Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte: Band 4 Sl - Z [Reprint 2019 ed.] 9783110867145, 9783110100853

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Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte: Band 4 Sl - Z [Reprint 2019 ed.]
 9783110867145, 9783110100853

Table of contents :
Geleitwort
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REALLEXIKON DER

DEUTSCHEN

LITERATURGESCHICHTE VIERTER

BAND

REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURGESCHICHTE B E G R Ü N D E T VON PAUL M E R K E R U N D WOLFGANG STAMMLER ZWEITE

AUFLAGE

B A N D 1-3 HERAUSGEGEBEN

VON

W E R N E R K O H L S C H M I D T UND W O L F G A N G M O H R BAND 4 HERAUSGEGEBEN

VON

K L A U S K A N Z O G UND A C H I M M A S S E R REDAKTION: DOROTHEA

KANZOG

VIERTER BAND Sl-Z

1984

WALTER DE GRUYTER • B E R L I N • NEW YORK

Die Einzellieferungen, aus denen sich dieser Band zusammensetzt, erschienen in den Jahren 1979 bis 1984.

ClP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen Bibliothek

Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte / begr. von Paul Merker u. Wolfgang Stammler. Hrsg. von Klaus Kanzog u. Achim Masser. — Berlin ; New York : de Gruyter Teilw. hrsg. von Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr NE: Merker, Paul [Begr.]; Kanzog, Klaus [Hrsg.]; Kohlschmidt, Werner [Hrsg.] Bd. 4. SI-Z. - 2. Aufl. - 1984. Abschlussaufnahme von Bd. 4 ISBN 3-11-010085-1

© Printed in Germany Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., Berlin Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Bindearbeiten: Th. Fuhrmann KG, Berlin 36

Geleitwort Nach 23jähriger, von mancherlei Mühen und Schwierigkeiten gekennzeichneter Tätigkeit hatten Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr, die das Reallexikon 1953 von Erna Merker und Hugo Kuhn übernommen hatten, den begreiflichen Wunsch, es in jüngere Hände weiterzugeben. Wir haben die uns übertragene Aufgabe, dieses Werk zu betreuen und zum Abschluß zu bringen, als eine Verpflichtung allen Mitarbeitern und Benutzern gegenüber, aber auch im Interesse der Sache übernommen, die auf Kontinuität und Weiterführung gleichermaßen angewiesen ist. Unser Dank gilt allen, die hier vor uns gearbeitet haben, er gilt insbesondere Wolfgang Mohr und Werner Kohlschmidt. Beide konnten unter schwierigen persönlichen Arbeitsbedingungen und durch Absagen von Mitarbeitern wie Verzögerungen in der Ablieferung der Manuskripte immer wieder aufgehalten, drei Bände vorlegen, die sich in unserem Fachgebiet als ein unentbehrliches Hilfsmittel erweisen. Viele Artikel haben nicht nur Forschungsergebnisse zusammengefaßt und Begriffsbestimmungen gesichert, sondern auch neue Akzente gesetzt, so daß das Werk bereits ein Stück-Wissenschaftsgeschichte repräsentiert. Paul Merker und Wolfgang Stammler haben die vier Bände der ersten Auflage des Reallexikons innerhalb von 6 Jahren vorgelegt. Die 2. Auflage wird im 30. Jahre nach dem Erscheinen der ersten Lieferung abgeschlossen, und auch im vierten Band gelang es nicht, die Arbeiten wesentlich zu beschleunigen. Es lag nicht nur am Zwang der alphabetischen Reihenfolge der Artikel, daß sich das Erscheinen der einzelnen Lieferungen durch das Warten meist nur auf einen einzigen, aber unverzichtbaren Artikel verzögerte. Vielfach war es nicht leicht, überhaupt einen kompetenten Mitarbeiter zu gewinnen. Die Verhandlungen mit zahlreichen Kollegen und potentiellen Autoren haben hier einen Wandel in der Einstellung vieler Forscher zur lexikalischen Arbeit zutage treten lassen. So rückt die entsagungsvolle Arbeit an einem Lexikonartikel den Verfasser anders als bei der selbständigen Publikation einer wissenschaftlichen Darlegung nicht sofort ins Blickfeld der Öffentlichkeit und trägt daher nur bedingt zu seinem Prestige bei. Der Mitarbeiter an einem Wörterbuch oder literarischen Lexikon ist mit den anderen Helfern einem gemeinsamen Ziel verpflichtet, dem er sich unterzuordnen hat. Für Sinn und Gewinn einer solchen Arbeit fehlt heute weithin ein angemessenes Verständnis, und erst recht fehlt bei vielen die Bereitschaft, an einem Gemeinschaftswerk mitzutun. Anderes kommt hinzu. Wurde früher die Mitarbeit an einem Lexikon als eine Tätigkeit angesehen, mit der man das terminologische Denken und die Konzentration auf das Wesentliche des Gegenstandes schulte, so wird diese Äußerungsform heute schon in Seminaren nicht mehr recht gepflegt; auch die bibliographische Prägnanz, die souveräne Beherrschung des Stoffes und die Entwicklung verbindlicher Selektionsprinzipien sind längst nicht mehr jedermanns Sache. Das Werk ist nicht nur für den Gebrauch an Hochschulen gedacht, aber die Autoren des Lexikons sind zum größten Teil Universitätslehrer, und die Einheit von Forschung und Lehre war von Anfang an die Basis der Arbeit am Reallexikon, die nicht zu Kompilationen entarten durfte. Hier lag jedoch ein weiterer Grund für die schleppende Abfolge der einzelnen Lieferungen: Lehrbetrieb und wuchernde Verwaltungsarbeit an unseren Universitäten lassen zunehmend weniger Zeit für die wissenschaftliche Tätig-

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Geleitwort

keit — und für die Einhaltung von gesteckten Fristen. Zudem blieb kein Hochschullehrer von den Krisen seines Faches in den letzten Jahrzehnten unberührt. Neue Einstellungen gegenüber den wissenschaftlichen Gegenständen mußten gewonnen und neue Arbeitsmethoden geprüft werden. So hat auch die Spannung zwischen den Generationen im Lexikon ihren Niederschlag gefunden. Autoren, die schon in der ersten Auflage vertreten waren, haben ihre Artikel zum Teil der veränderten Forschungssituation angepaßt. Andere schrieben aus der Fülle ihres Wissens und ihrer unmittelbaren Erfahrung. Einige jüngere Autoren zeigen neue Wege auf. Die meisten Beiträge repräsentieren den Stand der Forschung zum Zeitpunkt des Erscheinens. Die Pionierleistung Paul Merkers und Wolfgang Stammlers auf lexikalischem Gebiet erwuchs aus der terminologischen Situation der Germanistik in den zwanziger Jahren; damals war das Reallexikon konkurrenzlos auf dem Markt. Die zweite Auflage des Werkes hingegen steht heute neben verschiedenen Nachschlagewerken und Reihen, die hinsichtlich ihrer Handlichkeit und ihres erschwinglichen Preises vor allem dem Studenten gute Arbeitshilfen geben. Diese im Verlauf der letzten Jahrzehnte entstandene Situation verlangt eine kritische Besinnung auf die legitime Rolle des Reallexikons sowie auf die Gestalt, die es in einer zukünftigen Bearbeitung erhalten sollte. In der gegenwärtigen Auflage hat es in zunehmendem Maße enzyklopädischen Charakter angenommen, der gerade in einigen Artikeln des IV. Bandes in Erscheinung tritt. Die Herausgeber sind sich der Diskrepanz zwischen „kurzen" und „langen" Artikeln bewußt, haben sie aber in Kauf genommen, um in einzelnen Fällen größere Forschungsgebiete erstmals zusammenfassend zur Geltung zu bringen. Eine Orientierungshilfe für das Auffinden der in den einzelnen Artikeln enthaltenen Begriffe und Sachen wird ein detailliertes Sachregister geben, das als gesondertes Heft erscheinen wird. Das nunmehr abgeschlossene Lexikon vermag nicht, die von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr vor 30 Jahren geäußerten Zweifel zu zerstreuen, daß es der Generation, die den II. Weltkrieg überlebt hat, gelingen könne, „in diesem Werk ein eindrucksvolles und geschlossenes Bild ihrer Wissenschaft herauszustellen". Noch immer suggerieren Lexika eine innere Einheit, die sie, abgesehen von formalen Einrichtungen, als Gemeinschaftswerk vieler Forscher jedoch kaum erreichen und über einen längeren Zeitraum hinweg auch nicht zu erreichen vermögen. Doch kann gerade dieses Zeitbewußtsein den Blick für den Reflexionsprozeß in der Literaturwissenschaft schärfen und dem Leser helfen, in die Vergegenwärtigung von „Realien" immer auch die wissenschaftsgeschichtlichen Probleme mit einzubeziehen. Werner Kohlschmidt hat den Abschluß der 2. Auflage dieses Lexikons nicht mehr erlebt, und eine Reihe von Mitarbeitern ist im Laufe der Jahre verstorben. Wir gedenken ihrer in Dankbarkeit. Ihr Tod ruft uns in Erinnerung, daß alle Artikel des Lexikons auch von der Persönlichkeit der Autoren geprägt sind. Wir danken weiterhin allen, die am Zustandekommen des Werkes beteiligt waren, den Mitarbeitern, den Angestellten des Verlages, namentlich aber Frau Dorothea Kanzog, in deren Händen die mühsame und oft genug undankbare Aufgabe der redaktionellen Gestaltung des letzten Bandes gelegen hat. Es ist hier nicht der Ort, Pläne für die 3. Auflage des Reallexikons zu entwickeln. Für die 3. Auflage wird in einer veränderten Mediensituation und angesichts eines sich zunehmend beschleunigenden Informationsflusses und Informationsbedürfnisses vieles neu zu bedenken sein. Im Frühjahr 1984

Klaus Kanzog (München) Achim Masser (Innsbruck)

