moralität nicht einfach absprechen kann. Noch der Abbé de Mably (De la Législation, 1776) wird auf die emotionale Normbegründung rekurrieren. Der Mensch sei bestimmt durch „die Anziehung durch das Vergnügen und die Furcht vor dem Schmerz“;126 sein Hauptantrieb sei die „Eigenliebe“ („l’amour propre“), die gerechtfertigt wird: Si je ne m’aimois pas, comment serois-je capable d’aimer mon semblable?127 [Wenn ich mich nicht lieben würde, wie wäre ich dann im Stande, meinesgleichen zu lieben?]

Daraus resultiere dann „wechselseitiges Wohlwollen“ („bienveillance mutuelle“), wobei freilich nur eine – nicht spezifizierte – Religiosität Moralität garantiere, die dem Atheisten abgesprochen wird:128 eine These, der z. B. von d’Holbach (Système de la Nature, 1770) oder von Seume (Atheismus im Ver­ hältnis zu Religion, Tugend und Staat, 1796) explizit widersprochen wird, während Autoren wie Helvétius, Diderot, Hume dergleichen Nonsens gar nicht mehr diskutieren. Helvétius findet umgekehrt (De l’Homme, 1772), dass die aus Religion begründete ‚Moral‘ in keiner Weise geeignet sei, das 123  Hutcheson

z. A., S. 88. z. A., S. 89. 125  Hutcheson z. A., S. 102. 126  Mably z. A., S. 22: „l’attrait du plaisir et la crainte de la douleur“. 127  Mably z. A., S. 23 f. 128  Mably z. A., S. 323 f. 124  Hutcheson



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„Glück der größten Zahl“ zu befördern.129 Schon in De l’Esprit (1758), einem nach Erscheinen auf katholischen Druck verbotenen Werk, hatte er sein ethnohistorisches Wissen genutzt, um mit einer in der Aufklärung beliebten Strategie der Verschiebung, bei der Probleme der eigenen Kultur anhand fremder Kulturen abgehandelt werden, als spezifisch ‚religiös‘ geltende ‚Tugenden‘ zu ‚Scheintugenden‘ zu erklären, da wahre ‚Tugend‘ dem „allgemeinen Glück“ dienen, folglich „nützlich“ sein müsse.130 Zudem hatte er sich geradezu ein Vergnügen daraus gemacht, in Europa als universell verbindlich geltende Normen, zumal solche der Sexualität, als kulturrelativ und damit implizit als „Tugenden aus Vorurteil“ („vertu de préjugé“) zu erweisen. David Hume, bekanntlich einer der klügsten Köpfe der Epoche, macht in seiner Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751) – eher schon ein Metatext, der die ‚moral sense‘-Theorien analysiert, als selbst eine solche – alle Probleme dieser Theorien offenkundig. Auch bei ihm strebt der Mensch nach Glück; auch bei ihm gibt es das „Wohlwollen gegenüber anderen“, freilich in sehr reduzierter Form: Für unseren gegenwärtigen Zweck genügt es, wenn zugegeben wird, was sicherlich ohne die größte Absurdität niemals bestritten werden kann, daß ein gewisses, egal wie geringes Maß an Wohlwollen in unserem Herzen wohnt, ein Funke Freundschaft für die Menschheit […].131

Auf einem solchen minimalistischen ‚Gefühl‘ lässt sich nun freilich nicht viel ‚Moral‘ erbauen, zumal Hume den Hinweis hinzufügt, „wie groß der Einfluß der Gesellschaft bei der Entstehung und Aufrechterhaltung eines jeden Gefühls ist“.132 Wenn aber die Gesellschaft Struktur und Relation der Gefühle beeinflussen kann, lässt sich kaum mehr auf ein ‚natürliches Gefühl‘ bauen. Hume rekurriert also auf den ‚Nutzen‘, den bestimmte Eigenschaften für das Selbst bzw. die Anderen hätten, wobei ‚Moral‘ sich nurmehr aus dem ‚Egoismus‘ der Individuen legitimieren kann: Die Herleitung der Moral aus der Eigenliebe oder aus der Rücksicht auf persönliche Interessen ist ein naheliegender Gedanke […].133 Oder welche Moraltheorie kann jemals irgendeinem nützlichen Zweck dienen, außer wenn sie im einzelnen zeigen kann, daß alle Pflichten, die sie empfiehlt, auch die wahren Interessen eines jeden Individuums sind?134

Wie schon bei Shaftesbury wird dieser ‚moralische Egoismus‘ unterstützt durch eine soziale Folge: nämlich dass „persönliches Ansehen gänzlich in 129  Helvétius

z. A., Siebenter Abschnitt. z. A., S. 107 f. z. A., S. 199. z. A., S. 204. z. A., S. 136. z. A., S. 210.

130  Helvétius 131  Hume 132  Hume 133  Hume 134  Hume

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dem Besitz charakterlicher Eigenschaften besteht, die der Person selbst oder anderen nützlich oder angenehm sind“.135 Wenn aber ‚soziales Ansehen‘ zum Kriterium der Wahl zwischen Verhaltensweisen gemacht wird, dann hat das dieselbe Folge wie schon das (zutreffende) Postulat der Prägung der Gefühlsstruktur durch die Gesellschaft: Die Normen werden damit wiederum zu von der jeweiligen Gesellschaft abhängigen, also arbiträren und kulturrelativen. Dass Hume sich aber überhaupt mit der emotionalistischen Normbegründung ausführlich auseinander setzt, hat seinerseits einen guten Grund: Es scheint klar zu sein, daß der Verstand über die letzten Ziele menschlichen Handelns niemals und in keinem Fall Rechenschaft ablegen kann, sondern daß sie gänzlich den Gefühlen und Neigungen der Menschen überlassen sind, ohne irgendwie von den intellektuellen Fähigkeiten abzuhängen.136

Das aber heißt nun, dass nicht – wie die Frühaufklärung hoffte – Einsichten der Vernunft, sondern emotionale Antriebe die wahren Motive menschlichen Handelns sind, und diese Folgerung ist das Produkt einer neuen – realistischeren – Anthropologie. Doch Humes Text endet, auch nach vier als solchen deklarierten „Anhängen“, erst mit einem angefügten fiktiven Dialog des Autors mit einem Freund, in dem er sich von diesem noch einmal die Kulturrelativität von Normensystemen anhand der Differenzen zwischen Antike und Gegenwart und innerhalb dieser zwischen England und Frankreich vorhalten lässt. Am Ende fragt der Freund: Wo ist aber der allgemeine Maßstab für Moral, von dem du sprichst? Und welche Regel sollen wir für die vielen verschiedenen, nein, gegensätzlichen Empfindungen der Menschen aufstellen? Ein Experiment, sagte ich, das an der Luft gelingt, wird nicht immer im luftleeren Raum gelingen. Wenn Menschen von den Grundsätzen des gesunden Menschenverstands abweichen und diese künstliche Lebensweise, wie du sie nennst, annehmen, dann kann niemand wissen, was ihnen gefallen oder mißfallen wird.137

In eben dem Ausmaß, in dem die Anthropologie der Aufklärung die Differenz menschlicher Individuen und ihrer Wünsche akzeptiert, gelingt logischerweise auch keine Standardisierung von Begriffen wie ‚Glück‘ mehr, an der sich Normsetzungen ausrichten könnten. Im Metatext zum Metatext, dem Dialog eben, räumt Hume letztlich ein, dass es keine rational ableitbare oder emotional motivierte, für alle akzeptable Normbegründung geben könne. Er hat recht: Denn jede Normsetzung kann nur durch eine höherran135  Hume

z. A., S. 196; Hervorhebungen im Original. z. A., S. 224. 137  Hume z. A., S. 280. 136  Hume



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gige, jede höchstrangige nur durch eine Wertsetzung legitimiert werden; und was höchstrangige Normen und Werte sind, entscheidet nur der Konsens einer Gruppe oder Gesellschaft auf der Basis der jeweiligen Interessen (woraus sich dann folgern lässt, dass eine demokratische Abstimmung über Werte und Normen, wie sie Diderot vorgesehen hat, das kleinste Übel ist, da sie den Interessen der meisten dient, sofern man deren Wohl als obersten Wert anerkennt). Eine solche skeptische – weil empirische und rationale – Position war freilich nur für eine Minderheit in der Minderheit der Aufklärer annehmbar. Als charakteristischer und sehr erfolgreicher Antipode kann hier beispielshalber Rousseau fungieren. Im Discours sur l’origine et les fonde­ ments de l’inégalité (1755) behauptet er, schon im ‚Naturzustand‘ habe der Mensch ‚Mitleid‘ („pitié“) mit anderen, was in diesem Zustand Moral und Gesetze ersetze.138 Und optimistisch verkündet er in einer Anmerkung: L’homme est naturellement bon, je crois l’avoir démontré.139 [Der Mensch ist von Natur aus gut; ich glaube es bewiesen zu haben.]

Erst im Gesellschaftszustand sei das ‚Böse‘ in die Welt gekommen, gegen welches er, wie viele Aufklärer (in meinem Korpus z. B. Helvétius: De l’Esprit, 1758; De l’Homme, 1772) pädagogische Einwirkung im Sozialisationsprozess empfiehlt. Sein persönliches Programm dazu hat er in Emile, ou de l’éducation (1762) ausgeführt; der Text entwirft nun freilich erschreckend reaktionäre Konzeptionen der Frauenrolle und der Sexualnormen; „Wollust“ bleibt hier höchst verwerflich, selbst wenn sie sich keiner „abweichenden“ Praktiken bedient. Was erotische Lust betrifft, äußern sich freilich die meisten Aufklärer konservativ oder sie sparen das Thema vorsichtshalber aus. Es ist wiederum nur eine (auch religiös stark abweichende) Minorität innerhalb der Minorität der Aufklärer, die theoretisch „sinnlichen Genuss“, darunter auch den erotischen, rechtfertigt und moralisch zulässt: so etwa der als ‚Materialist‘ verschriene de la Mettrie in La Volupté („Die Wollust“, 1745), so Diderot im Artikel Jouissance („Genuss“) in der Ency­ clopédie (Bd. 8, 1765), so implizit auch Helvétius in De l’Esprit; und in seiner neuen, ‚sensualistischen‘ Anthropologie hatte Fréret immer wieder betont, es gehe dem Menschen darum, „das Vergnügen zu suchen und den Schmerz zu fliehen“140; praktisch hingegen wird erotische Lust in unzähligen erotischen Romanen, vor allem in Frankreich, zelebriert: interessant ist zumal die Textgruppe, die ich „philosophisch-pornographische Romane“ 138  Rousseau

z. A., S. 198. z. A., S. 172. 140  „chercher le plaisir et fuir la douleur“: Fréret z. A., z. B. S. 323, 348, 372, 374, 383. 139  Rousseau

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nenne. Denn in diesen – die wegen der kirchlichen und staatlichen Zensur und deren Sanktionsdrohungen anonym erscheinen müssen – werden nicht nur alle möglichen, von den traditionellen Sexualnormen strikt verbotenen, erotischen Praktiken dargestellt, sondern auch als – da diese sie zulasse – nicht der ‚Natur‘ widersprechend legitimiert, und die einschlägigen Normverletzungen werden nicht bereut und nicht sanktioniert. Die Normen werden nicht nur verletzt: Sie werden negiert. Das belegt zumindest Mentalitätsveränderungen in jenen gehobenen Schichten, die lesen und sich den Erwerb teurer – weil verbotener – Bücher leisten können. Und das heißt, dass die Vorstellungen von ‚Glück‘ inzwischen sehr viel weiter ausdifferenziert und individualisiert sind, als die Moraltheorien – zumindest explizit – zuzugeben bereit sind. Auf einen wichtigen und folgenreichen Versuch – in diesem Falle: – rationalistischer Normbegründung muss wenigstens knapp noch eingegangen werden. Neben der Existenz unbedeutend-trivialphilosophischer Theorien wie z. B. Johann August Eberhards Sittenlehre der Vernunft (1781) oder praktisch-trivialen, konservativen Normendarstellungen wie z. B. Carl Friedrich Bahrdts Handbuch der Moral für den Bürgerstand (1789) haben wir im deutschen Sprachgebiet natürlich die einschlägigen drei Schriften Kants, auf deren philosophische Komplikationen ich mich schon aus Kompetenzgründen nicht einlassen werde. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und analog in der Critik der practischen Vernunft (1788) formuliert er seine zwei berühmten Regeln: Der kategorische Imperativ ist nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.141 Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.142 [Hervorhebungen von mir]

Am einfachsten und vielleicht am klarsten hat Kant den „kategorischen Imperativ“ ein drittes Mal in der Metaphysik der Sitten (1797) formuliert: „handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann“.143 Den Test, ob man mit diesen Imperativen Normen begründen kann, sofern Kant dies denn beabsichtigt hat, macht man am einfachsten mit Kants eigenen Normsetzungen in der Metaphysik; und wiederum bietet sich das Beispiel der Sexualnormen an. Die „unnatürlichen Laster (crimina carnis 141  Kant: Grundlegung, z. A., S. 51; analog Critik, z. A., S. 140. Dort in der eleganteren Formulierung: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ 142  Grundlegung, z. A., S. 60; analog Critik, z. A., S. 210. 143  Metaphysik, z. A., S. 331.



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contra naturam)“, verkündet Kant, seien eine „Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person“ und gänzlich zu verwerfen:144 nur warum? Jedenfalls nicht aus dem „kategorischen Imperativ“ heraus: Denn wenn ein X sich die Ausübung der „widernatürlichen“ Praktik Y erlaubt, kann das „allgemeine Gesetz“ heißen, Y solle einem jedem X erlaubt sein – und, siehe, alles ist bestens. Dass man auch mit dem „praktischen Imperativ“ nicht weit kommt, hat Kant selbst unfreiwillig am Thema ‚Ehe‘ illustriert, die in der „Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“ bestehe.145 Bei diesem „Genuß“ gebe sich ein Mensch dem anderen hin, und der Mensch mache sich selbst zur ‚Sache‘. Dieser Defekt werde dadurch aufgehoben, dass auch der andere Teil dasselbe täte, und dadurch stelle jeder seine „Persönlichkeit“ wieder her.146 Das würde nun freilich auch für nicht-eheliche heterosexuelle (wie auch für homosexuelle) Beziehungen gelten, so dass er zudem die Verpflichtung zu Dauer der Beziehung fordern muss, welche nur durch den Vertrag der Ehe gesichert werde, womit er wiederum ausschließt, dass zwei Menschen sich entweder von vornherein nicht für immer an einander binden wollen oder später sich zu trennen beschließen; in beiden Fällen wäre nur unter geistigen Verrenkungen die Verletzung eines seiner Imperative konstruierbar. Nur am Rande angemerkt sei, dass in der Ehe der Mann aufgrund seiner „Überlegenheit“ selbstverständlich „Herr“ ist und im übrigen die Frau „besitzt“, als wäre sie doch eine „Sache“. Die Beispiele – und es gäbe unzählige weitere in der Metaphysik, nicht zuletzt in ihren politischen Normsetzungen – machen wohl deutlich, dass aus Kants „Imperativen“ nur genau dann Normen ableitbar sind, wenn ich sie vorher schon vorausgesetzt habe: also gar nicht. An sich sind in der Spätaufklärung alle (Staats-, Rechts-, Moral-)Theorien, die mit dem Konzept der ‚Natur‘ arbeiten, intellektuell am Ende: ‚Natur‘ hat sich als äußerst heterogen interpretierbar erwiesen; hinzu kommt, das zu den bisherigen, scheinbar logisch-deduktiv verfahrenden Theorien solche in Konkurrenz zu treten beginnen, die umgekehrt nur aus den empirisch gesicherten Daten Folgerungen zu ziehen versuchen oder vorgeben (womit die bislang umfassende Philosophie zur Auflösung in Einzeldisziplinen tendiert). Ein Beispiel möge belegen, was dann passieren kann; es stammt aus Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society (1767): Von allen Begriffen, die wir verwenden, wenn wir von menschlichen Angelegenheiten handeln, sind die des Natürlichen und des Unnatürlichen am wenigsten in ihrer Bedeutung bestimmt. […] das Natürliche, ein lobendes Prädikat, das aber verwendet wird, um ein Verhalten zu klassifizieren, das aus der Natur des Men144  Kant

z. A., S. 390. z. A., S. 390. 146  Kant z. A., S. 391. 145  Kant

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schen hervorgeht, kann nicht dienen, irgend etwas zu unterscheiden: Denn alle Handlungen der Menschen sind gleichermaßen die Folge ihrer Natur.147

Wenn dem so ist, kann die Opposition ‚natürlich vs. unnatürlich‘ nicht mehr zur Unterscheidung von ‚moralisch vs. unmoralisch‘ dienen; genau das ist die Folgerung, die etwa der philosophisch-pornographische Roman in Frankreich zieht: eine Folgerung, die Ferguson sicher nicht intendiert hat. Wenn wie bei Ferguson der Mensch „in some measure the artificer of his own frame“ ist,148 hat die apriorische Anthropologie ihre Grenze erreicht. 2. Rechtstheorien: Das ‚Schädigungsverbot‘ als Basisnorm Die Rechtfertigung ‚moralischer‘ Normen dient nun potentiell – und nur potentiell: da das ‚Recht‘ von der ‚Moral‘ abweichen kann – auch der Begründung ‚juristischer‘ Normen. Denn ‚juristische‘ Normen basieren natürlich, ausgesprochen oder unausgesprochen, immer auf jenen Normen, die eine Gesellschaft oder zumindest eine kulturell dominante Teilgruppe von ihr für ‚moralisch‘ hält, und den Werten, die sie voraussetzt, was nicht bedeutet, dass die juristische Argumentation sich mit dem Wert- und Normensystem einer (Gruppe einer) Gesellschaft identifizieren muss: Sie kann dieser (Gruppe einer) Gesellschaft ebenso vorauseilen wie hinterher hinken;149 das wiederum ist eine Funktion der intellektuellen Herkunft und der sozialen Zusammensetzung derer, die den juristischen Diskurs führen. Die innovativen Autoren meines Zeitraums jagen jedenfalls herrschende Gruppen vor sich her, indem sie ein Rechtsprinzip zum dominanten und allein rational rechtfertigbaren erklären. Der Marquis d’Argenson (1694–1757), zeitweilig französischer – und wie es scheint: ‚aufgeklärter‘ – Minister, wird von Rousseau im Contrat social zitiert und kommentiert: 147  Ferguson z. A., S. 10. „Of all the terms that we employ in treating of human affairs, those of natural and unnatural are the least determinate in their meaning. […] the natural is an epithet of praise; but employed to specify a conduct which proceeds from the nature of man, can serve to distinguish nothing: for all the actions of men are equally the result of their nature.“ 148  Ferguson z. A., S. 6. 149  Sehr gut an unserer BRD zu zeigen: 2013, befindet sich das Verfassungsgericht in Einklang mit einer Bevölkerungsmehrheit und jagt eine konservative Regierung vor sich her, was die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit heterosexuellen Ehen betrifft; in den 1960er und 1970er Jahren hingegen wurden die obersten deutschen Gerichte von einer intellektuell dominanten Bevölkerung, vermutlich einer Minderheit, gejagt, was die Tilgung reaktionärer Sexualnormen aus dem Strafrecht anlangte.



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit137 Dans la République, dit le M[arquis d’Argenson], chacun est parfaitement libre en ce qui ne nuit pas aux autres. Voilà la borne invariable; on ne peut la poser plus exactement.150 [Im Staat, sagt der Marquis d’Argenson, ist jeder vollkommen frei in dem, was anderen nicht schadet. Das ist die unveränderliche Grenze; genauer kann man sie nicht ziehen.]

Damit ist ein Grundsatz der Gesetzgebung – nennen wir ihn ‚Schädi­ gungsverbot‘ – formuliert, der zwar scheinbar nur den römischen Rechtsgrundsatz „neminem laedere“ aufnimmt, faktisch aber gravierende Folgen für die Gesetzgebung der Epoche hätte: Denn verboten wäre ein Verhalten nur mehr, weil es jemandem schadet – nicht, weil es ‚unmoralisch‘ ist oder die ‚Religion‘ verletzt. Natürlich haben auch Theoretiker wie z. B. Pufendorf oder Heineccius das Schädigungsverbot;151 aber bei ihnen ist es nur ein Rechtsgrundsatz neben anderen, nicht der entscheidende. Der neue Grundsatz wird bei den Aufklärern Karriere machen. Beccaria (Dei delitti e delle pene, 1764) wird ihn seinem Entwurf einer Strafgesetzgebung zugrunde legen; er erörtert, welches Verhalten zu verbieten und in welchem Maße zu bestrafen sei: Abbiamo veduto qual sia la vera misura dei delitti, cioè il danno della società […].152 [Wir haben gesehen, welches der wahre Maßstab für Verbrechen wäre, nämlich der Schaden für die Gesellschaft.]

Zwei Klassen traditioneller ‚Delikte‘ sind nun, wenn Gesetzgebung sich als ‚Schadensvermeidung‘ für die Bürger zu legitimieren hat, besonders schwer als ‚Schädigungen‘ interpretierbar. Das sind zum einen die quasi ‚theologischen Delikte‘: ‚Gotteslästerung‘, ‚Abfall vom Glauben‘, ‚häretische Meinungen‘, ‚Unglauben‘, ‚Hexerei‘ usw.; das ist zum anderen eine Teilklasse der ‚Sexualdelikte‘: jene Verstöße gegen tradierte christliche Sexualnormen, die im Konsens beider (wahlweise: aller) Beteiligten und ohne Schädigung eines der Beteiligten stattfinden und gegen die folglich rational nicht das Mindeste einzuwenden ist – entgegen der Meinung der älteren ‚Naturrechts‘-Theoretiker wie auch heute noch der katholischen Kirche. Beccaria schreibt unter den Bedingungen eines immer noch katholisch beherrschten Italiens und muss also vorsichtig sein, um sich nicht die Sanktionen des dort geltenden ‚Rechts‘ zuzuziehen. So schreibt er denn auch in einem Brief an seinen französischen Übersetzer bzw. Bearbeiter André 150  Rousseau z. A., S. 178: Anmerkung. Unklar ist, ob in diesem Kontext „république“ „Staat“ oder „Republik“ bedeutet; beides wäre möglich: vgl. Bodins Six ­livres de la republique, wo eindeutig „Staat“, nicht „Republik“ gemeint ist. 151  Z. B. Pufendorf z. A., S. 72; Heineccius z. A., S. 133. 152  Beccaria z. A., S. 47 [= § VIII].

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Morellet im Mai 1766 nach dem Erscheinen von dessen – manches umstellenden, manches deutlicher formulierenden – Version Des délits et des peines (1766): Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich beim Schreiben die Beispiele Machiavellis, Galileis, Giannones153 vor Augen hatte. Ich habe das Geräusch der Ketten gehört, die der Aberglaube schüttelt, und das Geschrei des Fanatismus, das das Stöhnen der Wahrheit erstickt. Der Anblick dieses erschreckenden Schauspiels hat mich bewogen, gelegentlich das Licht in Wolken einzuhüllen. Ich wollte die Menschlichkeit verteidigen, aber nicht ihr Märtyrer werden.154

Was ‚Gott‘ anlangt, kommt Beccaria mit dem Problem relativ gut klar: sein Argument ist, wie könnte der Mensch es wagen, zu entscheiden, wodurch sich Gott verletzt fühlt, und mit irdischen Gesetzen dem unbekannten gött­ lichen Gericht vorzugreifen (§ VI)? Die traditionellen ‚Sexualdelikte‘ behandelt er selektiv im § XXXI über „Schwer nachweisbare Delikte“ („Delitti di prova difficile“), im wesentlichen am Beispiel des Ehebruchs und der Homosexualität („greca libidine“ bzw. „l’attica venere“); letztere ist ein „Vergehen“, das im christlich dominierten ‚Recht‘ mit Tod durch Verbrennen sanktioniert wird.155 Er zieht sich hier auf die Position zurück, es gäbe ein menschliches Sexualbedürfnis und man solle diese ‚Delikte‘ präventiv verhindern, indem man Eheschließungen mit freier Partnerwahl begünstige; vermutlich die meisten Ehen waren schließlich erstens Zwangsehen, von den Eltern geschlossen, zweitens abhängig von ökonomischen Voraussetzungen. In anderen Texten wird das Problem eindeutiger verhandelt. Die im Deutschen Reich offiziell ja noch geltende PGO / CCC (Art. 116) hatte verkündet: Straff der vnkeusch, so wider die natur beschicht 116. Item so eyn mensch mit eynem vihe, mann mit mann, weib mit weib, vnkeusch treiben, die haben auch das leben verwürckt, vnd man soll sie der gemeynen gewonheyt nach mit dem fewer vom leben zum todt richten.156

Sexualverhalten „contra naturam“ / „wider die Natur“ wird im 18 Jahrhundert gern unter „Sodomie“ subsumiert, wobei der Verkehr mit Tieren auch als „Bestialität“ ausgegrenzt werden kann. Zum Delikt der ‚Sodomie‘ rechnet etwa der Jurist Karl von Grolman (Grundsätze der Criminalrechtswis­ senschaft, 1797) zudem auch alle heterosexuellen Praktiken, die nicht der Vermehrung dienen (also: manuelle, orale, anale Vergnügungen usw.), wie 153  Pietro Giannone (1676–1748), laut www.filosofico.net / giannone.htm wegen scharfer Kritik an Vatikan und Klerus eingekerkert. 154  Beccaria z. A. der franz. Übs., S. 187. 155  Noch 1772 wird wegen stark abweichender Sexualpraktiken der Marquis de Sade zum Tode verurteilt; da er sich der Strafe durch Flucht entzieht, kann er zum Bedauern der Justiz nur in effigie verbrannt werden. 156  Z. A., S.  76.



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auch die Onanie.157 Als ‚widernatürlich‘ gilt also, in christlicher Tradition, alles, was nicht grundsätzlich der Vermehrung dient; auffällig ist aber, dass Grolman die weibliche Homosexualität aus dem Katalog der ‚Sodomie‘Delikte getilgt hat. Das ist Folge einer seltsamen phallozentrischen Anthropologie: Wo kein Penis mit von der Partie, da keine Sexualität. Grolman thematisiert auch, dass man hier die PGO / CCC nicht nur in der Rechtspraxis, dem „usus fori“, uminterpretiert habe, sondern auch theoretisch, indem man einerseits – und eingestandenermaßen – zur Vermeidung von sozialen Skandalen und andererseits – uneingestanden – wegen des Defizits an ra­ tionaler Legitimation der Norm derartige Delikte zu „bloßen Polizeyverbrechen“, also quasi „Ordnungswidrigkeiten“, abgestuft habe.158 Und: „Verborgene Unzuchtssünden läßt man gern in ihrer Verborgenheit vergraben, um nicht durch Untersuchung selbst polizeylich nachtheilig zu wirken“,159 es sei denn, man wäre durch eine Anzeige dazu gezwungen. Sobald man aber das Schädigungsverbot als Norm der Gesetzgebung tatsächlich ernst nimmt, kommt man so leicht nicht mehr davon. In einer Untersuchung zum Artikel 116 der PGO (Dubia in applicatione art. 116 C.C.C., 1787) beruft sich Johann Christoph Eschenbach auf den Juristen Hommel, der 1778 Beccarias Werk ins Deutsche übersetzt und kommentiert hat und geschrieben habe, nicht-eheliche Sexualität, uneheliches Zusammenleben, Prostitution, Sodomie (in der damaligen weiten Bedeutung), Inzest, Onanie seien Schändlichkeiten, nicht aber Verbrechen, weil niemand durch diese Taten verletzt wird. Was freilich die Scham verbietet, darf nicht schon rechtswidrig genannt werden, wie umgekehrt manches rechtmäßig, aber gleichwohl nicht eben eine Zier ist. Nehmen wir schändliches Handeln also ebenso wie die theologischen Sünden aus der Liste der Verbrechen heraus.160

Zum christlich gesehen extrem hochrangigen Delikt des Analverkehrs („venus praepostera“) mit Mann oder Frau meint Eschenbach denn auch nur, die Mediziner diskutierten noch, „ob diese Handlung unschädlich für die Gesundheit der sich hingebenden Person sei“.161 Im deutschsprachigen Gebiet schreibt dann kein Geringerer als Wilhelm von Humboldt ein erstes – eindrucksvolles! – Plädoyer für einen liberalen 157  Grolmann

z. A., S. 445. z. A., S. 411. 159  Grolmann z. A., S. 446. 160  Eschenbach z.  A., S. 10: „… turpitudines sunt, non crimina, quia nemo his factis laeditur. Nempe quae pudor vetat, iniusta dici non debent, uti e contrario iusta quaedam sunt nec decora tamen. Eximamus turpia facta pariter atque theologica peccata criminum tabulis.“ 161  Eschenbach z. A., S. 14: „num haec actio personae succubae sanitati innoxia sit.“ 158  Grolmann

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und humanen Staat: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792: Teilabdruck 1792, Erstausgabe 1851!); selbstverständlich wird der Druck von der preußischen Zensur verhindert – man zittert vermutlich vor der Nähe zur Französischen Revolution und „umstürzlerischen“ Texten wie deren Déclaration des droits de l’homme. Auf die Verdienste (und die Probleme) dieses liberalen Programmes kann hier nicht eingegangen werden; auch er macht aber das Schädigungsverbot zur Basis rational akzeptabler Gesetzgebung: Hingegen Handlungen, welche sich allein auf den Handlenden beziehen oder mit Einwilligung dessen geschehen, den sie treffen, zu bestrafen, verbieten eben die Grundsätze, welche dieselben nicht einmal einzuschränken erlauben; und es dürfte daher nicht nur keins der sogenannten fleischlichen Verbrechen (die Notzucht [= Vergewaltigung] ausgenommen), sie möchten Ärgernis geben oder nicht, unternommener Selbstmord usf. bestraft werden […].162

Humboldt attackiert zudem an anderer Stelle das tradierte Konzept des „Un- / Widernatürlichen“: Bei diesem letzteren Ausdruck kann ich mich jedoch nicht enthalten, vorzüglich in Hinsicht auf gewisse einseitige Beurteilungen noch zu bemerken, daß nicht unnatürlich heißen muß, was nicht gerade diesen oder jenen Zweck der Natur erfüllt, sondern was den allgemeinen Endzweck derselben mit dem Menschen vereitelt. Dieser aber ist, daß sein Wesen sich zu immer höherer Vollkommenheit bilde […].163

P. J. A. Feuerbach, der Mitautor des bayerischen Strafgesetzbuches von 1813 sein wird, hat 1796 ein Werk veröffentlicht, bei dem schon der Titel programmatisch war: Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte – der Mensch hat also Rechte. Von „den Rechten“ unterscheidet er „das Rechte“, also die ‚Moral‘, und „das Recht“, also die Gesetze. Zutreffend wirft er dem ‚Naturrecht‘ vor, es sei immer nur „eine Tochter der Moral“ gewesen,164 also im Grunde kein eigenständiges System, sondern immer Projektion der jeweils für wünschenswert erachteten ‚Moral‘ auf die ‚Natur‘: Ich bemerke nun weiter, wenn ich über die Rechte reflectire, daß diese rechtliche Freiheit nicht allein Rechte zu moralisch-möglichen, sondern auch zu moralischunmöglichen Handlungen befaßt. Mein Bewußtseyn sagt mir, daß ich zu allen dem ein Recht habe, wodurch ich die Recht eines anderen nicht verletze.165

Was seine eigene Moraltheorie anlangt, rekurriert er explizit auf Kant: Man dürfe weder einen anderen Menschen noch auch sich selbst als bloßes Mittel zu Zwecken verwenden.166 162  Humboldt

z. A., S. 154. z. A., S. 111. 164  Feuerbach z. A., S. 305. 165  Feuerbach z. A., S. 86 f. 166  Feuerbach z. A., S. 269 f. bzw. 271. 163  Humboldt



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Als – wenn ich recht sehe: – einzige der Gesetzeskodifikationen um 1800 wird das Strafgesezbuch für das Königreich Baiern (1813) Konsequenzen aus dem neuen Rechtsprinzip ziehen; in den im selben Jahr erschienenen Anmerkungen zu diesem Gesetz, die dessen offizielle Erläuterung und Begründung sind, heißt es im Sinne Feuerbachs: Die älteren Geseze haben gar oft das Unmoralische mit dem Rechtswidrigen verwechselt, und die Immoralität der Handlungen zum Maßstab genommen. Niemand wird Hexerei, Sodomie, Unzucht, Unglauben, Ketzerei, Blasphemie u. dgl. billigen oder für etwas Erlaubtes ansehen; allein dergleichen Gegenstände liegen solange, als damit keine Verletzung der Rechte des Staats oder eines Privaten verbunden ist, außer der Sphäre eines Strafgesezbuches […].167 Selbstbefleckung [= Onanie], Sodomie [= Homosexualität + nicht-prokreative Heterosexualität], Bestialität [= Sodomie im heutigen deutschen Sprachgebrauch], der außereheliche freiwillige Beischlaf, sind schwere Übertretungen der mora­ lischen Gebote, aber zur Sphäre der äußeren Gesezgebung gehören sie nicht […].168

Keine der anderen – preußischen, französischen (?), österreichischen – Gesetzgebungen war so konsequent, wenngleich sie die Strafmaße für derartige ‚Delikte‘ drastisch reduzieren:169 Bayern war vor 200 Jahren wirklich aufgeklärt. Bei so viel vernünftiger Liberalität blieb es natürlich nicht;170 167  Z. A.,

Bd. I, S. 25. Bd. II, S. 59; ganz konsequent ist man freilich nicht; selbst einvernehmlicher Inzest zwischen Erwachsenen bleibt strafbar. Diese inkonsequente Position vertrat mehrheitlich noch im Februar 2008 auch das Bundesverfassungsgericht, das darin – ebenso erstaunlich – im April 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt wurde. Eventuelle genetische Schädigungen potentiellen Nachwuchses können dafür schwerlich als Argument geltend gemacht werden, da man sonst im Nazi-Sinne auch andere Sexualbeziehungen zwecks ‚Verhinderung erbkranken Nachwuchses‘ unter Strafe stellen müßte. 169  Das preußische ALR (Bd. III) bestraft „Sodomiterey und dergleichen unnatürliche Sünden, die wegen ihrer Abscheulichkeit hier nicht genannt werden können“ (§ 1069) mit ein- bis mehrjähriger Zuchthausstrafe (§ 1070) – zum Vergleich: „Nothzucht“ wird bestraft mit 4 bis 6 Jahren Zuchthaus (§ 1048). Das österreichische GBV (1. Theil, 15. Hauptstück) bestraft „Blutschande“ und „Unzucht gegen die Natur“ mit 6 Monaten bis 1 Jahr Kerker (Art. 113) – zum Vergleich: Vergewaltigung wird bestraft mit 5 bis 10 Jahren „schwerer Kerker“ (Art. 111). Unklar – zumindest mir – ist der Fall des französischen CP, wo es keinen Artikel über „widernatürliche“ Sexualität zu geben scheint; andererseits vermerkt der letzte Art. 484: „In allen Materien, worüber das gegenwärtige Gesetzbuch keine Bestimmungen enthält, sollen die darüber vorhandenen besondern Gesetze und Verordnungen von den Gerichtshöfen und Gerichten fortwährend zur Richtschnur genommen werden.“ 170  So finden wir in der Verfassung unserer BRD von 1949 (GG, Art. 2 (1)) ein „Sittengesetz“, auf dessen Verbindlichkeit sich die Verfassungsgeber berufen. Wer dieses „Sittengesetz“ erlassen habe und was dessen Inhalte seien, wird nicht präzi168  Z. A.,

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jedenfalls protestiert schon 1819 der Jurist Carl Joseph Anton Mittermaier gegen solche Abkoppelung des Rechts von der Moral: Das Gesetz selbst demoralisiert die Nation und lehrt sie gewisse Handlungen für gleichgültig ansehen, indem es sie nicht für wichtig genug anerkennt, sie mit einer Strafe zu verpönen.171

3. Humanisierung von Strafrecht und Strafprozess: Cesare Beccaria 1764 erscheint Beccarias Dei delitti e delle pene („Von Verbrechen und Strafen“): ein europäisches Ereignis, das der deutsche Jurist und Übersetzer Hommel, meine ich, zurecht ein „unsterbliches Werk“ genannt hat, auch wenn es, vor der französischen Bearbeitung durch André Morellet 1766, noch wenig systematisch angeordnet war. Ich muss mich wiederum auf einige Aspekte beschränken. Beccaria zufolge haben Gesetze und Gerichtspraxis Schaden von der Gesellschaft abzuwenden und sich durch ihren Nutzen für das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl zu legitimieren, was auch bedeutet, das Recht habe sich nur mit irdischen Delikten, nicht aber mit ‚theologischen‘ zu befassen; empört äußert er sich über die Scheiterhaufen die man in Europa angezündet habe, wegen Delikten, über die er sich in seiner Situation nicht näher auslassen könne.172 Einer seiner Rechtsgrundsätze sei besonders hervorgehoben, da er quasi Kant vorwegnimmt: Non vi è libertà ogni qual volta le leggi permettono che in alcuni eventi l’uomo cessi di essere persona e diventi cosa.173 [Jedesmal gibt es dort keine Freiheit, wo die Gesetze erlauben, dass der Mensch in manchen Kontexten aufhört, Person zu sein, und Sache wird.] siert: Offenbar ging man hier von einem selbstverständlichen Konsens aus, der mit Sicherheit seit langem nicht mehr gegeben war. 1954 wird es folglich ein erschreckendes Urteil des zweiten Strafsenats des Bundesgerichtshofs geben, in dem unter Berufung auf eben diesen „Sittengesetz“-Paragraphen Sexualität nur in einer als lebenslänglich konzipierten Ehe zulässig sei und somit die Tolerierung des „Beischlafs“ selbst unter „Verlobten“ den Tatbestand der „Kuppelei“ erfüllt. Laut diesem obersten Gericht ist auch die „Ordnung der Familie […] von Gott gestiftet und daher für den menschlichen Gesetzgeber undurchbrechbar“. Der Text des Urteils findet sich in: Norbert Hoerster (Hg.): Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie. Stuttgart 1987, S. 103–109, das Zitat S. 108. 171  Grundfehler der Behandlung des Kriminalrechts, Mittermaier z. A., S. 125. 172  § XXXIX, Beccaria z. A., S. 105: „Ma gli uomini ragionevoli vedranno che il luogo, il secolo e la materia non mi permettono di esaminare la natura di un tal delitto.“ 173  § XX, Beccaria z. A., S 69; Hervorhebung im Original.



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Aus den von ihm gesetzten Zielen der Legislative und Judikative folgt die Forderung nach der Gleichheit aller vor dem Gesetz,174 die sich gegen die Privilegien von Adel und Klerus auch vor Gericht wendet (§ XXI). Die Gesetze müssen klar und unmissverständlich sein, damit jeder wissen kann, ob ein Verhalten eine justiziable Normverletzung darstellt oder nicht. Zu den Rechten des Angeklagten soll gehören, dass er von Seinesgleichen gerichtet wird, wobei neben dem Hauptrichter durch Zufall ausgewählte Beisitzer mitwirken sollen; dass er das Recht hat, Richter wegen Befangenheit abzulehnen; dass das Verfahren und alle Beweismittel öffentlich sind (§ XIV); dass geheime Anklagen unzulässig sein sollen (§ XV). Bis zum Erweis des Gegenteils im Prozess habe die Unschuldsvermutung zu gelten (§ XIII).175 Folgerichtig fordert er eine möglichst kurze und milde Untersuchungshaft und einen möglichst frühzeitigen Prozesstermin. Im Verfahren selbst sind die Beweismittel sorgfältig zu prüfen: Die Glaubwürdigkeit eventueller Zeugen ist zu untersuchen (§ XIII); eventuelle Indizien müssen voneinander unabhängig sein, so dass für jeden mit gesundem Menschenverstand („uomo di buon senso“) die „Wahrscheinlichkeit so ist, dass sie Sicherheit genannt wird“176. Neu ist hier die Zulassung des reinen Indizienprozesses, bei dem – entgegen dem bisherigen ‚Recht‘ – auf das Geständnis des Angeklagten verzichtet werden kann, wenn die Beweise überzeugend sind. Wie viele andere177 empört sich Beccaria folglich gegen die Folter (§ XVI) als „Beweismittel“: Suggestive Befragungen durch Richter würden verworfen, aber „welche Befragung [sei] suggestiver als die durch den Schmerz“?178 Nicht neu ist dieses Dilemma: entweder ist das Vergehen gewiss oder es ist nicht gewiss; falls gewiss, dann gebührt ihm keine andere Strafe als die von den Gesetzen festgelegte, und die Foltern sind unnötig, weil das Geständnis des Angeklagten überflüssig ist; falls es ungewiss ist, darf man nicht einen Unschuldigen foltern, weil dieser gemäß dem Gesetz ein Mensch ist, dessen Verbrechen nicht bewiesen sind.179 174  Diese kennt noch das ALR 1794 nicht; im 2. Teil, 9. Titel, geht es z. B. um „Rechte und Pflichten des Adelsstandes“, wobei allein schon die juristische Bestätigung von sozialen „Standesunterschieden“ signifikant ist. 175  § XIII, Beccaria z. A., S. 55: „il diritto che ciascuno ha d’essere creduto innocente“. 176  § XIV, Beccaria z. A., S. 57: „probabilità tale che è chiamata certezza“. 177  Z. B. Voltaire, Dictionnaire philosophique, unter Torture, z. A., S. 368 ff. 178  § XXXVIII, Beccaria z.  A., S. 104: „qual interrogazione più suggestiva del dolore?“ 179  § XVI, Beccaria z.  A., S. 60: „Non è nuovo questo dilemma: o il delitto è certo o incerto; se certo, non gli conviene altra pena che la stabilita dalle leggi, ed inutili sono i tormenti, perché inutile è la confessione del reo; se è incerto, e’ non devesi tormentare un innocente, perché tale è secondo le leggi un uomo i di cui delitti non sono provati.“

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Eindeutig lehnt Beccaria auch die Todesstrafe ab.180 Strafen sollen milde sein; wichtig sei die Gewissheit der Strafe, nicht ihre Grausamkeit (§ XXVII). Strafzweck sei es, den Täter von weiteren Schädigungen abzuhalten und die anderen abzuschrecken. Beccaria plädiert für einen Staat, der Verbrechensprävention betreibe, zum einen durch eine auf öffentliche Kosten unterhaltene nächtliche Beleuchtung, durch eine funktionsfähige Polizei, usw., zum anderen aber durch ein Minimum sozialstaatlicher Fürsorge gegen Armut (Weiteres zu Beccaria unter V. 4., V. 5., VI. 2.) VII. Eine aufklärerische Erfindung: Die ‚Menschenrechte‘ 1. Erklärungen der Menschenrechte Dass der Mensch auch im Gesellschaftszustand Rechte hat, darunter auch solche gegen Staat und Kirche(n), wird in der Spätaufklärung erstmals juristisch verbindlich 1776 in den neu gegründeten USA, 1789 in Frankreich festgeschrieben; und es ist signifikant, dass es dazu jeweils einer Revolu­tion gegen das bestehende Herrschaftssystem bedurfte. Die Formulierung aus der Declaration of Independence der USA (Juli 1776) ist berühmt: We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal and that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of happiness. That to secure these rights, Governments are instituted among men, deriving their just powers from the consent of the governed.181

Diese „Rückeroberung“ verlorener Freiheiten und Rechte wird einerseits durch Berufung auf einen Gott („Creator“) und das ‚Naturecht‘ („the Laws of Nature and of Nature’s God“) legitimiert, wobei nicht spezifiziert wird, ob es der Gott einer der vielen christlichen Fraktionen oder der deistische ist: In jedem Falle ist es aber ein durch die Aufklärung transformierter Gott; denn der frühere christliche Gott kannte keine Menschenrechte,182 ebenso wenig wie das ursprüngliche frühneuzeitliche ‚Naturrecht‘. Einige der Re180  Das wird ihm z. B. Kant in der Metaphysik der Sitten (1797) als „Empfindelei einer affektierten Humanität“ vorwerfen (z. A., S. 456). 181  Der Text wird hier und im Folgenden zitiert nach: www.heritage.org / initiati ves / first-principles / primary-sources / the-declaration-of-independence. 182  Und die spezifisch katholische Variante dieses Gottes wird die Menschenrechte erst spät im 20. Jahrhundert akzeptieren; freilich hat der Vatikan bis heute (2013) – als einziger Staat neben Weißrussland – die europäische Menschenrechtskonven­ tion nicht unterschrieben. Aus dem 19. Jahrhundert ist der Syllabus errorum des Papstes Pius IX. von 1864 (Text z. B. unter kathpedia.com, eingesehen im Februar 2013) ein signifikantes Dokument, in dem immer noch der Anspruch auf Kontrolle



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präsentanten des neuen Staates – so der offenbar dezidiert antichristliche Jefferson183 – sollen übrigens eindeutig Deisten gewesen sein. Andererseits werden diese neuen Rechte als ‚self-evident‘, also keiner Begründung bedürftig, klassifiziert. Dass es überhaupt so etwas wie „unveräußerliche Rechte des Menschen“ gebe, ist eine Aussage, die in meinem Korpus erstmals in Diderots Artikel von 1755 (vgl. unter 3.2.) – die „droits naturels véritablement inaliénables […] de l’humanité“ – belegt ist, und zwar ohne jede Berufung auf einen Gott. Der Inhalt dieser Rechte wird in der einen Monat früher entstandenen Virginia Bill of Rights184 (Juni 1776) präziser aufgelistet. Neben dem Recht auf Leben, Sicherheit, Freiheit, Besitz und dem Streben nach dem „greatest degree of happiness“ wird hier ein im Sinne Beccarias rechtsstaatliches Gerichtsverfahren, Publikationsfreiheit und Religionsfreiheit garantiert: „die freie Ausübung der Religion, gemäß den Diktaten des Gewissens“.185 Im Gegensatz zum Konzept des ‚Gewissens‘ in der Frühen Neuzeit, wo dieses eine Folge der Religion war, also eine von dieser abhängige Funktion, hat sich die Relation inzwischen umgekehrt: ‚Gewissen‘ ist hier Voraussetzung der Religion und deren Wahl eine Funktion des Gewissens. Ein solche Religionsfreiheit, die das traditionelle Christentum nicht kennt,186 resultiert aus der innerchristlichen – hier primär: protestantischen – Ausdifferenzierung in Konfessionen bzw. Sekten, für welchen Fall ja politische Theoretiker seit (und schon vor) Locke wechselseitige Toleranz empfohlen hatten, und sie bleibt hier implizit dadurch begrenzt, dass Religion überhaupt als Verpflichtung festgeschrieben wird.187 Wo die verfassungsgebenden Versammlungen in den angehenden USA zumindest theoretisch aus gleichberechtigten Mitgliedern bestanden, war die Lage in Frankreich komplizierter, insofern hier am Start zunächst ein vom König einberufenes Ständeparlament steht, in dem nach Gruppen – Adel, Klerus, Bürgertum (ohne die Bevölkerungsmajorität der Unterschichten) – abgestimmt würde und somit der ‚dritte Stand‘ (der tiers-état) immer von den beiden privilegierten ‚Ständen‘ überstimmt werden könnte; der ‚dritte über alle nicht-theologischen Diskurse und eine tiefe Aversion gegen Aufklärung und Menschenrechte ausgedrückt wird. 183  Vgl. dazu Christopher Hitchens: God Is Not Great: How Religion Poisons Everything. New York 2007. 184  Z. A. hier und im Folgenden: www.constitution.org / bor / vir_bor.htm. 185  Z. A.: „the free exercise of religion, according to the dictates of conscience“. 186  Es sei noch einmal auf den Syllabus errorum von 1864 verwiesen; im Katholizismus wird Religionsfreiheit erst 1965 vom Vatikanischen Konzil zugestanden: Etwas ‚Modernisierung‘ schien wohl unvermeidlich. 187  Z. A.: „the duty which we owe to our CREATOR“; Agnostiker und Atheisten sind nicht vorgesehen.

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Stand‘ musste bekanntlich erst durchsetzen, dass nach Personen, nicht nach Ständen abgestimmt wurde. Dass dann revolutionäre Mehrheitsentscheidungen möglich wurden, verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass nicht wenige Adlige und Kleriker Vertreter der Aufklärung waren; aus der sich konstituierenden und zur Volksvertretung ernennenden „Assemblée nationale“ seien beispielshalber nur die Bekanntesten genannt: der Marquis de Lafayette, der Comte de Mirabeau, der Abbé Sieyès. Die Déclaration des droits de l’homme en société, also der Rechte, die der Mensch eben nicht nur im ‚Naturzustand‘, sondern auch nach der Vergesellschaftung immer noch hätte, soll ursprünglich von Lafayette, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf der Seite der Amerikaner gekämpft hatte, in Absprache mit dem US-Gesandten in Paris, nämlich Jefferson, entworfen worden sein; ihre definitive Fassung erhält sie am 1. Oktober 1789, am 5. Oktober akzeptiert sie der König wider Willen. Die „natürlichen, unveräußerlichen und heiligen [sic!] Rechte des Menschen“188 werden hier gar nicht mehr begründet: ‚Gott‘ findet sich zwar noch in der Präambel, aber nicht als Urheber, sondern nurmehr als Zeuge; man beschließt die Erklärung „in Gegenwart und unter der Schirmherrschaft des Höchsten Wesens“,189 womit erstens wiederum keine Festlegung auf eine bestimmte Religion stattfindet; zweitens werden, in Differenz zur Vir­ ginia Bill, auch keine religiösen Pflichten in die Erklärung aufgenommen. In Opposition zu den bisherigen Standesvorrechten wird die Freiheit und Gleichheit aller postuliert (Art. I). Zu den unaufhebbaren Rechten gehören die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, das Widerstandsrecht gegen Unterdrückung (Art. II). Das Volk („la nation“), nicht mehr der Fürst, ist der Souverän; nur von ihm geht „Autorität“ aus (Art. III). Im Sinne der neuen, aufklärerischen Rechtskonzeptionen wird festgelegt: La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi l’exercice des droits de chaque homme n’a de bornes que celles, qui assurent aux autres Membres de la Société, la jouissance de ces mêmes droits. [Art. IV] [Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet: folglich hat die Ausübung der Rechte eines jeden nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss derselben Rechte zusichern.]

Gesetze haben aus der „volonté générale“ hervorzugehen (Art. VI); für Prozesse gelten rechtsstaatliche Regelungen (Art. VI–VII), darunter die ‚Unschuldsvermutung‘ (Art. IX), Meinungs-, Druck- und Religionsfreiheit werden zugesichert (Art. X und XI). Auffällig ist freilich, dass im letzten 188  Z. A.: „les droits naturels, inaliénables et sacrés de l’Homme“. Die Déclara­ tion wird hier und im Folgenden zitiert nach: www.legifrance.gouv.fr / Droit-francais /  Constitution / Declaration-des-droits-de-l-homme-et-du-Citoyen-de-1789. 189  Z. A.: „en présence et sous les auspices de l’Etre Suprême“.



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Artikel (XVII) noch einmal das „Eigentum“ als „unverletzliches und heiliges [sic!] Recht“ garantiert wird,190 das eigentlich schon vom Artikel II abgesichert war; die privilegierten Schichten muss einige Angst ergriffen haben. Die Sorge wird nicht unberechtigt sein: Denn im Verlauf der Revolution werden Standesprivilegien von Adel und Klerus und deren Besitztümer zur Diskussion gestellt. Der englische Reaktionär Edmund Burke wird sich in seinen extrem manipulativen Reflections on the Revolution in France (1790) über die Infragestellung angeblicher „althergebrachter Rechte“ erzürnen, worauf ihn Thomas Paine mit seinen weitaus redlicheren The Rights of Man (1791 / 92), in die auch die Déclaration aufgenommen ist, widerlegt; selbstverständlich wird Paines Buch schon 1792 in England verboten – in allen west- / mitteleuropäischen Staaten weiß man, wie viele Sympathisanten die Französische Revolution bei den eigenen intellektuellen Eliten hat. Auch der deutsche Jurist Klein, immerhin Mitarbeiter am Allgemeinen Preußi­ schen Landrecht (1794), fühlt sich von den Beschlüssen der Nationalversammlung so beunruhigt, dass er das neue Problem des „Eigentums“ in Freyheit und Eigenthum (ebenfalls 1790) diskutiert. Exkurs: Es sollte deutlich geworden sein, dass die Erfindung der Menschenrechte aus den veränderten Staatstheorien, der veränderten Relation von ‚Theologie‘ und ‚Moral‘ und von ‚Moral‘ und ‚Recht‘, den veränderten Konzepten der menschlichen ‚Person‘ hervorgeht, die wir der Aufklärung verdanken: Kaum ein Wert heutiger europäischer Gesellschaften entstammt ihr nicht; wenige sind seitdem hinzugekommen. Aus einer christlichen ‚Gottesebenbildlichkeit des Menschen‘ folgen ganz sicher keine ‚Rechte‘ (außer dem der ‚Weltherrschaft‘), sondern allenfalls ‚Pflichten‘; ‚Rechte‘ folgen auch nicht aus humanistischen Konzepten der ‚Würde des Menschen‘ in der Renaissance, wie sie in meinem Korpus Manettis De dignitate et excellentia hominis (1452) und Picos De hominis dignitate (1486) repräsentieren. Wohl waren sicher die Mehrheit derer, die in den angehenden USA und in Frankreich die Menschenrechte beschlossen, ‚Christen‘ dieser oder jener Fraktion (neben Deisten und Ungläubigen): aber das war ein durch die Aufklärung hindurchgegangenes und von ihr erfolgreich transformiertes ‚Christentum‘.191 Das Konzept der ‚Menschenwürde‘, wie wir es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland finden (GG Art 1 (1)), ist eine – was 190  Z. A.:

„Les Propriétés étant un droit inviolable et sacré“. viel gegen Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Frankfurt a. M. 2011; das Buch leidet übrigens daran, dass der Autor erstaunlich wenige historische Primärtexte kennt. Was die Relation von Menschenrechten und Rechtsstaat zur Aufklärung anlangt, hat das vor Jahren schon der ehemalige (katholische) Verfassungsrichter besser und zutreffend beschrieben (vgl. dessen Aufsätze in Ernst-Wolfgang Böckenförde: Wissenschaft – Politik – Verfassungsgericht. Berlin 2011). 191  So

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‚Rechte‘ anlangt – semantisch leere Hülse:192 nur ein Titel für die folgenden Art. 2–19; diese Hülse hat man offenbar gern mit Hilfe von Kants ‚Imperativen‘ gefüllt, was, wie ich meine, nur die eine semantische Leere durch die andere ersetzt. Die durchaus spannende Diskussion193 der letzten Jahre über die Frage einer kulturübergreifenden Begründung für den Anspruch auf verbindliche Geltung der ‚Menschenrechte‘ laboriert natürlich am grundsätzlichen logischen Problem von Normbegründungen. Falls sich jemals die Menschenrechte – es wäre den Einwohnern, zumal den Frauen zu wünschen – in jenen Staaten durchsetzen, die sie heute nicht akzeptieren oder systematisch verletzen, so sicher nicht aus rational-logischen Gründen, sondern aus einem sozial bedingten Mentalitätswandel.

2. Der empirische Test auf die ‚Menschenrechte‘: ‚Sklaverei‘ Während die politische ‚Versklavung‘ der Bürger eines Staates durch monarchische oder aristokratische Herrschaftsinstanzen ein prominentes Thema der Diskurse der Aufklärung – im Interesse jener, die diese Diskurse produzieren – ist, wird die ökonomische ‚Versklavung‘ der Mitglieder fremder Populationen, die eingefangen, verkauft, misshandelt, ausgebeutet, den Interessen europäischer Kolonialherren unterworfen werden, keineswegs im selben Umfang Thema. Es sei daran erinnert, dass traditionelle Naturrechtstheoretiker von Pufendorf bis Achenwall / Pütter und Gottsched offenbar keine Probleme mit dieser Sklaverei haben: Generell scheint zu gelten, dass Autoren umso weniger Anstoß an solcher Sklaverei nehmen, je mehr sie politisch konservative Positionen vertreten. Montesquieu hingegen spricht sich im Esprit des loix eindeutig gegen Sklaverei aus, die sein eigenes Land, etwa auf Haiti, betreibt: Mais, comme tous les hommes naissent égaux, il faut dire que l’esclavage est contre la nature […].194 [Aber da alle Menschen gleich geboren werden, muss man sagen, dass Sklaverei gegen die Natur ist.]

Pragmatisch, wie er ist, reagiert er auf das Wissen, dass in vielen Staaten Sklaverei praktiziert wird, indem er für diesen Fall die seines Erachtens erforderlichen juristischen Regeln diskutiert. 192  So auch Norbert Hoerster in: Franz Joseph Wetz (Hg.): Texte zur Menschenwürde. Stuttgart 2011, S. 304–307. 193  Vgl. etwa die Beiträge in den Sammelbänden: Stefan Gosepath / Georg Loh­ mann (Hg.): Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt a. M. 1998; Hauke Brunk­ horst / Wolfgang R. Köhler / Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Recht auf Menschenrechte. Frankfurt a. M. 1999; Christoph Menke / Francesca Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte. Frankfurt a. M. 2011. 194  Montesquieu z. A., Bd. I. S. 395.



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit149

In der Encyclopédie empört sich im Gefolge Montesquieus der Chevalier de Jaucourt, einer der Hauptmitarbeiter dieses Werkes, 1755 im Artikel Esclavage („Sklaverei“), Sklaverei sei die „Schande der Menschheit“ („la honte de l’humanité“) und widerspreche dem ‚Naturrecht‘: „in einem Wort, nichts auf der Welt kann die Sklaverei legitim machen“.195 Denn nicht nur sei der Mensch frei geboren: es könne auch im eigentlichen Sinne kein Besitzrecht über Personen geben.196 Er weist – mit einem MontesquieuZitat – auch die offenbar gebräuchliche religiöse Rechtfertigung von Versklavung zurück: Das heißt, direkt gegen das Völkerrecht und gegen die Natur zu verfahren, wenn man meint, die christliche Religion gäbe denen, die sie bekennen, das Recht, diejenigen, die sie nicht bekennen, auf Sklaventum zu reduzieren, um bequemer an der Verbreitung des Christentums zu arbeiten. Es war indessen diese Denkweise, die die Zerstörer Amerikas in ihren Verbrechen ermutigte.197

Im Artikel Nègres („Neger“, 1765) stellt ein anderer Autor quasi rein deskriptiv den Handel mit afrikanischen Sklaven, deren Schicksal in den „Kolonien“, und die einschlägige französische Gesetzgebung zur Sklaverei dar: Die Herren, die neue Sklaven erworben haben, sind verpflichtet, sie in der katholischen Religion unterrichten zu lassen. Das war das Motiv, das Ludwig XIII. veranlasste, diesen Handel mit Menschenfleisch zu erlauben.198

Die christlichen Kirchen hatten in der Tat nichts gegen Sklaverei einzuwenden; John Millar hat das in seinem Werk The Distinction of Ranks (1771) ebenfalls konstatiert und darauf hingewiesen, dass nur die Quaker in Pennsylvania dabei eine Ausnahme darstellten. Schon der ‚Apostel‘ Paulus legte ja fest, dass auch im Christentum Sklaven sich weiterhin ihren Herren zu unterwerfen hätten; auch besaßen diese Kirchen später selbst Sklaven in den „Kolonien“.199 Der empörte moralische Aufschrei des Fray Bartolomé 195  Encyclopédie, Bd. 5, 1755, z. A. (wie Anm. 62): „en un mot, rien au monde ne peut rendre l’esclavage légitime.“ 196  Ebd.: „on ne peut avoir de droit de propriété proprement dit sur les personnes.“ 197  Ebd.: „C’est donc aller directement contre les droits des gens & contre la nature, que de croire que la religion chrétienne donne à ceux qui la professent, un droit de réduire en servitude ceux qui ne la professent pas, pour travailler plus aisément à sa propagation. Ce fut pourtant cette manière de penser qui encouragea les destructeurs de l’Amérique dans leurs crimes.“ Die Stelle hat Jaucourt fast wörtlich aus Montesquieus Esprit des loix übernommen – siehe dort, z. A., Bd. I, S. 392. 198  Encyclopédie, Bd. 11, 1765, z. A. (wie Anm. 62). 199  So auch die anglikanische Kirche: vgl. dazu – wie zu Sklavenhandel, Zustand der Sklaven, Abschaffung des Sklavenhandels – das eindrucksvolle Buch von Adam Hochschild: Sprengt die Ketten. Der entscheidende Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Stuttgart 2012.

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Michael Titzmann

de las Casas gegen die Versklavung, Ausbeutung, Vergewaltigung, Ermordung der ‚Indios‘ (Brevísima relación de la destruyción de las Yndias occi­ dentales, 1552) blieb lange eine – bewundernswerte – Ausnahme. Auch der Verfasser des Artikels Traite des nègres („Negerhandel“, 1765) in der En­ cyclopédie hebt nochmals hervor, der Sklavenhandel sei ein „Geschäft, das die Religion, die Moral, das Naturrecht und alle Rechte der menschlichen Natur verletze“:200 „Wenn ein Handel dieser Art durch ein Moralprinzip gerechtfertigt werden kann, dann gibt es kein Verbrechen, wie scheußlich es auch sei, das nicht gerechtfertigt werden könnte.“ Und gegen den Einwand der Nutznießer, ohne die afrikanischen Sklaven wären die Kolonien bald ruiniert, merkt er an: „Es ist wahr, dass die Börsen der Straßenräuber leer wären, wenn der Raub gänzlich unterdrückt wäre.“201 In allen europäischen Kolonien ist die Sklaverei im übrigen erblich: Alle Nachfahren der Versklavten werden in diesem ‚Recht‘ ebenfalls Sklaven sein – ‚rechtmäßiger Besitz‘ ihrer ‚Herren‘. John Millar konstatiert 1771 nüchtern: „In welchem Lichte man auch die Institution der Sklaverei betrachtet, sie erscheint gleichermaßen unpassend und schädlich.“202 Aber auch die Menschenrechtserklärungen der amerikanischen und der französischen Revolution werden das Thema ‚Sklaverei‘ nicht berühren, auch wenn sie sie implizit ausschließen. Allerdings sei angemerkt, dass Paine 1775 einen Artikel über bzw. gegen African Slavery in America publiziert und der Comte de Mirabeau 1790 in der „Assemblée nationale“, dem revolutionären Parlament, eine Rede gegen den Sklavenhandel mit Afrikanern gehalten hat. Erst im Gefolge des großen Sklavenaufstands auf Haiti unter Toussaint L’Ouverture, den weder eine französische noch eine britische Armee zu besiegen vermochte, entscheidet sich das revolutionäre Frankreich 1794 als erster Staat überhaupt, die Sklaverei abzuschaffen (Napoléon wird vergeblich versuchen, dies rückgängig zu machen), und 1804 wird Haiti sogar unabhängig. In Großbritannien entschließt man sich nach langen Kämpfen 1807, den Sklavenhandel – nicht aber die Sklaverei – abzuschaffen; zu letzterem wird es erst 1833 kommen – und die ‚Besitzer‘ werden entschädigt werden, als hätten sie ein Recht auf diese Menschen gehabt;203 in den USA wird es bekanntlich erst noch eines Bürgerkriegs (1861–1865) bedürfen. So wenig wie die Aufhebung der ‚Leibeigenschaft‘ – eines der Sklaverei verwandten sozialen Instituts – in Europa, z. B. in 200  Encyclopédie, Bd. 16, 1765, z.  A. (wie Anm. 62): „un négoce, qui viole la religion, la morale, les lois naturelles, & tous les droits de la nature humaine.“ Natürlich haben wir hier eine durch die Aufklärung veränderte Auffassung von Religion. 201  Ebd. 202  Millar z. A., S. 262. 203  Alle diese Daten nach Hochschild: Sprengt die Ketten (Anm. 199).



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit151

Preußen, wird die Aufhebung der Sklaverei zu menschenwürdigen Lebensbedingungen führen. Und mit einer weiteren Form brutaler Ausbeutung, der der Arbeiter, wird man sich erst im nächsten Jahrhundert ernstlich beschäftigen. Aber Millar hatte 1771 schon die Ausbeutung von Sklaven und von Arbeitern im selben Kapitel – und als quasi äquivalent – behandelt. VIII. Nachtrag Meine Ausführungen lesen sich wie die Geschichte eines logisch-rationalen ‚Fortschritts‘ des Denkens, die sich selbstverständlich zunächst nur als eine Funktion meiner Selektion der als Quellen verwendeten Texte erweist. Und diese Selektion ist wiederum eine Funktion meines Interesses bei die­ sem Beitrag: nämlich zu zeigen, dass wir unsere im heutigen Europa konsensfähigen Werte der ‚Aufklärung‘ des 18. Jahrhunderts und ihren ‚Vorspielen‘ im ‚Rationalismus‘ des 17. Jahrhunderts verdanken, und dass nur solche – moralischen und / oder juristischen – Normen sowohl beim heutigen Wissensstand ‚rational‘ vertretbar als auch unter ‚rational‘ argumentierenden Subjekten mehrheitsfähig sind, deren Begründung sich auf Prinzipien der konsequenten ‚Aufklärer‘ beruft. Selbstverständlich war ‚Aufklärung‘ in sich schon ein sehr komplexer Prozess, der keineswegs einfach linear verläuft: Zu jedem der Zeitpunkte in diesem Prozess gibt es die Aufschreie der jeweils relativ ‚konservativen‘ oder zumindest moderaten ‚Aufklärer‘ gegen die jeweils konsequenten ‚Aufklärer‘, die aus bestimmten Prinzipien tatsächlich deren logische Folgerungen ziehen; es gibt auch drastische Rückfälle hinter schon ‚rational‘ gerechtfertigte Positionen wie in Kants Meta­ physik der Sitten. Insgesamt freilich war wohl in der Geschichte des menschlichen Denkens – soweit wir sie kennen – die ‚Aufklärung‘ das Denksystem, das sich auf der Basis seiner eigenen Prämissen – vergleichsweise und nur vergleichsweise – am meisten rational-konsequent aus system­ interner Logik entwickelt hat (wenn wir hier von der Geschichte der Naturwissenschaften absehen, für die Ähnliches gilt). Aber selbstverständlich ist ‚Geschichte‘ kein teleologischer Prozess auf ein wünschenswertes Endziel hin (wie es die Geschichtsphilosophien der europäischen ‚Aufklärung‘ und auch des anschließenden deutschen ‚Idealismus‘, später die des ‚Marxismus‘ erhofft hatten): Was einmal gedacht wurde, kann jederzeit vergessen, verdrängt, widerrufen werden, sei es auch, aus heutiger Sicht, kognitiv oder evaluativ noch so ‚positiv‘ gewesen. Was etwa das Strafgesezbuch für das Königreich Baiern an sinnvollen Modernisierungen der juristischen Sexualnormen geleistet hatte, wird spätestens im Deutschen Reich (ab 1871) wieder rückgängig gemacht; den Stand dieses bayerischen Gesetzbuchs erreichen wir in Deutschland, gegen heftige konservative Widerstände, erst seit den 1970er Jahren wieder – um von den Rück-

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fällen der europäischen Diktaturen des 20 Jahrhunderts hinter das Denken der ‚Aufklärung‘ und deren ‚Humanität‘ zu schweigen. Nur eine aktuelle Infragestellung eines mühsam errungenen Freiheitswertes sei hier noch beispielshalber erwähnt: Der in den ‚rationalistischen‘ bzw. ‚aufklärerischen‘ Diskursen erkämpfte Wert eines – von keiner religiösen, politischen, juristischen Instanz überwachten – ‚Privatraums‘ des Subjekts wird neuerdings nicht nur von ‚nicht-demokratischen‘ und / oder ‚nicht-rechtsstaatlichen‘ Systemen, sondern auch von solchen beseitigt, die – manchmal nur ihrem Selbstverständnis zufolge – ‚Rechtsstaaten‘ sind, allen voran solche, die einst Vorreiter genau dieses Konzepts der ‚Privatheit‘ waren (USA; Großbritannien) und seltsamerweise auch einen, jeder moralischen und (fast jeder) juristischen Kontrolle entzogenen, ‚neoliberalistischen Finanzkapitalismus‘ vertreten,204 für den das Verbot der Schädigung anderer nicht zu gelten scheint, es sei denn, diese anderen wären selbst ‚Finanzkapitalisten‘. Noch erschreckender war zunächst wohl die Wiederkehr der Folter in einem angeblich ‚rechtsstaatlichen‘ System (in diesem Falle den USA unter der Präsidentschaft von George W. Bush jun.), die aber nicht als solche eingestanden wurde. Daran lässt sich ein zentrales Problem juristischer Semantik illustrieren. Dass ein Wert / eine Norm in einem sozialen System als theoretisch verbindlich akzeptiert und festgeschrieben ist, bedeutet leider nur wenig: Viele Staaten haben die Europäische Menschenrechtskonvention und noch viel mehr die der UNO unterschrieben – was bei nicht wenigen dieser Staaten keinerlei Konsequenzen für ihr legislatives, juristisches, administratives Verhalten gehabt hat. Unterschieden werden muss demnach erstens zwischen theoretischen ‚Grundsatzerklärungen‘ (in Verfassungen, Grundgesetzen usw.) und zweitens deren – wiederum theoretischer – Inter­ pretation und drittens deren praktischer Applikation (in Gerichtsverfahren und Strafvollzug). Was im ersten Schritt dieses dreigliedrigen Prozesses vielleicht allgemein konsensfähig schien, mag im zweiten oder dritten Schritt die Gesellschaft entzweien. Nur ein Beispiel: Das Basiskonzept des deutschen Grundgesetzes, der Wert ‚Menschenwürde‘, bedeutet ganz sicher jeweils für (fundamentalistische) jüdische, christliche, islamische Gruppen 204  Der alte und immer noch existente ‚Industriekapitalismus‘ (sei es ein Konzern, sei es ein mittelständischer Betrieb) produziert materielle Objekte, die Anderen als den Produzenten, zu Recht oder zu Unrecht, als begehrenswert, also als ‚Wert‘, erscheinen mögen; sofern dabei keine ‚Ausbeutung‘ (vgl. das 2014 un Deutschland aktuelle Thema ‚Mindestlohn‘) stattfindet und ein fairer Lohn gezahlt wird, ist nach unseren heutigen Moralvorstellungen dagegen wenig einzuwenden. Im Gegensatz dazu gilt für den (spekulierenden) ‚Finanzkapitalismus‘, das er nie Werte für Ande­ re, sondern nur für die Seinen hervorbringt und dabei grundsätzlich den Ruin der Anderen (anderer Individuen, anderer Unternehmen, anderer Staaten, Hunger in der ‚Dritten Welt‘ durch Spekulation auf Lebensmittel oder Rohstoffe) in Kauf nimmt. Da er ‚global‘ ist, könnte er auch nur ‚global‘ bekämpft werden.



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit153

wie für nicht-religiöse Gruppen unserer Gesellschaft sehr Verschiedenes, woraus wiederum unterschiedliche erstens legislative, zweitens judikative Konsequenzen resultieren würden. Ein anscheinender Konsens über Wertbzw. Normsetzungen mag also in pluralistischen Gesellschaften bloße Selbsttäuschung sein. Aber selbst so fundamentale Werte bzw. Normen, wie die von der ‚Aufklärung‘ vertretenen ‚Menschenrechte‘ sind, wie wir leider wissen, nicht einmal ‚formal‘ – geschweige denn in unserer ‚inhaltlichen‘ Interpretation – in anderen Kulturen konsensfähig. Da eben von ‚Werten‘ und ‚Normen‘ die Rede war, sei mein Begriffsgebrauch hier knapp erläutert: ‚Werte‘ benennen Zielzustände, von denen man glaubt, sie unter Einhaltung bestimmter ‚Normen‘ erreichen zu können. ‚Werte‘ und ‚Normen‘ sind nicht wesensverschieden: In beiden Fällen handelt es sich um Vorgaben für menschliches Verhalten, also Versuche der Regulierung eines solchen: ‚Wert‘ ist, was kulturell als erstrebenswertes Ziel gilt, das seinerseits bestimmte subordinierte ‚Normen‘ legitimiert, indem es sie logisch vorauszusetzen behauptet, und was seinerseits wiederum bezüglich eines höherrangigen ‚Wertes‘ selbst nur als zu erfüllende ‚Norm‘ fungiert. So ist in unserem deutschen Grundgesetz ‚Religionsfreiheit‘ bezüglich untergeordneter Gesetze bzw. ‚Normen‘ ein ‚Wert‘, bezogen aber auf die ‚Menschenwürde‘ eine ‚Norm‘. Kehren wir noch einmal zu den – in diesem Beitrag unterschiedenen – vier zentralen Systemen der Normsetzung zurück: Unterschieden wurden die theologisch und / oder ‚naturrechtlich‘ begründeten und die sich – ab einem bestimmten Zeitpunkt bzw. Zeitraum – andersartig legitimierenden moralischen und juristischen Normensysteme. ‚Naturrechtliche‘ Argumentationen haben historisch eine seltsame Rolle gespielt: Zunächst dienen sie konservativ der Begründung traditioneller (in unserem Falle: ‚christlicher‘) Normensysteme und kennen nur ‚Pflichten‘; dann werden sie neu funktionalisiert und dienen plötzlich der Rechtfertigung von ‚Rechten‘ der ‚Menschheit‘ – und damit der Rechtfertigung einer Abweichung vom theologisch-‚christlichen‘ Normensystem. Mit dem ‚Naturrecht‘ wird wohl – außerhalb katholisch-theologischer Diskurse – niemand mehr zur Rechtfertigung von Normen argumentieren wollen (sofern er oder sie einen ‚ra­ tionalen‘ Anspruch erhebt). Denn es liegt auf der Hand, dass zunächst zu klären wäre, was hier denn ‚Natur‘ (in diesem Falle die des ‚Menschen‘) heißen solle; und wie immer eine solche gedacht würde, wäre nicht ‚rational‘ einsehbar, wieso daraus ‚Rechte‘ oder gar ‚Pflichten‘ folgen sollten. Folglich können wir, denke ich, ‚naturrechtliche‘ Konzepte aus der weiteren Diskussion ausschließen; das gilt aber auch für die theologischen Normsetzungen. Zwar gehören einerseits nur ungefähr je ein Drittel der Population der BRD einer der beiden großen Kirchen (‚katholisch‘ oder

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Michael Titzmann

‚protestantisch‘) an, was aber zunächst nur bedeutet, dass diese Gruppe ‚Kirchensteuer‘ zahlt, sich aber deshalb keineswegs mit dem Normensystem der von ihr finanzierten Institution identifiziert. Wie gering aber auch der Anteil der sich mit den Normen ihrer jeweiligen Kirche identifizierenden ‚Gläubigen‘ sein mag, profitieren diese Kirchen von ihrem Status gesetzlich abgesicherter Institutionen, die bei allen in dieser Gesellschaft umstrittenen Normsetzungen als relevant beteiligt werden und dabei durchaus Normsetzungen zu verteidigen bzw. durchzusetzen vermögen, die nicht nur der nicht ‚christliche‘ Rest der Gesellschaft, sondern sogar die ‚christlichen‘ Steuerzahler mehrheitlich ablehnen (typische Themen: Abtreibung, Stammzellenforschung, In-vitro-Fertilisation, Sterbehilfe). Als Institutionen sind sie machtpolitisch für die Rechtssetzung nach wie vor relevant, selbst wenn ihre Positionen zu Themen biologisch-medizinischer Art (etwa Sexualität oder Sterben) längst minoritär sind. Sobald es um die in dieser Gesellschaft relevanten Themen – und das heißt um Ökonomie – geht, kommentiert zwar das Feuilleton der überregionalen Zeitungen, dass – manchmal übereinstimmend – katholische und protestantische Kirchen „Auswüchse“ des neuen Evangeliums ‚Kapitalismus‘ heftig – und zu Recht – kritisieren: Nur sind sie in diesem Falle in einschlägigen Kommissionen – bedauerlicherweise – nicht gefragt. Bleibt also nur noch die Relation zweier Größen zu diskutieren: die von ‚Moral‘ und ‚Recht‘. Es ist evident, dass kein juristisches Normensystem einer Gesellschaft unabhängig von deren moralischen Normensystem(en) sein kann; anderenfalls wäre es – zumindest in Demokratien – delegitimiert. Solche moralischen Normensysteme sind existente soziale Realitäten, ob es nun für sie eine vorgebliche ideologische (religiöse, rationale usw.) Begründung gibt oder nicht. Die Geschichte der BRD belegt deutlich, wie der mentalitätsgeschichtliche Wandel, der eine neue – nicht durch eine übergeordnete Institution hervorgebrachte – ‚Moral‘ erzeugte, der sich zum Teil mit erheblicher Verzögerung die obersten Interpreten des deutschen Grund­ gesetzes, also Verfassungsgericht und Bundesgerichtshof, anschlossen. Nun sind die europäischen Gesellschaften der Gegenwart ideologisch ausdifferenzierter, in anderen Worten: pluralistischer, als jede mir bekannte Gesellschaft vor ihnen. Das bedeutet nun etwa für unsere BRD, dass eine Vielzahl heterogener moralischer Normensysteme koexistieren. Damit stellt sich aber die Frage, was in einem solchen Falle denn das gemeinsame juristische Normensystem sein könne. Und hier nun, denke ich, sind wir unvermeidlich wiederum auf die Denkkategorien der ‚Aufklärung‘ angewiesen: Das juris­ tische Normensystem einer pluralistischen Gesellschaft – also einer mit ausdifferenzierten, heterogenen moralischen Normensystemen – kann nur eines sein, das die ‚Menschenrechte‘ der Déclaration des Droits de l’Homme von 1789 und das darin enthaltene Schädigungsverbot als theoretische Basis



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit155

akzeptiert, also maximal ‚liberal‘ ist und aus ihm die praktische Limitierung der normativen Geltungsansprüche einzelner ‚fundamentalistischer‘ Gruppen ableitet. Korpus der Primärtexte Autornamen in [ ]: = anonym erschienen. ? = nicht gesicherte Angabe. Verw. A.: = verwendete Ausgabe (nur angegeben bei Texten, aus denen wörtlich zitiert wird). 1452

Gianozzo Manetti: De dignitate et excellentia hominis [Druck: Basel 1532; verw. A.: dt. Übs. hg. von August Buck. Hamburg 1990].

1486

Giovanni Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate [Druck: Bologna 1496; verw. A.: lat.-dt. Hg. von Gerd von der Gönna. Stuttgart 1997: RUB 9658].

1516

Pietro Pomponazzi: Tractatus de immortalitate animae [Verw. A.: hg. von Burkhard Mojsisch. Hamburg 1990].

1531

Niccolò Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca de Tito Livio.

1532

Niccolò Machiavelli: Il Principe.

1533 PGO / CCC

Keyser Karls des fünfften […] peinlich gerichtes ordnung. Mainz [Verw. A.: Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. Hg. von Friedrich Christian Schroeder. Stuttgart 2000: RUB 18064].

1577

Jean Bodin: Six livres de la Republique [lat. Übs. 1586].

1578

[Nicolau Eymerich / Francisco Peña:] Directorium Inquisitorum F. Nicolai Eymerici […] Cvm Commentariis Francisci Pegnae. Rom [Neu bearbeitet und „aktualisiert“ durch Francisco Peña; verw. A.: Rom 1587].

1620

Prosper Farinacius: Tractatvs De Haeresi, in quo per quaestiones, regulas, ampliationes & limitationes; Quid a Jure civili, & Cano­ nico; Quid a sacris Conciliis, Summumque Pontificum Constitutionibus statutum. Venedig

1625

Hugo Grotius: De iure belli ac pacis libri tres [Verw. A.: Editio novissima. Amsterdam 1712].

1641

François La Mothe Le Vayer: De la vertu des païens [Verw. A.: Libertins du XVIIe siècle. Bd. II. Hg. von Jacques Prévot. Paris 2004, S. 1–215]. (Fortsetzung nächste Seite)

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Michael Titzmann

(Fortsetzung) 1651

Thomas Hobbes: Leviathan, or the Matter, Form and Power of a Commonwealth, Ecclesiasticall and Civil [Verw. A.: hg. von K. R. Minogue. London 1979; lat. Fassung 1668].

1670

[Baruch Spinoza (1632–1677):] Tractatus Theologico-Politicus […]. [Verw. A.: Hg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner. Darmstadt 1979]

1673

Samuel Pufendorf: De Officio Hominis et Civis Juxta Legem Naturalem Libri Duo [Übs. von Klaus Luig. Frankfurt a. M. 1994].

1675

Matthias Knutzen: Amicus Amicis Amica. In: Johann Musäus: Ableinung der ausgesprengten abscheulichen Verleumbdung […]. Jena 1675 [Reprint hg. von Winfried Schröder. Stuttgart – Bad Cannstatt 2010].

1677

Baruch Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata [Verw. A.: Die Ethik. Lateinisch – deutsch. Übs. von Jakob Stern; hg. von Bernhard Lakebrink. Stuttgart 1977: RUB 851].

1677

Baruch Spinoza: Tractatus politicus [unvollendetes Ms.; verw. A.: franz. Übs. von Charles Appuhn: Spinoza: Œuvres. Bd IV. Paris 1966].

1683

[Pierre Bayle:] Pensées diverses […] à l’occasion de la Comète qui parut au mois de decembre 1680. [Verw. A.: Libertins du XVIIe siècle. Hg. von Jacques Prévot. Bd. II. Paris 2004: 765–1186)

1689

An Act Declaring the Rights and Liberties of the Subject and Settling the Succession of the Crown [= englische „Bill of Rights“; verw. A.: avalon.law.yale.edu / 17th_sentury / England / ; eingesehen 31.03.2013].

1690

[John Locke:] Letter Concerning Toleration. [lat. Ausgabe: Epistola de tolerantia, 1689; verw. A.: Ein Brief über die Toleranz. Englisch – deutsch. Übs. und hg. von Julius Ebbinghaus. Hamburg 1957]

1690

[John Locke:] Two Treatises on Government [Verw. A.: Dt. Übs. hg. von Walter Euchner. Frankfurt a. M. 1977].

Nach 1692 / vor 1720

[Anonym:] Cymbalum Mundi Sive Symbolum Sapientiae [17 Mss.; Text aus dem deutschsprachig-protestantischem Gebiet; verw. A.: Edizione critica a cura di Guido Canziani, Winfried Schröder, Francisco Socas. Milano 2000].

1709

Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: The Moralists; verw. A.: Ein Brief über den Enthusiasmus / Die Moralisten. Hg. von Wolfgang H. Schrader. Hamburg 1980].

1714

Bernard (de) Mandeville: The Fable of the Bees: or, Private Vices Publick Benefits [Teil II: 1729; verw. A.: Die Bienenfabel. Hg. von Walter Euchner. Frankfurt a. M. 1980].



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit157 1720

Christian Wolff: Vernünftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen. Halle

1720er

[Nicolas Fréret:] Lettre de Thrasybule à Leucippe [Mss; verw. A.: Edizione critica. A cura di Sergio Landucci. Florenz 1986].

1728

Francis Hutcheson (1694–1746): An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections: With Illustrations on the Moral Sense [verw. A.: Übs. und hg. von Joachim Bühl. Stuttgart 1984: RUB 8024].

1731–1750

Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste […]. 64 Bde. Halle und Leipzig

1734

Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit- Leipzig [Verw. A.: Neudruck der 7. vermehrten und verbesserten Aufl. Leipzig 1762: 2 Bde., Berlin – New York 1983].

1738

Johann Gottlieb Heineccius: Elementa Ivris Natvrae et Gentium. Halle [Verw. A.: Übs. von Peter Mortzfeld. Frankfurt a. M. 1994].

1745

Julien Offray de la Mettrie: La Volupté [Verw. A.:.Œuvres ­philosophiques. 2 Bde. Berlin 1774, Bd. II, S. 199–267. Reprint Hildesheim 1970].

1748

Charles-Louis de Secondat, baron de Montesquieu: De l’Esprit des Loix [Verw. A.: Hg. von Victor Goldschmidt. Paris 1979]

1750

Gottfried Achenwall / Johann Stephan Pütter: Elementa Ivris Natvrae.Göttingen (Hg. und übs. von Jan Schröder. Frankfurt a. M. 1995].

1751 ff.

Denis Diderot / Jean le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. 17 Bde. + 11 Bildbde. Paris. [http: /  / gallica.bnf.fr / ark: / 12148 / bpt6k5785794x / f9.image.r=encyclop  %C3 %A9die %20ou %20dictionnaire.langFR]

1751

David Hume: An Enquiry concerning the Principles of Morals [Verw. A.: Übs. von Gerhard Streminger. Stuttgart 1984]

1755

[Etienne-Gabriel Morelly:] Code de la Nature, ou le veritable Esprit de ses Loix, De tout tems négligés ou méconnus [Verw. A.: Morelly: Œuvres philosophiques. Hg. von Jean Pierre Jackson. Paris 2004, S. 275–373].

1755

Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes [Verw. A.: Hg. von Jacques Roger. Paris 1971]. (Fortsetzung nächste Seite)

158

Michael Titzmann

(Fortsetzung) 1758

Claude Adrien Helvétius: De L’Esprit. Paris [Verw. A.: Œuvres complètes. Bd. II, London 1777].

1762

Jean-Jacques Rousseau: Du Contrat social ou principes du droit publique [Hg. von Pierre Burgelin. Paris 1966].

1762

Jean-Jacques Rousseau: Emile ou de l’éducation [Verw. A.: Hg. von Michel Launay. Paris 1966].