SI Slavische Literaturen (Einfluß auf die deutsche Literatur) I. Die Aufnahme der russischen Literatur in Deutschland § 1. Die dt. und die russ. Lit. gehören ursprünglich zwei verschiedenen europäischen Kulturbereichen an: West-Rom die eine, OstRom die andere. Dies erklärt die mehr als tausendjährige Verflochtenheit der dt. Lit. mit der englischen oder französischen wie die angesichts der heutigen Weltgeltung der russ. Lit. - auf den ersten Blick so überraschend kurz erscheinende Spanne von etwas über zwei Jh.en der Begegnung mit der russ. Literatur, die zudem erst allmählich dauerhafter und intensiver wurde. Die Ende des 10. Jh.s durch Byzanz erfolgte Christianisierung der Ostslaven im Reich der Kiever Rus' - der späteren Ukrainer, Weißrussen und Russen - bedeutete die kirchliche und religiöse, kulturelle und polit. Orientierung nach dem oström. Kaiserreich. Die Mission erfolgte mit Hilfe südslav. (bulgarischer) Geistlichkeit in ihrer, den Ostslaven damals besser verständlichen Sprache. Durch die Christianisierung kamen die Ostslaven mit einem Schlage in den Besitz einer reichen, hauptsächlich allerdings kirchlich geprägten Lit. meist frühbyzantinischer Werke in altkirchenslav. (altbulgarischer) Sprache. Sie wurde auch zur Literatursprache des Kiever Reiches, nahm sogleich ostslav. Kennzeichen auf, wurde durch die jeweilige sprachliche Umgebung bereichert und verändert, ohne ihren ursprünglich kirchenslav. Ursprung zu verleugnen. Selbst im heutigen Russisch ist ihr Einfluß sehr stark. In dem weltoffenen, kulturell hochstehenden Kiever Reich entstanden bald eigene Ubersetzungen und originale Werke. Von ihnen nötigten die über Jh.e fortgeführten, auch zahlreiche, später ausgenützte Erzählstoffe enthaltenden Chroniken (Annalen) ausländischen Beobachtern immer wieder Be-

wunderung ab. Sie und das Igorlied, die Mär von der Heerfahrt Igors, entstanden nach 1185, kurz vor dem Untergang des Reiches in Fürstenzwietracht und Tatarensturm, sind Höhepunkte der Kiever Literatur. Im 14./15. Jh. kommt es noch einmal zu einem südslav. Einfluß, der neue Werke nach Rußland bringt. Im allgemeinen bleibt aber in den Nöten der Jh.e der Tatarenherrschaft, der Kämpfe der Teilfürstentümer um die Vorherrschaft, des Emporkommens Moskaus und des Kampfes gegen Polen ums nationale Uberleben wenig Raum für tiefergehende andere literar. Einflüsse. So hat man gemeint, daß das russ. MA. bis ans 17. Jh. reiche: ein MA. aber ohne Ritterschaft, ohne Minnesang, ohne große Epen, ohne große Dichterpersönlichkeiten, eine Literatur, an der Renaissance und Reformation so gut wie spurlos vorübergegangen sind. Erst das Barock gelangt über polnische und ukrainische Vermittlung nach Rußland. Mit dem Klassizismus und der Empfindsamkeit wendet sich Rußland dann entschieden Westeuropa zu. Die veraltete Lit.sprache wird mit Hilfe des Deutschen und besonders des Französischen den Bedürfnissen der neuen Zeit angepaßt. N. M. Karamzin, einer der Reformatoren der Lit.spräche und der bedeutendste Dichter der Empfindsamkeit, schrieb dazu im Oktober 1797 in dem in Hamburg erscheinenden Spectateur du Nord: „Quand Pierre le Grand déchira le rideau qui cachoit à nos yeux les nations civilisées de l'Europe et les progrès de leurs arts, le Russe, humilié par le sentiment de son infériorité, mais se sentant capable d'instruction, voulut imiter les étrangers en tout, dans le costume, dans les mœurs comme dans les arts; il modéla sa langue sur celle des Allemands, des Français, et notre poésie, notre littérature devinrent l'echo et la copie des leurs [. . .] Depuis ce temps, nous nous sommes essayés avec assez de succès, dans presque tous les genres de littérature [. . . ] "

In erstaunlich kurzer Zeit erreicht die russ. Lit. im 18. Jh. europäisches Niveau; mit

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Slavische Literaturen (russische Literatur)

A. S. Puskin hat sie bereits Anfang des 19. Jh.s ein dichterisches Genie allerhöchsten Ranges aufzuweisen; mit ihren großen Romanciers wird sie noch im gleichen Jh. Weltliteratur. Die neuere russ. Lit. ist eine Adelsliteratur. Es sind an ihr zwar von Anfang an in zunehmender Zahl Nichtadlige beteiligt, aber erst mit der „Nihilisten"-Generation der 60er Jahre des 19. Jh.s tritt eine von den Leuten „aus verschiedenen Ständen" bestimmte Jugend in der Lit. führend hervor. Die Lit. erwächst in einer Gesellschaft schreiender sozialer Gegensätze. Der dünnen Schicht des Adels steht die Masse des Volkes als leibeigene Bauern gegenüber. Es ist ein unvergängliches Verdienst der russ. Literatur, seit der Regierungszeit Katharinas II. (17621796) bereits gegen das Grundübel der Leibeigenschaft angegangen zu sein und im Kampf um seine Beseitigung in ihren edelsten Vertretern Confessoren und Märtyrer gestellt zu haben. Ältere Literatur s. Alfred Rammelmeyer, Russische Literatur in Deutschland. Stammler Aufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1962) Sp. 439-480. Kindlers Literatur Lexikon Bd. 1-7 nebst Erg.-Bd. (19651974), danach die dtv-Ausg. (1974): Bibliogr. bei den Artikeln zu Werken russ. Autoren, grundsätzlich mit Angabe der Erstübersetzung; dazu die Artikel in Bd. 7 (1972) von Josef Hahn, Die kirchenslavische Literatur, S. 366-370 und Wilhelm L e t t e n b a u e r , Die russ. Literatur, S. 371381. Ju. G. Kondrat'evau. G.A. Petrova, Vzaimosvjazi russkoj i nemeckoj literatur. Bihliografija literaturovedceskich rahot na russkom jazyke s nacala 19 veka po 1968 g., Teil 1 - 4 (M. 19681969). Wolfgang Kasack, Lexikon d. russ. Lit. ah 1917 (1976; Kröners Taschenausg. 451) Arthur Luther, Gesch. d. russ. Literatur (1924): Bibliogr. m. Angabe der Erstübersetzungen S. 475-489. Gleb Struve, Gesch. d. Sowjetliteratur (1957): Sowjetlit. in dt. u. engl. Übersetzungen S. 534-566. Franz Lennartz, Ausländische Dichter u. Schriftsteller unserer Zeit (1965; Kröners Taschenausg. 217): nur A. Blok, I. Bunin, W. Majakowski, D. Mereschkowski, M. Scholochow, Graf A. N. Tolstoj. Wolfgang Krenek, Russ. Lit. d. Gegenwart. Sowjetliteratur. E. Auswahlverzeichnis d. Stadtbücherei Dortmund (1967; Völker im Spiegel d. Lit. 12). Russ. Literatur in Deutschland. Texte zur Rezeption von den achtziger Jahren bis zur Jh.wende. Mit e. Einf. u. e. weiterführenden Bibliographie hg. v. Sigfrid H o e f e r t , (1974; Dt. Texte 32): Bibliogr. bis 1972, S. 156-170. Eberhard Reißner, Deutschland u. d. russ. Lit. 1800-1848 (1970;

Veröff. d. Inst. f. Slawistik 50): Bibliogr. der zwischen 1800 u. 1850 aus dem Russ. übersetzten literar. Werke S. 345-381. J. Dade, Dissertationen u. Hausarbeiten zu Fragen d. dt.-slavischen literar. Wechselbeziehungen. ZfSl. 7 (1962) S. 46-59. A b k ü r z u n g e n : FAzSl = Frankfurter Abhandlungen zur Slavistik, WdSl = Welt der Slaven; ZfslPh = Zeitschrift für slavische Philologie; ZfSl = Zeitschrift für Slawistik. M. = Moskau, L. = Leningrad.

§ 2. Regelmäßige Nachrichten über die russ. schöne Lit. beginnen in Deutschland erst um die Mitte des 18. Jh.s. Vorher finden sich den Literarhistoriker interessierende Mitteilungen gelegentlich in dem allgemeinen, landeskundlichen, historischen oder theologischen Schrifttum über Rußland. Die Verfasser sind Rußlandreisende oder in Rußland und seinen baltischen Provinzen vorübergehend oder dauernd tätige — meist deutsche — Wissenschaftler. Rußland war für Westeuropa immer wichtig gewesen als polit. Faktor, als Handelspartner und als möglicher Handelsweg nach Persien, Indien und China. Rußlands Kirche beschäftigte in ihrer Erscheinungsform und Lehre beide westliche Kirchen im Hinblick auf eine mögliche Annäherung oder wenigstens eine Stützung des eigenen Standpunkts. Die endgültige Befreiung Rußlands von der Tatarenherrschaft (1480) und seine polit. Erstarkung ergaben die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit vermehrter Kontakte des Westens zu Rußland. Zahlreiche Berichte über solche Rußlandreisen im 16. und 17. Jh. sind erhalten. Die beiden wichtigsten sind Siegmund von H e r b e r s t e i n s Rerum Moscoviticarum Commentarii (1549, dt. als „Moscovitische Chronik" 1557) und Adam O l e a r i u s ' Offt begehrte Beschreibung der newen orientalischen Reise . . . (1647, 2. Aufl. 1656). Herberstein, Gesandter Kaiser Maximilians beim Moskauer Großfürsten 1517 und Karls V. 1526, gab in einer Art Landeskunde auch eine Darstellung der Geschichte Rußlands nach den „russischen Annalen". Bei der Wiedergabe der sagen- und legendenhaften, literarisch wertvollen Erzählungen über Kiever Fürsten und Fürstinnen bemühte er sich sogar um wörtliche, nicht immer richtige Übersetzung des Chroniktextes. Olearius hat zusammen mit seinem Freunde, dem Dichter Paul Fleming, im Auf-

Slavische Literaturen (russische Literatur) trag von Herzog Friedrich III. von HolsteinG o t t o r p an zwei Handelsexpeditionen nach Rußland (1633-1635) und nach Persien (16351639) teilgenommen. Seine als Quelle heute noch wichtige Reisebeschreibung enthält auch Mitteilungen über die herumziehenden „skom o r ö c h i " , die Komödianten und Puppenspieler, die er in einem Kupferstich verewigen ließ, deren recht freie Texte er aber „abscheul i c h " fand. Eine besondere Kostbarkeit des Buches sind die ihm beigegebenen Gedichte Flemings zum Lobpreis russ. Städte und Flüsse. Drei Sonette an die Stadt und den Fluß Moskau übersetzte 1755 der berühmte Dichter A. P. Sumarokov ins Russische. Michail P. A l e k s e e v , 2ur Geschichte russ.europ. Literaturtraditionen. Aufsätze aus vier Jahrzehnten (1974), enthält u. a. Die ,russ. Sprache' Oswalds v. Wolkenstein; Thoma Schrowe u. d. ,Russischbuch' von 1546; Ein dt. Dichter im Novgorod d. 17. Jh.s. — R. B r ä u e r , Die literar. dt.-russ. Beziehungen im MA. auf d. Gebiet d. Heldenepik. ZfSl. 18 (1973) 144-153. P. N. B e r k o v , Das „russ. Thema" in der mhd. Literatur. ZfSl. 21 (1976) S. 297-310. § 3. Die ungewöhnliche Erscheinung Zar P e t e r s I. fesselte in besonderem Maße die Aufmerksamkeit seiner dt. Zeitgenossen, zumal ihm schon 1690 nachgesagt worden war, ein „großer Liebhaber der teutschen Nation" zu sein. Bereits vor seinen militärischen Erfolgen, die den Aufstieg Rußlands zur europäischen Großmacht herbeiführten und von der Öffentlichkeit nach den zu erwartenden Auswirkungen begreiflicherweise nicht einheitlich positiv bewertet werden konnten, berichtete die dt. Publizistik in allen Einzelheiten über die Wendung Rußlands nach Westeuropa und die kulturellen Reformen des Zaren. G . W . L e i b n i z erkannte sofort, wie sehr durch Peters Kulturpolitik eine wissenschaftliche Rußlandarbeit gefördert werden könnte. In Denkschriften ab 1708 und in persönlichen Begegnungen mit dem Zaren legte er seine Pläne dar, darunter die Gründung einer Akademie der Wissenschaften. Mit Leibniz beginnt eine lange Periode fruchtbarer dt.-russ. wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Von dt. Seite sind an ihr ebenso die — zunächst von Leibniz präsidierte — Berliner Sozietät der Wissenschaften wie Professoren verschiedener Universitäten beteiligt, darunter Leibnizens