1764

[Voltaire:] Dictionnaire philosophique portatif [wesentliche ­Erweiterungen in 21765 und 41767; weitere Ausgaben: 1769, 1770, 1773, 1776, …; verw. A.: Hg. von René Pomeau. Paris 1964]

1764

[Cesare Beccaria:] Dei delitti e delle pene [Verw. A.: a cura di Alberto Burgio. Milano 1991; franz. Übs. durch Morellet 1766: Des Délits et des peines – verw. A.: Paris 1979; dt. Übs. durch Karl Ferdinand Hommel: Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen. 1778].

1767

Adam Ferguson: An Essay of the History of Civil Society [Verw. A.: Hg. von Duncan Forbes. Edinburgh 1966].

1770

[Paul Thiry d’Holbach:] Système de la Nature, ou des lois du monde physique et du monde moral. [Verw. A.: Hg. von JeanPierre Jackson. Paris 2008].

1771

John Millar: Observations Concerning the Distinction of Ranks in Society [Dt. Übs.: Leipzig 1772; verw. A.: Übs. von Herbert Zirker. Frankfurt a. M. 1967].

1772

Claude Adrien Helvétius (1715–1771): De l’Homme, de ses facultés et de son éducation [Verw. A.: Vom Menschen. Hg. von Günther Mensching. Frankfurt / Main 1972].

1776

Gabriel Bonnot de Mably: De la Législation ou Principes des Loix [Verw. A.: Œuvres complètes. Bd. 9, London 1789. Reprint Leipzig 2006].

1776

Virginia Bill of Rights (12.06.1776); verw. A.: www.constitution.org / bor / vir_bor.htm

1776

A Declaration [of Independence] by the Representatives of the United States of America (04.07.1776); verw. A.: www.heritage.org / initiatives / first-principles / primary-sources /  the-declaration-of-independence

1779

David Hume: Dialogues Concerning Natural Religion [Verw. A.: Dialoge über die natürliche Religion. Hg. von Norbert Hoerster. Stuttgart 1981]

1781

Johann August Eberhard: Sittenlehre der Vernunft. Berlin [Reprint: Frankfurt a. M. 1971].



Die Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit159 1783

Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [Verw. A.: Werke in 12 Bünden. Hg. von Wilhelm Weischädel. Bd. 11. Frankfurt a. M. 1968, S. 53–61].

1785

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga [Verw. A.: Werke, Bd. VII. Frankfurt a. M. 21977, S. 7–102].

1787

Johann Christoph Eschenbach: Dubia in applicatione art. 116 C.C.C. obvenientia. Rostock.

1788

Immanuel Kant: Critik der practischen Vernunft. Riga [Verw. A.: Werke, Bd. VII. Frankfurt a. M. 21977, S. 103–302].

1789

Carl Friedrich Bahrdt. Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Tübingen [Reprint: Frankfurt a. M. 1972].

1789

Déclaration des Droits de l’Homme en Société […] acceptée par le roi le 5 octobre 1789; verw. A.: www.legifrance,gouv.fr / Droitfrancais / Constitution / Declaration-des-droits-de-l-homme-et-duCito yen-de-1789].

1790

Edmund Burke: Reflections on the revolution in France [Verw. A.: dt. Übs von Friedrich Gentz. Berlin 1793 / 1794. Neudruck hg. von Dieter Henrich. Frankfurt a. M. 1967].

1790

Ernst Ferdinand Klein: Freyheit und Eigenthum, abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung. Berlin [Verw. A.: Reprint Kronberg 1977].

1791–1792

Thomas Paine: Rights of Man [ Bd. I: 1791, Bd. II: 1792; Text gegen Burke 1790; verw. A.: Thomas Paine Collection 2007; 1792 / 93 dt. Übs. von Dorothea Margarete Forkel, angeregt durch Georg Forster].

1792

Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen [Hs., ungedruckt wegen preußischer Zensur, Erstdruck Breslau 1851; verw. A.: hg. von Robert Haerdter. Stuttgart 1967].

1794 ALR

Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten. Berlin.

1796

Denis Diderot: Supplément au Voyage de Bougainville [Verw. A.: Œuvres philosophiques. Hg. von Paul Vernière. Paris 1964: 454–516

1796

Johann Gottfried Seume: Atheismus im Verhältnis zu Religion, Tugend und Staat [Verw. A.: Prosaschriften. Hg. von Werner Kraft. Darmstadt 1974, S. 1205–1241].

1796

Paul Johann Anselm Feuerbach: Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte. Altona [Verw. A.: Reprint Hildesheim 1963]. (Fortsetzung nächste Seite)

160

Michael Titzmann

(Fortsetzung) 1797

Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Königsberg [Verw. A.: Werke, Bd. VIII. Frankfurt a. M. 21978, S. 303–634].

1797

Karl von Grolman: Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft [Verw. A.: 3. verb. Aufl. Gießen 1818].

1803 GBV

Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey=Übertretungen. Wien [verw. A.: „zweyte Auflage“ Wien 1816].

1804

P. J. A. Feuerbach: Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft [Verw. A.: P. J. A. Feuerbach und C. J. A. Mittermaier: Theorie der Erfahrung in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Hg. von Klaus Lüderssen. Frankfurt a. M. 1968, S. 59–100].

1804 CC

Code civil. Paris [verw. A.: Die fünf französischen Gesetzbücher in deutscher Sprache nach den besten Übersetzungen. Frankfurt a. M. – Leipzig

1810 CP

Code pénal. Paris [verw. A.: wie Code civil, 1804].

1811 ABG

Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Oestereichischen Monarchie. Wien.

1813 StGB

Strafgesezbuch für das Königreich Baiern. München.

1813 Anm.

Anmerkungen zum Strafgesezbuch für das Königreich Baiern. München.

1819

Carl Joseph Anton Mittermaier: Über die Grundfehler der ­Behandlung des Kriminalrechts in Lehr- und Strafgesetzbüchern [Verw. A.: Theorie der Erfahrung in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Hg. von Klaus Lüdersen. Frankfurt a. M. 1968, S. 103–152].

1834 CIC

Carl Friedrich Ferdinand Sintenis / Bruno Schilling (Hgg.): Das Corpus Juris Canonici in seinen wichtigsten und anwend­ barsten Theilen ins Deutsche übersetzt und systematisch zusammengestellt.

Affekt und Amoral – Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers 1676 / 1734 / 1792 Von Hania Siebenpfeiffer Quelle cause? Quel effet? On va l’élucider … Für Jörg Schönert

In den frühen Morgenstunden des 17. Juli 1676 waren die Gassen rund um die Pariser Place de Grève bis weit auf die Brücken der Seine mit Abertausenden von Schaulustigen gefüllt. Während das Volk sich auf dem Platz und in den Straßen drängte, wo es für ein paar Sous einen Schemel ergatterte, standen für die Damen des Adels Balkone mit gepolsterten Sesseln bereit, die ihnen mit Hilfe ihrer Lorgnetten einen freien Blick auf den Sandplatz gewährten. Diener reichten Backwaren und Süßigkeiten, darunter eine Neuheit der Saison, die ‚Morceau de Brinvilliers‘, eine eigens zu diesem Anlass hergestellte Kreation aus süßem Mandelbrot mit einem leicht bitteren Beigeschmack. Sie trug der Namen derjenigen Person, wegen der sich ‚Tout-Paris‘ an diesem sonnigen Freitag versammelte: Marquise de Brinvilliers. Am Tag zuvor war das Urteil gegen Marie Marguerite d’Aubray verheiratete Brinvilliers, Tochter des wohlhabenden und angesehenen Lieutenant civil de Paris, Antoine Dreux d’Aubray, und Ehefrau des nicht minder wohlhabenden Marquis Antoine Gobelin de Brinvilliers, ergangen.1 Die der Verurteilung des Adels vorbehaltene oberste Kammer des Pariser Gerichts, die Grand’ Chambre de Parlement, hatte am 16. Juli verkündet: DIT A ESTE’ que la Cour a declar[é] ladite Daubray de Brinvilliers deuëment atteinte & convaincuë d’avoir fait empoisonner Maistre Dreux Daubray son père, & lesdites Daubray Lieutenant Civil & Conseiller an ladite Cour les freres & attenté à la vie de défunte Thereze Daubray sa sœur & pour reparation a condamné & condamne ladite Daubray de Brinvilliers faire amande honorable au devant la principalle porte de l’Église de Paris, où elle sera menée dans un tombereau, nuds pieds, la corde au col tenant en ses mains une torche ardente du poids de deux ivres, & la estant à genoux dire & déclarer que méchamment par vengeance,& pour avoir leur bien, elle a fait empoisonner son père, ses deux frères, & attenté à la vie de défunte 1  Der Beschluss des Gerichts wird zitiert in „Extrait des Registres de Parlement“, in: Arrest De la Cour de Parlement, Les Chambres Assemblées, contra Dame Marie Marguerite d’Aubray Espouse du Sieur Marquis de Brinvilliers. Du 16. Juillet 1676, Paris: [s.l.] 1676, S. 59–61.

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Hania Siebenpfeiffer

Abb. 1: Zeichnung der Marquise de Brinvilliers von Charles le Brun; Kreidestift auf Rötelpapier (1676); aus: Anne Somerset: The Affair of the Poisons. Murder, Infanticide and Satanism at the Court of Louis XIV. London 2003. sa sœur, dont elle se repent, en demande à Dieux, au Roy & à Justice; ce fait menée & conduite dans ledit tombereau an la Place de Grève de cette Ville, pour y avoir la teste tranchée sur en échaffaut qui pour cette effet sera dressé de ladite place; son corps bruslé & les cendres jetées au vent: icelle préalablement appliquée à la questions ordinaires & extraordinaires, pour avoir relevation de ses complices […].2 2  „Extrait des Registres de Parlement“, S. 60 f. [„Hiermit wird erklärt, dass das Gericht besagte Daubray de Brinvilliers für sehr gefährlich hält und davon überzeugt ist, dass sie ihren Vater, Maitre Dreux Daubray, sowie die oben benannten Zivil­ lieutenant Daubray und Räte dieses Gerichts, ihre Brüder, vergiftet und ihrer gestorbenen Schwester Thereze Daubray nach dem Leben getrachtet hat, und als Wiedergutmachung verurteilte und verurteilt [das Gericht] besagte Daubray de Brinvilliers, öffentliche Abbitte vor dem Haupttor der Kirche von Paris zu leisten, wohin sie auf einem Sturzkarren mit bloßen Füßen, einem Strick um den Hals und einer zwei Pfund schweren, brennenden Wachsfackel in den Händen gefahren wird, und vor dem Kirchtore hat sie auf Knien laut zu gestehen, dass sie aus niederträchtiger Rache und Habgier ihren Vater und ihre beiden Brüder vergiftet und auch ihrer Schwester mit Gift nach dem Leben getrachtet hat, und des Weiteren, dass sie ihre



Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers163

Abb. 2: Flugblatt der Hinrichtung der Marquise de Brinvilliers (vermutlich Paris 1676)

Es blieb nach der Vollstreckung dieses Urteils wenig mehr von ihr als die Asche auf dem Scheiterhaufen und eine Zeichnung von Charles LeBrun, die der erste Maler am Hof Ludwigs XIV. auf ihrem Weg zum Schafott angefertigt hatte (vgl. Abb. 1). Mit der Hinrichtung der Marquise endete einer der spektakulärsten Rechtsfälle des französischen Absolutismus, der den Pariser Hochadel seit dem Sommer 1672 immer wieder in Atem gehalten hatte. Gleichzeitig markiert das Ende des ‚Falls‘ den Beginn einer für die frühe Neuzeit beispiellosen Vertextungsgeschichte, die bis in die jüngste Gegenwart reicht. Sie nimmt ihren Anfang in diversen Flugblättern, die unmittelbar nach der Vollstreckung die ­Exekution der Marquise ins Bild setzten (vgl. Abb. 2) und in Paris zirkulierten. Taten bereue und von Gott, dem König und dem Gericht Vergebung erflehe. Danach soll sie in dem selben Sturzkarren in dieser Stadt zur Place de Grève gebracht werden, wo ihr auf einem speziell für sie aufgebauten Schafott der Kopf abgeschlagen, ihr Körper verbrannt und die Asche in alle Winde zerstreut werde; vorher jedoch ist sie in aller Gründlichkeit einer ordentlichen und außerordentlichen Befragung zu unterziehen, damit sie ihre Komplizen und Mittäter verrate“]. Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen aus dem Französischen von mir. Offensichtliche Errata in den Originalzitaten wurden in wichtigen Fällen korrigiert; die Korrekturen sind mit [ ] ausgewiesen.

164

Hania Siebenpfeiffer

Noch im selben Jahr erschien das Urteil zusammen mit der über 70seitigen Verteidigungsschrift des für die Eloquenz und Überzeugungskraft seiner Plädoyers berühmten Pariser Anwalts M. Nivelle, der sich angeboten hatte, die Marquise zu verteidigen.3 In Amsterdam veröffentlichten die Drucker Hendrick und Dirk Bloom ebenfalls im Jahr 1676 den Beschluss des Gerichts gegen den Mitangeklagten der Marquise, den ehemaligen Diener ihres Komplizen Sainte-Croix mit Namen La Chaussée,4 sowie eine anonyme Erinnerungsschrift mit dem Titel Memoire du Procez extraordinaire, contre la Dame de Brinvilliers, prisonniere en la Conciergerie du Palais, accusée,5 die noch im gleichen Jahr unter dem Titel A narrative of the process against Madam Brinvilliers, and her condemnation and execution: for having poisoned her father and two brothers ins Englische übersetzt und als angeblich von der Marquise de Brinvilliers selbst verfasster Report in London bei Jonathan Edwyn erschien.6 Zeitgleich kursierten mehrere Abschriften jener ‚Beichte‘, die bei ihrer Verhaftung in ihrer Lütticher Klosterzelle gefunden worden war und die als wichtiges Beweismittel maßgeblich zu ihrer Verurteilung beigetragen hatte, sowie Auszüge aus einem ‚Bericht‘ des Pariser Jesuiten und Theologieprofessors Edmé Pirot, der ihr während der letzten Tage vor der Hinrichtung als Beichtvater zur Seite gestellt worden war.7 Und schließlich geraten drei Jahre später, im Jahr 1680, im Umfeld des Verfahrens gegen Catherine Montvoisin, geborene Deshayes, die unter dem Spitznamen ‚La Voisin‘ eine Hauptangeklagte in der Affaire des poisons am 3  M. Nivelle: Factum Pour Dame Marie Madelaine d’Aubray, Marquise de Brivilliers, Accusée. Contre Dame Marie Thérèse Mangot, veuve du sieur d’Aubray, Lieutenant Civil, Accusatrice; Et Monsieur le Procureur General, in: Arrest De la Cour de Parlement, Les Chambres Assemblées, contra Dame Marie Marguerite d’Aubray Espouse du Sieur Marquis de Brinvilliers. Du 16. Juillet 1676, Paris: [1676], S. 62–140. Teile des Plädoyers von Nivelle sind wieder abgedruckt in Nico­ las Corato: Grandes plaidoiries & Grands procès du XVe au XXe siècle. Issy-lesMoulineaux 2005, S. 83–86. 4  Factum du procez Extraordinairement fait à La Chaussee Valet de SainteCroix, pour raison de empoisonnemens des Sieurs d’Aubray Lieutenent Civils. Amsterdam: chez Henry & Theodore Boom 1767. 5  Memoire du procez extraordinaire, contre la Dame de Brinvilliers, prisonniere en la Conciergerie du Palais, accusée. Amsterdam: bei Henry & Theodore Boom 1676. 6  [Marie-Madeleine Gobelin Brinvilliers]: A narrative of the process against Madam Brinvilliers, and her condemnation and execution: for having poisoned her father and two brothers. London: Printed for Jonathan Edwyn 1676. 7  Edmé [Edmond] Pirot veröffentlichte zusammen mit Gustave Roullier nach deren Hinrichtung (s)eine Geschichte der Marquise de Brinvilliers. Sie wurde wiederabgedruckt als Edmé Pirot: La Marquise de Brinvilliers recit de ses derniers moments. Notes et documents sur sa vie et son procès par Gustave Roullier et Edmé Pirot. Paris 1883.



Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers165

Hof Ludwigs XIV. war und am 22. Februar 1680 auf der Place de Grève bei lebendigem Leib verbrannt wurde,8 weitere Teile der Prozessakten gegen die Marquise an die Öffentlichkeit. Dass der ‚Fall‘ aber schon 1676 weit über Frankreich hinaus aufmerksam beobachtet wurde, bezeugt nicht nur die Übersetzung der Memoire du Procez, sondern mehr noch die Briefe der Madame de Sévigné, die seit April 1676 ihre Tochter und ihren Freundeskreis über die Entwicklungen im ‚Fall Brinvilliers‘ informierte und dabei gerahmt von Schilderungen über Stadtausflügen, Gartenfeste und Rheumabehandlungen ein anschauliches Stimmungsbild der Pariser Hofgesellschaft gab.9 So beschrieb sie die Hinrichtung der Marquise am 17. Juli wie folgt: ENFIN, c’en est fait, la Brinvilliers est en air; son pauvre petit corps a été jeté, après l’exécution, dans une fort grande feu, et ses cendres au vent; de sorte que nous la respirons, et par la communication des petits esprits, il nous prendra quelqu’humeur empoisonnant, dont nour serons tous étonneés. Elle fut jugée dès hier; ce matin on a lu son arrêt, qui étoit de faire amende honorable à NotreDame, et d’avoir la tête coupée, son corps brûlé, les cendres au vent. On l’a présente à la question; elle a dit qu’il n’en étoit pas besoin, et qu’elle dirait tout; en effet, jusqu’à cinq heures du soir, elle a conté sa vie; encore plus épouvantable qu’on ne le pensoit. […] A six heures, on la menée nue en chemise, la corde au cou, à Notre-Dame, faire amende honorable; et puis on l’a remise dans le même tombereau, où je l’ai vue jetée à reculons sur la paille, avec une cornette basse et sa chemise, un Docteur auprès d’elle, le bureau de l’autre cote: en vérité, cela m’a fait frémir. Ceux qui on vu l’exécution, disent qu’elle est montée sur l’échafaud avec bien de courage. Pour moi, j’étois sur le pont Notre-Dame, avec la bonne d’Escars; jamais il n’est ce vu tant de monde; jamais Paris n’a été si ému ni si attentif; et qu’on demande ce que bien des gens ont vu, ils n’ont vu, comme moi, qu’une cornette mais enfin ce jour étoit consacré à cette tragédie.10 8  Zu der Giftmordaffäre am Hof Ludwigs XIV. vgl. Claude Quétel: Une ombre sur le Roi-Soleil. L’affaire des poisons. Paris 2007. 9  Marie de Rabutin-Chantal de Sévigné: Lettres de Madame de Sévigné a sa fille et a ses amis. Bd. IV. Nouv. éd., mise dans un meilleur ordre, enrichie d’éclairissemens et des notes historiques, augm. de lettres, fragmens […]. Paris: Bossange, Masson et Besson 1806. Die erste Erwähnung datiert vom 26. April 1676 an ihre Tochter. Vgl. Marie de Rabutin-Chantal de Sévigné: Lettres de Madame de Sévigné a sa fille et a ses amis. Bd. IV. Brief 408. Paris: Bossange, Masson et Besson 1806, S. 318 f. Weitere Erwähnungen finden sich in den Briefen vom 1. und 22. Mai (Brief 409 und 414 an ihre Tochter), am 3. und 10 Juli (Brief 432 und 435 an ihre Tochter) sowie schließlich am 17. Juli 1676. 10  De Sévigné: Lettres (Anm. 9), S. 452–454 [„Endlich ist es geschehen. Die Brinvilliers ist in der Luft; ihr armer kleiner Körper ist nach der Hinrichtung in ein großes Feuer geworfen worden und ihre Asche wurde in der Luft verteilt, in eben jener Luft, die wir atmen, so dass wir durch die Übertragung der Lebensgeister [petits esprits] einige der giftigen Substanzen [eigentlich Dämpfe oder Partikel; hier aber im Sinne der galenisch-paracelsischen humores; HS] eingeatmet haben, worüber wir alle sehr erstaunt sind. Sie ist gestern verurteilt worden; heute Morgen hat man ihren Haftbefehl verlesen, der sie dazu verurteilt, ein ansehnliches Bußgeld an

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Hania Siebenpfeiffer

Mit François Gayot de Pitavals erstmalig zwischen 1734 und 1740 publizierten 17bändigen Causes célèbres et intéressantes11 wurde die Mar­ quise de Brinvilliers Anfang des 18. Jahrhunderts Gegenstand einer Rechtsfallgeschichte. Von nun an ist sie literaturfähig und so wurde ihr ‚Fall‘ 1747 auch in die erste deutschsprachige Übertragung der Pitavalschen Causes célèbres von Gottfried Kiesewetter übernommen.12 1772 veröffentlichte der Pariser Anwalt François Richer eine überarbeitete und um drei Bände erweiterte Neufassung der Causes célèbres,13 die wiederum ab 1782 von Carl Wilhelm Franz ins Deutsche übertragen wurde, wo sie Ausgangstext der dritten deutschen Nacherzählung durch Friedrich Immanuel Niethammer wurde. Entsprechend findet sich die Erzählung über die Marquise de Brinvilliers auch in der von ihm besorgten und mit einem Vorwort von Friedrich Schiller versehenen Sammlung Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, die 1792 bei Cuno in Jena erschienen.14 Mit Schillers und Niethammers Fallsammlung etablierte sich der Notre-Dame zu zahlen, ihr den Kopf abzuschlagen, ihren Körper zu verbrennen, die Asche zu verstreuen. Man hat ihr mit der peinlichen Befragung gedroht; sie hat gesagt, sie bräuchte diese nicht und dass sie alles gestehe; und tatsächlich, bis 5 Uhr gestern Abend hat sie ihr Leben erzählt, noch entsetzlicher als man es gedacht hatte […] Um 6 Uhr heute Morgen hat man sie nackt in einem Büßergewand, einen Strick um den Hals, zur Notre-Dame gebracht, um das Bußgeld zu zahlen; und danach hat man sie in dem selben Karren zurückgebracht, wo ich gesehen habe, wie sie rückwärts auf das Stroh geworfen wurde, [bekleidet nur] mit einer kleinen Flügelhaube [Kopfbedeckung von Nonnen; H. S.] und dem Büßerhemd, ein Doktor [vermutlich Edmé Privot; H. S.] auf der einen; die Gerichtsdiener auf der anderen Seite. Um die Wahrheit zu sagen: es hat mich erschauernd gemacht. Die, die die Exekution gesehen haben, sagen, dass sie sehr gefasst auf das Schafott gestiegen sei. Ich hingegen stand zusammen mit den guten Escars auf der Brücke der Notre-Dame; niemals zuvor hat man so viele Menschen auf einem Haufen gesehen; niemals zuvor war Paris so ergriffen und so aufmerksam; und wenn fragt, was die Leute gesehen haben, haben sie, wie ich, nichts als eine kleine Flügelhaube gesehen; schlussendlich sollte dieser Tag dieser Tragödie geweiht sein.“]. 11  François Gayot de Pitaval: Causes célèbres et interessantes, avec les jugements qui les ont décidées. 17. Bde. Paris: Delaulne 1734–1740. Sie ist mit Ausnahme der korrigierten Errata ein Jahr später textidentisch nochmals erschienen in La Haye: Jean Neaulme 1735–1745. Die hier zugrunde gelegte Fassung der Histoire d’une celebre empoisonneuse, Marquise de Brinvilliers findet sich in der Ausgabe von Jean Neaulme an fünfter Stelle in Bd. 1, 1735, S. 250–297. 12  Gayotte von Pitaval: Geschichte der Maria Margaretha von Aubray, einer Marquisinn von Brinvillier. In: Ders.: Erzählung sonderbarer Rechtshändel, sammt deren gerichtliche Entscheidung. Aus dem französischen übersetzt. Erster Theil. Leipzig, Stockholm: bei Gottfried Kiesewetter 1747, S. 331–390. 13  François Richer: Causes Célèbres Et Intéressantes, Avec Les Jugemens Qui Les Ont Décidées. 21 Bde. Amsterdam: Rhey 1772–1788. 14  Friedrich Immanuel Niethammer / Friedrich Schiller: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem franz. Werk des Pitaval



Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers167

‚Fall‘ der Marquise fest im Repertoire der deutschsprachigen Kriminalliteratur und fand von hier aus zum einen Eingang in die rasant expandierende Pitavalliteratur der Moderne, angefangen bei dem Neuen Pitaval von Hitzig und Häring15 und den Nachtseiten der Gesellschaft von Wilhelm Jordan16 von Mitte des 19. bis zu den Kriminalfallsammlungen des frühen 20. Jahrhunderts.17 Zum anderen löste sich die Erzählung zeitgleich aus dem Kontext der Kriminalfallerzählungen und verselbstständigte sich zu einem ‚autonomen‘ Romanstoff, der u. a. über Alexandre Dumas in das frühe 20. Jahrhundert zu Reinhold Schmidts Marquise de Brinvilliers, die Giftmischerin aus Leidenschaft18 und weiter in die Nachkriegsliteratur zu Paul Elgers Die Marquise von Brinvilliers von 1964, in das (bundesrepublikanische) Fernsehspiel der 1970er Jahre bis zu Grégoire Alexandroffs 1998 auf Deutsch erschienener Graphic Novel Das Erbschaftspulver tradiert wurde.19 Insbesondere die modernen paraliterarischen und literarischen Vertextungen des ‚Falls‘ sind über die historischen Verschiebungen hinweg von einer dominanten Semantik bestimmt, die dem bis heute wirksamen Dispositiv durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet und herausgegeben von Friedrich Schiller. 3 Bde. Jena: bei Christ. Heinr. Cuno’s Erben 1792– 1796. Der ‚Fall‘ der Marquise findet sich in Bd. 3, 1793, S. 8–102. Er ist wieder abgedruckt unter dem Titel Geschichte des Prozesses der Marquise de Brinvilliers in: Oliver Tekolf: Schillers Pitaval. Frankfurt a. M. 2005, S. 153–207; alle Seitenangaben beziehen sich auf den Wiederabdruck. Die Forschung hat die Urheberschaft an den Überarbeitungen in den letzten Jahren immer stärker Niethammer zugeschrieben. Um diesem Forschungsstand Rechnung zu tragen, weise ich alle Referenzen mit Niethammer / Schiller aus. 15  Julius Hitzig / Wilhelm Eduard Häring (Hg.): Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit, 60 Bde., Leipzig 1842–1890. Die Erzählung der Marquise de Brinvilliers findet sich im ersten Band von 1842. 16  August Diezmann / Wilhelm Jordan / Ludwig Meyer (Hg.): Nachtseiten der Gesellschaft. Eine Gallerie merkwürdiger Verbrechen und Rechtsfälle, 20. Bde., Leipzig 1844–1852. Die Wilhelm Jordan zugeordnete Erzählung Die Marquise von Brinvilliers ist wiederabgedruckt in: Heiner Boehncke / Hans Sarkowicz: Blutiges Biedermeier. Schreckliche Geschichten aus der guten alten Zeit. Frankfurt a. M. 1996, S. 166–199. 17  Ein meines Wissens vollständiges Verzeichnis der Kriminalfallsammlungen zwischen 1750 und 1930 hat Joachim Linder zusammengestellt. Es ist abrufbar unter http: /  / www.joachim-linder.de / data / fasa.html#1890. 18  Die modernen Fallbearbeitungen gehörten fast ausnahmslos zum Genre der Kolportageromane, wie etwa der oben erwähnte Roman von Reinhold Schmidt: Marquise de Brinvilliers, die Giftmischerin aus Leidenschaft. Halle 1922. 19  Die genannten Beispiele stellen nur eine kleine Auswahl der tatsächlichen Verarbeitungen dar, die sich über die Literatur und Comic auf Oper, Theater und Chansons sowie v. a. japanische Manga und Anime erstrecken.

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Hania Siebenpfeiffer

moderner Giftmischerei folgt, das die Marquise als eine leidenschaftliche und ebenso skrupel- wie ruchlose Mehrfachmörderin erzählte, ihr eine abgrundtiefe Amoralität attestierte und sie zum Inbegriff von weiblicher Hinterlist und Heimtücke erklärte. Jenseits der unterschiedlichen diskursiven Provenienz der Texte lassen sie ‚Weiblichkeit‘ und ‚Gift‘ in der Figur der Brinvilliers zusammenfallen, so dass das Bild einer in hohem Maße sexualisierten, dämonisierten und skrupellosen Giftmischerin entsteht. So heißt es bei Hitzig und Häring, sie sei ein „vollkommenes Scheusal“, dem das Gift […] systematisch [die] Adern durchdrungen, ihre Natur erfüllt und verändert habe[ ], daß sie so im gräßlichen Willen und in der entsetzlichen Ausdauer fertig dastehen konnte, als wir sie bei der ersten Giftmischung erblicken. […] Nach allen Erfahrungen ist eine Grausamkeit dieser Art mit einem wollüstigen Kitzel verbunden, der fort und fort Befriedigung verlangt und das, was als Ernst angefangen ist, als Spiel fortsetzt. Die Brinvillier[s]20 war eine wollüstige Person, wollüstig im höchsten Grade; [und] zur Wollust […] gesellte sich der aristokratische Dünkel.21

Die Literaturwissenschaft hat diese mit dem Namen Brinvilliers belegte, literarische bzw. paraliterarische Typologie von Weiblichkeit und Dämonie im Zeichen des Giftes aufgegriffen und hierbei den Schwerpunkt auf die Vertextungen nach 1800 gelegt.22 Als materieller Einsatzpunkt dient fast ausnahmslos die von Niethammer und Schiller verantwortete Fallerzählung, die 1793 im dritten Band der Merkwürdigen Rechtsfälle erschien und die als Beginn der spezifisch neuzeitlichen Diskursivierung von Recht, Moral und Geschlecht gelesen wird. Von hier aus entfalteten sich die juridischen, medizinischen und psychiatrischen Diskurslinien weiblicher Kriminalität in das 19. und 20. Jahrhundert, um – dies hat Inge Weiler in ihrer Untersuchung zur Giftmischerei herausgearbeitet – in dem eben skizzierten Dispositiv von ‚Weiblichkeit‘ und Gift zu münden. Im 19. Jahrhundert zum Teil des „Viergespann[s] der Giftmischerinnen“23 erhoben, wird die Marquise de Brinvilliers in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Analysen zur ers20  Die Schreibweise ihres Namens ist im Deutschen und gelegentlich auch im Französischen uneinheitlich. Es findet sich sowohl die korrekte Form, die auf -s endet, als auch eine inkorrekte, verkürzte Form ohne -s, die mit Markierung emendiert wurde. 21  Hitzig / Häring: Der neue Pitaval (Anm. 15), S. 4. 22  Neben der Monografie von Inge Weiler, die aus der Perspektive der Fallbearbeitung des 19. Jahrhunderts kurz auf die Marquise eingeht (Inge Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie. Tübingen 1998, S. 21–41) vgl. zudem die instruktiven Artikel von Michael Niehaus: Die Figur der Giftmischerin als Fall der Literatur. In: KulturPoetik 5 (2005), H. 2, S. 153–168 und Harald Neumeyer: ‚Schwarze Seelen‘. Rechts-Fall-Geschichten bei Pitaval, Schiller, Niethammer und Feuerbach. In: IASL 31 (2006), H. 1, S. 101–132. 23  Hitzig / Häring: Der neue Pitaval (Anm. 15), S. 3.



Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers169

ten von „vier Heroinen des Giftmords“24 erklärt, mit dem unausgesprochenen Nebeneffekt, dass bei diesem ‚Fall‘ des 17. Jahrhundert eine erst im 19. Jahrhundert etablierte Diskursivierung weiblicher Giftmischerei in den Vordergrund rückt und die wissenschaftlichen und populären Semantiken dominiert. Ignoriert wird dabei, dass erst die Unterwerfung der Delinquenz unter eine prätendierte ‚Natur der Verbrecherin‘ die juridischen Primärdifferenzen ‚kriminell / nicht-kriminell‘ sowie die moralische Unterscheidung ‚gut / böse‘ um die medizinal- und psychopathologischen Unterscheidung von ‚gesund / krank‘ und ‚normal / anormal‘ angereichert hat und dabei – wie die folgenden Ausführungen zeigen werden – die Diskursivierung des Giftmords gegenüber frühneuzeitlichen Konzepten grundlegend veränderte. In der hier verfolgten Fallanalyse, die im Wesentlichen eine Lektüre des Umbruchs des frühneuzeitlichen Dispositivs von Recht, Moral und Affekt in das moderne Dispositiv von Recht, Moral und (pathologische) ‚Natur‘ ist,25 spielt das eben skizzierte moderne Dispositiv der Giftmörderin entsprechend nur eine nebengeordnete Rolle. Im Mittelpunkt stehen stattdessen jene ersten Vertextungen, die aus dem Prozess gegen die Marquise den Kriminalfall einer (auch) weiblichen Giftmischerei machten. Die Lektüre stützt sich auf die noch vorhandenen Teile der Prozessakte von 1676 – insbesondere das Urteil, die Verteidigungsschrift ihres Anwalt Nivelle und nachgeordnet das erste Ermittlungsgesuch gegen die Marquise von 1672 – sowie die Fallerzählung von Gayot de Pitaval und ihre Übertragung in die modernen Diskursivierungen durch Niethammer und Schiller. Ich lese den ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers damit als beispielhaften Übergang von einem frühneuzeitlich-absolutistischen zu einem obrigkeitsstaatlichen Kriminalitätsverständnis. Dies schließt die Hypothese mit ein, dass die Auseinandersetzungen mit ihrem ‚Fall‘ im Jahr 1676 vor Gericht und im Jahr 1734 bei Gayot de Pitaval ein anderes Erkenntnisinteresse verfolgten, als die Psychologisierungen um 1800, für die Niethammer / Schiller stehen. Die Unterschiede sind augenfällig: In den frühneuzeitlichen Vertextungen war die spätmittelalter­liche Deliktnähe von Giftmord und Zauberei noch nicht aufgegeben, stand der modernen biologischen bzw. pathologischen Codie24  Inge Weiler: Die Sensationsberichterstattung der Illustrierten in den fünfziger und sechziger Jahren: Der Fall Christa Lehmann. In: Joachim Linder / Claus-Michael Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Berlin 1999, S. 193–214, hier S. 194. Neben der Marquise nennt Weiler zudem die Geheimrätin Charlotte Ursinus, Anna Margarete Zwanziger und Gesche Gottfried. 25  Einer großzügigeren historischen Datierung folgend wird der Einsatz der Moderne mit dem epistemischen Bruch um 1770 identifiziert, den Michel Foucault in seinem Essay Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (1966) stark gemacht hat. Entsprechend datiert die frühe Neuzeit hier bis zum Umbruch in die moderne Diskurskonfiguration.

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rung der Tat über das Körpergeschlecht der Täterin noch das genus in Form der ständischen Gebundenheit zur Seite und wurde der Giftmord zwar mit dem ‚weiblich‘ codierten arkanen Wissen des maleficium, jedoch auch mit dem arkanen, aber ‚männlich‘ codierten Wissen der Alchemie in Verbindung gebracht. Vor allem aber wurden am ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers Verfahrensfragen einer neuzeitlichen Rechtsprechung verhandelt. Um dies genauer ausführen zu können, ist es vorab erforderlich, die faktualen Momente des ‚Falls‘ Brinvilliers, so wie sie sich aus dem frühneuzeitlichen Textmaterial erschließen, kurz zu skizzieren. I. Der ‚Fall‘ der Marquise, gezogen aus den Akten des Prozesses 167626 Marie Madeleine Marguerite d’Aubray stammte aus einer reichen und einflussreichen französischen Adelsfamilie. Ihr Vater, Antoine Dreux d’Aubray, war 1643 zum Lieutenant civil de la prévôté et vicomté de Paris ernannt worden und bekleidete damit eines der beiden höchsten Magistratsämter am Pariser Gericht. Sie heiratete 1651 im Alter von 21 Jahren An­ toine Gobelin de Brinvilliers, der gleichfalls einer der reichsten Familien Frankreichs angehörte; ihr gemeinsames Guthaben wird auf 200.000 Livres zuzüglich 30.000 Livres Jahreseinkommen geschätzt,27 passend hierzu soll ihr Lebensstil überaus ausschweifend gewesen sein. 1660 wurde Antoine Gobelin de Brinvilliers zum Marquis und damit in den dritthöchsten Adelstand unterhalb des Königs erhoben und trug fortan den Namen Marquis Antoine Gobelin de Brinvilliers; Marie Madeleine Marguerite d’Aubray wurde zur Marquise geadelt. Über ihren Ehemann lernte die Marquise im Jahr 1658 dessen ehemaligen Regimentskameraden, ihren späteren Geliebten, den Chevalier Godin de 26  Die folgende (Re)Konstruktion basiert in erster Linie auf den Angaben aus der Prozessakte sowie den dort zu findenden Selbstaussagen der Marquise aus ihrer in der Lütticher Klosterzelle gefundenen ‚Beichte‘. Des Weiteren wurden hinzugezogen die Angaben aus Corato: Grandes plaidoiries & Grands procès du XVe au XXe siècle, sowie die allerdings mit etwas Vorsicht zu verwendete Schilderung von Eckart von Naso: Die Chronik der Giftmischerin. Potsdam 1926. Die im Internet zu findenden Informationen (wikipedia etc.). sind mehr oder weniger akkurat. Eine detaillierte, allerdings stark narrativierte Darstellung ihrer Biografie findet sich in Anne Somerset: The Affair of the Poisons. Murder, Infanticide and Satanism at the Court of Louis XIV. London 2003, S. 6–41. In Frankreich gibt es seit einigen Jahren eine verstärktes Interesse an der Rechtsgeschichte de ancien régime, das die ‚Giftmordfälle‘ am Hof Ludwigs XIV. einschließt. Vgl. in diesem Kontext die Neubewertung des ‚Falls‘ der Marquise de Brinvilliers durch Agnès Walch: La Marquise de Brinvilliers. Paris 2010. 27  So u. a. in Somerset: The Affair of the Poisons (Anm. 26), S. 8.

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Sainte-Croix kennen. Sie begannen offensichtlich schnell eine Affäre, die fast ebenso rasch Gesprächsthema in den Kreisen am Hof wurde, so dass der Vater der Marquise, Antoine Dreux d’Aubray, sich veranlasst sah, zum Schutz seines Namens und auf Drängen seiner beiden Söhne am 19. März 1663 mit einer lettre de cachet die Inhaftierung Sainte-Croixs in der Bastille zu erwirken. Es lag jedoch kein konkretes Verdachtsmoment gegen Sainte-Croix vor und so musste er nach sechs Wochen wieder entlassen werden. Sainte-Croix hatte in der Haft Freundschaft mit einem italienischen Alchemisten namens Exili geschlossen, der ihn in die Alchemie und Toxikologie einweihte und mit der Herstellung eines Giftes, vermutlich einem Arsenderivat, vertraut machte, das damals noch nicht im Körper nachweisbar war. Dieses Eau admirable – auch Poudre de succession28 genannt – diente der Marquise und Sainte-Croix zur Ermordung des Vaters der Marquise und ihrer beiden Brüder sowie für einen Mordversuch an ihrer Schwester Thérèse d’Aubray. In der Anklageschrift und den Erinnerungen von Edmé Privot werden als Mordmotive neben Rache für die (willkürliche) Inhaftierung Sainte-Croixs vor allem Schulden genannt, die durch den unmittelbar nach der Freilassung wiederaufgenommenen verschwenderischexklusive Lebensstil entstanden waren. Tatsächlich hatte Sainte-Croix die Marquise Mitte der 1660er Jahre veranlasst, ihm zwei Schuldscheine in Höhe von 25.000 und 30.000 Livres auszustellen. Da diese durch ihr eheliches Barvermögen nicht mehr gedeckt waren, entstand der Plan, über den Tod ihres Vaters und ihrer Geschwister in den Besitz des nicht unbeträchtlichen Familienvermögens zu gelangen, über welches sie nach einem Erlass gegen ihren Ehemann, der gleichfalls wegen Verschwendungssucht verurteilt war, frei hätte verfügen dürfen. 1666 begann die Marquise ihrem Vater kleinere Dosen des Eau admirable zu verabreichen, in deren Folge er nach mehreren Monaten am 10. September 1666 starb. Da kein Verdacht auf einen unnatürlichen Tod bestand, wurde die Leiche ohne Obduktion beigesetzt und das Erbe ging zu gleichen Teilen an die Marquise, ihre beiden Brüder und ihre Schwester. Die Vergiftung ihrer Brüder folgte wenige Jahre später, im April 1670, als sie die Ostertage gemeinsam auf ihrem Landgut bei Paris verbrachten. In ihren Diensten stand ein Kammerdiener mit Namen Jean Stamelin, genannt La Chaussée. Er war von Sainte-Croix gedungen worden, in Abwesenheit der Marquise die Vergiftung der Brüder durchzuführen. Innerhalb weniger Monate, am 17. Juni und im September 1670, starben die bis dahin gesunden Brüder, so dass die Schwester eine Leichenöffnung durchsetzte, die eindeutige Anzeichen einer Arsenvergiftung zu Tage förderte. Da die Marquise zu der Zeit kaum Kontakt zu ihren Brüdern pflegte und auch nicht vor Ort gewesen war, fiel auf sie kein Verdacht und 28  Im

Deutschen mit Erbschaftspulver übersetzt.

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die angeordneten Ermittlungen wurden nach wenigen Monaten ergebnislos eingestellt. Die Aufdeckung der Taten und der erneute Beginn der Ermittlungen verdankten sich letztlich einem unglücklichen Zufall, als Sainte-Croix am 30. Juli 1672 von seiner Vermieterin tot in seiner Kammer aufgefunden wurde und die Polizei – weil sie davon ausging, dass er sich bei geheimen alchemistischen Experimenten versehentlich selbst vergiftet hatte – zunächst keine weitere Ermittlungen zu seinem Tod einleitete, aber aufgrund der überaus hohen Schulden, die Sainte-Croix hinterließ, die Kammer für eine Gläubigerbestellung versiegelte. Bei der Versiegelung wurde eine auf den 15. Mai 1670 datierte und an die Marquise de Brinvilliers adressierte Schatulle gesichert, in der sich verschiedene Substanzen, diverse Schuldscheine und mehrere Liebesbriefe an Sainte-Croix befanden. Nachdem sich die Substanzen in Tierversuchen als hochgiftig erwiesen hatten und sich zur selben Zeit der ehemalige Diener Sainte-Croixs, La Chaussée, in der Polizeipräfektur meldete, um seine ausstehende Bezahlung für seine Dienste bei den Brüdern der Marquise einzufordern, eröffnete der Polizeipräfekt von Paris ein Ermittlungsverfahren gegen La Chaussée, das am 4. September 1672 zu dessen Verhaftung führte. Inzwischen hatten sich der ‚Fall‘ bis zur früheren Ehefrau von SainteCroix, Madelaine Bertrand de Breuil, herumgesprochen, die ebenfalls noch 1672 ein Gesuch bei der Grand’ Chambre de Parlement gegen die Marquise einreichte, die sie des Mordes auch an Sainte-Croix verdächtigte. Dem nun gegen sie ausgestellten Haftbefehl entzog sich die Marquise zunächst durch Flucht nach England, dann zurück auf den Kontinent und schließlich 1675 in ein Kloster bei Lüttich, wo sie im März 1676 verhaftet wurde. In den Jahren ihrer Flucht hatte die Hauptverhandlung gegen La Chaussée stattgefunden, der in seinen Aussagen sowohl Sainte-Croix als auch sie schwer belastet hatte. Am 24. März 1673 wurde La Chaussée der Mittäterschaft an der Ermordung der Brüder sowie der mehrfachen versuchten Vergiftung und Gegenvergiftung des Ehemanns der Marquise für schuldig befunden und zum Tod durch Rädern verurteilt; einen Tag später fand seine Hinrichtung statt. Der Haftbefehl gegen die Marquise wurde in ihrer Abwesenheit verschärft, da sie nun auch der Ermordung ihres Vaters, ihrer Brüder sowie des Mordversuchs dringend tatverdächtig galt.29 Ihre Verhaftung erfolgte drei Jahre später, im März 1676, in einem Kloster bei Liège, wo man 29  Weitere, allerdings nicht erhärtete und daher auch nicht zur Anklage gebrachte Verdachtsmomente betrafen die Vergiftung einer unbekannten Zahl von Kranken im Hôtel de Dieu, dem Armenkrankenhaus von Paris, die mehrmalige versuchte Vergiftung ihres Ehemanns, ihrer Kammerzofe sowie – angeblich – mehrerer Gäste und Bediensteter.



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in ihrer Zelle ein versiegeltes Schreiben, das mit Confes­sions übertitelt war, fand. Die Marquise erklärte das Schriftstück im Prozess als ihre Beichte, die an einen Priester gerichtet sei, was vom Gericht jedoch ignoriert wurde. Noch im April wurde durch die Grand’ Chambre de Parlement der Prozess gegen sie eröffnet, in dessen Hauptverhandlungen diese Beichte eine tragende Rolle spielte und der am 16. Juli mit dem Schuldspruch und am 17. Juli mit ihrer öffentlichen Hinrichtung endete. II. Eine Frage des Beweises: Der Fall bei Nivelle (1676) und Gayot de Pitaval (1734) Im ersten Band seiner Causes célèbres et intéressantes bringt der unter Ludwig XIV. als Advokat am Pariser Parlement tätige Jurist François Gayot de Pitaval die skizzierten Ereignismomente, die zur Verhaftung und Verurteilung der Marquise geführt hatten, in einer neuen Form der Rechtsfallgeschichte zusammen. Gayot de Pitavals generelles Hauptinteresse in den Causes célèbres galt den gerichtlichen Prozessualisierungen ‚großer‘ Rechtsfälle der jüngsten Vergangenheit, deren Prominenz er von der Berühmtheit der Strafverteidiger abhängig machte. Je bekannter der Verteidiger,30 desto höher sei der persuasive Gewinn, der sich aus dem Studium seiner ‚Fälle‘ für angehenden Juristen und Advokaten ziehen lasse: „Avec quel plaisir ne voit-on pas les Avocats qui trouvent dans les sources les plus cachées de la persuasion, des raisons qui remuent les passions, interessent les Juges & le public?“31 Entsprechend transformierte Gayot de Pitaval das Fallmaterial mit der Intention, über die Causes célèbres nicht zuletzt sein eigenes Praxiswissen zu distribuieren, in Anschauungsmaterial für juristische Sach- und Verfahrensprobleme. Es ging ihm dabei nicht wie rund 60 Jahre später bei Niet­ hammer / Schiller um eine moralische Anthropologie der Delinquenz, er verfolgte auch kein primär unterhaltendes Interesse wie die Pitavalsammlungen des mittleren 19. Jahrhunderts, sondern sein Ziel war die Rechtsgelehrsamkeit, innerhalb derer ihm die ‚Fälle‘ als juristische Lehrbeispiele 30  „Dailleurs dans ces grandes Causes on choisit ordinairement les plus célèbres Avocats, leurs Ouvrage sont les plus précieux monumens de l’éloquence du Barreau.“ François Gayot de Pitaval: Avertissement, In: Ders.: Causes célèbres et interessantes, avec les jugements qui les ont décidées, fol. iij [„Im Übrigen hat man unter den großen Fällen der Rechtsgeschichte die der gefeiersten Verteidiger ausgewählt, denn ihre Werke sind die kostbarsten Dokumente rechtlicher Beredsamkeit.“]. 31  Gayot de Pitaval: Avertissement (Anm. 30), fol. iij [„Mit welcher Befriedigung betrachtet man nicht jene Advokaten, die aus den verborgensten Quellen der Überzeugungskunst Gründe finden, die die Gefühle anrühren und die die Richter und das Publikum bewegen?“].

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dienten,32 an denen sich künftige Advokaten und Richter schulen sollten: „[…] en satisfaisant parfaitement la curiosité, instruit en même tems l’esprit des régles de la Jurisprudence dans des cas importans“,33 wie es in der Vorrede heißt. Seine Adressaten sind entsprechend an der Kunstfertigkeit des juristischen Handwerks interessierte (künftige) Repräsentanten des Rechts und sein Interesse galt weder der moralischen Läuterung noch der literarischen Erbauung, sondern der Optimierung der rhetorischen techné der Rechtsrede. Dies erforderte eine Bearbeitung des Fallmaterials nach dem Gebot der rhetorischen Überzeugungskunst und gemäß den Regeln des genus iudiciale. Gayot de Pitavals Zugriff auf die Fakten seiner ‚Fälle‘ ist in den gesamten Causes célèbres bestimmt von einem größtmöglichen Zurückdrängen der Narration zugunsten einer größtmöglichen Sichtbarkeit der angewandten rhetorischen Strategien vor Gericht und ihrer Schwächen und Stärken. Entsprechend reinigt er das Fallmaterial von allem, was den Blick auf den rhetorisch-persuasiven Mehrwert verstellen könnte.34 Dies gilt auch für den Fall der Marquise, an dem ihn nicht – wie man aus rückblickender Perspektive erwarten könnte – die moralische Ruchbarkeit einer mehrfachen Mörderin interessierte oder die Verbandlungen dieses ‚Falls‘ mit der Affaire des poisons, die wenige Jahre später zu Ermittlungen in den höchsten Kreisen in Versailles, zur Einrichtung der Chambre ardente und zur Hinrichtung von 36, teils dem engsten Umfeld des Königs zugehörigen Personen führte, sondern ihn interessierte allererst die Verteidigungsstrategie ihres Anwalts Nivelle, dessen profunde Gelehrtheit er in der Vorrede zunächst ausdrücklich lobt: „L’Histoire de la Marquise de Brinvillier[s], est racontée avec toutes ses circonstances. La question qu’on y traite, à laquelle j’ai fait quelques additions, nous montre la profonde érudition du défendeur de cette célèbre criminelle.“35 Übereinstimmend mit der in der Vorrede zu den Causes célèbres präsentierten Programmatik setzt die Geschichte der Marquise mit den vollendeten Fakten ein: „Marie-Marguerite d’Aubray, Marquise de Brinvillier[s], Convaincuë d’avoir empoisonné son Pere & ses deux Frères, & d’avoit attenté à Neumeyer: ‚Schwarze Seelen‘ (Anm. 22), S. 112. de Pitaval: Avertissement (Anm. 30), fol. j [„Die Neugier vollständig befriedigend, wird der Verstand gleichzeitig in die Regeln der Rechtsprechung bei wichtigen Fällen eingewiesen.“]. 34  „J’ai épuré ma narration autant que j’ai pu, du fatras de la procedure, & je n’en ai raconté que les circonstances absolument necessaires.“ Gayot de Pitaval: Avertissement (Anm. 30), fol. ij–iij [„Ich habe meine Erzählung, soweit es mir möglich war, von allem überflüssigen Wust des Gerichtsverfahrens gesäubert und habe keine anderen als die absolut notwendigen Umstände erzählt.“]. 35  Gayot de Pitaval: Avertissement (Anm. 30), fol. iv [„Die Geschichte der Marquise de Brinvillier ist in allen Einzelheiten wiedergegeben. Die Frage, die wir hier behandeln, und zu der ich einige Hinzufügungen getätigt habe, wird uns die profunde Gelehrsamkeit des Anwalts dieser berühmten Kriminellen beweisen.“]. 32  Vgl.

33  Gayot



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la vie de sa Sœur“36, lautet die auf das Urteil hin pointierte Überschrift, mit der er von vornherein jede Möglichkeit einer Ereignisdramaturgie ausschloss, wie sie die modernen Fallgeschichten auszeichnet, die über Anspielungen, Aussparungen und Verdichtungen ihr Material deutlich stärker auf eine spannungsorientierte Wirkungsästhetik hin organisierten. Gayot de Pitaval hingegen verzichtete auf einen Spannungsaufbau ebenso wie er jede individuelle, psychologische Motivierung der Taten aussparte. Sein Augenmerk galt stattdessen einem Moment, das aus heutiger Sicht nicht weiter bemerkenswert scheint, dem im Rahmen der Naturrechtskodifikationen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts hingegen eine besondere Bedeutung zukam, da sich an ihm die Reichweite der absolutistischen Rechtsprechung entschied. Im Mittelpunkt der Fallerzählung steht die im Kloster gefundene con­ fession der Marquise, mit deren prekärem rechtlichen Status die Fallkon­ struktion eröffnet: „L’on traite la question, si la confession ecrite pour estre revelée à un Prestre peut servir de preuve contre un Accuse.“37 Die Umwidmung des ‚Falls der Giftmischerin‘ zum ‚Fall der Beichte‘ hatte profunde Folgen für die rechtliche Konstruktion, die hier verhandelt wird, denn an die Stelle der Eruierung der Schuld oder Unschuld der Marquise tritt bei Gayot de Pitaval die Frage nach der prozessualen Integrität der damaligen Verhandlung und zwar einschließlich der Frage nach der Legitimität des vor Gericht als Beweismittel gegen sie verwandten Bekenntnisses, das entscheidend war für ihre Verurteilung, da die confession der Marquise vom Gericht bewusst als ein ‚Bekenntnis‘ auch im juridischen Sinne gelesen wurde: nämlich als ein vor Gericht verwertbares, weltliches Geständnis. Ein Vergleich von Gayot de Pitavals Fassung mit der für den deutschen Sprachraum kanonischen Version, die Niethammer / Schiller im dritten Band ihrer Merkwürdigen Rechtsfälle 1793 veröffentlichten, macht die Verschiebung des juristischen Erkenntnisinteresses zwischen Anfang und Ende des 18. Jahrhunderts ebenso sichtbar wie sie deren Auswirkungen auf die Semantik des Giftmords ausstellt.38 Während Pitavals Fallkonstruktion von Beginn an auf den prekären Rechtsstatus der ‚Beichte‘ ausgerichtet ist und dieses spezifische Interesse im proömium ausführlich begründet, fehlt eben dieses proömium bei Niethammer / Schiller. Ihre Fallgeschichte setzt direkt mit der Darstellung der Taten ein (narration1) und legt den Schwerpunkt von Beginn 36  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 250 [„Geschichte der Marie Marguerite d’Aubray, der Marquise de Brinvilliers, welche überführt wurde, ihren Vater und ihre beiden Brüder vergiftet und ihrer Schwester nach dem Leben getrachtet zu haben.“]. 37  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 250 [„Wir behandeln hier die Frage, ob die Beichte, die geschrieben wurde, um einem Priester übergeben zu werden, zum Beweis gegen einen Beklagten dienen kann.“]. 38  Vgl. die Tabellen I und II im Anhang.

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an unübersehbar auf die Figur der Marquise, indem ausschließlich ihre Motive, Fähigkeiten und Tatgelegenheiten berichtet werden und nicht, wie bei Pitaval, auch die von Sainte-Croix. Dieser wiederum, dessen narration1 nicht einmal halb so umfangreich ist wie bei Niethammer / Schiller, befragt beide nach causae, facultates et circumstantiae und diskutiert ihrer beider Beweggründe vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Affekttypologie, die dem Adel den auch im ‚Fall‘ der Marquise wirkenden hohen Affekt der Rache zusprach. In der argumentatio1 gehen die Falldarstellungen noch weiter auseinander, wenn Pitaval die erste Verurteilung der Marquise im Rahmen der Verhandlungen gegen La Chaussee in eine ausführliche Schilderung der Todesumstände von Sainte-Croix einbettet, wohingegen Niethammer / Schiller jene Sainte-Croix betreffenden Ereignisse überspringen und direkt auf das Gerichtsverfahren gegen La Chaussee eingehen. Die Figur von Sainte-Croix, die Nivelle als eigentlichen Täter dargestellt hatte und dessen ursächliche Mitwirkung an den Giftmorden das Pariser Gericht 1676 anerkannte, auch wenn es sich nicht dazu motivieren ließ, ihn als alleineigen Täter zu sehen, und den Gayot de Pitaval gleichberechtigt neben die Marquise stellt, ist bei Niethammer / Schiller praktisch vollständig aus der Fallgeschichte verschwunden. Er wird lediglich als Ursache für ihre finanzielle Notlage, als Objekt ihrer unbotmäßigen Liebe, als Lieferant des Giftes und als Grund der Ermittlungen gegen sie kurz erwähnt.39 Entsprechend konzentrieren sich Niethammer / Schiller im zweiten narrativen Teil ihrer Fallerzählung auf die Flucht und Verhaftung der Marquise und kommen erst am Ende ihrer argumentatio2 im Rahmen des Gerichtsplädoyers kurz auf die Beichte zu sprechen. Pitaval hingegen zieht die Behandlung der confession nach vorne in die narratio2 und schafft so die rhetorischen Voraussetzungen, um die eingeführten Momente im zweiten Argumentationsteil weiter zu entfalten. Seine argumenta­ tio2 widmet sich zu großen Teilen der Frage nach der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Beichte als Beweismittel vor Gericht, wobei entscheidend ist, dass er die in langen Auszügen wörtlich zitierte Argumentation des Verteidigers am Schluss mit einem erneuten, diesmal ausschließlich die Marquise betreffende locus a persona, dem Hinweis auf die Habgier als ihre ‚wahre‘ seelische Natur, ihre natura animi, autoritativ abwertet, bevor die argumenta­ tio2 mit dem Hinweis auf ihre zweite Verurteilung schließt. Bei Niethammer / Schiller sind das Plädoyer Nivelles und die Stellungnahme Pitavals ebenfalls Teil der argumentatio2, sie grenzen sich jedoch, bevor sie ihre Darstellung mit der Rezeption des Falls in den Briefen der Madame de Sévigné beenden,40 deutlich von Gayot de Pitavals Kritik ab: 39  Entsprechend kurz wird auch der Aufenthalt Sainte-Croix in der Bastille, während dem er in die Alchemie eingeführt wurde, abgehandelt. 40  Die Verweise auf die Briefe der Madame de Sévignés zeigen, dass Niethammer / Schiller nicht mit der Originalausgabe von Gayot de Pitaval gearbeitet haben.



Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers177 Dies waren die scharfsinnigen Gründe, mit welchen Hr. Nivelle die Marquise verteidigte. Allein das corpus delicti war vollkommen berechtigt. […] Man darf nur diese Antworten [im Verhör der Marquise] lesen, um zu sehen, wie die Wahrheit, die sie unterdrücken will, öfters mit Gewalt hervorbricht. Man sieht hier die Verzagtheit einer schwarzen Seele, die, fähig zu den größten Greuelthaten ohne zu Zittern zu begehen, so lange nicht entdeckt zu werden fürchtet, beim bloßen Anblick des Richters alle Besonnenheit verliert.41

Der Hinweis auf die Briefe fehle bei Pitaval hingegen nicht nur deswegen, weil sie ihm nicht zugänglich waren, sondern vor allem, weil er mit seiner Fallkonstruktion ein anderes Ziel verfolgte. Ihm ging es, dies wird in der peroratio ein letztes Mal pointiert, um seine abschließende Würdigung des ‚Falls‘, die eine fundamentale Kritik an der Rhetorik Nivelles einschloß; etwas, das wiederum bei Niethammer / Schiller keine Rolle (mehr) spielte, da bei ihnen nicht die Frage der besten Verteidigung, sondern die Frage der moralischen Natur einer wegen mehrerer Giftmorde verurteilten Täterin im Mittelpunkt stand. Bündelt man diese im Vergleich der Fallkonstruktionen gewonnenen Befunde, so wird noch einmal die weitreichende Divergenz der beiden Fallkonstruktionen deutlich – hier die verfahrens- und prozessrechtliche Fachfrage nach dem juristischen Stellenwert der confession, dort das Interesse an der ‚schwarzen Seele‘ einer (adeligen) Giftmischerin zu Zeiten des an­ cien régime – mitsamt ihrer unterschiedlichen Gewichtung von argumenta­ tio und narratio. Zwar alternieren, was durch den genus iudicale nicht zwingend vorgegeben ist, in beiden Fallerzählungen narrative und argumentative Passagen, ihre Textanteile weichen jedoch stark voneinander ab und indizieren den Grad der jeweiligen Literarisierung.42 Denn während Gayot de Pitaval die narratio deutlich gegenüber der argumentatio abfallen lässt, werten Niethammer / Schiller ihre narrativen Passus gegenüber den argumentativen ebenso deutlich auf.43 Diese veränderte Gewichtung hatte ihren Die Briefe der Madame de Sévigné wurden erst in der Ausgabe von Richer in die ursprüngliche Fallgeschichte eingearbeitet. Vgl. Richer: Causes Célèbres Et Intéressantes, Amsterdam 1772–1788. 41  Niethammer / Schiller: Geschichte des Prozesses der Marquise von Brinvillier (Anm. 14), S. 197–200. Niethammer / Schiller führen das Vernehmungsprotokoll der Marquise gegen die Relativierung der Beichte ins Spiel und verlagern damit den argumentativen Schwerpunkt weg von einer Kritik an der Verteidigung hin zu einer Rhetorik der Ehrlichkeit, gemäß der sich die Marquise in ihren Reden unbeabsichtigt selbst verraten habe und es daher der Beichte als Beweismittel nicht mehr bedürfe. 42  „[…] erst um 1800 wird die Giftmischerin zur Figur – zur literarischen Figur von Falldarstellungen, gemacht aus Worten, aus Zuschreibungen, zugleich aber zu einer anthropologischen Figur, an der die Worte, an der die Zuschreibungen zuschanden werden.“ Niehaus: Die Figur der Giftmischerin (Anm. 22), S. 133. 43  Bei Gayot de Pitaval ist das Verhältnis in der hier zugrundegelegten Ausgabe 10 Seiten narratio zu gut 25 Seiten argumentatio; bei Niethammer / Schiller hat es

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Grund auch, aber nicht allein in den unterschiedlichen Ausbildungs- und Rezeptionssystemen der Verfasser, bei denen eine plädoyerorientierte französische Rechtsschule einer stärker richterorientierten deutschen Rechtspraxis begegnete. Sie war aber mehr noch ein Indikator für Größe der diskursiven Differenz, die sich zwischen dem Beginn und dem Ende des 18. Jahrhunderts auftut und die aus einer Argumentation über die Zulässigkeit spezifischer Beweismittel vor Gericht die Konstruktion einer amoralischen, weiblichen Giftmischerin machte. In genau diesem diskursiven Hiatus zwischen juridischen Verfahrensproblematik einerseits und psychopathologischer Profilierung von Delinquenz andererseits entstand im 18. Jahrhundert das eingangs skizzierte Dispositiv der modernen Giftmischerin.44 Es bleibt jedoch zu fragen, warum just die Beichte in Gayot de Pitavals Fallversion eine solche Bedeutung erlangt, dass sie weite Teile seiner Darstellung dominiert. Wie die rhetorische Analyse gezeigt hatte, richtete Pitaval seine Fallrhetorik genau auf jene eingangs erwähnte Verschiebung der confession aus dem theologischen System in das juridischen aus, mitsamt der dazu notwendigen Statusumwertung. Die Frage nach der Schuld und Amoralität der Marquise, die Niethammer / Schiller vor allem interessierte, trat hierdurch in den Hintergrund und machte – wie eben formuliert – einer fundamentalen Kritik an Nivelles Verteidigungsstrategie Platz. Pitavals Kritik an Nivelle entzündete sich an dem Umstand, dass das französische Kirchenrecht auch im 17. Jahrhundert eine Beichte als heiliges Sakrament vor dem weltlichen Zugriff schützte. Um die confession der Marquise als Beweismittel vor Gericht zuzulassen, musste zuvor der Beichtstatus aufgehoben bzw. wiederlegt und das Schriftstück von einem sakralen in ein weltliches Dokument umgewidmet werden, wie es das Gericht im Prozess de facto getan hatte. Gegen eben diese Umwidmung hatte Nivelle in seinem Plädoyer vehement Einspruch erhoben, indem er das Gericht an den besonderen Schutz der Sakramente erinnerte, der nicht einmal durch ein Dekret des Souveräns aufgehoben werden könne. Nivelle stellte hierbei die beiden sich hingegen fast nivelliert. Hier stehen sich 18 Seiten Narration und 21 Seiten Argumentation gegenüber. 44  Und dessen Ursachen und Entwicklungen vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart haben nicht nur für den Giftmord, sondern für das Verhältnis von Literatur und Kriminalität insgesamt, die von Jörg Schönert initiierten und herausgegebenen Tagungsbände Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Er­ fahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850–1880 (Tübingen 1983) und Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Straf­ rechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920 (Tübingen 1991) sowie der von Joachim Linder und Claus-Michael Ort herausgegebene Folgeband Verbrechen – Justiz – Medien: Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart (Tübingen 1999) wegweisend erschlossen.



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maßgeblichen Rechtssysteme der frühen Neuzeit einander diametral gegenüber: Auf der einen Seite der ‚Rechtsraum Gottes‘, der geheim war und durch Buße und Vergebung auf die Seele der Sünder zielte, und auf der anderen Seite der ‚Rechtsraum des Souveräns‘, der öffentlich war und sich durch Folter, Geständnis und Strafe des Leibes der Verurteilten bemächtigte.45 Nivelle begründete die Inkommensurabilität von richterlichem und göttlichem Rechtsempfinden – oder, wie es bei ihm heißt, judiziellen und außerjudiziellen Beweisen –, mithin die Differenz von staatlicher und kirchlicher Rechtsauffassung mit einem ‚Rechtsanspruch‘ Gottes auf die Unversehrtheit der Sakramente. Sein Plädoyer gegen die Desakralisierung der confession bildete den Höhepunkt einer mehrstufigen Verteidigung, die mit dem entlastenden Hinweis auf ihre adelige Herkunft einsetzte,46 von hier aus die ‚verderbte Natur‘ von Sainte-Croix zur Sprache brachte,47 dessen unfreiwillige Selbstvergiftung Nivelle als gerechte Strafe Gottes für eine bewiesene Schuld las, um nach weiteren Zwischenargumenten zu den beiden wichtigsten Beweismitteln des Gerichts zu gelangen – den mündlichen Zeugenaussagen und Schriftstücken: „Pour cette accusation on se sert de deux fortes de pretendues preuves; les unes testimoniales, les autres par écrit.“48 Während die Belastbarkeit der Zeugen mit knappen Hinweisen auf deren unlautere Absichten, schlechte Leumunde und zweifelhafte Herkünfte, kurz: auf die fehlende Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen in Abrede gestellt wurde, nahm die Demontage der Beichte den größten Raum in der Verteidigung ein. Ihr allein sind 32 der knapp 78 Druckseiten gewidmet, in denen Nivelle alle Argumente des damaligen Kirchenrechts und der Rechtsprechung mobilisierte, um die ‚Verweltlichung‘ der confession als widerrechtlich auszustellen. Die „Question de la Confession“49 setzte gleichwohl mit dem Zugeständnis ein, dass „il est vray que celle qui est tirée de la bouche d’un criminel, interrogé dans les formes ordinaires de la Justice, peut servir à sa conviction“.50 Die Beweiskraft mündlicher oder schriftlicher Aussagen 45  Vgl. einschlägig Michel Foucault: Surveillir et punir. La naissance de la prison. Paris 1975. 46  Nivelle: Factum Pour Dame Marie Madelaine d’Aubray (Anm. 3), S. 63. 47  Nivelle: Factum Pour Dame Marie Madelaine d’Aubray (Anm. 3), S. 64–68. 48  Nivelle: Factum Pour Dame Marie Madelaine d’Aubray (Anm. 3), S. 74 [„Bei dieser Anklage bedient man sich zweier sehr starker vermeintlicher Beweise; die einen sind Zeugenaussagen, die anderen sind geschrieben.“]. 49  Nivelle: Factum Pour Dame Marie Madelaine d’Aubray (Anm. 3), S. 108–140. 50  Nivelle: Factum Pour Dame Marie Madelaine d’Aubray (Anm. 3), S. 108 [„Es ist wahr, dass das was aus dem Mund eines Kriminellen kommt, der nach den ordentlichen Regeln des Rechts befragt wurde, zu seiner Verurteilung verwendet ­ werden kann.“].

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eines oder einer Beschuldigten gegen sich selbst wurde also nicht per se in Abrede gestellt, entscheidend aber war die zweifelsfreie Gerichtsfähigkeit dieser Aussage, und genau dieses sah Nivelle bei der Beichte der Marquise nicht gegeben: „Mais c’est un proposition inouye & contraire à toutes règles de la Justice, que la Confession extrajudicielle fait volontairement par un homme, puissse servir contre luy comme une preuve légitime pour le faire condamné.“51 Ihr Geständnis sei, so die Argumentation Nivelles, expressis verbis kein weltliches, sondern ein kirchliches, denn schließlich sei der auf dem Umschlag notierte Adressat nicht der Richter oder ein Mensch, sondern Gott bzw. ein Priester. Damit wäre zweifelsfrei bewiesen, dass der Inhalt der Schriftstücks nicht für weltliche Augen bestimmt sei, nicht einmal für die eines weltlichen Gerichts: „Il n’appartient qu’à Dieu seul d’en prendre connoissance.“52 Gayot de Pitaval schien diese als Verteidigung durchaus geschickte Argumentation Nivelles zu teilen, denn obgleich man den Eindruck gewinnt, dass er die Schuld der Marquise nicht bezweifelte, war der Zweck auch seiner Fallaufbereitung nach wie vor ein rhetorisch-persuasiver im Dienste ihrer Entlastung. Entsprechend war die Frage ihrer Schuld für das Fallinteresse Gayot de Pitavals irrelevant, denn ihm ging es um die überaus moderne Frage nach der besten Verteidigung jenseits von Schuld oder Unschuld. Genau hierin lag das didaktische Potential, das er im Fall der Marquise sah, insofern Nivelle in seinen Augen in einer an sich überzeugenden Verteidigungsstrategie einen eklatanten Fehler begangen hatte: Anstatt auf das Argument des besonderen Schutzes der Beichte zu vertrauen, hatte dieser zu Ende des Plädoyers die argumentative Strategie gewechselt und der Marquise zum Zeitpunkt der Abfassung des Schriftstücks Besinnungslosigkeit attestiert. Die taktischen Gründe Nivelles sind nicht schwierig zu eruieren: Er zielte auf eine doppelte Desavouierung des wichtigsten Beweismittels vor Gerichts, indem er die Beichte nicht nur aus sakramentalen Gründen für wirkungslos erklärte, sondern auch aus affektiven. Sie sei, so seine Argumentation, in zweifacher Hinsicht vor Gericht unbrauchbar, denn zum einen dürfe das Gericht ihren Inhalt gar nicht kennen, aber wenn dieser schon (widerrechtlich) bekannt sei, dann dürfe er nicht für gültig genommen wer51  Nivelle: Factum Pour Dame Marie Madelaine d’Aubray (Anm.  3), S. 108 [„[…] aber es ist ein unerhörter und gegen alle Regeln des Rechts verstoßender Vorschlag, wenn die freiwillig von einem Menschen abgelegte, ausserjudizielle Beichte wie ein legitimes Beweismittel gegen ihn zu seiner Verurteilung verwandt werden kann.“]. 52  Nivelle: Factum Pour Dame Marie Madelaine d’Aubray (Anm.  3), S. 111 [„[…] es steht einzig Gott zu, seinen Inhalt zu erfahren.“]. Nivelle führt zur Bestärkung dieser Position nicht nur die Kirchenväter, sondern Rechtseinschätzungen von Navarre, Dominicus Soto, Kardinal du Perron und dem Erzbischof von Portugal an.



Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers181

den, da seine Verfasserin sich zum Zeitpunkt der Niederschrift „dans uns fièvre ardente“ befand, das ihr „rêveries“ verursachte und sie Dinge sagen ließ, „que l’on n’a pas faites“.53 Gayot de Pitavals Kritik richtete sich gegen eben diese Inkonsequenz, die einen unnötigen und kontraproduktiven Widerspruch zwischen Sakrament und Wahn erzeugte und damit die Persuasion der Verteidigung unterlief. Denn ein Bekenntnis, das im Wahn verfasst worden sei, so der Einwand Gayot de Pitavals, könne niemals den Status eines heiligen Sakraments zugesprochen bekommen: Toutes ces raisons convaincantes mertoient [méritoient] la confession de la dame Brinvilliers à l’abri de l’examen des Juges. Mais Mre. Nivelle pourtant comme s’il se fût défié de la force de sa preuve, fait remarquer que la confession de la Marquis est l’ouvrage d’un esprit troublé, & qui étoit dans une espèce de délire. Il ne prend pas garde qu’en voulant par-là persuader que l’Accusée a pû [pu] dans son trouble s’accuser de crimes qu’elle n’avoir point commis; il donne lieu de juger que cette confession étant le fruit du délire n’a pas le caractère d’une véritable confession soumise au sceau du secret; il ne devoit point affoiblir [affaiblir] sa preuve.54

In seiner Einschätzung hatte Nivelle dem Gericht mit dem Hinweis auf die natura animi eines sich im Delirium befindlichen Geistes just jenes Argument in die Hände gespielt, mit dem die kirchliche confession als ordinäres Geständnis gelesen und zur Anklage gegen die Marquise verwendet werden konnte.

53  Nivelle: Factum Pour Dame Marie Madelaine d’Aubray (Anm. 3), S. 131 f. Der ganze Absatz heißt in Übersetzung: [„Es gibt noch einen anderen überzeugenden Grund, weswegen man dieser Beichte mit allen möglichen Skrupeln begegnen sollte, und dieser Grund liegt in dem Zustand, in dem sich die Person befand als sie dies schrieb. Die Dame Brinvilliers hatte nicht alle Tassen im Schrank [n’avoit pas l’esprit alors dans une assiette legitime]; sie war von einem hitzigen Fieber befallen, dass ihr jene Art von Wahnvorstellungen und extravaganten Zuständen beschwerte, in denen man ebenso oft Dinge sagt, die man nicht gemacht hat, wie solche, die man gemacht hat […].“]. 54  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 280 [„Alle diese überzeugenden Gründe hätten die Beichte der Madame Brinvilliers vor einer Untersuchung durch das Gericht geschützt. Aber Monsieur Nivelle, der der Kraft seiner [eigenen] Beweisführung misstraute, wies daraufhin, dass die Beichte der Marquise das Werk eines gestörten Geistes sei und dass sie sich in einem Zustand des Deliriums befunden hätte. Er achtete im Eifer, das Gericht zu überzeugen, dass die Angeklagte in ihrer Unzurechnungsfähigkeit die ihr zur Last gelegten Morde nicht habe begehen können, nicht darauf, dass er dem Gericht dadurch die Möglichkeit gab, die Beichte als die Furcht eines Wahns zu werten, die niemals den Charakter einer wahren, unter dem Siegel der Verschwiegenheit abgelegten Beichte besäße; er hätte seine Beweisführung nicht so schwächen dürfen […].“].

182

Hania Siebenpfeiffer

III. maleficium / venificium: Die Verbindung von Gift und genus Wie gezeigt wurde, stand die argumentative Inkonsequenz der Nivelleschen Verteidigung im Zentrum der Pitavalschen Fallaufbereitung. Sie ist das zentrale, aber, wie ein Blick in die mit knapp elf Seiten vergleichsweise umfangreiche peroratio zeigt, nicht das einzige juridische Fachproblem, das Gayot de Pitaval am Fall der Marquise erörterte. Denn die nach der eigentlichen causa formulierte juristische Würdigung wandte sich nach der kurzen Erwähnung eines Parallelverfahrens gegen den Pariser Apotheker und Alchemisten Glaser schließlich doch jener Codierung zu, die die moderne Rezeption des Falls beherrscht – die vorgebliche Weiblichkeit des Giftmords. Die moderne Diskursivierung weiblicher Delinquenz hatte Genus und Gift in der ‚Geschlechtsnatur‘ der Täterin zusammengeschlossen und so die ‚natürliche‘ Prädestination ‚des Weibes‘ zur Giftmischerei begründet, die bis zu Festschreibungen über die angebliche ‚Wesensgleichheit‘ von Gift und wahlweise weiblicher Psyche, weiblicher ‚Sexualnatur‘ oder dem so genannten weiblichen ‚Geschlechtscharakter‘ reichte.55 Auch Gayot de Pitaval wandte sich dem Konnex von Weiblichkeit und Gift zu, allerdings in einer anderen Perspektive, insofern bei ihm nicht die Frage einer ‚natürlichen‘ Prädestination ‚des Weiblichen‘ zum Gift im Vordergrund stand, sondern – wie zuvor schon bei der Beichte – die Auslotung von kirchlichen und staatlichen Rechtszuständigkeiten. Gayot de Pitaval diskutierte das Körpergeschlecht der Marquise als (vermeintlichen) Komplementärbegriff zur Giftmischerei an zwei Stellen: Ein erstes Mal direkt am Beginn, als er auf die auffällige Inkongruenz ihres gewinnenden Äußeren mit ihrem lasterhaften Inneren einging: „Le tour de son visage, qui étoit rond, étoit très gracieux, & ses traits étoient regulièrs. Ce bel extérieure voiloit une ame extrêmement noire.“56 Auch wenn die hinter einer Maske der Liebenswürdigkeit verborgene ‚Unnatur‘ der Giftmischerin in der modernen Diskursivierung des Giftmords topisch werden sollte, setzte Pitaval sie in erster Linie dazu ein, um erneut ihre Seelenverwandtschaft mit SainteCroix zu unterstreichen, der in exakt der gleichen Weise charakterisiert wird: 55  Um nur ein Beispiel zu nennen: Beide, das Gift wie ‚die‘ Frau, seien heimtückisch, verschlagen, feige und schwach. Um 1900 tritt hierzu noch die Analogie von Gift und Muttermilch hinzu, die den Konnex Gift = weibliche Sexualnatur weiter verstärkte. Vgl. hierzu Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen (Anm. 22), S. 75–99 sowie Hania Siebenpfeiffer: Böse Lust. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik. Köln 2005, S. 95–102. 56  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse, S. 251 f. [„Die Form ihres Gesichts, das rund war, war sehr graziös und hatte ausgesprochen regelmäßige Gesichtszüge. Diese schöne Äußere verschleierte eine äußerst schwarze Seele.“].



Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers183 C’étoit une des ces ames qui sont nées avec les semences les plus grandes crimes, & qui etant douées d’un génie artificieux, ont l’art de couvrir leur mauvais caractère sous des dehors imposans.57

Ein weiteres Mal werden Gift und Geschlecht zu Ende der Falldarstellung zusammengeführt, wenn die angebliche Prädestination der Frau zum Giftmord in einer Form angesprochen wird, die, löste man die Passage aus ihrem Kontext, aus einem Lehrbuch über die Psychopathologie des Giftmords von 1900 stammen könnte: L’empoisonnement est plutôt le crime des femmes que des hommes, parce que n’ayant pas le courage de se venger ouvertement, & par la voye des armes, elles embrassent ce parti qui favorise leur timidité, & qui cache leur malice.58

Der Kontext, in dem diese Festschreibung steht, ist jedoch ein anderer, denn Gayot de Pitaval verschiebt den Fokus der Gifttypologie auf den folgenden Seiten anhand zahlreicher historischer Beispiele sukzessive vom genus im Sinne des Körpergeschlechts hin zum genus im Sinne der fami­ liären Abstammung mit dem Effekt, dass die vermeintlich typisch weibliche Affinität zum Gift verschwindet und durch eine adelige ersetzt wird.59 Im Ergebnis steht der Giftmord am Ende der Ausführungen Gayot de Pitavals als eine Deliktform dar, die wenig über die geschlechtliche ‚Natur‘ eines Täters oder einer Täterin, aber viel über seinen oder ihren sozialen Stand aussagt, denn [l]a Justice ne peut donner une trop grande attention pour extirper les Empoisonneurs, parce que le poison est particulierement le vrai fleau des Princes, car c’est le seul genre de mort dont il leur est bien difficile de se garder.60

Anstelle des Geschlechts (im Sinne des sexus) ist der wahre erste Komplementärbegriff zum Gift bei Gayot de Pitaval der (unbotmäßige) Affekt, 57  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 251 [Sainte-Croix „war eine jener Seelen, die mit dem Samen der größten Verbrechen geboren wurden, und die, mit einem arglistigen Genie ausgestattet, die Gabe haben, ihren schlechten Charakter hinter einem stattlichen Äußeren zu verbergen.“]. 58  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 285 f. [„Der Giftmord ist stärker ein Verbrechen der Frauen als der Männer, denn, weil sie keinen Mut haben sich offen und mithilfe von Waffen zu rächen, nehmen sie dasjenige an, dass ihrer Zaghaftigkeit entgegen kommt und das ihre Niedertracht verbirgt.“] 59  Dies gilt im Übrigen auch für die Vertextungen ihres Falls durch das Gericht 1676 in der Anklageschrift, der Verteidigung und dem Urteil, in denen vom genus im Sinne der Körpergeschlecht keine, vom genus im Sinne der familiären Herkunft hingegen viel die Rede. 60  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 287. [„Die Justiz kann nicht genügend Aufmerksamkeit auf die Ausrottung der Giftmörder verwenden, denn insbesondere das Gift ist die wahre Plage der Prinzen, denn es ist die einzige Form des Tötens, gegen die es sehr schwierig ist, sich zu schützen.“].

184

Hania Siebenpfeiffer

insofern die Marquise in allen Passagen, die ihre natura animi betreffen, über ihre Affekte – der Liebeswahn zu Sainte-Croix, die Rache für dessen Inhaftierung durch ihren Vater und die Habgier, um ihm finanziell zu Diensten zu sein – charakterisiert wurde. Und es waren ebenfalls ihre Affekte, die sie zuerst in die Arme Sainte-Croixs und dann in das Verbrechen trieben: [B]ien-tôt il [Sainte-Croix; HS] devint l’ami particulier de la Dame, & ensuite un amant très passionné, qui inspira les mêmes sentimens qu’il avoit pris. […] Elle ne garde aucune mesure dans sa passion.61

Die Unterwerfung unter die frühneuzeitliche Topik der Affekte hat den narrativen Effekt, dass sowohl Sainte-Croix als auch die Marquise ohne jede individuelle Tiefenschärfe erzählt werden. Zwar ist von ihren „ame êxtremement noire“62 und ihrer „méchanceté“63 die Rede, eine Psychologisierung im Sinne einer kriminalätiologischen Exploration der Seelenverfassung als Movens der Taten sucht man jedoch bis zum Schluss der Falldarstellung vergebens. Die Abwesenheit von Psychologie und individueller Biografik hat Michael Niehaus, wie bereits zitiert, dazu veranlasst, der Pitavalschen Marquise ihre Literarizität abzusprechen.64 Dem wäre zuzustimmen, sofern man literarische Figuren primär als psychologische oder an­ thropologische Folien verstünde.65 Die Literarizität einer Figur kann jedoch auch als Effekt einer strukturalen Koppelung von Elemente eines sprachlich gestifteten Sinnzusammenhangs gedacht werden, die je nach Art der Koppelung mehr oder weniger psychologisiert, mehr oder weniger typologisiert ist. Denn gerade die literarische Typologie der frühneuzeitlichen Giftmischerin zeigt, dass eine Typologisierung z. B. gemäß der Ordnung der Affekte Literarizität nicht zwangsläufig ausschließen muss. Der zweite Komplementärbegriff zum Gift, der insbesondere in der per­ oratio zum Tragen kommt, ist der Schadenszauber.66 Gayot de Pitavals 61  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 251. [„[…] bald schon wurde er [Sainte-Croix; HS] der Freund der Marquise und sodann ein sehr feuriger Liebhaber, der sie zu denselben Empfindungen inspirierte, die auch ihn beherrschten. […] Sie hielt kein Maß in ihrer Leidenschaft.“]. 62  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 252. 63  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 252. 64  Vgl. Anm. 40. 65  Dies würde – nebenbei bemerkt – die gesamte Literatur der Frühen Neuzeit aus dem Bereich der Literatur ausschließen, denn wo kein Wissen um eine Psyche als einzigartig-individueller Effekt des Zusammenwirkens körperlicher, familiärer, gesellschaftlicher und kultureller Faktoren existiert, kann keine Psychologisierung erfolgen, auch nicht im Modus der Literatur. Literarische Figuren in diesem engen Sinn definiert, gäbe es dann tatsächlich erst mit der Formierung des psychologischen Diskurses aus der Erfahrungsseelenkunde der Aufklärung, also um1800. 66  Das Edikt wird bei Niethammer / Schiller hingegen nicht mehr einmal mehr erwähnt.

Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers185



abschließende Fallbeurteilung mündete in den Kontrast von venificium und maleficium, den er über ein Edikt Ludwigs XIV. aus dem Jahr 1682 absicherte, das die Tatbestandsmerkmale und Strafbarkeit von Giftmord, Zauberei „et autres crimes“ neu geregelt hatte.67 Das Edit du Roi du mois de Juillet 1682, pour la punition des maléfices, empoisonnemens & autres crimes ist bereits für sich bemerkenswert; noch bemerkenswerter ist hingegen der Umstand, dass Gayot de Pitaval seine Ausführungen über die Marquise mit einer vollständigen Wiedergabe des Edikts beendete. Nach Harald Neumeyer restituiert dieses Zitat die durch den Rechtsbruch verletzte Integrität des Souveräns, dessen Macht sich in der Hinrichtung der oder des Verurteilten bezeugt, in einer Form, die Neumeyer als „textuelle Umsetzung dieses Strafsystems [des Souveräns]“68 bezeichnet und die die Figur des Täters oder der Täterin selber ausstreicht. Obgleich die abschließende Überblendung des ‚Falls‘ der Marquise mit den machtvollen Schriftzeichen Ludwigs XIV. erst durch Gayot de Pitaval hergestellt wurde, denn das Edikt war nicht anlässlich ihres ‚Falls‘, sondern im Kontext des drei Jahre später verhandelten Giftmordskandals um Catherine Monvoisin erlassen worden, passt es durchaus zu der Perspektive einer an der Täterin tendenziell desinteressierten, weil auf die formalen Regeln einer absolutistischen Rechtsprechung ausgerichteten Fallkonstruktion. Gleichwohl liegt der nähere Bezug zum Fall der Marquise nicht in der Rechtspraxis der ritualisierten Leibstrafe, sondern in der Delikttypologie, genauer gesagt, in der Beziehung von Giftmischerei und Zauberei. Diese regelte das Edikt auf erstaunliche Weise neu, indem es die interne Gewichtung der beiden verwandten, aber rechtlich getrennten Tatbestände umkehrte.69 Das im frühneuzeitlichen Rechtsverständnis dem maleficium nach wie vor verschwisterte veneficium verband den weltlichen Bereich des Giftes mit dem religiösen der Zauberei. Delikttypologisch verwandt waren venificium und maleficium über ihr arkanes Wissen von potentiell teuflischer Provenienz, über ihre Beziehung zu den hohen Affekten sowie über ihre besondere 67  Gayot

297.

de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 288–

68  Neumeyer:

‚Schwarze Seelen‘ (Anm. 22), S. 115. galt lange Zeit auch für das deutsche Recht, wie in den Bestimmungen der Peinlichen Halsgerichtsordnung sichtbar wird, die Giftmischerei und Zauberei in zwei unmittelbar aufeinander folgenden Paragraphen definierte und hierbei über deiktische Konjunktionen die Verwandtschaft der Delikte aufrecht erhielt. So heißt es § 52 CCC: „Item bekent jemandt zauberey, man soll auch nach den vrsachen vnnd vmbstenden, (als obsteht; d. i. § 51 CCC der den Giftmord regelt) fragen, vnd des mer, wo mit, wie vnd wann, die zauberey beschehen. […] So dann die gefragt person anzeygt, dass sie etwas eingegraben, oder bereitet hett daß zu solcher zauberey dienstlich seyn solt, Mann soll darnach suchen ob man solchs finden kunnt […].“ 69  Dies

186

Hania Siebenpfeiffer

Amoralität, die sich neben der Dämonomanie in der heimlichen Wirkung einer unsichtbaren ‚Macht‘ manifestierte, mit der ein gleichfalls unsichtbarer Täter oder eine Täterin den Tod über ihr Opfer verhängte.70 Weil die Giftmischerei in rechtlicher Hinsicht bis in das späte 17. Jahrhundert auf der Nahtstelle von kirchlicher und staatlicher Rechtsordnung stand, musste sie, wie zuvor die Beichte, zunächst vom Verdacht des maleficium befreit werden, bevor sie vollständig der Macht des weltlichen Souveräns unterstellt werden konnte. Genau dies tut Gayot de Pitaval, wenn er das Edikt am Schluss seiner Fallaufbereitung in voller Länge zitiert und so innerhalb seiner Fallkonstruktion die Delikttypologie des venificium aus dem Zugriff der Dämonomanielehre herauslöst, um sie der staatlichen Rechtsgewalt zu überantworten. Er wiederholt damit eben jene rechtliche Intention, die dem Édit pour la punition des maléfices, empoisonnemens & autres crimes selbst zugrundelag, nämlich einen möglichst umfassenden Zugriff auf alle Formen des Rechtsbruchs sicherzustellen, was auch hieß, vormals inquisitionsrechtliche Tatbestände zu verweltlichen. Dass Pitaval das Dekret an das Ende seiner Fallaufbereitung stellt, entspringt seiner juridischen Erzähllogik und macht zweierlei deutlich: Zum einen wird im Fortgang der Falldarstellung zugleich die fortschreitende Ermächtigung eines souveränen Rechtsverständnisses sichtbar, das auf theologische Argumentationsformen zunehmend verzichtete; zum anderen aber bleibt – und dies ist wichtig – die zum Zwecke der Strafverschärfung erzeugte Koppelung von Rechtsbruch und Glaubensbruch, von Delinquenz und Gottlosigkeit bestehen.71 Pitaval begibt sich damit allerdings in die Gefahr der Aporie, die spezifische Amoralität von Brinvilliers‘ Taten anders als über deren besonders verderblichen dämonischen Ursprung begründen zu müssen, der er nur durch den argumentativen Zirkelschluss entgehen kann, die besondere Verwerflichkeit des Giftmords erneut mit der besonderen Verwerflichkeit der Affekte zu begründen. Sowohl die Marquise als auch Sainte-Croix werden von Gayot de Pitaval durchweg in eine herkunftskonforme Affekttypologie eingeschrieben, die ihnen die genannten ‚hohen‘ und in ihrer Intensität unbotmäßigen Affekte des Hasses, der Rache, der Habgier und des Liebeswahns, zuschreibt, die sie erst zum Giftmord motivieren: La vengeance & la cupidité les amimant tous deux, il lui fit étouffer tous les sentimens de la nature, pour la déterminer à empoisonner son pere & toute sa famille. Pour être capable de ces crimes horribles, il faut avoir l’ame d’une 70  Die lebensweltliche Erfahrung, dass Schadenszauber unter Zuhilfenahme geheimer chemischer Substanzen effektiver funktioniert als ohne, wird die Verwandtschaft vermutlich zusätzlich bekräftigt haben. 71  Wie eng diese in den 1680er Jahren noch war, wird z. B. an den Flugschriften sichtbar, die über Catherine Montvoisin zirkulierten und die sie in einem emblematisch von Dämonen und Teufeln gerahmten Spiegel zeigen (s. Abb. 3).



Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers187

Abb. 3: Portraits von Catherine Montvoisin, genannt La Voisin (vermutlich Paris nach 1680); aus: Anne Somerset: The Affair of the Poisons. Murder, Infanticide and Satanism at the Court of Louis XIV. London 2003. trempe différente de celle des autres hommes. Ce deux caractères rares par leur méchanceté sembloient etre faits l’un pour l’autre, & pour la ruïne des hommes.72

Diese wiederkehrende Insistenz auf ihre affektiven Dispositionen zu Anfang und zu Ende der Fallkonstruktion lässt erkennen, dass die ab 1800 diskursdominante Ätiologie des Giftmords aus dem Geschlecht der Täterin ein Resultat spezifischer Diskursverschiebungen an der Schwelle zur Moderne ist, mit der das Körpergeschlecht an die Stelle der Affekte trat, der innere Seelenraum den Ort der äußeren Standeszugehörigkeit übernahm und nunmehr Natur den Konnex von Moral und Recht begründete. Der frühneuzeitliche ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers hingegen hat gezeigt, dass im Übergang zum 18. Jahrhundert vor der ‚Weiblichkeit des Giftmords‘ noch die Amoral des unbotmäßigen Affekts stand. 72  Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse (Anm. 11), S. 252 [„Habsucht und Rache beseelte beide und erstickte in ihnen alle Empfindungen der Natur, um sie den Entschluss fassen zu lassen, ihren Vater und ihre ganze Familie zu vergiften. Um zu solch schrecklichen Verbrechen fähig zu sein, muss man eine Seele besitzen, die aus einem anderen Stoff gemacht ist, als die der übrigen Menschen. Diese beiden in ihrer Boshaftigkeit seltenen Charakteren schienen wie füreinander und zum Untergang der Menschheit geschaffen worden zu sein.“].

188

Hania Siebenpfeiffer

Tabelle I François Gayot de Pitaval: Histoire d’une celebre empoisonneuse, Marquise de Brinvilliers. In: Ders.: Causes célèbres et interessantes, avec les jugements qui les ont décidées. Bd. I. La Haye 1735, S. 250–289. Proömium (exordium)

Rechtsproblem: Beichte als Beweismittel

S. 250

1A) Narratio1

Die Morde

S. 250

i) Quis?

ii) Cur?

Täter / Täterin a) loci a persona: Marquise

Genus (soziale Stellung), S. 250 conditio (Vermögen)

b) loci a persona: Sainte-Croix

Genus (soziale Stellung), S. 251 conditio (Vermögen), habitus corporis (körperliche Eigen­ schaften), natura animi (charakterliche Eigen­schaften), ante acte quid (Vorgeschichte)

a’) loci a persona: Marquise

habitus corporis (körper- S. 252 liche Eigen­schaften), natura animi (charakterliche Eigenschaften), ante acte quid (Vorgeschichte)

Motive loci a re: Marquise + St. Croix

iii) Quid?

Tathergang Quando? Ubi? Quemadmodum?

2B) Argumentatio1

causa (Motive), facultate S. 252– (Befähigung), circum­ 254 stantia (Gelegenheit)

Der Tod von St. Croix

S. 254– 257 S.°257

i) Indizien

Inventar der Schatulle

(Verdachtsmomente)

a) Testament von St. Croix

S. 258

b) Gifte

S. 258– 260

c) Briefe der Marquise

S. 260– 261

d) Die Schuld­ verschreibungen

S. 261

Proömium (exordium)

Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers189 Rechtsproblem: Beichte als Beweismittel

S. 250

ii) erster Prozess

a) Verhaftung und Anklage gegen La Chaussee

S. 261

b) Folter von La Chaussee

S. 261– 262

c) Geständnis La Chaussee und Belastung der Marquise

S. 262

a) Erstes Urteil gegen La Chaussee

S. 262– 263

b) Erstes Urteil gegen die Marquise (in Abwesenheit)

S. 263

c) Hinrichtung von La Chaussee

S. 264

iii) erstes Urteil

1B) Narratio2

Die Verhaftung der Marquise und Fund der ‚confessions‘ (Beichte)

2B) Argumentatio2

Die Überführung der Marquise i) Das Plädoyer:

S. 264– 267

a) Zulässigkeit der Beichte als Beweismittel vor Gericht

S. 267– 271

[- loci a persona: genus] S. 267– 269 [- Unzuverlässigkeit der Zeugen]

S. 269

[- loci a persona: natura animi (Liebeswahn)]

S. 269– 300

[- Inhalt der Schatulle]

S. 270– 271

a’) Verneinung der Zulässigkeit

ii) Stel­lungnahme des Erzählers

a) loci a persona: natura animi (Habgier)

S. 271– 281 [- Schutz der Beichte als Sakrament]

S. 271– 280

[- loci a persona: natura animi (‚fureur‘)]

S. 280 S. 281

(Fortsetzung nächste Seite)

190

Hania Siebenpfeiffer

(Fortsetzung Tabelle I) Proömium (exordium)

3) Peroratio

Rechtsproblem: Beichte als Beweismittel

S. 250

iii) Zweites Urteil

a) Das Urteil

S. 281– 284

b) Geständnis der Marquise

S. 284

c) Die Hinrichtung

S. 284– 285

Juristische Würdigung (nach der ‚eigentlichen‘ Causa) i) Schicksal des Marquis

S. 285

ii) Prozess gegen den Apotheker Glaser

S. 285

iii) Weiblichkeit des Giftmords

S. 285

iv) historische Giftmordfälle (Erbschaftspulver)

S. 285– 288

iv) Dekret des Königs von 1682

S. 288– 296

v) Der Fall ‚La Voisine‘

S. 296



Der ‚Fall‘ der Marquise de Brinvilliers191

Tabelle II Friedrich Immanuel Niethammer / Friedrich Schiller: Geschichte des Prozesses der Marquise de Brinvilliers. François Gayot de Pitaval: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Hrsg. v. Friedrich Schiller. In: Oliver Tekolf: Schillers Pitaval. Frankfurt / M. 2005, S. 153–207. Proömium

[-fehlt]

1A) Narratio1

Die Morde Quis?

Cur?

Täter / Täterin a) loci a persona: Marquise

Genus (soziale Stellung), S. 153 conditio (Vermögen), habitus corporis (körperliche Eigenschaften), natura animi (charakterliche Eigenschaften), ante acte quid (Vor­ geschichte)

b) loci a persona: Sainte-Croix

Genus (soziale Stellung), S. 154 conditio (Vermögen), habitus corporis …

Motive loci a re: Marquise

iii) Quid?

causa (Motive), facultate S. 154– (Befähigung), circum­ 156 stantia (Gelegenheit)

Tathergang Quando? Ubi? Quemadmodum?

2A) Argumentatio1

S. 153– 155

S. 156– 165

Die Überführung La Chaussées i) Indizien

a) Inventar der Schatulle

S. 165– 166.

(Verdachtsmomente)

b) Ärztliches Gutachten

S. 167– 168

c) Brief aus der Schatulle

S. 168– 169

d1–2) Zeugen­ aussagen

S. 169– 170

e) Intervention des Sachwalters

S. 170

f) Intervention von La Chaussée

S. 170– 171 (Fortsetzung nächste Seite)

192

Hania Siebenpfeiffer

(Fortsetzung Tabelle II) Proömium

[-fehlt] ii) Prozess

a1–5) Zeugen­ aussagen

S. 170– 173

iii) Urteil

a) Erstes Urteil gegen La Chaussée

S. 173

b) Einspruch

S. 173

c) Zweites Urteil, Folter und Geständnis

S. 173– 174

1B) Narratio2

Die Verhaftung der Marquise

2B) Argumentatio2

Die Überführung der Marquise i) Das Plädoyer:

a) loci a persona: genus + conditio

S. 179– 180

b) Die Schatulle

S. 180

c) loci a persona: natura animi

S. 181– 183

d) Unzuverlässigkeit der Zeugen

S. 183– 185

e) loci a persona: sexus

S. 185

f) Die Beichte

S. 186– 197

ii) Das Verhör der Marquise

S. 198– 200 – Stellungnahme Pitavals –

3) Peroratio

S. 174– 179

S. 200

iii) Das Urteil

S. 201– 202

Nachspiel (nach der „Causa“)

S. 202– 207

i) Das Bild – Le Brun

S. 202

ii) Die Briefe – Mme de Sévigné

S. 203– 205

iii) Schicksal der anderen Beteiligten

S. 205– 207

Relationes Curiosae oder Merkwürdige Seltsamkeiten. Frühe Kriminalgeschichten aus Hamburg Von Holger Dainat I. Mit dem Projekt einer Sozialgeschichte der Literatur hat sich die Vorstellung eines Scheiterns mittlerweile derart eng verbunden, dass man das eine kaum ohne das andere denken kann.1 Als Zeugnis für dieses Versagen dienen die mit großen Erwartungen gestarteten Literaturgeschichten der Verlage Hanser und Rowohlt, die ihr Versprechen, die deutsche Literatur als einen gesellschaftlich bedingten Zusammenhang darzustellen, nicht einlösen konnten. Die Bände zerfielen in eine Reihe von Einzelaufsätzen, die kaum ein gemeinsames Konzept erkennen ließen. Ein solches Versagen konnte eigentlich nicht überraschen, denn es war im Grunde seit dem späten 19. Jahrhundert absehbar, als das Projekt der deutschen Nationalliteraturgeschichte scheiterte.2 Auch unter anderem Vorzeichen – mit dem Austausch von Nation durch Gesellschaft – konnte ein solches Vorhaben nicht gelingen. So hat denn die Betonung des Scheiterns vor allem die Funktion, das ‚Neue‘ und ‚Innovative‘ der Forschungsprogramme ‚nach der Sozialgeschichte‘ zu betonen und davon abzulenken, dass sie für die bekannten Probleme selbst keine Lösung anzubieten haben.3 Der Verabschiedungsgestus verdeckt indessen jene tiefgreifenden Veränderungen, die mit dem ‚Paradigma‘ der Sozialgeschichte einhergingen und die sich seitdem fest etabliert haben. Dazu zählt erstens eine Forschung, 1  Vgl. Gerhard Sauder: Sozialgeschichte der Literatur: ein gescheitertes Experiment? In: Kulturpoetik 10 (2010), H. 2, S. 250–263; Jörg Schönert: Vom gegenwärtigen Elend einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur [zuerst 1985]. In: Jörg Schönert: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis. Tübingen 2007, S. 5–22; Jürgen Fohrmann: Das Versprechen der Sozialgeschichte. In: Martin Huber / Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 105–112. 2  Vgl. dazu Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989. 3  Sauder: Sozialgeschichte der Literatur (Anm. 1), S. 262 f.

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die sich mehr und mehr projektförmig organisiert und ihre Beiträge über Tagungen und Sammelbände bündelt; das hat nicht zuletzt auch das Bewusstsein für die Sozialdimension von Wissenschaft geschärft. Zweitens spielen interdisziplinäre und internationale Kontakte eine immer größere Rolle; die Anlehnung an Geschichtswissenschaft und Soziologie machten nur den Anfang. Drittens forcierte der Import von Konzepten eine Theoriediskus­ sion, die den Umschlag von Wissen beschleunigte; seitdem folgte ein ‚turn‘ dem anderen. Viertens begann die Literaturwissenschaft sich selbst über ihre Fachgeschichte in ihrer eigenen sozialhistorischen Bedingtheit zu beobachten. Diese Konstellation begünstigte den Erfolg von Differenzierungs­theorien, weil sie eine hinreichend formale Struktur- und Prozesskategorie bereitstellten, die sich auf mehreren Ebenen – eben differenziert – einsetzen ließ. Die Entstehung einer autonomen bürgerlichen Literatur erschien nun als Ausdifferenzierung eines relativ selbstständigen Sozialsystems, was ganz nebenbei das Gesellschaftsmodell modernisierte.4 Literaturintern konzen­trierte sich das Interesse auf die Ausdifferenzierung einzelner Genres, die sich wegen ihrer Operationalisierbarkeit als Kategorien mittlerer Reichweite anboten, um die Relationen zwischen Literatursystem und seiner sozialen Umwelt zu analysieren. Schließlich ließ sich das Theorem reflexiv wenden, wenn die Aus- oder Binnendifferenzierung des Wissenschaftssystems eine Erklärung lieferte sowohl für das Anregungspotential wie für die Verständigungsschwierigkeiten im interdisziplinären Gespräch und nicht zuletzt für die Pluralität disziplinärer Gegenstands- und Problemkonstruktionen. Wollte man eine Fallstudie über diesen Modernisierungsprozess der deutschen Literaturwissenschaft unter dem Vorzeichen der Sozialgeschichte schreiben, so böten sich dafür die von Jörg Schönert und seinen Mitarbeitern betriebenen Forschungen zur Kriminalliteratur geradezu an. Hier wäre das Hamburger Teilprojekt zu ‚Literatur und Kriminalität‘ der Münchner DFG-Forschergruppe zur ‚Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770– 1900‘ und die Tagungen zu nennen, die Philologen, Juristen, Historiker und Medienwissenschaftler zusammenführten, um die „Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur“ seit dem späten 18. Jahrhundert zu untersuchen.5 Eng verbunden war die4  Differenzierung und Entdifferenzierung bzw. Integration fungieren als „Grundfigur der Modernisierungsvorgänge“, so Jörg Schönert: Zur Kategorie der Modernisierung in kultur- und literaturgeschichtlichen Rekonstruktionen. In: Schönert: Perspektiven (Anm. 1), S. 43–62, S. 47. 5  Jörg Schönert (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England, Frankreich 1850–1880. Tübingen 1983; Jörg Schönert: (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Straf-



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ses Forschungsvorhaben auch mit den Theoriediskussionen der Münchner Forschergruppe.6 ‚Nach der Sozialgeschichte‘ hat die Forschung auf diesem Feld eher auf Entdifferenzierung oder Integration gesetzt. Historische Anthropologie, Wissenspoetologie und Diskursanalyse interessierten sich stärker für jene Aspekte (Mensch, Wissen, Macht), die eine Trennung der Gattungen, Disziplinen und Praxisbereiche überbrücken.7 Dabei beschäftigten sich die meisten ihrer Untersuchungen mit einer weitgehend kanonisierten Literatur aus der Zeit seit dem späten 18. Jahrhundert. Mit der Orientierung am konventionellen Gegenstandsbereich ihrer Disziplin folgten sie der Ausdifferenzierung sowohl der Literatur wie ihrer Wissenschaft. Dagegen waren es eher gattungsgeschichtliche Arbeiten, die das Untersuchungsfeld historisch ausweiteten, indem sie Texte aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert in den Blick nahmen.8 Auch sie bevorzugten einen eher engen Literaturbegriff. rechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991; Joachim Linder / Claus-Michael Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen 1999. 6  Vgl. Renate von Heydebrand / Dieter Pfau / Jörg Schönert (Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Tübingen 1988. 7  Vgl. die Beiträge zum Schwerpunkthema: Recht und Literatur um 1800, hg. von Ulrich Kronauer und Ulrike Zeuch, in der Zeitschrift IASL 31 (2006), H. 1, S. 77–245, H. 2, S. 90–239. 8  Rudolf Schenda: Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Dieter Harmening / Erich Wimmer (Hg.): Volkskulturen – Geschichte – Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag. Würzburg 1990, S. 530–551; Alexander Halisch: Barocke Kriminalgeschichtensammlungen. In: Simpliciana 21 (1999), S. 105–124; Ingo Breuer: „Schauplätze jämmerlicher Mordgeschichte“. Tradition der Novelle und Theatralität der Historie bei Heinrich von Kleist. In: Kleist-Jahrbuch 2001, S. 196– 225; Ingo Breuer: Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts im europäischen Kontext (Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller). In: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart / Weimar 2005, S. 291–312; Ingo Breuer: Barocke Fallgeschichten? Zum Status der Trauer- und Mordgeschichten Georg Philipp Harsdörffers. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 19 (2009), S. 288–300; Alexander Košenina: Recht – gefällig. Frühneuzeitliche Verbrechensdarstellung zwischen Dokumentation und Unterhaltung. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 15 (2005), S. 28–47; Hania Sie­ benpfeiffer: Narratio crimen – Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse Schauplatz jaemmerlicher Mord-Geschichte und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur. In: Hans-Joachim Jakob / Hermann Korte (Hg.): Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Frankfurt a. M. / München 2006, S. 157–176; Rosmarie Zeller: Harsdörffers Mordgeschichten in der Tradition der Histoires tragiques. In: Hans-Joachim Jakob / Hermann Korte (Hg.): HarsdörfferStudien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Frankfurt a. M. / München 2006, S. 177–194.

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An diese Arbeiten schließt sich die folgende Detailstudie an. Sie weitet jedoch den Gegenstandsbereich auf die Publizistik aus, wenn sie sich frühen Hamburger Kriminalgeschichten aus der Zeit um 1700 zuwendet. Das Augenmerk richtet sich dabei auf die Besonderheiten von Texten, die zunächst als Nachrichten oder Flugschriften erschienen sind und die sich nun in einem neuen Kontext präsentieren. Ausgewählt wurden sie wegen ihrer ‚merkwürdigen Seltsamkeit‘. Ihr Irritationspotential soll differenzierungstheoretische Überlegungen stimulieren. Dabei interessiert mich hier vor allem das Verhältnis von Literatur, Publizistik und Unterhaltung im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. II. Um 1700 gehörte Hamburg zu den wichtigsten deutschen Handelsstädten und Nachrichtenzentren mit einer bemerkenswert dichten Presselandschaft.9 Allein sechs bis acht Hamburger und Altonaer Zeitungen konkurrierten um die Gunst des Publikums. Daneben gab es eine ausgesprochen rege Flugschriftenpublizistik.10 Einer der innovativsten und erfolgreichsten Zeitungsverleger war damals der Drucker und Verlagsbuchhändler Thomas von Wiering (1640–1703). Besonders drei Leistungen rechnet der Pressehistoriker Holger Böning ihm zu:11 Erstens zeichnete sich Wierings RelationsCourier (ab 1674; seit 1696: Hamburger Relations-Courier) durch eine große Nachrichtendichte und Aktualität aus. Die hohe Auflage machte den parallelen Druck auf zwei Pressen nötig, was wiederum die Herstellungszeit verkürzte und die Verbreitung der Nachrichten beschleunigte. Zweitens richtete er seine Zeitung stärker auf ein kaufmännisches Publikum aus; mit Wirtschaftsnachrichten und dem Anzeigengeschäft12 erreichte er neue Leserkreise. Drittens war sein Relations-Courier Teil einer publizistischen Strategie; die Zeitung wurde von Flugschriften sowie Zusatzzeitungen oder Beiblättern flankiert. Dazu zählten auch die Relationes Curiosae, die nicht verhehlten, dass sie den Ausfall der zwar „angenehmen / doch jederzeit schädlichen Kriegs-Materien“13 kompensieren sollten, denn nicht zuletzt 9  Vgl. Holger Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum. Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel. Bremen 2002. 10  Daniel Bellingradt: Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches. Stuttgart 2011, S. 131– 258 (zu Hamburg). 11  Böning: Welteroberung (Anm. 9). 12  In Hamburg gab es kein Monopol der Intelligenzblätter für Anzeigen. 13  Eberhard Werner Happel: Gröste Denckwürdigkeiten der Welt Oder so-genannte Relationes Curiosae. Worin dargestellet  /  und Nach dem Probier-Stein der



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die Zeitungen bzw. die Printmedien profitierten schon damals besonders von den militärischen Konflikten. Der Frieden verlangte nach Innovationen. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges erschien für das Jahr 1649 zum ersten Mal im sechsten Band (1663) des Theatrum Europaeum14 die Rubrik: „Von Mordthaten  /  Todtschlägen  /  Duellen  /  Verrätherey  /  Dieberey  /  Rauberey  /  und dergleichen anderen traurigen Fällen: sampt unterschiedlich darauff folgenden Executionen und Abstraffungen“ (TE 6.1022). Als eine der frühen deutschen Zeitschriften erschienen die Relationes Cu­ riosae von 1682 bis 1691 als wöchentliche Beilage des Relations-Couriers. Sie waren sowohl separat wie als eigenständiges Sammelwerk erhältlich, das einen Umfang von ca. 50 Bogen im Jahr hatte. Als ihr Redakteur wirkte Eberhard Werner Happel (1647–1690), der als einer der ersten ‚freien Schriftsteller‘ im deutschen Sprachraum gelten darf. Trotz einer akademischen Ausbildung blieb ihm der ersehnte Sprung in ein Amt verwehrt. Als prekäre Alternative zu einer typischen Gelehrtenkarriere bot der literarische Markt in Hamburg die Möglichkeit einer ‚Nischenexistenz‘, die es ihm gestattete, von den Einkünften seiner Publikationen zu leben. Entsprechend orientierte sich seine Produktion an Textformaten, die den relativ geschlossenen Zirkel einer Literatur von Gelehrten für Gelehrte durchbrachen. Happel schrieb Romane und redigierte Zeitschriften. In gewisser Hinsicht verkörperte er damit bereits im späten 17. Jahrhundert einen Schriftstellertypus, der erst hundert Jahre später eine größere Verbreitung erfuhr. Galt das Interesse der Forschung in den 1970er und 1980er Jahren vor allem dem Romanautor, so hat sich der Fokus in letzter Zeit auf Happels Rolle als Publizist verlagert. Vom Erfolg Happels künden die hohen Auflagenzahlen, die Menge seiner damaligen Nachahmer und die Vielzahl der Exemplare seiner Schriften in den heutigen Bibliotheken. Die Relationes Curiosae gehörten zu einer umfangreichen Kompilationsliteratur, die darauf zielte, „immer mehr Wissen und Neuigkeiten in immer geringeren Zeitabständen“15 auf dem Markt für Vernunfft examiniret werden  / Alle so Physicalische  /  alß Mathematische  /  Historische und andere merckwürdige Setzsamkeiten / Welche an unserm sichtbahren Himmel  /  in und unter der Erden  /  und im Meere jemahlen zu finden oder zu sehen gewesen / und sich begeben haben. Einem jeden curieusen Liebhaber zu gut auffgesetztet  /  in Druck verfertiget und mit vielen Figuren erläutert. 5 Bde. Hamburg 1683–90, Bd. 1, Vorrede, unpag. – Zitatangaben im Folgenden im Text mit der Sigle RC sowie Band- und Seitenzahl. 14  Theatrum Europaeum, Oder / Außführliche und Warhafftige Beschreibung aller und jeder denckwürdiger Geschichten  /  so sich hin und wieder in der Welt  /  für­ nemblich aber in Europa, und Teutschlanden  /  so wol im Religion- als ProphanWesen […] sich zugetragen haben  /  etc. 21 Bde. Frankfurt a. M. 1646–1738 – Zitatangaben im Text mit der Sigle TE und Band- und Seitenzahl. 15  Christian Meierhofer: Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht. Würzburg 2010, S. 281. – Vgl.

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Druckerzeugnisse anzubieten. Man kann bei dieser Zeitschrift durchaus von einem frühen Organ der Popularisierung sprechen, das einem volkssprachlichen Publikum zu einem verhältnismäßig geringen Preis vielfältige Kenntnisse über die Welt zugänglich machte. Im Mittelpunkt standen „Historische / Physicalische / Mathematische / Künstliche und andere Merkwürdige Seltzamkeiten  /  Welche auff dieser Unter-Welt  /  in der Lufft  /  auff der See oder Land jemahlen zu finden gewesen  /  oder sich noch täglich zeigen“, wie das Titelblatt des dritten Bandes ankündigte. Es dominierten naturkundliche und historische Beiträge. Einen großen Raum nahmen auch Berichte über fremde Länder und Kulturen ein. Kriminalgeschichten dagegen spielten nur eine untergeordnete Rolle.16 Mir geht es hier jedoch nicht um die quantitative Relevanz, sondern um die Spezifik dieser frühen Hamburger Kriminalgeschichten. Bei den in den Relationes Curiosae abgedruckten Kriminalgeschichten handelt es sich in der Mehrzahl um Berichte über authentische Fälle, nicht um Fiktionen,17 soweit sie sich zu erkennen geben. Im Unterschied zu Zeitungsmeldungen und Flugschriften beanspruchen die Erzählungen in dieser Zeitschrift jedoch keinerlei Aktualität. Im Gegenteil, die Ereignisse, über die hier berichtet wird, liegen meist schon einige Jahrzehnte zurück. Happel verzichtet auf die Verwertung gerade eingetroffener Nachrichten. Daher weisen seine Kriminalgeschichten Neuheit allenfalls im Hinblick auf den Kenntnisstand einer Leserschaft auf als noch – oder: schon wieder – unbekannte Erzählungen von Kriminalfällen. Schauen wir uns ein Beispiel aus dem fünften Band der Relationes Curiosae18 an: Die abscheuliche That. Zu Prag hat sich Anno 1649 in Martio nachfolgende abscheuliche That begeben: Ein Haußarmes Weib in der Neustadt daselbst (so 2 Knaben  /  einen von 11 und den andern von 9 Jahren gehabt) gehet in den Weinberg an ihre Hand-Arbeit / wie sie aber wieder nach Hause kombt  /  befindet sie  /  daß ihr das wenige Geld  /  so sie zu ihrem hochnöthigen Unterhalt auffgehoben  /  gestohlen war  /  worüber sie  /  weil sie sich und ihre Kinder hinführo nicht zu ernähren getrauet  /  in eine Uta Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit. Eberhard Werner Happels Relationes Curiosae im Medienverbund des 17. Jahrhunderts. Bremen 2008; Flemming Schock: Die Text-Kunstkammer. Populäre Wissenssammlungen des Barock am Beispiel der Relationes Curiosae von E. W. Happel. Köln u. a. 2011. 16  Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus (Anm. 15), S. 40. 17  Zur Unterscheidung von „Historia“ und „Fabula“ vgl. Breuer: ‚Schauplätze jämmerlicher Mordgeschichte‘, S. 207 ff. 18  Da Happel im Jahr 1690 starb, ist nicht sicher, wer die Redaktion des fünften Bandes der Relationes Curiosae verantwortete. Im Folgenden ist daher der Name Happel, wenn von diesem Band die Rede ist, als Bezeichnung für eine Textinstanz zu verstehen.

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solche Verzweiffelung gefallen  /  daß sie sich entschlossen  /  so wohl sich  /  als ihre beyde Söhne umbzubringen. Drauff hat sie auch dem jüngern Knaben 3 Stich mit einem Messer gegeben / daß er stracks todt blieben: Der ältere aber / der sich ihrer etwas geäusert  /  doch gleichwohl etliche Stiche bekommen  /  hat ein Geschrey gemacht  /  daß die Benachbarten herzu gelauffen  /  da sich dann das Weib inzwischen mit einem Strick auff den Boden verkrochen / umb sich zu erhencken. Es sind ihr aber  /  auff Angeben des noch lebenden Knaben  /  die Leute auff den Halß kommen  /  daß sie solche That nicht verüben mögte  /  gleichwohl hat sie ihr die Gurgel mit einem Messer abschneiden wollen  /  aber nicht vollbracht  /  ohnerachtet sie am Halse eine tödtliche Wunde empfangen. Man hat sie also ins Gefängnis gebracht und examinirt, da sie sich mit vorbesagter Ursach entschuldiget  /  und außdrücklich dazu bekannt /  der leibhaftige Teuffel habe ihr das Messer in die Hand gegeben. Kurtz hernach ist sie in ihrem Gefängniß an der empfangenen tödtlichen Blessur gestorben. Theatr. Europ. Tom Sext. pag. 1023 [recte: 1022]. (RC 5.61)

Es fällt auf, dass der Text sich auf die Darlegung der Ereignisse, auf die Tatsachen konzentriert und sich bei der Bewertung oder Deutung des Verbrechens merklich zurückhält. Sicher, es wird nicht bezweifelt, dass es sich um ein ‚abscheuliches‘ Vergehen handelt. Es ist auch ganz im Sinne der Ordnung, wenn die Frau schließlich an ihren Wunden stirbt. Der Bericht bezieht sich jedoch vornehmlich auf das empirische Geschehen, das möglichst einfach – im ordo naturalis – und ohne jegliche erzählerische Raffinesse wiedergegeben wird. Spürbare Zurückhaltung kennzeichnet selbst die Erwähnung des Teufels als Anstifter zum Unheil, denn dessen Wirken erscheint als Behauptung einer Täterin, die eine plausible Erklärung für ihr Verhalten suchte und auf diese Weise fand. Die Kardinallaster Ehrgeiz oder Habgier kommen hier als Motive für die „abscheuliche That“ nicht in Betracht. Die Erzählung akzentuiert vielmehr die unverschuldete soziale Notlage einer (offensichtlich alleinstehenden) Mutter, die als Opfer eines Diebstahls derart verzweifelte, dass sie keinen Ausweg mehr für sich und ihre Kinder sah. ‚Abscheulich‘ wäre dann auch, was die Verzweiflung veranlasste. Wegen seiner Präferenz für die Mitteilung von Fakten und seiner dezidierten Zurückhaltung im moralischen Urteil könnte man hier – mit Christian Meierhofer – von einem ‚Exempel ohne Lehre‘ sprechen.19 Der Text informiert, er verzichtet auf Deutung und Moraldidaxe. Insofern hätte diese Erzählung aus den Relationes Curiosae auch gut hundert Jahre später im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde („Fakta, und kein moralisches Geschwätz“20) oder in einem anderen Journal der Spätaufklärung erschei19  Meierhofer:

Alles neu (Anm. 15), S. 291 ff. Philipp Moritz: Gnothi Sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. In: Karl Philipp Moritz: Werke. 3 Bde. hg. von Horst Günther. Frankfurt a. M. 2 1993, Bd. 3, S. 103. 20  Karl

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nen können. Während jedoch am Ende des 18. Jahrhunderts die Frage nach den Tatumständen, Entstehungsprozessen und anthropologische Interessen die Texte bestimmen,21 fungiert bei Happel die Curiositas als Selektionskriterium. Das Interesse am Merkwürdigen oder Seltsamen steckt die Grenzen für die Textauswahl jedoch derartig großzügig ab, dass sie zu verschwimmen drohen. Fast alles kann Gegenstand werden, wenn es nur gehörig vom Erwartbaren abweicht. Eine thematische Einschränkung erfolgt kaum, wenngleich Schwerpunkte erkennbar bleiben. Vor allem geht es um Neuigkeit, die jedoch – wie gesagt – nicht mit Aktualität verwechselt werden darf. Unter diesem Aspekt wertet Happel weder die aktuellen Zeitungen noch die Flugpublizistik aus. Als Quellen dienen allein ältere Berichte. Von einer Absicht zur Historisierung kann man nur insofern sprechen, als es hier um die „Darstellung eines singulären Faktums“22 als eines Exempels geht, das sich ebenso in der Gegenwart hätte ereignen können. Das Geschehen wird also nicht an spezifische Konstellationen rückgebunden, die später so nicht mehr gegeben sind oder die man durch entsprechendes Handeln verändern kann, wie dies dann um 1800 annimmt. In diesem Zusammenhang springt ein weiterer wichtiger Unterschied zum späten 18. Jahrhundert ins Auge. In seiner ersten Kriminalgeschichte, die für die Spätaufklärung die Rolle eines Prototyps für das Genre übernimmt, fingiert August Gottlieb Meißner den Brief eines Predigers, der erschüttert von einer Hinrichtung kommt und seinem Freund die Geschichte des Delinquenten berichtet: Blutschänder, Mordbrenner und Mörder zugleich, den Gesetzen nach, und doch ein Jüngling von edler Seele.23 Indem Meißner dieses Paradox erzählerisch auflöst, arbeitet er die Differenz von Recht (den Gesetzen nach) und Moral (von edler Seele) heraus, und diese Differenz(ierung) fungiert als Stimulus für weitere Erzählungen. Die Figur des Predigers, der das Wort ergriffen hat, fordert die Leser auf, ihrerseits ähnliche Geschichten erzählen. In der Tat erscheint dann wenig später eine Erzählung, die dem Aufruf folgt, um einen anderen, einen ähnlichen Fall zur Diskussion zu stellen.24 So funktioniert eine Aufklärungsöffentlichkeit: 21  „Die kurze Geschichte der Verbrecher aus den Kriminalakten gezogen, wie belehrend müßte sie sein, wenn die allmählichen Übergänge von kleinen Vergehen, bis zum höchsten Grade der moralischen Verderbtheit, mit einigen treffenden, allgemein auffallenden Zügen darin gezeichnet wären!“, so Karl Philipp Moritz: Ideal einer vollkommnen Zeitung. In: Moritz: Werke, Bd. 3, S. 172 f. 22  Breuer, Barocke Fallgeschichten? (Anm. 8), S. 299. 23  Erstdruck in: August Gottlieb Meißner: Skizzen. 1. Sammlung. Leipzig 1778, S. 68–97. 24  Geschichte einer Verbrecherin, die es wahrscheinlicherweise vor Gottes Augen weit weniger war als nach den bürgerlichen Gesetzen. In: Deutsches Museum, Juni 1779, S. 498–509. – Dem Text vorangestellt ist ein Vorwort Meißners.



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Ein Autor meldet sich zu Wort und fordert das Publikum auf, sich dazu zu äußern, um das Mitgeteilte einem allgemeinen Räsonnement zu unterwerfen. Genau das verlangt eine möglichst kunstlose Darlegung des Sachverhalts, will man „die republikanische Freiheit des lesenden Publikums“ nicht beleidigen, wie es in den einleitenden Passagen einer anderen Kriminalgeschichte heißt.25 Happel publiziert unter ganz anderen Rahmenbedingungen. Seine Zeitschrift ist kein Forum, wo sich andere Schriftsteller zu Wort melden. Es geht nicht um öffentliches Räsonnement. Vielmehr handelt es sich bei den Relationes Curiosae um eine Kompilation, die von ihrem Redakteur zusammengefügt wird: eine auf Dauer gestellte, periodisch erscheinende Sammelschrift. Als Kompilator folgt Happel weitgehend seinen Vorlagen, in die er oft nur geringfügig stilistisch oder orthographisch eingreift. Das bedeutet aber auch, dass er das faktographische Erzählen aus seinen Quellen übernimmt; in unserem Fall dem sechsten Band des Theatrum Europaeum, wie die Angabe am Ende der Kriminalgeschichte belegt. In der Tat stimmen die Texte in beiden Zeitschriften weitgehend überein; über die Abweichungen wird noch zu sprechen sein. Das Theatrum Europaeum bezog seine Textbausteine wiederum aus Zeitungen, aus Flugschriften und aus anderen Pu­ blikationen. Der Umfang unserer Erzählung spricht für die Herkunft aus einer Zeitung, und das würde auch die auf Information fokussierte Darstellungsweise erklären. Denn speziell die Zeitungen zielten auf eine Mitteilung von Nachrichten und enthielten sich möglichst der Bewertung oder des Kommentars, weil sie in besonderer Weise26 der Kontrolle durch die Zensur unterstanden. Diese Form der Mitteilung wandert mit der Nachricht über das Theatrum Europaeum in Happels Sammlung. Zeitungsmeldungen geraten so in die Verwertungsschleifen der Kompilation als Spielmaterial für die Curiositas. Mag sich auch der Wortlaut der Texte nur wenig ändern, mit dem Transfer etwa vom Theatrum Europaeum in die Relationes Curiosae geraten sie in eine andere Umgebung, und das bleibt nicht ohne Folgen für ihre Bedeutung. Das Theatrum Europaeum ordnet seine Beiträge in zweifacher Hinsicht: zum einen nach einer mehr oder weniger systematischen Gliederung in Rubriken, zum anderen chronologisch. Beide Ordnungen gibt Happel in den Relationes Curiosae preis zugunsten einer thematisch-assoziativen Reihung mit abrupten, willkürlichen ‚Schnitten‘. Die abrupten Themenwechsel 25  Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Sechzehnter Band, Erzählungen, hg. von Hans Heinrich Borcherdt. Weimar 1954, S. 7–29, hier S. 8. 26  Stärker jedenfalls als die Flugschriften, die eben nicht regelmäßig, sondern nur gelegentlich erschienen und deshalb schwerer zu überwachen waren.

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folgen keiner erkennbaren Logik. Das entspricht einem Rezeptionsmodus, der auf Zerstreuung, auf das Blättern und Schmökern setzt – in bewusster Opposition zum gründlichen und systematischen Studium der Texte. Happels Begründung für diese Lektürepraxis ist bemerkenswert: Nicht nur Müßiggang und Wollust gefährden das konzentrierte Studium, sondern durch die „gar zu strenge und ruhlose Bemühung“ (RC 4, Vorr. 1) verlieren wir die „Lust und Liebe“ am Wissenserwerb: „Der Boge  /  wann man ihn zu hoch anspannet  /  pflegt zu brechen: Die sayten  /  so zu gewisser Zeit nicht abgespannet werden  /  zu springen; und die gar zu unmüssige Wachsamkeit den Schlaff des Todes zu befordern.“ (ebd.)27 Gegen zu große Anspannung und Überanstrengung hilft eine zerstreuende, unterhaltsame Lesepraxis, welche „die von allzu grossen Fleiß  /  oder zu tieffem Nachsinnen eingeschlummerte Sinnen gleichsam wieder erwecket und munter“ (ebd.) macht. Solches sage ich darumb  /  damit ein jeder erkenne   /   daß es nutzlich  /  oder wenigstens ergetzlich sey / wann bey hohen Angelegenheiten / oder bey tieffsinnigen Studiis, man unterweilen lustige seltzame oder verwunderliche Materien vor die Hand nimmet  /  dadurch die von allzu grossen Fleiß  /  oder zu tieffem Nachsinnen eingeschlummerte Sinnen gleichsam wieder erwecket und munter gemacht werden. (ebd.)

Als Auswahlkriterium fungiert eine Curiositas, die das Merkwürdige und Seltsame, vor allem aber den Wechsel bevorzugt, ohne die eigenen Präferenzen zu präzisieren. Insofern bleibt der Kompilator offen für die Wünsche des zahlenden Publikums, über die ihn die Nachfrage auf dem Markt belehrt. Bei der Auswahl der Textvorlagen spielen zudem formale Aspekte eine nicht unerhebliche Rolle. Das verdeutlicht ein Blick auf den sechsten Band des Theatrum Europaeum. Die dort im Umfeld unserer Kriminalgeschichte abgedruckten kurzen Meldungen kommen für Happel nicht in Betracht: In Italia  /  ward der Bischoff von Castro zu Monteraso erschossen  /  dessen Leichnam nach S. Carlo di Cattimaro geführt worden. (TE 6.1022) Samstags den 23.13.  Januarii wurden zu Rom 8. Banditen gehenckt  /  und 2. geviertheilt. (ebd.)

Die enge Anlehnung an die vorliegende Berichterstattung verbietet ein fiktives, ein romanhaftes Ausschreiben solcher Nachrichten. Damit bleibt das Anregungspotential solcher narrativen Kerne, die zum Ausformulieren rei27  Um 1800 rechnen Lesepädagogen diesen Rezeptionsmodus der Unterhaltungsoder Trivialliteratur zu, wenn sie Entspannung mit Schlaf oder geistigem Tod assoziieren; vgl. z. B. Karl Morgenstern: Plan im Lesen [1805]. In: Karl Morgenstern: Johannes Müller oder Plan im Leben nebst Plan im Lesen und von den Grenzen weiblicher Bildung. Drey Reden. Leipzig 1808, S. 59–90, S. 79 f.



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zen, ungenutzt. Happel fabuliert eben nicht, er kompiliert Historien. Die Vorlagen müssen deshalb eine bestimmte Mindestlänge haben oder sich zumindest zu zweit oder dritt unter einer Überschrift bündeln lassen. Denn der ‚Fließtext‘ der Relationes Curiosae wird allein durch Leerzeilen und Überschriften gegliedert. Die Zwischentitel erzeugen Lektüreportionen von einer halben bis etwa anderthalb Seiten Umfang. Dadurch, dass die Texte einen eigenen Titel bekommen und typographisch als eigenständige Einheiten abgesetzt werden, verselbstständigen sich die Nachrichten zu eigenen Erzählungen. Die Meldungen des Theatrum Euro­ paeum verwandeln sich so in eigenständige Geschichten, ‚Novellen‘ oder Anekdoten.28 Eigene, in sich abgeschlossene Erzähleinheiten zu schaffen, ist aber nicht das Ziel, sondern eher Effekt der Textorganisation in den Relationes Curiosae. Denn längere Texte – wie z. B. die Flugschrift über den vielfachen Räuber und Mörder Liehman (s. u.) – werden ebenfalls in kleinere Textblöcke mit Überschriften zerlegt, ohne dass allein durch die typographische Gestaltung jeweils erkennbar ist, ob eine Geschichte sich fortsetzt oder eine neue beginnt. Die Gliederung in kleinere Einheiten dient offensichtlich vorrangig dem Rezeptionsmodus einer zerstreuenden Lektüre; sie ist kaum inhaltlich begründet. Unter dem Titel Der Mörderische Mann (RC 6.61 f.) werden zwei Fälle aus dem sechsten Band des Theatrum Europaeum unter einem thematischen Aspekt verbunden; daran schließt dann noch eine Anmerkung Happels an. Die Abfolge reflektiert das Verfahren seiner Sammlung. Im ersten Fall ersticht ein Cornett in Prag seine hochschwangere Frau – im Affekt, so darf man annehmen –, weil sie ihm kein Geld geben will. Sie möchte nämlich verhindern, dass er seinen Besitz verspielt. Ebenfalls von der Tötung einer schwangeren Ehefrau handelt der zweite Fall. Der Ehemann bringt hier zudem die beiden Kinder um und begibt sich danach auf die Straße, wo er einem zufällig daherkommenden Mann den Kopf abhackt. Der Mörder rechtfertigt sich mit der Prädestinationslehre, über die er wenige Tage zuvor mit einem reformierten Prediger diskutiert hat. Diese Mordgeschichte erinnert Happel, der sich hier als Ich-Erzähler äußert, an die Insulaner auff der Insel Java, welche durch eingenommenes Opium vielmahls so rasant werden daß sie mit einem Dolch auff die Straßen lauffen und Amok schreyen worauff sie ohne Unterschied alle Leute / so ihnen aufstoßen / erwürgen. (RC 5.61) 28  Zur Wanderung von Informationen im Medienverbund vgl. Daniel Bellin­ gradt: Periodische Zeitung und akzidentielle Flugpublizistik. Zu den intertextuellen, interdependenten und intermedialen Momenten des frühneuzeitlichen Medienverbundes. In: Volker Bauer / Holger Böning (Hg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert: Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen 2011, S. 57–77, S. 59 ff.

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Eine solche Zusammenstellung erweckt in der Tat den Eindruck einer textuellen Wunderkammer voller Raritäten.29 Eine Frau, die ihre Kinder und sich selbst aus Verzweiflung umbringt (bzw. umbringen will); ein Ehemann, der seine schwangere Frau durch Erpressung und für Geld an Mörder ausliefern will; Ehemänner, die ihre schwangeren Ehefrauen töten, dann der Hinweis auf den Amoklauf nach Rauschgiftgenuss, anschließend eine Erzählung über einen vierfachen Selbstmord durch übermäßigen Alkoholkonsum. Das folgt alles einem thematisch-assoziativen Muster, das dann ausläuft. Zwar greifen auch die beiden nächsten Erzählungen, die wieder unter einem Titel (Die listige Entführung – RC 5.62 f.) subsumiert werden, obwohl die zweite Geschichte von keiner Entführung, sondern von einer listigen Flucht handelt, auf die gleiche Quelle zurück, doch stammen die Vorlagen jetzt aus einer anderen Rubrik des Theatrum Europaeum („Etliche besondere Casus, und sonst denkwürdige Sachen“, TE 6.1025). Dann wechselt mit der Quelle auch das Thema; nun werden Beispiele herausragender Gedächtnisleistungen mitgeteilt. Und vor unserer Kriminalgeschichte wird mit Napoleone Orsini (Ursino) eines italienischen Feldherrn aus der Zeit um 1500 gedacht – als Teil einer Serie über ‚Helden‘ der letzten Jahrhunderte. Unter diese Rubrik wird man die „abscheuliche That“ der armen Frau sicher nicht platzieren wollen. Das bloße Nebeneinander der Texte unterläuft alle Versuche einer sachlich-systematischen Strukturierung. Die markantesten Änderungen, die Happel an den Kriminalgeschichten vornimmt, beziehen sich auf das Ende einiger Erzählungen; hier greift er regelrecht korrigierend ein. Wo das Theatrum Europaeum einen Fall nicht mit der Hinrichtung abschließt, weil die Berichterstattung höchstwahrscheinlich aus einer Zeitung, jedenfalls zeitnah erfolgt und nicht über diesen Kenntnisstand hinausgeht, da fügt Happel den erwartbaren Ausgang des Geschehens hinzu. Heißt es im Theatrum Europaeum: „Was aber diesen saubern Gesellen für einen Proceß gemacht habe  /  davon ist uns noch zur zeit nicht gewisses einkommen“ (TE 6.1024), liest man in den Relationes Curiosae: „da man ihnen ihren hochverdienten Lohn ertheilet hat.“ (RC 5.61) Man wird kaum annehmen dürfen, dass diese Information auf genauerer Recherche beruht. Vielmehr entspricht dieses Ende einer Ordnung, die auf das Verbrechen die Bestrafung folgen lässt. Das gilt auch für die erwähnte Geschichte des belgischen Amokläufers. Hier lässt das Theatrum Europaeum das Ende offen: „Von der erfolgten Execution ist uns nichts bewust“ (TE 6.1024), während Happel keinen Zweifel hegt, wie die Geschichte ausgeht und was er von der Rechtfertigung eines solchen Gewaltausbruchs mit der Prädestinationslehre hält: „Aber solch Einwenden hat ihn von der gebührenden Straffe nicht erlösen mögen“ (RC 5.61). Bemerkens29  So

die These von Schock: Die Text-Kunstkammer (Anm. 15).



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wert ist dann aber die anschließende Erwähnung des Amoklaufs auf Java. Damit lenkt Happel das Interesse auf das Phänomen des Gewaltausbruchs und führt es auf einen Zustand des Rausches zurück bzw. verweist es in den Bereich einer fremden Zivilisation. Um 1800 hätte man diesen Hinweis aufgegriffen, um die Frage nach der moralischen Zurechnungsfähigkeit zu stellen. Happel schenkt dem Problem der Schuldzuweisung keine Aufmerksamkeit. Die Erwähnung des Amoklaufs dient als thematische Ergänzung und nicht als Argument für verminderte Schuldfähigkeit. Happel vertraut einer Ordnung der Dinge, die ein Verbrechen ohne Strafe sich nicht vorstellen mag. Die Moral ist insofern dem berichteten Geschehen immer schon inhärent. Anstatt diese Gewissheit moraldidaktisch zu exponieren, können sich die Texte, weil sie auf dieser sicheren Grundlage operieren, ganz auf die ‚merkwürdige Seltsamkeit‘ der beschriebenen Ereignisse konzentrieren. III. Mit dem Titel Der abscheuliche Missethäter wird ebenfalls im fünften Band der Relationes Curiosae eine Sequenz von insgesamt 17 Texteinheiten eingeleitet, die auf eine einzige Quelle zurückgehen30 und die über Verbrechen und Bestrafung von Hans Liehman und seinen Kompliz(inn)en berichtet (RC 5.387–398). Es handelt sich um eine längere, zusammenhängende Textpassage, an die sich dann – ebenfalls aus einer einzigen Vorlage – vier Texteinheiten über einen französischen Mörder anschließen (RC 5.398– 400),31 bevor der erste Teil des fünften Band mit einer von Happel erinnerten Kriminalanekdote endet.32 Anders als beim selektiven Zugriff auf das 30  Wahrhafftiger und gründlicher Bericht von den Unerhört-begangenen grausamen und schröcklichen Mordthaten Ehebruchs  /  Hurerey-Blutschande undt Sodomiterey  /  Mordbrändt  /  und Diebstahlen der einander Nahe verwandten Personen  /  alß Hans Liehmans sonst Weinhans genannt  /  und dessen Eheweibs Barbara Kindes­ fresserin [recte: Wildin – so der Korrekturhinweis auf der letzten Seite]  /  Wampe Görges Schwester. Hans Liehmans des Jüngern. Hans Hahns sonst SchrammHans genannt  /  und dessen Eheweibs Barbara Hahnin  /  beyde George Wildens Schwiger Eltern. Dannen jetzt gedachten George Wildes oder Wampe Görges. SchrammHanses Eydam und des Liehmans Weibes Bruder; Und der darauf erfolgten scharffen Execution, so in der Fürstl. Stadt Wohlau  /  an den ersten Dreyen Personen den 17. April, und an den letztern Dreyen den 11. Julij dieses 1661. Jahres vollzogen worden. Breßlau  / Auf Unkosten Esai Fellgibels Buchhändlers. 31  Als Quelle wird genannt (RC 5.340): Zeiller, Cent. IV. Epist. 13 p. 96 = Mar­ tin Zeiller: Centuria Variarum Quaestiorum, Oder  /  Ein Hundert Fragen  /  von allerley Materien un Sachen […]. 4 Bde. Ulm 1658–1660. 32  Diese Episode, die insofern eine Ausnahme darstellt, als es für sie wohl keine schriftliche Vorlage gibt, beginnt mit: „Ich erinnere mich bey obererzehltem Exem-

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Theatrum Europaeum wird beim abscheulichen Missethäter (fast) die gesamte Flugschrift abgedruckt, jedoch ohne die Kupferstiche. Die Gliederung in einzelne Textblöcke mit den folgenden Zwischentiteln weicht dagegen von der Vorlage ab: Der abscheuliche Missethäter – Die Uhrgicht über Hans Liehmans Stehlen und Rauben – Was er in Compagnie Georg Wilde und Guhl-Hans gestohlen – Seine grausamen Mordthaten – Die Uhrgicht Liehmans Weibes – Die Uhrgicht des jungen Liehmans – Die Sententz des alten Liehmans – Das Urtheil der Mutter und Sohnes – Die würckliche Execution – Die Nachforschung der übrigen Mord-Gesellen – Die Befragung der Gefangenen – Die particulier Verbrechen – Ihr in Compagnie verübte Unzucht – Ihre verübte Todtschläge – Was sie mit einander vor Mord-Brände angelegt – Summa aller Ubelthaten – Das Blut Urtheil über die armen Sünder – Die vollzogene Execution.

Ansonsten halten sich auch in diesem Fall Happels Eingriffe in den Text – mit wenigen Ausnahmen – in engen Grenzen. Änderungen betreffen die Orthographie, den Austausch einzelner Wörter, redaktionelle Korrekturen (z. B. aus „allhier“ wird „zu Wolau“) und geringfügige Kürzungen.33 Anders als die Flugschrift, die sofort zur Sache kommt („Nach dem Hans Liehman der ältere / Barbara Liehmannin sein Weib und Hans Liehman der Jüngere  /  in gefängliche Hafft gebracht […]“), leitet Happel seinen Bericht mit einer Bewertung ein, die zugleich als Begründung für den Abdruck des Textes dienen kann: Unter vielen groben Missethätern  /  die man jemahlen in Teutschland gefunden hat  /  ist ein Schlesier der principaleste  /  welcher heißt Hanß Liehman  /  sonsten ins gemein Weinhanß genandt  /  dieser war im Ausgang des 1660. Jahrs in der Fürstlichen Residentz Wohlau eingezogen sambt seinem Weibe Barbara Wildin genandt  /  und Sohne  /  der jüngere Hanß Liehman […] (RC 5.387 f.)

Hier begründet eindeutig die Sensation die erneute Publikation.34 Der Superlativ leitet den Bericht ein, der anschließend dem Wortlaut seiner Quelle folgt. Das ist insofern bemerkenswert, als die Flugschrift über weite Strecken einen wenig attraktiven Text bietet, der nämlich kaum über eine dürre Auflistung der Straftaten hinausgeht. Eine chronologische Abfolge ist nicht pel einer sonderbahren Mörder- und Diebs-Rotte  /  so zu meiner Zeit ums Jahr 1658 in der Wetterau  /  alwo ich damahlen in die Schule gieng, hin und wieder sehr hausete“ (RC 5.340). 33  Inwieweit Versehen des Druckers vorliegen, bleibt hier außer Betracht. 34  Vgl. dazu Joy Wiltenberg: Formen des Sensationalismus in frühneuzeitlichen Kriminalberichten. In: Rebekka Habermas / Gerd Schwerhoff (Hg.): Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte, Frankfurt a. M. / New York 2009, S. 323–338; Joy Wiltenberg: True Crime. The Origins of Modern Sensationalism. In: American Historical Review 109 (2004), S. 1377–1404.

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zu erkennen. Die Strukturierung erfolgt nach Deliktgruppen (Diebstahl, Sexual- und Tötungsdelikte, Brandstiftung) und Verfahrensschritten (Verhör, Urgicht, Urteil, Exekution). Man darf also von einer aktenmäßigen Darstellung als Vorlage der Flugschrift ausgehen. Über Liehmans Diebstähle liest sich das dann so: 2. Zu Krumm und Alt-Wolau Gänse angepackt. 3. Der Seiffensiederin aus dem Garten Fenchel gestohlen. 4. Zu Heidersdorff / nebst Georg Wilden / Mehl / Kleider  /  im Gärtgen daselbst 1 Pflug und Egen gestohlen  /  welchen er vor einen Reichsthl. 8 Gr. verkaufft. 5. Dem Schulzen zu Krum Wolau ein Schwein gefressen. (RC 5.388)

Mit der gleichen Konsequenz werden die „grausame[n] Mordthaten“ abgehandelt: 6. […] bey Kodleve einen Juden erschlagen / bey dem sie 30 Reichsthl. gefunden. 7. Zu Wodyn einen Mühlscher  /  der 10 Rthl. gehabt. 8. Umb Kodleve einen Schneider und bey ihm 7 Rthaler gefunden. 9. Zu Schweinarn einen Lein­ weber  /  so 6 Rthlr. bey sich gehabt. (RC 5.389)

Dem Fencheldiebstahl gilt die gleiche Aufmerksamkeit wie dem Raubmord; ihnen wird der gleiche Raum zugebilligt. Statt einer Erzählung liefert der Text Register, die in eine Summe der Straftaten münden. Umso interessanter sind dann die Stellen, wo der Bericht diese Ordnung verlässt und ausführlicher wird. Das geschieht zum ersten Mal, als ein Verbrechen als besonders abscheulich markiert wird. Mit entsprechenden Kommentierungen hält sich der Text (der Flugschrift wie in den Relationes Curiosae) sonst sehr zurück. So hat er auch (O unerhörte Grausamkeit!35) sein eigen Kind  /  so bald dasselbe zur Welt gebohren worden  /  angegrieffen  /  und nebst George Wampe seinem Schwager  /  dasselbe auf den Tisch getragen  /  da dann diese beyde Mörder dem Kindlein anfangs das Haupt mit einer Axt abgehauen  /  hernach ihm den Leib auffgeschnitten  /  das Hertz und Eingeweide herauß genommen  /  das Eingeweide sampt dem Haupt zwar begraben  /  aber den Cörper zerstücket  /  und nebst dem Hertzen gekocht  /  welche hernach sein gegenwärtiges Weib  /  sein gegenwärtiger Sohn und George Wampe auffgefressen  /  besagter Wampe aber des abgeschlachteten Kindleins Hände zu sich genommen / allerhand Zauberey36 damit zu treiben. (RC 5.389)

Bei der Ermordung und dem Verzehr des eigenen Kindes handelt es sich gleich in doppelter Hinsicht um ein besonders schwerwiegendes Vergehen gegen die religiöse, obrigkeitliche und patriarchalische Gesellschaftsordnung. Zum einen richtet sich die Zerstückelung des Kindes gegen „die Fa35  In 36  In

der Flugschrift: „welches erschröcklich zu hören“. der Flugschrift: „allerhand Hexerey / und Zauberey“.

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milie als kleinste Zelle und Prinzip dieser Ordnung“,37 die durch den Familienvater selbst von innen heraus angegriffen wird. Die Flugschrift betont diese von Innen kommende Bedrohung bei einem vielfachen Mörder, der bereits den neuen Typ verkörpert: Ab 1650 dominiert „der ‚fremde‘, von außen kommende, als Bandenführer individualisierte Täter“38 die Kriminalpublizistik. Zum andern steht dieses Verbrechen in engem Zusammenhang mit „Zauberey“. Genau dieser Kontext stimuliert hier offensichtlich das Erzählen, wie einige – ebenfalls ausführlicher dargestellte – Passagen im Sündenregister von Hans Hahn (alias Schrammhans) und Georg Wilde (alias Wampe Görges) bestätigen. Ausgangspunkt ist wieder die Tötung des Kindes; der Bericht nimmt dann aber eine etwas andere Wendung: Von des Hans Liehmans Kinde  /  hätten sie gleichfalls gefressen  /  wiewohl der Schram nicht dabey gewesen  /  als es von dem Liehman  /  Wampen und andern Complicen geschlachtet worden. Wampe hätte die Hände von solchem Kindlein mit sich genommen  /  daß er sie anzünden können  /  wann sie auff den Diebstahl außgegangen  /  jetzo hätte solche ein Maurer  /  Nahmens Christoff  /  welcher sich zu Calisch in Pohlen auffhielte. Dieser Christoff hätte ein Weib und 2 Kinder  /  wäre ziemlich alt  /  hätte gelbe Haare  /  einen braunen Barth und graues Kleid: Er hätte einen halben Rthalr. dafür gegeben. (RC 5.394)

Die Texte erwähnen diesen Zauber als eine übliche Praxis bei den Diebstählen:39 10. Zu Heitzendorff 4 Stück Leinwand gestohlen  /  allwo sie durch die Wand gehacket / und eingebrochen. Es hatten auch die Diebe allezeit Händlein von jungen Kindern angezündet / womit sie die Leute einschläffern kunten / wann sie hin und wieder eingestiegen. (RC 5.393)

Der Bedarf nach solchen Zaubermitteln motiviert weitere Gewalttaten, die jeweils außergewöhnlich ausführlich und detailliert beschrieben werden: 1. Bey der Masel hätten sie 3 Mägde  /  eine nach der andern geschändet  /  sie hernach todt geschlagen  /  den Leib auffgeschnitten  /  das Hertz herauß genommen / solches gepulvert / das Pulver in den Bierhäusern unter das Bier gethan / davon gesoffen / auch andern Leuten davon zu trincken gegeben; und solches Pulver hätten sie darumb gesoffen  /  daß sie möchten behertzt  /  nicht gesehen  /  oder er37  Karl Härter: Criminalbildergeschichten: Verbrechen, Justiz und Strafe in illustrierten Einblattdrucken der Frühen Neuzeit. In: Karl Härter / Gerhard Sälter / Eva Wiebel (Hg.): Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2010, S. 25–88, S. 55. 38  Ebd., S. 58. 39  Zu diesen Praktiken vgl. Walther Müller-Bergström: Artikel „Diebstahl“. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Berlin u. Leipzig 1927–1940, Bd. 2, Sp. 197–240, bes. Sp. 229 ff.



Relationes Curiosae oder Merkwürdige Seltsamkeiten209 tappt werden  /  andern Leuten aber hätten sie darumb zu trincken gegeben /  damit sie ihnen solten nachkommen  /  und sie solche alsdann ermorden könten. (RC 5.394)

Ob diese Geständnisse oder Berichte den Tatsachen entsprachen, wäre einmal anhand der Gerichtsakten zu überprüfen, soweit das heute überhaupt noch möglich ist. Es macht jedoch stutzig, dass sich genau das gleiche Muster in einer anderen Flugschrift findet, deren Abdruck Happel unter dem Titel „Der abscheuliche Mörder“ (RE 5.92–97) einleitet. Gemeint ist damit Melcher Hedloff, der 1654 in Oelse wegen nicht weniger als 251 begangener Mordtaten hingerichtet wurde.40 Auch hier werden die Tötungsdelikte äußerst knapp aufgelistet, auch hier wird der Text bei den gleichen Verbrechen wie im Fall Liehman detaillierter. Der Text beginnt mit der von Hedloff angeordneten Ermordung seines eigenen Enkelkindes; ausführlich wird erneut die Tötung einer schwangeren Frau beschrieben, um das Herz des ungeborenen Kindes roh zu verspeisen, „damit er desto Teuffel artiger werde“ (RE 5.95). Diese ausführlicheren Beschreibungen unterbrechen das Register der Delikte. Sie heben das Nebeneinander der Straftaten auf, indem sie besonders abscheuliche Verbrechen (gegen Familie, Obrigkeit und christliche Religion) akzentuieren. Die Darstellung zielt auf Sensation, sie will emotionale Reaktionen hervorrufen. Sie rechtfertigt damit zugleich die grausame Bestrafung der Täter und die aufwendige Präsentation der Hinrichtung in der Flugschrift. Im Fall Liehmans weicht Happel hier von seiner Vorlage ab. Während die Flugschrift die beiden Hinrichtungen von jeweils drei Personen durch je zwei Kupferstiche abbildet und deren einzelne Momente im Text knapp auflistet, während also die Flugschrift ihrem Registrierstil treu bleibt, formuliert Happel das Geschehen unter den beiden Titeln „Die würkliche Exekution“ (RC 5.392) und „Die vollzogene Exekution“ (RC 5.397 f.) aus. Wie schon in den übernommenen Texten aus dem Theatrum Europaeum versäumen die Relationes Curiosae nicht den Bericht über die ordnungsgemäße Bestrafung der Missetäter. 40  Vgl. Melcher Hedloffs  /  Sonst Schütze-Melcher genannt  /  von Käntinchen auß Medziborischer Herrschaft bürtig  /  verübete und begangene Mord-Thaten  /  Welche er mehrentheils mit seinen zwei Röhren und einem Säbel verrichtet. Auch wie er in der Fürstlichen Stadt Oelse den 19. Januar. dieses 1654. Jahrs seiner Arbeit nach / den Lohn empfangen. Kürztlich beschrieben / und zu männigliches Nachricht in Druck befördert. Erst gedruckt zu Preßlaw [o. J.]. – Vgl. auch die geringfügig gekürzte Neuauflage (mit einem Holzstich statt des Kupferstichs): Eine wahrhafftige und erschreckliche Neue Zeitung von dem grossen Mörder Melcher Hedloff  /  Sonst Schütze-Melcher genannt  /  von Käntinchen auß Medziborischer Herrschaft bürtig  /  welcher 251. Mordthaten begangen. Auch wie er in der Fürstlichen Stadt Oelse den 19. Jan. dieses 1654. Jahrs seiner Arbeit nach / den Lohn empfangen. Erstlich gedruckt zu Preßlaw  /  und jetzo zu Augspurg bey Johann Schultes [o. J.].

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Diesen Finalnexus betont Happel im Textabschnitt „Die Nachforschung der übrigen Mord-Gesellen“, mit dem er nach der ersten Hinrichtung zum zweiten Teil der Flugschrift überleitet und für den es ebenfalls kein Äquivalent in seiner Vorlage gibt. Nachdem die anderen Mörder gefasst waren, heißt es: Hiemit war ihr Maß erfüllet  /  und die liebe Gerechtigkeit wolte dermahleins Rache und Gerechtigkeit an diesen leichtfertigen Land-Schädigern üben. Dann die Rache GOttes pfleget langsam zu kommen / aber wann sie kommet / so erscheinet sie desto schärffer  /  und mit vollem Masse. Davon man wohl hundert und mehr Exempel auffzuweisen hätte / wann es nöthig wäre / oder wann es die Zeit zulassen wolte. (RC 5.392)

Eine solche Deutung ist alles andere als originell; dafür gibt es bereits mehr als genug Beispiele. Auffällig dagegen ist, dass sie nicht in der Flugschrift steht und speziell für die Leser der Relationes Curiosae in den Text eingefügt wurde. Das widerspricht auch der These Christian Meierhofers, dass die forcierte „Rhetorik des Tatsächlichen“ in dieser Zeitschrift „die eigentliche Funktion des Exempels weitestgehend außer Kraft setzt.“41 Was ist dann aber neu oder bemerkenswert an diesen Texten? IV. Die frühen Hamburger Kriminalgeschichten aus den Relationes Curiosae sind älteren Datums und in der Hansestadt nur printmedial wiederaufbereitet. Die geringfügigen Veränderungen, die Happel vornahm, haben deren Exempelcharakter eher bestätigt, als dass sie ihn in Frage stellten. Dieser Befund ist ernüchternd. Inwiefern handelt es sich dann um ‚seltsame Merkwürdigkeiten‘? Irritierend bleibt zunächst, dass hier weitgehend identische Texte nach längerer Zeit als Neuheit publiziert wurden. Wer hier auf die übliche Praxis der Kompilation verweist, mag richtig liegen, verstellt sich aber das Problem, das deutlicher hervortritt, wenn man die Relationes Curiosae als Zeitschrift betrachtet. Im Kontext des Journalismus wäre zumindest ein Mangel an Aktualität zu konstatieren. Nicht die Ereignisse und nicht deren Berichterstattung sind neu, sondern der Zusammenhang, in den diese Texte gerückt werden. Für die Bedeutung und die Funktion der Kriminalgeschichten bleibt das nicht ohne Folgen. Zum einen impliziert das – im Unterschied zu den anlassgebundenen Flugschriften und Einblattdrucken – eine größere Raum-ZeitDistanz von Text und Referenzgeschehen; dabei entfernt sich der Text vom pragmatischen Kontext, in dem die Erstpublikation eingebunden ist.42 Der 41  Meierhofer:

Alles neu (Anm. 15), S. 294. ist sicher ein graduelles Phänomen, das auch für die Flugschriften und Einblattdrucke gilt; hier wirken jedoch die Gattungserwartungen einer rein unterhaltsamen Lektüre stärker entgegen als bei den Kompilationen. 42  Das



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bei weitem größte Teil der Kriminalpublizistik steht in direktem Zusammenhang mit dem Hinrichtungsspektakel; es handelt sich um ‚Schafottdiskurse‘ (Foucault).43 Zum anderen entfällt – im Unterschied zu den Nachrichten aus dem Theatrum Europaeum – ein sachlich-chronologisches Ordnungsschema. In den Relationes Curiosae gehorcht die Auswahl und Portionierung der Texte eher der assoziativen und sprunghaften Logik einer Konversation. Themen werden aufgegriffen und, wenn die Aufmerksamkeit zu ermüden droht, ausgetauscht. Allerdings sperrt sich die Textgestalt – man denke an die bloße Aufzählung der Straftaten beim ‚abscheulichen Täter‘ – gegen alles, was man von Gesprächsbeiträgen in geselliger Runde erwarten darf. Die Relationes Curiosae wollen gelesen werden, gleichwohl geht es um Unterhaltung. Happel begründet Textstruktur und Lektürepraxis mit der Notwendigkeit von Entspannung, da die beständige Konzentration des Studiums auf Dauer sich selbst überfordert. Versucht man diese Überlegung differenzierungstheoretisch zu reformulieren, dann könnte man sagen, dass sich hier die Einheit von prodesse und delectare auflöst. Nutzen und Unterhaltung gehen getrennte Wege; sie verselbstständigen sich. Studium und Arbeit stehen der Erholung und Freizeit gegenüber. Beide Seiten bleiben funktional aufeinander bezogen. Die Lektüre der (Kriminalgeschichten in den) Relationes Curio­sae beschäftigt das Bewusstsein auf eine solche Weise, dass es sich nicht beständig anstrengen muss, für das Gelesene Anschlussfähigkeiten herzustellen, wie eine Nutzenorientierung sie verlangt. Damit kommt eine andere Zeitstruktur ins Spiel. Die Ausrichtung am Nutzen bindet die gegenwärtige Lektüre an eine Verwendung in der Zukunft. Der Unterhaltung kommt es dagegen auf den Augenblick an, auf die unmittelbare Gegenwart, die sich selbst genügt und die sich deshalb allen längeren Handlungs- und Gedankenketten zu entziehen sucht. Die Unterhaltung will nur die Unterhaltung sicherstellen und kann, ja muss einen nahezu beliebigen Wechsel der Themen riskieren. Variatio delectat. Diskontinuitäten stören nicht, sondern wirken geradezu belebend. Dadurch gewinnt die Lektüre einen ebenso kurzweiligen wie ephemeren Charakter, gegen den sich poetische oder wissenschaftliche Texte sträuben, weil sie auf jene Rückbezüglichkeiten setzen müssen, die für den Aufbau komplexerer Strukturen nötig sind. Daher gehen auch Erwartungen und Einstellungen, die sich am Umgang mit ‚gepflegter Semantik‘ (Luhmann) ausgebildet haben, hier fehl. Sie suchen nach einer strukturierten Komplexität, wo die Unterhaltung gerade die unbestimmte Komplexität nutzt, um uns zu 43  Vgl. Dietmar Peil: Strafe und Ritual. Zur Darstellung von Straftaten und Bestrafungen im illustrierten Flugblatt. In: Wolfgang Harms / Alfred Messerli (Hg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). Basel 2002, S. 465–486; Härter, Criminalbildergeschichten (Anm. 37).

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zerstreuen. Entsprechend hat es schon immer große Schwierigkeiten bereitet, Unterhaltung zu definieren, ohne auf den ‚Halt‘ anderer Begriffe zurückzugreifen. „Nirgends ist von ‚Unterhaltung‘ als solcher oder allein die Rede, stets wird Unterhaltung als Komplement- oder Begleitbegriff umrissen.“44 Das Phänomen entzieht sich dem Zugriff. Will man es wissenschaftlich analysieren, muss man die Elemente oder Strukturen mit Bedeutsamkeit aufladen. Selbst bei langfristigem Erfolg handelt es sich hier per definitionem um keine bewahrenswerte Kommunikation, deshalb die in der Regel negative Bewertung. All das heißt nicht, dass Unterhaltung wirkungslos wäre, nur gilt auch für ihre Effekte das Prinzip der Zerstreuung. Jeder mag damit machen, was er will – mit diesem ‚wilden‘ Reservoir an Themen, Geschichten, Wissensbeständen, voller zu entdeckender Schätze, ein Rohstofflager für Dichter.45 Anders als bei Harsdörffer, der die Unterhaltung noch an gesellige Interaktion rückbindet und seine Erzählungen entsprechend aufbereitet, adressiert Happel seine Relationes Curiosae an ein lesendes Publikum, das anonym, genauer gesagt: heterogen ist. Das verlangt eine Pluralisierung der Inhalte und Präsentationsformen, weil eine „grosse Verschiedenheit der mensch­ lichen Gemüther“ zu befriedigen sei, „welche nicht alle an einem oder vielmehr einerley Dinge  /  ihre Vergnügungen finden“ (RC 1, Vorrede, unpag.). Vergnügen bereiten jetzt selbst ‚abscheuliche‘ Verbrechen. Das ist keineswegs unproblematisch, geht es doch um einen für die Moral der Gesellschaft äußerst sensiblen Bereich. Die Lust an Mordgeschichten, an Raub und Grausamkeiten unterläuft die normativ begründete soziale Ordnung. Darauf reagiert Happel, wenn er den Nexus zwischen Verbrechen und Strafe selbst dort herstellt, wo seine Vorlagen schweigen. Weil die Ordnung nicht in Frage gestellt, vielmehr bestätigt wird, kann man sich an ihren Korruptionen erfreuen. Das lesende Publikum weiß sich in Sicherheit. Ein solche Lesart der (Kriminalgeschichten in den) Relationes Curiosae ist radikal und mit einiger Sicherheit überzogen. Sie akzentuiert die Ausdifferen44  Franz M. Eybl: Einleitung: Unterhaltung zwischen Barock und Aufklärung. In: Franz M. Eybl / Irmgard M. Wirtz (Hg.): Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel. Bern u. a. 2009, S. 9–24, S. 11. 45  „Als Paradebeispiel mag Eichendorff gelten“, worauf Chr. Meierhofer hingewiesen hat (Alles neu, S. 285 Anm. 15): Mit seinem Marmorbild verfasste Eichendorff, wie er selbst sagt, „eine Novelle oder Mährchen, zu dem irgend eine Anekdote aus einem alten Buche, ich glaube es waren Happelii Curiositates, die entfernte Veranlassung, aber weiter auch nichts, gegeben hat“ (Eichendorff an Fouqué, 2.12.1817. In: Joseph von Eichendorff: Sämtliche Werke. Bd. 12. Hg. von Sibylle von Steinsdorff. Stuttgart u. a. 1992, S. 76). Meierhofer betont, dass Eichendorff „den Einfluss Happels mehr als notwendig herab[spielt]“; vgl. RC 3.470 („Die Teufelische Venus“) und RC 3.510–516 („Die seltzahme Lucenser-Gespenst“). – Weitere Beispiele (Goethe, Kleist u. a.) bei Egenhoff: Berufsschriftstellertum (Anm. 15), S. 241 ff.



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zierung eines Bereichs printmedialer Unterhaltung, der nicht nur die imaginativen, sondern ebenso die informativen Textsorten einbezieht.46 Zu letzteren gehören ja auch die hier behandelten Kriminalgeschichten, die eine Versachlichung der Information entweder als Zeitungsmeldung oder als aktenmäßiger Bericht mittels Straftatenkataloge betreiben. Alle Texte der Relationes Curio­ sae geraten in den Sog des Entertainments. Wo aber findet diese Unterhaltung statt – im System der Massenmedien oder dem der Literatur? Für ersteres sprechen die periodische Erscheinungsweise und die enge Anbindung an eine Zeitung, dagegen der mangelnde Aktualitätsbezug und die Verwendung von Erzählungen aus anderen Sammlungen. Dieses Nebeneinander, das sich einer klaren Zuordnung verweigert, charakterisiert die Relationes Curiosae. Will man gleichwohl an einer solchen Unterscheidung von Systemreferenzen festhalten, dann muss man an der Form der Textbeiträge ansetzen, die durch die Praxis der Kompilation konserviert wird. Happel hat ja allenfalls geringfügig den Wortlaut verändert, die Erzählungen eben nicht literarisch überformt. Daher bleiben die Spezifika der Zeitungsmeldungen oder Flugschriften erhalten. Die Nachricht präsentiert das Verbrechen als ein außergewöhnliches Geschehen und verzichtet weitgehend auf Deutungsversuche. Diesem narrativen Schema folgen noch zahlreiche Kriminalgeschichten der Spätaufklärung, auch wenn das Erkenntnis- oder Publikationsinteresse sich im Laufe des 18. Jahrhunderts signifikant verschoben hat. Die pure Faktizität der Ereignisse und die moraldidaktische Abstinenz in den Beiträgen des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde oder in Kleists Anekdoten in den Berliner Abendblättern verdanken sich nicht zuletzt journalistischen Darstellungsweisen;47 in diesem Kontext fallen sie weniger auf als im sich damals ausdifferenzierenden Literatursystem. Für die Fallgeschichten stellt der Übergang in die Literatur kein erhebliches Problem dar. Das Geschehen macht es hier der Erzählung leicht: Das Verbrechen und die Exekution bilden die Eckpunkte, die durch eine Finalstruktur verbunden sind. Die Ansprüche an eine ‚kausale‘ Verknüpfung werden allerdings in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gesteigert; das führt dazu, die bereits bekannten Fälle neu und d. h. ‚wahrheitsgemäßer‘ zu erzählen.48 Größer sind die Schwierigkeiten für eine Narrati46  Zwischen diesen zwei Kulturen unterscheidet Egenhoff: „der druckgestützten Verwissenschaftlichung der Wissenskultur korrespondiert die druckgestützte Literarisierung der Erlebnis- und Interaktionskultur“ (Egenhoff: Berufsschriftstellertum, Anm. 15, S. 366). 47  Vgl. dazu die in Anm. 8 genannten Arbeiten von Ingo Breuer; Jörg Schönert: Kriminalität und Devianz in den „Berliner Abendblättern“. In: Schönert: Perspektiven (Anm. 1), S. 113–126. 48  Vgl. die Auflistung früherer Fassungen oder Quellen und späterer Überarbeitungen von Müchlers Kriminalgeschichten im Anhang von: Karl Müchler: Kriminal-

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vierung, wenn an die Stelle der ‚abscheulichen Tat‘ der ‚abscheuliche Täter‘ tritt. Bei einer kriminellen Karriere müssen die Ereignisse in eine Abfolge gebracht und derart miteinander verbunden werden, dass sie einen Zusammenhang ergeben. An der Herstellung einer solchen Erzählung scheitern die Flugschriften des 17. und frühen 18. Jahrhunderts in aller Regel. Ihre Textstruktur orientiert sich an den aktenmäßigen Darstellungen, die statt einer Narration eine bloße Auflistung einzelner Delikte und Sta­ tionen der juristischen Aufarbeitung liefern. Erzählfreudiger werden diese Flugschriften nur dort, wo sie die Abscheulichkeit einzelner Verbrechen hervorheben, wo also eine implizite Deutung und Bewertung erfolgt. Die moralisatio verdeckt ein Erzählproblem. Dieser Befund, der sich hier auf die Wiederverwertung von Flugschriften stützt, lässt sich verallgemeinern als Strukturproblem der Relationes Curio­ sae. Die Fülle präsentierter Informationen will sich keinem Raster oder Schema fügen. Der Verdacht entsteht, dass sie den Leser mehr irritieren als über die Welt orientieren. Auf diese Problemlage, die sich in der Kompilationsliteratur im Allgemeinem und besonders in Happels Relationes Curio­ sae abzeichnet, reagieren dann, so die These von Christian Meierhofer, die ‚Moralischen Wochenschriften‘.49 Ihr Erfolg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beruhe darauf, dass sie durch Fiktionalisierung und Moralisierung dem Bürgertum Lebensorientierung bieten. Lassen wir das Bürgertum und seine Bedürfnisse einfach beiseite; wir benötigen es nicht. Fiktionalisierung bedeutet einerseits einen Abschied von der Faktizität, von einer empirischen Referentialisierung im Sinne der historia. Andererseits betreibt sie eine Generalisierung. Der äußerst selektive Umgang mit der Menge der Informationen erlaubt eine starke Typisierung. Die Anlehnung an die Literatur verspricht einen höheren Grad an Allgemeinheit. Genau dieses Absehen von den vielen Details erleichtert es, die Handlungselemente erzählerisch zu verknüpfen und mit narrativen Mitteln Ordnung in die nun nicht mehr wirren Geschehnisse zu bringen. Eine moralische Codierung unterstützt diese Reduktionsarbeit. Eine solche Literarisierung stellt für die Kriminalgeschichten eine nahezu unüberwindliche Hürde dar, da diese Texte als Historien auf eine empirische Referentialisierbarkeit festgelegt sind. Erst wenn die starren Tugend-Laster-Schemata wieder durch mittlere ‚gemischte‘ Charaktere flexibilisiert werden, öffnet sich die Literatur für Straftäter ‚mit edler Seele‘.50 Das ist in der Erzählprosa erst nach 1770 der Fall. Erst jetzt geschichten. Aus gerichtlichen Akten gezogen. Mit einem Nachwort hg. von Alexander Košenina. Hannover 2011, S. 152 ff. 49  Meierhoff: Alles neu (Anm. 15), S. 335 ff. 50  Die entscheidenden Weichen dafür werden im Bereich des Dramas gestellt, vgl. Marianne Willems: Der Verbrecher als Mensch. Zur Herkunft ‚anthropologi-



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erheben die Geschichten wieder Anspruch auf empirische Realität; sie wollen Wissen über Mensch und Gesellschaft vermitteln. Das Erkennen von Mustern, das zuvor durch die Generalisierung eingeübt wurde, erlaubt jetzt eine neue Lektüre historisch besonderer Fallgeschichten. Damit wäre eine historische Beziehung zwischen den frühen Hamburger Kriminalgeschichten und den Texten hergestellt, mit denen das Forschungsprojekt von Jörg Schönert in Hamburg seine Untersuchungen über Literatur und Kriminalität begann. Diese Ausführungen hätten damit ihren Ausgangspunkt erreicht und könnten schließen, wenn da nicht noch das andere Teilsystem wäre, das die Relationes Curiosae ins Spiel brachten. Insofern stellt sich die Frage, ob es eine journalistische Alternative zur Literarisierung der ‚Moralischen Wochenschriften‘ gab. Die Antwort lautet ja. Eine spezifisch publizistische Fortsetzung von Happels Zeitschrift hat David Faßmann (1683–1742) mit seinerzeit außerordentlichem Erfolg geliefert; er gehört zweifellos zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts. Von seinen Gesprächen im Reiche derer Todten erschienen zwischen 1718 und 1739 nicht weniger als 240 Folgen („Entrevuen“), die jeweils einen Umfang von 70 bis 80 Quartseiten und eine Auflagenhöhe von 3.000 bis 15.000 Exemplaren hatten.51 Mit diesem Periodikum setzte Faßmann die Tradition der Kompilation fort, indem auch er kein neues, sondern nur aufbereitetes Wissen (‚Sekundärliteratur‘) verbreitete, allerdings mit thematischer Engführung. Bei ihm erzählen sich immer zwei bekannte Personen aus der Historie (Könige, Minister, Feldherren, Gelehrte, Mätressen usw.) wechselseitig Begebenheiten aus ihren Lebensgeschichten, was Gelegenheit zu allerlei Exkursen bietet. Mit dem literarischen Muster der Totengespräche findet Faßmann eine Lösung für das Erzählproblem; der Dialog ersetzt die durchgängige Narration. Da sich im Totenreich eine strategische Kommunikation erübrigt, kann relativ unverstellt gesprochen werden.52 Anders als bei Lukian oder Fontenelle geht es bei Faßmann vorrangig um eine Vermittlung, ja um eine Popularisierung historischen Wissens, deshalb sind seine Texte auch weit umfangreicher. Zudem geht es um eine Medienreflexion. Am Ende jeder Entrevue bringt ein Zeitungsbote Nachrichten aus dem Reiche der Lebenden, die den Toten Stoff zur Unterhaltung liefern. Dieses scher‘ Deutungsmuster der Kriminalgeschichten des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 14 (2002), S. 23–48. 51  Einen Überblick gibt: Ulrich Schmidt: Gespräche im Reiche derer Todten (1718–1738). In: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts. Pullach 1973, S. 49–59; vgl. auch Manuel Baumann: Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart. München 2002. 52  Die Zensur entfiel keineswegs, wie Faßmann am eigenen Leibe erfahren musste.