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Schüler Christian Wolff. In Marburg war von 1736 ab der Bauernsohn Michail L o m o n ö s o v (1711-1765), einer der genialsten Gelehrten des 18. Jh.s überhaupt, bedeutend als Natur-, als Sprachwissenschaftler und als Dichter, für mehrere Jahre sein Schüler. Partner der Zusammenarbeit auf russ. Seite waren vor allem die 1726 gegründete Petersburger Akademie der Wissenschaften und die 1755 gegründete Universität Moskau. Mitglieder der Akademie sind zunächst auf lange Zeit ausnahmslos Ausländer, besonders Deutsche. Erst 1745 werden V. K . Trediakovskij (17031768) und Lomonosov - als erste Russen überhaupt - zu Professoren ernannt. Ein Kreis mit vielfältigen und weitverzweigten Rußlandbeziehungen bestand in Halle um den pietist. Gegner Chr. Wolfis, August Hermann F r a n c k e . Mit Spener hatte er schon 1690 in Rußland ein weites Feld für die Mission gesehen und hatte sich von Leibniz und von Heinrich Wilhelm Ludolf (1655-1712) zur Entsendung von Mitarbeitern nach Rußland bestimmen lassen. Ludolf war der Verfasser der damals einzigen russ. (nicht kirchenslav.) Grammatik. Sie enthielt ein russ.-lat.-dt. Gesprächsbüchlein und gab in der Praefatio auch Hinweise auf russ. Autoren, darunter auf Werke des Mönches Simeon Pölockij, eines Barockdichters. Ludolf hielt in Halle den ersten Russischkurs ab, der später von den russ. Studenten des Collegium Orientale übernommen wurde. Er besorgte auch die zum Druck der Ubersetzung von Franckes Anfang der christlichen Lehre 1704 notwendigen kirchenslav. Lettern. Simeon Todörskij übersetzte in Halle die

Vier Bücher vom wahren Christentum von

Johann Arnd; als Erzbischof von Pskov war er an der ,Elisabethbibel' (1751) entscheidend beteiligt, mit der der Wunsch Franckes nach einer den Russen zugänglichen Bibel erfüllt wurde. Im Baltikum hatte sich der Schwede Nicolaus Olofson B e r g i u s als Superintendent von Narva ebenfalls aus Missionsgründen in einem Freundlichen Ansinnen an die Herrn

Liebhaber

der Rußischen Sprache, Historien

und Bücher. . . mit der Bitte um Angabe ihm unbekannter russ. Titel gewandt. E r promovierte 1704 in Upsala mit einer Exercitatio

Historico-Theologico

de statu Ecclesiae et

Religionis Moscoviticae (Lübeck 2. Aufl. 1709). E r gibt eine Zusammenstellung der da-

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Slavische Literaturen (russische Literatur)

maligen Rußlandlit. mit Kommentaren sowie eine Aufzählung der russ. Druckereien und eine Schilderung des russ. Schulwesens. Einer der ersten dt. Professoren in Rußland, Johann Peter K o h l , wurde in den wenigen Jahren seiner Tätigkeit dort als Professor für Kirchengeschichte und Lit. (1725-1727) zum besten Kenner slavischer Handschriften. Wie aus seiner Introductio in historiam et rem literariam Slavorum, imprimis sacram (Altona 1729) hervorgeht, in der er slav. Ubersetzungen der Bibel und der Schriften Ephraems des Syrers behandelt, muß er einen Katalog der Moskauer griech. und slav. Hss.bestände aufgestellt haben, der heute mitsamt seinem weiteren, dem Christianeum in Hamburg-Altona vermachten Nachlaß als verloren gelten muß. Unterstützung bei seinen Arbeiten hatte Kohl bei dem wichtigsten Hierarchen der russ. Kirche, einem nahen Mitarbeiter Peters, dem Erzbischof F e o f ä n P r o k o p ö v i c und seinem Kreis gefunden. Feofan war ein beachtlicher Literaturtheoretiker, ein bemerkenswerter Dichter und ein auch in Deutschland bekannter Rhetoriker. Seine Theologie zeigt die für einen Orthodoxen wohl größtmögliche Annäherung an den Protestantismus. Am berühmtesten wurden in Deutschland Rußlands Thränen (Hamburg, Berlin (?) 1726), Feofans Leichen- und Gedenkrede auf Peter I. zusammen mit einem kurzen, ebenfalls ihm zugeschriebenen Bericht über die letzten Tage Peters. Feofans Reden und polemische Schriften erschienen lat. noch nach seinem Tode in Breslau 1743 und 1744, seine theologischen Schriften in Königsberg 1773 und 1774.

hungen d. Zeitalters d. Aufklärung, in-,Studien zur Gesch. d. russ. Lit. d. 18. Jh.s, hg. v. Helmut Grasshoff u. Ulf Lehmann. Bd. 2 (1968), S. 9-23. T . A. B y k o v a , Zur Geschichte d. ersten dtschsprachigen Zeitung, d. Petersburger Akademie. Ebda. Bd. 4 (1970) S. 273-283. G . M ü h l p f o r d t , Lomonosov u. d. md. Aufklärung. Ebda. Bd. 2 (1968) S. 135-231. E. W i n t e r , Der Hallenser Pietist August Hermann Francke u. Rußland Ebda. Bd. 4 (1970). S. 233-243. G. v. R a u c h , Protestantisch-ostkirchliche Begegnung im baltischen Grenzraum zur Schwedenzeit. Archiv f. Reformationsgesch. 43 (1952) S. 187-212. Peter H a u p t m a n n , Die Katechismen d. russ.-orthodoxen Kirche. Entstehungsgesch. u. Lehrgehalt (1971; Kirche im Osten. Monogr. 9) S. 20-43. H . K u n s t m a n n , Johann Peter Kohls „Consultado de scnbenda bibliotheca slavonica". WdSl. 4 (1959) S. 208-222. Helmut G r a s s h o f f , Antioch Dmitrievic Kantemir u. Westeuropa. E. russ. Schriftsteller d. 18 Jh.s u. s. Beziehungen zur westeurop. Lit. u. Kunst (1966; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 35). Ernst E i c h l e r , Die slawistischen Studien des Joh. Leonh. Frisch. E. Beitr. z. Gesch. d. dt. Slawistik (1967; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 40). Robert S t u p p e r i c h , Die ProkopovicRenaisssance im Zeitalter Katharinas II. In: Commentationes linguisticae et philologicae Ernesto Dickenmann lustrum claudenti quintum decimum, hg. v. Friedrich Scholz (1977) S. 441457. Hildegard S c h r o e d e r , „Mußcow die Stadt". Ebda. S. 413-428. J . F. M a r t y n o v , Rüsskaja literatura i nauka v nemeckich zumalach épochi prosvescenija. WdSl 19/20 (1974/75). S. 80-97.

Kohl erwähnt bereits den jungen Fürsten Antioch K a n t e m i r (1709-1744) mit seinem ersten gedruckten Werk, einer alphabetisch angeordneten Konkordanz zum Psalter, und in den Niedersächsischen Nachrichten weist er 1731 auf Trediakovskijs wichtige Ubers, von Paul Tallemants preziösem Roman Voyage ä l'ile d'Amour (1663) hin, die als Ezdä v ¿strov Ljubvi 1730 mit originalen Gelegenheitsgedichten Trediakovskijs von den russ. Lesern begeistert aufgenommen wurde.

§ 4. Johann Christian G o t t s c h e d brachte als erster in seiner Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1751-1762) Nachrichten über die Entwicklung der russ. schönen Literatur. Er erhielt sie von seinem früheren Schüler Prof. Jacob Stählin und dem ständigen Sekretär der Akademie der Wissenschaften Gerhard Friedrich Müller aus Petersburg, von zwei neu an die Universität entsandten Schülern - Ch. G. Köllner und J. G. Reichel — aus Moskau. Berichtet wurde über K a n t e m i r , Aleksandr S u m a r ó k o v (17181 7 7 7 ) , L o m o n o s o v , die von Müller redigierte Zeitschrift Ezemésjacnye socinénija, die im wesentlichen als Organ des Sumarokov-Kreises anzusehen ist, und kurz über E lag in und Cheráskov.

Helmut G r a s s h o f f , Russ. Literatur in Deutschland im Zeitalter d. Aufklärung. Die Propagierung russ. Lit. im 18. Jh. durch dt. Schriftsteller u. Publizisten (1973). Ders., Stand u. Aufgaben der Erforschung der dt. -russ. Literaturbezie-

Gottscheds literar. Position eines starren Klassizismus war damals bereits überholt. Um so mehr mußte es ihn befriedigen, in einer jungen Lit. Werke in den für den Klassizismus bezeichnenden Gattungen Ode, Tragö-

Slavische Literaturen (russische Literatur) die, Satire und Fabel kennenzulernen, die seinen eigenen Anschauungen zu entsprechen schienen. Satyres du Prince Cantemir. Traduites du Russe en François, avec l'histoire de sa vie war die erste größere beiletrist. Veröffentlichung eines russ. Autors in Westeuropa. Der Freund des Verstorbenen, Octavien Gouasco, hatte sie 1749 und 1750 herausgegeben. Gottsched brachte eine Rezension des Werkes 1751 und übertrug, wie Grasshoff 1973 nachgewiesen hat, die 6. Satire selbst ins Deutsche. Er fand auch einen Ubersetzer für alle Satiren: Heinrich Eberhard Freyherm von Spilker, Königl. Preuss. Flügeladjutant und Oberstlieutnants [. . .] versuchte freye Übersetzung der Satiren des Prinzen Kantemir [. . .] mit einer Vorrede von C. Mylius erschien in Berlin 1752. Für die Verbreitung der russisch im Druck erst 1762 erschienenen Satiren spricht die Mitteilung Spilckers an Gottsched, er habe sich bei auftretenden Zweifeln auf den Rat von Freunden stützen können, die Abschriften des russ. Textes besaßen. Sumarokovs Tragödie Sinav i Truvor erhielt Gottsched in franz. Übersetzung (1751). Er zeigte sich in einer Besprechung überrascht, daß die Russen, „die der Kaiser erst zu Menschen zu machen anfing, [. . .] 25 Jahre nach seinem Tod schon fähig" waren, „eins der schwersten Stücke des menschlichen Witzes, nämlich ein Trauerspiel, zu erreichen." Gottsched stellte Sumarokov, der zum Ehrenmitglied der „Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig" gewählt wurde, dt. Autoren als Vorbild hin, weil er im Gegensatz zu ihnen Themen aus der nationalen Geschichte für seine Tragödien gewählt habe. Sumarokov gilt in der Geschichte der russ. Lit. als Hauptvertreter des Klassizismus. Außer der Kenntnis franz. Theoretiker ist bei ihm - nach H. B. Härder - auch die Bekanntschaft mit Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst (1729) anzunehmen. In Sinav i Truvor hatte Gottsched auch ein von seinen Anschauungen beeinflußtes Werk vor sich. Es befriedigte ihn so, daß er seinen Schüler Chr. G. Köllner zu einer Übersetzung veranlaßte und sie 1755 im 2. Teil der Sammlung einiger ausgesuchten Stücke der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig druckte. Daß Sumarokov für Gottsched Anlaß war, dt. Autoren zur Wahl nationaler Themen

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anzuhalten, verwundert. Schon früher hatte Gottscheds Schüler Johann Elias Schlegel für die Tragödie heimische Stoffe verlangt; sein Hermann (1743) war gerade in Leipzig aufgeführt worden und hatte Goethe u. a. zum Götz angeregt. Sumarokov selbst kann die Verwendung von Stoffen aus der Kiever Geschichte Feofans Schuldrama Vladimir (1705) abgesehen haben. Aber ebensogut kann ihn auch der Hermann dazu bewogen oder darin bestärkt haben, denn er kannte ihn seit seiner ersten Tragödie Chorev (1747). Als weiteres Werk Sumarokovs druckte Gottsched 1757 eine Ode („Was stellst du noch durch schlaue Blicke, Dich unverändert und getreu"), die bisher nur in dieser dt. Ubers, von dem Petersburger Osterwald bekannt ist. Sumarokovs Sechs äsopische Fabeln waren im Neuesten 1756 ohne Beispiele erwähnt worden. Die über 370 Fabeln, die Sumarokov erst seit 1755 veröffentlichte und für die er als erster russ. Fabeldichter auch einige Gellertsche Stoffe verwendete, sind seine originellste, bis auf den heutigen Tag bedeutende Leistung, für die er von ausländischen Rezensenten bald mehrfach neben Lafontaine gestellt worden war. Eine Auswahl von ihnen ließ A. L. Schlözer 1765 russ. und dt. in Petersburg veröffentlichen. Von Lomonosov werden in Gottscheds Zeitschrift bis auf umfangreiche Zitate aus der Lobrede auf Peter den Großen vom Jahre 1755 nur Titel genannt: 1759 seine Rhetorik (1748) und seine Russische Grammatik (1755), die die Ludolfsche ablöste, 1758 seine Ode auf den Geburtstag der Großfürstin Anna Petrovna zum 18. Dezember 1757, die wegen des Siebenjähr. Krieges eine aktuelle Bedeutung hatte. Ulf L e h m a n n , Der Gottschedkreis u. d. Moskauer u. Petersburger Aufklärung. In: Studien zur Gesch. d. russ. Lit. d. 18. Jh.s. Bd. 1 (1963) S. 86-95. Ders., Der Gottschedkreis u. Rußland. Dt.-russ. Literaturbeziehungen im Zeitalter d. Aufklärung (1966; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 38). H . G r a s s h o f f , Gottsched als Popularisator u. Übersetzer russ. Lit. ZfSl. 15 (1970) S. 189207. — Hans-Bernd H ä r d e r , Studien zur Gesch. d. russ.-klassizist. Tragödie 1747-1769 (1962; FAzSl. 6).

§ 5. Der erste Versuch eines Überblicks über die neue russ. Literatur erschien von russ. Seite 1768 von einem „hierdurch reisenden russischen Cavalier" unter dem Titel Nach-

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rieht von einigen russischen Schriftstellern, nebst einem kurzen Berichte vom russischen Theater in der von Chr. F. Weiße in Leipzig hg. Zeitschrift Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und derfreyen Künste. Der anonyme Autor, der sich besonders für das Theater interessierte und viele Stücke schon im Manuskript gekannt haben muß, ist ausgezeichnet informiert. Er nennt 42 Autoren — außer den älteren, bei Gottsched aufgeführten, die gesamte junge Generation, in der sich der Ubergang vom Klassizismus zur Empfindsamkeit vorbereitete. Seine knappen Charakteristiken deuten zutreffend die Entwicklungsrichtung an. Die Angaben der Nachricht wurden ein Jahr später ergänzt durch Jacob S t ä h l i n s Geschichte des Theaters in Rußland, die A. L. Schlözer im 1. Teil von Haigolds Beylagen zum Neuveränderten Rußland veröffentlichte, und durch einen Vortrag des Göttinger Studenten Magnus A l o p ä u s aus Wyborg über Nachrichten von der alten, mittleren und neuen Dichtkunst der Russen. Aus dem Russischen des Herrn W. T. Stählins Abriß beginnt beim Schuldrama in Kiev und Moskau und führt über das Theater zur Zeit Peters, die Gastspiele ausländischer Schauspieler und die russ. Liebhabertheater zur Gründung des Staatstheaters 1756 auf Initiative von A. P. Sumarokov. Alopäus' Vortrag beruht auf einem Traktat von V. Trediakovskij aus dem Jahre 1755 und bietet Angaben über die syllabische Verse schreibenden Autoren von Petr Mogila bis Kantemir und über die von Trediakovskij und Lomonosov durchgeführte Versreform. § 6. Die weitere Entwicklung der russ. Literatur des 18. Jh.s ist, wie wir heute sehen, in den nachstehenden Publikationen ohne große Lücken festgehalten worden: 1. Russische Bibliothek zur Kenntniß des gegenwärtigen Zustande; der Literatur in Rußland, hg. v. Hartwig Ludwig Christian Bacmeister, 11 Bde, Riga 1772-1789. 2. St. Petersburgisches Journal, hg. v. Johann Vollrath Bacmeister und C. G. Arndt, 1776-1780. 3. Heinrich Storch, Cemaehlde von St. Petersburg, Riga 1794; im 2. Teil die Uebersicht der merkwürdigsten Produkte russischer Schriftsteller. 4. Journal von Rußland, hg. v. Johann Heinrich Busse, 1793-1796. 5. Johann Gottfried R i c h t e r , Moskwa, Leipzig 1799.

6. Allgemeine Übersicht der Russischen Literatur seit den vier letzten Dezennien, besonders unter Katharina II., in: Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung, Berlin 1802-1803. Unter den in der Nachricht genannten Dichtern rückte im nächsten Jahrzehnt Michail C h e r ä s k o v (1733-1807) an die erste Stelle. Sein Werk weist Einflüsse der Empfindsamkeit auf, er schrieb auch, wie H. L. Chr. Bacmeister vermerkt, 1774 ein Rührstück. Er galt aber als der größte klassizistische Dichter neben Sumarokov, denn er hatte sich in allen typisch klassizistischen Gattungen bewährt, vor allem im Epos. Sein erster Versuch, die Schlacht bey Tschesme, ein Heldengedicht in fünf Gesängen, wurde mit seiner Rede über die russische Poesie dt. in Petersburg 1773 herausgebracht. Ein Jahr später erschienen in Deutschland zwei ganz gegensätzliche Besprechungen: Positiv in Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutschen Bibliothek mit Inhaltsangabe und Textauszügen und mit einem ausführlichen Bericht über die Rede; negativ — es sei keine Epopöe, sondern „bloße Zeitung" — in J . K. Dähnerts Neuen Critischen Nachrichten. Von Cheraskovs großem Epos auf die Einnahme des Tatarenreichs von Kazan' durch Ivan IV., die Rossiada, wurden noch im Erscheinungsjahr 1779 im St. Petersburgischen Journal Einleitung und Vorwort mit einer Inhaltsangabe abgedruckt. Eine Probe gab J. G . Richter mit dem 1. Gesang 1803. Cheräskov, einer der führenden russ. Freimaurer, verpachtete 1779 die Universitätsdruckerei an Nikoläj N o v i k ö v (1744-1818), u. a. Verfasser eines wichtigen Schriftstellerlexikons mit 317 Biographien (Opyt istoriceskogo Slovarjä o Rossijskich Pisäteljach, 1772) und Herausgeber von einflußreichen Zeitschriften. Novikov, selbst Freimaurer, gelang es mit Hilfe reicher Brüder bald, eine breite, für die Volksbildung und die schöne Lit. segensreiche Verlegertätigkeit zu entfalten. K a t h a r i n a II. betrachtete die Freimaurer, denen damals ein großer Teil der gebildeten Schicht Rußlands angehörte, nach dem Schrecken des Pugacevschen Aufstandes von 1773/1774 und nach der Unabhängigkeitserklärung der nordamerikan. Kolonien von 1776 - Washington und Franklin waren ebenfalls Freimaurer - wegen des aus Frankreich kommenden Radikalismus, der sich neben dem Mystizismus unter den russ. Freimau-