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erfolgreiche Muster wurde umgehend von der Kriminalliteratur genutzt. Zeitgleich traten 1722 gleich zwei Reihen von Gesprächen im Reiche der Todten unter den Spitzbuben an die Öffentlichkeit, die ältere aktenmäßige Darstellungen mit ihren Auflistungen von Delikten publizistisch aufbereiteten.53 Damit setzte eine stärkere Zurechung von Delikten auf Personen ein, bevor es zu einer psychologischen oder anthropologischen Motivation der Taten kam. Im Unterschied zur englischen54 zeigte die deutsche Literatur damals kein Interesse an einer Annäherung an den Journalismus. Entsprechend gründlich wurde Faßmann in Deutschland vergessen.

53  Vgl. Holger Dainat: Gespräche im Reiche der Toten unter den Spitzbuben. Literarische Bilder krimineller Karrieren im frühen 18. Jahrhundert. In: Härter / Sälter / Wiebel (Hg.): Repräsentationen von Kriminalität (Anm. 37), S. 309–340. 54  Man denke nur an Daniel Defoe, dessen Geschichte John Sheppards (1724) umgehend ins Deutsche übersetzt wurde: Des Berüchtigten Spitz-Buben in Londen John Sheppards, Lasterhafftes Leben und Schändliches Ende. Aus dem Englischen in das Teutsche übersetzet. o. O. 1725.

Die Sichtbarkeit der Folter. Zur Fallgeschichte Nickel List und seine Gesellen Von Thomas Weitin I. Gewalt der Archive Körperliche Gewalt zu protokollieren und zu den Akten zu bringen war im Strafrecht alltägliche Praxis, solange die Folter als legales Mittel zur Beweiserzwingung eingesetzt wurde. Gerichtsarchive entschieden als Orte solcher Aufzeichnungen über die Sichtbarkeit von Gewalt. Was mit dem Körper geschieht, hielten sie stets nur so ausschnitthaft fest, wie es das jeweilige Verfahren verlangte. In dem Fall, den ich im Folgenden exemplarisch untersuchen will, wurde beispielsweise nur das Verhalten der Gefolterten, nicht aber das des Gewalt ausübenden Scharfrichters protokolliert1. Dass wir überhaupt von ‚Fällen‘ sprechen können, verdankt sich der doppelten Gewalt der Archive. Sie wirkt nach innen in Gestalt der Entscheidung, was zu den Akten genommen wird und was nicht, und sie ist außenwirksam, wenn aus dem Archiv heraus wiederum selektiv ein Aktenbericht für die Öffentlichkeit verfasst wird. Der ‚aktenmäßige Bericht‘ bringt die einzelnen formaljuristischen Schriftstücke – Protokolle, schriftliche Geständnisse, Urteile – in einen narrativen Zusammenhang. Die populärjuristischen Sammlungen von Kriminalrechtsfällen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten, bedienten sich vielfach solcher Berichte oder nannten sich selbst ‚aktenmäßige Darstellungen‘2. Während sie abgeschlossene Fälle referierten, machte es die Form des schriftlichen Inquisitionsprozesses bereits innerhalb des Verfahrens notwendig, aus Akten Erzählungen werden zu lassen. Bei Kapitalverbrechen musste sich das Untersuchungsgericht in der Regel darauf beschränken, alle Beweise schriftlich aufzunehmen und dann an eine Oberinstanz zu senden, die allein nach Aktenlage entschied. Vorbereitet wurde das Urteil des höheren Gerichts durch sogenannte ‚Relationen‘. Darunter verstanden die Juristen die Zusam1  Vgl. Uwe Danker: Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1988, S. 548, Anm. 103. 2  Berühmt wurde zum Beispiel Paul Johann Anselm Feuerbachs Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen (1827 / 1829).

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menfassung des jeweiligen Falles, die ein Mitglied des Gerichts für seine Kollegen zur Urteilsfindung zu verfassen und in der entscheidenden Sitzung zu referieren hatte.3 Im Mittelpunkt der Relationen steht die Darstellung des jeweiligen Sachverhalts, die als „Geschichtserzählung“ bezeichnet wurde.4 Darin steckt historisch gesehen der erzählerische Kern des Strafrechts. Die Relationen waren Vorbilder für die juristischen Fallsammlungen, die wiederum die Entwicklung der Kriminalliteratur entscheidend beeinflussten. Als ein Hybrid zwischen Literatur und Recht waren die Fallsammlungen populär wegen des allgemeinen Interesses am Phänomen von Verbrechen und Kriminalität. Sie vermittelten zwischen gelehrtem Recht und öffent­ licher Moral und boten ein Forum für die rechtspolitischen Diskussionen nach der Aufklärung, die sich mit den gesellschaftlichen Ursachen von Delinquenz und mit den angemessenen Formen des Strafverfahrens und des Strafvollzugs beschäftigten. Das jahrhundertealte Beweismittel der Folter wurde dabei besonders intensiv diskutiert, stand es doch im Brennpunkt der über das reine Recht hinausweisenden Frage nach Verfahrens- und Strafgerechtigkeit. Ich habe einen Fall ausgewählt, an dem ich deutlich machen will, wie die Folter in diesem populären Medium erscheint und sichtbar wird. Es handelt sich um die berühmte Geschichte vom Räuber Nickel List und seinen Gesellen, die Friedrich Schiller als eine Quelle für seine Räuber diente. Julius Eduard Hitzig und Willibald Alexis nahmen sie 1843 in ihren Neuen Pitaval auf.5 Erstmals publik geworden waren die zugrunde liegenden Ereignisse aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg dank eines Aktenberichts von Pastor Sigismund Hosmann, der als Gefängnisgeistlicher für die in Celle inhaftierten Räuber zuständig gewesen war. Er nannte seine 1700 erschienene Schrift Fürtreffliches Denck=Mahl Der Göttlichen Regierung und unterstrich damit die Bedeutung der erfolgreichen Strafverfolgung. Die 3  Vgl. Wolfgang Schild: Relationen und Referierkunst. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991, S. 159–176, hier S. 165. 4  Justus Claproth: Grundsäze von Verfertigung der Relationen aus Gerichts­acten. 4. vermehrte u. verbesserte Auflage. Göttingen 1789, S. 12 u. a. 5  Die Vermutung der Pitaval-Herausgeber, der Fall Nickel List sei das Vorbild für Schillers Räuber gewesen (Julius Eduard Hitzig / Wilhelm Häring: Nickel List und seine Gesellen. In: Dies. (Hg.): Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit. Bd. 3. Leipzig 1843, S. 247–387, hier S. 357), konnte die Forschung bestätigen (Günther Kraft: Historische Studien zu Schillers Schauspiel „Die Räuber“. Weimar 1959, S. 89; Dorothy Hewlett: A Life of John Keats. New York 1950, S. 237). Detailliert nachgegangen wurde dem Quellenzusammenhang bislang jedoch nicht. In den historischkritischen Werkausgaben findet er nicht einmal Erwähnung.



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Räuberbande hatte vor allem durch den Raub der Goldenen Tafel aus der Kirche St. Michael in Lüneburg europaweit für Aufsehen gesorgt. Ihre Mitglieder wurden in verschiedenen deutschen Ländern festgenommen, nach Celle überstellt und dort fast ausnahmslos aufgrund erfolterter Geständnisse hingerichtet. Die Fallgeschichte im Neuen Pitaval entspricht weitgehend dem Aktenbericht Hosmanns, zu dem die Herausgeber jedoch zugleich auf Distanz gehen. Sie verstehen sich als Rechtsaufklärer. Sie schreiben aus einer bereits bürgerlichen Epoche heraus – nach der Abschaffung der Folter –, während für Hosmann die gewaltsame Geständniserpressung noch selbstverständ­ licher Teil des Verfahrens ist. Hosmann, den Hitzig und Häring mit der korrekten juristischen Terminologie „unser[en] Berichterstatter“ oder „Referent[en]“ nennen,6 hatte seinen Bericht vor allem auf der Grundlage von Verhör- und Folterprotokollen verfasst. Einerseits folgen ihm die Pitaval-Herausgeber in der Schilderung der Ermittlungs- und Prozessgeschichte sowie in der Beschreibung der einzelnen Bandenmitglieder und ihrer Lebensläufe ganz genau. Andererseits erscheint er als Vertreter einer bereits kurios anmutenden Vormoderne. Friedrich Avé-Lallements vierbändiges Standardwerk Das deutsche Gaunerthum (1858), das erstmals den Versuch unternahm, die ‚Gaunerliteratur‘ nach Gattungen zu unterscheiden, nennt Hosmanns Bericht unter der Rubrik ‚Relationen‘ an erster Stelle.7 Dass Hosmann tatsächlich „als erstes Zeugnis für die erzählte Kriminalität“8 einzustufen ist, wie manche meinen, ist angesichts der großen Zahl konkurrierender Quellen auf diesem Gebiet zu bezweifeln. Offensichtlich aber ist das Werk, das bis 1733 in sechs Auflagen erschien, ein Verkaufserfolg gewesen und hat die Geschichte von Nickel List und seinem spektakulärsten Raub entscheidend popularisiert. Prototypisch ist Hosmann für die Quellengattung ‚aktenmäßige Darstellung‘, weil sein Text die charakteristische Spannung zwischen tatsächlichem Aktenbericht und erzählerischer Ausgestaltung aufweist. Im Umgang mit den Akten war er sehr genau,9 und doch folgte der Theologe in seiner Darstellung ganz eigenen Interessen, die mit 6  Hitzig / Häring:

Nickel List (Anm. 5), S. 353, 375. Friedrich Christian Benedict Avé-Lallement: Das Deutsche Gaunerthum in seiner social-politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande. Erster Theil. Leipzig 1858, S. 221. 8  Ernst Schubert: Der berühmteste Kirchenraub der deutschen Kriminalgeschichte. Der Raub der Lüneburger Goldenen Tafel 1698. In: Sabine Arend u. a. (Hg.): Vielfalt und Aktualität des Mittelalters. Festschrift für Wolfgang Petke zum 65. Geburtstag. Bielefeld 2006, S. 461–486, hier S. 462. 9  Das hat Danker im Vergleich mit den Prozessakten im Staatsarchiv Hannover und im Braunschweiger Stadtarchiv nachgewiesen (vgl. Danker: Räuberbanden im Alten Reich (Anm. 1), S. 30). 7  Vgl.

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seinem geistlichen Amt zu tun hatten. Er musste die ihm anvertrauten Räuber rechtzeitig zur Hinrichtung in reuige Sünder verwandeln. Darauf möchte ich mich jetzt konzentrieren. Ich möchte an diesem Beispiel den für die Sichtbarkeit der Folter zentralen Zusammenhang zwischen physischer und geistiger Gewalt demonstrieren, der hier konkret als geistliche Gewalt fassbar wird. II. Geistliche Gewalt In unserem vorliegenden Fall ist die Folter als Instrument zur Überführung der beschuldigten Räuber von kardinaler Bedeutung. Und Pastor Hosmann wirkt dabei direkt mit. Als der zuständige Gefängnisgeistliche der in Celle inhaftierten Räuber veranstaltete er regelmäßige Betstunden, wobei er mit einem katholischen Kollegen um die christliche Reue der verhärteten Gemüter konkurrieren musste. Die „schwere Aufgabe“ des Predigers können noch die Pitaval-Herausgeber mit einigem Respekt nachempfinden: „in den unterirdischen Löchern stundenlang auszudauern, im Kampf mit ihrer Verstocktheit, Roheit, ihren gleich herzzerreißenden Flüchen und Jam­ merlauten“.10 Dieses Szenario bezieht sich aber wohl nicht auf eine der Betstunden, für welche die Inhaftierten oft gemeinsam zu dem Geistlichen gebracht wurden. Eher geht es um einen seiner zahlreichen Besuche im Foltergewölbe, bei denen er der eigenen Darstellung nach keineswegs tröstlichen Beistand spendete, sondern den physischen durch psychischen Druck zu verstärken half, um Aussagen zu erpressen. „Ich ging also zu ihm / da ihm eben das Instrument wieder abgenommen war / und fand ihm mit gar kläglichen Geberden und angstlichen Winseln auff den Streu sitzen. So bald er mich erblickte  /  bath er um Trost. Ich verkündigte ihm an dessen Statt die Göttliche Gerichte / die er mit allergrößter Hartnäckigkeit gegen sich recht heraus forderte  /  da er die Dinge ableugnete  /  dero er durch soviel Zeugen und Merckmahle überwiesen wäre. Der HErr würde ihn noch härter straffen / wann er sein Hertz noch länger verstockte.“11

Der Einsatz des Geistlichen ist dem juristischen Verfahren nicht äußerlich. Er ist vielmehr eine entscheidende Größe, wenn es darum geht, reale und imaginäre Gewalt gemeinsam zu maximieren. Das wiederum bedeutet nicht, dass er die Folter ohne Bedacht unterstützt und mitträgt. An der Stelle, da Hosmann in seinem Aktenbericht auf die erste peinliche Befragung [torture] eines Mitglieds der Bande zu sprechen kommt, unterbricht er die chronologische Darstellung. Er setzt sich mit einer folterkritischen Abhand10  Hitzig / Häring:

Nickel List (Anm. 5), S. 355. Hosmann: Fürtreffliches Denck-Mahl Der Göttlichen Regierung. 5. Auflage. Leipzig / Zelle 1718, 2. Teil, S. 71. 11  Sigismund



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lung Jacob Schallers auseinander, die bereits 1657 argumentiert hatte, dass die Folter aus christlichen Staaten verbannt werden müsse. Scholastisch wird jedes Argument des Straßburger Theologieprofessors Schaller einzeln widerlegt, wobei der Schwerpunkt auf dem Gedanken der Bekämpfung von Verbrechen im Dienste der Allgemeinheit liegt. Dem Eindruck, die Folter sei eine Maßnahme ohne „Proportion“, hält Hosmann entgegen, sie ziele auf eine Wahrheit, von der oft das Wohl des ganzen Landes abhänge („Warheit / daran offt eines ganzen Landes Heyl und Wohlfarth hanget“12). Die Wahrheitsermittlung im Interesse der Sicherheit des Landes dürfe nicht dadurch gefährdet werden, dass ein Einzelner die Aussage verweigert. Er betont andererseits, dass der Einzelne nicht schutzlos sei, da die in Celle noch angewandte Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Carolina) bestimmt habe, niemanden ohne hinreichende Verdachtsmomente zu foltern. Bei Verstößen gegen diesen Grundsatz sei es verboten, die durch Folter erlangten Geständnisse zu verwenden.13 Diese Einschätzung des Geistlichen deckt sich mit dem etablierten Grundsatz des Inquisitionsprozesses, erst bei der Ermittlung eines ‚halben‘ Beweises von der General- zur Spezialinquisition überzugehen, die zum Einsatz der Folter berechtigte.14 Hosmann erwähnt die gleichermaßen durch das Alte Testament15 und die Carolina16 legitimierte Praxis, Todesurteile nur auf der Basis zweier Zeugenaussagen zu fällen („auf zweener Zeugen Aussage das Urtheil des Todes“). Dagegen wendet er ein, dass es sich immer um falsche Zeugen handeln könne, und führt die Zeugen gegen Jesus als Beispiel an („Die Zeugen / die wider Christum aufstunden / waren solche.“).17 Die Folter hält Hosmann im Vergleich mit den Zeugen für ein sichereres Wahrheitsmittel, das freilich „mit Vernunft“ im rechten Maß gebraucht werden müsse. Der Richter solle sorgfältig vorgehen und die Schranken des Gesetzes beachten („mit aller Sorgfalt in seinen Schrancken bleibe[n]“).18 12  Ebd.,

1. Teil, S. 71. der Carolina heißt es zu Artikel 20: „Das on redliche anzeygung niemant soll peinlich gefragt werden“ (Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532. Hg. und erläutert von Gustav Radbruch. 6., durchgesehene Auflage. Hg. von Arthur Kaufmann. Stuttgart 1984, S. 40). Im Folgenden als Carolina zitiert. 14  Vgl. Johann Christian von Quistorp: Grundsätze des deutschen peinlichen Rechts. 5. Auflage. Leipzig / Rostock 1794 [Neudruck: Goldbach 1996], § 667, S. 214. 15  „Auf zweier oder dreier Zeugen Mund soll sterben, wer des Todes wert ist, aber auf nur eines Zeugen und soll er nicht sterben.“ (5. Mose 17,6). 16  In Artikel 67 wird bestimmt, dass „eyn missethat zum wenigsten mit zweyen oder dreien glaubhafftigen guten zeugen, die von eynem waren wissen sagen, bewiesen wirdt“ (Carolina (Anm. 13), S. 59). 17  Hosmann: Fürtreffliches Denck-Mahl (Anm. 11), 2. Teil, S. 85. 18  Ebd., S. 67. 13  In

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Erkennbar ist bei Hosmann das Bemühen, die Folter einzugrenzen und zu verrechtlichen, wozu insbesondere auch gehört, dass nur auf durch Folter erpresste Aussagen hin kein Urteil gefällt werden soll („auf die blosse Folter kein Urtheil schreibet“).19 Die Praxis der Hexenprozesse lehnt er vor diesem Hintergrund als unkontrolliert ab.20 Die Ausführungen des Pastors stehen im denkbar größten Gegensatz zur Verfahrensrealität in Celle. Die Carolina gab nur allgemeine Empfehlungen für die Prozesse, was insbesondere auch für die Folter galt, deren genaue Anwendung dem Ermessen des Richters überlassen blieb. In Celle führte der Ermittlungseifer der Behörden zu einem ungewöhnlich häufigen, jeweils schnellen und rücksichtslosen Gebrauch. Man versuchte, obwohl das nicht erlaubt war, auch Aussagen gegen Dritte oder über andere Delikte zu erzwingen.21 Maß und Schranken einzuhalten, darauf kam es dezidiert nicht an. Als der von der Folter in verschiedenen anderen Verfahren schon abgehärtete Räuber Christian Müller sich beim Scharfrichter erkundigt: „wie viel Gradus er hier hätte“?, erhält er zur Antwort: „man kehrte sich hier an keine Gradus, sondern fragte einen so lange / biß er bekenne“.22 III. Sichtbarkeit und Imagination: „Tortura spiritualis“ Der ungeregelte, rein zielorientierte Einsatz der Folter traf in unserem Fall Delinquenten, die bereits bei anderen Gerichten mit regulierter Tortur Erfahrung gemacht und den Ablauf der Prozeduren genau kennengelernt hatten. Durch diese Einsicht konnten manche eine Taktik entwickeln, den Schmerz auszuhalten. Christian Müller war einer von ihnen. Andern Räubern gegenüber verweist er besonders auf die Bedeutung „gemessene[r] Zeiten“23 für den Gebrauch eines bestimmten Folter-Werkzeugs. Als man ihn in Celle zu foltern beginnt, schaut er „rasch auf den Tisch nach der Uhr, um zu erfahren, ob die gesetzte Zeit für die scharfe Frage [= torture] bald vorüber sei“.24 Um die Gewaltwirkung der Kontrolle der Inquisiten zu entziehen, legten manche Gerichte fest, die Uhr so zu platzieren, dass sie von ihnen nicht einzusehen war.25 Die Celler Verhörbeamten konnten das 19  Ebd.,

S. 68. es anders gemacht / und etwa nur durch die blosse Aussage in der Tortur die Scheiter-Hauffen lassen anstecken / und die armen unsehligen lassen eine Speise des wütende Feuers seyn / mögen wissen / wie sie solches vor dem höchsten RichterStuel weden verantworten […].“ (Ebd., S. 67). 21  Vgl. Danker: Räuberbanden im Alten Reich (Anm. 1), S. 139. 22  Hosmann: Fürtreffliches Denck-Mahl (Anm. 11), 2. Teil, S. 85. 23  Hitzig / Häring: Nickel List (Anm. 5), S. 360. 24  Ebd. 25  Peter Oestmann verdanke ich den Hinweis auf die Hessen=Darmstädtische Peinliche Gerichtsordnung aus dem Jahr 1726, welche in § 6 verlangt, die Folter 20  „Die



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unterlassen, da sie die Folter ohne einsehbare Regeln für Zeit und Härte handhabten. Gegen den renitenten Räuber Müller half dies jedoch wenig. Man erpresste ihm am Ende ein Geständnis, das so unzusammenhängend und von Falschaussagen durchzogen war, dass es kaum verwertbar schien. Ähnlich erging es dem Gericht auch bei anderen Verhören. Jonas Meyer, einer der jüdischen Räuber in der Verbindung, gesteht ebenfalls nur „stückweise“26 und hält entscheidende Informationen zurück. Ein weiterer Beschuldigter widerruft seine erzwungene Aussage hinterher mit dem Hinweis, er habe alles „nur aus Angst“27 bekannt. Ein enger Vertrauter Nickel Lists hält die Daumenschrauben und Zehenschrauben aus und bekennt nach langer Weigerung nur wegen einer irrtümlichen Vorstellung: Er glaubt, das Kaminfeuer im Folterkeller sei die nächste Torturstufe.28 Die spezielle Situation im Celler Prozess, in dem Delinquenten, die mit einer geregelten Anwendung der Folter vertraut waren, einem ungeregelten, archaischen Verfahren unterworfen wurden, lässt die Aporie der Beweiserzwingung in aller Deutlichkeit hervortreten. Wenn man formlos verfuhr und den Delinquenten keinerlei Rechte einräumte – etwa das in einigen partikularrechtlichen Kriminalordnungen garantierte Recht, gegen den Übergang zur Spezialinquisition mit Folter eine anwaltliche Verteidigung führen zu lassen29 –, war ein renitentes Verhalten für die Inquisiten die einzige Chance, einer Verurteilung zu entgehen. Umgekehrt galt, je mehr die körperliche Gewalt geregelt und verrechtlicht wurde, desto durchschaubarer und ineffizienter wurde ihre Anwendung. Wir wissen, dass diese doppelte Ineffizienz der Folter eine wichtige Ursache für ihre Abschaffung gewesen ist. Dieser Zusammenhang wird in der Fallgeschichte im Pitaval viel deut­ licher als in dem aktenmäßigen Bericht Hosmanns, weil die Herausgeber sowohl in der Intensität als auch in der Dauer nach einem „wohl regulirt- und vernünftige[n] Arbitrium“ zu gebrauchen. Dazu gehört die ständige Kontrolle, „wie nach Befinden bei jedem Grad die Pein entweder zu remittiren, oder auch zu intendiren seye“, und die Aufsicht, „daß mit würcklicher Folter nicht leicht über eine Stunde […] angehalten werde“. Gewährleisten soll Letzteres „eine Sand-Uhr“, die so aufzustellen ist, „daß es der Delinquent nicht innen werde“ (Hessen=Darmstädtische Peinliche Gerichtsordnung vom Jahr 1726. Darmstadt 1830, S. 429). Die übliche Zeitbegrenzung betont auch Paul Johann Anselm Feuerbach in seinem Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Rechts, wo es in § 614 heißt: „Eine Stunde ist nach der Praxis die langste Dauer der Tortur.“ (Paul Johann Anselm Feuerbach: Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Rechts. Gießen 1801, S. 483). 26  Hitzig / Häring: Nickel List (Anm. 5), S. 362. 27  Ebd. 28  Vgl. ebd., S. 358. 29  Alexander Ignor: Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz. Paderborn u. a. 2002, S.  121 f.

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beginnen, die verschiedenen Verhöre unter den Gesichtspunkten systematischer Gemeinsamkeiten darzustellen. In dem Maß, wie dabei die bis zur Torturresistenz reichende Widerständigkeit der Gefolterten als Grundproblem der Justiz hervortritt, wird ein weiterer Aspekt erkennbar, der unmittelbar an die Aporie der Regulierung gebunden ist. Die erpresserische Wirkung der Folter beruht darauf, dass der Inquisit nicht weiß, wie lange er ihr ausgesetzt ist, was als nächstes mit ihm geschieht, wie weit man ultimativ gehen wird usw. Dieser notwendigen Ungewissheit muss die Regulierung, sofern sie nicht völlig verborgen bleiben kann, immer entgegenstehen. Umgekehrt wusste man aber, dass zur Wirkung von Gewalt immer die Einbildungskraft entscheidend beiträgt. Das versuchte man zu nutzen. Die PitavalHerausgeber sprechen von der „eigenthümliche[n] Beobachtung“, dass besonders hartnäckige Delinquenten, die im geregelten Verfahren alle Grade der Tortur erduldet hatten, in Celle zum Geständnis gedrängt werden konnten, wenn ihnen Gefolterte vorgeführt wurden.30 Der „Anblick der Folter selbst“ sei für sie „nicht so schreckhaft“ gewesen wie „die Confrontation mit andern Verbrechern, welche sie schon überstanden hatten“.31 Diese Praxis der Konfrontation kam häufig zum Einsatz, wobei nicht in jedem Fall der Anblick anderer, sondern auch der bloße Hinweis oder die Annahme, dieser oder jener habe unter der Folter gestanden oder könne gestehen, zur Einschüchterung genutzt wurde. Gegenüber der rein physischen Gewalt erwies sich die psychische Pression, der verbale Druck vor dem Hintergrund bedrohlicher Vorstellungen, als weit effektiver. Die Verhaftung Nickel Lists ließ das offenbar werden. List wurde gemeinsam mit anderen in Hof festgenommen und legte dort nach dem ersten Grad der Tortur ein umfassendes Geständnis ab. Während des schwer bewachten Transports nach Celle, so lesen wir bei Hosmann, „entsetzten“ sich die noch ungeständigen Mithäftlinge „alle bey seiner Erblickung“.32 Selbst Andreas Schwartze, sein engster Vertrauter, leugnet, ihn zu kennen, woraufhin List ihm entgegenhält: Wenn er erst durch die Folter blaue Daumen bekommen haben werde, werde er sich seiner sicher erinnern („Ach! Du guter Kerl / wie wol kennest du mich: Wann du aber auch erst die blauen Daumen […] wirst bekommen haben / so wirst du mich auch wol kennen / und ganz anders reden.“33). Es scheint, als agiere das geständige Oberhaupt der Räuberverbindung nun seinerseits in der Sprechposition eines Inquirenten, der im verständnisvollsten Ton doch nichts anderes als Territion betreibt: Über seinen Körper 30  Hitzig / Häring: 31  Ebd.

32  Hosmann: 33  Ebd.

Nickel List (Anm. 5), S. 376.

Fürtreffliches Denck-Mahl (Anm. 11), 1. Teil, S. 139.



Die Sichtbarkeit der Folter225

droht er indirekt mit den Instrumenten. Das ist rechtshistorisch nicht uninteressant und zeigt Folgendes: Die „fortgeschrittene Humanität“34, die die aufgeklärten Pitaval-Herausgeber gegenüber dem Zeitalter Hosmanns in Anspruch nehmen, bedeutete vor allem eine Transformation der physischen in verbale und imaginäre Gewalt. Engagierte Reformjuristen wie Aloys Kleinschrod verwendeten dafür den Begriff der „Geistestortur“ und gaben nach der Abschaffung der Folter den Untersuchungsrichtern „Klugheitsregeln“ an die Hand, die detailliert beschreiben, wie die nicht mehr statthafte physische Gewalt in den psychischen Druck des harten Verhörs zu übersetzen war.35 In den entsprechenden Schriften wird explizit eingeräumt, dass das harte Verhör „einige Analogie mit der Tortur“36 besitzt. Im aufgeklärten Preußen wurde die Analogie von Folter und Verhör durch ein Edikt des Königs hergestellt, das drei Monate nach der endgültigen Abschaffung der Folter gebot, die Abschaffung geheim zu halten,37 um weiter wirkungsvoll mit den Instrumenten drohen zu können. Zur Transformation von physischer in verbale Gewalt gehört auch jene Analogie, die Immanuel Kant in seiner Rechtslehre zwischen dem körperlichen Zwangsmittel der Folter und dem geistigen Aufrichtigkeitszwang des Eides herstellt. Kant, der sich ebenso gegen die Folter wie für die Territion aussprach,38 steht dem Eid eigentlich ablehnend gegenüber, weil der Zwang zum Eid in seinen Augen der bürgerlichen Freiheit widerspricht.39 Er hält ihn jedoch für ein unentbehrliches „Notmittel“ der Rechtsverwaltung, weil andernfalls die Gerichtshöfe nicht ausreichend im Stande wären, geheim gehaltene Fakten zu ermitteln und 34  Hitzig / Häring:

Nickel List (Anm. 5), S. 300. Alloys Kleinschrod: Ueber die Rechte, Pflichten und Klugheitsregeln des Richters bey peinlichen Verhören und der Erforschung der Wahrheit in pein­ lichen Fällen. In: Archiv des Criminalrechts. Hg. von Ernst Ferdinand Klein und Gallus Alloys Kleinschrod. Bd. 1, zweites Stück. Halle 1799, S. 76–113, hier S. 79. 36  Ebd. 37  Vgl. dazu: Thomas Weitin: Die Ökonomie der Folter. In: Thomas Macho / Karin Harrasser / Burkhardt Wolf (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes. München 2007, S. 277–289, hier S. 281. 38  „Es kann niemand gestraft werden als nach bewiesenem Verbrechen. Also kann er nicht torquiert werden. Aber territio findet statt.“ (Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. von der Akademie der Wissenschaften. Berlin / Leipzig 1934, Bd. 19, S. 413). 39  Vgl. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 8. Frankfurt a. M. 1977, S. 421. Vgl. zum Kontext der Haltung Kants zum Eid: Marcus Twellmann: Volksaufklärung im Recht? Am Rand einer Anekdote. In: Peter Friedrich / Manfred Schneider (Hg.): Fatale Sprachen. Eid und Fluch in Literatur- und Rechtsgeschichte. München 2009, S. 219–225 (Abschnitt 7: Der kantische Einschnitt). Vgl. dazu auch: Marcus Twellmann: Der (Anti-)Juridismus der reinen Vernunft. Zur Rechtsmetaphorik bei Kant. In: Weimarer Beiträge 55 (2009), S. 413–429. 35  Gallus

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Recht zu sprechen. Den Gerichten wird deshalb zugestanden, „diesen Geisteszwang (tortura spiritualis) […] zu gebrauchen“.40 IV. Schlussfolgerung Unser Fall zeigt, dass die „tortura spiritualis“ nicht erst eine Errungenschaft der Aufklärung gewesen ist, die nach der Abschaffung der physischen Tortur einen milderen Ersatz schuf. Sie gehörte als integraler Bestandteil bereits zur gewaltsamen Beweiserzwingung im Inquisitionsprozess seit der Frühen Neuzeit. Im Alltagsverständnis der Frühen Neuzeit standen physische und imaginäre Gewalt in engem Zusammenhang. Eine lebendige kollektive Imagination war als feste Gewaltinstanz etabliert. Monika Mommertz hat daher dafür plädiert, die imaginative Gewalt systematisch in die Gewaltforschung zu integrieren.41 Das möchte ich unterstützen und zugleich die Erweiterung der Analyse um eine dritte Dimension anregen. Gewalt muss ihrer dreifachen Wirkung nach als reale, imaginäre und symbolische untersucht werden. Diese drei Dimensionen gehören zu der Transformation, von der ich gesprochen habe. Im Wirken von Pastor Hosmann bei den Ermittlungen gegen Nickel List und seine Gesellen konnten wir die Folter als einen Gewaltkomplex beobachten, der immer zur Verrechtlichung in Spannung stand und durch den zentralen Aspekt der Verfahrensgerechtigkeit immer auch eine Moralfrage war, der weiterhin nie auf das Körperliche beschränkt gewesen ist und daher über die vermeintliche Abschaffung hinaus insistiert hat. Zur „tortura spiritualis“ gehören jedoch nicht nur imaginäre Drohszenarien, die die Ausübung realer physischer Gewalt begleiten oder an ihre Stelle treten. Dazu gehört, das Rechtsinstitut des Eides ist ein Beispiel dafür, auch die Übertragung der Gewalt in die symbolische Macht der Sprache und des Sprachhandelns (Performanz). Je besser es gelingt, die Abschaffung der Folter mit einem solchen komplexen Gewaltbegriff zu untersuchen, desto größer ist der Nutzen der historischen Analyse auch für die aktuelle Debatte um die Wiederkehr der Folter.

40  Kant:

Metaphysik der Sitten (Anm. 39), S. 421. Mommertz: „Imaginative Gewalt“ – praxe(m)ologische Überlegungen zu einer vernachlässigten Gewaltform. In: Claudia Ulbrich / Claudia Jarzebowski / Michaela Hohkamp (Hg.): Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD. Berlin 2005, S. 343–357, hier S. 345. 41  Monika

II. Zur Konkurrenz von Recht und Moral

‚Freie Rechtslehrer‘ und Rechtsreformziele in der Vernetzung von Moral und Rechtswidrigkeit Von John A. McCarthy I. Justiziabilität und Rechtsdiskurs. Neuzeitliche Inszenierungsversuche bis zur Gegenwart Seit der Antike verhandelt die Weltliteratur in großer Zahl Konfliktfälle von Rechts- und Normverletzungen, und es fasziniert festzustellen, wie genau und facettenreich die Dichter auf die Rechts- und Schuldproblematik eingegangen sind.1 Jörg Schönert wies in bahnbrechenden Publikationen zur narrativen Darstellung von Verbrechen und Strafverfolgung als Teilsystemen des Sozialsystems ‚Gesellschaft‘ darauf hin.2 In seine Fußstapfen sind andere mit Einzelstudien zur Geschichte der Rechtskultur getreten, insbesondere zur Unterscheidung von Tat- und Charakterschuld, zu Parallelen in der juristischen und literarischen Publizistik, zu Rechtsverfahren, sozialen Interaktionsmustern und Wertvorstellungen, die zur Neubestimmung der mildernden Umstände bei der Bewertung von Delinquenten geführt haben. Mit Justitiabilität und Rechtmäßigkeit hat Claude Conter das Augenmerk besonders auf Literatur und Film der Moderne gelenkt.3 In seinem Sammelband ist die drastische Erweiterung des medialen Wahrnehmungsraums für kriminalistische Inhalte erkennbar. Anne Mullen und Emer O’Beirne lenkten die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Rolle des Inspektors und Detektivs im europäischen medialen Raum nach 1945. Als neu heben sie dabei die Einladung an das mitdenkende Publikum hervor, aktiv an der Interpretation der Tatorte mitzuwirken.4 Bezüglich der Rechtsfalldarstellungen vor allem 1  Ulrich Mölk (Hg.): Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart. Göttingen 1996. 2  Jörg Schönert (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850–1880. Tübingen 1983; Ders. (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991. 3  Claude D. Conter (Hg.): Justitiabilität und Rechtmäßigkeit. Verrechtlichungsprozesse von Literatur und Film in der Moderne. Amsterdam 2010. 4  Anne Mullen / Emer O’Beirne (Hg.): Crime Scenes. Detective Narratives in European Culture since 1945. Amsterdam / New York 2000.

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im 20. Jahrhundert ist schließlich das Themendoppelheft Recht, sachlich in der Zeitschrift Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen zu nennen. Es enthält eine Reihe einschlägiger Studien zu Themen wie „die juristische Textur als literarische Kunstform“, dem (Ver-)mittler zwischen Recht und Literatur im breiteren Rechtsdiskurs als „dem unsichtbaren Dritten“, dem Rechtsratgeber und Grundformen des Sachbuchs. Unternehmen wie der Wiederbelebungsversuch des Pitaval und des Neuen Pitaval durch Rudolf Leonhards Buchreihe Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart und deren Übergang in Filmmedien hebt Alexander Košenina besonders hervor.5 Die öffentliche Mediensphäre hat sich enorm erweitert. 1. Die öffentliche Sphäre als übergeordneter Raum Weil die Justiziabilitätsthematik für alle Menschen von Belang ist, müsste der diskursive Freiraum allen Interessierten zugänglich sein, egal wo man selbst verankert ist. Die Redefreiheit bzw. Pressefreiheit ist deshalb „das wahre Palladium der Menschheit“ (Wieland, Nachweis s. u.), denn durch die interlokale Kommunikation in einem Bereich frei von lokalen Restriktionen, Vorurteilen und politisch-sozialen Praktiken kann der Mensch im geselligen Gedankenaustausch seine Fähigkeiten entwickeln. Allerdings müsste dieser übergeordnete Raum möglichst ideologiefrei sein; das heißt objektiv wertend. Ideologien maskieren nämlich einen Ermächtigungstrieb, so Friedrich Dürrenmatt in seinem Essay Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht (1969).6 Gegenüber dem Freiheitspostulat des Individuums räumt er den Vorrang der Gerechtigkeit ein. Die Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen staatlicher Ordnung und einem humanen gesellschaftlichen Umgang, ist ein Leitmotiv in seinen Werken, die die öffentliche Diskussion jahrzehntelang literarisch mitgeprägt hatten. Die Faszination von Kriminalität und Justiz findet in vielen Fernsehserien und publikumswirksamen Filmen eine unübersehbare Breitenwirkung. Zum einem geht es um forensische Genauigkeit (etwa Murder by Numbers, The Lovely Bones, Sherlock Holmes oder Fernsehformate wie die zahlreichen Tatort-Serien oder CSI-Nachahmungen), zum anderen um psychologische Sensibilisierung der Zuschauer der Verbrechermentalität gegenüber (Silence of the Lambs, Criminal Minds), zum dritten um die Justizpraktiken selbst (A Few Good Men, The Pelican Brief, Boston Legal). Zu fragen ist, wohin diese Dominanz in der Öffentlichkeit führt? Wird die Häufigkeit kriminellen Verhaltens reduziert? Nimmt 5  Alexander Košenina: Juristische Fallgeschichte: Theodor Lessings Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs (1925). In: Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen 3 (2008), H.  1 / 2 [Recht, sachlich], S. 83–94. 6  Dürrenmatt’s Essays. Introduction by Brian Evenson, http: /  / www.press.uchi cago.edu / books / durrenmatt / vol3_introduction.html.



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die Rechtsausübung ein humaneres Gesicht an? Wird die Gesetzgebung gerechter? Das sind Leitfragen seit der europäischen Aufklärung, der eigentlichen Umbruchszeit der Rechtskultur zwischen 1690 und 1815, die zugleich einen Umbruch im öffentlichen Diskursraum erlebte. Die Ursprünge der modernen öffentlichen Sphäre liegen im 18. Jahrhundert und stehen im Zeichen bürgerlicher Tugendideale wie Mäßigkeit, Toleranz, Nächstenliebe und Nächstendienst; dieser übergeordnete Raum war in seinen ersten Entwicklungsphasen also durch und durch utopisch und von moralisch-sittlichen Vorstellungen getragen, auch wenn ökonomische Faktoren unleugbar mitgewirkt haben. Ihre Leitparole war der delphische Spruch: „Erkenne dich selbst!“ Die Frage der Menschen- und Selbstkenntnis gehörte zur aufklärerischen Tagesordnung. Der freie Wille galt als essentieller Bestandteil dieser übergeordneten ideologiefreien Diskursebene und diente zur Absicherung einer „heilen“ Welt. Kants Auffassung des Menschen als Vernunftwesen war letztlich eine Glaubensangelegenheit, nicht weniger als der freie Wille. Dieser Kommunikationsraum im 18. Jahrhundert unterschied sich von unserer zeitgenössischen Situation hinsichtlich seiner Reichweite und kritischen Resonanz und war auch inhaltlich anders geartet als die Repräsentationssphäre des vorausgehenden absolutistischen 17. Jahrhunderts. Ziel der Repräsentation jener Epoche war die Machtausübung, war die Projektion von Autoritätsansprüchen. Damals ging es um die Festigung von dynastischen Machtansprüchen (z.  B. der Bourbonen, der Habsburger). Zudem hatte der Repräsentationsraum des 17. Jahrhunderts ein bekanntes Zielpublikum. Neu war im 18. Jahrhundert die im Entstehen begriffene bürgerliche Öffentlichkeit, getragen zunächst von patriotisch gesinnten Individuen, die im Dienst der Nation handelten und im Interesse der ganzen Menschheit sprachen. Sie gründeten „patriotische Gesellschaften“, gaben Zeitschriften heraus wie Der Patriot und Der Mensch. Die allgemein menschlichen Anlagen des anonymen Zielpublikums sollten nicht nur geschützt, sondern auch gefördert werden. Diesbezüglich ist die Schlussfolgerung Friedrich Schillers in seiner Jenaer Vorlesung über die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon gegen Endes des Jahrhunderts bemerkenswert: „ [d]er Charakter eines ganzen Volks“ sei „der treueste Abdruck seiner Gesetze und also auch der sicherste Richter ihres Werts oder Unwerts“.7 Im folgenden 19. Jahrhundert herrschte ein inzwischen fest etabliertes bürgerliches soziales Bewusstseinssystem und der Rechtsdiskurs erreichte immer weitere Kreise. Aber der kritische Diskurs selbst wurde von ökono7  Friedrich Schiller: Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Peter André Alt. Bd. 4. München 2004, S. 805–36, hier S. 833.

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mischen und marktbedingten Unterhaltungsabsichten beinahe übertönt. Zwar spielten die Ansprüche des Bildungsbürgertums noch eine entscheidende Rolle, da sie ein Faktor bei der Entstehung einer breiteren selbstbewussten Urteilsfähigkeit waren. Dennoch wurde im Gegensatz zum Aufklärungszeitalter, wo die Suche nach Wahrheit dominerte, der Besitz von Wahrheit und Gewissheit ausschlaggebend. Eigentum eines geistigen Inhalts wurde selbst zum Problem in einer zunehmenden Überflussgesellschaft, wo die Gewalt der Bedürfnisse die Wunschvorstellungen stark mitprägte.8 Somit scheint eine Ausdifferenzierung von Bedürfnissen und Wünschen erforderlich, d. h. die Unterscheidung zwischen dem, was lebensnotwendig bzw. lebensfördernd und dem, was lebensvermindernd ist. Die zweifache Forderung an die Literatur (inzwischen auch an die neuen Medien) – prodesse und delectare – könnte also dabei helfen, um die Ausgangsbasis der aufklärerischen öffentlichen Sphäre zu rekonstituieren. Als Produkt, nicht bloßes Projekt einzelner Intellektueller wurde der übergeordnete offene Diskursraum als soziale Werteordnung autonom, institutionalisiert sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts als öffentliche Sphäre immer mehr heraus und verlor dabei seine ursprüngliche Neuheit. Wie die Rechtsordnung das Ergebnis vergangener Praktiken und Vereinbarungen ist, ist es auch die soziale Ordnung. Schiller hatte Ende des 18. Jahrhunderts auf dieses Phänomen in seiner paradigmatischen Darstellung der Gesetzgebung des Lykurgus und des Solon emphatisch hingewiesen. 2. Strukturwandel der Öffentlichkeit und Justiziabilität Es vollzog sich also ein Strukturwandel der Öffentlichkeit9 in Paradigmenwechseln um 1700, 1800, 1900 und 2000. Anfangs drängte eine neue Empirie das hermeneutische Weltbild der Theologen vom Feld; das Individuum gewann durch eine neue philosophische Anthropologie an Individualität und Autonomie. Der Säkularisationsprozess schritt voran; Menschenwürde und Menschenrechte wurden zu Leitbildern. Der Mensch verstand sich zunehmend als Staatsbürger. Um 1800 zeichneten sich psychologische Impulse ab, welche das durch optimistische Vernunft- und Ordnungsideale bedingte Menschenbild erneut hinterfragten. Die fortschreitende Instrumentalisierung der Vernunft begünstigte die zunehmende Vormachtstellung der angewandten Wissenschaften. Die Professionalisierung der Disziplinen, mit 8  Vgl. John A. McCarthy: Literatur als Eigentum: Urheberrechtliche Aspekte der Buchhandelsrevolution. In: MLN 103 (1989), S. 531–535. 9  Vgl. Jürgen Habermas‘: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962) und die lang anhaltende Debatte um das Buch.



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ihren eigenen übergeordneten Diskursräumen, verlieh der intellektuellen Landschaft neues Profil. Somit konnten um 1900, als alle vorhergehenden Tendenzen zusammentrafen, die kriminologischen Forensiker als die neuen Priester von Wahrheit und Gewissheit erscheinen. Sherlock Holmes machte international Karriere. Um 2000 uferte die Forensik aus und beherrschte die Szene. Man kann sie durchaus als direktes Erbe der instrumentalisierten Vernunft betrachten. Neben den Glauben an ein göttlich geordnetes Universum trat zunächst der Glaube an den Wert des Individuums, gefolgt vom Glauben an die gesellschaftliche und ökonomische Funktion aller Individuen als Produzenten oder Konsumenten von Ideen und Waren. Schließlich wurde nicht mehr dem Glauben, sondern den ermittelten Fakten ein zentraler Wert zuerkannt. Die Instrumentalisierung der Vernunft trug also nicht nur zur Industrialisierung und Versachlichung des Lebens wesentlich bei, sie ließ auch die Eigentumsprobleme in der Überflussgesellschaft – oder wie wir heute sagen würden: in der Konsumgesellschaft – entstehen. Im neuen intellektuellen Besitz-Denken und Selbstbestimmbarkeitsideal des 18. Jahrhunderts liegen die Wurzeln der spätmodernen Epoche mit ihrer Faszination für nachweisbare Fakten, Genetik und Forensik. In jedem Paradigmenwechsel von einer doktrinäreren Glaubensbasis zu verifizierbaren Wissensgrundlagen blieb die Suche nach Gewissheit bzw. Vergewisserung konstant. Die sukzessiven Perspektivenwechsel und Akzentverlagerungen in der interaktiven Kommunikationsdynamik zwischen dem moralischen und juristischen Bereich lassen sich folgendermaßen schematisieren:

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II. ‚Kriminalistische Unfühlbarkeit‘ und Justiziabililtät Vor diesem Hintergrund ist die These dieses Beitrags zu verstehen: Der Strukturwandel der Öffentlichkeit ist eine wichtige Voraussetzung für die Phasen der juristischen Reformdebatte, vor allem in der Umbruchszeit des langen 18. Jahrhunderts. Die Formulierung „kriminalistische Unfühlbarkeit“ hatte der sozialkritische Advokat und Dramatiker Heinrich Leopold Wagner (1747–79) am Ende seines Trauerspiels Die Kindermörderin (1776) geprägt, um die starre und mitleidslose Gesetzesanwendung bei Verurteilung und Strafvollzug in Kindsmordfällen im Aufklärungsreformzeitalter zu bezeichnen.10 „Das Gesetz, welches die Kindermörderinnen zum Schwert verdammt, ist deutlich und hat seit vielen Jahren keine Exzeption gelitten“, stellt der Fiskal in Wagners Stück nüchtern fest.11 Gegen solche „Unfühlbarkeit“ protestiert der Protagonist und Verführer des zu bestrafenden Evchen Humbrecht, Lieutnant von Gröningseck, heftig, der selbst an die „gesetzgebende Macht“ in Versailles appellieren will, um „Gnade für sie auszuwirken“.12 Mit seiner Dramatisierung eines realen Vorfalls greift Wagner in eine öffentliche Diskussion ein (vgl. die gleichzeitig erschienene Berner Preisfrage für den besten Entwurf zur Verbesserung der Strafrechtspflege) und will damit die öffentliche Meinung umbilden. Die gleichzeitige Debatte über Wesen und Grenzen der Rede- und Pressefreiheit als impliziter Teil der kriminalgeschichtlichen Forschung ist meines Erachtens zu wenig beachtet worden. Heute ist das anders. Man denke an die Freiheitsdebatte, die die diffamierende Filmdarstellung des Propheten Mohammed angeregt hatte; man erinnere sich an die Veröffentlichung von Geheimdokumenten der CIA durch Wiki-Leaks; man denke an Rupert Murdochs manipulativen Umgang mit Information.13 Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Mein Interesse gilt also nicht rechtlich kodifizierten Delikten wie Brandstiftung, Diebstahl, Kindsmord, Raub oder Giftmord, wie sie Karl Müchlers Kriminalgeschichten (1792) oder Johann Paul Anselm von Feuerbachs Merkwürdigen Verbrechen (1828) so spannend 10  Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. In: Sturm und Drang. Werke in drei Bänden. Band 2. Auf Grund der von Karl Freye besorgten Ausgabe neu bearbeitet von René Strasser. Zürich 1966, S. 57–123, hier S. 122; vgl. John A. Mc­ Carthy: „Ein Verbrechen, wozu man gezwungen wird, ist kein Verbrechen mehr“. Zur Spannung zwischen Rechtspflege und Aufklärungsmoral im 18. Jahrhundert. In: Das achtzehnte Jahrhundert 20 (1996), H. 1, S. 22–44; Marianne Willems: Der Verbrecher als Mensch. Zur Herkunft anthropologischer Deutungsmuster der Kriminalgeschichten des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 14 (2002), S. 23–48. 11  Wagner: Die Kindermörderin (Anm. 10), S. 122. 12  Wagner: Die Kindermörderin (Anm. 10), S. 122. 13  Vor allem bzgl. News of the World. Vgl. http: /  / www.nytimes.com / 2012 / 08 / 31 /  world / europe / new-arrest-made-in-tabloid-phone-hacking-scandal-in-britain.html?_ r=0.



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erzählen.14 Mir geht es um die Rolle des Richters in den Instanzen sensa­ tioneller Kriminalität. Kriminalgeschichten entsprechen oft genug juristischen Fallstudien, die von Juristen zur informellen Aus- und Weiterbildung von Richtern und Justizbeamten, u. a. mit moralisierender Tendenz, zusammengetragen wurden. Meine Leitidee hängt mit der oft angeprangerten „kriminalistischen Unfühlbarkeit“ der Justizbeamten zusammen. Die Sammlungen juristischer Fälle in der Nachfolge der Causes célèbres et intéressantes (1734–43) des französischen Juristen François Gayot de Pitaval verfolgten häufig eine Sensibilisierungsabsicht. Schiller, in der Einleitung zu seinem Verbrecher aus Infamie, und Müchler, im Vorwort zu seinen Kriminalgeschichten, weisen nachdrücklich darauf hin. Neben dem breiteren anonymen Publikum hatten Literaten, Schriftsteller und Journalisten die Richter selbst im Visier. Ich möchte die Richterrolle differenzierter darstellen, indem ich die Funktion der Schriftsteller als sogenannte ‚freie Rechtslehrer‘ transparent mache.15 Im Sog der Aufklärung trugen sie zur kritischen Denkfähigkeit der Menschen, ja zur moralischen Urteilskompetenz bei.16 Dies geschah nicht nur durch Narrationen von Rechtsverstößen. Meine Modellfälle stammen aus dem Bereich der soft crime, white-collar crime und anderer deliktartiger Handlungen, die im Recht des 18. Jahrhunderts noch nicht justiziabel waren und heute noch umstritten sind.17 Der 14  Man denke etwa an den Fall der Nürnberger Giftmischerin Nannette Schönleben, genannt Zwanziger: Paul Johann Anselm Feuerbach: Anna Margareta Zwanziger, die deutsche Brinvillier. In: Ders.: Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen. Gießen 1828, S. 1–53; Feuerbach verurteilte sie als „Verehrerin der Pamela, welche bei Werthers Leiden geweint hatte, […] daher nur ihre Person zur Waare“ gemacht habe (ebd. S. 36). Vgl. auch Karl Müchler: Raub auf öffentlicher Landstrasse aus Mangel an Unterhalt. In: Ders.: Kriminalgeschichten. Aus gericht­ lichen Akten gezogen. Hg. von Alexander Košenina. Hannover 2011, S. 44–51. 15  Vgl. John A. McCarthy: „Die republikanische Freiheit des Lesers.“ Zum Lesepublikum von Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre. In: Wirkendes Wort 29 (1979), S. 28–43. 16  Die Spannung zwischen Rechtspflege und Aufklärungsmoral war entscheidend. Johann Jakob Moser, Johann Heinrich Gottlieb von Justi und Carl Gottlieb Svarez haben auf das Verhältnis von Rechtsdenken und Justizvollzug in der historischen Rechtspraxis hingewiesen. Weitere Rechtsgelehrte wie Joseph Sonnenfels (Grundsätze der Policeiwissenschaft, 1765) oder die Initiatoren der sog. Berner Preisfrage für den besten Entwurf zur Verbesserung der Strafrechtspflege (1777) liefern ebenfalls Material für die Law-and-Literature-Bewegung, ohne jedoch die Richterrolle näher zu differenzieren. 17  Z. B. internationales Internet-Copyright Law: das unautorisierte Herunterladen von Musik, der unrechtmäßige Gebrauch von für den Internetzugang privilegierten Software-Programmen etwa im Konflikt zwischen Samsung Galaxy und Apple I-Phone 4S oder die Verlängerung von Filmrechten von 25 Jahren aufwärts, was die Kreativität behindert.

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modische Begriff ‚Rechtskultur‘ mag dazu dienen, unsere Perspektiven und Erkenntnispotentiale zu erweitern.18 Mein Hauptinteresse gilt also der alten Frage nach den Bedingungen der allgemein erforderlichen Revolution im Denken, die zur individuellen Mündigkeit und zur neu entstehenden bürgerlichen Gesellschaft in der Epoche der Rechtsreform unerlässlich waren. Beispielsweise hatte ein anonymer Autor in der Neuen deutschen Monatsschrift (1795) die anthropologische Grundüberzeugung des vergangenen Jahrhunderts knapp zusammengefasst mit dem Satz: „Ein Recht, im Gegensatz eines physischen Vermögens, ist die moralische Möglichkeit einer Handlung“.19 Dieses moralische Recht, die Möglichkeit einer Handlung, die unabhängig von äußeren physischen Zwängen ist, sei älter als die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft selbst, falle jedoch mit dem Zusammenschluss einzelner Vernunftwesen zusammen. Dieses Recht lasse sich in drei Klassen einteilen: in Handlungen, die erlaubt sind (die man „thun darf“), die moralisch erforderlich sind („die man thun soll“), und die verboten sind („die man nicht thun darf“20) – die Analogie zu Kants moralischem Imperativ liegt nahe. Gerechtigkeit bestehe darin, dass man sich der eigenen Rechte bedient, ohne die gleichen Rechte der Mitmenschen zu beeinträchtigen.21 An sich erweist sich die Gerechtigkeit insofern als eine negative Eigenschaft, als sie die gleichen Rechte der Mitmenschen lediglich nicht beschneide. Das moralische Gesetz sei also primär, das Staatsgesetz sekundär. Erstes sollte zur Basis des anderen gelegt werden. Dies wird formuliert in Reaktion auf die terreur in Frankreich. Fünfundzwanzig Jahre später nach der Restauration konnte der Jurist Theodor Konrad Hartleben in einem Beitrag zur Sicherheitspolizei noch überzeugt optimistisch behaupten: Zur Ehre der Menschheit gewinnt in der Strafrechtsgesetzgebung die Besserungstheorie immer größeres Ansehen. […] Unsere Kerker verwandeln sich allmählig in VerbesserungsAnstalten, in welchen der Verbrecher als Mensch in das Aug gefaßt und vieles angewendet wird, sein – durch die Macht der Umstände – verwildertes Gemüth, und sein verdorbenes Herz umzustimmen, und für Recht und Tugend zu gewinnen.22 18  Vgl. Harriet Rudolf: Rechtskultur in der frühen Neuzeit. Perspektiven und Erkenntnispotentiale eines modischen Begriffs. In: Historische Zeitschrift 278 (2004), S. 347–374. 19  Bruchstücke aus einer Abhandlung über die Prinzipien des Rechts und der Moral. In: Neue deutsche Monatsschrift 3 (1795), S. 230–238, hier S. 231. 20  Ebd. S. 231. 21  Ebd. S. 233. 22  Theodor Konrad Hartleben: Von dem Uebertritt der Gefangenen aus Verbeserungsanstalten in die bürgerliche Gesellschaft. In: Allgemeine deutsche Justiz-, Ka-



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Weiter führt er aus, wie gerade die „infamierenden“ Strafen selbst, „die üble Einrichtung von Strafanstalten“, die „geringe Rücksicht“ auf das Schicksal der freigesetzten Insassen zum Übel beitragen. Alle drei Bereiche seien reformbedürftig. Ähnliche Argumente hatten Männer und Frauen in der Debatte bezüglich der besten Vorbeugungsmaßnahmen gegen kriminelles Verhalten insbesondere bezüglich des Kindsmordes um 1780 vorgebracht.23 Noch heute dauert die Debatte mit den gleichen Argumenten an. Crime domi­ nates the air waves! Allerdings legen Theater-, Film- und FernsehprogrammMacher den Akzent auf Erklärungen von Charakterschuld, während die Beweisführung von Tatschuld erst in zweiter Linie als weniger publikumswirksam gilt und somit Dokumentarsendungen vorbehalten bleibt. Die Frage, wie groß der Fortschritt in den vergangenen Jahrhunderten eigentlich sei, drängt sich auf. Das Publikum ist noch immer sensationslüstern, wie u. a. aus Untersuchungen von Ernest Mandel ( Ein schöner Mord) oder Paul Oppenheimer (Evil and the Demonic) hervorgeht.24 In seiner breit angelegten Studie Dark Nature will der Biologe Lyall Watson gar nachweisen, dass Kriminalität in der menschlichen Genetik selbst wurzele.25 Dennoch wird der vorausgesagte, sich in jener historischen Epoche langsam manifestierende Wandel im Denken von der modernen Gesetzgebung bestätigt. III. Aufklärung – moralischer Fortschritt – gute Taten Mittlerweile versteht man die Aufklärung als Dynamik ohne scharfe Konturen oder eindeutig konkrete Resultate in der moralischen Sphäre. Dennoch stimmt die Forschung trotz der Janusköpfigkeit der Aufklärung darin überein, dass es sich um eine Neubestimmung des Menschen als moralisches Wesen und nicht bloß als Rechtsobjekt im allgemeinen Bewusstsein der Zeit gehandelt habe.26 Die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Staat und Individuum war ein hervorstechendes Merkmal des juridischen wie philosophischen meral- und Polizeifama, Nr. 13–14 (Feb. 1821), S. 7 / 264. http: /  / books.google.com /  ebooks / reader?id=aR9NAAAAMAAJ&printsec=frontcover&output=reader&pg= GBS.PA49 (gesehen am 5. Oktober 2011). 23  Vgl. McCarthy: Ein Verbrechen (Anm. 10), S. 28. 24  Ernest Mandel: Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans. Frankfurt a. M. 1987; Paul Oppenheimer: Evil and the Demonic: A New Theory of Monstrous Behavior. New York 1996. 25  Lyall Watson: Dark Nature: A Natural History of Evil. New York 1995. Vgl. besonders seine „Pathic principles“ (S. 30–38). 26  Dan Diner: Aufklärung nach Ausschwitz. In: Jörn Rüsen / Eberhard Lämmert /  Peter Glotz (Hg): Die Zukunft der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1988, S. 12–18, hier S. 12.

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Diskurses der Zeit. Das Verhältnis von Moral (als ‚Recht‘ im Sinne von ‚Naturrecht‘) einerseits und Politik und Gesetzgebung (positives Recht) andererseits bestimmt Immanuel Kant in Zum ewigen Frieden (1795) wie folgt: Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und ob zwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nicht aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten. – Das Recht dem [sic] [der] Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren, und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem erstern beugen, kann aber dafür hoffen, ob zwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird. [Hervorh. von J. A. M.]27

Und im zweiten Abschnitt seines Streits der Fakultäten (1798), „Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen“ (1794), differenziert Kant zwischen Vernunftmaximen und Vernunftgründen. Maximen beziehen sich auf die praktische Anwendung der Theorie, während Gründe die rationalen Erklärungen bezeichnet. Es gebe einen Unterschied zwischen dem „freien Rechtslehrer“ (auch „zunftfreier Gelehrter“) und dem vom Staat bestellten amtsmäßigen Berufsjuristen.28 Der ‚freie Rechtslehrer‘ sei ein denkender Kopf, der als Advokat für den freien Gebrauch des „gemeinen Menschenverstandes“ durch Schriften an die Öffentlichkeit trete. Er kämpfe für die gerechte Menschenbehandlung und werde oft „unter den Namen Aufklärer“ vom Staat als anstößig empfunden.29 Es handelt sich also um die Kommunikation aller Ideen über die bestehende soziale Organisation mit einer eventuellen Rückbindung an jene Strukturen des Gemeinwesens, die zum Wohlbefinden des Staates reformbedürftig sind. Ein Verbot der Publizität würde den „Fortschritt eines Volks zum Besseren“ verhindern und damit ein Naturrecht verletzen.30 Das Volk (das „aus Idioten“31 bestehe) soll ja „republikanisch“ regiert werden, d. i., nach Prinzipien, „die dem Geist der Freiheitsgesetze (wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde) gemäß sind“.32 Die sittliche Beschaffenheit des Men27  Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. IX. Darmstadt 1983, S. 191– 251, hier S. 243–244. 28  Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. In: Werke (Anm.  27) Bd. IX, S. 261–393, hier S. 362 („freier Rechtslehrer“) und S. 279 („zunftfreier Gelehrter“). 29  Kant: Streit der Fakultäten. In: Werke (Anm. 28), Bd. IX, S. 362–363. 30  Ebd., S. 363. 31  Ebd., S. 280. 32  Ebd., S.  364 f.



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schengeschlechts bestehe nicht in einem immer größer werdenden Quantum an „Moralität in der Gesinnung“, behauptet Kant, sondern in der „Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen“.33 Der moralische Fortschritt äußere sich letztlich in den „guten Taten“ der Menschen. Die gerechte Gesetzgebung, gefördert durch ungehinderte Kommunikation, wäre eine solche Tat. Nicht umsonst redet man diesbezüglich von einer neuen „Interaktionsfähigkeit“ sowie von der „interlokalen Kommuni­ kation“.34 Freies Denken führt zu Handlungen, und Handlungen bereiten Veränderungen in den Regierungsgrundsätzen vor. Die ideale Staatsform laut dieser Denkrichtung ist die föderative, die republikanische. So kann Kant im Streit der Fakultäten schließen: „Allmählich wird die Gewalttätigkeit von Seiten der Mächtigen weniger, der Folgsamkeit in Ansehung der Gesetze mehr werden. Es wird etwa mehr Wohltätigkeit, weniger Zank in Prozessen, mehr Zuverlässigkeit im Worthalten u.s.w. […] im gemeinen Wesen entspringen.“35 Die Hoffnung auf einen solchen Fortschritt im gesellschaftlich-politischen Bereich setzt auf eine weise Führung; und der ‚freie Rechtslehrer‘ spielt dabei die entscheidende Erzieherrolle. IV. Die Justizreform und Christoph Martin Wieland als ‚freier Rechtslehrer‘ Im Zentrum der zweiten Hälfte dieser Analyse steht das bahnbrechende Aufschreibesystem Christoph Martin Wielands. Seine psychologisierende Schreibweise ist wichtig für die „Sektionsberichte des Lasters“ (etwa Schiller, Meißner, Feuerbach oder Müchler). In seinem Nachruf auf Wieland (1813) erkannte Goethe dessen weitreichenden Einfluss an, als er konstatierte, Wieland habe sich das ganze obere Deutschland stilistisch zugebildet.36 Beispielsweise war er Vorbild für August Gottlieb Meißners Erzählstil. Mir geht es um Wielands Stellungnahme zu Fragen von Recht und Gerechtigkeit in seinen Werken. Seit seinen ernüchternden Rechtserfahrungen als Kanzlist in der streitbaren kleinen Reichsstadt Biberach an der Riß – wo es u. a. um einen Mühlenstreit zwischen der Stadt und dem benachbarten Graf Stadion sowie um seine eigene Anklage wegen der Vorenthaltung seines 33  Ebd.,

S. 365. Erich Bödeker: Aufklärung als Kommunikationsprozeß. In: Aufklärung 2 (1988), Nr. 2, S. 89–111, hier S. 100–101. 35  Kant: Werke (Anm. 27), Bd. IX, S. 365. 36  Johann Wolfgang von Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands. In: Ders. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. Von Karl Richter et al. München 1987, Bd. IX, S. 945–965. 34  Hans

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Gehalts ging – war er ein engagierter Kritiker der Ungerechtigkeit. (Damals sprach er vom „bey uns herrschende[n] Prozess-Teufel“.)37 Immer wieder hat er zu autoritärem Machtmissbrauch der Regenten, zur mentalen Stumpfheit der Regierten, der Hartherzigkeit der Verleger und zum Mangel an Sensibilität für Menschenrechte emphatisch Stellung genommen. Damit unterstreicht er die Frage: Wann ist eine justiziable Handlung ein moralisches „Verbrechen“ und nicht bloß ein Vergehen? Zu Wielands Themenspektrum gehören Autorenrechte, die Pressefreiheit und die Glaubensfreiheit als Grundelemente einer funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft. Maßgeblich für meine Überlegungen ist also letztlich das Verhältnis von Recht und Moral in einer idealen Regierungsform. Welche sind die besten Maßnahmen, um nicht nur kriminellem Verhalten in einem Rechtsstaat vorzubeugen, sondern die besten menschlichen Anlagen selbst zu fördern? Lässt sich die scheinbare Divergenz von Moral und Recht in der Geschichte der Menschheit durch ‚ein symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation‘ (N. Luhmann) erklären? Zwar kann man bezüglich der Publizitätsdebatte noch nicht von einem ‚Medium Verbrechen‘ bzw. ‚Gerechtigkeit‘ sprechen, aber das Projekt einer Abstimmung von politischer Macht und Privatmoral wurde immer lauter und erreichte einen immer größeren Leserkreis. Lassen sich aus der Geschichte des Verhältnisses von Recht und Moral Kriterien für veränderte medien-, literatur- und genregeschichtliche Periodisierungen gewinnen? Und sind diese späteren Entwicklungen Resultate der gesamten Aufklärungsreformbewegung? Als eine Gelenkstelle in dieser Fragenkonstellation fungiert der ‚freie Rechtslehrer‘ im Sinne Kants. Auch Christoph Martin Wieland war ein solcher ‚freier Rechtslehrer‘, obwohl er keine Kriminalgeschichten wie etwa Schiller, Müchler oder Feuerbach verfasst hat. Fast vierzig Jahre vor Kant hat der junge Wieland sogar behauptet: „Die Freyheit der Philosophen und Schriftsteller muß uneingeschränkt seyn“.38 Kants ‚freier Rechtslehrer‘ ist Wielands ‚freier Schriftsteller‘ im Dienst der Nation. Übrigens hat Klopstock in seiner Gelehrten­ republik (1774) auch „Publizisten und Politiker“ neben den Juristen zur Zunft der Rechtsgelehrten gezählt; sie gehörten zu den beiden bevorzugten Teilen des noch im Wandel begriffenen Lesepublikums, den „Richtern“ und „Kennern“ im Gegensatz zum „großen Haufen“.39 Lessings Verständnis von Schriftsteller und Publikum ähneln ebenfalls jenen Wielands.40 37  C. M. Wieland: Briefwechsel Bd. 3. Hg. von Renate Petermann und Hans Werner Seiffert. Berlin 1975, S. 80 (Brief an Geßner vom 9. April 1762). 38  Wielands Briefwechsel. Briefe der Bildungsjahre. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1963, Bd. I, S. 381. 39  Friedrich Gottlieb Klopstock: Von dem Publico. In: Ders. Ausgewählte Werke. Hg. Von Karl August Schleiden. München 1962, S. 930–934. Zuerst in: Nordischer Aufseher. Bd. 1, Stück 49 vom 20.10.1758.



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Wieland hatte die juristische Perspektive und das Erkenntnispotential des ‚freien Rechtslehrers‘ in Sokrates Mainomenos oder die Dialogen des Dioge­ nes (1770), in den Abderiten (3. Buch „Der Streit I, des Eselschatten“) (1774) und in Schach Lolo oder Das göttliche Recht der Gewalthaber (1778) behandelt. Der Diogenes-Roman entstand in den ersten glücklichen Sommermonaten in Erfurt (1769), als Wieland im Gefühl der neu gewonnenen Freiheit schwelgte. Befreit von seinen bedrückenden Kanzleiakten in Biberach konnte er in eine gesicherte Zukunft schauen. Das Buch wurde ein Riesenerfolg. Die Erstauflage bei Philipp Erasmus Reich betrug 2750 Exemplare; es folgten autorisierte Neuauflagen 1771 und 1781. Hinzu kamen Doppeldrucke (ohne Wissen des Autors) und mindesten sechs Raubdrucke. Außerdem wurde das Werk dreimal ins Englische (1771–97), zehnmal ins Französische (1772– 1819) und jeweils einmal ins Holländische, Italienische, Polnische, Russische und Ungarische übersetzt; bis auf die rechtmäßigen Auflagen sämtlich ohne Autorenhonorar. Wieland bekam 50 Taler auf die Hand. Heute gilt der unautorisierte Nachdruck als white-collar crime. Doch im 18. Jahrhundert waren die Publikationsbedingungen noch nicht juristisch geregelt. 40

Wodurch lässt sich der ungemeine Erfolg des Diogenes-Romans erklären? Zum einen duch Wielands Celebritätsstatus. Zum anderen durch den seriösen Inhalt des Romans trotz seines innovativen Erzählstils. Für den historischen Diogenes von Synope, das Vorbild für Wielands Protagonisten, war die Redefreiheit das Schönste auf Erden.41 Diese Freiheit hat den Charakter eines Besitztums. Dem aufsteigenden Bürgertum mit seinem Besitzverständnis dürfte das Argument einleuchten. Wenn der Gegenstand auch eine abstrakte Idee und keine konkrete Ware ist, wie der Geschäftsmann zu denken gewohnt ist, war die soziale Mobilität immer mehr vom Verdienst (d. i. „merit“) abhängig. Diese Akzentverschiebung vom Geburts- zum Tugendadel baute die Scheidewand zwischen konkretem Objekt (Adelstitel) und subjektiver Idee (Charakterveranlagung) langsam ab.42 40  Vgl. z. B. William Boehart: Zur Öffentlichkeitsstruktur des Streites um die Wolfenbütteler Fragmente. In: Peter Freimark / Franklin Kopitzsch / Helga Slessarev (Hg): Lessing und die Toleranz. Detroit 1986, S. 146–57. 41  Christoph Martin Wieland: Sokrates Mainomenos oder Die Dialogen des Diogenes von Sinope. Hg. mit Anmerkungen und einem Nachwort von Peter Fix. Leipzig 1984, S. 181. In seinem Nachwort zur Textgestaltung hebt Fritz Martini hervor, Sokrates sei für Wieland „der erste freie Mensch“: Christoph Martin Wieland: Werke. 5 Bände. Hg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert. München 1966, Bd. 2, S. 843 (wird ab jetzt im Text als „H“ mit Band- und Seitennummer zitiert). 42  Wenn es um Waren geht – Grundstücke, Edelsteine u.  ä. – haben wir kein Problem, Besitzansprüche des Eigentümers nachzuvollziehen. Man tauscht Ware gegen Ware: Silber oder Papiergeld gegen ein Teleskop oder eine Schere, u.s.w. Handelt es sich jedoch um geistiges Eigentum, ein Patent oder den Inhalt eines Buches, scheint der Besitztumsbegriff abstrakter und weniger klar zu sein.

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Ferner bezeichnete sich Diogenes mit Vorliebe als „Weltbürger“. Zwar betrachteten sich die (Stadt-)Bürger als Mitglieder eines Staates, doch der Appell an ein kosmopolitisches Ideal bot einen zusätzlichen Identifikationsfaktor im absolutistischen Staatswesen. Hans Werner Seiffert konstatiert zur Bedeutung der Dialogen des Diogenes: „Erstmalig werden in deutscher Sprache Gedanken ausgesprochen, die revolutionären Charakter haben, die nicht einer literarischen Mode entstammen, […] sondern die den gerechten Staat fordern, in dem nach dem Grundsatz der Natur, der Gleichheit aller als Menschen gelebt und regiert werden soll“.43 Wir können einen Schritt weiter gehen und behaupten: als freier Schriftsteller übernahm Wieland jene Rolle des bewunderten Sonderlings Diogenes. Auch Wieland wollte von oben herab reformieren, und obwohl sein Werk weder als Kriminalroman noch als Kriminalreportage gelten kann, behandelt Diogenes eine tiefere und zugleich ‚reelle‘ Wahrheit. Hier ist kein Raum für eine detaillierte Analyse des Romans. Die Hauptkritik gilt der vom Reichtum verursachten sozialen Ungleichheit der Menschen – nicht unähnlich gegenwärtigen Zuständen in den USA, China und anderswo. Im Dialog mit dem Millardär Philomedon übt Diogenes die schärfste Sozialkritik, die man bis dahin in der deutschen Literatur findet. Der Kern des Gesprächs betrifft den contrat social: trotz seines unermesslichen Reichtums trage Philomedon nicht zum Wohlergehen des Staates bei (H II, 69). Dabei trage er eine größere Verantwortung, der Gesellschaft zu nutzen; er konsumiere ohne selber zu produzieren. Er genieße den Schutz der bürgerlichen Gesetze, „zahle“ jedoch nicht den gehörigen Anteil für die gewährten Vorteile. Deshalb meint Diogenes, der geringste Wasserträger sei ein schätzbareres und wertvolleres Mitglied der Gesellschaft. Philomedon sei bloß eine „Hummel“ (H II, 71). Größere soziale Vorteile implizieren somit größere soziale Pflichten (vgl. ferner die Dialoge mit Bacchides, Chärea). Der Roman enthält auch weitere Kritikpunkte: 1. Diogenes wirft den Reichen und Hedonisten Hartherzigkeit vor. 2. Wegen Missbrauchs ihres Reichtums und Vernachlässigung ihrer sozialen Pflichten seien die Reichen schuld an der nahenden Katastrophe; Wieland prophezeit die Französische Revolution fast 30 Jahre im voraus. 43  Hans Werner Seiffert: Morelly in der deutschen Aufklärung. In: Werner Bahner (Hg.): Beiträge zur französischen Aufklärung und zur spanischen Literatur. Berlin 1971, S. 375–96; zitiert nach Fix: Nachwort (Anm. 41), S. 187. Zur Kunst des Regierens in der frühen Neuzeit vgl. Michael Stolleis: Die Wunderinsel Barataria. Sancho Pansa und die Kunst des Regierens. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), H. 1, S. 61–75. Es geht u. a. um die Bekämpfung des Luxus durch Kleiderordnungen oder Importverbote, weiter des Müßiggangs, des Bettelns und der Vagabondage samt der Ausgrenzung der ‚Zigeuner‘.



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3. Am Ende des Romans beschwört der Dichter die Vision einer utopischen Republik herauf, wo der Stärkere kein Vorrecht genieße, sondern die Pflicht habe, die Schwächeren zu beschützen (H II, 115). In dieser idealen Republik werden unnötige Künste und Berufe verboten: Politiker, Soldaten, Kaufleute, Wollen- und Seidenfabrikanten, Maler und Bildhauer, Pastetenbäcker, Näschereienkrämer, Parfümierer usw. Aber auch Philosophen, Geschichtsschreiber, Dichter, Schauspieler, Mimen, Tänzer (Vorbild dieser sozialistisch-utopischen Vision ist Morelly). Selbstverständlich ist diese Vorstellung unpraktikabel, weshalb der Erzähler die Vision am Ende selber verblassen lässt. 4. Angesichts der menschlichen Natur sei allerdings die Erziehung zur Vernunft praktischer als eine solche „Republikensucht“ (so Wieland).44 Wieland bietet sogar eine „Apologie der Freude“, wo die Aufgabe des Staates darin bestehe, das Glück des Volkes zu vermehren, indem „Vernunft, Sitten, Geschmack und Geselligkeit allgemein“ werden durch weise Regierung (H II, 77). Aufgabe des Fürsten sei die Linderung der Armut und des Leidens der Unterdrückten in seinem Reich (H II, 79). 5. Diogenes spricht sich entschieden gegen die Sklaverei als unnatürlich, als Verbrechen gegen die Menschheit aus (H II, 70, 72). Ferner sieht er die Organisation von Arbeitern in Gewerkschaften voraus, um Versklavung zu verhindern (H II, 71). Allerdings ist der Sonderling in seinem Fass nicht zuversichtlich, dass er einen einzigen Reichen zur Menschlichkeit oder einen einzigen Fürsten zur Gerechtigkeit bewegen könne – nicht einmal Alexander den Großen, dessen Angebot, in seine Dienste als Geheimrat zu treten, Diogenes ausschlägt.45 Dieser idealisierte Sonderling Diogenes handelt aus Liebe zur ganzen Menschheit, weshalb er sich als Weltbürger, nicht als Staatsbürger bezeichnet. Er sei nicht abhängig von einer Partikulargesellschaft, er sei kein Patriot im üblichen Sinn – parteiisch für ein Vaterland –, sondern Glied einer grenzenlosen Gesellschaftsordnung; er sei freier Diener der menschlichen Güte und Sensibilität, die diesem Weltbürgertum zugrunde liegen (H II, 74). Die Erde sei letzten Endes aus einem Stück (H II, 94), so auch das Menschengeschlecht trotz äußerer Divergenzen. 44  Vgl. Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1997, besonders S. 19–28. 45  Vgl. W. Daniel Wilson: Wieland’s Diogenes and the Emancipation of the Critical Intellectual. In: Hansjörg Schelle (Hg.): Christoph Martin Wieland. Nordamerikanische Forschungsbeiträge zur 250. Wiederkehr seines Geburtstages 1983. Tübingen 1984, S. 149–79.

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Mit diesem phantasievollen Roman sowie dem etwas später erschienen Gedicht Schach Lolo dringt Wieland in den Kern jener seit Montesquieus De l’esprit les loix (1748) und Étienne-Gabriel Morellys Code de la na­ ture, ou le véritable esprit de ses lois, de tout temps négligé ou méconnu (1755) anhaltenden Debatte über die rechte Gesetzgebung und die passendste Staatsform ein. Wie die Menschen regiert werden und von wem erörtert Wieland in Schach Lolo ebenso spielerisch wie kritisch pointiert. Seine Kritik ziehlt sowohl auf die Willkür des absolutistischen Herrschers wie den Eigennutz seiner Berater und die Trägheit seines Volkes. Hier finden wir eine Vorwegnahme von Kants bekannter Diagnose des Mangels an Mündigkeit von 1783: Faulheit, Mutlosigkeit, Eigennutz der herrschenden Klassen.46 Das ius divinum legt der Dichter neu aus: das göttliche Recht sei den Gesetzen der jeweiligen Geschichtsepochen gleichgestellt. Zur Vorbeugung gegen Machtmissbrauch empfiehlt Wieland eine Umstrukturierung und Erweiterung der Erziehungspraktiken für Monarchen, Justizbeamte und Volk. Alle sollen – wie Christian Thomasius achtzig Jahre früher gelehrt hatte – zu Selbstlosigkeit und Dienst am Nächsten erzogen werden. Durch die ethische Erziehung der Menschheit erhoffte Wieland eine durchgreifende Rechtsreform.47 Was Wieland mit seinen belletristischen und journalistischen Schriften als ‚freier Rechtslehrer‘ bietet, wäre ohne den Anspruch auf die „Rechte der Vernunft und der Freiheit zu denken“ undenkbar. Schon früh findet man diese Formulierung bei Wieland, z. B. in seinem moralischen Jugendwerk Sympathien (1755), und sie kehrt refrainartig in seinen späteren Schriften immer wieder. Rede- und Pressefreiheit waren also komplementär zur Denkfreiheit, Gedankenfreiheit und Gewissensfreiheit. Die wahre Freiheit des Menschen wurzelt demnach in der vernünftigen Selbstbeherrschung.48 In Einigen Be­ merkungen über das Sendschreiben des Herausgebers des T. M. an Herrn 46  Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Werke (Anm. 27) Bd. IX, S. 51–61. 47  Diese Empfehlung neuer pädagogischer Maßnahmen ist evident in Wielands anderen Schriften; etwa Die Geschichte des Agathon, Der goldene Spiegel, Die Ge­ schichte der Abderiten, Danischmend, Für und Wider, Göttergespäche oder Agatho­ dämon; sie ist überhaupt ein Hauptmerkmal literarischer und juristischer Texte des langen 18. Jahrhunderts. 48  Franz Schneider: Presse, Pressefreiheit, Zensur. In: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 4: Mi-Pre. Stuttgart S. 899– 927, hier S. 914; Annelies Reichert: Wielands Stellungnahme zur Frage der Pressefreiheit und ihre Auswirkung auf sein publizistisches Schaffen. Ein Beitrag zur Frage der Pressefreiheit im 18. Jahrhundert. o. O. 1948, S. 29.



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P*** [Prof. Eggers] zu *** [Kiel] (1792) hatte Wieland diesen Zusammenhang wie folgt resümiert: Vermöge der Natur der Sache ist jedes Glied einer werdenden bürgerlichen Gesellschaft allen andern darin gleich, daß es Mensch, d. i. ein vernünftiges, sich selbst durch den Gebrauch seiner Vernunft bestimmendes Wesen, folglich eine freye Person ist, die nie, unter keinerley Vorwand seinen freyen Willen als bloßes Mittel oder Werkzeug zu seinem Privatnutzen gebraucht werden kan. [Hervor­ hebungen im Original, J. A. M].49

Einerseits entfesselt die Freiheit Kapriziosität und Erpressung, andererseits besteht ihr Wesen in der „Verbindlichkeit aller Glieder des Staats, den Gesetzen der Vernunft und Gerechtigkeit zu gehorchen“.50 Ohne den unbehelligten Einsatz aller menschlichen Kräfte ist Freiheit nicht möglich, ja der eigentliche Zweck der Gesellschaft unerreichbar. Somit fordert Wieland „Freyheit zu denken; Freyheit der Presse; Freyheit des Gewissens“.51 Die Wahrheit darf nicht nur, sondern muss frei und laut gesagt werden – und dies immer wieder – und, wie er meint, gegen angemessenes Honorar, denn der Schriftsteller arbeitet für die gerechte Staatsform, indem er für die Rechte der Menschheit plädiert. Werner Schneiders hat die Wahrheit als Ziel des Zeitalters charakterisiert und Freiheit „mehr als Bedingung der Aufklärung“ genannt.52 Somit steht der dynamische Akt des kritischen Räsonnements im Mittelpunkt der Forderung nach dem freien Gedankenaustausch als Hebamme „einer werdenden bürgerlichen Gesellschaft“. Unter „bürgerlicher Gesellschaft“ verstand Wieland „politische Gesellschaft oder Staat“ und fügte hinzu, der Name „Bürger“ stehe jedem Mitglied des Staates egal welcher Klasse zu.53 In diesem Sinn wird der Mensch erst frei, wenn er in der öffentlichen Sphäre intellektuell aktiv wird und mündig agiert (vgl. Kant). Rede- und Pressefreiheit könnte man demzufolge als „Barometer der Nation“ verstehen, zumal die Aufklärungspublizistik bisher stumme Schichten der werden49  Christoph M. Wieland: Sendschreiben des Herausgebers des T. M. an Herrn P*** [Prof. Eggers] zu *** [Kiel]. In: Ders.: Politische Schriften, insbes. zur Französischen Revolution, hg. von Jan Philipp Reemtsma et al. 3 Bde. Nördlingen 1988, Bd. 2, S. 379–523, hier S. 496. Das Sendschreiben besteht aus mehreren Beiträgen, Zusätzen und Bemerkungen, oft mit eigener Überschrift. Reemtsmas Ausgabe ist vollständig und allgemein zugänglich. Die ansonsten zitierte Hanser-Ausgabe enthält das Sendschreiben nicht. 50  Ebd. S. 408. 51  Ebd. S. 408. 52  Ebd. S. 468 und Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg / München 1974, S. 194. 53  Vgl. Wielands Fußnote zu Einigen Bemerkungen über das Sendschreiben (Anm. 49), Bd. 2, S. 495.