Slavische Literaturen (russische Literatur) rem breit zu machen schien, mit Mißtrauen. Sie denunzierte sie in drei Komödien der Jahre 1785 und 1786, die Nicolai als Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben 1788 publizierte, als Betrüger und stellte sie auf eine Stufe mit Abenteurern wie Cagliostro. Nach der Französischen Revolution griff sie zu staatlichen Machtmitteln: Noviköv wurde ohne richterliches Urteil für 15 Jahre auf die Festung Schlüsselburg verbracht; Aleksandr R a d i s c e v , der 1790 eine empfindsame, gegen den Absolutismus als Vernichter der ursprünglichen Freiheit der Menschen und besonders gegen die Leibeigenschaft gerichtete Reise von Petersburg nach Moskau geschrieben hatte, wurde zur Verbannung nach Sibirien begnadigt. Erst die Amnestie Pauls I. befreite beide. Die Verhaftung Radiscevs hatten die Greifswalder Neuesten Critischen Nachrichten schon 1790 gemeldet; die ersten sechs Kapitel der Reise erschienen anonym in der Halberstädter Deutschen Monatsschrift 1793. Im Gegensatz zu diesen heute vergessenen Komödien Katharinas beurteilte man das bis heute lebendig gebliebene Muttersöhnchen von Denis F o n v i z i n (1744-1792) im Kreise Nicolais negativ: Nedorosl' (1783, dt. Leipzig/Wien 1787) wurde von A. v. Knigge in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek als schlechte Farce abgetan. Zwei allegorische Kindermärchen Katharinas II., die ersten ihrer Art in Rußland, 1782 gedruckt, wurden von Nicolai in dt. Ubers, herausgebracht: Das Märchen vom Zarewitsch Chlor (1782) und Das Märchen vom Zarewitsch Fewei (1784). In der Gestalt der weisen Prinzessin Feliza (aus dem ersten Märchen) verherrlichte Gavrila D e r z a v i n (1743-1816) die Zarin in mehreren Gedichten. Sie wirkten sensationell, weil der Dichter in die panegyrische Ode ihr fremde satirische Elemente und ein sich selbst ironisierendes lyrisches Ich einführte und die für die Ode geforderte kirchenslav. Lexik mit „niederer", umgangssprachlicher verschmolz. A. v. K o t z e b u e , als Dramatiker in Rußland beliebt und nach Karamzins Meinung „einer der wahren Poeten Deutschlands", veröffentlichte die Feliza-Gedichte in Petersburg und Reval 1792; ein Jahr später erneut, ergänzt um weitere Werke Derzavins, darunter die mehrfach ins Dt. übersetzte Ode

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Gott, in Leipzig unter dem Titel Gedichte des Herrn Staatsraths von Derschawin. Trotz des angesehenen Nachdichters ist „der russ. Klopstock" jedoch in Deutschland zu keiner größeren Wirkung gelangt. G. A. G u k o v s k i j , Russkaja literatura v nemeckom iwrnale 18 veka. In: XVIII vek. Sbomik Bd. 3 (M. L. 1958) S. 379-415. Annelies L a u c h , Wissenschaft u. kulturelle Beziehungen in d. russ. Aufklärung. Zum Wirken H. L. Cb. Bacmeisters (1969: Veröff. d. Inst. f. Slawistik 51). Dies., H. L. Bacmeister u. die russ. Lit. ZfSl. 9 (1964) S. 371-399. A. N. Radiscev u. Deutschland. Beiträge zur russ. Lit. d. ausgehenden 18. Jh.s. Red. v. Eckard H e x e l s c h n e i d e r (1969; SBAkLeipz. 114, 1). W. Bernhagen, Das Studium d. russ. Sprache in Deutschland im 18. Jh. In: Studien z. Gesch. d. russ. Lit. d. 18. Jh.s Bd. 3 (1968) S. 231-242. Gerhard G i e s e mann, Kotzebue in Rußland. Materialien zu e. Wirkungsgeschichte (1971; FAzSl. 14).

§ 7. Eine breitere Wirkung ist erst Nikoláj K a r a m z í n (1766-1826) beschieden gewesen. Seine Reisebriefe und seine Erzählungen, vor allem von Johann Gottfried Richter ansprechend übersetzt, gelten von der Jh.wende ab zwei Jahrzehnte lang als Musterbeispiele moderner russ. Prosa. Und es entspricht dem eingangs gebrachten Zitat aus Karamzins (mit N . N . gezeichnetem) Aufsatz im Hamburger Spectateur von 1797, wenn die dt. Kritik zuweilen glaubt, ein franz. oder dt. Original, keine Ubers, aus dem Russischen, zu lesen. Auch Goethe notierte sich 1810, Karamzin habe in Rußland „die dt. Art zu schreiben" eingeführt. Gedanken J. G. Herders von einer auf historischem und nationalem Boden wie ein Organismus erwachsenden Nationalliteratur mit ihr eigentümlichen Problemen, Gattungen und Stoffen beeinflußten positive wie negative Äußerungen über Karamzin und wirkten in der allgemeinen Beurteilung der russ. Lit. und ihrer Dichter jahrzehntelang noch nach. Für die Rezeption der russ. Volksdichtung war das günstig: An ihrer Originalität war nicht zu zweifeln. In der russ. Kunstdichtung sah man dagegen nur Nachahmung westeuropäischer Vorbilder. Man übersah, daß sie inzwischen auch annähernd auf dem Stand der westeuropäischen Literaturen angelangt war und die gleichen Probleme hatte. Diesen europäischen Stand der russ. Lit. wollte Karamzin betonen, als er im Spectateur

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du Nord 1797 die westliche Welt auf das neuentdeckte Igorlied aufmerksam machte und es mit den schönsten Stücken aus Ossian verglich und als zeitgenöss. Werk seine Reisebriefe nannte. Diese Briefe eines reisenden Russen, dt. 1799-1802, berichteten über seine 1789 unternommene Reise nach Deutschland, der Schweiz, Frankreich und England. Auf seinem von J . M . R . L e n z empfohlenen Reisewege besuchte er in Deutschland Kant, Nicolai, Ramler, Moritz, Weiße, Platner, Wieland und Herder. Die so viel Vertrautes vermittelnden empfindsamen Briefe wurden ebenso gelesen wie die in Zeitschriften, Einzelausgaben und Anthologien verbreiteten, wehmütige Erinnerung an Vergangenes beschwörenden Erzählungen Karamzins, zumeist Liebesgeschichten mit - durch die Umstände, etwa Standesunterschiede, erzwungenem - unglücklichem Ausgang. Die literar. Qualitäten der in Riga 1820-1833 in dt. Übersetzung erschienenen Geschichte des russischen Reiches von Karamzin hielten die Erinnerung an den Schriftsteller auch eine Zeitlang wach. N. Preobrazenski, Frankfurt a.M. u. Deutschland in Karamzins , Briefe eines russ. Reisenden'. Festschr. f. Alfred Rammelmeyer (1975) S. 175-184. Hans Rothe, N.M. Karamzins europäische Reise: Der Beginn d. russ. Romans (1968; Baust, z. Gesch. d. Lit. bei d. Slaven. 1). G. Ziegengeist, Deutschland als Zentrum d. Vermittlung slow. Lit. in Europa im ausgehenden 18. u. frühen 19. Jh. ZfSl. 13 (1968) S. 467-478. S. G. Isakov, Materialy po russkoj literature i kul'ture na stranicach nemeckoj prihaltijskoj pecati nacala 19. v. Ucenye zapiski Tartusskogo Gos. univ., 184 vyp., Trudy po russkoj i slavjanskoj filologii, 9 Literaturovedenie (Tartu 1966) S. 142-202.

§ 8. Die Sympathien, die die Russen in Deutschland während der Freiheitskriege als Befreier und Verbündete gewonnen hatten, wichen bald einer immer allgemeiner werdenden Abneigung und der Furcht vor russ. Vorherrschaft in Europa. Heinrich Heine, der noch 1830 im 20. Kapitel der Reisebilder III in Zar Nikolaus I. wegen seines Eintretens für den Freiheitskampf der Griechen „den Gonfaloniere der Freiheit" und „den Ritter von Europa" sehen wollte, schrieb nach der rücksichtslosen Niederschlagung des poln. Aufstandes 1831 in der Einleitung zu Kahldorf über den Adel:

„Ist es mir doch, während ich dieses schreibe, als spritzte das Blut von Warschau bis auf mein Papier, [. . .] mir und uns allen ist so bang vor dem russischen Wolf, und ich fürchte, auch wir deutschen Rotköpfchen fühlen bald Großmutters närrisch lange Hände und großes Maul."

In dieser Stimmung von Abneigung und Furcht verbreitete sich P u s k i n s Gedicht An die Verleumder Rußlands (1831), gleich mehrfach ins Dt. übersetzt, sehr schnell. Er hatte es kurz vor der Einnahme Warschaus als Antwort auf die Aufforderung einiger franz. Abgeordneter zur aktiven Intervention zugunsten Polens geschrieben und suchte darin den poln. Kampf um die Freiheit als einen alten slav. Familienzwist, der keinen Dritten etwas angehe, zu bagatellisieren: Es gehe darum, ob alle slav. Bäche im russ. Meer zusammenflössen oder ob es austrockne. Zugleich erinnerte er an das Schicksal der Napoleonischen Armeen in Rußland. Verständlich, daß als einer der ersten ein Studienfreund Heines, Arnold S t e i n m a n n , in seinen Briefen aus Berlin (1832) den „Apologeten Rußlands" nach diesem „Meer" fragte: „Soll Rußlands Knutensklavenheer / Europa's Gau'n verheerend überschwemmen? / Soll keine Macht das große Riesenmeer / Und seine wilden Knechtschaftsfluten hemmen?"

Ein barbarisches, die Zivilisation bedrohendes Rußland suchte auch nach einer Rußlandreise der konservative Marquis de C u s t i n e in seinem Buch La Russie en 1839 den Europäern mit großem Erfolg zu suggerieren. Das Buch erlebte viele Auflagen, rief - auch wohl bestellte — Gegenschriften hervor. Ein differenzierteres Bild von Rußland und seiner nunmehr keineswegs mehr homogenen Gesellschaft hätte man aus dem franz. und dt. 1847 erschienenen Buch des im Exil lebenden Dekabristen Nikolas T u r g e n i e f f Rußland und die Russen gewinnen können, doch wurde es von den Ereignissen von 1848, in denen sich das Zarenreich als „Gendarm Europas" erwies, überholt. Eberhard Reißner, Deutschland «. d. russ. Lit. 1800-1848 (1970; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 50). Ders., Zur Rezeption d. russ. Romantik im zeitgenöss. Deutschland. ZfSl. 20 (1975) S. 34-41. R. Lauer, Die Beziehungen d. Göttinger Univ. zu Rußland. Göttinger Jahrbuch 21 (1973) S. 219-241. Ders., Andrej Sergeevic