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den bürgerlichen Gesellschaft zu „aktiven politischen Integrationsfaktoren“ erzogen hat.54 Das „Laut-Reden“ mit anderen, wofür sich auch Lessing gleichzeitig in Ernst und Falk einsetzte, erfolgt freilich aufgrund des sogenannten ‚gesunden‘ und produktiv zielorientierten Denkens, das praktisch auf die Lebensbedingungen selbst gerichtet ist.55 Dieser common sense (gesunder Menschenverstand) lässt die Menschen erkennen, was für ihren moralischen wie physischen Wohlstand notwendig ist. Wieland ernennt den ‚gesunden Menschenverstand‘ zum Vormund der ganzen Menschheit, deren Erkenntnisse die Kraft eines Gesetzes haben müssten, sobald sich Herrscher und Untertan davon leiten lassen. Der Kampf um die öffentliche Meinung ist also ein Kampf um Recht und Gerechtigkeit für alle Mitglieder eines Staats, ob als „Bürger“ juristisch eingestuft oder nicht. Ausschlaggebend für die Entstehung der allgemeinen Einstellung ist letzten Endes die Fähigkeit jedes einzelnen Menschen, zu erkennen, was ihm wohltut und was schädlich ist. Dazu gehört kein hohes abstraktes Wissensniveau. Um 1800 sollte ­Georg Forster die öffentliche Meinung als „Produkt der Empfänglichkeit des Volkes“ definieren.56 Das Verständnis individuellen Besitztums musste neu durchdacht werden. Als populärster schöngeistiger Autor in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wusste Wieland nur allzu gut den Lesereiz breiter Kreise anzustacheln. Er machte geschickten Gebrauch von den erprobten Stilmitteln und -lagen der antiken Rhetorik.57 Einige Jahre nach dem Sendschreiben an Herrn Prof. Eggers (1792) spricht Wieland im 9. Gespräch unter vier Au­ gen – eine Reaktion auf die beängstigenden Ausschreitungen in der Französischen Revolution – von den ‚Musenkünsten‘. Mit deren Hilfe sollen alle Wahrheiten, „an deren Erkenntniss Allen Alles gelegen ist“, auf die populärste Art breiten Leserkreisen zugänglich gemacht werden.58 Resümierend 54  Vgl. Hans H. Gerth: Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus [1935]. Göttingen 1976, S. 70, und John A. McCarty: „Das sicherste Kennzeichen einer gesunden, nervösen Staatsverfassung“. Lessing und die Pressefreiheit. In: Freimark / Kopitzsch / Slessarev (Hg): Lessing und die Toleranz (Anm. 40), S. 225–244. 55  Und somit eng verwandt mit der frühaufklärerischen Philosophie von Thomasius, Joh. Adolph Hoffmann und Christian Wolf; vgl. Hans M. Wolff: Die Welt­ anschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung. Bern / München 1963, S. 109–131; Reichert: Wielands Stellungnahme (Anm. 49), S. 39. 56  Vgl. Klaus R. Scherpe: Poesie der Demokratie. Köln 1980, S. 144. 57  Vgl. Danischmend, Winkler-Ausg. S. 361. Siehe ferner John A. McCarthy: The Poetry of Prose in Crossing Boundaries: A Theory and History of Essay Writing in German 1680–1815. Philadelphia 1989, S. 130–172. 58  Wieland: Gespräche unter vier Augen. IX. Über die öffentliche Meinung. In: Wieland: Politische Schriften (Anm. 49). Bd. 3, S. 520: „unter allen nur ersinnlichen Gestalten und Einkleidungen die möglichste Popularität zu verschaffen“.



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lässt sich behaupten: Die öffentliche Meinung entsteht einerseits im Zusammenwirken von Presse und Literatur und andererseits in der Aktivierung des allgemeinen Menschenverstandes in breiten Schichten. Die Kunst der Musen übernimmt die Hebammenrolle bei der Geburt der öffentlichen Meinung. In den Augen der Reformadvokaten nahm die Rede- und Pressefreiheit die Gestalt eines unveräußerlichen Menschenrechts an. Wielands Äußerungen zur Rede- und Zensurfreiheit waren in den 1780er Jahren besonders intensiv. Einerseits bot die konkrete tagespolitische Streitfrage über das Wesen der Aufklärung Anregung dazu, andererseits beeinflusste der beginnende Josephinismus den Diskurs. Man erinnere sich an Josephs II. Übernahme der Alleinregierung und die darauf folgende Publikation der österreichischen Grundregeln zu Bestimmungen einer ordent­ lichen künftigen Bücherzensur (1780). Der Entwurf leitete nicht nur eine neue Epoche der Zensurgeschichte ein; er stellte zugleich das aufgeklärte literaturpolitische Programm des Kaisers dar.59 Mit dem Erstarken der Aufklärungsgegner kam es zu schweren Verdächtigungen und einer pauschalen Verschwörungstheorie mit der Folge der Illuminatenverfolgung (1785) und verschärfter Zensur: 1788 in Preußen, 1792 in Österreich. Auch der Tod Friedrichs II. im Jahr 1786 verstärkte die Reaktion auf beiden Seiten dieser Streitfrage weiter. Dies bildete den Hintergrund zu Wielands Merkur-Artikel. Als Herausgeber des sehr erfolgreichen Teutschen Merkur war er über die tagespolitischen Entwicklungen bestens informiert. In einem anderen bahnbrechenden Merkur-Essay, Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller (1785), nennt Wieland die Redefreiheit „ein Recht der Menschheit“; sie sei ein Katalysator des kulturellen und sittlichen Fortschritts in „polizierten“ Nationen (H III, S. 483). Ferner sei sie ein Naturrecht, weil alle Menschen als Vernunftwesen Anspruch auf Erkenntnis haben. Deutlich hört man die Stellungnahmen von Kant und Mendelssohn anderthalb Jahre früher durchklingen. Besonders wichtig sind Einblicke in das Wesen des Menschen selbst, denn die Bedürfnisse des Menschen als organisch-intellektuelles Hybridwesen zu erfüllen, sei Endziel der gesitteten Gesellschaft. Wegen dieser sehr ernsten Angelegenheit habe der Schriftsteller die Pflicht zur wahrhaftigen und unparteilichen Äußerung seiner Meinungen. Alles Wissen stehe jedem Mitglieder des Staates zu, sei es praktisch oder nur potentiell nützlich. Regenten und Vormünder hätten keine Berechtigung, historische oder praktische Erkenntnis zu unterbinden oder gar „für Contrebande zu erklären“ (H III, 491). Der politische Bereich lasse sich nicht aus dem Gesellschaftssystem herauslösen. Auch „[…] hier [kann man] nicht halbieren“! 59  Vgl. Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982, S. 102–112.

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Zwei andere Merkur-Beiträge setzen diesen Gedankengang fort: Gedan­ ken von der Freiheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophiren (Januar–Juli 1788) und Das Geheimnis des Kosmopolitenordens (August 1788). Sie sind vor dem Wöllnerschen Edikt vom 19. Dezember 1788 erschienen, können also keine Antwort darauf sein. Hier betont Wieland noch emphatischer, dass das uneingeschränkte Nachdenken über alle interessanten Gegenstände ein „unverlierbares Recht“ der Menschheit sei, dem wir den kulturellen, philosophischen und wissenschaftlichen Fortschritt verdanken. Die Denk- und Redefreiheit versichere „das allgemeine Beste der Gesellschaft“ und schütze vor dem Rückfall in die Verwilderung.60 Selbstverständlich habe kein Mensch das Recht, das Mündigwerden anderen vorzuenthalten (H III, 536). Dogmatik, Polemik und Sektengeist lehnt Wieland als unproduktiv schlichtweg ab (512). Solches Handeln sei unnatürliche (geistige) Enterbung. Ähnlich wie Kants Differenzierung zwischen privatem und öffentlichem Gebrauch des Verstandes unterscheidet Wieland zwischen Angelegenheiten des Glaubens und solchen des Denkens. Den religiösen wie den politischen Glauben definiert er als „tätige Liebe der Menschheit“ (H III, 545). Kirche und Staat seien keine unveränderlichen Institutionen, sondern wie der einzelne Mensch Entwicklungen unterworfen. Während Religion Angelegenheit des Herzens sei, bilde die Staatsverfassung den Rahmen für die kollektive Entwicklung. Somit könne Aufklärung durch Schriften nie schädlich für die Kirche, aber wohltätig für den Staat sein; sie stehe jedermann offen. Wegen solcher Ansichten wurden die Ge­ danken von der Freiheit über religiöse Gegenstände zu philosophiren in Wien auf die Liste verbotener Schriften gesetzt.61 Das Geheimnis des Kosmopolitenordens lenkt das Augenmerk auf die politische Dimension des Gesellschaftslebens. Hier plädiert er nachdrücklich für die Pressefreiheit – das „wahre Palladium der Menschheit“ (H III, 566) und kritisiert eine falsch verstandene ‚Aufklärung‘, die in die Katastrophe führe. Die nahende Französische Revolution wertet Wieland sogar als „wohltätige Reform“ (H III, 569). Harmonie, erklärt er ferner, sei stets schöner als Monotonie, worunter er die tyrannische Alleinherrschaft einer einzigen Meinung (H III, 515) verstand. Harmonie divergierender Meinungen verlange allerdings nicht nur Toleranz sondern auch Ordnung. Ohne Regulierung durch bürgerliche Gesetze würde Anarchie entstehen und damit jegliche Hoffnung auf unbehelligte persönliche Entfaltung nach Aufklä60  Wieland:

Gedanken über die Freiheit zu philosophiren, H III, S. 494 (Anm. 41). Rauscher: Der Wiener Nachdruck und die Zensur von Wielands Werken. In: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 39 (1934), S. 39–41, hier S. 41. 61  Otto



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rungsprinzipien verhindert. Chaos sei also für die Menschheit genauso tyrannisch wie die Herrschaft des brutalsten Tyrannen. Ohne die Selbstbestimmung durch vernünftiges Nachdenken und moralische Besserung sinke der Mensch zum instinktgetriebenen Yahoo (Jonathan Swift) bzw. zur leblosen Maschine (Kant) herab. Der Kosmopolit ist nicht mehr der zurückgezogene Beobachter des Weltgeschehens wie Diogenes – eine von Bäppler und Wilson kritisierte Haltung62 – sondern erscheint nun als politischer Aktivist. Die Einsicht in die naturrechtmäßige freie Meinungsäußerung fordert konsequenterweise aktives Engagement vom freien weltbürgerlichen Rechtsgelehrten. Aktiv eingreifen in politisches Geschehen muss ein ‚Weltbürger‘ vor allem, „wenn es moralisch gewiß ist, daß [sein] öffentlicher Beitritt der guten Sache wirklich den Ausschlag geben würde“ (H III, 566). Diese erste Klausel scheint allerdings durch eine zweite aufgehoben zu sein. Denn Wieland formuliert emphatisch die Ansicht, dass die Kosmopoliten dann eingreifen müssten, wenn eine Partei eine andere, vor allem eine untergeordnete Gesellschaftsklasse, mit empörender Grausamkeit behandele, wenn sie die Menschenwürde der Mitbewohner mit Füssen trete. Jeglicher Verstoß gegen die Humanität sei mit allen Waffen zu bekämpfen. Die Radikalität dieser Formulierung überrascht, auch wenn die Vernunft die einzige in Frage kommende Schutzwaffe der Kosmopoliten sei (H III, 564). Das Grundrecht der Menschheit auf Würde leide keinen Abbruch, ganz gleich unter welcher Regierungsform man lebe. Denn sonst werde der Mensch zum „Sklave[n]“, zur „Maschine“ oder zum „blinde[n] Werkzeug“.63 Wenn der Mensch erst einmal durch Kultivierung des Verstandes und Verfeinerung der Sitten besser gemacht worden sei, entwickle er sich beinahe von selbst zum guten Bürger. V. Wann werden Rede- und Pressefreiheit zum ‚Verbrechen‘? Die Debatte über Grenzen und Möglichkeiten des freien Gedankenaustausches war im langen 18. Jahrhundert von moralisch-anthropologischen Überzeugungen durchtränkt. Auch das Bildungsbürgertum hundert Jahre später ist Erbe der moralischen Verbesserungsabsicht der lockerer geregelten Redefreiheit. Aber seit den großen technischen Fortschritten von Radio, Fernsehen und in neuerer Zeit auch Internetangeboten wie Facebook, Twit­ ter und You Tube hat sich die Situation auf dem Markt des freien Meinungs62  Klaus Bäppler: Der philosophische Wieland. Stufen und Prägungen seines Denkens. Bern / München 1974; Wilson: Wieland’s Diogenes (Anm. 45). 63  H III, S. 570 (Anm. 41); vgl. ähnliche Formulierungen in Der goldne Spiegel und Danischmend.

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austausches radikal verändert. Es fehlen in neuere Zeit drei Hauptregulatoren, die absichtlich beleidigende, verletzende oder inflammatorische Ansichten historisch in Grenzen gehalten haben. 1. Zum einen ist das Kommunikationsnetz global. Es ist region- und länder­ übergreifend und spontan. Was in einem Land – oder gar in Nachbarländern – als nützliche Information empfunden wird, wird in einem weit entfernteren Land als unerwünscht schädliche Intervention – als ‚Contrebande‘ – charakterisiert. 2. Zum zweiten gelten lokale Werte und moralische Normen bekanntlich nicht auf globaler Ebene; jede Kultur weist eigene moralisch gerechtfertigte Verhaltensformen auf. Im Kulturkonflikt zwischen dem Westen und dem Osten ist das Auseinanderklaffen besonders augenfällig. Mehr noch: Die moralische Besserungsabsicht der Literaten und Journalisten im Soge der europäischen Aufklärung ist in der modernen Konsumgesellschaft nicht mehr gültig. Das aktive Engagement von freien weltbürgerlich gesinnten Rechtsgelehrten ist eine Seltenheit. Vorrangig sind die Einschaltquote, der Gewinnanteil, die vorübergehende Sättigung von Massenwünschen. Wo früher die Horazische Doppelforderung „prodesse“ und „delectare“ Leitprinzip war, ist nur das Verlangen nach „delectare“ übrig geblieben. Der Unterhaltungstrieb übertrumpft den Bildungstrieb vergangener Zeiten, auch in der Schule und an der Universität.64 3. Zum dritten sind die Gesetze zur Regulierung diffamierende Reden nur im eigenen Land gültig. Bekanntlich sind solche Gesetze nicht überall gleich. Das Problem wird desto gravierender je weiter von der Ausgangskultur die empfangende Kultur entfernt ist. Es gibt keine globale Gesetzgebung bezüglich der Spannung zwischen Moral und Recht sowie der Justizibilität. Auch das internationale Copyright-Law tritt unterschiedlich in Kraft. Schließlich funktioniert die sogenannte ‚Selbstzensur‘ (etwa im Überwachungssystem von Google und YouTube) nicht konsequent, u. a. weil es keine internationalen Normen gibt. Macht und Reichweite globaler Firmen wie Google waren im 18. Jahrhundert unvorstellbar. Das 21. Jahrhundert sucht immer noch nach einer Lösung.65 64  Die Forderungen mancher Politiker und konservativer Kommentatoren, die Geisteswissenschaften an den Hochschulen zugunsten technisch angewandter Wissenschaften und praktisch verwertbarer Fertigkeiten zu marginalisieren, unterstreichen den Einfluss einer weit verbreiteten Konsummentalität im Bildungsbereich. Für die Situation in den USA vgl. Andrew Rice: Anatomy of a Campus Coup: How Not to Fire a President. In: The New York Times Magazine vom 16. September 2012, S. 56–60, S. 62, S. 65, S. 67. 65  Somini Sengupta: Free Speech in the Age of YouTube. In: The New York Times vom 23. September 2012, SR 4, berichtet: „We are just awakening to the need for some scrutiny or oversight or public attention to the decisions of the most



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Wegen des Ausfalls solcher Regulierungen verliert die Kantische normative Schlussfolgerung – „man kann hier nicht halbieren“ – an Überzeugungskraft in der modernen Vergnügungs- und Konsumgesellschaft. Man kann wohl den moralischen und den politisch-rechtlichen Bereich trennen, wenn der Mensch nicht mehr als erziehbares moralisches Wesen verstanden wird oder wenn das Menschenrechtdenken in einer religiös-doktrinären Gesellschaft vom Felde geschlagen wird. In Deutschland sowie in anderen westlichen Zivilgesellschaften mag das Verständnis für die Untrennbarkeit moralischer und politischer Absichten anders ausfallen als in Weißrussland, Pakistan oder Libyen. Zur Beantwortung der Frage, wann und wo Vorsicht in der unbedingten Forderung nach Rede- und Pressefreiheit auf der Grundlage der Menschenrechte angebracht sei, hat Wieland einige noch relevante Richtlinien vorgeschlagen. Er hielt die Pressefreiheit – dieses „wahre Palladium der Menschheit“ (H III, 566) – nicht für grenzenlos. Das gemeine bürgerliche und peinliche Recht gilt „jedem Schriftsteller, Buchhändler und Buchdrucker“ (H III, 573). Wieland erklärt, welche Schriften seiner Meinung nach verboten sein müßten. Es sind Schriften gegen die rechtmäßig vereinbarten Gesetze „polizierter“ Nationen, die für den kollektiven Schutz der Bürger- und Menschenwürde sorgen. Nicht überraschend ist also, wenn Wieland den Akzent auf Ordnung, Toleranz und humane Behandlung legt. Das Staatsverständnis Wielands deutet auf den Typus des Rechtsstaats, den Franz Schneider zensurgeschichtlich als das „Justiz-System“ charakterisiert. Danach darf jeder ohne Vorzensur drucken, was er vor Gericht verantworten zu können meint. Der Rechtsstaat steht im Gegensatz zum absoluten Fürstenstaat mit seinem präventiven „Polizei-System“.66 In seinem Kosmopolitenaufsatz bezeichnet Wieland nachstehende Textsorten als „ein Verbrechen“: 1. Schmähschriften direkt ad hominem, 2. Revolutionäre Werke, die sich unmittelbar gegen die gesetzmäßige Obrigkeit richten, 3. Direkte Angriffe auf die konstitutionelle Grundverfassung des Staates und 4. Direkte Versuche, alle Religion, Sittlichkeit und bürgerliche Ordnung umzustürzen (H III, 573). Die erste Einschränkung basiert auf der Würde des einzelnen Menschen. Die letzten drei sind Ausdruck von Wielands oben bereits zitierter Überzeupowerful private speech controllers.“ Ihre ad-hoc-Entscheidungen setzen Präzedenzfälle, die juristisch bedeutsam werden. 66  Schneider: Presse, Pressefreiheit, Zensur (Anm.  48), S.  923; vgl. Jürgen Schlumbohm: Freiheitsbegriff und Emanzipationsprozeß. Zur Geschichte eines politischen Wortes. Göttingen 1973.

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gung, dass die natürliche Diversität menschlicher Ansichten bewahrt bleiben müsse und ‚Harmonie‘ stets schöner als die Monotonie der tyrannischen Alleinherrschaft einer einzigen Meinung sei (H III, 515). Für eine Harmonie der Meinungsverschiedenheiten bedürfe es nicht nur der Toleranz, sondern auch einer Regulierung durch bürgerliche Gesetze, da ohne sie Anarchie entstehe, die jegliche Hoffnung auf freie persönliche Entfaltung zerstöre. Chaos und die Herrschaft des brutalsten Tyrannen seien für die Menschheit gleichermaßen ‚tyrannisch‘. Diese Einschränkungen muten uns konservativ an. Wielands Formulierung ist jedoch gezielt und alles andere als beiläufig: „Aber das Wörtchen direct oder geradezu ist hier nichts weniger als müßig; es ist so wesentlich, daß die ganze Strafwürdigkeit einer angeklagten Schrift gänzlich auf ihm beruhet“ (H III, 573). Jeder Zensureingriff ist in seinen Augen ein Willkürakt, wenn sie von einzelnen Männern für eine ganze Gruppe ausgeübt werde. Wer ist denn frei von Vorurteilen und Denkfehlern, fragt er? (H III, 573). Der einzige Schutz gegen bewusste wie unbewusste Voreingenommenheit des einzelnen sei die Mannigfaltigkeit der vielen. Die einzige Korrektur falscher öffent­ licher Meinung einer gegebenen Epoche sei das Urteil späterer Zeiten, wo man nicht unter den gleichen Vorurteilen leide. Wer könne also sagen, was richtig sei für künftige Generationen? Wer sei so dreist, den Kindern und Kindeskindern die Mündigkeit vorzuenthalten? Deshalb dürfe die öffentliche Diskussion nie aufhören. Das Aufklärungswie das menschliche Vollkommenheitspotential sei grenzenlos. Kein Individuum, keine einzelne Institution besitze ein Lehr- und Wahrheitsmonopol (H III, 575). Ähnlich haben E. F. Klein vor Wieland und Perthes nach ihm argumentiert.67 Von den vier Einschränkungen der Pressefreiheit bleibt nur die erste bestehen: das Verbot direkter Verunglimpfung. Mäßig und ohne Erhitzung müsse man allerdings seine Einwände anbringen und sich dessen klar sein, dass die Umstände manchmal Schweigen verlangen. Es wundert nicht, wenn er später Strafmaßnahmen gegen Verleumder fordert.68 Trotz seines Widerwillens gegen Verleumdung und sonstigen Missbrauch der Pressefreiheit war Wieland keineswegs willens, weitere Beschneidungen der Meinungsfreiheit einzuräumen. Verstöße gegen dieses für die Menschwerdung unerlässliche Naturrecht seien ‚Verbrechen‘. Und wie andere Rechtsverletzungen können und sollen sie erst nach der Tat bestraft werden. In einer Anmerkung zum Geheimnis des Kosmopolitenordens schreibt Wieland unmissverständlich: Breuer: Geschichte der Zensur (Anm. 59), S. 140. Reichert: Wielands Stellungnahme (Anm. 48), S. 59; schon das österreichische Zensuredikt von 1781 verbietet übertriebenen Spott, Schmähschriften und Anonymität (Reichert S. 25). 67  Vgl. 68  Vgl.



‚Freie Rechtslehrer‘ und Rechtsreformziele253 Warum bestellt man nicht auch besondere Aufpasser, die dahin sehen, daß Niemand sich betrinken, oder dem anderen eine Ohrfeige geben, oder seine Taschenuhr mausen, oder irgend ein anderes Gebot im Dekalogus übertreten könne? Man läßt es ganz ruhig darauf ankommen, und begnügt sich, den wirklichen Übertreter zu bestrafen, wenn er nach rechtlicher Untersuchung des Verbrechens überwiesen worden ist (H III, 574).

VI. Fazit Die Reform der Justiz durch einfühlende Verständigung war ein Ziel liberal argumentierender Kriminalgeschichten. Die Reform politischer Institutionen durch uneingeschränkte Denk- und Pressefreiheit war das Ziel Wielands und anderer ‚freier Rechtslehrer‘. Er schilderte Übertretungen wenig sensationeller Art, indem er die Exzesse engstirniger Regenten und Vormünder anprangerte. Dabei hat er auf die Durchsetzungsdefizite und Erziehungsziele hingewiesen. Er war, wie wir heute sagen würden, „ein Kameraauge“ im Sinn der Gerichtsreporterin Sabine Rückert: er hat Sachverhalte gefiltert und zum Nachdenken angeregt.69 Samen habe er gesät, fermenta cognitio­ nis ausgestreut, in der Hoffnung, Reformdenken und -projekte würden irgendwann künftig Wurzeln schlagen. Gegen die Übervorteilung anderer, gegen mangelhafte Justiz und obrigkeitlichen Autoritätsmissbrauch, gegen Übermut der Zensoren müsse der ‚freie Rechtslehrer‘ vorgehen, denn er sei Vorkämpfer der allgemeinen Menschenrechte. Und die angeborenen Naturrechte aller Mitglieder eines Staats seien die Grundpfeiler der ‚wohl polizierten Nation‘. Auch diese Tendenz ist Bestandteil der Rechtsreformdebatte um 1800, die bis heute nichts an Relevanz eingebüßt hat, insbesondere hinsichtlich direkter Versuche, Religion, Sittlichkeit und bürgerliche Ordnung umzustürzen. Allerdings konnte er die Ausmaße der heutigen Öffentlichkeit, die Globalität des Internets und dessen Potential, Gewalttätigkeit zu inszenieren, nicht voraussehen. Auch white-collar-crimes wie anonymer Betrug und Übervorteilung fallen leichter denn je.

69  Sabine Rückert versteht sich als „Übersetzerin und Deuterin“ und erklärt ihren Reportage-Stil wie folgt: „Meine Artikel sind ein Gemisch aus Reportage und Meinung, ich erzähle die Geschichte durch mein persönliches Kameraauge. Der Leser nimmt die Sachverhalte gefiltert durch meine Wahrnehmung auf, die allerdings nicht irgendeine beliebige ist, sondern eine auf Kompetenz, Recherche und Integrität gestützte Wahrnehmung.“ („Ich erzähle die Geschichte durch mein persönliches Kameraauge.“ – Sabine Rückert, Gerichtsreporterin bei der Zeit, im Gespräch mit Tim Sparenberg. In: Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen 3 (2008), H.  1 / 2 [Recht, sachlich], S. 116–129, hier S. 122).

Zum Verhältnis von Recht und Moral bei der Zuschreibung von Zurechnungsfähigkeit in historischer Perspektive Von Michael Niehaus Für Gerhard Maurer-Hellstern I. Wie uns unsere Beobachtung und wie uns Literatur und Film – als institutionalisierte Beobachtungsinstanzen – unablässig lehren, kann nicht alles, was wir für moralisch verwerflich halten, bestraft werden, und nicht alles, was bestraft wird, müssen wir für moralisch verwerflich halten. Über beides sind die Beobachter und die institutionalisierten Beobachtungsinstanzen aber oft unzufrieden. Sie rufen dann zum Beispiel nach anderen Gesetzen und Richtern oder stellen poetische Gerechtigkeit her. Unter anderem fordern sie, dass die Strafe für ein Verbrechen nicht nach einem bloßen Subsumptionsvorgang ohne Ansehen der Umstände verhängt werden darf. Die gesetzliche Strafe an sich ist das Harte, in ihrer konkreten Anwendung soll sich die Strafzumessung der Individualität des Falles anschmiegen können, indem sie die Milderungsgründe in Rechnung stellt. Wenn der Richter dergestalt die subjektive Schwere der Schuld beurteilt, gibt er immer auch moralischen Erwägungen Raum, denen Immanuel Kant, als er die kategorische Trennung von Recht und Moral statuierte, gerade keinen Raum geben wollte. Nur das „strikte Recht“, „dem nichts Ethisches beigemischt ist“, ist das eigentliche Recht, weil es „nur das zum Objekte hat, was in Handlungen äußerlich ist“.1 Hat also der Mensch etwa „gemordet, so muß er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit“.2 Vor diesem Hintergrund ist auch die kantische Definition der Zurechnung (imputatio) zu sehen. Sie sei „in moralischer Bedeutung“ das Urteil, dass eine Person Urheber (causa libera) einer Handlung ist, die dadurch zur Tat 1  Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten (Werkausgabe Bd. VIII). Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968, S. 339. 2  Kant: Metaphysik der Sitten (Anm. 1), S. 455.

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wird, die „unter Gesetzen steht“.3 Auch unvorsätzliche Taten können zugerechnet werden, sie sind dann jedoch, entsprechend der alten Unterscheidung, lediglich als Verschuldung (culpa) zu betrachten, während die vor­ sätzliche Übertretung (dolus) „mit dem Bewusstsein, daß sie Übertretung sei“, verbunden ist.4 In diesem Zusammenhang konzediert Kant auch eine Gradation der subjektiven Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas), insofern „der Gemütszustand, ob das Subjekt die Tat im Affekt, oder mit ruhiger Überlegung verübt hat, einen Unterschied macht“.5 Diese Gradation ist jedoch – und das ist entscheidend – streng auf den Zeit­ punkt der Tat beschränkt und setzt die Zurechnung der Tat schon voraus. Rüdiger Campe hat darauf hingewiesen, dass die Zurechnung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwei Seiten hat. Zum einen ist sie – wie bei Kant – eine „grundlegende Kategorie des Rechts selbst“, insofern es darum geht, ob es sich um etwas handelt, worauf Gesetze überhaupt angewendet werden können. Zum anderen aber ist sie ein „Instrument des urteilenden Richters“, mit dem eine „feinere Abstufung der Tatbewertung“ erreicht werden kann.6 Auf der einen Seite gibt es die „rechtsbegründende Unterstellung von Freiheit“, auf der anderen Seite „die neuen kriminalistischen und psychiatrischen Techniken, die sich an die tradierte gerichtliche Praxis der Milderungsgründe anlehnten“.7 Während aus der einen Perspektive nur der Zeitpunkt der Tat zählt, können aus der anderen Perspektive vom Zeitpunkt der Tat aus auch sämtliche Le­ bensumstände des Subjekts in Betracht gezogen werden. Diese beiden Perspektiven des reinen Rechtsstandspunktes und der diffusen moralischen Bewertung unterscheiden sich zwar kategorial, sie überlagern sich aber auch. Sie überlagern sich vor allem in der Praxis des Verfahrens, wenn nach 1800 der zweifelhafte psychische Zustand eines Täters zum Gegenstand einer neuen Disziplin wird, der gerichtlichen Psychologie bzw. der psychisch-gerichtlichen Medizin.8 Die Tatbestände unfreier Handlungen werden im Diskurs dieser Disziplin differenziert und problematisiert. Die Unfreiheit einer Handlung liegt jetzt nicht mehr offen zutage, sondern in der Tiefe des Subjekts. Eine besondere Rolle spielt dabei die von dem französischen Mediziner Philippe Pinel postulierte manie sans délire, die von 3  Kant:

Metaphysik der Sitten (Anm. 1), S. 334. Metaphysik der Sitten (Anm. 1), S. 330. 5  Kant: Metaphysik der Sitten (Anm. 1), S. 335. 6  Rüdiger Campe: Johann Franz Woyzeck. Der Fall im Drama. In: Michael Niehaus / Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.): Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1998, S. 209–236, hier S. 227. 7  Campe: Johann Franz Woyzeck (Anm. 6), S. 229. 8  Vgl. ausführlich Ylva Greve: Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der ‚Criminalpsychologie‘ im 19. Jahrhundert. Köln / Weimar / Berlin 2004. 4  Kant:



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Johann Christian Reil als „Wuth ohne Verkehrtheit des Verstandes“ bezeichnet wurde.9 Daher muss man nicht nur für die Auffindung etwaiger Milderungsgründe, sondern auch für das Abfassen eines gut gegründeten Gutachtens darüber, ob ein Täter zum Zeitpunkt der Tat frei oder unfrei gehandelt hat, im Prinzip möglichst viele Informationen über die Lebensumstände und die Geschichte des betreffenden Subjekts einholen.10 Das im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens erhobene Wissen über das Subjekt wurde auch vorher einer impliziten oder expliziten moralischen Bewertung ausgesetzt. Das gerichtsmedizinische Gutachten jedoch tut dies auf eine neue Art und Weise, insofern sich nun die Frage der Moralität in der Lebensführung mit der Frage nach pathologischen Abweichungen verbindet.11 Das Subjekt wird auf seine Anomalien hin beobachtet. Michel Foucault zufolge hat das psychiatrische Gutachten im Laufe des 19. Jahrhunderts die Funktion übernommen, eine „absolut zweideutige Serie des Subpathologischen und Paralegalen, des Parapathologischen und Sublegalen zu erstellen“.12 Die Anomalien, die die Begutachtung zutage fördert, sind moralische Defekte. Die Rolle, die das Anormale in den Gutachten spielt, steht stellvertretend für einen veränderten Aggregatzustand der moralischen Sphäre, nämlich deren Wahrnehmung aus der Perspektive des Pathologischen. Daher der Begriff des Defektes. Der moralische Defekt zeigt sich weniger in Handlungen, die den Moralgesetzen widersprechen, als vielmehr in wiederkehrenden anormalen Verhaltensweisen, die nicht zuletzt deshalb als pathologisch erscheinen, weil das Subjekt ihrer nicht Herr werden kann. Das Pathologische und das Moralische gehen eine Verbindung ein und definieren ein diffuses Feld, das in einem unaufhebbaren Gegensatz zum strikten Recht steht, aber gleichwohl die gerichtlichen Verfahren kontaminiert. Im Kern besteht der moralische Defekt darin, dass das Subjekt unter einem pathologischen Verlust der Selbststeuerung leidet, der ihm irgendwie selbst zugerechnet werden kann. Wenn das Subjekt – bis zu einem gewissen Grade – für seinen pathologischen Verlust an Selbststeuerung verantwortlich gemacht werden kann, so steht dies in einem wiederum diffusen Verhältnis zur Frage nach der Zurechenbarkeit der Tat, die das Subjekt vor Gericht gebracht hat. 9  Vgl. zum Kontext genauer Greve: Verbrechen und Krankheit (Anm.  8), S. 269–281. 10  Vgl. Johann Christian August Heinroth: System der psychisch gerichtlichen Medizin. Leipzig 1825, S. 487 f. 11  Das Gutachten impliziert, wie man sagen kann, eine bestimmte Subjektposition; vgl. Michael Niehaus: Gutachterlichkeit. In: Claude H. Conter (Hg.): Literatur und Recht im Vormärz. Bielefeld 2010 [Forum Vormärz Forschung, Jahrbuch 2009], S. 23–40. 12  Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974– 1975). Frankfurt a. M. 2007, S. 39.

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II. Das sieht man etwa an dem schon seinerzeit berühmten Gutachten des Mediziners Johann Christian August Clarus über die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, das Georg Büchner später zu dem gleichnamigen Drama angeregt hat.13 Bereits in der Einleitung des zur Hinrichtung am 27. August 1824 auf behördlichen Wunsch als Broschüre publizierten Gutachtens spricht Clarus Klartext: Bei der Beurteilung eines Menschen, der „durch ein unstätes, wüstes, gedankenloses und unthätiges Leben von einer Stufe der moralischen Verwilderung zur anderen herabgesunken“ sei, dürfe „die unverletzliche Heiligkeit des Gesetzes“ nicht aus den Augen verloren werden.14 In der Folge fördert die gutachterliche Darstellung einen Täter zutage, der sich selbstverschuldet in eine Lage gebracht hat, in der ihn seine Affekte zu einer Tat trieben, die er auch im entscheidenden Moment noch hätte unterlassen können.15 Nach dem von Clarus vertretenen Rechtsstandpunkt kann es lediglich ein Entweder-Oder geben. Was den Mediziner angeht, so kann dieser nur zu dem Ergebnis kommen, dass dieses Subjekt unter das Gesetz fällt. Es sei in seinem Gutachten, so Clarus, „nicht von der Leichtigkeit oder Schwierigkeit, sondern von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit leidenschaftlichen Antrieben zu widerstehen, die Rede“.16 Ob die „Temperamentsfehler“ Woyzecks „nicht blos die moralische, sondern die legale Schuld“ seines Vergehens vermindern, möchte Clarus „richterlichem Ermessen anheimstellen“.17 Die Frage nach der Schwere der Schuld ist für ihn also konsequenter Weise eine Frage des Richters, nicht des Gutachters. Gleichwohl liefert sein Gutachten eine Darstellung und Einschätzung des Delinquenten, die auf diffuse Weise das richterliche Urteil kontaminiert. Der Mord Woyzecks an seiner Geliebten ist für den Gutachter Clarus ein klarer Fall – eine nachvollziehbare Eifersuchtstat, die zwar möglicherweise als Affekttat mildernde Umstände verdient, die aber problemlos zurechenbar ist. Man benötigt – so jedenfalls Clarus, andere sind anderer Meinung – insbesondere nicht die Annahme eines geheimnisvollen, unwi13  Vgl. Michael Niehaus: Gegen Gutachten. Georg Büchners Woyzeck. In: Georg Büchner Jahrbuch 12 (2009–2012), S. 219–238. 14  Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde erwiesen. In: Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar. Hg. Burkhard Dedner. Bd. 7.2.: Woyzeck. Darmstadt 2005, S. 260–296, hier S. 260. 15  Niehaus: Gutachterlichkeit (Anm. 11), S. 37 f. 16  Clarus: Zurechnungsfähigkeit (Anm. 14), S. 287. 17  Clarus: Zurechnungsfähigkeit (Anm. 14), S. 287.



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derstehlichen Triebes, einer manie sans délire, einer Mordmonomanie, um sie zu erklären. Wie aber verschränken sich Recht und Moral im Hinblick auf das Problem der Zurechnung, wenn die Kategorie des Triebes ins Spiel kommt? Für Foucault steht man mit dem Begriff des Triebes im 19. Jahrhundert vor „einer ganz neuen Problematik“. Nicht nur bei den aufsehenerregenden monstres morales des beginnenden 19. Jahrhunderts, den „Menschenfressermonstren“, die Foucault zufolge in Frankreich die Ausbildung der forensischen Psychiatrie angestoßen haben, sondern auch bei den „kleinen Perversen“18, die innerhalb des psychiatrischen Diskurses figuriert werden, stellen sich Fragen wie: „Kann man auf Triebe Zugriff haben? Kann man Triebe korrigieren? Kann man Triebe in Ordnung bringen?“19 Das sind moralische Fragen. Zwei konträre Antworten lassen sich gegenüberstellen. Einer der Gründungsväter der neuen Disziplin, Johann Christian August Heinroth, gab seinen 1833 erschienenen Grundzügen der Criminal-Psychologie den Untertitel die Theorie des Bösen in ihrer Anwendung auf die CriminalRechtspflege. Ihm kann man bereits entnehmen, dass Heinroth die Frage der Zurechnung moralisiert. Für ihn entsteht die Seelenstörung, die pathologische Abweichung in der Regel aus der Schuld des Menschen, der sich für das Böse entscheidet und damit freiwillig der Unfreiheit Einzug gewährt.20 Aus dieser Perspektive gibt es die Triebe im Grunde überhaupt nicht, oder genauer: Die Triebe gleichen den Leidenschaften, denen der Mensch aus eigener Schuld Macht über sich einräumt.21 Jedes Verbrechen ist eine sich in einer Tat manifestierende Sünde, die aus mangelhafter Selbstsorge und dem Verlust der Selbststeuerung resultiert. Der Mensch ist moralisch dafür verantwortlich, dass er seine Triebe in Ordnung bringt. Die Folgerungen für die Frage der rechtlichen Zuordnung formuliert Ylva Greve überspitzt: „In Heinroths Zurechnungslehre wurde daher zwar anerkannt, daß ein geisteskranker Täter zum Zeitpunkt der Tat unzurechnungsfähig war, jedoch wurde ihm die Verursachung der Unzurechungsfähigkeit zugerechnet“22. 18  Foucault:

Die Anormalen (Anm. 12), S. 174. Die Anormalen (Anm. 12), S. 175. 20  Vgl. Johann Christian August Heinroth: Grundzüge der Criminal-Psychologie, oder: die Theorie des Bösen in ihrer Anwendung auf die Criminal-Rechtspflege. Berlin 1833, S. 47. 21  Vgl. Silviana Galassi: Kriminologie im deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung. Wiesbaden 2004, S. 75 ff. 22  Ylva Greve: Die Unzurechnungsfähigkeit in der ‚Criminalpsychologie‘ des 19. Jahrhunderts. In: Niehaus / Schmidt-Hannisa (Hg.): Unzurechnungsfähigkeiten (Anm. 6), S. 107–132, hier S. 129. 19  Foucault:

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Das entgegengesetzte Modell für die Stellung des Triebes im Hinblick auf die Zurechenbarkeit lässt sich am besten an einem Fall von 1839 veranschaulichen, den Foucault, gestützt auf zeitgenössische psychiatrische Veröffentlichungen, in seiner Vorlesung Die Anormalen aufgreift. Ein einfacher französischer Bauer verspürt schon in seiner Jugend den unabweislichen Drang, seine Mutter zu töten. Um ihm nicht irgendwann nachgeben zu müssen, tritt er in die Armee ein und meidet sein Zuhause. Nachdem seine Mutter eines natürlichen Todes gestorben ist, überträgt sich der Drang zu töten auf seine Schwägerin. Auf die falsche Nachricht von deren Tod kehrt er nach Hause zurück und lebt nun – er ist inzwischen vierzig Jahre alt – unfreiwillig neben seinem auserkorenen Opfer. Bevor er aber dem Trieb erliegt, schaltet er mit Einverständnis seiner Familie einen Arzt ein und vertraut sich den staatlichen Institutionen an. Er lässt sich in Ketten ans Bett fesseln und gibt den Wunsch zu Protokoll, nach einer etwaigen Vollbringung der Tat möglichst bald hingerichtet zu werden.23 Dies ist eine zweifellos rührselige Geschichte. Sie ist rührselig, weil sie so moralisch ist. Sie kann aber nur deshalb so moralisch sein, weil in ihr der Trieb als das radikal Andere und Unkontrollierbare erscheint. Er hat nichts zu tun mit den Leidenschaften, denen der Mensch Macht über sich einräumt und die ihn beseelen mögen. Er verdankt seine Macht in keiner Weise mangelhafter Selbstsorge und einem selbstverantworteten Verlust der Selbststeuerung. Es ist ja vielmehr gerade das Maximum an Selbstsorge, das dieser Bauer an den Tag legt und gerade dadurch die Irreduzibilität des Triebes nahezu allegorisch ins rechte Licht setzt. Dieser vorbildliche Mensch wird zum Zeitpunkt der Tat ganz gewiss unzurechnungsfähig sein, ohne dass ihm die Verursachung der Unzurechnungsfähigkeit zugerechnet werden könnte. Aber – und hier treten Recht und Moral in eine paradox anmutende, aber gleichwohl folgerichtige Konstellation – die Moralität dieses einfachen Bauern legt ihre letzte Probe gerade in seinem Verlangen ab, unter das Gesetz zu fallen und gerichtet zu werden, obwohl er von Rechts wegen nicht unter das Gesetz fallen kann. Er will, dass ihm zugerechnet wird, was ihm nicht zuzurechnen ist. Es kann nicht darum gehen, die eine Konzeption des Triebs gegen die andere auszuspielen. Vielmehr ist der Trieb als eine Kategorie zu betrachten, zu deren Logik es gehört, auf die eine wie auf die andere Weise verortet werden zu können: Im Spannungsfeld dieser beiden entgegengesetzten Modelle bewegt sich im 19. Jahrhundert der Diskurs über den Trieb hinsichtlich der Zurechnungsthematik. Gemeinsam ist ihnen freilich, dass die Frage der rechtlichen Zurechnung logisch mit derjenigen der moralischen Zurechnung verknüpft ist. 23  Vgl.

Foucault: Die Anormalen (Anm. 12), S. 185 ff.



Zurechnungsfähigkeit in historischer Perspektive261

Um diesen etwas schablonenhaften Aufriss ein wenig zu veranschaulichen und zu relativieren, soll im Folgenden auf ein Fallbeispiel aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eingegangen werden, das in verschiedener Hinsicht zu denken gibt. Dabei wird sich auch zeigen, dass diese systematische Verknüpfung von Recht und Moral hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeitsproblematik der narrativen Darstellung eines Falles – sei sie literarisch oder institutionell gebunden – genau entspricht. III. Am 21. April 1831 wurde in Bremen vor etwa dreißigtausend Zuschauern (was etwa drei Viertel der Einwohnerzahl entsprach) die Giftmörderin Gesche Margarethe Gottfried geb. Timm geköpft. Sie hatte in den Jahren 1813 bis 1827 insgesamt fünfzehn Menschen mit Arsenik umgebracht; etwa die gleiche Anzahl nicht tödlicher Vergiftungen hatte sie ebenfalls gestanden. In einer ersten Phase hatte sich die aus geachteten bürgerlichen Verhältnissen stammende Frau ihrer Familie entledigt – zunächst ihres ersten Mannes, dann ihrer Eltern, ihrer drei Kinder, ihres Bruders und schließlich ihres zweiten Mannes. Nach einer Pause von etwa sechs Jahren hatte es eine zweite Vergiftungsserie gegeben, bei der es ihren Verlobten traf sowie Freunde und beliebige Bekannte ihrer Umgebung. Schließlich war sie entdeckt worden, nachdem ein Radmachermeister, mit dem sie unter einem Dach lebte und der seit Monaten an unerklärlichen Krankheitssymptomen litt, einen vergifteten Schinken zur Apotheke gebracht hatte.24 Es versteht sich von selbst, dass in dem sich über drei Jahre hinziehenden Verfahren auch die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit zur Debatte stand (auch wenn die Täterin selbst nicht auf ihre Unzurechnungsfähigkeit spekuliert zu haben scheint). Schließlich hatte man es hier augenscheinlich mit einem im Verborgenen wirkenden monstre morale par excellence zu tun, deren Taten unerklärlich schienen. Die umfangreiche Defensionsschrift ihres Verteidigers Friedrich Leopold Voget argumentierte in diesem Punkt folgendermaßen: Erstens könne die Inquisitin trotz einiger charakterlicher Defizite 24  Im Jahr 1987 gelangten die lange verloren geglaubten, dann in den 1950er Jahren in Moskau wieder aufgetauchten und nach Ostberlin übergebenen Prozessakten wieder zurück nach Bremen, wo sie von Peer Meter einer systematischen Auswertung unterzogen und in eine nunmehr quellengesättigte Darstellung des Falles überführt wurden; vgl. Peer Meter: Gesche Gottfried. Eine Bremer Tragödie. Bremen 2010. In dieser Darstellung finden sich auch weitere Literaturangaben zu diesem Fall, der nicht nur seinerzeit großes Aufsehen erregt, sondern auch bis heute immer wieder zu zahlreichen fiktionalen Bearbeitungen in verschiedenen Medien und Formaten angeregt hat (Melodram, Roman, Theaterstück, Film, Hörspiel, Graphic Novel), in denen zum Problem der moralischen bzw. rechtlichen Zurechnungsfähigkeit stets implizit oder explizit Stellung genommen wird.

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als weithin geachtete Dame und Wohltäterin „kein absolut lasterhaftes Gemüt“25 sein; insofern konnte die Gesche Gottfried also nicht zu den Anormalen im Sinne Foucaults gerechnet werden. Zweitens bietet die „Triebfeder des Eigennutzes“ keine ausreichende Erklärung für ihre Taten; oft habe sie Menschen aus ihrem Umkreis aus nichtigen Gründen vergiftet. Drittens habe die Inquisitin selbst in den Verhören verschiedentlich von einem ihr selbst unerklärlichen „Trieb“ gesprochen.26 Viertens böten die Akten „positive Spuren eines blinden, auf einen seelengestörten Zustand deutenden Triebes dar“.27 Aus all dem dürfe man „auf eine giftmordsüchtige Monomanie schließen“, einhergehend mit einer „Selbstbestimmungsunfähig­ keit“.28 Der Verteidiger möchte zwar die „Seelenstörung der Inquisitin“ nicht einfach „organisch erklären“, verweist aber immerhin darauf, dass Esquirol das Krankheitsbild der ‚mordsüchtigen Monomania‘ nachgewiesen habe.29 Es sei daher unumgänglich, eine „psychisch-ärztliche Exploration“ bei der Inquisitin durchzuführen.30 Aber dieser Forderung wurde nicht entsprochen. Gesche Gottfried wurde – sieben Jahre nach dem aufsehenerregenden Fall Woyzeck mit seinem anschließenden Gutachterstreit – ohne „psychisch-ärztliche Exploration“ hingerichtet. Warum? Das Obergericht erklärte dazu in seinen Entscheidungsgründen zunächst einmal, im „gewöhnlichen Sinn des Wortes“ seien der Inquisitin ihre Handlungen „unstreitig zuzurechnen“, und es sei „noch die Frage, ob man dem irdischen Richter, dem es nun einmal nicht gegeben ist, alle psychologischen Rätsel zu lösen“, zumuten könne, „über diese Grenze hinaus dem psychischen Arzt in das Labyrinth seiner Hypothesen“ zu folgen.31 Aber auch wenn man anerkenne, dass es „bei der normalen Tätigkeit aller anderen Geisteskräfte eine Gebundenheit des Willens“ geben könne, „die als blinder unwiderstehlicher Trieb zu bestimmten Handlungen, als automatischer Drang, als manie sans delire“ wirke, so gebe es im vorliegenden Fall keinen Grund zur Unterstellung einer solchen Krankheit; ihre Taten seien nämlich bei näherem Hinsehen keineswegs rätselhaft – „ab25  Friedrich Leopold Voget: Lebensgeschichte der Giftmörderin Gesche Margarethe Gottfried. In gekürzter Fassung herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Eckart Oehlenschläger. Bremen 1976, S. 253. 26  Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 255 f. 27  Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 259. 28  Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 264 und 266. 29  Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 267; vgl. die zeitgenössische Übersetzung von Esquirols einschlägigem Werk ins Deutsche: Jean Etienne Dominique Esquirol: Esquirols Bemerkungen über die Mord-Monomanie. Nürnberg 1831 [Repr. 2007]. 30  Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 268. 31  Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 272.



Zurechnungsfähigkeit in historischer Perspektive263

gesehen von dem Rätselhaften, das überhaupt die Begehung schwerer naturwidriger Verbrechen begleitet und das wohl schon zu der Frage geführt hat, ob nicht jedes Verbrechen in einer Art von geistiger Zerrüttung seine Quelle habe“.32 Vielmehr erscheine Gesche Gottfried den Akten zufolge „als ein eitles, selbstsüchtiges, und jedem oberflächlichen Eindruck sich leichtsinnig hingebendes Wesen“, das seine „geistige Beschränktheit […] hinter der Larve der Halbkultur“ verberge. Ihre groben Verbrechen hätten „ihre Quelle und ihren Mittelpunkt in einem Egoismus, der durch kein tiefer dringendes religiöses Gefühl, durch keine sittliche Kraft gezügelt wird“.33 Das Gericht fällt also ein vernichtendes moralisches Urteil über die Inquisitin, bevor es sie zum Tode verurteilt. Und dieses vernichtende moralische Urteil ist – aus den oben beschriebenen Gründen – die Voraussetzung für die rechtmäßige Verhängung des Todesurteils. Eine solche Urteilsbegründung setzt sich dem naheliegenden Einwand aus, dass ja nun gewiss nicht alle Leute, die eitel, selbstsüchtig, oberflächlich und egoistisch sind, schließlich über dreißig Leute mit Arsenik vergiften. Aus diesem Argument folgt aber nur die Anweisung, zu verstehen, unter welchen kontingenten äußeren Bedingungen diese charakterlichen Voraussetzungen ein solches Resultat hervorbringen konnten, das heißt den Lebensweg oder den Werdegang von Gesche Gottfried nachzuvollziehen. Um Gesche Gottfried ihre Taten rechtlich zurechnen zu können, muss ihre Lebensgeschichte so erzählt werden, dass diese Taten insgesamt nachvoll­ ziehbar erscheinen. Sie müssen in das narrative Konzept der Lebensgeschichte integrierbar sein, das durch seine Nachvollziehbarkeit notwendigerweise in der Sphäre des Moralischen angesiedelt ist. Von dieser Nachvollziehbarkeit her können möglicherweise Milderungsgründe geltend gemacht werden, sie kann aber niemals Unzurechnungsfähigkeit begründen.34 Innerhalb dieses narrativen Konzepts muss auch der Vergiftungstrieb von Gesche Gottfried, der sich in der zweiten Phase der Vergiftungen aufdrängt, erklärt und neutralisiert werden. Es würden nämlich, so wiederum das Gericht, „Verbrechen, öfter begangen, endlich zur Gewohnheit, und diese Gewohnheit wirkt als ein Reiz, der zuletzt fort und fort zu neuen Verbrechen antreibt“.35 Das sieht dann aus wie ein übermächtiger Trieb, aber es ist eben ein Trieb, für den man selbst die moralische Verantwortung trägt; 32  Voget:

Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 273. Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 274. 34  Vgl. zu diesem Problem auch Michael Niehaus: Andere Zustände. Kindermörderinnen im ausgehenden 18. Jahrhundert und ihre Zurechnungsfähigkeit. In: Niehaus / Schmidt-Hannisa (Hg.): Unzurechnungsfähigkeiten (Anm. 6), S. 85–106, hier S.  92 ff. 35  Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 275. 33  Voget:

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zentral ist also der Begriff der Gewohnheit36: Jede Gewohnheit setze – so das Gericht logisch schlussfolgernd – „eine Zeit der Angewöhnung, folglich eine Zeit voraus, wo das Verbrechen ohne diesen Antrieb begangen wurde, und es muß dem Täter dann außer der ersten Übertretung, welche die Bahn brach, auch gerade das zugerechnet werden, daß er die verbrecherische Neigung, statt sie beizeiten zu bekämpfen, an sich zur Gewohnheit erwachsen ließ“.37 Man sieht, dass hier die Gedankenfigur von Heinroth wiederkehrt, der zufolge dem Menschen seine Unzurechnungsfähigkeit zum Zeit­ punkt der Tat letztlich zugerechnet werden kann, weil er ihr Einlass gewährt hat, und so zur Ursache der eigenen Unzurechnungsfähigkeit geworden ist.38 Im Grunde wird das Modell des Triebes durch das der Sucht ersetzt, die wiederum aus der Gewohnheit erklärt wird. In der hundert Seiten umfassenden Falldarstellung der Gesche Gottfried im Neuen Pitaval von 1842 wird zusammenfassend sehr wohl konzediert, dass die Täterin am Ende von einem Trieb zum Vergiften beseelt wurde, aber dieser Trieb war kein „ursprünglicher, angeborener. Erst im Verlauf ihrer Sündenbahn erwuchs er, und wurde stark, bis er sie überwältigte. Sie ist Schuld daran; nicht finstere Mächte, böse Dämonen, sie selbst impfte sich ihn ein“.39 Die Taten von Gesche Gottfried sind monströs, aber sie ist kein ‚Menschenfressermonster‘, das paradigmatische Objekt der (französischen) Kriminalpsychiatrie, son36  Man denke auch an die Rede vom ‚Gewohnheitsverbrecher‘, die im 19. Jahrhundert zu einer Kategorie der Kriminologie wird (vgl. etwa Peter Becker: Verderbnis und Entartung: Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002, insbes. S. 218 ff.). Auch dessen ‚Unverbesserlichkeit‘, die auf die Nähe von Gewohnheit und Sucht verweist, ist selbstinduziert; Modelle hierfür sind unter anderem der gewohnheitsmäßige Trinker und – aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert importiert – der gewohnheitsmäßige Selbstbeflecker. 37  Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 275. Im Rahmen dieser Gedankenfigur kommt natürlich der ersten Tat der entscheidende Stellenwert zu. Mit ihrem ersten Tätlichwerden überschreitet Gesche Gottfried – willentlich – eine Grenze, wobei viele Umstände und insbesondere das Gift als Mordinstrument zusammenwirken, diese Grenze unsichtbar zu machen (vgl. Michael Niehaus: Schicksal sein. Giftmischerinnen vom Pitaval bis zum Neuen Pitaval. In: IASL Bd. 31 (2006), H. 1, S. 133–149, hier S. 148 f.). Entsprechend muss sich die Verteidigungsschrift bemühen, bereits die erste Tat (die unzweifelhaft das Motiv hatte, den ungeliebten und kranken Ehemann aus dem Weg zu räumen) als ‚unfrei‘ zu klassifizieren: „Also wie ein Leiden, wie ein Kranksein betrachtet Inquisitin selbst schon ihre erste Vergiftung“ (Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 262). 38  Überspitzt formuliert, wird der Tatbestand in einer Analogie zur actio libera in causa konstruiert, freilich ohne das rechtliche Erfordernis, dass das Sich-Versetzen in den Zustand der Schuldunfähigkeit mit dem Vorsatz der Ausübung einer Straftat geschieht. 39  Julius Eduard Hitzig / Wilhelm Häring (Hg.): Gesche Margaretha Gottfried. In: Der Neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit. Bd. 2. Leipzig 1842, S. 256–359, hier S. 351.



Zurechnungsfähigkeit in historischer Perspektive265

dern ein ‚verantwortliches Monster‘, das paradigmatische Objekt der (deutschen) Kriminalpsychologie.40 In ihr gibt es keinen irreduziblen Trieb (und auch kein unzugängliches Trauma). Das ‚verantwortliche Monster‘ sucht uns auf andere Weise heim. IV. Außer dem Verteidiger Friedrich Leopold Voget scheint niemand die Stimme erhoben zu haben, um die Unzurechnungsfähigkeit von Gesche Gottfried zu behaupten. Aber auch Voget hat dies nur in Ausübung seines Amtes als Verteidiger getan. Noch vor der Hinrichtung brachte er das Buch Lebensge­ schichte der Giftmörderin Gesche Margarethe Gottfried auf den Markt (dem er nach der Hinrichtung einen zweiten, das Verfahren, die Haftzeit und das Ende der Delinquentin betreffenden Band folgen ließ). In diesem Buch präsentiert er – der Gattung Lebensgeschichte entsprechend – seine Mandantin als ebenso moralisch und rechtlich zurechnungsfähig wie das Obergericht in den Entscheidungsgründen zum Todesurteil. Das folgt schon aus seiner Vorbemerkung, in der er sein Ziel als die „Entschleierung des Innern eines menschlichen Wesens“ bezeichnet, „welches mit tausend anderen von einem und demselben Anfangspunkt beginnend, auch äußerlich mit tausend eine gleiche Bahn weitergehend, vor unseren Augen zu der furchtbarsten Verruchtheit herabsinkt – jedoch so, daß wir den Keim zu gleichem oder ähnlichem Verfall in unserem eigenen Herzen wahrnehmen“.41 Man sieht hier sehr gut, dass der Vorsatz, die Taten der Gottfried durch Darstellung der Lebensgeschichte verständlich und nachvollziehbar zu machen, notwendigerweise eine moralische Erzählung hervorbringt. Sie wird hier verstärkt durch den beunruhigenden Befund, dass sich noch die unscheinbaren Vorzeichen der künftigen Laufbahn in der ausführlich geschilderten Kindheit und Jugend der späteren Giftmörderin – Zeichen der Eitelkeit, der Verstellungskunst, des Aberglaubens – aus bürgerlichen Tugenden ableiten. Die Zeitgenossen haben der Darstellung von Voget höchste Bewunderung gezollt. Die Verfasser des Neuen Pitaval attestieren ihr, diesem „rätselhaften Wesen“ nachgespürt zu haben bis „in seine scheinbar verborgensten Schlupfwinkel, um der Mit- und Nachwelt dazuthun, daß hier weder dämonische Einflüsse gewaltet, noch daß die Gottfried eine Ausgeburt der Hölle war, sondern ein menschliches Wesen, gleich uns“.42 Der Berliner Professor der 40  Vgl. Michael Niehaus: Das verantwortliche Monster. In: Achim Geisenhanslüke / Georg Mein (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009, S. 81–102. 41  Voget: Lebensgeschichte (Anm. 25), S. 7. 42  Hitzig / Häring (Hg.): Gesche Margaretha Gottfried (Anm. 39), S. 267.

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Rechte Carl Ernst Jarcke (der sich schon in den Gutachterstreit um Woyzeck eingemischt hatte), veröffentlichte auf das Buch Vogets hin in Hitzig’s Annalen noch im selben Jahr eine Schrift von über zweihundert Seiten Umfang mit dem Titel Über den Charakter der Gottfried, in der er Vogets Werk „für eine der besten Schriften“ erklärt, „welche uns auf dem Gebiete der Seelenkunde der Verbrecher bekannt geworden sind“.43 In neuerer Zeit urteilt man anders. Es sei ein Missverständnis, schreibt Christian Marzahn 1988, das Buch von Voget für eine „lebensgeschichtlichpsychologische Analyse“ zu halten, da es vielmehr eine „Moralschrift“ sei, die eine „allgemeine Morallehre“ voraussetze. „Moralische Wertungen“ durchzögen den Text, und zwar „zumeist als negative Bewertung der Hauptfigur“.44 In dieser Einschätzung liegt jedoch eine profunde Verkennung dessen, was Moral ist und was eine ‚lebensgeschichtlich-psychologische Analyse‘. Sie ist, als Textsorte betrachtet, etwas, was die „Moralschrift“ gewissermaßen beerbt. Sie kann diesen grundlegenden Bezug zur Moral allenfalls verhehlen. Wenn sie aufhören würde, den Gegenstand, über den sie spricht, auch in der Sphäre des Moralischen zu situieren, dann gäbe es keine Zurechnung mehr. Dann gäbe es nicht mehr ein Subjekt der Lebensgeschichte, sondern nur noch ein Objekt. Wer nicht daran festhält, wird an der Moral irre – oder genauer: Er spricht vom moralischen Irresein, von der moral insanity, ein Begriff des Engländers James Cowles Prichard, der durch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts geistert und auch mit der Theorie Lombrosos vom ‚angeborenen Verbrecher‘ eine Verbindung eingeht.45 Wer am moralischen Irresein leidet, ist unzurechnungsfähig, ohne geisteskrank zu sein und ohne einem Trieb zu gehorchen. Das ist der moralische Defekt in Reinform. Aus der Perspektive der zeitgenössischen Kriminologie hat der Nervenarzt Ludwig Scholz 1913 eine „kriminalpsychologische Studie“ über Gesche Gottfried verfasst. Was ihn am Charakter von Gesche Gottfried am meisten frappiert, ist ihre „gradezu einzig dastehende sittliche Empfindungslosigkeit“.46 Er versucht diesen moralischen Defekt aber nicht mehr von ihrer Lebensgeschichte her nachzuvollziehen, sondern beharrt auf seiner Unherleitbarkeit. Er möchte Gesche Gottfried 43  Carl Ernst Jarcke: Über den Charakter der Gottfried. Betrachtungen nach Lesung der Voget’schen Schrift niedergeschrieben. In: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege. Bd. XI. Berlin 1831, S. 247–458, hier S. 248. 44  Christian Marzahn: Scheußliche Selbstgefälligkeit oder giftmordsüchtige Monomanie? Die Gesche Gottfried im Streit der Professionen. In: Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens 11 (1988), S. 195–245, hier S. 217 f.; vgl. auch Meter, Gesche Gottfried (Anm. 24), S. 187. 45  Galassi: Kriminologie im deutschen Kaiserreich (Anm. 21), S. 183 ff. 46  Ludwig Scholz: Die Gesche Gottfried. Eine kriminalpsychologische Studie. Berlin 1913, S. 147.



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zu den Individuen zählen, „die durch ihre Hirnorganisation gehindert werden, sittliche Triebe bestimmend auf sich wirken zu lassen“.47 Wer dergestalt unter der moral insanity leidet, dem darf man insbesondere die Verursachung der Unzurechnungsfähigkeit nicht zurechnen. Gesche Gottfried habe „nicht die gleiche Möglichkeit besessen, zwischen guten und schlechten Trieben zu wählen wie ein geistig normaler und sittlich unverkrüppelter Mensch“.48 Und auf was für ein Urteil soll man daraus schließen? Vor ein „Entweder-Oder“ gestellt würde sich der Nervenarzt – auch angesichts des Reichsstrafgesetzbuches, das die moral insanity nicht anerkennt – für die Zurechnung entscheiden – „im Sinne des Gesetzes war die Verbrecherin geistig gesund“; auf eine paradoxe Weise lässt Scholz Gesche Gottfried unter das Gesetz fallen, entzieht sie aber der „ethischen Verantwortung“ für ihre Taten.49 Die Schuld soll ihr nicht gegeben werden. Aber ist das Gesetz dann noch ein Gesetz? Wie ist es in einer Kultur, in der – wie der Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre sagt – „die Schuld obsolet geworden“ ist50, noch möglich, Recht und Moral nicht nur zu unterscheiden, sondern auch zusammen denken? Und wenn man Recht und Moral nicht mehr zusammen denken kann, indem man sie auf das bezieht, was Legendre die „Vernunftvermutung“51 nennt, dann vermag man weder das eine noch das andere zu denken. Wir haben, so Scholz, nicht das Recht, Subjekten wie der Gesche Gottfried gegenüber „Worte wie Vergeltung, Schuld und Sühne in den Mund zu nehmen“, aber wir haben das Recht, „uns unserer Haut zu erwehren und die antisozialen Elemente nicht frei herumlaufen“ zu lassen.52 Fragt sich, wie wir dann zu ihnen sprechen können.

47  Scholz:

Die Gesche Gottfried (Anm. 46), S. 151. Die Gesche Gottfried (Anm. 46), S. 155. 49  Scholz: Die Gesche Gottfried (Anm. 46), S. 155. 50  Pierre Legendre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Versuch über den Vater. Aus dem Französischen von Clemens Pornschlegel. Wien / Berlin 2011, S. 45. 51  Legendre: Verbrechen (Anm. 50), S. 49–59. 52  Scholz: Die Gesche Gottfried (Anm. 46), S. 156. 48  Scholz:

Rechtliche und moralische Paradoxa oder Dilemmata. Kleists Sonderbarer Rechtsfall, Klingemanns Selbstgefühl und Schirachs Volksfest Von Alexander Košenina Für das Nachdenken über Recht, Gerechtigkeit und Moral sind Grenzfälle oder gar Dilemmata die lehrreichsten Gegenstände. In der Literatur, besonders in populären Formen wie Anekdote, Fallgeschichte oder Theaterstück, werden sie als Knobelaufgaben mit didaktischen Zwecken verbunden. Kleist erfindet solche schwer zu entscheidenden Situationen zu Beginn des Jahres 1800 – als er sich gerade die Frage stellt: „Soll ich die Rechte studieren?“1 – in seinen Briefen an die Verlobte Wilhelmine von Zenge als „Denkübungen“: „Die wechselseitige Übung in der Beantwortung zweifelhafter Fragen hat einen so vielseitigen Nutzen für unsre Bildung, daß es wohl der Mühe wert ist, die Sache ganz so ernsthaft zu nehmen, wie sie ist […]“.2 Drei solcher Aufgaben, die man zwischen Ethik und Rechtskunde verorten könnte, sollen das illustrieren: „1. Wenn der Mann sein brutales Recht des Stärkern mit den Waffen der Gewalt gegen die Frau ausübt, hat nicht auch die Frau ein Recht gegen den Mann, das man das Recht des Schwächern nennen könnte, und das sie mit den Waf­ fen der Sanftmut geltend machen kann?  2. Was knüpft die Menschen mehr mit Banden des Vertrauens aneinander, Tugenden oder Schwächen?   3. Darf die Frau niemandem gefallen, als dem Manne?“3

Jede dieser Fragen könnte den Kern einer literarischen Ausarbeitung bilden, von der rhetorischen Übungsform der Chrie bis zur vielfältig schattierten Novelle. Dabei dürfte es immer um abwägendes Entscheiden gehen, das im Falle eines Konfliktes oder gar einer Paradoxie vielversprechend wäre. Besonders die Diskrepanz zwischen Rechtsgefühl und kodifiziertem Recht hat Kleist seit seinem ersten Stück Die Familie Schroffenstein (1803) immer 1  Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2. Hg. von Helmut Sembdner. München 1994, S. 503. 2  Ebd., S. 505. 3  Ebd., S. 511.

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Alexander Košenina

Abb.: Das zehnte von zwölf Kupfern aus William Hogarths Industry and Idleness (1747)

wieder durchgespielt.4 Zuweilen spitzt sie sich auch zum Dilemma zu – also zur Unentschlossenheit zwischen gleichermaßen aussichtlos scheinenden Optionen, etwa in der Wahl des Prinzen von Homburg zwischen Anerkennung des eigenen Rechtsbruchs mit anschließender Hinrichtung oder einer fortbestehenden Schuld nach Begnadigung bzw. Rechtsbeugung. Entscheidungsfälle solcher Art sollen im Folgenden in Gestalt kleinerer Nüsse geknackt werden. Auf der zehnten Platte von William Hogarths Bilderzyklus Industry and Idleness (1747) ist so ein ambivalenter Konflikt zu betrachten.5 Thomas Idle und Francis Goodchild sind Lehrlinge in der gleichen Londoner Weberei, der faule Idle gerät auf die schiefe Bahn, spielt, betrügt, hurt und mordet, der fleißige Goodchild hingegen ist ein guter Christ, heiratet die Toch4  Vgl. Peter Michelsen: Die Betrogenen des Rechtgefühls. Zu Kleists Familie Schroffenstein. In: Kleist Jahrbuch (1992), S. 64–80. 5  Vgl. Mark Hallett / Christine Riding: Hogarth. Ausstellungskatalog der Tate Britain. London 2006, S. 184–189.



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ter des Meisters und wird Scheriff, dann Ratsherr schließlich Bürgermeister von London. In der Funktion als Friedensrichter (magistrate) führt man ihm seinen früheren Kameraden als Verbrecher vor; er und seine Mutter betteln um Gnade, der Gerichtsdiener links wird bestochen, ein früherer Spießgeselle sagt unter Eid auf die Bibel aus – gegen ihn oder vielleicht für ihn? Ob wahr oder falsch ist unerheblich, meint Lichtenberg, denn er schwört erstens mit der falschen Hand (der Linken statt der Rechten); und zweitens würde es ohnehin nichts helfen, weil doppelte Verneinung hier keine Beglaubigung bedeutet: „ein falscher Eid wider einen Freund, falsch geschworen wird noch kein Eid für ihn“.6 Goodchild wendet sich ab und bedeckt die Augen. Spielt das auf die allegorisch mit Augenbinde dargestellte Gerechtigkeit an oder könnte er auch die Augen vor den Verbrechen verschließen und Recht beugen? Ist es die Geste empörter Verachtung oder jene der betroffenen Befangenheit, die einem unabhängigen Richter im Wege steht? Verurteilung würde den Tod des Kameraden bedeuten (er endet tatsächlich auf dem Hinrichtungsplatz „Tyburn“), Freispruch hingegen Rechtsbeugung oder Strafvereitelung. In der Rahmenvignette unter Goodchild wird Leviticus 19, 15 zitiert: „Thou shalt do no unrighteousness in Judgement.“ Wie auf diesem Bild ist in der Literatur vor allem der Sonderfall, der Ausnahmekasus von Interesse. Die unbedenkliche, routinierte Anwendung einer kodifizierten Gesetzesnorm auf einen gegebenen Tatbestand verdient im deutschen Rechtsverständnis so wenig Aufmerksamkeit wie die passgenaue Wiederkehr eines einstigen Präzedenzfalles im englischen Case Law oder Common Law. Durch Geschworene im englischen und später im angelsächsischen Gerichtsverfahren kommt sicher mehr alltägliches Rechtsgefühl und pragmatische Abwägung zum Zuge als das zu wahrende Prinzip des Rechts. Denn juristisch nicht ausgebildete Bürger repräsentieren die Rechtsgemeinschaft und beurteilen ohne einen Zwang zur nachherigen Begründung selbständig den Tatbestand („You are the law“). Richter und Anwälte stehen ihnen lediglich zur Erläuterung der Rechtslage bei und können den Urteilsspruch der Jury in der Regel nicht revidieren. In der älteren britischen Tradition hatte die aus zwölf Mitgliedern zusammengesetzte Jury ein einstimmiges Urteil zu fällen, genau wie heute in den USA. Im Folgenden sollen zwei um Ausnahmen zentrierte Rechtsfälle aus dem englischen Common Law (Kleist) und dem deutschen Civil Law (Schirach) miteinander verglichen und um ein (auch rechtlich relevantes) Moraldilemma (Klingemann) ergänzt werden: In Kleists Anekdote Sonderbarer Rechts­ fall in England aus den Berliner Abendblättern vom 9. Februar 1811 verhindert das moralisch motivierte Unschuldsvotum eines einzigen unter zwölf 6  Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. Bd. 3. München 1972, S. 1057.

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Jury-Mitgliedern eine ungerechte Verurtei­lung. Während hier eine Ausnahme zur Gerechtigkeit beiträgt, führt eine solche in der Erzählung Volksfest des Kleist-Preisträgers Ferdinand von Schirach zur Nichtbestrafung einer schrecklichen Gemeinschaftstat. Hier vereitelt das Schweigen von neun an einer Massenvergewaltigung mutmaßlich beteiligten Freunden die Anklage und Verfolgung eines abscheulichen Verbrechens, da die Unschuld eines Mannes verbürgt ist, die Täter aber durch kollektives Verstummen nicht identifiziert werden können. Eine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung wird erstaunlicher Weise nicht erhoben. Fehlende Beweise, das Recht auf Aussageverweigerung und die Unschuldsvermutung sorgen so für eine zwar höchst konstruierte, dem Rechtsgefühl aber eklatant widersprechende, empörend unmoralische Entschei­ dung des Ermittlungsrichters. In Klingemanns moralphilosophischem Drama Selbstgefühl (1800) gerät ein Mann durch eigenes Fehlverhalten in einen unlösbaren Entscheidungskonflikt zwischen zwei Frauen, die ihn beide lieben und beide Kinder von ihm haben oder erwarten. Die erste hat er aus höheren politischen Ambitionen verlassen, obgleich er sie liebte, die zweite hat er geheiratet, obgleich er sie nicht wirklich lieben konnte; die Rückkehr zur früheren Geliebten würde Scheidung und gesellschaftliche Schande bedeuten, das Festhalten an der bestehenden Ehe hingegen persönliches Unglück und fortgesetzten Bruch älterer (Ehe-)Versprechen. Alle drei Fälle enthalten Spielarten von Dilemmata, also Pattsituationen, oder von Paradoxien, also Aussagen, die quer zur Erwartung oder herrschenden Auffassung (Doxa) des Lesers stehen. Kleists Geschworener gehört als Täter wegen Befangenheit eigentlich nicht in eine über Schuld oder Unschuld befindende Jury. Er kann mit dem Votum „schuldig“ nur zu einem Fehlurteil beitragen oder mit dem Urteil „unschuldig“ zur weiteren Ermittlung und Gefahr der eigenen Entdeckung. Klingemanns Hauptfigur kann sich für keine der beiden Frauen ohne Nachteile oder persönliche Schuld entscheiden. Und die Vergewaltiger bei Schirach gehen straffrei aus, weil die auszuschließende Verurteilung eines Unschuldigen ein hohes, zu schützendes Rechtsgut darstellt. Philosophisch beruht das Paradoxe „auf einem Schein, es ist ästhetischer, der Widerspruch ist logischer Natur“.7 Deshalb kann es nur durch Interpretation aufgeklärt werden, nicht aber wie der Widerspruch logisch formalisiert und so aufgelöst werden. Da die scheinbaren Widersprüche oder Absurditäten zuallererst sprachlich verfasst sind, spielt das Paradoxe vor allem in der Rhetorik eine große Rolle, man könnte es aber ebenso in der 7  Vgl. Josef Simon: Das philosophische Paradoxon. In: Paul Geyer / Roland ­ agenbüchle (Hg.): Das Paradox. Herausforderung des abendländischen Denkens. H Tübingen 1992, S. 45–60.



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Rechtswissenschaft erwarten.8 „Auf sprachlicher Ebene verwirklicht sich das Paradoxe in verschiedenen rhetorischen Wort- und Sinnfiguren wie Chiasmus, distinatio negativa, Hyperbel, Ironie, Paronomasie, Periphrase, Rätsel, rhetorische Frage, Sentenz und Zeugma. Prägnantester Typ rhetorischer Paradoxie ist das Oxymoron“.9 Hervorzuheben ist darüber hinaus der historische Befund, dass etwa die französischen Moralisten (Montaigne, La Rochefoucauld) dieses stilistische Instrumentarium nutzen, um die Widersprüchlichkeit der Menschennatur (z. B. zwischen Identität und Fremdsein, Authentizität und Verstellung, Sein und Schein, Natur und Kultur) zu illustrieren; gegenüber diesem Mittel zur Wesensbestimmung eines Gegen­ standes nutzen die Aufklärer das Paradoxe vornehmlich zur Erkenntnisge­ winnung selbst, die durch eine unerwartete, provokative Denkform neue Einsichten vermittelt.10 Kleists Reflexion Von der Überlegung. Eine Paradoxe (1810) ist dafür ein gutes Beispiel: Die aller Pädagogik scheinbar widersprechende These, die Überlegung finde „ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat“,11 wird einleuchtend, wenn man sie etwa im Kontext der durch Reflexion gestörten Grazie im Marionettentheater überdenkt, die für die allmäh­ liche Verfertigung der Gedanken beim Reden erforderlichen dunklen Vorstellungen und ihre Hervorlockung durch „Zartgefühl“12 berücksichtigt oder sich des vom siegreichen Haudegen intuitiv abgepassten Zeitpunkts zum Angriff in der Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege erinnert. In Kleists Anekdote Sonderbarer Rechtsfall in England fragt man ähnlich verwundert nach dem Grund dafür, dass einer von zwölf Geschworenen sich in einem klar scheinenden Rechtsfall „hartnäckig“ und ohne „Gründe anzuführen“ weigert, ein Todesurteil mitzutragen.13 Diese rätselhafte Pointe übernimmt Kleist aus seiner Quelle, die sich – wie zuerst Helmut Sembdner 1939 nachwies14 – im Museum des Wundervollen oder Magazin des Außer­ 8  In dem zuvor erwähnten Tagungsband kommen die Disziplinen Philosophie, Theologie, Rhetorik, Linguistik, Psychologie vor, nicht aber Jurisprudenz. Vgl. Mar­ tina Neumeyer: [Art.] Paradoxe, das. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen 2003, S. 516–524. 9  Neumeyer: [Art.] Paradoxe, das (Anm. 8), Sp. 516. 10  Ebd., Sp. 521. Zu den Moralisten vgl. Paul Geyer: Zur Dialektik des Paradoxen in der französischen Moralistik. Montaignes Essais – La Rochefoucaulds Maximes – Diderots Neveu de Rameau. In: Geyer / Hagenbüchle (Hg.): Das Paradox (Anm. 7), S. 385–407. 11  Kleist: Sämtliche Werke und Briefe (Anm. 1), S. 337. 12  Ebd., S. 324. 13  Ebd., S. 281 f. Im folgenden wird die kurze Anekdote mit nachgestellter Seitenzahl zitiert. 14  Helmut Sembdner: Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion. Berlin 1939, S. 78–82.

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ordentlichen in der Natur, der Kunst und im Menschenleben (1805) findet. Diese Samm­ lung enthält juristisch, psychologisch oder moralisch bemerkenswerte Fälle in kurzen Prosadarstellungen, die sich für Denkaufgaben eignen. Das vorangestellte Motto des Aufklärers Ferdinando Galiani lautet: „Thatsachen erleichtern den Weg zur Wahrheit“.15 Kleist hätte das gefallen, auch wenn er – durchaus im Sinne der hier vorgelegten Texte – eingewandt hätte, dass vermeintliche Tatsachen oft nicht frei von Schein sind und deshalb trügen können. Frei nach dem berühmten Zweifelstopos: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint“.16 Genau darum geht es auch in Kleists Vorlage mit dem bezeichnenden Titel: „Der Schein trügt“.17 In dieser ursprünglichen Kriminalgeschichte ist ein Bauer des Mordes an seinem Nachbarn angeklagt. Ein Zeuge findet eine Leiche mit zwei schweren Brustverletzungen, unweit davon die Heugabel mit dem Monogramm des Angeklagten; in seinem Haus entdeckt man später blutverschmierte Kleider, die er am Morgen vor der Tat getragen haben soll und die sich von der Bekleidung bei seiner Festnahme unterschieden; zudem werden Drohungen des Angeklagten gegenüber seinem Opfer einige Tage vor der Tat bezeugt. Trotz dieser schwer belastenden Indizien rechtfertigt sich der Angeklagte durch eine andere Interpretation dieser scheinbar eindeutigen Tatsachen: Er behauptet, seinen Nachbarn morgens schwer verletzt auf dem Feld gefunden, ihm im Todeskampf helfend beigestanden und dabei sich und seine Heugabel mit Blut beschmutzt zu haben. Im Schreck sei es zur Verwechslung der Heugabeln gekommen, so dass seine eigene am Tatort gefunden wurde. „Dies ist die reine Wahrheit“, (und damit schloß der Beklagte) „und gleichwohl bekenne ich, daß ich von allem dem, was ich sage und behaupte, nichts beweisen kann. Dem Ansehen nach bin ich strafbar, in der That aber unschuldig, und davon habe ich weiter keinen Zeugen, als Gott und mein Gewissen“.18

Der Angeklagte kann nicht ahnen, dass es tatsächlich einen weiteren Zeugen seiner Unschuld gibt: Es ist der einzige Mensch, der weiß, was an diesem Morgen wirklich vorfiel. Denn dieser Zeuge allein war es, der in Notwehr das später gefundene Opfer, einen unbeherrschten Steuereinnehmer, tötete. Dieser habe sich zuvor willkürlich überhöhte Abgaben an Wei15  Museum des Wundervollen oder Magazin des Außerordentlichen in der Natur, der Kunst und im Menschenleben. Bearbeitet von einer Gesellschaft Gelehrter und herausgegeben von J. A. Bergk und F. G. Baumgärtner. Vierten Bandes, erstes Stück. Leipzig 1805, Titelblatt. 16  Kleist: Sämtliche Werke und Briefe (Anm. 1), S. 634 (an Wilhelmine v. Zenge, 22. März 1801). 17  Museum des Wundervollen (Anm. 15), S. 28–35. 18  Ebd., S. 31.



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zen von ihm verschafft, jede Rechenschaft darüber verweigert und sei schließlich zur lebensgefähr­ lichen Körperversetzung geschritten. Dass die Notwehr den Tod des Angreifers zur Folge hatte, geschah ohne jede Absicht. Obgleich im Recht, scheut sich der Täter aus Angst vor langwierigen, teuren Prozessen, seine zu einem „unvorsätzlichen Todtschlag“ führende Selbstverteidigung anzuzeigen, statt dessen drängt er sich „durch Geld und vieles Bitten“19 in die Position des ersten Geschworenen, um den unschuldig angeklagten Nachbarn des Opfers vor Bestrafung zu schützen. Dieses Lehrstück und Plädoyer für juristische Behutsamkeit – bestehend in der grund­legenden Einsicht, dass ein auf den ersten Blick „sonnenklar“20 erscheinender Fall sich tatsächlich äußerst verwickelt und gegen alle Alltagserwartungen darstellen kann – korrespondiert sehr genau mit Kleists existentieller Welt- und Erkenntnisskepsis. Um die Prägnanz einer Anekdote zu erzielen, reduziert er die umständliche – also viele Umstände berücksichtigende – Vorlage und fasst sie in eine weitaus schlankere Variante. Aus den Bauern sind Edelmänner geworden, aus dem Indizienbündel (Heugabel mit Monogramm, blutige Kleider, Drohrede) ist lediglich die in einem lebhaften Streit geäußerte Drohung übrig geblieben, der unvorsätzliche Totschlag in Notwehr in einen zufälligen Unfall beim Entladen des Jagdgewehrs verwan­delt. Der Erzähler fasst nur ihm bekannte weitere Indizien zum Tat­ hergang mit der Bemerkung zusammen, dass sich „noch mehrere Beweise“ fanden (281), ohne diese zu benennen. So wird das Potential der Rechtsparadoxie erhöht – je weniger Informationen zu einem unverständlichen Verhalten vorliegen, desto rätselhafter wirkt die Situation. Das eigentliche Skandalon der Entscheidung liegt in der Pragmatik ihrer Veranlas­sung. Keineswegs wird geprüft, ob der einzige abweichende Geschworene in der Sache befangen oder vorbelastet sein könnte; auch nach stundenlangen Beratungen lehnt der „Starrkopf“ (281) jede Begründung für seine verweigerte Zustimmung zum Todesurteil ab. Die Begna­digung erfolgt lediglich aufgrund der langen Dauer der Entscheidungsfindung und des damit verbundenen Hungers der Beteiligten, die sich schließlich auf den merkwürdigen Vergleich verständigen, es sei besser, „einen Schuldigen loszusprechen, als 11 Unschuldige verhungern zu lassen“ (281). Die Formulierung bleibt für sich ambivalent, denn auf den ersten Blick wägt sie die Begnadigung eines potentiellen Mörders gegen die Pein der unschuldig hungernden Geschworenen ab; auf den zweiten Blick scheint aber durch die Zahl 11 mit dem „Schuldigen“ der hartnäckig wider­ sprechende 12. Geschworene gemeint zu sein, der jedoch – wie man später erfährt – ganz zu Recht die Unschuld des Angeklagten beteuert. Das Publikum ist über den 19  Ebd., 20  Ebd.,

S.  34 f. S. 31.

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langwierigen und unbefriedigend wirkenden Vorgang aufgebracht, schließlich schien der Fall längst eindeutig zu sein; Kleists Erzähler wiederholt zwar nicht das „sonnen­ klar“ der Vorlage, befeuert aber durch ein eingeschaltetes „natürlich“ die naheliegende Vorverurteilung durch die Leser („der Verdacht fiel natürlich auf den, der die Drohung gegen ihn ausgestoßen hatte“; 281). Der Effekt der Anekdote liegt in der Umkehrung der Erwartungen. Während der Leser und das Publikum von der Schuld des Angeklagten überzeugt und von Unver­ständnis über die Weigerung des einen Geschworenen erfüllt sind, löst sich die Paradoxie zwischen Erwartung und Erfüllung in dem geheimen Vieraugengespräch des Geschwo­re­nen mit dem König auf. Unter dem Versprechen, „daß seine Aufrichtigkeit nicht von nachteiligen Folgen für ihn sein sollte“, bricht der Geschworene sein „Still­schweigen“ (281 f.) und macht den König so zum geheimen Mitwisser des fatalen Jagdunfalls und seiner gerechten, um nicht zu sagen moralischen Entscheidung zur Entlastung des Tatverdächtigen. An dieser geheimen Verständigung nimmt nur der Leser Teil, das unzufriedene Publikum hingegen muss sich mit der nicht nachvollzieh­baren Begnadigung – die im Unterschied zum Freispruch von keiner Schuld entlastet – abfinden. Das Beispiel deutet auf einen engeren Zusammenhang zwischen juristischer Fallge­ schichte und Anekdote hin, der von der Gattungsforschung bisher noch kaum wahrgenommen wurde.21 Die der Kriminalerzählung zugrunde liegende Fachprosaform der Species facti hat – nicht zuletzt aus praktischen Gründen der Aktenverschickung – möglichst kurz und prägnant zu sein.22 Das gilt auch für die – häufig aus mündlicher Überlieferung hervor­gehende – Form der Anekdote. Species facti wie Anekdote sind nicht nur der Wahrheit verschrieben, sondern werden auch wegen ihrer Beispielhaftigkeit und lehrreichen Charakterisierung eines allgemeinen Problemzusammenhangs gesammelt und tradiert. Zunächst ist der aktenkundige Rechtsfall der Öffentlichkeit aber nicht zugänglich, erst die Aufnahme in so populäre Sammlungen wie die Causes célèbres et intéressantes (20 Bde., 1734–1743) des französischen Juristen François Gayot de Pitaval und die weiter­ führende Literarisierung etwa durch Schiller oder E.T.A. 21  Vgl. meine bisherigen Überlegungen in Alexander Košenina: Kriminalanekdote. Literarisiertes Rechtswissen bei Kleist, Meißner und Müchler. In: Michael Bies /  Michael Gamper / Ingrid Kleeberg (Hg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen 2013, S. 96–108. 22  Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: „Geschichtserzählungen“. Zur ‚Poetik des Sachverhalts‘ im juristischen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechts­pflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991, S. 117–157.



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Hoffmann verwandelt eine nüchterne Species facti in eine Kriminalgeschichte.23 Analog bedeutet anékdota im ursprünglichen Wortsinne ‚Unveröffentlichtes‘. Anekdoten basieren wie Kriminalfallgeschichten häufig auf mündlicher Überlieferung und machen ein verborge­ nes, geheimes, unterdrücktes, nicht offizielles Wissen über prominente Personen und Ereignisse publik. Die gattungstypische Kürze bringt zudem eine gute Memorierbarkeit mit sich und ist für Denkaufgaben in Form einer Paradoxie besonders geeignet. Kriminalanekdoten oder Fallgeschichten können zu Novellen ausgebaut werden, durchaus aber auch den Kern für eine dramatische Handlung abgeben. Ein gutes Beispiel für die zeitnahe Verwandlung eines authentischen Mordfalls in ein Theaterstück ist Christiane Karoline Schlegels „bürgerliches Trauerspiel“ Düval und Charmille (1778). Dass es sich dabei um eine „sehr wahre tragische Geschichte“ handelt, so Christian Felix Weißes werbende Worte für die Buchausgabe, belegt jetzt ein Aktenfund in Dresden.24 Aus dem Untersuchungsbericht des Amtmanns Jacob Heinrich Reinhold über „Des prinzl. Stallmeister Lachapelle und der Kammerdienerin Birnbaum Selbstentleibung“, datiert auf den 31. Dezember 1777, geht die Spe­ cies facti hervor: Der Ehemann la Chapelle unterhielt eine alles andere als geheime Beziehung zu einer Kammerdienerin der Prinzessin. Vor den Augen seiner Frau und seines Sohnes zog er sich gern mit der Mätresse Birnbaum in sein Zimmer zurück und versäumte darüber das familiäre Nachtmahl. Am Abend des 27. Dezember blieb die Tür besonders lange verschlossen, bis die junge Frau plötzlich „furioes“ heraus rannte, „hilf mir“ zu einem Diener rief und mit durchtrennter Kehle zusammensank. Ein Schuss aus dem Kabinett verkündete den Selbstmord des oft „übel und tyrannisch“ auftretenden Täters, schließlich lagen „beyde in ihrem Blute todt“ da und erregten bei den Vorübergehenden „Horreur“. Zurückgelassene Briefe und Aufsätze machen deut­ lich, dass der Mann aus „Rache, Haß und Jalousie“ den gemeinsamen Tod erzwang, da eine legale Verbindung mit der Geliebten unmöglich schien. Auch hier geht es also um eine Art Dilemma, die Wahl zwischen einer unglücklichen Ehe und einer legal unmöglichen Liebe, die zum Mord und Selbstmord führt. In Schlegels Stück erhält der Täter la Chapelle den teuflisch klingenden Na23  Vgl. Alexander Košenina: Schiller und die Tradition der (kriminal)psychologischen Fallgeschichte bei Goethe, Meißner, Moritz und Spieß. In: Alice Stašková (Hg.): Friedrich Schiller und Europa: Ästhetik, Politik, Geschichte. Heidelberg 2007, S. 119–139. 24  Die folgenden Zitate aus der Aktenpublikation und Neuausgabe des Stückes von Christiane Karoline Schlegel: Düval und Charmille. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen. Mit dem Ermittlungsbericht des Dresdner Kriminalfalls von 1777 und einem Nachwort hg. von Gaby Pailer. Hannover 2011.

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men Düval, ihm droht auch die Entlassung aus dem Hofdienst; seine Gespielin, mit dem nicht minder sprechenden Namen Charmille, erwartet die Verbannung ins Kloster. August Klingemann entwirft in seinem frühen, vier Jahre vor den Nachtwachen von Bonaventura erschienenen „Karakterge­ mälde“ Selbstgefühl eine vergleichbare Liebestragödie, für die bisher allerdings kein historischer Fall als Vorlage greifbar ist. Die Handlung erscheint zunächst relativ einfach: Ludwig Seltau verlässt seine Geliebte Auguste und das gemeinsame Baby, um bei Hof Karriere zu machen. Er bringt es zum Rang eines Rates, heiratet Luise, Tochter des Ministers von Wallenheim, die ein Kind von ihm erwartet. Als der Betrug auffliegt, sieht sich Rat Seltau vor einem unlösbaren Dilemma: Als Verführer Augustes, Vater eines unehelichen Kindes sowie als Heiratsschwindler gegenüber Luise hat er sich strafbar gemacht; er ist in seinem Amt nicht mehr tragbar, verliert das Vertrauen des Ministers und Fürsten, und zu allem Überfluss überbieten sich beide Frauen noch in ihrer standhaften Liebe und Vergebung. Die Fabel mag banal sein, die dahinter stehenden rechtlichen und moralischen Probleme sind es aber nicht. Genau das fordert Klingemann von seinem Stück, in einer poetologischen Einleitung erklärt er dazu: „Eine Kunst, die nicht zum Allgemeinen strebt, und die das Einzelne als Zweck für sich selbst behandelt, ist eine bloße Kopistengeschicklichkeit, und das Karaktergemälde würde demnach keine weitere Obliegenheit kennen, als das Leben im todten Bilde wiederzugeben […].“25

Der moralische Konflikt geht in dem Stück über die rechtlichen Delikte deutlich hinaus. Nach dem Rechtsverständnis der Zeit hat Ludwig die minderjährige Auguste („damals noch ein Kind“, 28) verführt und geschwängert und mit einem falschen Eheversprechen zurückgelassen; um der Schande zu entgehen („Unser guter Name litt“; 37), flieht die junge Frau mit ihrem Vater (der dadurch sein Amt verliert) außer Landes. Nach Auffassung des preußischen Landrechts (1794) hätte ein Gericht Ludwig wohl die Einhaltung des Eheversprechens auferlegt und die Alimentierung der jungen Mutter gefordert (in anderen Rechtsgebieten können abweichende Regeln gegolten haben). Indem er bei Hofe aus politisch-strategischen Gründen das Vertrauen des Ministers erschleicht und dessen Tochter Luise heiratet, macht er sich erneut strafbar, da er die frühere Verlobung und vor allem seine Vaterschaft verschweigt.26 Dass Luises Bruder Eduard, der sich als „Sekre25  August Klingemann: Selbstgefühl. Ein Karaktergemälde in fünf Aufzügen. Braunschweig 1800, S. 4. Im Folgenden werden Zitate im fortlaufenden Text mit nachgestellten Seitenzahlen belegt. 26  Vgl. Alexander Košenina: Historische Vaterschaftsprozesse. Nichtwissen, verborgenes und verkehrtes Wissen bei Goethe, Hogarth und Kleist. In: Hans Adler /  Rainer Godel (Hg.): Formen des Nichtwissens der Aufklärung. München 2010, S. 505–519.



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tair“ in Rechts- und Verwaltungsangelegenheiten auskennt, diesen Betrug (39) zur Anzeige bringen will und das vom Rat perfide angebotene ‚Schweigegeld‘ von 2000 Talern empört ausschlägt, ist nachvollziehbar. Das Stück legt die juristischen Konsequenzen in dem Rechtsgebiet, in dem es spielt, selbst nahe: „Dazu die strengen Landesgesezze, die auf eine solche Handlung völlige Kassazion sezzen.“ (114) Ausgerechnet dieser Bruder überdenkt dann aber im Sinne eines moderneren Täter- statt Tatstrafrechts den Fall (was keine Lizenz zur Rechtsbeugung bedeuten soll) und verlagert ihn so vom juridischen auf das moralisch-anthropologische Feld.27 Dem spontanen Impuls der Rache oder aussichtsreichen gerichtlichen Anklage („Das Gesetz ist auf meiner Seite“; 97) gibt Eduard nicht nach, vielmehr nähert er sich dem Konflikt zunächst als Psychologe, was nachfolgende juristische Konsequenzen nicht ausschließen würde. Nur durch Selbstanklage würde Ludwig, so Eduard, „in sich selbst wieder erhoben“ (114). Nicht auf Amt oder Ansehen komme es an, so lautet die Schlussfolgerung gegenüber Ludwigs Ehefrau, sondern allein auf sein Selbstgefühl als einziger Form der Ehre – also auf die innere Wahrnehmung, die Selbstachtung, die seelische Balance, letztlich die Bestimmung des Menschen: „Sein [Ludwigs] Muth ist erloschen, sein Selbstgefühl unterdrückt, […] er steht am Rande des Abgrundes, und ist unaufhaltsam verloren, wenn sie ihn nicht retten! Er muß zuvor ganz zernichtet werden, ehe er sich wieder erheben kann – er muß fort von hier und in einer andern Lage sich durch sich selbst wieder zu heben suchen.“ (113) Ein korrupter Syndikus in dem Stück behauptet, „Recht und Unrecht“ (50) sowie „Pflicht“ (55) seien sehr relative Begriffe, die stark vom Standpunkt des Betrachters abhängen; und selbst ein „Richter muß oft wider Gefühl und Gewissen ein Urtheil fällen, blos weil er von dem Schlendrian nicht abweichen kann“ (55). Eduard hingegen besteht auf dem heiligen Recht, auch wenn man dabei „die sanfteren Gefühle der Menschlichkeit oft ver­ läugnen“ muss (171). Am Ende bittet er aber um Gnade für den Täter und ruft den Minister so als „Vater“ und „Mensch“ an, nicht als „Richter“ (173) Ludwigs Selbstmord kann er dennoch nicht verhindern. Die im Stück demonstrierte Spannung zwischen Recht und Moral entspricht – wie oben erläutert – paradoxen oder dilemmatischen Entscheidungssituationen, die nicht in einem System der Logik oder der Paragraphen eindeutig kalkuliert werden können. Der Syndikus hält Ludwig diese Ausweglosigkeit knapp entgegen: „aut! aut! […] Ein dritter Ausweg bleibt Ihnen nicht übrig, lieber Mann!“ (140) 27  Vgl. Holger Dainat: „Wie wenig irgend ein Mensch für die Unsträflichkeit seiner nächsten Stunde sichere Bürgschaft leisten könne!“ Kriminalgeschichten in der deutschen Spätaufklärung. In: Schönert (Hg): Erzählte Kriminalität (Anm. 22), S. 193–204.

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Mit dem Konzept des Selbstgefühls ruft Klingemann eine der wegweisenden psychologischen und subjektphilosophischen Kategorien der Zeit auf, die etwa Hegel wenig später in der Phänomenologie des Geistes (1807) zum Bindeglied zwischen der noch unbewussten sinnlichen Gewissheit und Wahrnehmung auf der einen und dem entwicklungspsychologisch später hervortretenden Bewusstsein und schließlich dem Selbstbewusstsein auf der anderen Seite erhebt. Wie letzteres durch das paradox wirkende Unterscheiden des Ununterscheidbaren gefasst wird – insofern ein auf sich selbst reflektierendes Ich einmal als Subjekt, einmal als Objekt der Reflexion zu denken ist –, so setzt auch das Selbstgefühl einen selbstreferentiellen Zirkel von einer (noch vor-gedanklich) manifest werdenden sinnlich-leiblichen Selbstwahrnehmung voraus: Das Selbstgefühl, heißt es in der Phänomeno­ logie, „hat den Gegenstand seines reinen Fühlens gefühlt, und dieser ist es selbst“.28 Deutlicher und ausführlicher wird diese rudimentäre Form von Selbstbezüglichkeit von Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830) im ersten Abschnitt über Anthropologie beschrieben: Demnach lernt die Individualität im Selbstgefühl „sich in sich selbst zu unterscheiden und zum Urteil in sich zu erwachen, nach welchem sie be­ sondere Gefühle hat und als Subjekt in Beziehung auf diese ihre Bestimmungen ist“.29 Genau so ein Bezug auf sich selbst überkommt auch den Rat Seltau – in Gestalt des unwillkürlichen, inneren Gewissens: „zum erstenmale blikke ich tief in mich zurück – eine kalte Hand faßt die meinige – ich selbst bin es, vor dem ich zurückschaudre!“ (92). Von solchen Selbsteinsichten auf Seiten der Täter oder von Richtern, die – wie bei Klingemann – leider „oft wider Gefühl und Gewissen“ (55) urteilen müssen, ist Ferdinand von Schirachs kühl protokollierende Kriminalprozess-Prosa in den beiden Bänden Verbrechen (2009) und Schuld (2010) völlig frei.30 Die oft paradox wirkende Diskrepanz zwischen Rechtsempfinden und Recht wird von der Erzählerstimme, hinter der sich der Autor ohne große Tarnung verbirgt, höchstens lakonisch kommentiert. So gehe es eben bei Gericht zu, die Erwartung von Gerechtigkeit sei offenbar antiquiert und sentimental, in der Realität zähle hingegen der Wettkampf zwischen gewieften Strafverteidigern und Anklägern bzw. Richtern beim scharfsinnigen Auslegungen von Gesetzen bzw. dem Aufspüren von Ausnahmen und Lücken. Dabei ist auch viel erzählerisch bewirkte Suggestion im Spiel. Patrick Bahners hat das Verfahren („ein simpler Trick“) des schreibenden Rechtsanwaltes – „ein harter Bursche, der als Kleinwildjäger durch das 28  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3. Frankfurt a. M. 1986, S. 170. 29  Ebd., Bd. 10, S. 160. 30  Vgl. den ersten Rezensionsessay in einer Fachzeitschrift von Gerhard Neumann, in: Arbitrium 30 (2012), S. 118–127.



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Unterholz der eigenen Prosa streift“ – in einer FAZ-Rezension des Folgeromans Collin (2011) deutlich benannt: „Er baut Protokollsätze ein, die für die Sache ohne Belang sind und in der Geschichte ohne Bezug bleiben. […] Aus solchen nutzlosen Informationen spricht der Rechtsanwalt, der Beweise seiner Objektivität anhäuft“.31 „Stories“ ist ein geschickt gewählter Gattungsbegriff für beide Bände, passt dieser doch im Englischen auf die faktische History ebenso wie auf Fiction. Auch der Text Volksfest ist die „kurze Erzählung einer wahren, noch unbekannten merkwürdigen Begebenheit“. Es handelt sich dabei um eine literarisch bearbei­tete Fallgeschichte oder Gerichtsreportage. Mit diesem eigenwilligen Genre gelangte der Strafverteidiger von Schirach schlagartig zu großem Erfolg. Der ein Jahr früher publizierte Debütband Verbre­ chen enthält ebenfalls ausschließlich als wahr ausgegebene und lediglich auf ein knappes Erzählformat gebrachte Fälle aus der eigenen Berufspraxis. Für diese beiden ersten Bücher wurde Schirach 2010 sogar der Kleist-Preis verliehen. In seiner Dankesrede macht er eine äußerst geschickte Bemerkung zu der stets wiederkehrenden Publikumsfrage nach der Wahrheit seiner Stories: „ja, die Geschichten sind ganz und gar wahr. Aber sie sind nicht wahr, weil sie der Realität entsprechen, sie sind wahr, weil sie Literatur sind. […] Stellen Sie sich eine vier Meter lange Akte vor, tausende Seiten Polizeibericht, Vernehmungsprotokolle, Gutachten, Tatortfotos. Stellen Sie sich siebzig Stunden Gerichtsverfahren vor. Und dann nehmen Sie eine Kurzgeschichte. Was ist nun die Wahrheit? Was die Wirklichkeit? Eine kaum 15-seitige Geschichte oder eine vier Meter lange Akte?“32

In Schirachs Geschichten gewinnen viele Verbrecher und Verurteilte die Sym­pathie der Leser, es gibt Schelme, die das Justizsystem raffiniert austricksen, es gibt gedemütigte Ehemänner, die sich irgendwann in einem allzumenschlichen Aus­bruch der Xanthippe an ihrer Seite entledigen oder es gibt recht harmlose Gauner, denen man keine harte Bestrafung wünscht. In Volksfest ist das alles völlig anders, diese Geschichte ist über alle Maßen perfide, abstoßend und empörend. Vielleicht noch verstörender ist, dass Schirach – einem Fernsehinterview zufolge – ­ sein berufliches Selbstverständ­ nis als Anwalt gerade auf diesen Fall, seinen ersten, gründet. Die von seinem litera­ rischen Alter ego erdachte und in dem Verfahren erfolgreiche Finte des Verteidigers – nach dem Grundsatz, dass die Beweislast allein bei 31  Patrick Bahners: Diese fatale Schwäche für Pralinen oder Sellerie. Wenn die banalsten Dinge zur Chiffre der Undurchschaubarkeit des menschlichen Lebens werden: Ferdinand von Schirach, Rechtsanwalt und Schriftsteller, schreibt einen Roman. In: FAZ vom 16. September 2011. 32  Ferdinand von Schirach: Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2010. In: Kleist-Jahrbuch 2011, S. 30–33, hier S. 31 f.

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der Anklage liege und Beschuldigte auch schweigen können – bedeutete für ihn die berufliche Initiation. Auf dem Rückweg von dem verhinderten Gerichtsverfahren, so heißt es im Text, schweigen der Ich-Erzähler und seine Kollegen, denn sie ahnen, dass sie mit diesem Tag erwachsen wurden. „Wir wussten, dass wir unsere Unschuld verloren hatten“,33 lautet der zentrale Satz der Erzählung. Für das gewöhnliche Rechtsempfinden wären eine Kapitulation oder ein lebenslang schlechtes Gewissen eine moralisch adäquatere Antwort auf diesen ersten Sieg im Gerichtssaal gewesen. Betrachten wir den Fall und dessen Darstellung genauer. Alles beginnt, wie in den meisten Geschichten Schirachs, ganz harmlos: Ein besonders heißer Augusttag in einer Kleinstadt, eine aus scheinbar ganz normalen Männern bestehende Blaskapelle, ein Volksfest, auf dem alle schon deutlich über den Durst getrunken haben. Eine sehr hübsche siebzehnjährige Abiturientin rutscht beim Kellnern aus, gießt sich das Bier über das hautenge und somit durchsichtig werdende T-Shirt und wird zum Raub der in Bestien verwandelten Musikanten. Dem anonymen Anruf eines der neun schenkt die Polizei zunächst keinen Glauben, am Tatort bietet sich aber ein Bild des Schreckens: „Unter der Bühne war es dunkel und feucht. Sie lag dort, nackt und im Schlamm, nass von Sperma, nass von Urin, nass von Blut. Sie konnte nicht sprechen, und sie rührte sich nicht. Zwei Rippen, der linke Arm und die Nase waren gebrochen, die Scherben der Gläser und Bierflaschen hatten Rücken und Arme aufgeschnitten. Als die Männer fertig gewesen waren, hatten sie ein Brett angehoben und sie unter die Bühne geworfen.“34

Die Einleitung und der Tathergang beanspruchen knapp die Hälfte des Textes. Dass diese schändliche, abstoßende Tat aufgrund geschickter Strafverteidigung einen Prozess verhindert, hätte die beteiligten neun Anwälte nach gesundem Rechts­empfin­den nicht mit Stolz, sondern Scham erfüllen müssen. Der Ich-Erzähler belehrt den Leser, dass in einem Strafverfahren Angeklagte ihre Unschuld nicht zu beweisen haben, sie dürfen auch schweigen. Tatsächlich fehlt es in diesem Fall an verwertbaren Indizien. Die sicher­ gestell­ten Kleidungsstücke vom Tatort liegen zu lange in einem Plastiksack in der Hitze, DNA-Spuren sind unbrauchbar geworden, gleiches gilt für Tätermerkmale am Opfer, die im Krankenhaus bei der Notversorgung beseitigt wurden. In einer Gegenüber­stellung kann das Vergewaltigungsopfer die Täter nicht eindeutig identifizieren, zur Tatzeit trugen alle die gleichen Perücken und falschen Bärte. „Für jeden Einzelnen“ – so heißt es im Text – 33  Ferdinand von Schirach: Volksfest. In: Ders.: Schuld. Stories. München 2010, S. 7–18, hier S. 18. 34  Ebd., S. 11.



Rechtliche und moralische Paradoxa oder Dilemmata283

„musste deshalb gelten, dass er der Anrufer sein konnte. Acht waren schuldig, aber jeder konnte auch der eine Unschuldige sein.“35 Aufgrund mangelnder Beweise kommt es zu keiner Anklage. „Ein Prozess fand nie statt.“36 Der sorgfältig formulierte Schlusssatz des Ich-Erzählers fasst – hier ganz im Stil einer Anekdote oder einer Sentenz – die Lehre für die neun juristisch siegreichen, aber moralisch schuldbeladenen Anwälte zusammen: „Wir waren erwachsen geworden, und als wir ausstiegen, wussten wir, dass die Dinge nie wieder einfach sein würden.“37 Für Diskrepanzen zwischen Recht und Gerechtigkeit gibt es zahlreiche Beispiele. Während es im Falle Klingemanns zu keiner Anklage kommt und der Konflikt moralisch-philosophisch gelöst werden soll (aber fatal endet), sind die Beispiele bei Kleist und Schirach besonders eng miteinander verbunden: Beide verhalten sich über die Achspunkte der Ausnahme spiegelbildlich zueinander. Das Recht duldet freilich keine Ausnahme, höchstens eine Begnadigung, die aber niemals Schuld aufheben kann. Nicht ohne Reiz ist die Überlegung, welchen Ausgang die beiden Fälle im jeweils anderen Rechtssystem genom­men hätten; wenn also Kleists Anekdote im Bereich des kontinentalen Civil Law und Schirachs Story im Kontext des britischen Common Law verhandelt worden wäre. Hier wie dort kommt es zu einem vorzeitigen Abbruch der in sich paradoxen Verfahren: Bei Kleist zur Begnadigung des vermeintlich Schuldigen aufgrund des Hungers unter den Geschwo­renen, bei Schirach zur Entlassung der Tatverdächtigen aus der Untersu­chungs­haft aus Mangel an Beweisen und dem Grundsatz ‚in dubio pro reo‘. Auch nach kodifiziertem Recht wäre der verdäch­tige Nachbar kaum des Mordes zu überführen gewesen, da die Indizien nicht eindeutig sind; und Geschworene hätten sich im zweiten Fall zwar für die Schuld der acht Vergewaltiger ausgesprochen, wären aber auch nicht in der Lage gewesen, den neunten Unbeteiligten zu identifizieren, sofern das Recht auf Aussageverweigerung sowie der Schutz eines Unschuldigen gelten. Sicher wäre es aber in einem regulären Verfahren zur Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung gekommen, auf die nach § 323c StGB eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe gestanden hätte. Bei Kleist erfahren nur der König und der Leser die zur Gerechtigkeit führenden Um­stän­de der Ausnahme, bei Schirach würde nicht einmal der Strafverteidiger danach fragen, welcher unter den Männer an der Vergewaltigung und dem versuchten Totschlag nicht beteiligt war, er hat aber eben nur den einen Mandanten. Die unterlassene Hilfeleistung hätte wohl für alle neun gegolten, insofern sie selbst nach eigenem Tatvollzug weitere 35  Ebd.,

S. 13. S. 17. 37  Ebd., S. 18. 36  Ebd.,

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Gewalttaten hätten verhindern und die schwer Verletzte hätten retten müssen. Der Strafverteidiger ist sich bewusst, dass durch die juristisch abgesicherte anwaltliche Finte allenthalben acht bestialische Verge­ waltiger und Totschläger auf freien Fuß gesetzt werden. Keines der beiden Rechtssysteme vermag diese Fälle befriedigend zu lösen. Dass für den als Mord erscheinenden Jagdunfall kein fälsch­lich Verdächtigter bestraft wird, ist nicht dem Zufall, sondern der Initiative des ersten Geschworenen zu verdanken. Und dass acht schwere Straftäter ungeschoren bleiben, ist den Prinzipien unseres Gesetzes geschuldet, das durch keinen noch so ungerecht wirkenden Präzedenzfall gebeugt werden darf. Was für das Publikum in Kleists Anekdote ungerecht erscheint, erweist sich für den insgeheim mitwissenden Leser als gerecht und moralisch; bei Schirach hingegen wirkt eine de jure einwandfreie Entscheidung im höchsten Maße ungerecht und empörend. Diese Paradoxien zwischen Recht und Rechtsempfinden, die beide Texte prägen und verbinden, bringt Kleist in der Familie Schroffen­stein auf folgende knappe Formel: „Das Gefühl  /  Des Rechts! O du Falschmünzer der Gefühle!“38

38  Kleist:

Werke und Briefe (Anm. 1), Bd. 1, S. 55.

Über die Verwandlung von Werten in Wissen. Wahrheitsstreben und Wertungen in der Kriminalwissenschaft um 1900 Von Christian Bachhiesl I. Kriminologie als ‚exakte‘ Wissenschaft Große Teile der Strafrechtswissenschaft und der neu sich formierenden Kriminologie waren um 1900 der Auffassung, dass das Recht und seine Methoden nicht genügten, um sich mit den Phänomenen Verbrechen und Verbrecher in einer der modernen Wissenschaftlichkeit genügenden Weise auseinandersetzen zu können. So betonte etwa Franz von Liszt, das Haupt der „modernen“ oder „jungdeutschen“ Schule, die Vorbildwirkung der Naturwissenschaft; von Liszt war der Auffassung, dass „die Aufgaben der Strafrechtswissenschaft mit einer wissenschaftlichen Methode zu lösen sind, durch ‚Aerzte oder Statistiker‘, durch Wirklichkeitsbeobachtung, statt sie den ‚Dichtern und Romanschriftstellern‘ zu überlassen.“1 Der in Graz wirkende Hans Gross, einer der ‚Gründerväter‘ der sich um die Jahrhundertwende institutionalisierenden Kriminalwissenschaft und glühender Anhänger der „jungdeutschen“ Schule,2 auf dessen epistemologische Überzeugungen wir uns im Folgenden konzentrieren wollen, stieß ins selbe Horn, wenn er davon sprach, dass man als Jurist im traditionellen Sinne „blos an den Worten klaubte und mit unendlicher Mühe an längst dem Leben erstorbenen Gesetzesstellen auslegte und, Gott sei’s geklagt, unterlegte“; und so habe die „Verzweiflung, von Niemanden mehr für wissenschaftlich gehalten zu werden“, unter den Juristen zu Recht um sich gegriffen, und die Juristerei sei zu einem „Cirkus für dialectisch-akrobatische Kunststücke“ verkom1  Therese Stäcker: Die Franz von Liszt-Schule und ihre Auswirkungen auf die deutsche Strafrechtsentwicklung. Baden-Baden 2012 [Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen (NF), Bd. 66], S. 19. 2  Vgl. Peter Becker: Kriminalmuseum, Graz: Der praktische Blick am Tatort. In: Hilmar Schmundt / Miloš Vec / Hildegard Westphal (Hg.): Mekkas der Moderne. Pilgerstätten der Wissensgesellschaft. Köln u.  a. 2010, S. 348–353; Gernot Ko­ cher / Thomas Mühlbacher: Hans Gross – život za kriminologiju / Hans Gross – ein Leben für die Kriminologie. In: Gerhard M. Dienes / Ervin Dubrović / Gernot Kocher (Red.): Očeva država – majčin sin / Vaterstaat – Muttersohn. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Stadtmuseum Rijeka. Rijeka 2007, S. 62–71.

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men.3 So konnte es nicht weiter gehen. Gross forderte, „das Fortschreiten unserer Disciplin, ihren Aufbau und ihre Fundierung wissenschaftlich, als Forschung, als Streben nach der Erkenntnis des Wahren“ zu gestalten; und das nicht nur auf theoretisch-methodologischer Ebene – „auch unsere Tagesarbeit, unsere Tätigkeit selbst muss wissenschaftliche Formen erhalten“.4 Die formalen Rahmenbedingungen der Rechtswissenschaft bedeuteten Hans Gross nicht viel – so sah er einen der Eckpfeiler der Rechtsstaatlichkeit, das Legalitätsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege, wie es die auf Feuerbach zurückgehende Formel auf den Punkt bringt5), als verzichtbar an: „Sehen wir ihn [den Legalitätsgrundsatz, Ch. B.] aber genauer an und erörtern wir seine Wahrheit, so müssen wir sagen, sie besteht heute, aber vielleicht doch nicht für alle Zeiten.“6 Nicht das Beharren auf präziser strafgesetzlicher Formulierung strafbaren Verhaltens war für Gross das Merkmal für eine ordentliche Strafrechtswissenschaft, sondern die den naturwissenschaftlichen Standards genügende Beurteilung von Kriminellen. Und so gelte es dafür zu kämpfen, „daß einmal, in idealer Zeit, kein normiertes Gesetz und nur psychologische Einwertung alles Recht darstellen wird, und diese Wertung auf psychologischer Grundlage ist eine der größten Aufgaben, die uns heute obliegt.“7 Dass ein solches gesetzloses Strafrecht in gar nicht allzu ferner Zukunft, im ‚Dritten Reich‘ der Nationalsozialisten, im willkürlichen Bestrafen von Verstößen gegen das sogenannte gesunde Volksempfinden eine jeder Rechtsstaatlichkeit spottende Umsetzung finden sollte, konnte Hans Gross freilich nicht voraussehen. Er befürchtete nicht, dass die seit der Aufklärung stets voranschreitende Rechtsstaatlichkeit in Willkür und Barbarei umkippen könnte, sondern sah die Gefahr für die rechtsstaatliche Strafrechtspflege vielmehr von ihrer mangelhaften ‚exakt‘-wissenschaftlichen Fundierung ausgehen. Und so war ihm die echte, ‚exakte‘ Wissenschaftlichkeit wichtiger als das in seinen Augen verzopfte Festhalten an Rechtsgrundsätzen und Normen: Lange genug haben wir uns nur auf das Studium unserer Normen beschränkt, nun gehen wir an das exacte Studium des Materiales; freilich bedeutet dies eine Umkehr und ein Beginnen mit dem, was zuerst hätte geschehen sollen, aber die Naturwissenschaften, die wir uns zum Muster nehmen, haben dies auch thun müssen und thun es jetzt ehrlich und offen. Die alte Medicin hat zuerst das Universalmittel gesucht und Theriak gekocht, die heutige Medicin seciert, mikroskopiert und 3  Hans

Gross: Criminalpsychologie. Graz 1898, S. 11. Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 11. 5  Zum Legalitätsprinzip vgl. Diethelm Kienapfel: Grundriß des österreichischen Strafrechts. Allgemeiner Teil. Wien 61996, S.  13 f. 6  Hans Gross: Antrittsvorlesung. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 21 (1905), H. 1–2, S. 169–183, hier S. 176. 7  Gross: Antrittsvorlesung (Anm. 6), S. 177. 4  Gross:



Über die Verwandlung von Werten in Wissen287 experimentiert, sie kennt kein Universalmittel, kaum einige Specifica – sie hat den Fehler eingesehen, aber wir – wir kochen heute noch unseren Theriak und sehen hochmüthig auf das Wichtigste, das Studium der Realien, herab.8

Der erste Schritt müsse stets die Formulierung des „Wesens des Gegenstandes“ sein, womit die präzise Definition des Untersuchungsgegenstandes gemeint ist. Das „eigentliche, moderne, naturwissenschaftliche Verfahren“ sodann definiert Gross, dem Psychologen Hermann Ebbinghaus folgend, auf dessen 1885 erschienene Abhandlung Ueber das Gedächtnis er rekurriert, wie folgt: [E]s besteht darin, dass man den Complex von Bedingungen, die sich für das Zustandekommen eines gewissen Effectes als maßgebend erwiesen haben, cons­ tant zu erhalten sucht, dass man eine dieser Bedingungen variiert, isoliert von den übrigen und in numerisch fixierbarer Weise, und dass man auf der Seite des Effectes in einer Messung oder Zählung die begleitende Veränderung constatiert.9

Es ging Gross mit anderen Worten darum, in seit Francis Bacon bewährter und stets verfeinerter Manier reproduzierbare Versuchsanordnungen zu schaffen, deren verschiedene Elemente verändert werden sollten, worauf die dadurch erzielten Abweichungen der Versuchsergebnisse im Hinblick auf die Aussagekraft der hinter der Versuchsanordnung stehenden Modelle bzw. Prämissen analysiert werden sollten. Diese Methode hatte Bacon um 1600 gültig formuliert und damit der modernen naturwissenschaftlichen Induktion nachhaltig Eingang in theoretische Fragestellungen wissenschaftlicher Forschung verschafft. Wenn Gross monierte, die traditionelle Juristerei sei nur ein „Deducieren aus längst vergangenen Normen“,10 so erneuerte er damit im Grunde nur die Kritik, die Francis Bacon an der aristotelischen Methode des teleologisch ausgerichteten, logischen Deduzierens geübt hatte, und erwies sich also als Anhänger des um 1900 verbreiteten Baconismus sive Positivismus.11 Dem positivistischen Credo gemäß bestand Gross darauf, dass der induktive Empirismus „die einzig richtige Methode ist, um erst einmal die für unsere Wissenschaft nöthigen Feststellungen zu machen“, und er war auch der Überzeugung, dass diese Methode auch „für unsere praktische Arbeit, also für die Durchführung eines Strafprocesses verwendbar ist“.12 Rekapitulieren wir das oben gebrachte längere Zitat vor Fußnote 9: Man will einen gewissen „Effect“ durch einen „Complex von Bedingungen“ erklären, die 8  Gross:

Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 16. Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 13. Die im Original gesperrt gedruckten Hervorhebungen sind hier kursiv wiedergegeben. 10  Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 11. 11  Vgl. das Kapitel „Positivism“ in: Bruce Mazlish: The Uncertain Sciences. New Haven / London 1998, S. 37–66. 12  Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 13. 9  Gross:

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sein Zustandekommen ermöglicht haben. Eine oder mehrere dieser allesamt bekannten und kontrollierten Bedingungen seien alsdann zu variieren, und zwar isoliert von den übrigen Bedingungen und numerisch fixiert. Sodann achte man auf die durch diese Variation hervorgerufenen Veränderungen im „Effect“. Gross spielt dieses naturwissenschaftlich-methodische Vorgehen im Strafprozess wie folgt durch: Der „Effect“ sei der Schuldbeweis gegen einen Verdächtigen, der „Complex von Bedingungen“ sei der „gesammte Beweisapparat“. Die verschiedenen zur Hand befindlichen Beweismittel stellen die einzelnen Bedingungen dar: Zeugenaussagen, Lokalaugenschein, Obduktionsprotokoll etc. Das „Constant-Erhalten“ des „Complexes von Bedingungen“ sei einfach dadurch gegeben, dass der Schuldbeweis stets erbracht wird, wenn man den gesamten Beweisapparat zu Rate zieht. Man könne aber einzelne Beweismittel isoliert auf ihren Beweiswert hin untersuchen und variieren, und dann sehen, ob das am „Effect“, also an der Schuldfeststellung etwas ändern würde. Das Isolieren sei leicht, da man jederzeit ein einzelnes Beweismittel herausgreifen könne. Schwieriger sei schon die Feststellung, welcher Wert dem isolierten Beweismittel nun zukomme. Allerdings sei dieser Wert, also die Beweiskraft des Beweismittels, ja nicht als absolute Größe zu sehen, sodass es nicht notwendig sei, konkrete „Werteinheiten“ dafür festzulegen, es genüge eine „vergleichende Wertbestimmung“, die das Beweismittel in Relation zu den übrigen vorhandenen Beweismitteln stellt. Das Beweismittel müsse stets auf seine „Verlässlichkeit (subjectiv und relativ)“ und auf seine „Bedeutung (objectiv und absolut)“ geprüft werden. Das „Wichtigste und Schwierigste“ aber sei „das Variieren der Bedingungen und das Constatieren der hiedurch am Effect erzeugten Veränderungen, d. h. die kritische Verwertung des Materiales.“13 Zu diesem Variieren von Kausalitätshypothesen im strafprozessualen Erkenntnisverfahren führt Gross aus: Ich nehme jedes Beweisstück einzeln und abgeledigt von den anderen vor und variiere es so oft, als es die objective Möglichkeit zulässt, also: ich nehme bei jeder Zeugenaussage an, sie kann erlogen sein, ganz oder theilweise, es kann falsche Beobachtung, ein falscher Schluss u. s. w. vorliegen – und frage mich dann: Bleibt der Schuldbeweis auch dann noch aufrecht? Und wenn nein, bleibt er vielleicht unter anderen dazutretenden Bedingungen noch aufrecht? Habe ich diese Bedingungen? Ist dann auch noch der Grad der Wahrscheinlichkeit dahin geprüft, ob diese Variationen eintreten können, und bleibt der Schuldbeweis noch immer aufrecht, dann, aber erst dann ist er erbracht.14

Wie aber bei der kriminologischen Untersuchung und im Strafverfahren im Großen, so sei auch bei der Beischaffung der einzelnen Beweismittel 13  Sämtliche in diesem Absatz gebrachten Zitate finden sich in: Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 13 f. 14  Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 14 f.



Über die Verwandlung von Werten in Wissen289

vorzugehen – tue man dies, „dann ist allerdings der Irrthum auf die nach unseren Mitteln denkbar weiteste Grenze hinausgeschoben“.15 Kurz, die sichere Basis für Erkenntnisgewinnung sei die empirisch-induktive Methode, und wie die Naturforschung erst durch diese Methode zu ‚echter‘ Wissenschaft geworden sei, so müsse nun auch die Kriminalwissenschaft trachten, fest auf diesem Boden positivistischer, induktiver Empirie zu stehen, auch wenn hier häufig nicht auf Experimente im Sinne physikalischer Versuche, sondern lediglich auf Gedankenexperimente zurückgegriffen werden kann.16 II. Strukturelle Skepsisvergessenheit Soweit also die erkenntnistheoretische Programmatik des Hans Gross, der sich dem positivistischen Empirismus der klassischen Physik verpflichtet fühlte. Freilich bedeutete dies nicht, dass Gross blindlings einem „na­ iven Induktivismus“, der mit dem Schließen von konkreten Beobachtungen auf generelle Kausalitäten das Ende des Nachdenkens über den Wissenserwerb erreicht hätte, huldigte.17 Im Gegenteil, Gross empfahl aufs Eindringlichste die Auseinandersetzung mit skeptischen Positionen, wie sie etwa von David Hume gegen den Induktivismus vorgebracht worden waren.18 In der Kriminalwissenschaft habe die fehlende Skepsis einem zu oberfläch­ lichen Induktivismus gegenüber bereits zu unhaltbaren Resultaten geführt: Gross stand – wie die „jungdeutsche“ Schule generell – der von Cesare Lombroso begründeten Kriminalanthropologie ablehnend gegenüber. Er kritisierte das vorschnelle und nicht ausreichend reflektierte Fabrizieren von Resultaten, wie es Lombroso vorgemacht habe, und sprach von den „übereilten Schlüssen der Lombrososchule“, der er „ganz gute, aber ungenügende Beobachtungen und unberechtigte, überstürzte Folgerungen“ bescheinigte.19 Das war nicht die naturwissenschaftliche Methode, wie sie ihm vor Augen stand. Allerdings wollte Hans Gross in seiner epistemischen Skepsis (eine konstitutive Skepsis, die die Möglichkeit von Erkennt15  Gross:

Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 15. Methodik von Experiment und Gedankenexperiment vgl. Elisabeth Pern­ kopf: Unerwartetes erwarten. Zur Rolle des Experimentierens in naturwissenschaftlicher Forschung. Würzburg 2006 [Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Philosophie, Bd. 413]; Ulrich Kühne: Die Methode des Gedankenexperiments. Frankfurt a. M. 2005. 17  Zum naiven Induktionismus vgl. James Ladyman: Understanding Philosophy of Science. London / New York 62008, S. 27–29. 18  Zu Humes Skepsis vgl. Gottfried Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes zu Wittgenstein. Paderborn 32008, S. 63–70. Zu Hans Gross’ Ausführungen zur Skepsis vgl. Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 161–170. 19  Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 12. 16  Zur

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nis generell anzweifelt, kam für ihn ohnehin nicht in Frage20) auch nicht zu weit gehen. Humes Skepsis brachte Gross’ Vertrauen in die induktivempiristische Methode nicht ins Wanken, zumal er sich auf zahlreiche Denker stützen konnte, die an Humes Zweifeln ihrerseits Zweifel hegten. Gross hatte in den 1890er-Jahren, noch als Richter, vor seiner Karriere als Universitätsprofessor, die Lehrveranstaltungen des aus Lemberg stammenden, in Graz wirkenden Philosophen Alexius Meinong besucht.21 Meinong war mit Studien über Hume habilitiert worden, und auf eben diese HumeStudien stützte sich Gross „ganz besonders“.22 Weiters berief er sich neben anderen auf Kant: „Seine ‚Kritik der reinen Vernunft‘ ist historisch und logisch die Widerlegung der Hume’schen Skepsis. Er sucht zu zeigen, dass nicht nur Metaphysik und Naturwissenschaft synthetische Urteile a priori zur Grundlage haben, sondern dass auch die Mathematik auf solchen beruht.“23 Gross vertraute also weiterhin auf die Verlässlichkeit empirischer Erkenntnis, leitete aus Humes skeptischen Überlegungen aber, wie wir gesehen haben, doch die Verpflichtung des Kriminalwissenschafters ab, genau zu überprüfen, ob die zur induktiven Erkenntniserzielung herangezogenen Erfahrungswerte ihrer Art und Zahl nach geeignet seien, tragfähige Schlüsse zu ermöglichen.24 Wie aber sahen nun die tragfähigen Schlüsse aus, die Hans Gross dank seiner skeptisch reflektierten, empirisch-induktiven Methode aus den vorliegenden Fakten und aus seinen Beobachtungen ziehen zu dürfen vermeinte? Wir wollen uns einige wenige Beispiele vor Augen führen: Gross macht sich unter anderem Gedanken über die Signifikanz von Fußspuren und Gangbild; zur Bedeutung der Schrittweite für das kriminalistische Denken (vorausgesetzt ist hier, dass bei ungehindertem Gang grundsätzlich die Schrittweite konstant ist) führt er aus: 20  Zu epistemischer und konstitutiver Skepsis vgl. Joachim Bromand: Grenzen des Wissens. Paderborn 2009, S. 11–19. 21  Vgl. die von Gross an Meinong gerichteten Briefe aus dem Zeitraum von 1889 bis 1915, Sondersammlungen der Universität Graz, Nachlass Alexius Meinong, Nr. 1771–1794. 22  Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 161. Vgl. Alexius Meinong: HumeStudien I: Zur Geschichte und Kritik des modernen Nominalismus. Wien 1877; Alexius Meinong: Hume-Studien II: Zur Relationstheorie. Wien 1882. Zur Rezeption von Meinongs Werk durch die Grazer Schule der Kriminologie vgl. Sonja Maria Bachhiesl: Kausalgesetz und Willensfreiheit. Der Determinismus Ernst Seeligs vor dem Hintergrund von Alexius Meinongs Philosophie. In: Christian Bachhiesl / Sonja M. Bachhiesl (Hg.): Kriminologische Theorie und Praxis. Geistes- und naturwissenschaftliche Annäherungen an die Kriminalwissenschaft. Wien u. a. 2011 [Austria: Forschung und Wissenschaft interdisziplinär, Bd. 7], S. 19–42. 23  Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 164. 24  Vgl. Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 161.



Über die Verwandlung von Werten in Wissen291 Man wird also z. B. bei Jägern oft kurze Schritte sehen, da sie mit großen Schritten leicht auf dürres Laub oder Äste treten und Geräusch machen können, was sie bei ihrer Beschäftigung häufig vermeiden müssen. Große Schritte findet man bei langgedienten Soldaten, Feldvermessern, und namentlich bei allen Eisenbahnleuten. Letztere müssen oft zwischen den Geleisen der Bahn gehen, und treten lieber auf die, nicht ganz im Schotter eingebetteten Querschwellen, als auf den groben Schotter. Da aber Querschwellen überall weiter auseinander liegen, als die gewöhnliche Schrittweite beträgt, so gewöhnen sie sich außergewöhnlich große Schritte an.25

Fußspuren mit großer Schrittweite deuten auf Feldvermesser, Soldaten oder Eisenbahnbedienstete als Urheber hin – ein verlässlicher epistemischer Leitfaden, oder doch ein Beispiel dafür, dass wissenschaftliche Empirie recht schnell in zwar vielleicht nicht ungeschickte, aber doch bisweilen fragwürdige Alltagsbeobachtung oder auch in pure Spekulation umschlagen kann? Ein grundsätzliches Vertrauen in das Messen aber belegt dieses Beispiel allemal; und dieses Vertrauen in das Messen und in die daraus (mehr oder weniger berechtigt) abgeleiteten Schlüsse war ein bestimmender Zug der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts.26 Die Verwandlung komplexer Sachverhalte in gut überschaubare und leicht zu handhabende Zahlen ermöglichte die Klassifizierung und Kategorisierung von Menschen, ihren Verhaltensweisen und ihren angeblichen geistigen Zuständen. Zahlen wirken in höchstem Maße objektiv, auch wenn oder vielleicht gerade weil sie an sich, ohne die oft stillschweigende Verknüpfung mit Hintergrundannahmen, inhalts- und bedeutungsleer sind. Auf äußerst treffende Weise hat dies etwa Stephen Jay Gould in seinem Klassiker Der falsch vermessene Mensch zum Ausdruck gebracht.27 Bisweilen verleiht Gross’ überbordende Akribie seinen Ausführungen einen aus Sicht des heutigen Lesers etwas amüsanten Ton, wiewohl sie für Kriminalisten und Kriminologen gewiss wertvolle Hinweise beinhalten. So lauten etwa seine Anweisungen zum Umgang mit Erdmaterial, das Blutspuren enthält, wie folgt: Fachmänner pflegen hiebei stets darauf aufmerksam zu machen, dass man das Mitkommen von Thieren, namentlich von Regenwürmern, verhindern solle. Dass man dies verlangt, ist aber begreiflich, da sich derlei Gethier nur von organischen 25  Hans Gross: Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen u. s. w. Graz 21894, S.  502 f. 26  Vgl. Cornelius Borck: Kopfarbeit. Die Suche nach einer präzisen Meßmethode für psychische Vorgänge. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 25 (2002), S. 107–120; Volker Hess: Messen und Zählen. Die Herstellung des normalen Menschen als Maß der Gesundheit. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), S. 266–280. 27  Vgl. Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt a.  M. 1988, S. 74.

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Bestandtheilen der Erde nährt. Ein mitgenommener Regenwurm würde z. B. den blutdurchtränkten Theil der Erde aufnehmen, das Blut verdauen, und das Anorganische wieder abgeben, so dass man in kurzer Zeit bloß Erde und Regenwurm, aber kein Blut in der Schachtel besäße. Hätte man auf das Blut keine Rücksicht zu nehmen, so wäre es sehr leicht, die Erdenthiere zu beseitigen: durch Erwärmen des ausgehobenen Erdklumpens, durch Begießen mit gerbstoffhältigem Wasser (z. B. Tanninlösung, Absud von Eichenrinde, Rosskastanien u. s. w.) oder mit Tabaksud und sonstigen unangenehmen Flüssigkeiten. Gegen alle diese Vorgänge würde aber der Chemiker oder Mikroskopiker mit Recht Einwendungen erheben und so wüsste ich nur ein einziges, rein mechanisches Mittel. Bevor man nämlich den fraglichen Erdklumpen ausgräbt, stößt man einige Dutzendmal rings um die Blutspur mit einer starken Stange, einem Steine u. s. w. auf den Boden; diese Erschütterung ist dem Regenwurme entschieden sehr unangenehm, und wenn ja einer im fraglichen Reviere ist, so wird er sofort an der Oberfläche erscheinen.28

Das Sinnen und Trachten von Tieren, bis hin zum Fress- und Fluchtverhalten allerlei Gewürms, wurde und wird in der Regel nicht als menschlichen Motivationen gleichartig angesehen;29 und dennoch kann es bei der Ergründung von kriminellen Ereignisabläufen von Bedeutung sein. Wenn es dann darum geht, über die Gefährdung von materiellen Beweisen durch Wirbellose hinaus anhand von Blutspuren zu erschließen, was ein Täter oder auch Opfer im Sinn hatte, welche Handlungen aus welchen Gründen er oder es in einer konkreten Situation vollzog, so wird bald deutlich, dass zusätzlich zu den mit naturwissenschaftlicher Methodik isolierbaren Fakten hermeneutische Akte zur Deutung und Inbeziehungsetzung derselben notwendig sind.30 Aus faktisch vorhandenem Blut wird auf (um einen in der aktuellen Physik verwendeten Begriff zu entlehnen31) unobservables geschlossen, und das oft schon vorgefertigt im Kopf verwahrte Bild von der geistigen und emotionalen Beschaffenheit von Kriminellen bildet den Rahmen für die Interpretation, die mit der Wahrnehmung von Faktischem nicht selten unbewusst einhergeht. 28  Gross:

Handbuch (Anm. 25), S. 543. hierzu Dominik Perler / Markus Wild (Hg.): Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion. Frankfurt a. M. 2005. Freilich gibt es auch Positionen, die nur gradualistische Unterschiede zwischen dem Geistes- und Gefühlsleben von Mensch und Tier annehmen und daher auch Menschenrechte für Tiere einfordern; vgl. Volker Sommer: Evolution ernst nehmen. In: Jochen Oehler (Hrsg.): Der Mensch – Evolution, Natur und Kultur. Beiträge zu unserem Menschenbild. Berlin u. a. 2010, S. 39–58. 30  Zum kriminalwissenschaftlichen Umgang mit Blut vgl. Christian Bachhiesl: Blutspuren. Zur Bedeutung des Blutes in der Kriminalwissenschaft um 1900. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), H. 1, S. 7–29. 31  Vgl. Christian Suhm: Wissenschaftlicher Realismus. Eine Studie zur Realismus-Antirealismus-Debatte in der neueren Wissenschaftstheorie. Heusenstamm 2005 [Epistemische Studien, Bd. 6], S. 189–265. 29  Vgl.



Über die Verwandlung von Werten in Wissen293

Dazu kommt eine weitere bei Gross häufig zu beobachtende Verwechslung, oder, vielleicht besser, methodische Unschärfe: Was er für naturwissenschaftlich-exakt beobachtet hält, entpuppt sich nicht selten als simple Alltagsbeobachtung, deren Bedeutungsgehalt bestenfalls als Binsenweisheit bezeichnet werden kann. Auf den ersten Blick mögen solche Alltagsbeobachtungen und die daraus abgeleiteten Schlüsse ja etwas für sich zu haben scheinen – bei genauerer Betrachtung aber stellt sich meist die Frage, was nun genau und mit welcher Berechtigung aus derlei Beispielen geschlossen werden kann. Vor allem: Was soll daran wissenschaftlich sein? Wenn Gross vermeint, sich auf Exempla aus der Empirie, das heißt aus seiner praktischen Erfahrung berufen zu können, kommen häufig nur aus Alltagsbeobachtungen gewonnene, manchmal geradezu abstruse Verknüpfungen von wert- oder auch nur geschmacksgeleiteten Behauptungen zum Vorschein. Ein letztes Beispiel mag das belegen; Gross spricht über die Wirkmacht der Voreingenommenheit: Durch Jahre hindurch bin ich mit meinem nächsten Freunde allwöchentlich an einem Hause vorbeigekommen, in welchem, Winters am Fenster, Sommers auf dem Balkon, eine ältere Dame der vornehmsten Aristokratie saß und eifrig las. Wir ärgerten uns jahrelang regelmäßig darüber, dass sie so viele schöne Zeit mit dem Lesen nichtsnutziger französischer Romane todtschlage. Einmal fand ich auf einem großen Friedhofe im Vorübergehen ein seltsames Grabmal: Inmitten sorgfältigst gehaltener Blumenculturen liegt ein großer, unbehauener Steinblock, nur auf einer Seite angeschliffen, darauf Name und Todestag des Gatten jener Dame und darunter der Schlussvers des uralten Volksliedes: „Dich hab’ ich geliebt, dich lieb ich noch heut’ und werde dich lieben in Ewigkeit.“ Es gibt wenig, was den Menschen so sicher kennzeichnet, als das Grabmal, das er einem anderen setzt, und so war es mir auch im Augenblick klar: Die Frau, die im Stande ist, einen so hochpoetischen Gedanken zu fassen, wie ihn jenes Grabmal darstellt, ist nicht im Stande, nichtsnutzige Romane zu lesen. Ich erkundigte mich und erfuhr, dass sie ihren Gatten, mit dem sie in denkbarst glücklicher Ehe gelebt hatte, durch plötzlichen Tod verloren hat, und seitdem lebt sie, ganz allein stehend, nur dem Wohlthun und ganz ernstem Studium naturwissenschaftlicher Werke. Das waren also die „nichtsnutzigen französischen Romane“.32

Ehrendes Andenken an einen geliebten Menschen ist ja wohl in der Tat eine lobenswerte Eigenschaft – aber alles andere? Sind französische Romane tatsächlich nichtsnutzig, unbehauene, auf einer Seite geschliffene und beschriftete Steinblöcke inmitten von Blumen wahrlich hoch poetisch, das ganz ernste Studium naturwissenschaftlicher Werke wirklich so lobenswert? Dies alles setzt Gross als feststehend voraus; dass hier bloß sein Geschmack oder seine Wertung den Ausschlag geben könnte, bemerkt er nicht. Immerhin sieht er ein, dass sein Schluss von einer am Fenster lesenden Dame auf 32  Gross:

Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 562.

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französische Romanliteratur einem Vorurteil entsprang. Derlei Beispiele jedoch finden sich in Gross’ Werken, vor allem in der Criminalpsychologie, zuhauf.33 Besonders deutlich sichtbar wird das ungehemmte Einfließen von Wertungen in die Gross’sche Epistemik, wenn er sich mit den kriminologisch relevanten Charaktereigenschaften von Frauen und ‚Zigeunern‘ auseinandersetzt. Hier lassen die Maßstäbe der bürgerlich-patriarchalischen Wert­ hierarchien und die latent stets präsenten hegemonial-rassistischen Ideologeme der Zeit um 1900 die Kriminologie aus heutiger Sicht geradezu zur Karikatur einer Wissenschaft geraten – dies näher auszuführen fehlt hier jedoch der Platz.34 Die damals (wie wohl auch heute nach wie vor, wenn auch in anderer Ausprägung) stets präsenten politischen und weltanschaulichen Hintergründe35 stellen aber nicht die zentrale Schwachstelle der kriminalwissenschaftlichen Epistemologie eines Hans Gross dar, ebenso wenig wie die immer wieder durchschlagende Nonchalance vorwissenschaftlicher Gelehrsamkeit. Gross’ Konzept einer naturwissenschaftlich-exakten Kriminologie musste, wollte es seinem wissenschaftsuniversalistischen Selbstverständnis gerecht werden, gleichsam zwangsläufig zu einer Blindheit den damit einhergehenden epistemologischen Schwierigkeiten gegenüber führen. Die Berufung auf naturwissenschaftliche, programmatisch an der (klassischen) Physik orientierte, aber auch biologistisch inspirierte und motivierte methodologische ‚Tugenden‘ brachte, in Verbindung mit einem ausgeprägt positivistischen Grundverständnis und mit einem manchmal durchaus als naiv zu bezeichnenden Realismus, eine epistemologische Skepsisvergessenheit mit sich, die dem Absolutsetzen von Spekulationen und vor- und außerwissenschaftlichen (etwa politischen und weltanschauli33  Einige Beispiele sind in Christian Bachhiesl: Zur Konstruktion der kriminellen Persönlichkeit. Die Kriminalbiologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Hamburg 2005 [Rechtsgeschichtliche Studien, Bd. 12], S. 23–40 angeführt. 34  Vgl. Peter Becker: Zwischen Tradition und Neubeginn: Hans Gross und die Kriminologie und Kriminalistik der Jahrhundertwende. In: Albrecht Götz von Olenhusen / Gottfried Heuer (Hg.): Die Gesetze des Vaters. 4. Internationaler Otto Gross Kongress. Marburg an der Lahn 2005, S. 290–309; Christian Bachhiesl: Bemerkungen zur kriminologischen Physiognomik und zu ihren antiken Wurzeln. In: Peter Mauritsch / Werner Petermandl / Robert Rollinger / Christoph Ulf (Hg.): Antike Lebenswelten. Konstanz – Wandel – Wirkungsmacht. Festschrift für Ingomar Weiler zum 70. Geburtstag. Wiesbaden 2008 [Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen, Bd. 25], S. 829–859.; Ursula Mindler: Die Kriminalisierung und Verfolgung von Randgruppen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der österreichischen „Zigeuner“. In: Bachhiesl / Bachhiesl (Hg.): Kriminologische Theorie und Praxis (Anm. 22), S. 59–79. 35  Zur Verflechtung von Politik und Wissenschaft vgl. Michael Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. In: Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 2001, S. 7–39, hier S. 25, S. 32.



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chen) Positionen Tür und Tor öffnete. Daran konnte dann auch die immer wieder von Gross propagierte Vorsicht vor voreiligen Verallgemeinerungen und unzulässigen forscherlichen Kurzschlüssen und Schnellschüssen nichts mehr ändern. Die gravitätische Gewissheit des methodologisch sich auf festem Boden wähnenden Fachmanns ließ schwerwiegendere Zweifel gar nicht erst aufkommen. Eine epistemische Skepsis den eigenen Forschungsmethoden und Ergebnissen gegenüber gibt jedoch insofern einen Maßstab für tragfähige Wissenschaftlichkeit vor, als sie ein Mindestmaß an rationaler Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit verlangt. Karl Popper sollte in seiner 1934, 19 Jahre nach Hans Gross’ Tod, erstmals erschienenen Logik der Forschung vom Wissenschafter fordern, „Lösungen nicht [zu] verteidigen, sondern mit allen Mitteln [zu] versuchen, sie selbst umzustoßen“.36 Es gehe in der Wissenschaft ums Suchen, und nicht ums Finden: „Der Ehrgeiz, recht zu behalten, verrät ein Mißverständnis: nicht der Besitz von Wissen, von unumstößlichen Wahrheiten macht den Wissenschaftler, sondern das rücksichtslos kritische, das unablässige Suchen nach Wahrheit.“37 Gross an den Vorgaben Poppers messen zu wollen, wäre gewiss anachronistisch – dennoch bleibt hier festzuhalten, dass Gross das, was Popper vom Wissenschafter den einmal erzielten Ergebnissen gegenüber verlangt, auch eine Ebene früher, bei der Erarbeitung der Ergebnisse, nicht erfüllt hat. Auch von einem Positivisten kann sorgfältiges methodisches Arbeiten verlangt werden. Wie auch immer man Wissenschaftlichkeit definieren möchte – selbst wenn man, wie das für die sich dezidiert zur Interdisziplinarität bekennende Gross’sche Kriminalwissenschaft durchaus passend zu sein scheint, recht weit gefasste Kriterien als Maßstab für Wissenschaftlichkeit heranzuziehen bereit ist – rationale Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit sollten doch Grundbedingungen sein, die nicht negiert werden dürfen, wenn das Tun eines Wissenschafters als wissenschaftlich gelten will.38 Gerade für Gross, der das Bacon’sche Modell des naturwissenschaftlichen Experiments als Vorbild für seine Wissenschaft präsentierte, hätten Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit notwendige Bedingungen für wissenschaftliches Arbeiten darstellen müssen – und doch hat er in weiten Bereichen dem eigenen Ideal nicht genügt, weil er von vornherein von der Richtigkeit seiner Arbeitsweise und Forschungsergebnisse überzeugt war. Es lag somit in der Struktur von Hans Gross’ epistemischen Überzeugungen, dass er sich selbst der Möglichkeit einer über Lippenbekenntnisse hinausgehenden Skepsis beraubte. Es scheint mir daher angeR. Popper: Logik der Forschung. Tübingen 61976, S. XV. Logik der Forschung (Anm. 36), S. 225. 38  Zu Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit als notwendigen und hinreichenden Kriterien für Wissenschaftlichkeit vgl. Heinrich Schmidinger: Metaphysik. Ein Grundkurs, Stuttgart 22006, S. 29–31. 36  Karl

37  Popper:

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messen zu sein, die epistemische Schwäche der Gross’schen Kriminalwissenschaft als strukturelle Skepsisvergessenheit zu bezeichnen.39 III. Der Mensch als Realie – ein reduzierter Kausalitätsbegriff Hans Gross’ fundamentales Vertrauen in die naturwissenschaftlich-exakte Methode, in Empirie und Induktion hat ihn verleitet, diese Methode auf alle erdenklichen Untersuchungsgegenstände anzuwenden, mit denen er zu tun bekam. Alles wurde ihm zur Realie – auch der Mensch: Hans Gross erachtete unter den „Realien unseres Faches“ als „das wichtigste derselben“ eben den „Mensch[en] selbst“, weshalb er auch „einen integrierenden Bestandtheil unseres Studiums“40 bilden müsse. Er ging davon aus, dass Menschen und ihr Verhalten im Grunde quantifizierbar, kategorisierbar und messbar sind – Prämissen, die der „mechanischen“ Objektivität verpflichtet sind (und die, obwohl die mechanische Objektivität mittlerweile von anderen Idealformen von Objektivität abgelöst resp. ergänzt wurde, auch so manchem heutigen Naturwissenschafter so fremd nicht sein dürften).41 Und so ging er z. B. an die Vermessung eines Tatortes genauso heran wie an die Suche nach den möglichen Motiven des Täters – beides schien ihm mit der gleichen Form von induktiver Empirie zugänglich zu sein. In allem ging es ihm nur darum, Kausalitätszusammenhänge festzustellen, alles war ihm derselben Form von strikt naturgesetzlicher Kausalität unterworfen.42 Und so brachte er den in den exakten Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen Begriff von gesetzmäßiger Kausalität auch für seine Untersuchungen von menschlichen Willensakten, Intentionen und Gefühlen in Anschlag. Die Naturwissenschaften und ihre Methoden schienen ihm ein Garant für echte episteme, für sichere, gewisse Erkenntnis zu sein. Dabei nahm er nicht zur Kenntnis, dass zu 39  Vgl. Christian Bachhiesl: Bemerkungen zur strukturellen Skepsisvergessenheit biologistisch zentrierter Kriminalwissenschaft. In: Kriminologisches Journal 42 (2010), H. 4, S. 263–275. 40  Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 169. 41  Zur „mechanischen Objektivität“ vgl. Lorraine Daston / Peter Galison: Objektivität. Frankfurt a. M. 2007, S. 121–200. 42  Der Begriff der Kausalität ist freilich auch in den Naturwissenschaften kein einheitlicher; zum Kausalitätsbegriff vgl. Bernhard Bavink: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie. Leipzig 61940, S. 217–247; Mathias Frisch: Kausalität in der Physik. In: Michael Esfeld (Hg.): Philosophie der Physik. Berlin 2012, S. 411–426; Michael Hampe: Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs. Frankfurt a. M. 2007; Martin Heidegger: Der Satz vom Grund. Stuttgart 92006; Hans-Dieter Mutschler: Von der Form zur Formel. Metaphysik und Naturwissenschaft. Zug 2011 [Die Graue Reihe, Bd. 58], S. 60–79; H. Dieter Zeh: Physik ohne Realität: Tiefsinn oder Wahnsinn? Heidelberg u. a. 2012, S. 19–21.



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seiner Zeit in den exakten Naturwissenschaften diese Wissensgewissheit im Schwinden war, dass schon vor der Quantenphysik und Relativitätstheorie in der Physik durch das Denken Hermann von Helmholtz’ ein „Wahrheitsgewiss­ heits­verlust“43 eintrat, der den heute in den Naturwissenschaften weit verbreiteten Verzicht auf absolut gültige Erkenntnis einleiten sollte – „streng beweisen lässt sich in den empirischen Wissenschaften gar nichts“, so formuliert dies etwa der Physiker H. Dieter Zeh.44 Auch dass die Methode der durch Darwin begründeten modernen Evolutionsbiologie nicht passgenau mit der mechanischen Objektivität und der empirisch-induktiven Methode der klassischen Physik übereinstimmte, irritierte ihn nicht, wie er überhaupt Darwins vorsichtige Schluss- und Argumentationsweise zwar pries, ihr aber selbst nicht huldigte.45 Gross sprach zwar davon, dass die Kriminalwissenschaft und die Geschichtswissenschaft sehr viel gemein hätten, aber auch bei der Erklärung historischer Abläufe brachte er nur seine naturwissenschaftlich-exakte Methode zur Anwendung. Die in den Geisteswissenschaften zu seiner Zeit aufblühende Methodendiskussion ignorierte er geflissentlich und berief sich, wenn es um historische Methodik ging, stattdessen lieber auf den Experimentalpathologen Samuel Stricker, der in historischen Ereignisabläufen das zwingende Muster naturgesetzlicher Kausalitäten walten sah.46 Gerade wenn es aber um die Klärung historischer Ereignisabläufe und Kausalzusammenhänge ging, um die – in der Geschichts- wie in der Kriminalwissenschaft gleichermaßen relevanten – Motive, Absichten, Ziele und Wünsche der handelnden Personen, wäre die nicht naturgesetzliche, für Kontingenzen offene Konzeption von Kausalität, die von Heinrich Rickert „geschichtliche Kausalität“ genannt wurde,47 ein wohl besser geeignetes Instrumentarium gewesen, um sich der Wahrheit anzunähern. Gross hätte ja nicht die gesamte intuitiv43  Vgl. hierzu Gregor Schiemann: Wahrheitsgewissheitsverlust. Hermann von Helmholtz’ Mechanismus im Anbruch der Moderne. Eine Studie zum Übergang von klassischer zu moderner Naturphilosophie. Darmstadt 1997 [WB-Edition Universität, Bd. 3]. 44  Zeh: Physik ohne Realität (Anm. 42), S. 36. 45  Vgl. hierzu Christian Bachhiesl: Hans Gross findet die Wahrheit. Zur kriminalwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung um 1900. In: Christian Bachhiesl u. a. (Hg.): Psychoanalyse & Kriminologie – Libido & Macht – Hans & Otto Gross. 8. Internationaler Otto Gross Kongress. Marburg an der Lahn 2014 (im Druck). 46  Vgl. Gross: Criminalpsychologie (Anm. 3), S. 147. Zu Gesetzlichkeiten und Kontingenzen in der Geschichte vgl. auch Andreas Frings / Johannes Marx (Hg.): Erzählen, Erklären, Verstehen. Beiträge zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der Historischen Kulturwissenschaften. Berlin 2008; Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt a. M. 1974 [Wissenschaftliche Paperbacks Grund­ lagenforschung, Studien, Bd. 10]. 47  Alexander Riebel: Die Konstitution der Wirklichkeit in den Wissenschaften – Zur philosophischen Begründung des Gesetzesbegriffs bei Heinrich Rickert. In:

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spekulative Dimension etwa der Dilthey’schen Hermeneutik übernehmen müssen,48 aber ein Aufmerken auf den Umstand, dass da etwas nicht exakt vermessbar ist, wäre – wenn sich Hans Gross schon auf die Geschichtswissenschaft berief – gewiss nicht schädlich gewesen. Gross war jedoch offensichtlich davon überzeugt, dass nicht die Kriminalwissenschaft von den Geisteswissenschaften lernen, sondern dass sozusagen auch die Geschichtswissenschaft Naturwissenschaft werden müsse. Gross vertrat einen naturwissenschaftlichen Expansionismus, wie er von den Naturwissenschaftern, die nicht selten der Geschichtswissenschaft methodische Unzulänglichkeiten vorwarfen, selbst nicht schärfer hätte vertreten werden können – ein schönes Beispiel für die Art und Weise, „[w]ie die Naturwissenschaftler den Geistes- und Sozialwissenschaften zu Leibe rückten“.49 Gerade der Versuch, die inneren Zustände des Menschen exakt zu erfassen, hat zu seltsamen, mitunter abenteuerlichen und abstrusen Resultaten geführt. Das Unterfangen, den Menschen auf ein mit naturwissenschaftlichen Mitteln vollständig zu erfassendes Wesen zu reduzieren, führen zu einer trügerischen Objektivitätsgewissheit, die die Wissenschafter ihre eigenen Wertungen und interpretativen Zugaben übersehen lassen. Wenn es um das sogenannte Wesen des Menschen geht, drängt sich, wie Daniel Robinson feststellt, die Vermutung auf, „daß wissenschaftliche oder auch arithmetische Präzision vielleicht so gut wie gar nichts über den Gegenstand aussagt, der mit solcher Exaktheit untersucht worden ist“.50 Gerade die Präzision der exakten Naturwissenschaften begründeten Hans Gross’ Überzeugung, alle Untersuchungsgegenstände, und seien sie auch so schwer fassbar und in materieller Hinsicht amorph wie das Denken, Fühlen, Wollen oder gar das Wesen des Menschen, sicher und gewiss fassen zu können. Umso bedenklicher stimmen die derzeit diskutierten, unter anderem durch neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse angestoßenen Bestrebungen einer ‚Rebiologisierung‘ der Kriminalwissenschaft.51 Wolfgang Bock (Hg.): Gesetz und Gesetzlichkeit in den Wissenschaften. Darmstadt 2006, S. 157–168, S. 166. 48  Zu Diltheys historischer Hermeneutik vgl. Erwin Hufnagel: Einführung in die Hermeneutik. St. Augustin 2000 [Hermeneutik im Gardez!, Bd. 1], S. 140–254. 49  Vgl. das Kapitel Über die Rückständigkeit der Geschichtswissenschaften und ver­ wandten Disziplinen oder: Wie die Naturwissenschaftler den Geistes- und Sozialwissen­ schaften zu Leibe rückten in Bernd Weiler: Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der „jungen“ Anthropologie. Bielefeld 2006, S. 55–75. 50  Daniel Robinson: Einleitung. in: Maxwell Bennett / Daniel Denett / Peter Hacker /  John Searle: Neurowissenschaft und Philosophie. Gehirn, Geist und Sprache. Mit einer Einleitung und einer Schlussbetrachtung von Daniel Robinson. Berlin 2010, S. 7–11, hier S. 10. 51  Vgl. Gerhard Roth / Stefanie Hubig / Heinz Georg Bamberger (Hg.): Schuld und Strafe. Neue Fragen. München 2012; Peter Becker: New Monsters on the Block? On the Return of Biological Explanations of Crime and Violence. In: Max S. Hering



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Die Untersuchung der Epistemologie des Hans Gross aus historisch-epistemologischer Perspektive hat zu dem Ergebnis geführt, dass die durch übersteigertes Vertrauen in naturwissenschaftliche Exaktheit verursachte Skepsisvergessenheit und die Reduktion des Kausalitätsbegriffes auf ein stets gesetzmäßiges Ursache-Wirkungs-Verhältnis, das dem Menschen lediglich den Status einer materiellen ‚Realie‘ zugesteht, jene zentralen Schwachstellen in Hans Gross’ Epistemologie waren, die die ungewollte und unreflektierte Verwandlung von vor- und außerwissenschaftlichen Annahmen und Wertungen in vorgeblich gesichertes Wissen ermöglichten. Damit ist nicht gesagt, dass Hans Gross’ Kriminalwissenschaft bloß aus Werturteilen bestanden hätte; und auch nicht, dass die genannte Skepsisvergessenheit und Verkürzung des Kausalitätsbegriffes die einzigen Schwächen der Gross’schen Epistemologie darstellten. So manches bliebe noch zu sagen, vieles sich zur weiteren Erörterung geradezu Aufdrängende konnte aufgrund des knapp bemessen Platzes nicht einmal als Frage formuliert werden: Die Reichweite der obigen Darlegungen über das Beispiel Hans Gross hinaus etwa;52 das – entgegen anders argumentierender Positionen in der Forschung53 – Kriminalistik und Kriminologie gleichermaßen überspannende epistemologische Dach; oder eine den Bereich des Faktischen überschreitende Differenzierung des Wahrheitsbegriffs. Die interessierte Leserschaft sei diesbezüglich auf an anderem Ort Publiziertes verwiesen.54 Torres (Hg.): Cuerpos Anómalos. Bogotá 2008, S. 265–309; Peter Strasser: Naturalistische Kriminologie? In: Irmgard Rohde / Heinz Kammeier / Matthias Leipert (Hg.): Paradigmenwechsel im Strafverfahren! Neurobiologie auf dem Vormarsch. Berlin 2008 [Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, Bd. 30], S. 65–80. 52  Zur kriminalwissenschaftlichen Epistemologie allgemein vgl. Imanuel Bau­ mann: Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980. Göttingen 2006 [Moderne Zeit, Bd. 13]; Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002 [Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 176]; Peter Becker / Richard F. Wetzell (Hg.): Criminals and their Scientists. The History of Criminology in International Perspective. Cambridge u. a. 2006; Lukas Gschwend: Justitias Griff zur Lupe. Zur Verwissenschaftlichung der Kriminalistik im 19. Jahrhundert. Graz 2004 [Grazer Rechts- und Staatswissenschaftliche Studien, Bd. 60]; Miloš Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933). Baden-Baden 2002 [Juristische Zeitgeschichte, Abt. 1, Bd. 12]; Richard F. Wetzell: Inventing the Criminal. A History of German Criminology 1880–1945. Chapel Hill / London 2000. 53  Vgl. Miloš Vec: Sichtbar / Unsichtbar: Entstehung und Scheitern von Kriminologie und Kriminalistik als semiotische Disziplinen. In: Rebekka Habermas / Gerd Schwerhoff (Hg.): Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte. Frankfurt a. M. / New York 2009, S. 383–414. 54  Vgl. Christian Bachhiesl: Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft. Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung. Wien u. a. 2012 [Austria: Forschung und Wissenschaft interdisziplinär, Bd. 8].

III. Die Autonomisierung des Literatursystems und die Konkurrenz von rechtlicher, moralischer und medizinischer Verbrechensdeutung

Mobilisierung und Diabolisierung der Zeichen. Zu Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas1 Von Joachim Linder2 I. Kriminalität und Unordnung: Literarische Modelle um 1800 Es sind vor allem drei Texte, mit denen Literarhistoriker den Anfang der modernen deutschsprachigen literarischen Darstellung von Verbrechen, Verbrechern und Justiz verbinden: Friedrich Schillers Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte (1792),3 Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas (1810)4 sowie E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scu­ deri (1820).5 Für jeden der Texte gibt es ein dominierendes Lektüremodell: E. T. A. Hoffmanns Text gilt als einer der ersten deutschsprachigen Versuche, die Detektion eines Verbrechens zu literarisieren, und zwar im Hinblick auf den Erfolg der Hobbydetektivin einerseits, das Versagen der Institutionen der 1  Ich lege meinen Kommentar als textnahen Lektürevorschlag an, der freilich nur auf einzelne Strukturmerkmale und Aspekte des Textes eingehen kann. Ich verzichte auf die Auseinandersetzung mit der vielfältigen und anregenden Sekundär­ literatur, die meine Lektüre angeleitet und begleitet hat. 2  Erstpublikation unter demselben Titel in: Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder. BadenBaden 2000, S. 131–163. 3  Schillers Erzählung ist erstmals 1786 unter dem Titel Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte anonym in der Zeitschrift Thalia erschienen. 4  Ein Fragment des Kohlhaas wurde 1808 in der von Kleist und Adam Müller herausgegebenen Zeitschrift Phöbus veröffentlicht; der Untertitel „aus einer alten Chronik“ erscheint lediglich auf dem Titelblatt des ersten Bandes der Kleistschen Erzählungen von 1810; ich folge der Ausgabe Heinrich von Kleist: M ­ ichael Kohlhaas. Paralleldruck der fragmentarischen Erstfassung in der Zeitschrift ‚Phöbus‘ und der Buchfassung. In: Ders.: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Hg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt a. M. 1990, S. 11–142; s. den Kommentar, S. 705. Zitate aus Kleists Text werden im fortlaufenden Text durch die Angabe der Seitenzahlen der vorliegenden Ausgabe sowie, nach einem ‚ / ‘, der Brandenburger Aus­ gabe (Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. In: Ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Abt. II: Prosa. Bd. 1 in 2 Tln. Frankfurt a. M. 1990) nachgewiesen. 5  Erstdruck im Taschenbuch für das Jahr 1820. Der Liebe und Freundschaft gewidmet.

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Strafverfolgung andererseits. Die Verbindung von Verbrechen, Aufklärung und Kunst spielt dabei eine gewichtige Rolle, die sich auch auf die Deutung des Verbrechens und des Verbrechers überträgt. Schillers Erzählung vom Räuber und Mörder Christian Wolf beruht auf den Überlieferungen zu Friedrich Schwan, der im 18. Jahrhundert als ‚Sonnenwirt(le)‘ berüchtigt war; sie gilt als paradigmatisch für die Darstellung einer vollständigen Verbrechergeschichte, in der die Bedingungen für die Entstehung individueller Kriminalität literarisch geklärt werden. Die Erzählung legt eine kriminologische bzw. kriminal-ätiologische Lesart nahe, weil sie Kriminalitätsentstehung in einem Dreieck zeigt, das vom Täter (seinen Anlagen, Voraussetzungen, Motiven und Gelegenheiten), von der Gesellschaft (ihren kriminogenen Fehlentwicklungen) und von den Instanzen der Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung gebildet wird. Dies kommt schon im Titel der Erzählung zum Ausdruck: Die ‚verlorene Ehre‘ (bzw. die ‚Infamie‘ der Erstfassung) gilt als Eigenschaft des Täters, die sich als Folge von Konflikten und Verurteilungen allmählich entwickelt und zur Voraussetzung dafür wird, dass ein Mensch, der ursprünglich gut, wenn auch nicht glücklich veranlagt ist, zum Verbrecher wird, dessen Leben auf dem Schafott endet.6 Dabei ist diese Entwicklung als reversibel geschildert: Nicht erst im Verlauf des Strafverfahrens und bei der Hinrichtung, sondern schon vorher findet Schillers Verbrecher zur Einsicht in seine Verschuldungen, er wird (wieder) zum wertvollen Mitglied der Gesellschaft, der dies dadurch zum Ausdruck bringen kann, dass er sich zu seiner Schuld bekennt und die Strafe, die über ihn verhängt wird, als ‚gerecht‘ hinnimmt. Schillers Erzählung drückt ihre kriminal- oder gesellschaftspolitische Zielrichtung in einer problematischen Analogie zur Medizin aus: Wie eine Krankheit, so muss auch die Kriminalität im Individuum frühzeitig genug diagnostiziert und therapiert werden, so dass ‚Brand‘ und ‚Amputation‘ vermieden werden können. Der Text unterstellt, dass die vorhandene Ordnung, die durch Kriminalität gestört wird und sich gleichzeitig als gestörte erweist, verbessert werden kann, so dass individuelle Fehlentwicklungen, die von ihr ausgehen, quantitativ und qualitativ zurückgedrängt werden können.7 6  Dass ein ‚an sich‘ guter Mensch zum Verbrecher werden kann, dass umgekehrt ein schlechter Mensch nicht notwendig als Krimineller auffällig werden muss – dies sind Probleme, die in den literarischen und paraliterarischen Kriminalitätsdarstellungen um 1800 häufig schon in den Titeln thematisiert werden, vgl. z. B. P. J. A. Feuerbachs Joseph Auermann, tadelloser Mensch und Bürger und zuletzt doch ein Mörder (1808 / 11), s. Paul [Johann] Anselm Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen. Hg. von Rainer Schrage. Frankfurt a. M. 1981, S. 79–92. 7  Gleichzeitig reflektiert Schillers Text auch die Voraussetzungen der ‚wahren Darstellung‘ von Kriminalität, also der literarischen Repräsentation von Wirklichkeit: Insofern kann er auch als Vorläufer einer kritisch-konstruktivistischen Kriminologie gelesen werden. Zitate nach Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786 / 1792). In: Ders.: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hg.



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Während Schillers Erzählung Ehrlosigkeit als persönliche Eigenschaft konzipiert, ist sie bei Kleist integraler Teil der gesellschaftlichen Strukturen und Voraussetzung der Konflikte, die zur Katastrophe führen. Kleists Erzählung fokussiert die Ordnung (bzw. Un-Ordnung), in der Kohlhaas handelt und in der sein Handeln mit bestimmten Bedeutungen (‚Landfriedensbrecher‘ und ‚Mordbrenner‘) versehen wird.8 Man muss wohl genauer davon sprechen, dass sie Konflikte konstruiert, die durch die Koexistenz unterschiedlicher Ordnungen entstehen. Damit hängt auch zusammen, dass Mi­ chael Kohlhaas zahlreiche Lektüren angeregt hat, die dezidiert juristisch, rechtshistorisch und rechtstheoretisch orientiert sind.9 Bei Kleist geht es nicht um die Perfektionierung der dargestellten Ordnung, als notwendig erscheint vielmehr ihre durchgreifende Transformation, die noch für die höchsten Repräsentanten in der Form der Einschränkung ihres Selbstherrschertums zugunsten der allgemeinen Rechtsunterworfenheit wirksam würde. Indem sich das Schicksal des Michael Kohlhaas erfüllt (zweifellos auch durch seine eigene wie durch fremde Schuld, durch schein-legitimiertes Fehlverhalten, durch Zufälle und Irrtümer), erweist es sich als Prüfung für die Verfassungen von Gesellschaft, Recht und Staat in der dargestellten Welt, wobei sich die sächsische Variante mit ihrem Kurfürsten als untergangsreif darstellt, während sich die brandenburgische der endgültigen Beurteilung zu entziehen weiß. In der von Kleist geschilderten Welt führt die Rechtsverweigerung zur ‚Hyperbolik der Rache‘,10 zu Aktionen und Reaktionen, die im ‚Fall‘ nicht begründet sind. Luther drückt sich im Gespräch mit Kohlhaas so aus: Weil der Landesherr dir, dem du unterthan bist, dein Recht verweigert hat, dein Recht in dem Streit um ein nichtiges Gut, erhebst du dich, Heilloser, mit Feuer von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 5. Band: Erzählungen. Theoretische Schriften. 9., durchges. Auflage. Darmstadt 1993, S. 13–35. 8  Monika Frommel: Die Paradoxie vertraglicher Sicherung bürgerlicher Rechte. Kampf ums Recht und sinnlose Aktion. In: Kleist-Jahrbuch 1988 / 89 (Internationales Kleist-Kolloquium Berlin 1986), S. 357–374. Frommel betont den Aspekt der Ordnung, die im Recht bzw. der Rechtspraxis zum Ausdruck kommt, während z. B. Bennholdt-Thomsen und Guzzoni (Anke Bennholdt-Thomsen / Alfredo Guzzoni: Der ‚Asoziale‘ in der Literatur um 1800. Frankfurt a. M. 1979, S. 52 f.) nur vom verweigerten Recht sprechen. 9  Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Naucke: Die Michael-Kohlhaas-Situation. Ein juristischer Kommentar. In: Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder. Baden-Baden 2000, S. 111–129. 10  Walter Müller-Seidel: Todesarten und Todesstrafen. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist. In: Kleist-Jahrbuch 1985, S. 7–38, hier S. 17; vgl. auch die Reaktion Piachis auf das ‚Ausweisungsdekret‘ seines Pflegesohnes in Kleists Erzählung Der Findling.

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und Schwerdt, und brichst, wie der Wolf der Wüste, in die friedliche Gemeinheit, die er beschirmt (44 / 144).

Luther attestiert die Rechtsverweigerung und bestätigt gleichwohl den Landesherrn als Beschützer des Gemeinwesens; er wirft Kohlhaas vor, den Frieden gebrochen zu haben und fordert von ihm, denen, die ihm Unrecht angetan haben, zu vergeben, wo die Hemmung des Rechts nur aufgehoben werden müsste, um Kohlhaas seinerseits ins Unrecht zu setzen. Kohlhaas’ Schicksal erfüllt sich, weil auf allen Seiten diese Hemmung des Rechts als Krise erfahren wird, in der die einfachen Sachverhalte, nämlich die Anmaßung des Junkers Wenzel von Tronka und die Verschlechterung der Pferde, mit Bedeutung derart angereichert werden, dass am Ende nicht nur das Leben Kohlhaas’ geopfert werden muss, sondern auch Statur und Moral des Kurfürsten von Sachsen zerstört sind. Man kann von Kleists Kohlhaas sagen, was Helmut Böhme über Büchner, Grabbe, Heine und Börne gesagt hat, nämlich dass sie alle den Zusammenbruch Alteuropas [verarbeiten], die Auflösung, Beharrung oder Verwandlung des ständischen Systems, das von bodengetragener Herrschaft geprägt war, das Aufkommen einer bürgerlichen, klassenstrukturierten Besitz- und Erwerbsgesellschaft11.