Slavische Literaturen (russische Literatur) Kajsarov in Göttingen. Zu d. russ. Beziehungen d. Univ. Göttingen am Anfang d. 19. Jh.s. Göttinger Jahrbuch 21 (1971) S. 131-149. § 9. Das in den Jahrzehnten nach den Freiheitskriegen gestiegene Interesse an Nachrichten über Rußland nutzte auch der russ. Literatur, weil man sie als Quelle und als Zeuge für Rußlands geistiges Leben heranzog. Neue Zeitschriften, auch allgemeinerer Art, brachten Lit.Übersichten, Rezensionen oder Werkproben, Anthologien vermittelten neben den bekannten neue Dichter. Uber das damals im Baltikum in dt. Sprache zur russ. Lit. und Kultur in der Presse veröffentlichte Schrifttum hat S. G. Isakov 1966 eine Ubersicht gebracht. Die in Deutschland erscheinenden, die russ. Lit. berücksichtigenden Periodika wie das Morgenblatt für gebildete Stände mit dem Literaturblatt, die Blätter für literarische Unterhaltung, das Ausland mit den Blättern zur Kunde der Literatur des Auslandes, Europa, Freihafen, Grenzboten usw. bis hin zu den Jahrbüchern für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft - hat E. Reißner 1970 behandelt und dort auch ein wichtiges Verzeichnis der zwischen 1800 und 1850 aus dem Russischen ins Dt. übersetzten literar. Werke zusammengestellt. Von den bei Reißner aufgeführten Anthologien sind drei für die Bekanntschaft mit der russ. Volksdichtung, drei weitere hauptsächlich für die Kenntnis der Lyrik der Empfindsamkeit und der Romantik von Bedeutung gewesen. Georg v. D o p p e l m a i r veröffentlichte in Leipzig 1803 Russische Volkslieder für eine Singstimme mit Ciavierbegleitung; eine gekürzte Ausgabe folgte 1813. Erst sie hatte nach E. Hexelschneider 1967 - in den Jahren einer näheren Bekanntschaft mit den Russen Erfolg. Am erfolgreichsten wurde allerdings Christoph August T i e dg es 1809 veröffentlichtes Lied Der Kosak und sein Mädchen („Schöne Minka, ich muß scheiden"), eine freie Nachdichtung eines sehr verbreiteten ukrain. Liedes, die, wie Hoffmann von Fallersleben und Willibald Alexis u. a. bezeugen, zur Zeit der Freiheitskriege besonders populär gewesen ist. Theodor K ö r n e r hat sein Russisches Lied und auch sein Wiegenlied nach der Weise der „schönen Minka" gedichtet. Sonst ist das „russische Thema" bei ihm mit dem Sonett

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Moskau vertreten, einer Huldigung an Moskau anläßlich des berühmten Brandes, die man in der Tradition der Flemingschen Sonette an die russ. Hauptstadt sehen möchte. Auch das Körnersche Sonett wurde ins Russische übertragen - 1843 von dem großen Lyriker A. A. Fet. Peter Otto v. G o e t z e s Stimmen des russischen Volkes in Liedern, Stuttgart 1828, Teilvorabdruck 1823 und 1827, ist - nach Hexelschneider - „das erste Werk über russische Folklore in dt. Sprache von wissenschaftlichem Wert". Goetze nahm alle Gattungen des Volksliedes auf, von den Liebes- und Brauchtumsliedern bis zu den Räuberliedern, weil er ein vollständiges Bild des russ. „Volkscharakters" geben wollte. Karl Heinrich v. B u s s e legte mit Fürst Wladimir und dessen Tafelrunde. Altrussische Heldenlieder (Leipzig 1819, anonym) die erste Bylinensammlung vor. Leider stützte er sich dabei nicht nur auf Kirsa Danilov (Moskau 1804, 1818), die ersten authentischen Aufzeichnungen der mündlich tradierten Bylinen, sondern auch auf die Russischen Märchen (1780 u. 1783) von V. A. Levsin, der Bylinen nach dem Muster von Ritterromanen bearbeitet hatte. Stoffe aus Ritterromanen, nicht nur Volksmärchen, enthalten auch die von Anton D i e t r i c h in Leipzig 1831 hg. Russischen Volksmärchen. Sie wurden, möglicherweise auch wegen des Vorworts von J . Grimm, sehr positiv aufgenommen. A. v. C h a m i s s o entnahm ihnen den Stoff zu seinem Urteil des Schemjdka. Der Volksdichtung wurde von der Zeit auch das Igorlied zugerechnet. Die erste Ubersetzung - aus dem Neurussischen - veröffentlichte schon 1803 J . G. R i c h t e r in seinen Russischen Miszellen. Dann legte der von dem berühmten Slavisten Dobrovsky geschulte Joseph M ü l l e r 1811 eine Ubers, aus dem Altrussischen vor: Heldengesang vom Zuge gegen die Polowzer, des Fürsten vom sewerischen Nowgorod Igor Swätslawlitsch .... W. Grimm hat sie in den Heidelbergischen Jahrbüchern der Litteratur 1812, Bd. 2, anerkennend besprochen und das Igorlied als „ein Stück reiner lebendiger Nationaldichtung" mit einfachen und in sich vollkommenen Formen bezeichnet. Wichtige spätere Übertragungen fertigten W. Wolfsohn 1843 und A. Boltz 1854 an.

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Von den Lyrik-Anthologien war am erfolgreichsten John B o w r i n g , Specimens of the Russian Poets with preliminary remarks and biographical notices (London 1821), obwohl gerade die zeitgenössische Lyrik darin schwach vertreten war. Immerhin lernte Goethe aus dieser Anthologie die Gedichte von Zukövskij kennen. Karl Friedrich v. d. B o r g s Sammlung Poetische Erzeugnisse der Russen (Riga und Dorpat 1821, 1823) ist die erste dt.sprachige Anthologie zur russ. Dichtung. Sie ist wesentlich umfangreicher als die Bowringsche: 32 Dichter (gegenüber nur 13) sind vertreten. Der Nachdruck - und das ist vielleicht der Fehler - liegt noch auf der Empfindsamkeit, auf Karamzin und auf dem sonst in Deutschland nicht bekannten Dmitriev. Doch sind auch Klassizismus und die Romantik vertreten. Neben 2ukovskij erscheint zum ersten Male A. S. Puskin. Die Biographischen und literarhistorischen Notizen über die Verfasser sind nach der damals eben erschienenen russ. Literaturgeschichte, N. I. Grecs Versuch einer kurzen Geschichte der russischen Literatur (Petersburg 1822), gearbeitet. K. F. v. d. Borg hatte in seine Anthologie auch zehn Fabeln von dem berühmtesten russ. Fabeldichter, von Ivan K r y l ö v (17691844), aufgenommen. Der Versuch von Ferdinand Torney, den dt. Lesern Iwan Krylow's Fabeln in acht Bänden (Mitau 1842) nahezubringen, scheiterte an sprachlichen Unzulänglichkeiten. Der verdienstvollen Arbeit v. d. Borgs billigte die Kritik im wesentlichen nur informativen und literarhistor. Wert zu. Sonst fühlte sie sich in der Ansicht bestärkt, daß es der russ. Lit. noch an Originalität mangele. Ausschließlich Dichtung der russ. Romantik bringt zehn Jahre später Das Nordlicht. Proben der neueren russischen Literatur (Dresden/Leipzig 1833). Die Übersetzerin ist Karoline J a e n i s c h (Karolina Pävlova, 18071893), selbst eine bedeutende Dichterin. Ihre Publikation enthält Gedichte Puskins, Bruchstücke aus seinen Zigeunern und die 2. Szene aus Boris Godunöv (Nacht. Zelle im Kloster Cudov), sowie Gedichte seiner Zeitgenossen und Freunde Zukövskij, Baratynskij, Venevitinov, Jazykov, Del'vig, Sömov und acht eigene Gedichte, darunter ein Sonett an A. v. Humboldt, der sie zur Übersetzung angeregt hatte.

Die dt. Kritik zum Nordlicht war zustimmend; die Blätter für literarische Unterhaltung bezeichneten sogar Puskin neben Mickiewicz als einen der größten Dichter Europas. Aber wenige Jahre später ist das Nordlicht vergessen. Erhard H e x e l s c h n e i d e r , Die dt. Befreiungskriege u. ihr Einfluß auf d. Verbreitung russ. Volksdichtung in Deutschland. ZfSl. 8 (1963) S. 676-688. Ders., Die russ. Volksdichtung in Deutschland bis zur Mitte d. 19. Jh.s (1967; Veröff. d. Inst. f. Slawistik. 39). F. W. N e u m a n n , Die älteste dt. Bylinen-Nachdichtung. WdSl. 9 (1964) S. 39-52.

§ 10'. Wichtige Vermittler von Informationen über die russ. Lit. sind die Schriftsteller und Dichter unter den seit Karamzin immer zahlreicher werdenden russ. Deutschlandreisenden. Ein gutes Beispiel dafür sind die russ. B e s u c h e r G o e t h e s : K. Bätjuskov (1813), N. Grec (1817), W. Küchelbecker (1820), V. Zukövskij (1821, 1827), Fürst Elim Mescerskij (1825), Aleksandr Turgenev (1826), N. Rozälin (1828), S. Sevyrev (1829), A. Koselev (1831). Der bedeutendste Dichter unter ihnen ist zweifellos der empfindsam-romantische Vasilij Z u k ö v s k i j (1783-1852). Er hat u.a. durch glänzende, bis auf den heutigen Tag als maßgebend angesehene und als Originale empfundene Ubersetzungen die dt. Dichtung in der russ. Lit. heimisch gemacht. Deutschland besuchte er zuerst in der Suite des Thronfolgerpaares 1821; 1841 ließ er sich hier für immer nieder. Goethe bezeichnete Zukövskij als einen schnell entwickelten neuen Freund und äußerte sich anerkennend über seine „zarten Gedichte", wenn er auch fand, daß Zukövskij „mehr aufs Objekt" hätte hingewiesen werden müssen. Das Morgenblatt für gebildete Stände hatte bereits 1822 seine Biographie mit einer im ganzen erstaunlich zutreffenden Charakteristik gebracht, aber insgesamt gesehen ist das Interesse für seine Kunst in Deutschland nicht groß gewesen. Aufsehen erregte sein - in dt. Zeitschriften mehrfach veröffentlichter - Brief an den Vater A. S. Puskins über die letzten Stunden seines Sohnes. An Zukövskij, den Dichtungen in der Anthologie von Bowring und an der ihm in dt. Übersetzung 1828 zugegangenen Besprechung seines Helena-Fragments durch den Kritiker,