Am Ende soll Kohlhaas mit seinem Tod die Welt ‚versöhnen‘ (104 / 284), im Gegenzug erhält er sein ‚Recht‘ (105 / 287): Es hat wenig Sinn, im Vollzug des Urteils eine Apotheose der ‚Gerechtigkeit‘ zu sehen, schon gar nicht, wenn man unter der ‚Gerechtigkeit‘ etwas Überzeitliches, das Recht selbst transzendierendes versteht. Man muss nur die Perspektive wechseln: Der Kurfürst von Brandenburg betreibt eine aus seiner Sicht vernünftige, stabilisierende Politik, die ihm Vorteile im Innern und gegenüber Sachsen verschafft (von den Auseinandersetzungen zwischen Brandenburg, Sachsen und Polen ist mehrfach die Rede, 80 / 229, 81 / 231, 102 / 280). Von einer ‚mystischen Transformation‘12 oder gar vom ‚Triumph der himmlischen Gerechtigkeit‘13 kann nur sprechen, wer die inszenatorischen Aspekte der Hinrichtung ausblendet und den Schein dieser Inszenierung für die Wirklichkeit nimmt. 11  Helmut Böhme: Georg Büchner oder Von der Unmöglichkeit, die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus zu reformieren. In: Georg Büchner 1813–1837 – Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Katalog der Ausstellung Mathildenhöhe, Darmstadt, 2. August – 27. September 1987. Hg. vom Institut Mathilden­ höhe, Darmstadt. Georg Büchner Ausstellungsgesellschaft. Basel / Frankfurt a. M. 1987, S. 8–15, hier S. 7. 12  Thomas-Michael Seibert: Kohlhaas, der Rebell, URL: http: /  / www.rechtssemio tik.de / ~nanien / kohl-haas.shtml, 2000. 13  Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Freiburg i. Brsg. 1987, S. 297.



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II. Grenzübergang an der Tronkenburg Wo sich Ordnungen als Un-Ordnung präsentieren, werden Grenzübertritte zu einem besonderen Risiko. In Situationen, in denen räumliche oder soziale Grenzen trennen und überschritten werden müssen, werden die Differenzen sichtbar, die den Text strukturieren: Mobilität vs. Stabilität, horizontale vs. vertikale Organisation, Ehrlichkeit vs. Unehrlichkeit. Gleich die erste Handlungssequenz der Erzählung schildert einen solchen Grenzübertritt:14 Kohlhaas, der mit Knechten und Pferden von Brandenburg nach Sachsen unterwegs ist, wird, unweit der Staatsgrenze, aber schon auf sächsischem Gebiet, von einem Schlagbaum aufgehalten (alle Zitate im folgenden 9–13 / 64–72). Beim Schlagbaumwärter der stattlichen Tronkenburg entrichtet er anstandslos den Zoll, der mit dem Hinweis auf ein ‚landesherrliches Privilegium‘, das dem Junker von Tronka verliehen sei, erhoben wird. Im mürrischen Wortwechsel lässt Kohlhaas die Bemerkung fallen, dass „der Baum [besser] im Walde stehen geblieben wäre“.15 Da mag er Recht haben, doch um Handel und Wandel zu behindern, die Anmaßung des Junkers von Tronka zu ermöglichen und den Schein eines Rechtsverhältnisses, nämlich einer Verpflichtung des Reisenden gegenüber dem Burgherrn, herzustellen, musste der Baum aus seiner natürlichen Ordnung, der vertikalen Stellung im Wald, herausgeholt und in die horizontale Lage gebracht werden; nur so wird er zum Zeichen in der sozialen Ordnung des Textes, aber auch zum 14  Vgl. dazu aus anderer Perspektive Erika Fischer-Lichte: Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Frankfurt a. M. 1991, S. 54–57. 15  Dass der Vater des Junkers diesen Zoll nicht gefordert hatte, im Gegenteil, dass er ‚Handel und Wandel‘ gefördert habe, wird gelegentlich als Ausweis für die liberal-bürgerliche Gesinnung des älteren Tronka gedeutet (vgl. z. B. Fischer-Lichte: Heinrich von Kleist (Anm. 14), S. 32): Angesichts der Rechts- und Gesellschaftsordnung, die im Text konzipiert wird, scheint dies wenig sinnvoll; die Haltung des Vaters ist wie die des Sohnes als Ausfluss autoritär-paternalistischer Verhältnisse zu deuten, nur eben mit umgekehrter Zielrichtung. Zur Geschichte von willkürlichen Straßenzöllen vgl. Kurt Andermann: Raubritter – Raubfürsten – Raubbürger? Zur Kritik eines untauglichen Begriffs. In: Ders. (Hg.): ‚Raubritter‘ oder ‚Rechtschaffene vom Adel‘? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter. Sigmaringen 1997, S. 9–29; sowie Klaus Graf: Gewalt und Adel in Südwestdeutschland. Überlegungen zur spätmittelalterlichen Fehde, URL: http: /  / www.uni-koblenz. de / graf / gewalt.htm, 2000. Selbstverständlich ist der Junker Wenzel von Tronka auch vor dem Hintergrund der Vorstellungen über den ‚Raubritter‘ zu sehen, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Begriff des ‚Raubritters‘ vermutlich erst im späten 18. Jahrhundert entstanden ist und dass er auch als politischer Begriff in der Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum instrumentalisiert wurde (vgl. dazu Gerd Schwerhoff: Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die historische Kriminalitätsforschung. Tübingen 1999 [Historische Einführungen, Bd. 3], S. 77–79). Doch immer bleibt Junker Wenzel ein ‚mickriger‘ Repräsentant der Vorstellungen von Ritterschaft.

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Hinweis für den Leser: An der Tronkenburg sind die räumliche Anordnung und die Bewegungen der Figuren auf deren soziale Positionen und auf soziale Ordnungen insgesamt zu beziehen. Schon zu Beginn erscheint die vertikale Hierarchie der ständisch-feudalen Ordnung als gestört, als eine Inszenierung, die Konflikte produziert, sobald die Positionen auf der Vertikalen verlassen werden und in der Horizontalen – auf gleicher Augenhöhe – Interessen und Rechtspositionen ausgehandelt werden müssen. Das Geschehen spielt sich in einer Szenerie ab, die auch literarhistorisch bekannt ist: Burgen, von denen aus das umliegende Land überwacht und der Verkehr – je nachdem – beschützt oder bedrückt wird, gehören zum Inventar der Vorstellungen von Rittertum und ständischer Gesellschaft. Dazu kommen die Auftritte des Burgpersonals: Zunächst erscheint der Schlagbaumwärter, räumlich und sozial ist er in der Burggesellschaft ganz unten positioniert; als sein Geschäft mit Kohlhaas abgewickelt ist, mischt sich der Burgvogt vom Fenster des Turms aus ein und gibt dem Fall mit der Forderung nach einem Passschein eine neue Wendung. Um die Situation zu klären, suchen Kohlhaas und der Vogt den Junker auf, der standesgemäß im ‚Saal‘ der Burg repräsentiert. Doch ‚oben‘ erhält der Vorgang eine neue Bedeutung: Anstatt die Rechtslage zu klären, begibt sich der Junker mit seiner Gesellschaft ‚hinab in den Hof‘, um die Pferde zu besichtigen und über ihren Ankauf zu verhandeln. Dies scheitert angesichts des Preises, so dass der Junker den Rückweg antritt und währenddessen, vom Vogt dazu gedrängt, die Entscheidung fällt, dass Kohlhaas den Passschein vorlegen und einstweilen die beiden Rappen als Sicherheitsleistung zurücklassen müsse. In Privileg und Passschein treffen zwei verschiedene Konzeptionen von Recht aufeinander: das Privileg ist als Produkt einer ständisch-feudalen Ordnung zu verstehen, das den Junker begünstigt, ihn aber auch als Abhängigen vom Landesherrn definiert. Dagegen gehört der Passschein einer Ordnung an, deren Regelungen sich an alle richten, ohne das Ziel der Begünstigung einzelner (s. dazu auch später im Text den Hinweis auf ein seuchenpolizeiliches Edikt, 71 / 208). Der Versuch der Burgbewohner, sich am Kaufmann zu bereichern, überschreitet so gesehen auch die Grenzen zwischen unterschiedlichen Rechtsvorstellungen. Am Ende dieser Sequenz sehen wir zwei ‚Beschädigte‘: Kohlhaas ist zwar nicht um sein Eigentum, aber doch um die Verfügungsgewalt über seine Pferde gebracht worden; die Rappen haben an Mobilität eingebüßt, gleichzeitig an Bedeutung im Rechtssinne gewonnen; die Pfandnahme ist zwar rechtswidrig, wie Kohlhaas sich mit der Bescheinigung über den ‚Ungrund‘ (13 / 73) bestätigen lässt.16 Doch gegen ihren Missbrauch und für 16  Vgl. zur Rechtslage an dieser Stelle vor allem Joachim Rückert: „… der Welt in der Pflicht verfallen …“. Kleists Kohlhaas als moral- und rechtsphilosophische



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ihre unbeschädigte Herausgabe ist ihm kein Druckmittel gegeben. Aber auch der Junker geht kompromittiert aus der Begegnung hervor; seine prekäre Situation wird schon dadurch charakterisiert, dass er nicht das Geld besitzt, um uneingeschränkt an Handel und Wandel teilzunehmen, er muss zu fragwürdigen und ungesetzlichen Mitteln greifen, um wenigstens parasitär von den Bewegungen auf der Straße zu profitieren. Dazu kommt, dass sich im internen Verhältnis zwischen dem mageren Junker und dem fetten Vogt, zwischen dem Herrn und seinem Knecht also, eine Rollenumkehr abzeichnet: Der Vogt, nicht der Junker, erweist sich als die eigentliche Rechts- und Entscheidungsinstanz auf der Burg.17 Der Junker, der sich in der Eingangssequenz präsentiert, ist nicht Kohlhaas’ eigentlicher Gegner; er setzt bloß den Anlass für den (eigentlich banalen) Rechtsfall. Er erscheint als ein kleiner Betrüger, der sich womöglich an größeren Vorbildern orientiert; er kann Kohlhaas hemmen, wohl auch irritieren, aber nicht nachhaltig demütigen oder lächerlich machen.18 Kohlhaas wird gegen ihn immer ‚nur‘ den rechtmäßigen Ausgleich und Rache suchen, während er gegen Staat und Ordnung seinen ‚kleinen Krieg‘ führen wird. Die Störung der Ordnung manifestiert sich von Anfang an nicht bloß in einer Justiz, die politischen und persönlichen Einflüssen offen ist, sie zeigt sich auch und vor allem darin, dass die Abhängigkeits- und Vertretungsverhältnisse nicht halten, was die jeweils mit großem Aplomb und zeichenhaftem Aufwand gestalteten Inszenierungen versprechen. Die Situationen, in denen der jeweils Höherrangige sich weigert, die Verantwortung für die Handlungen des weisungsgebundenen Vertreters zu übernehmen, sind rekurrent. Die Darstellungen der Ordnung sind scheinhaft, sie verdecken kulissenartig eine Wirklichkeit der Willkür und Verantwortungslosigkeit. Dagegen stellt Kohlhaas eine eigene Definition des Verhältnisses von Herr und Knecht. Das Verhör, das er mit Herse darüber anstellt, ob nicht das Verschulden des Gehilfen, das er als Herr sich zurechnen lassen müsste, zu Konflikten auf der Burg und zur Schädigung der Pferde geführt hätte (17– 21 / 82–91), bringt mit unübertrefflicher Deutlichkeit zum Ausdruck, dass der jeweilige Herr für den Gehilfen, für den Untergebenen oder den Beauftragten einzustehen und für seine Handlungen bzw. Verfehlungen zu haften hat. Stellungnahme. In: Kleist-Jahrbuch 1988 / 89 (Internationales Kleist-Kolloquium Berlin 1986), S. 375–403, hier S. 376–382. 17  Zahlreiche Vertreter der Adelsschicht, bis hin zum Kurfürsten von Sachsen, werden sich im Verlauf der Erzählung als verlegen zeigen und damit ausdrücken, dass sie nicht die Handlungsfähigkeit besitzen, die den Positionen, die sie repräsentieren, entspricht. 18  So überschätzt z. B. Helga Gallas: Das Textbegehren des ‚Michael Kohlhaas‘. Die Sprache des Unbewussten und der Sinn der Literatur. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 62, den Junker.

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Es ist im Übrigen bemerkenswert, dass der Eintritt Kohlhaas’ in das Gebiet, das man als das der ‚sächsischen Unordnung‘ bezeichnen könnte, nicht unmittelbar an der Landesgrenze, sondern schon auf sächsischem Gebiet an einer zweiten Grenze erfolgt. Auf ähnliche Weise verlässt er diese spezielle Ordnung wieder, wenn er als Gefangener des Kurfürsten von Brandenburg (bzw. der Brandenburgischen Justiz) eine Schranke in Sachsen überwindet, die von der Jagdgesellschaft des sächsischen Kurfürsten gebildet wird, deren Tafel und Zelte über eine Straße hinweg aufgebaut sind (82 f. / 233 f.). An dieser zweiten Schranke verkehrt sich denn auch das Verhältnis zwischen dem sächsischen Kurfürsten und Kohlhaas endgültig: Kohlhaas, obwohl Gefangener, gewinnt nun die Oberhand über den Kurfürsten; durch diese Begegnung wird ihm erst das Mittel seiner Rache in die Hand gegeben, nämlich das Wissen um die Bedeutung des Zettels, den er von der Zigeunerin erhalten hat. Doch darauf wird zurückzukommen sein. Hier muss der Hinweis genügen, dass Ordnung und Territorium des Staates nicht miteinander identisch sind – nicht ‚Sachsen‘ ist exemplarisch, sondern die Un-Ordnung. Was als Konflikt mit einem kleinen Junker beginnt, wird zur Auseinandersetzung mit dem Landesherrn. Während Kohlhaas sich durch Sachsen bewegt, verlagert sich der Streit nach oben und zieht Kohlhaas gleichsam mit sich, bis er für einen kurzen, aber entscheidenden Moment dem Kurfürsten von Sachsen überlegen sein wird. III. Der ‚Rosskamm‘ Kohlhaas Noch bevor er sich anschickt, die Grenze bei der Tronkenburg zu überschreiten, wird Kohlhaas im einleitenden Absatz (9 / 63 f.) als jemand charakterisiert, der soziale Grenzen bereits überschritten hat, der aber auch an einer solchen lebt, und zwar in der steten Gefahr, sie ungewollt überschreiten zu müssen; seine Position erscheint nicht weniger gefährdet als die des Junkers.19 In eher beiläufigen Bemerkungen erfolgt die soziale Verortung des Protagonisten, während bestimmte Eigenschaften, vor allem sein ausgeprägtes ‚Rechtgefühl‘20 und seine Tugenden als Hausvater, Ehemann und 19  Müller-Seidel weist zu Recht darauf hin, dass Michael Kohlhaas keine Charakternovelle ist; es geht darum, dass Handlungen im Rahmen einer Un-Ordnung konzipiert, wahrgenommen und verstanden werden, so dass die Un-Ordnung charakterisiert wird. Vgl. Müller-Seidel: Todesarten (Anm. 10) 1985, S. 16; vgl. auch Wolf­ gang Wittkowski: Rechtspflicht, Rache und Noblesse: Der Kohlhaas-Charakter. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 12 (1998), S. 92–113. 20  „[…] das einer Goldwaage glich“, S. 76; vgl. dazu insbesondere Joachim Rückert: „… der Welt in der Pflicht verfallen …“ Kleists Kohlhaas als moral- und rechtsphilosophische Stellungnahme. In: Kleist-Jahrbuch 1988 / 89 (Internationales Kleist-Kolloquium Berlin 1986), S. 375–403.



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Nachbar, an dieser wie an zahlreichen weiteren Stellen auffällig betont werden. Hierher gehören auch die Schilderungen seines anfänglichen Vertrauens in die rechtliche Ordnung, das sich in der Ausarbeitung seiner Klage und die Reaktion auf ihre Niederschlagung manifestiert.21 Dabei ist das Vertrauen in die Rechtsordnung vor allem als Vertrauen in die Möglichkeit sprachlicher Repräsentation von Wahrheit und Wirklichkeit konzipiert, das nachhaltig enttäuscht werden wird. Doch es ist durchaus plausibel, dass Kohlhaas zunächst auf Sprache und Schrift setzt, ist er doch als ‚Sohn eines Schulmeisters‘ zum wohlhabenden Kaufmann geworden, der Handelsbeziehungen zur Oberschicht in Sachsen und in Brandenburg unterhält und auch in beiden Staaten Grundeigentümer ist. Ich lasse es dahingestellt, ob dies eine historisch plausible Karriere ist; der Text konzipiert sie als Durchgang zur Re-Integration der Familie in die ständische Gesellschaft; die Nobilitierung der Enkel des Schulmeisters und Söhne des Rosshändlers bestätigt und beschließt den Aufstieg, den der Vater initiiert hat. Schulmeister gelten als arme Schlucker, denen aber wesentliche Funktionen für die Erhaltung staatlich-gesellschaftlicher Stabilität zugeschrieben werden; Wissens- und Normvermittlung sind ihnen übertragen, sie spielen eine zentrale Rolle bei der sozialen Integration und der Disziplinierung der heranwachsenden Untertanen.22 Sie sind selbst einer rigiden Aufsicht unterstellt und stets Objekt (kaum je Subjekt) von Reformanstrengungen und Erziehungsdiskussionen. Kurzum: Der Schulmeister ist der Inbegriff sozialer Stabilität (was im Übrigen auch in literarischen und ikonographischen Darstellungen zum Ausdruck kommt). Der Sohn bringt es als Rosshändler zu Wohlstand, in diesem Übergang wird der Wechsel von der Stabilität zur Mobilität in geradezu aufdringlicher Art betont: Kohlhaas ist nicht nur als Händler unterwegs auf den Straßen, zwischen den Markt- bzw. Messeorten und den Staaten, er ist nicht nur als ‚Aufsteiger‘23 anzusehen, er handelt auch noch mit einem Gut, das Mobilität verkörpert: Pferde sind nicht nur bewegliche Tiere, die zudem Mobilität vermitteln (sie ermöglichen Verkehr, sind Medien der Mobilität), sondern sie werden als Handelsware noch wei21  Vgl. dazu z. B. Anthony Stephens: Kleist – Sprache und Gewalt. Mit einem Geleitwort von Walter Müller-Seidel. Freiburg i. Brsg. 1999, S. 157–194. 22  Vgl. aus unterschiedlichen Perspektiven Hubert Treiber / Heinz Steinert: Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen. Über die ‚Wahlverwandtschaft‘ von Kloster- und Fabrikdisziplin. München 1980; Wolfgang Dreßen: Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Preußen / Deutschland. Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1982; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1. Band. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. München 1987, S. 284–288. 23  Wenn man Kohlhaas’ Aufstieg als ‚Modernisierung‘ deutet, dann wird die Nobilitierung der Söhne und ihre Aufnahme in die Pagenschule deutbar als Versuch, diese Modernisierung anzuhalten oder wenigstens zu bändigen.

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ter in Bewegung versetzt, indem sie als Eigentum von einer Hand in die andere wechseln und den Wohlstand des Rosshändlers begründen. So erst wird er zum Gegenbild des Junkers, der ihn in seiner Bewegung hemmt; so wird aber auch motiviert, dass Kohlhaas Unruhe in diese Gesellschaft bringt und ihre Konflikte aufbrechen lässt. Als Kaufmann ist Kohlhaas auf Sicherheit und Vorhersehbarkeit des Verkehrs angewiesen: er akzeptiert die Zollabgabe, obwohl er sie als willkürlich empfindet; er wehrt sich gegen den Passschein, der ihn nachhaltig behindern würde. Genau so ist er auf Rechtssicherheit angewiesen, auf eindeutige Vertretungs- und Repräsentationsverhältnisse (Verträge, ob mündlich oder schriftlich abgeschlossen, müssen bindend sein24). Aber umgekehrt muss Kohlhaas auch darauf bedacht sein, dass sein Ruf als ‚ehrlicher Kaufmann‘ nicht angetastet wird, nur so bleiben seine Handelsbeziehungen stabil; wo der ‚schwarze Rappe‘ (61 / 183) als Pleonasmus gilt, ist die Rede vom ‚ehrlichen Kaufmann‘ durchaus zulässig und üblich. Die Betonung der Rechtschaffenheit und Ehrbarkeit des Rosshändler gewinnt vor diesem Hintergrund ihren spezifischen Sinn, sie ist mehr als bloß persönliche Eigenschaft, die, indem sie hervorgehoben wird, auch als gefährdet erkannt werden muss. Denn einerseits ist der Ruf des Kaufmanns-Standes allemal schwankend, man kann den Rosshändler immer als jenen sehen, der unangemessen billig ein- und ebenso unangemessen teuer verkauft.25 Andererseits ist die Nähe des Rosshändlers zum Abdecker unverkennbar und damit zu jener sozialen Grenze, die in der geschilderten Gesellschaft den sozialen Bereich der Ehrlichkeit von dem der Unehrlichkeit trennt (s. u.).26 Die doppelte Gefährdung des Rufs und der Ehrlichkeit des Rosshändlers Kohlhaas betont der Text nicht weniger als seine persönliche Integrität und Rechtschaffenheit; gut zwanzig Mal wird Kohlhaas in unterschiedlichen Kontexten als ‚Rosskamm‘ bezeichnet: Dieser Begriff ist schon zeitgenössisch pejorativ konnotiert, dafür steht schon die volksetymologische Ableitung vom ‚Kamm‘, mit dem der Rosshändler seine Pferde striegelt, um den Käufer durch ihre Schauseite zu beeindrucken und von den Mängeln abzulenken.27 24  Zu Kohlhaas als Kaufmann vgl. aufschlussreich, aber nicht unter dem Aspekt der Ehrlichkeit / Unehrlichkeit: Michael Hetzner: Der Kaufmann als Held. Zum Problem der bürgerlichen Identität in Kleists ‚Michael Kohlhaas‘. In: Heilbronner Kleist-Blätter 5 (1998), S. 28 f. 25  Über alle Facetten des kaufmännischen Rufs im späten 18. und im 19. Jahrhundert kann man sich in den Kaufmannsromanen unterrichten, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erscheinen. 26  Diese Nähe wird auch noch in kleinen Dingsymbolen angedeutet, so etwa, wenn der Abdecker sich mit einem ‚bleiernen Kamm‘ durch die Haare fährt (190), während Kohlhaas den Zettel der Zigeunerin in einer ‚bleiernen Kapsel‘ aufbewahrt. 27  Vgl. den entsprechenden Eintrag in Adelungs Wörterbuch: „Eine im gemeinen Leben sehr übliche Benennung eines Roßhändlers, besonders so fern derselbe seinen



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Der Rosshändler ist zwar als Außenseiter, aber doch als Teil der Gesellschaft, nicht als ihr prinzipieller Antagonist konzipiert. Er nutzt ihre Möglichkeiten, er wird von ihr teils gefördert, teils gehemmt. Seine spezifische Mobilität und seine territoriale Ungebundenheit sind familiär gebunden; Kohlhaasenbrück mit Frau und Kindern ist sein Rückzugsbereich, mit dessen Zerstörung die Konflikte manifest werden, die in der sozialen Stellung Kohlhaas’, in seiner mehrfachen Mobilität schon angelegt sind. Er nutzt denn auch jede Gelegenheit einer Festsetzung bzw. Verhaftung im Verlauf seines Kampfes im und mit dem sächsischen Staat, um seine Kinder um sich zu sammeln, sie mit sich zu führen und sich betont als Familienvater zu inszenieren. Es ist auffällig, dass der Kurfürst von Sachsen, der am Ende mit Kohlhaas ‚Verlierer‘ sein wird, das Merkmal horizontal-territorialer Mobilität zwar mit ihm teilt,28 aber ohne Familie ist; er tritt mit seiner ‚früheren Geliebten‘, der Dame Heloise (83 / 235), auf, er wird auch im Kreis seiner Berater gezeigt, aber von Frau und Kindern ist nirgends die Rede. So erscheint seine Niederlage als endgültig, während Kohlhaas’ Tod als Dienst an der Familie gedeutet werden kann. Da Kohlhaas als Außenseiter der ständischen Ordnung beschrieben wurde, deren vertikale Stabilität gefährdet ist, soll die Repräsentation dieser Ordnung im Text skizziert werden: Sie reicht vom Jenseits (also von Gott, dem Erzengel Michael) über einen breiteren Mittelbereich (Kaiser, Kurfürsten, hoher und niederer Adel, Handwerker, Knechte auf allen Ebenen) bis zu den unehrlichen Berufen (dem Abdecker, dem Schweinehirten und dem verurteilten Verbrecher). Im Mittelbereich ist Mobilität tendenziell als gefährlich ausgezeichnet, dies zeigt sich beim sächsischen Kurfürsten ebenso wie bei Junker Wenzel von Tronka. Im Bereich des Adels treten Figuren auf, die Vertretungs- bzw. Repräsentationsfunktionen für höher positionierte Figuren ausfüllen; diese Form der Vertretung führt in aller Regel zu Konflikten. Anwaltlich-spezialisierte Rechtsvertretung wird ebenfalls thematisiert, sie gelingt erst in der Phase der Erzählung, in der die kaiserliche Handel durch Vertauschung seiner Pferde gegen andere treibet, da er denn auch ein Roßtäuscher […] genannt wird […]. Ungeachtet Frischen die gleich folgende bessere Ableitung bekannt war, so wollte er [Roßkamm] doch lieber von Kamm […] ableiten, weil die Roßhändler die zum Verkaufe bestimmten Pferde vorher zu kämmen oder zu schmücken pflegten […]“ (Lemma Der Roßkamm, in: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Dritter Theil, von M-Scr. Wien 1811, Sp. 1165–1166, hier Sp. 1165). Natürlich ist der ‚Tauschhandel‘ der Ausgangspunkt, aber der Übergang zum Täuschen im Handel ist fließend. 28  Sowohl der Kurfürst als auch Kohlhaas nutzen Verkleidungen, um sich auf unterschiedlichen Territorien bewegen zu können, für beide gilt, wie für die Zigeunerin (s. u.), dass ihre Identitäten (im weitesten Sinne) unsicher sind.

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Macht eingeschaltet ist. Neben Kohlhaas sind sowohl Luther als auch die Zigeunerin in je spezifischen Außenseiterpositionen: Luther wird nur im geschlossenen Raum und im Wesentlichen als Verschrifter und Teilnehmer an schriftlichen Kommunikationen gezeigt (die Disputation mit Kohlhaas ist eine Ausnahme, die auf Initiative des Rosshändlers zustande kommt); dagegen tritt die Zigeunerin hauptsächlich im Freien auf, sie bewegt sich zwischen den Territorien und erscheint auch noch aufgrund ihrer schwankenden, unsicheren Identität als mobil. Alle drei, der Kaufmann, der Geistliche und Intellektuelle sowie die weissagende Zigeunerin üben Tätigkeiten der Vermittlung aus – von Waren einerseits, von Sinn / Bedeutungen andererseits. Auch die Grenze zwischen den unterschiedlichen Formen der Vermittlung von Waren und Bedeutungen wird Kohlhaas noch überschreiten, wenn er in seinem Krieg zum Interpreten seiner Handlungen wird. IV. Handlungsskizze Ich unterscheide für meine Lektüre zehn Handlungsphasen in Kleists Text, die ich im Folgenden im Hinblick auf wesentliche Konflikt- und Figurenkonstellationen skizzieren möchte (wobei anzumerken ist, dass die einzelnen Phasen wiederum in kleinere Einheiten unterteilt werden können, was ich angesichts des zur Verfügung stehenden Raumes jedoch vermeiden will):29 1.  Die erste Handlungsphase (nach der Einleitung) entwickelt den Rechtssachverhalt in Sachsen bis zur Vertreibung Kohlhaas’ von der Tronkenburg, bei der er sich weigert, seine abgewirtschafteten Pferde mit sich zu nehmen (9–16 / 64–79). Die strukturbildenden Differenzen werden eingeführt: Mobilität und horizontale Bewegung, die auf stabile Rechtsverhältnisse angewiesen sind, treffen auf Immobilität in der vertikalen Schichtung, die sich als gebrochen erweist und in der die Rechtsunterworfenheit aller nicht anerkannt wird, wenn es darum geht, persönliche Positionsvorteile innerhalb der ständischen Ordnung zu erhalten. 2. Kohlhaas führt seine Klage gegen Wenzel von Tronka aus Kohlhaasenbrück in Brandenburg (16–22 / 79–94). Er bedient sich der Hilfe eines Anwalts, trägt aber durch eigene Ermittlungen zur Substantiierung der Klageschrift bei. Er verfolgt das doppelte Ziel des Schadenersatzes einerseits, der Bestrafung Tronkas für den rechtswidrigen Übergriff andererseits. Im Verhör seines Knechts Herse wird ein hausväterliches Herr-Knecht-Verhältnis inszeniert, das in scharfem Gegensatz zu den Verhältnissen auf der 29  Vgl. dazu Gallas: Das Textbegehren (Anm. 18); Klaus-Michael Bogdal: Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. München 1991; Fischer-Lichte: Heinrich von Kleist (Anm. 14) – mit jeweils weiteren Literaturhinweisen.



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Tronkenburg steht; gleichzeitig zeigt sich in Kohlhaas’ Insistenz auf ausführliche Rekonstruktion von Vorgängen das Vertrauen in die Möglichkeit, Sachverhalte sprachlich genau und wahr zu repräsentieren. Obwohl kaum Zweifel daran bestehen, dass Kohlhaas mit beiden Begehren im Recht ist, wird die Klage in Sachsen niedergeschlagen und sein Rechtsvertreter kündigt ihm das Mandat auf, was als Indiz für die mangelnde Rechtskultur gewertet werden kann, aber auch auf die generellen Probleme verweist, die in der dargestellten Welt mit Vertretung und Repräsentation verbunden sind. 3. Kohlhaas wendet sich mit einer ersten Bittschrift an den Kurfürsten von Brandenburg; auf Betreiben der Kallheim-Tronka-Verbindung zwischen Sachsen und Brandenburg bleibt er nicht nur erfolglos, er wird zudem als ‚Querulant‘ abqualifiziert (25 / 100): In der Kommunikation zwischen den Kanzleien wird aus dem rechtssuchenden Bürger der lästige Bittsteller. Auch hier kommen keine ‚normalen‘ Beziehungen zwischen der Obrigkeit und dem Bürger zustande, die Brandenburgischen Behörden weigern sich, ihn in seinem Rechtsstreit mit Sachsen und sächsischen Untertanen zu vertreten. Kohlhaas reagiert mit der ‚Mobilmachung‘ seiner Immobilien, lässt aber die Intervention seiner Frau zu, die selbst eine Bittschrift übergeben will (23–32 / 94–117). Sie tritt an die Stelle ihres Mannes, versucht vergeblich, zum Landesherrn vorzudringen und findet dabei einen Tod, der absichtslos herbeigeführt wird und sinnlos ist. Doch er bestätigt Kohlhaas in seinem Entschluss, sich selbst gegen Tronka zu wenden. In den Gesprächen mit seiner Frau verschleiert Kohlhaas die ‚wahren‘ Absichten, die er mit dem Verkauf seiner Güter verbindet; schon die Vorbereitungen seines ‚Krieges‘ werden zum Spiel mit Bedeutungen und Bedeutungszuweisungen, in denen sich ‚Wahrheit‘ auflöst. – In der Inszenierung des ‚fürstlichen‘ (31 / 105) Begräbnisses stilisiert sich Kohlhaas als autonom, gleichsam als Fürst aus eigenem Recht, der nun auch einen ‚Rechtsschluss‘ gegen Tronka verfasst: Kohlhaas verzichtet auf einen Vertreter und repräsentiert sich selbst. 4. Selbstrepräsentation und Selbststilisierung sind wesentliche Aspekte des Krieges (33–46 / 117–143), der mit Kohlhaas’ Zug gegen Tronka beginnt, sich dann gegen die Bevölkerung (die er für die Nichtauslieferung Tronkas verantwortlich macht) und schließlich gegen eilig ausgehobene Truppenverbände des sächsischen Staates richtet. Dabei steht immer weniger das ‚Geschäft der Rache‘ im Vordergrund als das Eintreten für Andere und Anderes. Wo Kohlhaas sich als Vertreter einer provisorischen Weltregierung und als Statthalter des Erzengels Michael bezeichnet und seine Auftritte entsprechend inszeniert, scheint er radikalisierend die Teile der ständischen Ordnung aufzunehmen, die er in der Vorgeschichte als gestört erfahren musste, nämlich die Organisation von Vertretung und Repräsentation; auf dem Höhepunkt positioniert er sich selbst zwischen Gott und den Menschen als

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höchste staatliche Macht und Vertreter des Rechts.30 Trotz dieser Stilisierung fühlt er sich an Regeln gebunden; er verzichtet z. B. darauf, das Stift Erlabrunn zu zerstören, weil die entsprechende Drohung ihre Adressaten nicht rechtzeitig erreichte (36 f. / 126). Bezeichnend ist auch, dass er versucht, seinen ‚Haufen‘ unter (Kriegs-)Strafrecht zu stellen und so zu disziplinieren. Dabei müssen die Kampfhandlungen ständig mit ‚Mandaten‘, sprich: Bedeutungszuweisungen, begleitet werden, auch hier herrscht höchste Mobilität der Sinnzuweisungen, die letztlich in Beliebigkeit und Unverständlichkeit münden muss.31 5.  Mit der Intervention Luthers (46–55 / 143–170) werden die Kriegshandlungen abrupt beendet. Luther bestätigt Kohlhaas einerseits, dass er ‚im Recht‘ sei, wird ihn andererseits aber mit einer ‚fremden Macht‘ vergleichen, mit der Verhandlungen aufzunehmen seien; auch für Luther hat Kohlhaas schwankende, wechselnde Bedeutungen. Er vermittelt zwischen Kohlhaas und der sächsischen Regierung, er stellt sich aber auch zwischen Gott und Kohlhaas, indem er sich dessen Bitte um Absolution verweigert: Damit wird der Selbststilisierung Kohlhaas’ die Spitze genommen. Luther ist von den Verwirrungen, die der Fall Kohlhaas sichtbar macht, beeindruckt; dies kommt an verschiedenen Stellen der Begegnung zum Ausdruck: Der ‚Mordbrenner‘ tritt als ein anderer, ein ziviler Kohlhaas auf, er ist ‚entwaffnet‘ und verkleidet sich als ‚thüringischer Landpächter‘ (46 / 148): Die Fähigkeit, sich in verschiedenen Rollen darzustellen, ist als Kehrseite einer unsicheren, gefährdeten Identität zu verstehen.32 Luther setzt sich auch sprachlich an die Stelle des sich in der vorherigen (Kriegs-)Sequenz gleichsam überhebenden Kohlhaas; man kann seine Verurteilungsrhetorik als Vertreibung Kohlhaas’ aus einem bestimmten Bezirk der Deutung und Bedeutungszuweisung verstehen, der ihm unzugänglich bleiben soll. Über rechtliche und 30  Man kann in diesem Zusammenhang an Vorbilder wie Thomas Müntzer denken, aber den mobilen Krieg auch als ‚Partisanenkampf‘ deuten (vgl. vor allem Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen (Anm. 13) sowie Hans-Christian von Hermann: Zur Kalkulation des Irregulären bei Kleist und Clausewitz. In: Kleist-Jahrbuch 1998, S. 227–243), aber auch der Vergleich mit der deterritorialisierten Macht Napoleons wäre denkbar. 31  Vgl. z.  B. die Auseinandersetzung mit der Stadt Leipzig über die An- oder Abwesenheit des Junkers Wenzel von Tronka (142 f.). 32  Holger Dainat: Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Zur Geschichte der Räuberromane in Deutschland. Tübingen 1996 stellt diesen Zusammenhang – Identitätsunsicherheit und Rollenvielfalt – als Charakteristikum des Räuberromans am Anfang des 19. Jahrhunderts heraus. – Zur Doppelgängerfigur bei Kleist vgl. Helmut Sembdner: Die Doppelgänger des Herrn von Kleist. Funde und Irrtümer der Kleistforschung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 180–195; Andrew Webber: Kleists Doppelgänger. An Open and Shut Case? In: Publications of the English Goethe Society 63, 1992–1993 (1994), S. 107–127.



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pragmatische Fragen erzielen die Disputanten allenfalls Scheinverständigungen, beispielhaft ist die Auseinandersetzung darüber, ob Kohlhaas durch die Rechtsverweigerung aus der ‚Gemeinschaft‘ oder dem ‚Staat‘ symbolisch ausgestoßen werden konnte, und auf anderer Ebene das Missverständnis im Hinblick auf den Umfang des Schadenersatzes, den Kohlhaas nach wie vor verlangt, den er aber begrenzt auf den ihm ursprünglich von Tronka zugefügten Schaden.33 Ganz offenkundig überfordert der Fall Kohlhaas in der Vielfalt der Bedeutungen, die er mittlerweile angenommen hat, nun auch den Intellektuellen. – Die Begegnung Luthers mit Kohlhaas wird in einer zweiten Innenraum-Szene gleichsam kommentiert: Im Gespräch zwischen dem Kurfürsten von Sachsen und seinen wichtigsten Beratern und Repräsentanten kommen die widerstreitenden Ansichten, Interessen und Ordnungsvorstellungen derart zum Ausdruck, dass im Eingehen auf Luthers Vorschlag der bedingten Amnestie ein Ausweg aus der krisenhaften Entwicklung gesehen wird. Damit beginnt eine Phase des gegenseitigen guten Willens, in der sich eine Lösung des Falles abzeichnet, und zwar so, dass die Beschädigungen auf allen Seiten in Grenzen gehalten werden; es wird erneut erprobt, ob unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen die Ordnung restituiert werden kann. 6. Doch das rechtliche Verfahren, das durch Luthers Amnestievorschlag ermöglicht wird, misslingt erneut (55–66 / 170–195); zwar erweist sich der Identitätswechsel Kohlhaas’ als dauerhaft, aus dem Mordbrenner ist wieder der rational-rechtliche Bürger geworden, der dies zunächst im Umgang mit fremdem Eigentum bestätigt, als er die Beute seines Krieges als kurfürstliches Eigentum bei Gericht deponiert (55 / 170; die Beute wechselt ihre Bedeutung, sie signifiziert nun den Wandel Kohlhaasens). Gleichzeitig wird er zum Objekt neuer Bedeutungszuweisungen und zum Schaustück; an einer ganzen Reihe von symbolischen Handlungen muss er erkennen, dass sein Status als bedingt Amnestierter zweideutig ist. Er stilisiert sich als Fami­ lienvater und stabilisiert so die neue-alte Identität. Er wird, wenigstens zwischenzeitlich, zum Erzähler der eigenen Geschichte, der Glauben findet und Übereinstimmung herstellen kann. Parallel dazu verfällt der Junker Wenzel einer informellen Entehrung; jetzt nimmt seine Immobilität den Charakter einer Gefangenschaft an. Die Ermittlung und Identifikation der beiden Rappen erweist sich als detektorische Aufgabe, die auf die Kons­ truktion von plausiblen und glaubwürdigen Geschichten angewiesen ist; in 33  Zum Gespräch zwischen Luther und Kohlhaas vgl. Hans H. Hiebel: Reflexe der Französischen Revolution in Heinrich von Kleists Erzählungen. In: Wirkendes Wort 39 (1989), S. 163–180, hier S. 175, für den Luther das ‚individuelle‘, Kohlhaas das ‚strukturelle‘ Prinzip vertritt; vgl. auch Timothy J. Mehigan: Text as Contract. The Nature and Function of Narrative Discourse in the Erzählungen of Heinrich von Kleist. Frankfurt a. M. u. a. 1988, S. 288 f.

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der Begegnung mit dem Abdecker von Döbbeln wird die Implosion der Ordnungen inszeniert, von der alle Zeichen und Bedeutungen in Mitleidenschaft gezogen werden (vgl. Abschnitt VI). Damit ist die Phase des guten Willens beendet; in der Folge wird es darum gehen, Ordnung durchzusetzen, und zwar ohne Rücksicht auf die Opfer, die dafür gebracht werden müssen. 7.  Im Anschluss an den Aufruhr in Dresden wendet sich die öffentliche Meinung34 gegen Kohlhaas; sie will ein offenkundiges Unrecht an ihm für die Wiederherstellung der Ruhe in Kauf nehmen. Der Text spricht davon, dass Kohlhaas den Vorfall nicht verschuldet habe (66 / 195), doch damit wird die katalysatorische Funktion seines Falles für die sächsische Gesellschaft umso deutlicher: Die Grenzen, die durch sie hindurch verlaufen, decken sich nicht, sie kreuzen sich vielmehr auf unerträgliche Weise, so dass sich die Stimmung gegen den richtet, der den Konflikt verkörpert, aber nicht verursacht hat (66–80 / 195–228). In diesem Kontext erweist sich die ‚übergroße Rechtlichkeit‘ des Großkanzlers als kontraproduktiv (66 / 196): Rechtlichkeit hat, wie jeder andere Begriff in der Erzählung, Bedeutung nur im Zusammenhang mit einer bestimmten und bestimmbaren Rechtsordnung; in der dargestellten Welt hat sie z. B. auch die Ehre aller Beteiligten zu berücksichtigen. Kohlhaas hält seine Situation für aussichtslos und lässt sich in die Nagelschmidt-Intrige verwickeln, die am Ende zum Todesurteil in Sachsen führen wird. Mit Nagelschmidt, der seinen Haufen übernommen hat, hat Kohlhaas seinen unehrlichen Vertreter gefunden, der sich auf ihn beruft, seine Mandate kopiert und seinerseits behauptet, Gottes Werk zu tun (68 / 200). Die Formulierungen der Amnestie-Verfügung haben eine ihrer paradoxen Folgen darin, dass auch Nagelschmidt, der von Kohlhaas schon zum Tode verurteilt worden war, auf freiem Fuß geblieben ist; die Verantwortung für seine Entwicklung lastet gleichermaßen auf der sächsischen Regierung und auf Kohlhaas. Auch hier führt der Nicht-Vollzug des Rechts zur Verschärfung des Konflikts. – Der erneute Versuch Kohlhaas’, sich durch strategisches Vorgehen, durch Schriftstücke, die seine wahren Absichten verdecken und befördern sollen, zu retten, misslingt und führt zu seiner Verurteilung. Dass dabei noch ein agent provocateur als Bote Nagelschmidts auftritt, dabei aber für die sächsische Regierung und vor allem für die Ritter handelt, bestätigt einmal mehr die UnOrdnung von Vertretungs- und Repräsentationsverhältnissen. 8. Die Intervention Brandenburgs, die Kohlhaas zum zweiten Verfahren nach Berlin führt (80–97 / 228–268) wird durch die Entlassung des Erzkanzlers Kallheim ermöglicht; die Vorgänge werden durch außenpolitische Verwicklungen beschleunigt. In dem Moment, in dem Kohlhaas das sächsische Territorium verlässt, wird ihm und dem Leser sichtbar gemacht, dass seinen 34  Sie ist, bei der prinzipiellen Unsicherheit der jeweiligen Konzeptionen von Recht und Ehre, ein gleichsam logischer Mitspieler in der Geschichte Kohlhaas’.



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Versuchen, in Sachsen sein Recht zu verfolgen, immer schon eine zweite Bedeutungsschicht unterlegt war: Die Zigeunerin hatte das Schicksal Sachsens mit dem des Kohlhaas verbunden, doch so, dass dies weder für den Kurfürsten noch für den Rosshändler erkennbar war. Der Zettel mit der Weissagung bleibt, bis zur zweiten Begegnung mit dem Kurfürsten von Sachsen, für Kohlhaas rätselhaft, Signifikant ohne Signifikat. Erst, indem sich das Schicksal Kohlhaas’ in Sachsen vollzieht und zu einer Geschichte wird, die sich mit der Weissagung des Zettels verbindet, wird dieser zur Waffe.35 Kohlhaas wird für den Kurfürsten von Sachsen zum Vermittler, zum Medium, das ihn mit der eigenen Zukunft verbindet; er ist Vertreter der Zigeunerin, die für die Zukunft Sachsens steht. In dieser Funktion wächst ihm Macht über den Kurfürsten zu. In der Geschichte der Weissagungen, die beide Kurfürsten erhalten (der eine im Medium mündlicher, öffentlicher Sprache, der andere in dem der Schriftlichkeit, für die wiederum Kohlhaas als Speicher und Vermittler dient) ist die Verdoppelung bemerkenswert: Als Zeichen für die Wahrheit und Richtigkeit der Weissagung wird die anhaltende Beweglichkeit des Rehbocks vereinbart, dessen Tötung und Immobilisierung noch am Ort und in aller Öffentlichkeit befohlen wird, der aber den Kurfürsten trotzdem – als Kadaver im Maul des Hundes – ‚entgegenkommt‘.36 Die Immobilität des Rehbocks wird ausdrücklich als Unterpfand für die Wahrheit der Weissagungen bezeichnet (96 / 266), so stellt sich die Verbindung her zu Kohlhaas’ Rappen. Im Übrigen kann die Weissagung nur für denjenigen Bedeutung haben, der an die Möglichkeit von Weissagungen glaubt, und dazu auf die Wahrhaftigkeit der Zigeunerin vertraut. Die Zigeunerin aber gehört, wie der Abdecker (s. u.) zum Bereich der Unehrlichkeit. Im weiteren Verlauf misslingen alle sächsischen Versuche, mit der Hilfe von Vertretern und Beauftragten des Zettels habhaft zu werden, den Kohlhaas bei der Hinrichtung verschlucken wird – der Speicher macht sich zum Vernichter der Botschaft. – Sachsen, das die eigenen rechtswidrigen und unziemlichen Vorgehensweisen nicht in einer Klageschrift offenbaren will, möchte sich des Kaisers als Vertreters bedienen, kann aber die Machtverhältnisse nicht umkehren und verliert so allen weiteren Einfluss auf den Gang der Dinge; die kaiserliche Macht steht nun dafür, dass das Recht seinen Lauf nimmt. Wie einst Kohlhaas als Querulant abqualifiziert wurde, werden nun alle Interventionen Sachsens, im eigenen Interesse wenigstens den Verfahrenslauf zu verlangsamen, als unziemliche und unverständliche Zumutungen abgewiesen. 35  Während dem Passschein, der an der Tronkenburg verlangt wird, die behauptete Bedeutung abhandenkommt (sein ‚Ungrund‘ tritt zu Tage), gewinnt der Zettel seine Bedeutung erst mit der Kohlhaas-Geschichte. 36  Die semiotische Intervention des Fürsten, mit der er die befürchtete Bedeutung des Vorzeichens auszuschließen versucht, scheitert.

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9.  Der Kämmerer, der nun aus wahrhaftiger ‚Liebe‘ (97 / 268) zum Kurfürsten an seiner Stelle versucht, des Zettels habhaft zu werden, scheitert in Berlin. Er befördert damit nur die weiteren Interventionen der Zigeunerin, die Kohlhaas alle Entscheidungen über den Zettel freistellt: Dieser wird insofern tatsächlich autonom.37 An der Person der Zigeunerin werden die Aspekte der Identität und der Repräsentation, von denen die Erzählung insgesamt geprägt ist, noch einmal durchgespielt: Der Kämmerer meint, eine Vertreterin oder Doppelgängerin zu Kohlhaas zu schicken, doch tatsächlich beauftragt er die Zigeunerin damit, sich selbst darzustellen: damit gibt er sich in ihre Hand. Kohlhaas wiederum nimmt ihre Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau wahr, womit ihr Auftritt besondere Bedeutung für ihn erhält. Die Zigeunerin scheint das gefährliche Prinzip der unauthentischen Stellvertretung zu verkörpern, an dem die dargestellte Ständegesellschaft insgesamt krankt, davon profitiert nun Kohlhaas’ Racheplan. Unechte Repräsentation wird auf die Spitze getrieben und wendet sich gegen den obersten Vertreter jener Gesellschaft, in der sie zum Prinzip gemacht wurde (97–103 / 268–282). 10.  Das Schauspiel der Hinrichtung, der eine letzte Warnung der Zigeunerin vor den Plänen des Kurfürsten vorausgeht, Kohlhaas’ Leiche auszugraben und des Zettels habhaft zu werden, kann als Variante der Inszenierung ständischer Positionen in der Eingangsszene an der Tronkenburg gelesen werden, nur dass diesmal eine ‚unermessliche Menschenmenge‘ den Vorgängen beiwohnt: Ein letztes Mal werden Horizontalität und Vertikalität, Mobilität und Stabilität aufeinander bezogen. Kohlhaas ist als verurteilter Delinquent sozial am tiefsten Punkt seiner Laufbahn angekommen, für die restliche Zeit seines Lebens ist er dem Bereich der Unehrlichkeit zugeordnet, gleichzeitig ist er räumlich erhöht auf dem Hügel des Schafotts (105 / 287), er ist stillgestellt, aber gleichzeitig Adressat eines obsiegenden Urteils im Rechtsstreit gegen den Junker Wenzel (der in Sachsen verblieben ist) und Gesprächspartner des an ihn herantretenden Kurfürsten von Brandenburg, der ihn zunächst nach seiner ‚Zufriedenheit‘ befragt. Im Publikum, räumlich unter Kohlhaas, sozial nach wie vor über ihm, der Kurfürst von Sachsen, der sich von seinem Territorium wegbewegt und es gleichsam schon aufgegeben hat. Der Kurfürst glaubt, abhängig von Kohlhaas zu sein, denn den Inhalt der düsteren Weissagung wissen zu wollen bedeutet, ihr Eintreten abwenden zu wollen. Oben und Unten fallen als räumliche und soziale Kategorien in Kohlhaas zusammen, ebenso die Ohnmacht des De37  Der Erzählerkommentar zur Verwechslung der Zigeunerin durch den Kämmerer, dass die „Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit“ (99 f. / 274) sei, betrifft natürlich die ganze Geschichte, nicht umsonst sind ‚wahrscheinlich‘ und ‚Wahrscheinlichkeit‘ die mit am häufigsten gebrauchten Begriffe der Erzählung.



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linquenten mit der Macht des Inhabers eines Schriftstücks. Er ist Rechtssubjekt und Objekt des Verfahrens, das im Namen des Kaisers gegen ihn geführt wird, und er ist schließlich der einzige, der den Inhalt der Weissagung (außer der Zigeunerin) zur Kenntnis nimmt. Insofern muss auch ungewiss bleiben, ob die Geschichte, auf die der Erzähler am Ende verweist, sie bestätigen wird. Er inkorporiert den Zettel und macht damit die Weissagung bedeutungslos, mit ihr allerdings auch den Kurfürsten von Sachsen als Subjekt der Geschichte: Wenn die Weissagung tatsächlich das enthält, was der Fürst vermutet, dann erfüllt sie sich symbolisch-vorausweisend mit ihrer Vernichtung, bei deren Beobachtung der Kurfürst in Ohnmacht fällt, also räumlich und physisch noch weiter absteigt, während umgekehrt die Familie Kohlhaas ihren sozialen Aufstieg vollendet. V. Ordnung, Un-Ordnung „Eins ist der Herr. Zwei ist das finstre Chaos; / Drei ist die Welt“: so zitiert Richter Adam in Kleists Zerbrochnem Krug (10. Auftritt) alte Zahlensymbolik. Man kann, was die Bedeutung der Zwei angeht, Michael Kohl­ haas als Probe aufs Exempel lesen. Nicht nur, dass der Teufel auf den beiden Rappen durch Sachsen reitet (62 / 185), zwei Kurfürsten und zwei Staaten sind am heillosen Fall beteiligt, Hinz und Kunz von Tronka spielen gewichtige Rollen, sowohl in Sachsen als auch in Brandenburg regieren gleichzeitig zwei Kallheims. Auf der Tronkenburg führen Vogt und Verwalter das eigentliche Regiment, in der Hauptstadt Dresden ist es der Kämmerer Kunz von Tronka, der anstelle des Kurfürsten handelt. Zweimal wendet sich Kohlhaas’ Schicksal in dem Augenblick, in dem er eine ungewöhnliche, und damit ihre Zeichenhaftigkeit betonende Schranke durchschreitet. Die Zwei ist im Text allgegenwärtig, auch als Verdoppelung und in den Konzepten der Stellvertretung und der Repräsentation, schließlich im Zusammenhang (bzw. Nicht-Zusammenhang) von Zeichen und Bedeutung, von Signifikant und Signifikat. Bedeutungen sind unsicher, sie wandeln sich, Doppel- und Mehrfachbedeutungen sind die Regel: Die Rappen sind (im Doppelsinne mobile) Handelsware, sie erhalten eine zweite Bedeutung als Sicherheitsleistung und werden damit immobil gemacht, sie werden missbraucht, so dass sie mit ihrer natürlichen Beweglichkeit ihren Wert als Handelsware verlieren. Der Rehbock ist für die Küche bestimmt und wird zum Unterpfand der Wahrheit einer Weissagung, und auch er wird darüber zunächst immobil und dann erneut beweglich. Den Worten ergeht es nicht anders als den Dingen, auch sie haben in den verschiedenen Ordnungen des Textes ganz unterschiedliche Bedeutungen. Ehrlichkeit ist der zentrale Begriff, an dem dies sichtbar gemacht werden kann. In Kohlhaas’ Welt des Handels bedeutet er Wahrhaftig-

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keit, Verlässlichkeit, Orientierung an Treu und Glauben. Seine Verhandlungen mit dem Amtmann über den Verkauf seiner Immobilien zeigen dies deutlich (25–28 / 101–107). Doch zur gleichen Zeit ist ‚Ehrlichkeit‘ eine soziale Kategorie, mit der eine Grenze durch die ständische Gesellschaft gezogen wird, und zwar eine Grenze, in deren Nähe sich Kohlhaas ständig aufhält. ‚Rechtlichkeit’ gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang: Sie ist einmal positive Eigenschaft, sie grenzt ein andermal an die Querulanz, als übergroße trägt sie dazu bei, dass eine verträgliche Lösung des Falles nicht gefunden werden kann. Die Rede vom ‚schlichten Rechttun‘ (52 / 163), das den Fall lösen könnte, muss sich als Selbsttäuschung herausstellen, da alle Handlungen paradoxe, ungewollte Folgen haben, so wie allen Äußerungen nicht-intendierte Bedeutungen unterstellt werden.38 Kohlhaas‘ Versuch, mit seinem ‚Haufen‘ einen Staat im Staate zu gründen, in dem wenigstens das Übeltun bestraft wird, kehrt sich in der Person des Nagelschmidt gegen ihn, der nicht nur Profiteur der auf Kohlhaas gezielten (bedingten) Amnestie ist, sondern auch (als sein angemaßter Stellvertreter) die Strukturen übernimmt, die Kohlhaas geschaffen hat. Die Überlegung, Kohlhaas militärisch zu begegnen (53 / 165), erscheint vor diesem Hintergrund auch nur im ersten Augenblick erwägenswert, würde dies doch die Auflösung allen Rechts zwischen Staat und Staatsbürgern, Obrigkeit und Untertanen bedeuten und zudem noch die in der Oberschicht herrschende Balance aufheben (so zumindest Prinz Christiern, 53 f. / 164–166). Die rekurrente Berufung auf das Nichtwissen, auf Unkenntnis39 über das Handeln des Vertreters, ist das auffälligste Symptom der Un-Ordnung, von der selbst Kohlhaas angesteckt wird, wenn er davon spricht, dass er durch eine falsche Nachricht getäuscht worden sei (47 / 151), obwohl er derjenige ist, der die Vertretung des Herrn durch den Knecht als Verantwortungsverhältnis erkennt. Die ‚Normalität‘, dass der ‚Knecht‘ vertretungsweise für den ‚Herrn‘ handelt, und dass sich der Herr das Handeln in seinem Namen zurechnen lassen muss, wird systematisch unterminiert, so dass die Vertretungskette (bzw. der Repräsenta­ tionszusammenhang) der ständischen Gesellschaft zu bloßem Schein wird. Was für die Bedeutung des Handelns gilt, gilt auch für Reden und Schreiben: Die Bedeutungen sind nicht fest und nicht erwartbar. Insofern ist die Ordnung zwar mit dem Recht (und dem Rechttun) verknüpft, aber soweit das Recht gestört ist, ist es nicht Inhalt, sondern Symptom der gestörten Ordnung.40 dazu Stephens: Kleist – Sprache und Gewalt (Anm. 21), S. 159–163. Wenzel beruft sich auf Vogt und Verwalter, der Kurfürst von Sachsen auf den Kämmerer von Tronka, der Kurfürst von Brandenburg auf Kallheim, Kohlhaas selbst auf falsche Nachrichten. 40  Zu den historischen Hintergründen der Ordnungen und Ordnungsstörungen vgl. insbesondere Friedmar Apel (Hg.): Kleists Kohlhaas. Ein deutscher Traum von 38  Vgl.

39  Junker



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VI. Schauspiel: Die Darstellung von Mobilisierung und Diabolisierung Im Text werden drei Szenen ausdrücklich als ‚Schauspiele‘ bezeichnet: Erstens die Begegnung der Herren Kunz und Wenzel von Tronka mit dem Abdecker von Döbbeln, der die beiden Rappen nach Dresden gebracht hat, um sie in den Tronkaschen Ställen abzuliefern (60 / 182); zweitens die Hirschjagd, die zur Erheiterung und Ablenkung des Kurfürsten von Sachsen und der Dame Heloise veranstaltet wird (84 / 237). Drittens spricht Kohlhaas selbst von einem Schauspiel, als er in der Begegnung mit dem Kurfürsten von Sachsen an der brandenburgisch-sächsischen Grenze bei Dahme von der Weissagung der Zigeunerin und der Übergabe des Zettels erzählt (85 / 241); dieses an dritter Stelle erzählte Schauspiel geht den beiden anderen zeitlich voraus, und es ist die Voraussetzung für alles, was aus der Begegnung bei Dahme folgen wird. Alle drei Szenen können als Wendepunkte der Erzählung gelten: Entweder verhindern die dargestellten Grenzen Transaktionen, die zur Lösung des Falles beitragen könnten (so in der Abdecker-Szene), oder sie erscheinen als vorübergehend suspendierte, indem sie Begegnungen zwischen Akteuren zulassen, die aber als Chancen ungenützt bleiben, weil sie als solche nicht erkannt werden – die Grenzen wirken fort, obwohl sie kurzfristig ‚offen‘ sind. In allen drei Szenen werden auch unterschiedliche Publikumshaltungen charakterisiert, von der schlichten Neugier, die in die Handlung verwickelt wird, bis zum Eingreifen, das die Lösung verhindert. Alle drei ‚Schauspiele‘ führen zum vierten, das nicht mehr als solches bezeichnet zu werden braucht: zur Hinrichtung.41 Grenzen, ob politische oder soziale, sind gedachte Linien, die, um wirksam zu werden, bezeichnet werden müssen; dies war schon die Funktion des Schlagbaums an der Tronkenburg, der als entscheidendes Requisit die Szene des Übertritts Kohlhaas’ in das sächsische Gebiet markierte, in dem sich die Un-Ordnung auf ihn auswirkte. Die wichtigste soziale Grenze, nämlich die zwischen Ehrlichkeit und Unehrlichkeit,42 wird im ersten der genannten Schauspiele markiert. Doch anders als an der Tronkenburg begibt sich der sozial höher Gestellte, nämlich der Kämmerer Kunz von Tronka (gemeinsam mit seinem Lehnsvetter Wenzel) zum sozial niedriger Gestellten, um mit ihm eine Rechtsfrage zu klären. Die soziale Spannweite hat Recht und Mordbrennerei. Berlin 1987, dem meine Lektüre an zahlreichen Stellen verpflichtet ist. 41  Zur dramatischen Anlage der Erzählung vgl. Hans Dieter Zimmermann: Kleist, die Liebe und der Tod. Frankfurt a. M. 1989, S. 285–287. 42  Vgl. dazu Jutta Nowosadtko: Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier ‚unehrlicher Berufe‘ in der Frühen Neuzeit. Paderborn u. a. 1994.

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zugenommen: Auf der einen Seite der Stellvertreter des Kurfürsten, auf der anderen Seite der Abdecker als Repräsentant der Ausgegrenzten; gleichzeitig tritt Publikum auf, das den Handlungsablauf zunächst eingrenzt, am Ende aber auch noch eingreift. Die Stellung der Handlungssequenz im Gefüge der Erzählung wird durch eine Quasi-Rahmung hervorgehoben; zur Einführung heißt es: „[D]as Unglück aber Herrn Wenzels, und noch mehr des ehrlichen Kohlhaas wollte, daß es der Abdecker aus Döbbeln war“ (60 / 181), während der Erzähler an ihrem Ende feststellt, dass sich mit dem Vorgang auf dem Schlossplatz von Dresden das Schicksal Kohlhaas’ durch den Wandel der öffentlichen Meinung entschieden habe (66 / 195). Wo der Junker in einer sympathisierenden Nebenbemerkung des Erzählers auch als Opfer erscheint (was aus der Perspektive seines Auftritts an der Tronkenburg folgerichtig ist), wird Kohlhaas, wo er mit dem Abdecker tatsächlich in Berührung kommt, erst- und einmalig als der ‚ehrliche Kohlhaas‘ bezeichnet. Es wird sich zeigen, dass durch diese Begegnung keine Eindeutigkeit herzustellen ist, obwohl die Grenze, die zwischen den Akteuren verläuft, dramatisch ausgespielt und damit bewusst gemacht wird. Der Rechtsfall liegt quer zur Trennung zwischen den ehrlichen und den unehrlichen Teilen der Gesellschaft; er könnte nur durch ihre Überwindung gelöst werden. Die beiden Adeligen sind auf den Abdecker angewiesen, wenn sie an Ort und Stelle die Eigentumsverhältnisse der Pferde klären wollen. Nur die Pferde, die tatsächlich Kohlhaas gehören, kommen für die ‚Dickfütterung‘ in Frage, und dies ist, so lange sie leben,43 die Form des Schadenersatzes, auf die Kohlhaas mit Recht bestehen kann. Deshalb ist es auch ein grotesker Beweis seiner Unbeachtlichkeit, wenn der Junker Wenzel den Vorschlag macht, die Pferde ohne weitere Untersuchung zu kaufen, um der demütigenden Szene zu entgehen (62 / 185), ein Vorschlag, den der Kämmerer damit quittiert, dass er insgeheim Vater und Mutter verflucht, die ‚ihn‘44 geboren haben. Dies alles spielt sich ab inmitten der Zuschauer, die sich schon vom Auftreten der Pferde bestens unterhalten sehen – und die in der Folge Zeugen einer teils komischen, teils aber auch bedrückenden Vorstellung des gestörten vertikalen Sozialgefüges werden, dessen Mitglieder sie alle sind, 43  Sie seien ‚staatsrechtlich tot‘, weil sie keinen Wert mehr besäßen, führt Graf Kallheim direkt im Anschluss an die besprochene Szene aus (67 / 198). Dies wird, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Gesundheit als auch ihres Status durch ihr weiteres Schicksal widerlegt; doch es zeigt sich, dass die Begriffe ‚Wert‘ und ‚Leben‘ (bzw. ‚Tod‘) von der Un-Ordnung der mehrfachen Bedeutungen ergriffen sind: sowohl das unehrlich gewordene als auch das herabgewirtschaftete Pferd büßt an Leben wie an Wert ein. 44  Es bleibt sich in dieser Situation gleich, ob er die eigenen Eltern oder die des Vetters meint.



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das sie jedoch auf der horizontalen Auftrittsebene dieses ‚Schauspiels‘ nicht mehr adäquat repräsentieren können.45 Der Vertreter der Adelsschicht, der dem Kurfürsten am nächsten steht und sich seines Namens und Wappens bedienen darf (51 / 161 f.), muss mit dem Abdecker wie mit einem Ranggleichen verhandeln, er kann nicht einfach befehlen; und noch der Versuch, die Pferde durch einen Knecht als Vertreter wegführen zu lassen, wird am Ende scheitern. Zweimal (60 / 182, 62 / 185) versucht der Kämmerer, seine Würde zu kommunizieren, indem er ihre Zeichen vorweist: er schlägt seinen Mantel zurück, damit Orden und Amtskette sichtbar werden. Den Abdecker lässt dies unbeeindruckt, er geht mit ‚empfindungslosem Eifer‘ seinen Verrichtungen nach, möchte eine Kneipe aufsuchen und uriniert, die Lakonik der Erzählung lässt keinen anderen Schluss zu, während des Gesprächs mit dem Würdenträger an den ‚Schinderkarren‘ (61 / 183, 63 / 189). Dabei erzählt er die Geschichte, wie er zu den Rappen gekommen sei, nämlich über einen ebenso unehrlichen Schweinehirten; jedenfalls habe er sie rechtmäßig erworben, nicht gestohlen (61 / 185): Damit kommt er zum Kern seines Verhältnisses zu den Pferden, die zunächst zu Pfändern gemacht (an rechtlichen Funktionen also gewannen, indem sie zu Zeichen für den fehlenden Passschein wurden), dann aber zur Arbeit auf der Tronkenburg missbraucht wurden (und damit an Gebrauchswert gewannen, was sie an Tauschwert für Kohlhaas verloren), schließlich von einer Hand in die andere gingen (und damit ihre Mobilität noch steigerten), ohne dass sie je ihren Status als Eigentum des Kohlhaas verloren hätten. Die Pointe dieser ganzen Verhandlungen und Aufführungen besteht natürlich darin, dass der Kämmerer dem Abdecker glauben muss, er muss ihn für ehrlich (im Sinne von wahrhaftig) halten, will er den Fall jetzt und hier klären. Genau dies gibt dem Abdecker in der Situation das Übergewicht, das er mindestens so deutlich in Szene zu setzen weiß wie der Kämmerer seine Würde. Man kann im Hintergrund zeitgenössische Vorstellungen über den Erwerb von Nichtberechtigten sehen; aber auch ohne diese rechtliche Folie ist zu erkennen, dass in der Szene die zwei konfligierenden Ordnungen ineinanderbrechen und ein heilloses Durcheinander übrig lassen. Die eine Ordnung sichert den Handelsverkehr, sie ist auf Kommunikation, Gleichberechtigung und Vertrauen, auf Treu und Glauben angewiesen; die andere Ordnung sichert die ständische Schichtung – sie beruht auf Tradition, auf stillschweigender Anerkennung nicht nur der Grenzen zwischen den Ständen, sondern auch der Zeichen, die diese Grenzen signifizieren. 45  In dem Aufruhr gegen den Kämmerer, der die Szene beendet, kann man die Erkenntnis der eigenen Situation erblicken, dann aber auch die Unfähigkeit, sie zu ändern.

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Ganz klar wird dies freilich erst mit der Intervention des Meisters Himboldt, der als zünftiger Handwerker ein Interesse am Erhalt der ständischen Ordnung hat. Er markiert die unsichtbare Grenze so, dass sie für alle sichtbar wird (während die ‚Mistpfütze‘, über die der Knecht treten müsste, um an die Pferde zu kommen, zu ihrem Symbol wird, 64 / 191): Die Pferde sind allein dadurch entehrt, dass sie mit dem Abdecker in Berührung gekommen sind, und jeder, der sie nun berührt, wird seinerseits ehrlos. Im Handgemenge, das darauf folgt, ist dann nicht der Aufstand der Bürger für die Rechte aller zu sehen,46 sondern das Interesse am ständischen Status quo, der den Abdecker und tendenziell alle, die mit ihm zu schaffen haben, ausgrenzt. Der Kämmerer und Kohlhaas stecken in der Falle der ständischen Ordnung; so ist es kein Wunder, dass die Pferde nicht übernommen werden können und beim Abdecker verbleiben und erst im Rahmen der Hinrichtungsinszenierung durch eine symbolische Handlung ehrlich gemacht werden (105 / 286). Der metaphorische Teufel, der auf den beiden Rappen durch Sachsen reitet, hat sein Werk getan (62 / 185): Indem er das Unterste (und den Untersten, den Abdecker nämlich) nach oben gekehrt hat, hat er die Un-Ordnung des Staates zur Kenntlichkeit gebracht.47 Die Begegnung zwischen dem Kämmerer und dem Abdecker, die in der Prügelei endet und einen am Kopf verletzten, seines Helmbuschs und auch damit seiner Würde entkleideten Würdenträger zurücklässt, wird in ihrer Bedeutung noch durch eine eingeschobene zweite Szene hervorgehoben: Der Kämmerer, sich auch hier noch über seine Machtfülle irrend, will Kohlhaas zur ‚Okular-Inspektion‘ der Pferde vorführen lassen, und betraut mit dieser Aufgabe einen Offizier. Dem wird von höchster Stelle klar gemacht, dass er sich in einem doppelten Irrtum befinde (63 / 188), denn weder sei über Kohlhaas zu verfügen, noch sei die persönliche Identifizierung durch diesen überhaupt notwendig. Doch darin irrt wiederum der Großkanzler, da die Identität der Pferde weder durch mit ihnen verbundene Zeichen noch durch Urkunden noch durch eine vollständige Geschichte ihres Verbleibs seit dem Brand auf der Tronkenburg geklärt werden kann.48 So müssen sie denn von Kohlhaas, der sich bei dieser Gelegenheit gänzlich undurchsichtig dazu Fischer-Lichte: Heinrich von Kleist (Anm. 14), S. 40–42. Ditmar Skrotzki: Ist Kleists Erzählung vom Kohlhaas wirklich die Geschichte des Rebellen Kohlhaas? Oder: Wie stoppt man den Teufel, der auf zwei Rappen durch Sachsen reitet? In: Heilbronner Kleist-Schriften 3 (1998), URL: http: /  / www.kleist.org / hks / hks3-1.htm, der die Funktionen des Teufels in der Erzählung jedoch nur streift. 48  Was es mit den Geschichten und der Wahrheit auf sich hat, zeigt sich exemplarisch in der ‚Legende‘ über die Rettung der Pferde: Auf der Tronkenburg wird ein Kohlhaas im höchsten Zorn gezeigt, der sich, so der Erzähler, des Fußtritts enthält (34 / 122), der ihm dann angedichtet wird (59 / 178). 46  Vgl. 47  Vgl.



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verhält, identifiziert werden (so wie im übrigen dieser dem Freiherrn, der ihn weder kennt noch erkennen kann, vorgestellt werden müsste49). Ein Stück weit ist ‚Wahrheit‘ freigelegt worden, mindestens wenn man sich entschließt, dem Abdecker und dem ehemaligen Mordbrenner zu glauben. Doch daraus folgt nichts, die Pferde werden an den Laternenpfahl gebunden: So ist auch ein Stück der gesellschaftlichen Strukturen sichtbar geworden, die verhindern, dass ‚Wahrheiten‘ Rechtsfolgen haben. Anstelle des einen kohlhaasischen Rechts auf Schadenersatz sind vielerlei Ansprüche sichtbar geworden, denen die Berechtigung in der geschilderten Welt nicht einfach abgesprochen werden darf. Das trifft auf die Würde des Kämmerers genauso zu wie auf die Ehrlichkeit seines Knechts; es trifft auf den Abdecker zu, der den Anspruch erheben kann, ein ehrlicher Handelsmann zu sein, aber auch auf Meister Himboldt, der das Herkommen, das ihn schützt, gewahrt wissen will. Just da, wo Kohlhaas’ Gegner sich zum Einlenken bereit zeigen, wo sie seinen Rechtsanspruch wenigstens implizit anerkennen, wo am wenigsten von ihrer Böswilligkeit die Rede sein kann, da wird im Scheitern ein Zuviel an Bedeutungen sichtbar: Nicht nur Rechte, sondern auch Positionen müssen gewahrt werden, und zwar mit höchstem symbolischem Aufwand, dafür stehen sowohl der urinierende Abdecker als auch der gockelhaft auftretende Kämmerer. Der einzige, der in diesem ‚Spiel‘ nur dies tun möchte, worum er gebeten wurde, nämlich seine Pferde zu identifizieren, muss zum Außenseiter werden, gegen den sich die öffentliche Meinung nun wendet. Es scheint, als hätte Kohlhaas davon eine Ahnung, denn er bleibt am Rande der Szene, ‚zwölf Schritt‘ von den unehrlichen Pferden entfernt, stehen (64 / 189). Kohlhaas ist nicht neugierig: Dies betont er selbst, als er am Rande des Schauspiels der Hirschjagd von dem früheren Schauspiel berichtet, in dem die Zigeunerin und ihre Weissagungen sowie die beiden Kurfürsten die tragenden Rollen gespielt haben (85 / 241). Folgt man seiner Erzählung, dann hat ihn gerade die mangelnde Neugier in eine hervorgehobene Posi­tion gebracht, von der aus er das Geschehen übersehen konnte, die ihn aber auch ins Blickfeld der Zigeunerin rücken musste; nach seiner Erzählung hat er ungewollt auf sich aufmerksam gemacht, noch dazu ist er ohne Verständnis für die Bedeutung dessen geblieben, was vor seinen Augen geschah. Hier scheinen die Grenzen aufgehoben, die Kurfürsten mischen sich ‚unters Volk‘ und nehmen Anteil an seinen Vergnügen; Szenerie und Handlung werden von der Zigeunerin beherrscht, die, vom Volk umringt, auf einem Pseudothron sitzt. Der erfolgreiche Pferdehändler, der auf dem Weg ist, sich sein Recht mit Gewalt zu holen und den Übeltäter exemplarisch für seine 49  Denn auch Mordbrenner tragen keine Zeichen an sich, die sie als solche kenntlich machen würden.

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Eigenmächtigkeiten gegen die Allgemeinheit der ‚Reisenden‘ (16 / 80) zu bestrafen, leistet sich den Luxus der Gleichgültigkeit. Er bewegt sich gleichsam als Fremder durch eine Welt von Bedeutungen, als gäbe es nur seinen Handel, sein Recht und seine Familie. Dies bestätigt sich noch, wo er sich selbst höchste Bedeutung eines Herrn der provisorischen Weltregierung zumisst: Die Anmaßung fällt nach kürzester Zeit von ihm ab, so dass der rechtssuchende Familienvater wieder zum Vorschein kommen kann. VII. Schlussbemerkung Der Krieg, mit dem Kohlhaas versucht, seinen Konflikt in der sächsischen Ordnung zu lösen, bleibt ‚Zwischenspiel‘, in dem die kaufmännischen Tugenden bei der Mobilisierung seines Vermögens noch eingesetzt werden, in dem er aber zunehmend der selbsterzeugten Bedeutungsvielfalt erliegt. Der Wandel des Kaufmanns, der so nachhaltig seinen guten Ruf zu bewahren weiß, zum erfolgreichen Anführer einer Soldateska kann gewiss nicht allein mit dem frustrierten ‚Rechtgefühl‘ erklärt werden, so wenig, wie sich der Krieg als überzogene Fehde zureichend charakterisieren lässt. All dies kann natürlich auch nicht, wie es in den Fallgeschichten des 19. Jahrhunderts zur Übung wird, als Umschlagen einer paranoia querulans in den Größenwahn medikalisiert und neutralisiert werden. Die Gewalt, die Kohlhaas ausübt, wird mit Bedeutungen angereichert; in zahlreichen ‚Mandaten‘ und ‚Sendschreiben‘, in Plakaten usw. werden die Definitionen des Feindes immer umfassender, die Forderungen immer größer und die Selbststilisierungen immer grandioser, bis hin zum Auftritt mit Fackel- und Schwertträgern und zur Selbsteinreihung in die Vertreterschaft Gottes auf Erden. Dabei beginnt der Krieg auf der Tronkenburg mit sinnlosen Gewaltexzessen, die sich willkürlich gegen Stellvertreter richten und ins Leere laufen, da der Junker entkommen kann. Kohlhaas verstrickt sich in einen Krieg der Vertretungen und Bedeutungen, seine Bewegungen auf dem sächsischen Territorium finden kein Ziel, sie sind für seine Rechtssuche unwirksam. Doch als jemand, der sein Leben für sein Recht gegeben hat, ist er für die Geschichte der Rechtskultur bedeutsam geworden: So kann man heute die Schlusswendung des Erzählers verstehen, nach der das ‚Weitere in der Geschichte‘ nachzulesen sei. Dies sollte den Leser freilich nicht daran hindern, sich auch über die Geschichten der sächsischen / wettinischen Fürstenhäuser kundig zu machen, nach denen die protestantisch-ernestinische Linie 1547 die Kurwürde an die katholisch-albertinische Linie verloren hat. Identifiziert er freilich diese Geschichte mit der des Kurfürsten im Text,50 50  Eine Identifikation, deren textbezogene Pointe darin besteht, dass der neue Kurfürst Moritz noch 1547 eine Verwaltungsreform in Angriff nahm, die u. a. die



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dann muss er die Validität der Weissagung, die Möglichkeit von Weissagungen überhaupt unterstellen, also in gewissem Sinne Eindeutigkeit setzen, wo der Text Vieldeutigkeit zum Prinzip macht. Wenn die Historie der Geschichte von Michael Kohlhaas eine Bedeutung verleiht, dann gilt auch das Umgekehrte: Der (historische) Verlust der Kurwürde wäre darauf zurückzuführen, dass ihr Inhaber vor 1547 die sächsische Un-Ordnung zugelassen und zu verantworten hat, von der bislang die Rede war. Dagegen erweist sich Brandenburg in Kleists Text als reformfähig: Nach anfänglichen Schwierigkeiten setzt sich das Recht und eine unabhängige Justiz mit beauftragten Prozessvertretern durch. Der Kurfürst begnügt sich mit der Rolle des Landesvaters, der Kohlhaas die Gnade einer ehrlichen Grabstelle und seinen Söhnen die der Nobilitierung erweist. Dies ‚verführt‘51 in der Tat dazu, ein ‚Gut / Böse‘-Schema anzuwenden, das zwischen einem ‚guten‘ (brandenburgischen) Protestantismus und seiner Reformfähigkeit und einem ‚bösen‘ (sächsischen) Protestantismus differenzieren würde, der an seiner Unfähigkeit, sich zu entwickeln, untergeht. Doch auch diese Lesart wird von der Textlogik erfasst, die alle Sinnzuweisungen in Frage stellt: Wo wir die Kohlhaas-Figur wahrzunehmen glauben, sind wir nicht auf ihre Störungen, sondern auf ihre Leiden an den Störungen verwiesen.52 Damit, dass Kohlhaas mit seinem Tod auch sein Recht gefunden hat, ist die Un-Ordnung nicht in Ordnung verwandelt. Die mit aller Pracht inszenierte Hinrichtung verdeckt das immer noch vorhandene Konfliktpotential. Die Erzählung bringt dies, wie mir scheint, darin zum Ausdruck, dass es zwei Söhne des Kohlhaas sind, die zu Rittern geschlagen werden und die mit dem Landesherrn und dem Amtmann auch noch zwei Ersatzväter erhalten.

Einteilung des Territoriums und die Stellvertretung des Kurfürsten regelte, s. die insofern instruktive Seite http: /  / www.mdr.de / geschichte / archiv / Kalender / chronos4. htm. 51  Vgl. Anthony Stephens / Yixu Lü: Die Verführung des Lesers im Erzählwerk Kleists. In: Kleist-Jahrbuch 1994, S. 104–117. 52  Vgl. dazu Apel: Kleists Kohlhaas (Anm. 40), S. 144–146.

Wertungen und Wertmaßstäbe in literarischen Texten. Analyse von Recht und Moral in E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi Von Katharina Prinz und Simone Winko I. Fragestellung und Vorgehen E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi ist unter anderem als Künstlernovelle, als frühe Kriminalerzählung und als Geschichte von der lebensrettenden Macht des Erzählens interpretiert worden.1 Dabei wurde sie oftmals zugleich auch als Erzählung gelesen, die sich wie viele in ihrer Zeit mit dem Verhältnis von Recht und Moral beschäftigt. In dieser Lesart lässt sie sich in dem neuzeitlichen Prozess der Ausdifferenzierung und Autonomisierung des Rechts positionieren, wie er in der Einleitung dieses Bandes mit Blick auf Niklas Luhmann skizziert wird.2 Im Laufe dieses Prozesses etabliert sich eine spezifisch rechtliche Unterscheidungssemantik (‚Recht / Unrecht‘), die in Beziehung steht zur Ethisierung, Universalisierung und Autonomisierung der Moral mit ihrer sich vom Recht wie von der Religion abgrenzenden Unterscheidungssemantik von ‚Tugend / Laster‘ und ‚gut / böse‘. Lässt man sich bei der Wahl leitender Gesichtspunkte für die Untersuchung von Hoffmanns Erzählung die Stichworte von diesem „Hypothesengerüst 1  Auf die Interpretationsvielfalt wurde des Öfteren hingewiesen, siehe Henriet­ te Herwig: Das Fräulein von Scuderi. Zum Verhältnis von Gattungspoetik, Medizingeschichte und Rechtshistorie in Hoffmanns Erzählung. In: Günter Saße (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Romane und Erzählungen. Stuttgart S. 199–211, v. a. S. 199 f. und 207; s. auch Rolf Meier: Dialog zwischen Jurisprudenz und Literatur. Richterliche Unabhängigkeit und Rechtsabbildung in E.T.A. Hoffmanns „Das Fräulein von Scuderi“. Baden-Baden 1994, S. 20 ff.; Achim Küpper: „Poesie, die sich selbst spiegelt, und nicht Gott“. Reflexionen der Sinnkrise in Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. Berlin 2009, S. 58–77. 2  Joachim Linder / Claus-Michael Ort: Recht und Moral. Mediale Konstellationen gesellschaftlicher Selbstverständigung über ‚Verbrechen‘ vom 17. bis zum 21.  Jahrhundert (im selben Band), S.  13–19. Vgl. dazu auch Jörg Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive [1983]. In: Ders.: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis. Tübingen 2007, S. 63–82, hier S. 67 ff.