Slavische Literaturen (russische Literatur) Dichter und späteren Professor für russ. Lit. Stepân Sevyrëv fand Goethe „Anzeichen hoher Kultur". Sein Dankesbrief an Sevyrëvs Übersetzer Nikolaus Borchardt erfreute den für dt. Dichtung und idealistische Philosophie begeisterten Teil der russ. Jugend und wurde - zur Zufriedenheit Puskins - in ihrem Organ, dem Moskauer Boten, abgedruckt. Die von Goethe gleichzeitig vorgebrachte Mahnung, sich nach den weisen wohlwollenden Absichten des Monarchen zu richten und sein späteres Schweigen zum poln. Aufstand 1830/ 31 erklären sich aus polit. Rücksichtnahme: Die Sachsen-Weimarer Großherzogin Marija Pavlovna war ja eine Schwester des Zaren. Aber die liberale russ. Jugend hat ihm beides verübelt, die Mahnung wie das Schweigen. Die ersten Nachrichten über Puskin wird Goethe wohl 1827 von Zukovskij erhalten haben. Mescerskijs Abriß De la littérature russe in der Revue de Provence las Goethe noch im Erscheinungsjahr 1830. Ihm konnte er Genaueres über Puskin und die Auseinandersetzungen zwischen den „Klassikern" und den „Romantikem", denen sich Mescerskij zurechnete, entnehmen. In dt. Zeitschriften wurde ab 1824 ziemlich regelmäßig über Puskin berichtet. Allerdings wurde zu seinen Lebzeiten nicht sein gesamtes Werk erfaßt. Die Betonung lag zunächst auf den Verserzählungen, dem Boris Godunov und dem „Roman in Versen" Eugen Onégin. Die Lyrik war sehr lückenhaft bekannt; die „freiheitsliebenden" Gedichte fehlten vollkommen. An den Ubersetzungen waren zuerst sehr stark Deutschrussen beteiligt: Alexander Wulffert übertrug in Petersburg 1824 den Berggefangenen (Kavkâzskij plénnik 1820/ 21), 1826 den Trauerquell (Bachcisarâjskij fontân 1823), Karl v. Knorring veröffentlichte in seinem Almanach Russische Bibliothek für Deutsche (Reval 1831) in Heft 2 den ganzen Boris Godunov (und in Heft 3 Verstand schafft Leiden von A. S. Griboédov unter dem Titel Leiden durch Bildung). K. F. v. d. Borg und C. Jaenisch sind bereits erwähnt worden. Deutschrussen wußten auch in Korrespondenzberichten die außergewöhnliche Bedeutung Puskins verständlich zu machen. Nikolas Borchardt machte sofort nach dem Vorabdruck der Szene Nacht. Zelle im Kloster Cudov aus dem Boris Godunov im Moskauer

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Boten 1827 die Leser des Morgenblatts für die gebildeten Stände auf diese Neuerscheinung aufmerksam und berichtete im Literaturblatt begeistert über die Buchausgabe der Zigeuner. L. v. Budberg sprach im Morgenblatt 1826 von dem „von seinen Landsleuten leidenschaftlich geliebten" und im Literaturblatt sogar von dem „mit Recht abgöttisch verehrten" Puskin. Budberg war es auch, der ihn „den russ. Byron" nannte, was im Hinblick auf die Verserzählungen möglich erschien. Dieser in der damaligen russ. Kritik überhaupt gängige, ehrenvolle Vergleich wurde aber bald negativ auf Puskin angewandt und durch Jahrzehnte in der dt. Kritik beibehalten. Zuerst brachte ihn das Magazin für die Literatur des Auslandes in einem 1832 aus der Foreign Quaterly Review übernommenen Bericht mit Ausstellungen, die an die Puskin feindlichen russ. Kritiken erinnern. Solche Kritik fand im gleichen Magazin unmittelbar Ausdruck in den Literaturübersichten von Bulgarin (1834, 1836) und Grec (1835). Der Pole Faddéj B u l g a r i n (1787-1859), ein persönlicher Feind Puskins, und Nikolaj G r e c (1787-1867) galten in Rußland als mit der Geheimpolizei verbundene käufliche Journalisten. Sie waren einflußreich durch die seit 1825 von Bulgarin allein, ab 1831 gemeinsam mit Grec herausgegebene polit.-literar. Zeitung Die nordische Biene (Sévemaja pcela). Grec war außerdem von 1834-1836 noch mit dem Polen Osip Senkóvskij (Baron Brambeus, 1800-1858) Herausgeber der ersten literarischen Monatsschrift Rußlands, der Lesebibliothek (Bibliotéka dlja cténija). Materialien aus beiden Publikationen wurden in Deutschland gern aufgenommen. Das Magazin hielt noch nach 1840 trotz dem in den dt. Zeitschriften ausgetragenen Streit um Bulgarin und Grec zu beiden. Beide waren keine unbegabten Schriftsteller. Sie machten ihr Glück mit „sittenbeschreibenden" Abenteuerromanen aus dem russ. Leben. Einen ganz ungewöhnlichen, wenn auch sehr kurzlebigen Erfolg hatte Bulgarins Ivan Vyzigin (1829, dt. 1830). Bulgarin ist der erste russ. Schriftsteller, dessen Werke in 4 Bänden in Petersburg 1828 in dt. Sprache herauskamen. Der Ubersetzer war ein Freund des Autors, der Zensor A. Oldekop. Vielleicht ist er auch der Verfasser des BrockhausArtikels von 1836, in dem Bulgarin „der ausgezeichnetste unter den lebenden Schrift-

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stellern Rußlands", Puskin dagegen nur „ein vielversprechender Dichter" genannt wurde. Bulgarin, der sich auch in histor. Erzählungen versucht hatte, war bestrebt, an der allgemeinen Mode der histor. Romane ab 1830, allerdings erfolglos, teilzunehmen. Übersetzt wurden u. a. Zagöskin, Lazecnikov, Polevöj und Bestüzev-Marlinskij. Weitere Kreise machte erst der tragische Tod Puskins im Duell 1837 auf ihn aufmerksam. A. Turgenev berichtet, er habe auf seiner Reise 1837 in Deutschland kaum einen anständigen Menschen getroffen, der ihn nicht nach Puskin gefragt und ihn beklagt hätte. Nikolaj Mel'gunöv schrieb an seinen Freund Sevyrev, der Tod Puskins habe die franz. und dt. Zeitungen zwei oder drei Wochen beschäftigt. Dt. liberale Kreise verstanden den Tod des Dichters als „Politisch-sociales Ereigniß, das in barbarischen Zuständen seine Erklärung findet." Ulf L e h m a n n , Z« den Rußlandbeziebungen d. klassischen Weimar. In: Studien zur Gesch. d. russ. Lit. d. 18. Jh.s. Bd. 3 (1969) S. 426-442. Dietrich G e r h a r d t , Aus dt. Erinnerungen an Zukövskij. Orbis Scriptus. Dmitrij Tschizewskij zum 70. Geb. (1966) S. 245-313. Ders., Vergangene Gegenwärtigkeiten (1966).

§ 11. In der neu belebten Diskussion um Puskin erregten die Literarischen Bilder aus Rußland (Stuttgart 1837) von dem bekannten, liberal gesinnten Autor histor. Romane und Novellen Heinrich K ö n i g (1790-1869), ein großes Aufsehen. Der Anreger - und weitgehend auch der eigentliche Verfasser - des Buches ist Nikolaj Aleksändrovic M e l ' g u n ö v (1804-1867), mit dem König 1835 bekannt geworden war. Dieser Schriftsteller und Journalist, Mitglied des ehemaligen Kreises der „Weisheitsfreunde", der Anhänger der dt. Philosophie um den Moskauer Boten (Moskövskij Vestnik, 1827 bis 1830), war dadurch mit späteren Slavophilen, anderseits aber auch mit Alexander Herzen und seinem Kreis verbunden und suchte einen Ausgleich zwischen den beiden Gruppen herbeizuführen. Mel'gunöv sieht die Idee sowohl für die historisch-kulturelle Entwicklung des russ. Volkes als auch für die Entwicklung seiner Lit. in einem dem Volkscharakter verwandten Eklektizismus: „Jedes fremdeindringende Element fand in der Nation einen wahlver-

wandten Keim, mit dem es sich verband"; „Das Eklektische knäult sich nicht zusammen, sondern organisiert sich, da es eine Wurzel im Volke findet, zu etwas Selbständigem". In der Lit. entwickeln sich die einzelnen Gattungen zunächst in Nachahmung ausländischer Vorbilder; danach erfolgt die nationale Ausprägung. Durch seine Orientierung auf das Volkstümliche, und zwar nicht allein auf die Sprache, „sondern mit allem, was zum poetischen Element eines Volkes gehört", ist Puskin ein nationaler Dichter und der (vorläufige) Höhepunkt der russ. Literatur. Mit der hohen Wertung Puskins und der Slavophilen, besonders Sevyrevs, war eine außerordentlich ungünstige Beurteilung von Bulgarin und Grec verbunden. In Deutschland kam es zu einer gewaltigen, drei Jahre andauernden Polemik um das Buch, in die auch Bulgarin und Grec in gröbster Form eingriffen. Aber Königs Literarische Bilder gewannen V a r n h a g e n v o n E n s e , der 1836 die Bekanntschaft Mel'gunovs machte, für die russ. Literatur. Mit 52 Jahren lernte er Russisch, konnte ein Jahr später Puskin lesen und erlangte durch seine Rezension der ersten drei Bände der postumen Puskin-Ausgabe in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik 1848 den Ruf einer Kapazität auf dem Gebiet der russ. Literatur. Varnhagen sah Rußland als einen Teil Europas und stellte Puskin nicht nur in nationale Bindungen, sondern sah ihn auch im Verhältnis zum allgemeinen Weltfortschritt seiner Zeit und fragte nach dem allgemeingültigen Gehalt russ. Dichtungen. Varnhagen wurde in Rußland bald bekannt (und nachgedruckt); sein russ. Bekanntenkreis war bedeutend: der Berliner Kreis um Stankevic (Bakünin, Granövskij, I. S. Turgenev, das Ehepaar Frölov), Tjütcev, Fürst Vjäzemskij, Fürst Odöjevskij, Zukövskij, Marija Pavlovna, Karoline Pavlova-Jaenisch. Varnhagen übersetzte selbst aus dem Russischen (Bela von Lermontov 1841, Die Sylphide von V. Odoevskij 1839), nahm lebhaften Anteil an den Ubersetzungen W. Wolfsohns und F. Bodenstedts und wirkte als Anreger auf seinen Jugendfreund Chamisso. Nach einer wörtlichen Ubersetzung Varnhagens hat Chamisso „Ein russ. Lied von Puschkin" (Die beiden Raben) 1839 übersetzt. Seine Dichtung Die Verbannten, 1. Woinarowski, 2. Bestujeff (1832), geht im 1. Teil auf die gleichnamige Dichtung des Deka-