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Niklas Luhmanns“3 vorgeben, dann rücken vor allem jene Textelemente ins Zentrum der Aufmerksamkeit, in denen das erzählte Geschehen einer rechtlichen, moralischen oder religiösen Bewertung unterzogen wird. Auffällig im Fräulein von Scuderi ist nicht nur die hohe Frequenz explizit wertender Äußerungen auf der Erzähler- und Figurenebene, sondern auch der Umstand, dass eine Reihe dieser Wertungen von Beginn der Erzählung an in einem Konkurrenz- und Konfliktverhältnis zueinander stehen, das den Handlungsablauf maßgeblich bestimmt. Von diesem Befund geht die doppelte Zielsetzung unseres Beitrags aus: Zum einen wollen wir untersuchen, wie sich in Hoffmanns Erzählung das Spannungsgefüge von Recht und Moral manifestiert. Dabei geht es uns jedoch zum anderen nicht darum, den Interpretationen dieser Erzählung eine weitere hinzuzufügen; vielmehr wollen wir zeigen, dass eine Interpretation der Erzählung unter dieser leitenden Fragestellung auf einer genauen Textanalyse basieren muss, die die textinternen Wertungen und Wertmaßstäbe umfassend einbezieht und auswertet. Eine solche Analyse muss nach einem klar strukturierten Verfahren vorgehen, wenn ihre Ergebnisse mehr als nur beliebig sein sollen. Die meisten Interpreten, die nach den Werten in literarischen Texten fragen,4 rekonstruieren die textinternen Wertungen und Wertmaßstäbe jedoch nicht systematisch, sondern ‚ziehen‘ sie ohne ein erkennbares Analyseverfahren ‚aus den Texten‘, greifen gewissermaßen direkt auf sie zu, selbst wenn sie im Text nicht explizit genannt werden. Ein solches Verfahren kann zu kurzschlüssigen Interpretationshypothesen führen und sollte daher vermieden werden. Im Folgenden wird zunächst (II.) eine thematische Skizze der Erzählung entworfen, die Das Fräulein von Scuderi als Beitrag zur zeitgenössischen Debatte über das Verhältnis von Recht und Moral ausweist, in der aber Fragen nach den leitenden Wertmaßstäben der Erzählung offen bleiben. Diese Offenheit ist ein Grund für kontroverse Interpretationen der Erzählung. Anschließend (III.) stellen wir in aller Kürze das Verfahren zur Analyse von Wertungen und Werten vor, dessen Anwendung im anschließenden Teil (IV.) zur Klärung der offenen Fragen beiträgt. Das Fazit (V.) bindet die Analyseergebnisse an die leitende Perspektive des Bandes zurück. 3  Joachim

Linder / Claus-Michael Ort: Recht und Moral (im selben Band), S. 19. dieser Behauptung ist eine Sichtung zahlreicher Forschungsbeiträge zu Normen und Werten in literarischen Texten, die einen erkennbar textanalytischen Fokus haben. Der Schwerpunkt der Recherche lag auf den Beiträgen der letzten 20 Jahre. Die meisten der einbezogenen Beiträge sind der Frage gewidmet, welche Normen und Werte in den jeweils untersuchten literarischen Texten zur Sprache kommen und welche Normen und Werte die Texte vermitteln. So häufig aber solche thematischen Studien in der literaturwissenschaftlichen Forschung nachzuweisen sind, so selten finden sich methodische Überlegungen zu dem textanalytischen Vorgehen, das diesem Themenfeld angemessen ist. Eine Methodenreflexion fehlt fast immer, das Vorgehen bleibt in aller Regel so implizit wie unvollständig. 4  Grundlage



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II. Thematische Skizze der Erzählung und Interpretationsansätze Erzählt wird bekanntlich, wie die Dichterin Magdaleine von Scuderi in die Aufklärung einer Raubmordserie hineingezogen wird, die im Paris Ludwigs XIV. für „Bestürzung“ sorgt (790).5 Mit der Untersuchung und Ahndung der Verbrechen betraut ist die Chambre ardente, ein vom König kurz zuvor berufenes Ausnahmegericht6 unter der Leitung la Regnies, das zur Verfolgung gehäuft auftretender Giftmordfälle eingesetzt worden war und dabei nicht vor „Gewaltstreichen und Grausamkeiten“ zurückschreckte (789). Sorgen die zahllosen Hinrichtungen „Schuldiger und Verdächtiger“ (789) schließlich dafür, dass „endlich der heimliche Giftmord seltner und seltner wurde“ (789 f.), erweisen sich die von der Chambre eingesetzten Ermittlungsmethoden bei der Bekämpfung der Raubmorde jedoch als wirkungslos. Als Olivier Brusson, der Geselle des ebenfalls getöteten Goldschmieds René Cardillac, als dringend Tatverdächtiger verhaftet wird, nimmt sich die Scuderi Madelons, der Tochter Cardillacs und Verlobten Oliviers, an, um derentwillen sie in den juristischen Prozess eingreift: Von Madelons Verzweiflung und ihren Beteuerungen bezüglich Oliviers Tugend „auf das tiefste gerührt und ganz geneigt, den armen Olivier für unschuldig zu halten“ (811 f.), betreibt die Scuderi selbst Nachforschungen, wägt die gewonnenen Informationen ab und gelangt schließlich zu der „festen Überzeugung von Oliviers Unschuld“ (813). Da aber la Regnie auf der Basis seiner Ermittlungsergebnisse zur gegenteiligen Einschätzung des ‚Falles Olivier Brusson‘ kommt und Oliviers Hinrichtung „schon längst“ hätte vollziehen lassen, wenn er nicht hoffte, ihm durch Folter weitere Informationen über die Raubmordserie abzwingen zu können (vgl. 815 f.), werden er und die zu Oliviers Rettung entschlossene Scuderi zu Konkurrenten um die Deutungsund Bewertungshoheit7 über diesen Fall. 5  Die Zitate aus Hoffmanns Erzählung weisen wir im Folgenden in Klammern im Text nach; zitiert ist die Ausgabe E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi. Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten. In: Ders.: Sämt­liche Werke in sechs Bänden. Hg. von Hartmut Steinecke u. a. Bd. 4: Die Serapionsbrüder. Hg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht. Frankfurt a. M. 2001, S. 780–853. 6  Zum Terminus ‚Ausnahmegericht‘ und seiner Anwendbarkeit auf die Cham­ bre ardente sowie zur Problematisierung ‚besonderer Gerichtshöfe‘ zu Hoffmanns Zeit vgl. Bernd Hesse: Reflexion und Wirkung der juristischen Tätigkeit im Werk E. T. A. Hoffmanns. „Dem im irdischen Leben befangenen Menschen ist es nicht vergönnt, die Tiefe seiner eignen Natur zu ergründen“. Frankfurt a. M. / Berlin u. a. 2009, Kap. 7.3. 7  Das Problem der Figuren, wie Tat und Täter zu bewerten seien, ist eng verbunden mit der Frage, wie sie die Sachverhalte wahrnehmen und deuten, die für den Fall eine Rolle spielen. Nicht allein die Wertungen, auch bereits die Deutungen des

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Thematisch im Fokus dieser Erzählung stehen demnach die Rekonstruktion eines Verbrechens und die über Leben oder Tod entscheidende Beurteilung des Tatverdächtigen, wobei die Position des offiziellen Vertreters des Rechts durch diejenige eines juristischen Laien im Namen der Moral herausgefordert wird. Diese Konstellation ist im Zusammenhang zu sehen mit jener Ausdifferenzierung des Literatursystems, in deren Verlauf sich narrative Genres wie die Kriminalerzählung herausbilden, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts der Repräsentation und Deutung von Verbrechen zunehmend mehr Raum geben und damit „Reflexionsdiskursen ein Forum [bieten], die die Beziehungen zwischen strafrechtlicher und moralischer Unterscheidungssemantik verhandeln und die Konkurrenz ihres jeweiligen Deutungszugriffs auf ‚Verbrechen‘ reflektieren“.8 Die Position, die mit dem Fräulein von Scuderi innerhalb dieses Diskussionszusammenhanges bezogen wird, scheint klar zu sein: Gegenüber der Beurteilung des Falles, für die la Regnie als Vertreter des Rechts eintritt, setzt sich diejenige der ‚Tugend selbst‘ – wie die Scuderi im Text genannt wird – durch. Begleitet von einem Wertungsverhalten des Erzählers,9 das sich gegen die Vertreter der Chambre ardente mit dem Fräulein solidarisiert, gelingt es der Scuderi, die Begnadigung Oliviers beim König zu erwirken und so jenes auch vom Erzähler explizit positiv bewertete Ende der Erzählung herbeizuführen, das dem Gesetz der poetischen Gerechtigkeit nach zu urteilen ihre Deutung und Bewertung des Kriminalfalles bestätigt: Gleich nach der Hochzeit zog er [Olivier], von den Segnungen der Scuderi begleitet, mit seinem jungen Weibe nach Genf. Reich ausgestattet durch Madelons Brautschatz, begabt mit seltner Geschicklichkeit in seinem Handwerk, mit jeder bürgerlichen Tugend, ward ihm dort ein glückliches, sorgenfreies Leben. (852)

Doch ist damit das zentrale Deutungs- und Wertungsproblem des Textes befriedigend gelöst? Und lässt sich die Durchsetzung der Position der Scuderi vor dem Hintergrund des Prozesses der Autonomisierung des Rechts und der Universalisierung der Moral als eine klare Antwort auf die Streitfrage nach dem Verhältnis von Recht und Moral interpretieren? Dass hier eine klare Antwort vorliegt, nehmen die Forschungsbeiträge an, die der Erzählung vor allem eine justizkritische Aussageabsicht zuschreiben. Falles weichen also voneinander ab; im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Bewertungsdifferenzen. 8  Joachim Linder / Claus-Michael Ort: Recht und Moral (im selben Band), S. 17. Vgl. dazu Jörg Schönert: Zur Ausdifferenzierung des Genres ‚Kriminalgeschichten‘ vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850–1880. Tübingen 1983, S. 96–125; Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur (Anm. 2). 9  Auf die Wertungen des Erzählers weist auch Gisela Gorski: E.T.A. Hoffmann. ‚Das Fräulein von Scuderi‘. Stuttgart 1980, S. 39, hin.



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Hoffmann kritisiere, so eine Position, am Beispiel der „polizeistaatlichen Terrormethoden“ zur Zeit des französischen Absolutismus das zeitgenössische preußische Pendant10 und stelle ihm in Gestalt der Scuderi „eine im Humanen begründete Seinsethik“ entgegen.11 Interpretationen wie diese legen den Text darauf fest, verbindliche Wertmaßstäbe zu etablieren, im Rekurs auf die das Erzählte einer letztgültigen Bewertung unterzogen wird. Genau diese Voraussetzung wird aber in anderen Forschungsbeiträgen zum Fräulein von Scuderi zurückgewiesen, wenn der Interpret – stellvertretend sei hier Achim Küpper zitiert – zu dem Schluss gelangt: „letzten Endes lässt sich der Text […] nicht auf eine eindeutige Parteinahme festschreiben“.12 Um interpretatorische Aussagen wie diese zu plausibilisieren, bemüht Küpper sich u. a. um den Nachweis, dass ein Vergleich der verschiedenen Äußerungen der Figuren miteinander und mit denen des Erzählers „Ungereimtheiten“13 zutage fördere, die Zweifel an der Zuverlässigkeit des Erzählers und der Glaubwürdigkeit bestimmter Figuren (darunter nicht zuletzt Madelons, Oliviers und der Scuderi selbst) weckten.14 Da der Text eine Auflösung der Ungereimtheiten verweigere, münde der Zweifel schließlich in die „Erkenntnis, […] dass in diesem Text nichts und niemand mehr eine gesicherte Position einnimmt und prinzipiell alles dem vernichtenden Verdacht anheimfällt“.15 Zu den Faktoren, die einen solchen Zweifelsprozess auslösen können, gehört nicht zuletzt das, was der Rezipient über die Figur Arnaud d’Andilly erfährt, der spät eingeführt noch eine für den Ausgang der Handlung bedeutsame Rolle erhält.16 Denn dieser Repräsentant des Rechts stellt die 10  Winfried Freund: Die deutsche Kriminalnovelle von Schiller bis Hauptmann. Einzelanalysen unter sozialgeschichtlichen und didaktischen Aspekten. Paderborn 1975, S. 45, auch S. 52 f.; ähnlich Yvonne Holbeche: The Relationship of the Artist to Power. E.T.A. Hoffmann’s Das Fräulein von Scuderi. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 16 (1980), S. 1–11, hier S. 10; Gorski: E.T.A. Hoffmann (Anm. 9), S. 172–180. 11  Freund: Die deutsche Kriminalnovelle (Anm. 10), S. 49, vgl. auch S. 52: „Die unvoreingenommene und uneigennützige innere Rechtsstimme triumphiert über die absolutistische Gerichtsbarkeit und mit ihr die sittliche Einzelpersönlichkeit über den kollektiven Untertanengeist.“ 12  Küpper: Poesie (Anm. 1), S. 239. 13  Küpper: Poesie (Anm. 1), S. 85 u. ö. 14  Dabei führt Küpper die von C. N. Brooks / R. G. Whitinger: Olivier’s Jewel Box. A Reassessment of the „Usual Suspects“ in Hoffmann’s Das Fräulein von Scuderi. In: Journal of English and Germanic Philology 101 (2002), S. 68–89, vorgezeichnete Linie weiter aus, ohne aber dieselben interpretatorischen Konsequenzen aus den gewonnenen Textbefunden zu ziehen. 15  Küpper: Poesie (Anm. 1), S. 109. 16  Freund verkennt die wichtige Funktion dieser Figur, wenn er zusammenfasst: Die Scuderi „zieht […] einen Advokaten hinzu, der ihr aber im Sinne der geltenden

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Angemessenheit des Wertungsstandpunktes, für den die Scuderi und der Erzähler eintreten, am Ende des Textes noch einmal nachdrücklich in Frage. Da davon auch das textinterne Verhältnis von Recht und Moral maßgeblich betroffen ist, verdient diese Figur hier besondere Aufmerksamkeit: Zwar leistet d’Andilly in seiner Funktion als Advokat der Scuderi entscheidende Hilfestellung bei der Rettung Oliviers, stimmt dabei aber weder in Bezug auf die Frage nach Oliviers Schuld mit ihr überein, noch schließt er sich der negativen Wertung la Regnies an. Was die Schuldfrage anbelangt, so wird der Zweifel an der textintern etablierten Wertungstendenz noch geschürt durch Äußerungen anderer Figuren (einschließlich Oliviers selbst), die allen Entlastungsgründen und Unschuldszuweisungen zum Trotz Oli­ viers Verhalten als schuldhaft und strafwürdig beurteilen. Ebenso wenig wie auf der Figurenebene wird die Spannung zwischen diesen gegenläufigen Positionen auf der Ebene der Erzählinstanz aufgelöst. Vielmehr verschärft sich das Problem dadurch noch weiter, dass sich der Erzähler in seinen wertenden Bezugnahmen auf Olivier im Verlauf der Erzählung zunehmend der Perspektive der Scuderi anpasst, zugleich aber die auf der Figurenebene geäußerten Einwände gegen diese Perspektive unkommentiert stehen lässt. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie das Erzählte zu deuten und zu bewerten ist, ist der Leser damit auf die Ebene der Text­ organisation17 verwiesen, um von dort aus im Überblick über alle einschlägigen Textinformationen erst die Repräsentativität, Validität, Relevanz und Funktion jedes einzelnen textinternen Wertungsaktes relativ zum Erzählganzen einschätzen zu können. Beantworten lässt sich die Frage also nur auf der Basis einer komplexen Analyseoperation, die – zumindest in Teilschritten – von Vertretern der These, dass in der Erzählung Justizkritik geübt werde, ebenso vorgenommen worden sein muss wie von Vertretern der These, dass die Erzählung gerade die Fragwürdigkeit jeder der im Text bezogenen Deutungs- und Wertungspositionen ausstellt. Denn schon die Formulierung und erst recht die argumentative Stützung oder Falsifizierung solcher Interpretationsthesen setzen Analyseschritte der genannten Art voraus. Dabei handelt es sich allerdings um Schritte, die in aller Regel intuitiv vollzogen und keiner methodischen Prüfung unterworfen werden. kasuistischen Rechtssprechung nicht zu helfen vermag.“; Freund: Die deutsche Kriminalnovelle (Anm. 10), S. 51. Vgl. ähnlich Carmen Pinilla Ballester: Erzählte Hinrichtungen. Zum literarischen Diskurs über Verbrechen und Strafe um 1800. Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 93: „Seine [d’Andillys, KP / SW] Ratlosigkeit kommt einer Kapitulation der juristischen Praxis vor einer nicht manifestierbaren Wahrheit gleich“. 17  Zu diesem Begriff vgl. Jörg Schönert: Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 289–294, hier S. 294.



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Bei dem Fräulein von Scuderi haben wir es nun offensichtlich mit einem Text zu tun, in dem das Verhältnis der einzelnen textinternen Wertungen untereinander ein interpretatorisches Problem aufwirft, wie sich nicht zuletzt an den prima facie inkompatiblen Lösungsvorschlägen der beiden umrissenen Forschungspositionen zeigt. Dieser Sachverhalt lenkt die Aufmerksamkeit besonders nachdrücklich darauf, dass es eines methodisch angeleiteten Verfahrens der textbezogenen Wertungsanalyse bedarf, um alle hier aufgeworfenen Fragen befriedigend beantworten und Stellung zu dem skizzierten Interpretationskonflikt beziehen zu können. III. Verfahren zur Analyse von Wertungen, Werten und Wertmaßstäben in literarischen Texten Zunächst ist zu klären, mit welchen Begriffen die Analyse arbeitet und wie sie vorzugehen hat.18 1. Begriffsklärungen Zwar werden die Ausdrücke ‚Wertung‘ und ‚Wert‘ (nicht nur) in der Literaturwissenschaft uneinheitlich verwendet; jedoch lassen sich mit Bezug auf werttheoretische Arbeiten19 einige systematisierende Festlegungen treffen. Da unser Verfahren auf Literatur verschiedener Epochen anwendbar sein soll, bestimmen wir die leitenden Begriffe möglichst anschlussfähig für unterschiedliche historische Konkretisierungen. Als ‚Wertung‘ wird eine Handlung bezeichnet, mit der ein Akteur einem Gegenstand, einem Sachverhalt oder einer Person mit Bezug auf einen Wertmaßstab und unter bestimmten Zuordnungsvoraussetzungen20 die Eigenschaft zuschreibt, positiv oder negativ zu sein. Als positiver oder negativer ‚Wert‘ gilt die Qualität, die dem jeweiligen Wertungsobjekt aufgrund bestimmter Eigenschaften, die sie besitzt, durch eine Wertungshandlung zugeschrieben wird; in diesem Sinne spricht man davon, dass etwas ‚Wert hat‘, ‚wertvoll / wertlos ist‘ usw. Wertungen können sich sprachlich und / oder in Form non-verbalen Präferenzverhaltens äußern. Die Vergleichsgröße, an der gemessen die 18  Ausführlich wird dieses Verfahren dargestellt in Katharina Prinz: Deviante Helden? Werte und Normen in Erzähltexten (forthcoming), Kap. 3. 19  Vgl. dazu v. a. Friederike Worthmann: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell. Wiesbaden 2004; und Renate von Heydebrand / Simone ­Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik, Geschichte, Legitimation. Paderborn 1996. 20  Zu diesem Begriff vgl. Heydebrand / Winko: Einführung (Anm. 19), S. 44 f.

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Wertzuschreibung erfolgt, wird hier ‚Wertmaßstab‘ genannt.21 Wertmaßstäbe können von breiter gesellschaftlicher Akzeptanz, aber auch spezifisch für einzelne Personen sein. Relativ zu ihnen wird das Wertungsobjekt umso positiver beurteilt, je mehr es dem Maßstab entspricht. Die Wertmaßstäbe von Individuen und Kollektiven können affektiv besetzt sein und stehen zueinander in unterschiedlichen Ordnungsrelationen, können aber auch miteinander konfligieren.22 Wertungen, Werte und Wertmaßstäbe in diesem Sinne finden sich auf allen Kommunikationsebenen eines literarischen Textes23 und kommen in unterschiedlichen Manifestationsformen vor. Sie sind zum einen Teil der Interaktion der Figuren sowie der Sprechtätigkeit vermittelnder Instanzen, z. B. des Erzählers oder Sprechers, und spielen auf der Ebene der Textorganisation eine wichtige Rolle. Zum anderen kommen sie in expliziter und impliziter Form vor, d. h. sie manifestieren sich zum Teil in Wertausdrücken an der Textoberfläche, zum Teil aber müssen sie erst aus dem Handeln von Figuren, der Artikulationsweise von Sprechern, den Strategien der Informationsvergabe und anderem erschlossen werden. In den meisten literarischen Texten entstehen mehr oder weniger dichte ‚Netze‘ aus axiologischen Beziehungen, die sich durch vielfache Kombinationen ergeben: Sowohl die verschiedenen Modi der Manifestation von Wertungen, Werten und Wertmaßstäben als auch die komplexen Beziehungen zwischen ihren unterschiedlichen Artikulations- bzw. Trägerinstanzen wirken zusammen und können einander verstärken, aber auch unterschiedliche, sogar widersprüchliche Informationen vermitteln.

21  In anderen Forschungsbeiträgen werden diese Wertmaßstäbe auch als ‚Wert‘ bezeichnet, etwa wenn von ‚Werten‘ die Rede ist, die z. B. Personen(gruppen) oder Institutionen ‚vertreten‘, an denen sie ihr Handeln ‚ausrichten‘ usw. Um aber klar zu machen, ob von ‚Wert‘ im Sinne der evaluativen Qualität eines (im weiten Sinne) Objekts oder im Sinne einer Vergleichsgröße die Rede ist, halten wir die hier getroffene Unterscheidung für wichtig: Im ersten Fall sprechen wir von ‚Wert‘, im zweiten Fall von ‚Wertmaßstab‘. 22  Wir beschränken uns in der Darstellung unseres Analyserasters im Folgenden auf Werte und klammern die Normen aus; zur vollständigen Analyseheuristik vgl. Prinz: Deviante Helden? (Anm. 18), Kap. 3. Zwar ist unbestritten, dass gerade für Texte, die juristische Fragen behandeln, Normen eine wichtige Rolle spielen; im Fräulein von Scuderi etwa geht es u. a. um den Bruch strafrechtlicher Normen durch Gift- und Raubmord sowie um rechtliche Verfahrensnormen. Da wir uns aber auf die Beurteilung des Verbrechens und der rechtlichen Verfahrensweisen konzentrieren, stehen für unsere Fragestellung Werte im Zentrum. 23  Vgl. z.  B. das narratologische Kommunikationsmodell in Schönert: Empirischer Autor (Anm. 17), S. 294.



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2. Analyseverfahren Diese vielfältigen Beziehungen können auf mehrere Arten analysiert24 werden. Wichtig ist dabei zweierlei: zum einen ein historisch fundiertes Vorgehen, das Kontextinformationen zu den spezifischen (kultur-)geschichtlichen Bedingungen eines Textes einbezieht, ohne die sich textinterne Wertungen nicht angemessen identifizieren und interpretieren lassen; zum anderen ein vollständiges Erfassen der wertbezogenen Informationen, wenn nicht das gewählte Interpretationsziel von vornherein eine Beschränkung auf bestimmte Informationen rechtfertigt. Aussagen über ‚die Wertmaßstäbe des Textes‘ erfordern stets eine umfassende Rekonstruktion. Um die erste Auffassung von diesen Wertmaßstäben methodisch gesichert prüfen und ggf. korrigieren zu können, müssen in wert(ungs)bezogenen Interpretationen die entsprechenden Informationen auf allen genannten Ebenen systematisch ermittelt werden. Als einen praktikablen Weg, die einzubeziehenden Informationen in ein Analysemodell zu integrieren, unterscheiden wir aus Gründen analytischer Klarheit im Folgenden drei aufeinander aufbauende Schritte, die von jeweils spezifischen Fragen geleitet werden. Die wichtigsten dieser Fragen werden im Folgenden in Form eines idealtypischen Analyseleitfadens präsentiert.25 (1)  Im ersten Schritt sind zum einen die wertenden Handlungen von Figuren und vermittelnden Instanzen, zum anderen alle einer Wertung unterzogenen Gegebenheiten der Textwelt26 (z. B. Eigenschaften, Beziehungen oder Ereignisse) zu beschreiben, indem alle expliziten und impliziten Textinformationen sowie im Text markiertes Kontextwissen ausgewertet werden. Dabei sind in einer möglichst expliziten Vorgehensweise die Wertmaßstäbe zu rekonstruieren, die diesen Wertzuschreibungen zugrundeliegen.27 Die an Einzelstellen gewonnenen Befunde sind miteinander zu vergleichen, um 24  Wie einleitend deutlich geworden ist, fassen wir eine Textanalyse als Grundlage der Interpretation auf. Idealtypisch betrachtet gehen solche Analysen ‚textnäher‘ vor, beziehen weniger voraussetzungsvolle Annahmen über die literarischen Texte ein und fragen nach deren Machart, nicht nach deren Bedeutung. Dennoch kommen auch sie in aller Regel nicht ohne interpretative Aussagen aus. 25  Vgl. zum Folgenden auch Katharina Prinz / Simone Winko: Wie rekonstruiert man Wertungen und Werte in literarischen Texten? In: Gabriele Rippl / Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Stuttgart / Weimar 2013, S. 402–407; da wir in diesem Beitrag einen Erzähltext analysieren, lassen wir die für andere Gattungen spezifischen Aspekte weg. 26  Zu diesem Begriff vgl. Thomas Anz: Textwelten. In: Ders. (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart / Weimar 2007, S. 111–130, hier S. 111 f. 27  Vgl. dazu Simone Winko: Wertungen und Werte in Texten. Axiologische Grundlagen und literaturwissenschaftliches Rekonstruktionsverfahren. Braunschweig 1991, S. 56–61 und S. 178–190.

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Aufschluss über ihre Aussagekraft und Repräsentativität zu erhalten. Der erste Analyseschritt ist für die Figuren und die Erzählinstanzen gleichermaßen durchzuführen; zu achten ist dabei nicht allein auf die Inhalte der Wertungen, Werte und Wertmaßstäbe, sondern auch auf deren Realisierungen im Text. Die leitenden Fragen lauten entsprechend: – Welches Wertungsobjekt wird durch das (sprachliche) Handeln welcher Figur im Rekurs auf welche Wertmaßstäbe wie (Qualität) bewertet?28 – Sind die Wertungshandlungen der Figuren im Text explizit realisiert, etwa in Form von Wertausdrücken in der Figurenrede, oder manifestieren sie sich implizit, z. B. durch Formen verdeckter Wertung, Habitus, Präferenzverhalten und emotionale Reaktionen der Figuren? Wegen ihrer privilegierten Position können Erzählinstanz(en) zudem ihrerseits die Werte und Wertmaßstäbe der Figuren bewerten und verfügen damit über andere Möglichkeiten, Wertungshandlungen implizit zu realisieren. Daher sind auch die Strategien zu beachten, mit denen sie die Einstellungen und Emotionen der Rezipienten zu den Figuren lenken, sowie gegebenenfalls die Ausführlichkeit und Häufigkeit, mit der sie Rede- und Gedankenzitate einzelner Figuren wiedergeben. Zu fragen ist darüber hinaus, wie angemessen oder engagiert die erzählerischen Wertungshandlungen sind, in welchem Grad die Erzählinstanz am Geschehen beteiligt ist, von welchem Standpunkt aus und mit welchem Grad von Mittelbarkeit sie erzählt. Zudem kann sich die Erzählinstanz als mimetisch unzuverlässig erweisen, was Konsequenzen für die Einschätzung ihrer Wertungen und Wertmaßstäbe hat.29 In unsere ersten Ausführungen zum Fräulein von Scuderi (II.) gehen Ergebnisse dieses Analyseschritts bereits ein. Berücksichtigt wurden die expliziten und impliziten Wertungshandlungen, die die Figuren gegenüber dem Fräulein, la Regnie, dem Advokaten, Olivier und Madelon vollziehen, sowie die zahlreichen wertenden Erzähleräußerungen. Inwiefern markiertes Kontextwissen zur textinternen Wertung einer Figur beiträgt, lässt sich gut am Beispiel Madelons ablesen: Indem diese Figur mit Merkmalen ausgestattet wird, die der Rezipient als zentrale Eigenschaften einer ‚schönen 28  Subjekt, Objekt, Maßstab und Resultat bzw. Qualität sind die zentralen Komponenten einer Wertung; zudem kann noch nach dem Adressaten, den Folgen, Gründen und Ursachen einer Wertung gefragt werden; vgl. dazu Worthmann: Literarische Wertungen (Anm. 19), S. 247–265. 29  Als axiologisch unzuverlässig kann sich ein Erzähler erst in Relation zu den Werten erweisen, die in einem literarischen Text gelten, in unserem Analyseraster also erst im dritten Schritt; zur mimetischen und axiologischen Unzuverlässigkeit vgl. Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen 2008, Kap. 1.4.3.



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Seele‘ identifizieren kann, wird damit auch das Wissen über das hohe kulturgeschichtliche Prestige dieses moralisch-ästhetischen Ideals aufgerufen. Ob dem Konzept der schönen Seele aber auch in dieser Erzählung der Status eines Ideals zukommt, lässt sich nur dann entscheiden, wenn sowohl alle auf Madelon bezogenen und von ihr vollzogenen Wertungshandlungen als auch die textinterne Wertung wiederum dieser Wertungssubjekte und -objekte untersucht worden sind. Die Analyse dieser Figuren- und Erzählerwertungen zeigt aber nun eine Reihe von Ambivalenzen auf, die daraufhin zu überprüfen wären, ob und ggf. inwiefern sie die Idealität und Glaubwürdigkeit Madelons in Frage stellen: Gerade etwa in Bezug auf Olivier stimmen nämlich keineswegs alle textinternen Wertungen mit Madelons Lob seiner moralischen Qualitäten überein,30 und auch ihre Verurteilung la Regnies und seiner Männer als „die Grausamen“ (819) bleibt textintern nicht unwidersprochen.31 Eine erste Gewichtung solcher unterschiedlichen Befunde erfolgt im nächsten Analyseschritt. (2) Im zweiten Schritt sind die Beziehungen der rekonstruierten Wertmaßstäbe zueinander und gegebenenfalls auch deren Wandel zu klären. Auf diese Weise lassen sich die in der Textwelt geltenden Wertmaßstäbe erschließen. Wiederum sind die Ebene der Figuren und die der Erzählinstanz zu berücksichtigen. Die leitenden Fragen lauten: – Stehen die Wertmaßstäbe einer Figur oder mehrerer Figuren in Ordnungs­ relationen zueinander, z.  B. Hierarchie-, Rechtfertigungs- oder Ausschlussbeziehungen? – Sind die rekonstruierten Wertordnungen stabil oder wandeln sie sich im Laufe der Erzählung? Analog ist für die Erzählinstanz zu verfahren. Hier kommt die Frage hinzu: – Welche Beziehungen (z. B. Übereinstimmung, Relativierung, Unvereinbarkeit) bestehen zwischen den Wertordnungen auf der Ebene der Figuren und der der Erzählinstanz? 30  Während Madelon so fest „von der Tugend, der Frömmigkeit, der Treue“ Oliviers und seiner Achtung gegenüber Cardillac überzeugt ist, dass sie, „wenn Olivier in ihrem Beisein dem Vater den Dolch in die Brust gestoßen hätte, […] dies eher für ein Blendwerk des Satans halten, als daran glauben würde, daß Olivier eines solchen entsetzlichen, grauenvollen Verbrechens fähig sein könne“ (811), vermittelt Olivier selbst der Scuderi ein anderes Bild von sich: Nicht nur gesteht er zu, von der Chambre ardente „mit Recht eines Verbrechens“ beschuldigt zu werden (823), sondern er berichtet ihr auch von seinem tiefen „Abscheu“ (831, 835) gegenüber dem „heuchlerische[n] Bösewicht“ (831) Cardillac und von seinem Entschluss, das Fräulein vor ihm zu retten, „und sollt‘ es Cardillacs Leben kosten“ (838). 31  Siehe dazu unten IV.1.

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Was das Fräulein von Scuderi anbelangt, so kommt mit diesem Analyseschritt z. B. der Konflikt zwischen den von la Regnie vertretenen Wertmaßstäben und jenen der Tugend und Frömmigkeit in den Blick, an denen die Scuderi nach eigener Aussage ihr Handeln orientiert (vgl. 797): Zumindest hinsichtlich der Einschätzung strafrechtlicher Angelegenheiten hält la Regnie die Wertmaßstäbe der Scuderi für unvereinbar mit den eigenen, weil sie zu einer Beurteilung des Kriminalfalles führten, die zwar des „vortrefflichen Herzens [der Scuderi] würdig“ wäre (813), ihm selbst als Richter aber „gar nicht anstehen würde“ (814). Dass sich in diesem Wertungskonflikt schließlich sowohl auf der Figuren- als auch auf der Erzählerebene die Wertmaßstäbe der Scuderi durchsetzen, ist als ein Ergebnis der Analyse bereits festgehalten worden. Doch ist die Wertungsanalyse damit noch nicht abgeschlossen, wie die Fragen am Ende von II. zeigen. Fragen dieses Typs lassen sich erst – wenn überhaupt – im dritten Schritt des Analyseverfahrens klären. (3)  Um zu ermitteln, ob die für die Textwelt rekonstruierten Wertmaßstäbe zugleich als solche gelten können, die vom Text als Ganzem oder seinem Autor propagiert werden, ist zu untersuchen, welche Wertungen und Wertmaßstäbe auf der Ebene der Textorganisation vollzogen bzw. etabliert werden und in welcher Beziehung sie zu den Wertmaßstäben der Textwelt stehen. Besondere Bedeutung kommt dabei den Techniken der Informationsvergabe und den mit ihnen angezielten Inferenzen zu, die Leser ziehen sollen. Die leitenden Fragen lauten: – Im Rekurs auf welche Wertmaßstäbe wird das Erzählte auf dieser Text­ ebene wie bewertet? – Welche Wertungsrelationen bestehen zwischen den Ebenen der Figuren, der vermittelnden Instanzen und der der Textorganisation (Übereinstimmungen, Relativierungen, Unvereinbarkeiten usw.)? Zu berücksichtigen ist auch hier die Manifestationsform der Wertungen, d. h. die Frage, ob sie explizit realisiert sind, etwa durch Verwendung von Wertausdrücken in Paratexten, oder aber implizit. Hier gibt es ein breites Spektrum an Möglichkeiten, z. B. die Handlungsführung, die Markierung der Erzählinstanz als unzuverlässig sowie verschiedene Strategien der Informationsvergabe, die einen Effekt auf die Einstellungen und Emotionen der Rezipienten zu Figuren und zur Erzählinstanz haben können. Auch die Einhaltung von oder der Bruch mit Gattungs- und ästhetischen Darstellungskonventionen kann hier zum Tragen kommen, und schließlich finden sich Formen impliziter Wertung in Paratexten. So kann beispielsweise durch die Titelwahl eine Figur als bedeutsam ausgezeichnet werden, wie es auch beim Fräulein von Scuderi der Fall ist.



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IV. Analyse der Wertungen und Wertmaßstäbe der Erzählung Aus Platzgründen können wir die ersten beiden Analyseschritte hier nicht vollständig dokumentieren. Auch wenn wir mit unserer Konzentration auf das Verhältnis von Recht und Moral eine thematisch fokussierte Perspektive einnehmen, unter der wir bestimmte Handlungsstränge (etwa die für die Künstlerthematik wichtigen Episoden) und Figuren (allen voran die Car­ dillacs) weitgehend unberücksichtigt lassen können,32 ist die in den Einzelschritten erzeugte Datenmenge sehr groß. Um aber wenigstens exemplarisch deutlich zu machen, wie nach unserem Modell im Einzelnen vorzugehen ist, sei eine kurze Textpassage ausführlich analysiert. Die Passage schließt direkt an einen knappen Bericht über die Ermordung Car­dillacs an, den der „Marechaussee-Lieutnant“ der aufgebrachten Scuderi abstattet, nachdem sie am Tatort Zeugin der brutalen Vorgehensweise der Marechaussee und der dadurch verursachten Ohnmacht der verzweifelt Oliviers Unschuld beteuernden Madelon geworden ist: Desgrais warf […] einen tückischen, schadenfrohen Blick auf das Mädchen ­[Madelon, KP / SW], vor dem die Scuderi erbebte. Eben begann das Mädchen leise zu atmen, doch keines Lauts, keiner Bewegung mächtig, mit geschlossenen Augen lag sie da, und man wußte nicht, was zu tun, sie ins Haus bringen oder ihr noch länger beistehen bis zum Erwachen. Tief bewegt, Tränen in den Augen, blickte die Scuderi den unschuldsvollen Engel an, ihr graute vor Desgrais und seinen Gesellen. Da polterte es dumpf die Treppe herab, man brachte Cardillacs Leichnam. (809 f.)

Auffällig sind die direkten Wertungen des Erzählers, der Desgraisʼ Blick als ‚tückisch‘ und ‚schadenfroh‘ und damit negativ,33 Madelon dagegen als 32  Auch auf die religiösen Wertungen und Wertmaßstäbe kann unter dem gewählten Analysefokus im Folgenden nicht näher eingegangen werden. Bei einer Interpretation der gewonnenen Analyseergebnisse wäre allerdings zu berücksichtigen, dass sich insbesondere die Olivier-Figur selbst, aber auch die Vertreter des Rechts in ihren Äußerungen religiöser Deutungsmuster und Wertmaßstäbe, zumindest aber eines Vokabulars bedienen, das (auch) religiös konnotiert ist. So bezeichnet Olivier sich selbst etwa als einen in der Hölle schmachtenden „verstoßene[n] Sünder“ (837) und vergleicht seine Situation mit der eines „Verdammten […], dem ein holder Engel mild lächelnd hinaufwinkt, aber mit glühenden Krallen festgepackt hält ihn der Satan, und des frommen Engels Liebeslächeln, in dem sich alle Seligkeit des hohen Himmels abspiegelt, wird ihm zur grimmigsten seiner Qualen“ (835). Ganz entsprechend werden die Ausdrücke „Teufel“ (Desgrais, 793), „Bösewichter“ und „Verworfenheit“ (la Regnie, 813, 817) zur Bezugnahme auf Delinquenten auch von der Marechaussee und von der Chambre ardente angewendet, die dem Urteil des Erzählers zufolge „ganz den Charakter der Inquisition an[genommen hatte]“ (789). 33  Nach dem Grimm’schen Wörterbuch ist die Hauptbedeutung des Adjektivs ‚tückisch‘ eine „negative moralische kennzeichnung“: „in böswilliger und hinterhältiger weise auf schädigung einer andern person bedacht“ (Jacob Grimm / Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854–1961, Bd. 22, Sp. 1534).

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„unschuldsvollen Engel“ positiv kennzeichnet. Eine zusätzliche implizite Abwertung erfährt Desgrais, weil er sich gerade einem „unschuldsvollen Engel“ gegenüber so negativ verhält. Ebenfalls implizit, und zwar durch eine körperlich manifeste emotionale Reaktion, bewertet die Scuderi beide Figuren: Desgrais durch ‚Erbeben‘, dessen negative Bedeutung (‚grauen‘) der Erzähler zwei Sätze später betont; Madelon durch Tränen der Rührung bzw. der ‚tiefen Bewegung‘, wie der Erzähler mitteilt. Erzähltechnisch betrachtet, lassen sich die Perspektive des Erzählers und der Scuderi im dritten Satz nicht klar voneinander trennen; mit der Bezeichnung „unschuldsvolle[r] Engel“ könnte auch die Bewertungsperspektive der Scuderi wiedergegeben sein. Objekte der Bewertung sind das Verhalten der Figur Desgrais und die ganze Person Madelons, Wertungssubjekte der Erzähler und die Hauptfigur. Die Wertungshandlungen des Erzählers und der Scuderi bedienen sich zwar unterschiedlicher Mittel, kommen aber zum selben Ergebnis: Desgraisʼ Verhalten wird klar negativ, Madelons Person ebenso klar positiv bewertet. Ähnlich sind auch die vorausgesetzten Wertmaßstäbe, die in den Wertungen zum Einsatz kommen, allerdings nur zum Teil offen liegen. Der Erzähler scheint in seiner Abwertung von Desgraisʼ Blick als leitenden Wert so etwas wie ‚wohlwollende Neutralität‘ gegenüber dem anderen Menschen vorauszusetzen, vor dessen Hintergrund missgünstiges Verhalten zu kritisieren ist. Unter welchen Maßstäben Madelon dezidiert positiv beurteilt wird, lässt sich der Bezeichnung „Engel“ entnehmen. Deren Konnotationen entsprechen den leitenden Werten ‚Reinheit‘, ‚Heiligkeit‘, ggf. auch ‚Schönheit‘ sowie – emphatisch betont durch das vorangestellte Adjektiv – ‚Unschuld‘. In beiden Fällen bezieht sich der Erzähler auf moralische Maßstäbe; wie repräsentativ sie für den Erzähler sind und welchen Stellenwert sie im Text haben, kann erst im Vergleich mit anderen Passagen entschieden werden. Die Wertmaßstäbe der Scuderi sind in diesem Beispiel aus ihren körperlich manifesten Reaktionen nicht so klar zu erschließen; der Erzähler legt aber mit seiner inhaltlichen Spezifizierung dieser Reaktionen nahe, dass es eben dieselben sind, die seine Wertung der beiden Figuren leiten. Für die Analyse der exemplarischen Passage ist zudem die Informationsvergabe zu beachten. So wird die Aussagekraft der Tatsache, dass die Scuderi Madelon gerade zum ersten Mal gesehen hat und sofort von ihrem Aussehen, ihrer Unschuldsbeteuerung und ihrem Geschick / Schicksal „tief bewegt“ ist, von den Informationen beeinflusst, die bis zu diesem Zeitpunkt über die Scuderi vermittelt worden sind. Ihr wurden vom Erzähler und anderen Figuren bereits sechsmal ‚Würde‘, zweimal ‚Frömmigkeit‘, einmal ‚Tugend‘ und ‚Treue‘ als Wert zugeschrieben und zweimal wurde sie als



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‚edel‘ bezeichnet,34 so dass sie in dieser Passage schon in hohem Maße als moralische Figur ausgewiesen ist. Ihre starke emotionale Reaktion unterstützt damit die vom Erzähler behauptete moralische Qualität der Figur Madelon. Allerdings muss sich im Laufe der Erzählung erst noch erweisen, ob diese Zuschreibung angemessen ist. Ist das der Fall, dann kann die zitierte Passage außerdem als ein Beispiel für das äußerst sensible moralische Gefühl der Scuderi gewertet werden, das es ihr ermöglich, die moralische Qualität einer anderen Figur unmittelbar zu erfassen. An dieser Stelle ist die hohe moralische Relevanz, die dieser Fähigkeit zukommt, allerdings noch nicht klar erkennbar; sie wird erst im weiteren Verlauf der Erzählung entsprechend ausgezeichnet. Auf die hier demonstrierte Weise haben wir die für die leitende Frage relevanten Textstellen untersucht, was wir im Folgenden voraussetzen; in den Fußnoten werden wir nur die Resultate dokumentieren, die für das genauere Verständnis unserer Argumentation wichtig sind. Zunächst ist zu fragen, wie repräsentativ die Ergebnisse unserer ersten, noch nicht spezifisch wertbezogenen Analysen (Teil II.) mit Blick auf die gesamte Erzählung sind. Vor dem Hintergrund der auf allen Textebenen stark ausgeprägten Tendenz, die Deutung und Bewertung des ‚Falles Oli­vier Brusson‘, wie die Scuderi sie vertritt, gegenüber derjenigen des Richters la Regnie positiv auszuzeichnen und somit als angemessen zu markieren, erscheinen die Figuren- und Erzähleräußerungen, die die Position der Scuderi unterlaufen und diejenige la Regnies unterstützen, als Ausnahmen von der Regel. Sofern sie allerdings als valide anzusehen sind, sich aus dem Text mithin keine Argumente dafür gewinnen lassen, dass es sich bei ihnen um bloße Fehleinschätzungen handelt, dürfen sie nicht einfach vernachlässigt werden, sondern sind in besonderem Maße interpretationsbedürftig. Denn als validen Beurteilungen kommt ihnen gerade jenes Irritationspotential zu, das Zweifel an der Angemessenheit der dominanten Deutungs- und Wertungsperspektive zu wecken vermag. Von dieser Art sind die oben beispielhaft genannten Zweifelsauslöser: d’Andillys Deutungen und Wertungen sowie die auf Olivier bezogenen Schuldzuschreibungen durch andere Figuren. Da sie unter keinen ihre Glaubwürdigkeit einschränkenden Bedingungen zustande kommen, weder in Figuren- noch in Erzählerrede Einspruch gegen sie erhoben wird und sie im Text zusätzliche Unterstützung erfahren, müssen sie als valide gelten. Doch sind die Wertungen, die mit diesen Äußerungen abweichend von der textintern etablierten Wertungstendenz vorgenommen werden, mit Blick auf das Verhältnis der textinternen Wertmaßstäbe untereinander auch als relevant zu 34  Vgl. S. 795, 797 f., 802 f., 809 (‚würdig‘); 798, 803 (‚edel‘); 782, 798 (‚fromm‘); 804 („Tugend“); 782 (‚treu‘).

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beurteilen? Dieser Frage soll zunächst in Bezug auf d’Andillys Bewertung sowohl des Kriminalfalles selbst als auch der konkurrierenden Sichtweisen der Scuderi und la Regnies auf diesen Fall nachgegangen werden, um dann die kontroverse textinterne Beurteilung der Schuldfrage in den Blick zu nehmen. Zu diesem Zweck sind die Spannungen sowohl zwischen den Figuren- und Erzählerwertungen als auch den verschiedenen Wertmaßstäben noch einmal genau zu untersuchen (IV.1.), und es ist zu fragen, ob sie auf der höchsten Textebene aufgelöst werden (IV.2.). 1. Moralische vs. juristische Beurteilung des Kriminalfalles Zu Rate zieht die Scuderi Arnaud d’Andilly, den „damals […] be­rühm­ teste[n] Advokat[en] in Paris“ (842), nachdem Olivier in vertraulicher Unterredung mit ihr Cardillac schwer belastet und sie so gänzlich von seiner eigenen Unschuld an den ihm angelasteten Morden überzeugt hat, eine vollständige Aussage vor Gericht zum Schutze Madelons aber verweigert. Da es der Scuderi mit ihrer beredten Fürsprache für Olivier nicht gelingt, „la Regnie[s] hartes Herz zu erweichen“, dieser vielmehr den Einsatz von Folter zur Aufdeckung des Geheimnisses ankündigt (841), schildert die Scuderi d’Andilly den Fall, „ohne Brußons Geheimnis zu verletzen“, in der „Hoffnung“, dass er „mit Eifer sich des Unschuldigen annehmen werde“ (842). Doch dieser „Rechtsverständige“, von dem es in den explizit positiv wertenden Einführungsworten des Erzählers heißt, „[s]einer tiefen Wissenschaft, seinem umfassenden Verstande war seine Rechtschaffenheit, seine Tugend gleich“ (842), sieht sich angesichts der Evidenzen außer Stande, Olivier erfolgreich zu verteidigen und hält auch ein Gnadenersuch beim König unter diesen Umständen für aussichtslos: Er bewies der Scuderi, daß die auffallendsten Verdachtsgründe wider Brußon sprächen, daß la Regnies Verfahren keineswegs grausam und übereilt zu nennen, vielmehr ganz gesetzlich sei, ja, daß er nicht anders handeln könne, ohne die Pflichten des Richters zu verletzen. (842)

Vor der Tortur retten könne Olivier Brusson sich nur selbst: entweder durch aufrichtiges Geständnis oder wenigstens durch die genaueste Erzählung der Umstände bei dem Morde Cardillacs, die dann vielleicht erst zu neuen Ausmittelungen Anlaß geben würden. (842)

Was dem Fräulein, das am Ende der Unterredung „dem tieferfahrenen d’Andilly notgedrungen beipflichten“ muss, hier ‚bewiesen‘ wird, steht allerdings in einem interpretationsbedürftigen Spannungsverhältnis zu der Perspektive, unter der die Scuderi und mit ihr der Erzähler sowohl den Fall selbst als auch die Aufklärungsbemühungen la Regnies von Erzählbeginn an beurteilt hatten. Das ist ein Ergebnis des ersten Analyseschritts: Schon die ersten Informationen über die Figur la Regnie enthalten in großer Anzahl explizite und



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implizite moralische Abwertungen seitens des Erzählers, der es nicht dabei belässt, der Figur ein „garstige[s] Ansehen und heimtückische[s] Wesen“ zuzuschreiben (789). Er charakterisiert sie v. a. über ihr zu „Gewaltstreichen und Grausamkeiten“ neigendes Vorgehen bei der Aufklärung von Giftmordfällen der jüngsten Vergangenheit, dessen Motive „Haß“ und „blinder Eifer“ gewesen wären, und bei dem es „oft […] dem Zufall überlassen“ geblieben sei, „die Unschuld des auf den Tod Angeklagten darzutun“ (789). Als erste Informationen über diese Figur lenken sie die Rezeption so lange, bis ihnen widersprochen wird; zunächst einmal baut die Erzählung die Abwertung la Regnies jedoch weiter aus. So verstärkt sich die vom Erzähler vorgegebene Wertungstendenz noch durch die Wertungen, denen das Fräulein von Scuderi die Person und das Verhalten la Regnies unterzieht.35 Dabei ist die Scuderi selbst wiederum Objekt zahlreicher textinterner Wertungen, die deutlich differenzierter, weil umfang- und perspektivenreicher ausfallen als bei la Regnie und die ihr zwar nicht uneingeschränkt,36 aber doch in überdeutlichem Kontrast zur Charakterisierung la Regnies höchste moralische Qualitäten zusprechen.37 35  Massive explizite Abwertungen la Regnies finden sich ferner in Äußerungen anderer Figuren, die ihn mit dem ‚Teufel‘ vergleichen (vgl. 789), ihn der ‚Grausamkeit‘ und ‚Raserei‘ bezichtigen (vgl. 819, 844) und das Vorgehen der Chambre ardente als ‚barbarisch‘ verurteilen (vgl. 850). Implizit steckt eine Abwertung in den stark antipathischen Reaktionen des ‚Hasses‘ und der ‚Erschütterung‘, die andere Figuren angesichts seiner Person und seines Handelns empfinden (vgl. 789, 793; siehe auch das ‚Grausen‘, die ‚Beklommenheit‘ und ‚Empörung‘, mit denen die Scuderi auf la Regnie reagiert, 816 f.). 36  So erwägt die Scuderi selbstkritisch, inwieweit der „unbedachtsame Scherz, mit dem sie die Supplik der gefährdeten Liebhaber beantwortet“ (798), jene das Verbrechen begünstigende Auslegung gestattet, die ihr im Namen der Raubmörder zugestellt wird (797). Und als gesellschaftliche Ereignisse sie davon abhalten, Oliviers Bitte um baldige Rückgabe von Cardillacs Schmuck sofort nachzukommen, „war [es] ihr, als habe sie leichtsinnig, ja strafwürdig versäumt, die Hand hülfreich zu erfassen, die der Unglückliche, in den Abgrund versinkend, nach ihr emporgestreckt, ja, als sei es an ihr gewesen, irgend einem verderblichen Ereignis, einem heillosen Verbrechen zu steuern“ (808). Dass die Scuderi schließlich, wie la Regnie durchaus zutreffend feststellt, dem „Gefühl, der innern Stimme mehr vertrau[t], als dem, was vor unsern Augen geschehen“ (816), scheint trotz der Bestätigung, die ihre Einschätzung des Falles erfährt, nicht unproblematisch. Denn das moralische Gefühl täuscht die Scuderi letztlich zwar nicht, erweist sich in der Erzählung aber auch als korrumpierbar: Ganz abgesehen davon, dass es ihre positive Einschätzung Cardillacs zwar zu irritieren, aber nicht ohne zusätzliche Informationen zu überschreiben vermag (vgl. 805, 830) und sie nicht vor dem Zweifel bewahren kann, der sie angesichts des Augenscheinlichen befällt, scheint das moralische Gefühl bei den Figuren Cardillac und la Regnie fast vollständig verkümmert zu sein. 37  Bei der Einführung der Figur ist von der „Gunst Ludwig[s] des XIV. und der Maintenon“ die Rede (780); für ihre Bediensteten ist die Scuderi die „gute[]“ (785, 797), „teure[] Herrschaft“ (782), die „geneigt ist zu jeder Wohltat“ (780); von der

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Umso schwerer wiegt ihre moralische Verurteilung la Regnies, die implizit schon in dem „Grausen“ steckt, mit dem sie auf die verdachtsgeleitete Fallrekonstruktion la Regnies reagiert, und die explizit dann in der Wiedergabe ihrer Gedanken und Worte formuliert wird: Es war ihr, als könne vor diesem Schrecklichen Manne keine Treue, keine Tugend bestehen, als spähe er in den tiefsten, geheimsten Gedanken Mord und Blutschuld. […] Seid menschlich, das war Alles, was sie beklommen, mühsam atmend hervorbringen konnte. (816)

Deutlich ist, dass hier eine Abwertungshandlung auf der Basis moralischer Wertmaßstäbe vollzogen wird und dass das Objekt dieser Wertung (Charakter-)Eigenschaften und Handlungsweisen la Regnies sind. Welche Figurenmerkmale es aber genau sind, die diese Wertzuschreibung provozieren, muss aus der unmittelbar vorangegangenen Figurenrede und zuvor vergebenen Informationen zu beiden Figuren rekonstruiert werden. Dass die moralische Abwertung hier jedenfalls nicht pauschal auf das Verhalten la Regnies bezogen werden kann, macht der die Perspektive der Scuderi wiedergebende Erzählerkommentar wenige Zeilen später deutlich: „kein Richter in der Welt hätte anders gehandelt, wie la Regnie, bei solch entscheidenden Tatsachen“ (817).38 Formuliert wird damit eine Einschätzung, die nicht nur mit derjenigen d’Andillys zur Deckung zu bringen ist, von der wir oben ausgegangen waren, sondern unmittelbar zuvor auch von la Regnie selbst im Gespräch mit der Scuderi für sich in Anspruch genommen wurde: Der Scuderi gegenüber beruft er sich nämlich auf die „Pflicht“ des Richters, einem Inquisiten nicht aus ‚Rührung‘ ‚Glauben‘ zu schenken, sondern stets die Möglichkeit einer „entsetzlichen Untat“ und „frecher Heuchelei“ einzukalkulieren sowie eine abschreckende Wirkung durch schwerste Strafen zu erzielen (813). Da er aber vor dem „würdige[n] Fräulein […] nicht für ein Ungeheuer gehalten werden [möchte] an Härte und Grausamkeit“ (813 f.), gewährt er ihr (und damit dem Leser) Einblick in den Gang seiner Untersuchungen seit Oliviers Verhaftung. Auffällig ist dabei, dass sich zwischen dem Vorgehen la Regnies, wie er es hier schildert, und dem vom Erzähler beschriebenen Vorgehen der Scuderi bei der Sammlung, Prüfung und Beurteilung von Indizien sowie beim Maintenon wird ihr ein „frommes, edles Gemüt“ (798), von la Regnie ein „vortreffliche[s] Herz[]“ bescheinigt (813); Cardillac spricht ihr für ihre „Tugend“ und „hohe[n] Verdienste“ seine „tiefe Verehrung“ aus (804); Olivier und Madelon setzen all ihre Hoffnung auf die emotionale Anteilnahme und den „hohe[n], scharfsinnige[n] Geist“ der Scuderi (837); der Erzähler schließlich wendet wiederholt das Prädikat ‚(ehr-)würdig‘ auf sie an (795, 802, 809 f., 813, 841, 847, 852) und charakterisiert sie insbesondere über ihr hochsensibles moralisches Gefühl (vgl. 796 f., 808, 810, 813, 817 f., 840 f.); vgl. dazu auch unsere Beispielanalyse oben, S. 344 f. 38  Zur ambivalenten Einschätzung la Regnies in der Erzählung vgl. auch Gorski: E.T.A. Hoffmann (Anm. 9), S. 162.



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Einbeziehen von Informationen zu Lebensumständen, Situationsgegebenheiten und potentiellen Motiven des Verdächtigten deutliche Parallelen abzeichnen (vgl. 811–816).39 Auch hieraus lässt sich somit nicht ohne Weiteres eine Begründung für die moralische Abwertung gewinnen, die die Scuderi la Regnie gegenüber zum Ausdruck bringt. Dafür sind vielmehr die Voraussetzungen zu berücksichtigen, die dazu führen, dass beide ‚Ermittler‘ von unterschiedlichen Informationen ausgehen, sie anders deuten und bewerten: Der Grund für die negative Einstellung der Scuderi zu la Regnie dürfte letztlich in den fundamentalen Differenzen der Wertmaßstäbe beider Figuren zu suchen sein, die im zweiten Analyseschritt herauszuarbeiten sind: Aus der Sicht la Regnies ist die Unempfänglichkeit gegenüber jeder Rührung gerade die Voraussetzung für ein der richterlichen Pflicht entsprechendes ‚professionelles‘ Verfahren, das sich im Vertrauen auf das, „was vor unsern Augen geschehen“ (816), auf die juristisch relevanten Aspekte einer Straftat konzentriert und, ohne Rücksicht auf Standesunterschiede zu nehmen (vgl. 816, 789, 844), am Ziel effektiver Verbrechensbekämpfung orientiert ist.40 Vom Wertungsstandpunkt der Scuderi aus beurteilt, ist es dagegen genau diese Unempfänglichkeit, die la Regnie der von der Scuderi eingeklagten Mensch39  Zumindest unter der juristischen Perspektive wird hier keineswegs, wie Freund behauptet, einem vorurteilsgeleiteten Vorgehen la Regnies ein „unvoreingenom­ me­ ne[s]“ der Scuderi gegenübergestellt (Freund: Die deutsche Kriminalnovelle (Anm. 10), S. 52), das die Wahrheitssuche „in gänzlicher Unbefangenheit“ betriebe (ebd., S. 49). Vom Standpunkt der Moral aus beurteilt handelt es sich allerdings um eine positiv zu bewertende Form der Voreingenommenheit, wenn die Scuderi aus Rührung durch den Anblick und die Aussagen Madelons (vgl. 810 f.) „geneigt“ ist, „Olivier für unschuldig zu halten“ (811 f.), und dies durch weitere Nachforschungen zu beweisen sucht. Diese Rührung ist es auch, die in ihr den „Glaube[n] an Oliviers Unschuld“ wieder rege macht, nachdem sie zu zweifeln begonnen hatte (819). Und schließlich sorgt Oliviers Ähnlichkeit mit ihrer „geliebten“ Pflegetochter Anne dafür, dass sie seine Aussage mit „ruhige[m] Wohlwollen“ entgegennimmt (821). Spätestens ab dem Zeitpunkt aber, an dem sie ihn als ihren früheren Ziehsohn erkennt (822 f.), kann von einer ‚gänzlichen Unbefangenheit‘ kaum noch die Rede sein: Im Konflikt um die Deutungs- und Wertungshoheit über den ‚Fall Olivier Brusson‘ ist die Scuderi ebenso interessierte Partei wie la Regnie. 40  Inwiefern la Regnie diesen selbstformulierten Ansprüchen zumindest in Bezug auf die Giftmordfälle aufgrund seiner emotionalen Involviertheit („Haß“, „blinder Eifer“, 789) selbst nicht gerecht geworden ist (vgl. dazu auch Meier: Dialog zwischen Jurisprudenz und Literatur (Anm. 1), S. 49), ist nicht Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen ihm und der Scuderi. Zu Professionalisierungstendenzen im Strafrecht des 19. Jahrhunderts vgl. Wolfgang Naucke: ‚Verfachlichung‘ des Strafrechts im 19. Jahrhundert. Probleme des Verhältnisses der Geschichte der literarischen Verbrechensdarstellung zur Strafrechtsgeschichte im 19. Jahrhundert. In: Schönert (Hg.): Literatur und Kriminalität (Anm. 8), S. 55–67; Joachim Rückert: Zur Verfachlichung der Verfachlichung. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991, S. 635–650.

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lichkeit ermangeln lässt und ihn in ihren Augen zu einem „Feind des Angeklagten“ macht (813), der seinen „bösen Verdacht“ wahllos gegen jedermann richtet (817), ohne auch auf das zu achten, „was zu seinen Gunsten spräche“ (813). Eine Bewertung des Kriminalfalles, die durch die strafrechtlichen Wertmaßstäbe der emotionalen Unbeteiligtheit, der Kon­ zentration auf die Tatschuld und der Effektivität in der Verbrechensbekämpfung geprägt ist, wird hier mit einem moralischen Wertungsraster konfrontiert, dem – wie sich anhand zahlreicher Textstellen belegen lässt – gute Charaktereigenschaften eines Individuums und die in ihnen gründende Fähigkeit, zu rühren und Rührung zu empfinden, als höchstrangige Werte gelten.41 An diesem Punkt in der Mitte des Textes, an dem der Konflikt zwischen den von der Scuderi und la Regnie vertretenen Deutungen und Wertungen des ‚Falles Olivier Brusson‘ erstmals offen zutage tritt, bestätigt sich so zum einen zwar die zu Textbeginn vom Erzähler vorgegebene moralische Abwertung la Regnies und seiner Beurteilung des Kriminalfalls durch das Wertungsverhalten der zuvor schon mit moralischer Autorität ausgestatteten Scuderi. Zum anderen erhält la Regnie als Repräsentant des Rechts aber die Möglichkeit, gegenüber der moralischen Fallbeurteilung seine eigene an den rechtsrelevanten Gesichtspunkten des Falles orientierte alternative Einschätzung zur Geltung zu bringen. Bei aller Abwertung, die la Regnie im Text erfährt, werden auf diese Weise doch Hinsichten der Deutung und Bewertung des Kriminalfalles formuliert, die d’Andilly mit seinem Hinweis auf die Legitimität und Pflichtmäßigkeit von la Regnies Verfahren erneut als bedeutsam markiert. Dass ihnen damit erst die Kraft verliehen wird, die moralische Deutung und Bewertung des Kriminalfalles zu verunsichern, liegt daran, dass mit d’Andilly hier ein selbst nicht diskreditierter Repräsentant des Rechts für sie eintritt. Inwieweit den Äußerungen d’Andillys dieses Verunsicherungspotential tatsächlich zukommt, welche Relevanz und Funktion für die textinterne Bewer41  An den vorangehend zitierten Textstellen ist bereits abzulesen gewesen, welche Rolle diese Wertmaßstäbe für das Handeln des Fräuleins spielen. Auf sie muss rekurriert werden, um zu erklären, inwiefern die Scuderi auf Oliviers Aussage hin konsequent von seiner ‚Unschuld‘ sprechen kann, obwohl er selbst keineswegs alle Schuld von sich weist. So heißt es etwa angesichts der Wiedersehensfreude von Olivier und Madelon mit deutlichem Bezug auf die genannten Wertmaßstäbe: „Wäre die Scuderi nicht von Oliviers Unschuld schon überzeugt gewesen, der Glaube daran müßte ihr jetzt gekommen sein, da sie die Beiden betrachtete, die in der Seligkeit des innigsten Liebesbündnisses die Welt vergaßen und ihr Elend und ihr namenloses Leiden. ‚Nein, rief sie, solch seliger Vergessenheit ist nur ein reines Herz fähig‘ “ (840). Ähnlich deutlich ist dieser Bezug auch bei der Antwort, die sie dem König auf seine Frage nach Beglaubigungen für Oliviers Falldarstellung gibt. Denn hier stellt sie den überprüfbaren Fakten ihre „innere Überzeugung“ und „Madelons tugendhaftes Herz, das gleiche Tugend in dem unglücklichen Brußon erkannte“, gleichberechtigt zur Seite (848).



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tung des Kriminalfalles man ihnen auf der Basis einer Wertungsanalyse mithin zuschreiben kann, lässt sich allerdings erst dann einschätzen, wenn auch d’Andillys zweite Fallbeurteilung berücksichtigt wurde. Denn sie gibt der Advokat ab, nachdem die Scuderi ihn vollständig in Oliviers Geheimnis eingeweiht und Graf Miossens „unter dem Siegel der Verschwiegenheit“ ausgesagt hat, Cardillac selbst in Notwehr getötet, die Tat aber zum Schutze seiner selbst vor la Regnies Misstrauen verschwiegen zu haben (vgl. 844). Auch mit dieser zweiten Stellungnahme d’Andillys wird das moralische Wertungsraster, das mit der zunehmend auf die Perspektive der Scuderi fokussierten Präsentationsweise des Erzählten immer mehr Geltungskraft für sich beansprucht, mit einer Beurteilung des Falles unter rechtlichen Gesichtspunkten konfrontiert, ohne dass die daraus resultierenden Spannungen zwischen den zwei Wertungsangeboten in der Figuren- oder Erzählerrede aufgelöst würden. Objekt der Wertungshandlung d’Andillys sind in diesem Zusammenhang Olivier und sein Verhalten: In einen Konflikt geraten hier die rechtliche und die moralische Beantwortung der Schuldfrage. Während die Scuderi dem Erzähler zufolge Olivier „schuldlos verstrickt“ sieht, ihm aufgrund seines Entschlusses, um Madelons willen den eigenen Hinrichtungstod in Kauf zu nehmen, „Heldensinn“ zuschreibt und seine Verurteilung als „himmelschreiende[s] Unrecht“ des „grausamen Gerichtshofe[s]“ bewertet (840), fällt die Einschätzung d’Andillys signifikant anders aus: „Auf gewöhnlichem Wege ist Brußon aus den Händen der Justiz nun ganz und gar nicht zu retten. Er will Madelons halber Cardillac nicht als Mordräuber nennen. Das mag er tun, denn selbst, wenn es ihm gelingen müßte, […] dies nachzuweisen, würde ihn doch als Mitverbundenen der Tod treffen. Dasselbe Verhältnis bleibt stehen, wenn der Graf Miossens die Begebenheit mit dem Goldschmidt, wie sie wirklich sich zutrug, den Richtern entdecken sollte. Aufschub ist das Einzige, wornach getrachtet werden muß. […]“ (845 f.)

Erst wenn es gelungen sei, weitere Nachforschungen in Gang zu bringen, sei es „ ‚Zeit, sich an den König selbst zu wenden. […] Keinen Rechtsspruch, aber des Königs Entscheidung, auf inneres Gefühl, das da, wo der Richter strafen muß, Gnade ausspricht, gestützt, kann das alles begründen. –‘ “ (846) Unter der moralischen Betrachtungsweise der Scuderi ist die Frage nach der Schuld mit Blick auf den Charakter und die Handlungsmotive des Beschuldigten zu beantworten, wobei ersterem im Falle Oliviers höchste moralische Qualität zukommt (‚Heldensinn‘) und letztere keinen bösen Willen erkennen lassen (‚schuldlos verstrickt‘), so dass eine Bestrafung der Figur vom moralischen Standpunkt aus nicht gerechtfertigt erscheint. Dem Juristen d’Andilly dagegen stellt sich die Schuldfrage in Bezug auf die Strafbarkeit von konkreten Handlungsweisen. Gemessen an diesem Maßstab ist Olivier zweifellos schuldig, so dass in seinem Fall „der Richter strafen muß“ (846).

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Wie sich diese rechtliche Beurteilung des Kriminalfalles nun aber zu der moralischen verhält, lassen Figuren und Erzähler offen. Der rechtliche Standpunkt, von dem aus Olivier als schuldig und seine Hinrichtung als legitim beurteilt werden muss, bleibt hier ‚unverrechnet‘ neben dem moralischen stehen, von dem aus sich von der ‚Unschuld‘ Oliviers und der ‚Unrechtmäßigkeit‘ seiner Bestrafung sprechen lässt. Das gleiche Bild liefert auch die Textpassage, die d’Andillys Ausführungen zur Schuldfrage unmittelbar vorausgeht: Auf Miossens Bericht über seinen Totschlag Cardillacs hin ist die Scuderi „im Innersten entzückt, ihre Überzeugung von Brußons Unschuld auf solch entscheidende Weise bestätigt zu sehen“ (845), was der Erzähler kommentarlos erwähnt, obwohl er den Grafen gerade erst mit den Worten zitiert hatte: „ ‚[…] unschuldig, mein Fräulein, nennt Ihr des verruchten Cardillacs Spießgesellen? – der ihm beistand in seinen Taten? der den Tod hundertmal verdient hat? – Nein in der Tat, der blutet mit Recht […].‘ “ (844 f.) Ohne eine explizite Erklärung bleibt schließlich auch die Ambivalenz in Oliviers deutender und wertender Bezugnahme auf das eigene Verhalten, das er einerseits als ‚Verbrechen‘ beurteilt, für das er „den Tod […] verdient habe“ (820), von dem er andererseits aber weder seine ‚Seligkeit‘ (823) noch die Überzeugung der Scuderi von seiner „Unschuld“ bedroht sieht (840) und um dessen Re­lativierung er schließlich bemüht zu sein scheint, wenn er betont, dass er „[r]ein […] von jeder Blutschuld“ sei und „[s]ein einziges Verbrechen nur darin besteh[e], daß [er] Madelons Vater nicht den Gerichten verriet und so seinen Untaten ein Ende machte“ (839). 2. Affirmation und Relativierung des moralischen Bewertungsstandpunkts Um nun zu klären, welche Deutung und Bewertung des Erzählten dem Rezipienten durch den Text nahegelegt wird, sind die voneinander abweichenden textinternen Positionen gegeneinander zu gewichten. Vor allem ist nach der Relevanz und Funktion jener Fallbeurteilungen zu fragen, die d’Andilly unter juristischer Perspektive formuliert. Ergebnis der Analyse ist, dass seine Deutung und Bewertung des Falles im Text keineswegs den Status einer Außenseiterposition zugewiesen bekommt. Vielmehr wird sie durch auf den Fall oder auf d’Andilly selbst bezogene Einschätzungen anderer Figuren und des Erzählers ebenso bestätigt wie durch den Umstand, dass d’Andilly nicht als „Feind des Angeklagten“ (813) und nicht als Kontrahent der Scuderi agiert, sondern sogar dem für den Angeklagten günstigen Ausgang der Handlung den Weg ebnet und sich damit implizit positiv wertend zu der moralischen Sichtweise auf den Fall verhält. Und genau in dieser ‚Doppelkompetenz‘ desjenigen, der „tiefe[] Wissenschaft“ und „umfassenden Verstand[]“ mit ebenso großer „Rechtschaffenheit“ und „Tugend“



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in seiner Person vereinigt (842), der die moralische Bewertung des Falles unterstützt, obwohl er zugleich die Angemessenheit der davon abweichenden recht­lichen Beurteilung bestätigt, dürfte ein Hinweis darauf zu finden sein, wie das Erzählte zu deuten und zu bewerten ist. Einerseits wird den maßgeblich von der Scuderi und dem Erzähler vertretenen moralischen Wertmaßstäben auf allen Ebenen des Textes höchste Priorität eingeräumt: Nicht nur erhält die moralische Perspektive der Scuderi am Ende der Erzählung gegenüber der juristischen insofern den Vorzug, als der König für sie gewonnen werden kann42 und den Fall daraufhin durch einen Gnadenakt einer rechtlichen Lösung entzieht. Dank der Informationsvergabestrategie des Textes, die auf die Darlegung und Begründung der Perspektive der Scuderi deutlich mehr Erzählzeit entfallen lässt als auf die der Chambre ardente, erscheint erstere außerdem als die umfassender informierte und darum besser gerechtfertigte; letztere dagegen wird schon dadurch implizit entwertet, zumindest aber einer sympathisierenden Rezipientenreaktion entzogen,43 dass der Text kaum Einblick in la Regnies Gedanken oder gar Gefühle gewährt und ihn ab der Mitte des Textes nur noch ein kurzes Mal in indirekter Rede selbst zu Wort kommen lässt (vgl. 841). Schließlich erweisen sich die moralischen Wertmaßstäbe des Fräuleins insofern als die überlegenen, als sie (wie auch ihre Trägerin und deren Handeln) nicht nur in den Figuren-, sondern auch in den Erzähleräußerungen einer dominant positiven Bewertung unterzogen werden, während in Bezug auf die Chambre ardente nicht nur stark negative Wertungen überwiegen, sondern diese Abwertung auch im Rekurs auf moralische Wertmaßstäbe erfolgt. In ihren Konsequenzen für die Behandlung des ‚Falles Olivier Brusson‘ letztlich sogar von dem „Rechtsverständigen“ d’Andilly mitgetragen, empfehlen sich diese moralischen Wertmaßstäbe so mit allem Nachdruck der Übernahme durch den Rezipienten. Andererseits wird dem Rezipienten aber mit dem strafrechtlichen auch ein alternatives Deutungs- und Wertungsangebot präsentiert, das in dieser Erzählung zwar zurückgestellt, grundsätzlich 42  Die kunstvollen Mittel, die die Scuderi einsetzt, um den König zu gewinnen, können hier außer Acht bleiben; sie sind wichtig vor allem für Interpretationen, die die Künstlerthematik der Erzählung ins Zentrum stellen. Vgl. dazu z. B. Wulf Sege­ brecht: Kommentar zum „Fräulein von Scuderi“. In: Hoffmann: Sämtliche Werke (Anm. 5), S. 1507–1532, hier S. 1516, 1519 ff. 43  Annahmen über Sympathiesteuerungsverfahren in Hoffmanns Erzählung sind im Rekurs auf die Ergebnisse einer vorgängigen Wertungsanalyse zu plausibilisieren und verdanken sich einer zusätzlichen Rekonstruktionsleistung, siehe dazu Katha­ rina Prinz / Simone Winko: Sympathielenkung und textinterne Wertungen. Überlegungen zu ihrer Untersuchung und exemplarische Analyse der Figur des ‚unglücklichen Mordgehilfen‘ Olivier Brusson. In: Claudia Hillebrandt / Elisabeth Kampmann (Hg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Berlin 2014, S. 99–127.

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aber mit dem gleichen Anspruch auf Verbindlichkeit formuliert und darin textintern auch bestätigt wird. Erklärungsbedürftig ist, dass d’Andilly in seiner Stellungnahme zu dem vorliegenden Fall an der prinzipiellen Zuständigkeit rechtlicher Deutungsund Wertungskategorien keinen Zweifel lässt, mit seiner Intervention aber dafür sorgt, dass in diesem speziellen Fall nicht ein „Rechtsspruch“ auf der Basis der juristischen, sondern ein Gnadenentscheid auf der Basis moralischer Beurteilungskategorien zustande kommt, da der König „nicht darnach frag[t], was vor Gericht bewiesen ist, oder nicht“ (842), sondern seinem ‚innere[n] Gefühl‘ folgt (846). Dass der Advokat hier wider besseren Wissens zu handeln scheint, deutet darauf hin, dass die textintern etablierte Rangfolge moralischer und rechtlicher Wertmaßstäbe keine generelle, sondern nur eine auf den erzählten Fall bezogene Gültigkeit beansprucht. Ohne selbst explizit eine Antwort auf die Frage zu geben, wie das Verhältnis des rechtlichen und des moralischen Standpunktes bei der Deutung und Bewertung des erzählten Falles zu beurteilen ist, fordert das zwiespältige Wertungsverhalten d’Andillys vielmehr zu einer vom Rezipienten selbst zu leistenden Reflexion darauf heraus, ob und unter welchen Bedingungen die präsentierte Lösung der Dispensierung einer rechtlichen zugunsten der moralischen Fallbeurteilung zustimmungsfähig ist oder auch nicht. Die Relevanz und Funktion der Deutungs- und Wertungshandlungen d’Andillys beständen demzufolge darin, diesen Reflexionsprozess zu provozieren und anzuleiten, indem sie (im Verbund mit anderen Textphänomenen) zu einer Differenzierung des Blickes auf das Erzählte führen, die gestattet, es in seiner Komplexität zu erfassen: Von ihnen aus lässt sich nämlich die perspektivische Einschränkung sowohl einer tatorientierten rechtlichen (la Regnie) als auch einer täterorientierten moralischen Beurteilung der Schuldfrage (Scuderi) durchschauen.44 Das Ende der Erzählung, das den guten Charakter Oliviers prämiert, indem die Vertreterin der Moral mit Hilfe des Advokaten die Deutungs- und Wertungshoheit über den Fall zu behaupten vermag, erhält damit einen problematischen Zug – auch wenn dies in Figuren- und Erzählerrede nicht ausdrücklich thematisiert wird und die Art und 44  Gegenläufig zu der hier vorgenommenen Zuschreibung von tat- und täterorientierter Perspektive spricht Pinilla Ballester davon, dass „Scuderis Postulat einer kausalen Verschränkung von Tat und Schuld durch das Tatmotiv den lediglich spekulativen Schuldbegriff des Verdachts in der Fixierung auf den Täter sichtbar werden“ lasse und „la Regnie auf der Psychologie des Verdachts“ beharre (Pinilla Ballester: Erzählte Hinrichtungen (Anm. 16), S. 89). Meiers Interpretation, die in der Scuderi „den idealen Typus eines Richters“ verkörpert sieht, „der durch dem Geist der Gesetze entsprechendes Verhalten die Wahrheit in Erfahrung bringt“ (Meier: Dialog zwischen Jurisprudenz und Literatur (Anm. 1), S. 130), ist nicht zuzustimmen; dafür ist die Figur zu sehr den moralischen Wertmaßstäben verpflichtet und ignoriert zu stark die juristischen.



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Weise der Informationsvergabe (nicht zuletzt über die Olivier-Figur selbst) die moralische Lösung des Wertungskonflikts auf der Figurenebene als die wünschenswerte auszeichnet. In dieser Ambivalenz mag schließlich die Ursache für einen Eindruck liegen, der in der Forschung wiederholt formuliert wurde, dass nämlich das Textende den Rezipienten mit „a lingering sense of unease“ zurücklasse.45 Für die beiden inkompatiblen Forschungspositionen zum Fräulein von Scuderi, die in II. einander gegenübergestellt wurden, folgt aus der Analyse zum einen, dass die These, der Text weise „nichts und niemand[em] mehr eine gesicherte Position“ zu und lasse sich „nicht auf eine eindeutige Parteinahme festschreiben“,46 sich in dieser pauschalen Formulierung nicht halten lässt. Zwar ist festzustellen, dass die Figuren und der Erzähler erstens auf unterschiedliche Wertmaßstäbe rekurrieren, infolgedessen zweitens den Fall nicht alle unter demselben Aspekt beurteilen, sondern den Blick entweder auf die Tat oder die Täterpersönlichkeit richten und aus diesem Grund drittens miteinander in Konflikt geraden. Doch ist diese Konstellation, in der schließlich einer der Deutungs- und Wertungsstandpunkte sogar die Oberhand gewinnt, nicht mit dem Fall zu verwechseln, dass keine der Deutungen von Figuren und Erzähler als valide einzuschätzen ist und sich damit keine „gesicherte Position“ mehr in der fiktiven Welt ausmachen lässt. Die Analyse des Fräuleins von Scuderi hat weder eine generelle Unglaubwürdigkeit der Figuren noch eine axiologische (oder mimetische) Unzuverlässigkeit des Erzählers nachweisen können. Mit der bloßen Aufdeckung einzelner ‚Ungereimtheiten‘ in Figuren- und Erzähleräußerungen ist für einen solchen Nachweis schon allein deshalb noch nichts Entscheidendes gewonnen, weil über die Relevanz dieser Einzelbefunde nur im Rekurs auf den gesamten Text und seine Organisationsprinzipien entschieden werden kann. Was nun im Speziellen die Glaubwürdigkeit der Figuren und die Zuverlässigkeit des Erzählers hinsichtlich ihres Wertungsverhaltens anbelangt, sind aber – wie gezeigt – aus der Analyse gerade der Informa­tionsvergabestrategie des Textes starke Argumente sowohl für die Validität (trotz Einseitigkeit) der von der Scuderi vollzogenen Wertungen als auch für die axiologische Zuverlässigkeit des Erzählers zu gewinnen.47 45  Sheila Dickson: Black, White and Shades of Grey. A Reassessment of Narrative Ambiguity in E.T.A. Hoffmann’s Das Fräulein von Scuderi. In: New German Studies 17 (1992–1993), Nr. 2, S. 133–157, hier S. 148. 46  Küpper: Poesie (Anm. 1), S. 109 und 239. 47  Vor diesem Hintergrund betrachtet, scheint eine Position wenig plausibel, der zufolge sich „Hoffmanns Text selbst über seine Titelheldin […] lustig“ macht (Küp­ per: Poesie (Anm. 1), S. 144), „gerade die Vertreter der Polizei, Desgrais und la Regnie, noch die am ehesten positiv zu bewertenden Figuren der gesamten Erzählung dar[stellen]“ (ebd., S. 246) und „es letzten Endes alles andere als sicher ist, ob die

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Dass die juristische Perspektive auf den erzählten Fall nicht zuletzt dank der Informationsvergabestrategie des Textes hinter die moralische zurücktritt, hat andererseits aber für sich genommen auch noch keinerlei stützende Kraft für die These, die Erzählung habe eine justizkritische Stoßrichtung. Denn eine genaue Analyse der textinternen Wertungen und Wertmaßstäbe führt zu dem Ergebnis, dass zwar Person und Handeln des Richters la Reg­ nie einer massiven moralischen Abwertung unterliegt und ihm der ‚Fall Olivier Brusson‘ entzogen wird, bevor ein rechtskräftiges Urteil gesprochen werden kann. Sie zeigt aber auch, dass die juristische Deutung und Wertung des Falles, wie d’Andilly sie formuliert, nur ausnahmsweise dispensiert wird, prinzipiell aber durchaus dieselbe Validität und Verbindlichkeit für sich beanspruchen kann wie die moralische. Die moralische Kritik, die im Fräulein von Scuderi an la Regnie, dem Präsidenten eines Ausnahmegerichts, geübt wird, der angetrieben von ‚Hass‘ und ‚blindem Eifer‘ sogar gegen den selbstgesetzten Maßstab der richterlichen ‚Pflicht‘ zu emotionaler Unbeteiligtheit verstößt, bezieht nicht auch den ‚Rechtsverständigen‘ d’Andilly ein. Justizkritik kommt hier also nur insoweit ins Spiel, als sich die moralische Verurteilung der Mitglieder der Chambre ardente auf die von ihnen vertretene Institution übertragen lässt (wofür der Text durchaus Anhaltspunkte liefert) und von dort aus auf eine textinterne Verurteilung des präsentierten Rechtswesens im Allgemeinen geschlossen werden kann. Es wäre Aufgabe einer Interpretation zu begründen, inwieweit Schlüsse dieser Art zulässig sind, zu welchen weiterführenden Behauptungen über den Text sie berechtigen und inwiefern sich daraus ggf. eine Kritik an der preußischen Rechtsordnung des frühen 19. Jahrhunderts ableiten lässt. V. Fazit Mit unserem Beitrag haben wir zwei Ziele verfolgt. Zum einen haben wir danach gefragt, wie sich das für Kriminalerzählungen um 1800 typische Spannungsgefüge von Recht und Moral im Fräulein von Scuderi manifestiert und sich die Erzählung damit im Kontext dieses Spannungsgefüges positionieren lässt; zum anderen haben wir dafür argumentiert, dass eine Antwort auf diese Fragen auf einer genauen Analyse speziell der Wertungen und Wertmaßstäbe der Erzählung aufbauen muss. Das zweite Ziel hoffen wir, mit den vorangehenden exemplarischen Analysen erreicht zu haben; das erste soll abschließend zusammenfassend erläutert werden. Dabei soll das Verhältnis von Recht und Moral in der Erzählung unter zwei Perspektiven betrachtet werden: Recht und Moral als Wertordnungen, Recht und Moral als gesellschaftliche Phänomene. ‚Unschuldigen‘ – wie etwa Olivier – so unschuldig sind wie dies vordergründig dargestellt wird und ob der ‚Schuldige‘ Cardillac überhaupt irgendeine Schuld auf sich geladen hat“ (ebd., S. 93).



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Unter der ersten Perspektive hat unsere Analyse eine Ambivalenz ergeben: Zwar gelten rechtliche und moralische Maßstäbe in der Textwelt gleichermaßen, ohne dass die Geltung einer der beiden Bereiche auf der Ebene der Textorganisation relativiert werden würde; zugleich wird aber für den geschilderten Fall die moralische Deutungs- und Wertungsperspektive textintern klar als die wünschenswerte und damit dominante markiert. Mit dieser fallbezogenen Höherwertung der Moral wäre die Erzählung nicht allein wegen ihres Entstehungsjahres 1818 der ersten Phase der Kriminalerzählungen zuzuordnen, die Jörg Schönert skizziert hat.48 Auch ihre Problembehandlung bleibt insofern im Rahmen des für diese Phase Typischen, als in ihr „die Frage der moralischen Schuld […] als übergeordneter Aspekt“ gilt.49 Anders als in den phasentypischen Merkmalen angeführt, geht es im Fräulein von Scuderi aber nicht um eine Stärkung der moralischen Sichtweise auf einen Fall, der nach geltendem Recht bereits entschieden ist, sondern es wird textintern im Zeichen der Moral Einfluss auf die Rechtsprechung genommen. Dabei wird die Frage, wie das Verbrechen zu bewerten ist, zwar ebenfalls „der ethischen Beurteilungskompetenz jedes einzelnen Lesers“50 überlassen – dies ist eine Folge der oben aufgezeigten Ambivalenz –, jedoch hat eine entsprechende Beurteilungskompetenz im Text bereits für das glückliche Ende gesorgt. Unter der zweiten Perspektive ist zusammenzufassen, wie sich Recht und Moral als gesellschaftliche Phänomene in der Textwelt zueinander verhalten. Recht ist dabei als ausdifferenziertes gesellschaftliches System und Moral als universalisierte, „gesellschaftsweit zirkulierende Kommunika­ tionsweise“ aufzufassen, die kein System ausbilden kann.51 Unter dieser Perspektive betrachtet, sind Recht und Moral in der Erzählung zunächst klar voneinander getrennt: Das Recht ist Sache der Fachleute, die Moral Sache der Laien. Das Rechtssystem ist mit verschiedenen Institutionen präsent, es ist in sich differenziert – was z. B. seine verschiedenen, textintern unterschiedlich gewerteten Repräsentanten deutlich machen – und es folgt einer eigenen ‚Logik‘, die der Laie nicht ohne Anleitung versteht. Zudem gelten, wie gezeigt, seine besonderen Muster der Deutung und Maßstäbe der Wertung von Wirklichkeit. Sprechen diese Befunde dafür, dass wir hier ein Beispiel für die einleitend genannte spezifisch rechtliche „Unterscheidungssemantik“ vorliegen haben, so spricht anderes dagegen: Zwar verwenden die Vertreter des Rechts eine juristisch markierte Sprache und argumentieren 48  Schönert:

Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur (Anm. 2), S. 69–71. Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur (Anm. 2), S. 70. 50  Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur (Anm. 2), S. 70. 51  Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3. Frankfurt a.  M. 1989, S. 434. 49  Schönert:

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auch im Sinne der systeminternen ‚Logik‘; im Unterschied zu d’Andilly, der sich weitgehend auf rechtliche Begriffe beschränkt, verwenden la Regnie und Desgrais aber in auffällig starkem Maße auch religiös und moralisch konnotierte Ausdrücke, wenn sie auf den Fall und den Tatverdächtigen Bezug nehmen. Das könnte anzeigen, dass die Vertreter des Rechtssystems sich der übergreifenden ‚Sprache der Moral‘ bedienen müssen, um mit dem Laien zu kommunizieren. Da aber la Regnie dieselben Ausdrücke verwendet, wenn er mit Desgrais spricht, scheidet diese Deutung aus und eine andere liegt nahe: Wenn der Verwendung moralischer Ausdrücke und Bilder moralische Wertmaßstäbe entsprechen, dann identifiziert diese Figur die ihrem System zugehörige Leitdifferenz ‚Recht / Unrecht‘ mit der moralischen Differenz ‚gut / böse‘, was la Regnie zu einem noch nicht genügend professionalisierten Vertreter des Rechtssystems macht. Wenn das zutrifft, nutzt Hoffmann die bereits etablierte Differenz der beiden gesellschaftlichen Phänomene Recht und Moral, um eine seiner Figuren zu charakterisieren. Überlegungen wie diese gehen allerdings über die Ergebnisse unserer Analyse hinaus, da sie weiterer Annahmen zur Kontextualisierung der Erzählung bedürfen und damit Sache der Interpretation sind. Eine Interpretation aber hat unsere Analyse der Wertungen und Wertmaßstäbe, wie erläutert, nicht erbracht und auch nicht erbringen wollen; vielmehr bietet sie als Ergebnis eines in erster Linie textanalytisch ausgerichteten Verfahrens eine Grundlage für weitergehende Interpretationen. Soll die Position der Erzählung im Spannungsgefüge von Recht und Moral noch genauer bestimmt werden, etwa mit Blick auf die Frage, was der fallbezogene ‚Sieg‘ der Moral über das Recht bedeute, dann ist es unumgänglich, weitere, vor allem rechtsgeschichtliche und / oder biographische Kontexte einzubeziehen, wie es mehrere Interpreten bereits getan haben. Die Funktion dieser Kontextinformationen ist in der Regel, eine der beiden textinternen Wertordnungen in der Interpretation als die stärkere oder auch schwächere zu markieren. Wenn man z. B. die skeptische Einstellung des Juristen Hoffmann gegenüber den „Reformversuchen an der preußischen Justiz“52 oder seine Kritik an der „Willkürpraxis der Justizbehörden“53 nach den Karlsbader Beschlüssen als Argumente für eine politische Aussage der Erzählung anführt, dann können diese Kontexte eingesetzt werden, um eine moralische Gesamtdeutung der Erzählung zu plausibilisieren, während die Position der Rechtsinstanz abgeschwächt wird. Allerdings sollte die textinterne Ambivalenz, die eine Analyse der Wertungen und Wertmaßstäbe der Erzählung ergeben hat, mit solchen interpretatorischen Entscheidungen nicht ‚überschrieben‘ werden. 52  Brigitte Feldges / Ulrich Stadler: E.T.A. Hoffmann. Epoche, Werk, Wirkung. München 1986, S. 162. 53  Feldges / Stadler: E.T.A. Hoffmann (Anm. 52), S. 163 f.

Gewaltsame Befriedung. Johann Peter Hebels Der Fri