Slavische Literaturen (russische Literatur) bristen Ryleev zurück, die der Chamisso befreundete Naturforscher G . A. Erman in Sibirien von Bestüzev erhalten hatte. Der 2. Teil beruht auf dem Bericht Ermans. Im Jahre 1840 erschien die Geschichte des Pugatschew'sehen Aufruhrs von Puskin in der Ubersetzung von H . B r a n d e i s . Sie regte G u t z k o w zu seinem Drama Pugatscheff (1844) an. Im gleichen Jahr veröffentlichten T r ö b s t und S a b i n i n ein 1. Bändchen von Alexander Puschkins Novellen-, das 2. Bändchen folgte, ebenfalls mit Druckort Jena, 1848: Das ist die erste dt. Sammlung Puskinscher Prosa überhaupt. Am meisten Beifall fand aber im In- und Auslande die Verdeutschung Puskins durch Robert L i p p e r t : Alexander Puschkins Dichtungen (2 Bände, Leipzig 1840). N u r Wolfsohn fand die Wiedergabe zu weitschweifig, und Friedrich B o d e n s t e d t kritisierte sie, als er, damals schon berühmt durch Die Lieder des Mirza-Schaffy (Berlin 1851), und anerkannter Übersetzer

von Michail Lermontoffs Poetischem Nachlaß

(Berlin 1852) sich an die Übertragung Puskins machte. Seine Ausgabe (A. S. Puschkin. Poetische Werke, 3 Bände, Berlin 1854/55) ist für lange Zeit maßgebend geworden. Dabei bot auch er nicht den vollständigen Puskin: H . Raab hat 1964 gezeigt, daß Bodenstedt die von der russ. Zensur verbotenen Texte zwar von A . Herzen aus London zugeschickt erhalten hatte, sie aber bewußt nicht aufgenommen hat. Selbst die eigene Ubers, der Ode

Die Freiheit (Völ'nost', 1817) in den Grenz-

boten 1850 berücksichtigte er nicht. Die Vorund Nachworte zu Bodenstedts Ausgaben sind unselbständig. Er hat - auch Widers p r ü c h l i c h e s - u . a. aus Sevyrev, Herzen, Grec, Zukövskij, Wolfsohn kompiliert. Dennoch gewann er den Ruf einer Kapazität auf slavist. Gebiet und wurde 1854 nach München berufen. F ü r die Einbürgerung der russ. Lit. in Deutschland hat Bodenstedt viel getan. Er übersetzte nicht nur Puskin und Lermontov, sondern auch Werke von Derzavin, Karamzin, Dmitriev, Davydov, Bätjuskov, Krylöv, Zukövskij, Kozlöv, Vjäzemskij, Del'vig, Polezäev, Tjütcev, Zagöskin, Fet, Turgenev, Nadsön. Mit sehr vielen Persönlichkeiten aus der literar. Welt Rußlands - und aus verschiedenen polit. und weltanschaulichen Lagern war er bekannt und in der russ. Öffentlichkeit auch geschätzt.

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Harald R a a b , Die Lyrik Puskins in Deutschland, 1820-1870 (1964; Veröff. d. Inst, für Slawistik 33). Ders., Wege u. Irrwege d. dt. Puskinrezeption im 20. Jh. ZfSl. 8 (1963) S. 309329. J. D. L e v i n u. Ju. L o t m a n , Vosprijatie liriki Puskina v Germanii Russkaja literatura 9 (1966) S. 250-253. Vasilij Ivanovic K u l e s o v , Literatumye svjazi Rossii i Zapadnoj Evropy v 19 veke pervaja polovina (M. 1965). Rostislav Ju. D a n i l e v s k i j , „Molodaja Germanija" i russkaja literatura (L. 1969). Ders., Novefsie trudy po istorii russko-nemeckich literaturnych svjazej. Russkaja literatura 14 (1971) S. 203-208. Ders., Russkaja tema v nemeckoj literature pervoj poloviny 19 V. In: Vosprijatie russkoj kul'tury na Zapade. Ocerki (L. 1975) S. 86-107. Gerhard Z i e g e n g e i s t , N. J. Borchardt u. Vamhagen von Ense. ZfSl. 8 (1963) S. 9-25. K. D. Seem a n n , Adelbert v. Chamissos Beziehungen zur russ. Literatur. ZfslPh 31 (1963) S. 97-123. D. í y z e v s k y j , Zu d. Übersetzungen Friedrich Bodenstedts. ZfslPh. 19 (1947) S. 368-371. H. R a p p i c h , Friedrich Bodenstedts literar. Beziehungen zu Rußland. ZfSl. 8 (1963) S. 582-594. Ders., F. Bodenstedt u. der „Sovremennik". ZfSl. 9 (1964) S. 274-277.

§ 12. Michail L é r m o n t o v (1814-1841) wurde in Deutschland 1840 durch Mel'gunov in dem Bericht über Die russ. Literatur und

ihre gegenwärtigen Richtungen in den Blättern für literarische Unterhaltung bekannt gemacht. E r machte auf Lermontovs Prosa (Ein

Held unserer Zeit), die Verserzählung (Lied vom . . . Kaufmann Kalaschnikow) und die Lyrik aufmerksam und betonte die objektive und aus der Fülle der Anschauung erfolgende Zeichnung von Charakteren, Begebenheiten und Ortsbeschreibungen. Mel'gunov regte auch Varnhagen zur Ubersetzung der Novelle Bela an, bei der Varnhagen ein Freund Lermontovs, Boris von Uexküll, behilflich war. Dieser hatte seinen Landsmann Roman v. B u d b e r g - B e n n i n g h a u s e n (1816-1858) mit Erfolg auf den russ. Dichter hingewiesen: Budberg veröffentlichte in seinen Ersten Liedern (Berlin 1842) drei Ubersetzungen von Gedichten Lermontovs und im gleichen Jahr unter dem Titel Der Novize die Verserzählung Mcyri (1840). Trotz freundlicher Kritik hatte sie bei den Lesern keinen Erfolg. Von der Prosa Lermontovs übersetzte Budberg

nur das Tagebuch Pecorins aus dem Helden

unserer Zeit, änderte aber die Reihenfolge der Erzählungen: Aus dem Kaukasus. Nach Lermontoffschen Skizzen (Berlin 1843) enthält

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Taman, Der Fatalist und zum Schluß Fürstin Mary. Unter dem Vereinsnamen „Puschkin" hatte Budberg auch 1842 und 1843 im „Tunnel über der Spree" über Lermontovs Werk berichtet. — August M e t t l e r k a m p (18101859), Deutsch-Lektor in Char'kov, u. a. mit Gutzkow und Hebbel bekannt, veröffentlichte in Gutzkows Telegraph für Deutschland 1841, dann in der eigenen Gedichtsammlung Liederschwalben (Braunschweig 1846) vier Übertragungen Lermontovscher Gedichte. In den Originalien aus dem Gebiet der Wahrheit, Kunst, Laune und Phantasie brachte er 1841/ 1842 Stücke aus dem Helden unserer Zeit unter. — Vollständig erschien Lermontovs Roman, wenn auch im Vorwort mit Änderungen, anonym in Frankfurt a. M. 1845: Petschorin oder Ein Duell im Kaukasus. Aus den hinterlassenen Papieren eines russischen Offiziers, herausgegeben von Lermontow. Das Buch mißfiel der Kritik — in Menzels Literaturblatt 1845 und in den Blättern für literarische Unterhaltung 1846 — wegen des „längst totgeglaubten" Byronistischen Helden. Unter dem richtigen Titel erschien der Roman erst 1852 in der Übersetzung von A. Boltz. Entscheidend für die Rezeption des Romans und des Dichters wurde die erwähnte Ausgabe seiner Werke von Bodenstedt. R. G r e g o r , Friedrich Bodenstedts Beitrag zum dt. Lermontovbild im 19. Jh. ZfSl. 14 (1969) S. 224-232. H. J. zum W i n k e l , Fürst P. A. Vjazemskij u. August Konstantin Boltz. ZfslPh. 30 (1962) S. 124-127. Ders., Die Briefe russ. Dichter u. Journalisten an Berthold Auerbach. ZfslPh. 31 (1963) S. 123-142.

§ 13. Die erste ausführliche Information über Nikolaj G o g o l ' (1809-1852) brachten die Blätter für literarische Unterhaltung schon Ende 1836 aus Anlaß der Petersburger Erstaufführung des Revisors. Der Korrespondent verstand die Komödie allzu vordergründig als eine zuweilen stark und unangemessen übertreibende Satire gegen die (nicht geleugnete) Bestechlichkeit der Beamten, fand jedoch in ihr „treffliche Szenen, welche mit großem Genie dem wirklichen Leben entnommen sind", und betonte den großen Beifall des Zaren, mit dessen Hilfe das Stück überhaupt erst habe aufgeführt werden können. Die gleiche Zeitschrift wies noch im gleichen Jahr auf die frühe Prosa — die Abende auf dem Vorwerk bei Dikan'ka und Mirgorod — hin.

Die eingehende Würdigung Gogol's in Königs Literarischen Bildern zog ihn in die Auseinandersetzung um dieses Buch. N. Ivanov, ein Parteigänger Bulgarins, polemisierte im Beitrag Russische Literatur in Staats- und Gelehrte Zeitung des hamburgischen unpartheyischen Correspondenten (Oktober 1838) gegen König und Mel'gunov und schrieb dabei Gogol' nur einige karikierende Erzählungen und schlechte russ. Sprache zu. Mel'gunovs Antwort in den Blättern für literarische Unterhaltung vom Juni 1840 charakterisierte Gogol' als „einen der Bedeutendsten in der russ. Literatur" und erwähnte bereits Die ausgestorbenen (= toten) Seelen, die alle Teile Rußlands und alle Klassen seiner Gesellschaft erfaßten und sah im Revisor eine dramatische Satire, die oft ans Tragische streife. Varnhagen bezeichnete Gogol' im Bericht über Neueste russ. Literatur im Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rußland 1841 als genial, nach keinem Vorbild zu bemessen, von keinem Nachfolger zu verdunkeln. Ein Jahr später gab F. Löwe in der gleichen Zeitschrift einen Uberblick über Gogol's Schaffen und eine Besprechung der Toten Seelen. R. Lippen brachte mit seinem Beitrag Blicke auf die russ. Literatur im Jahre 1846 und 1847 im Magazin für die Literatur des Auslandes 1847, der schon in der Uberschrift an Belinskij erinnert, Gesichtspunkte des russ. Kritikers ein und erklärte, Gogol' habe, „indem er zuerst auf die künstlerische Auffassung der Wirklichkeit hinwies", „zur gänzlichen Reform der ästhetischen Begriffe beim Publikum und bei den Schriftstellern" beigetragen. Wie Belinskij ordnete Lippert Dostoevskij mit den Armen Leuten und Iskänder (A. Herzen) in die so verstandene Gogol'sche Richtung ein. Die Reihe der Ubersetzungen eröffneten König und Mel'gunov mit Aus dem Tagebuch eines Verrückten 1839 und Th. Volkov mit Das Ehepaar aus der alten Zeit auf dem Lande . . . in den Blättern zur Kunde der Literatur des Auslandes 1840. Ph. Löbenstein übertrug den ersten Band der Toten Seelen bereits 1846 für Reclam. Er verstand das Werk als „ein klares Bild sozialer Umstände, eine mit feinem Humor und lebendiger Ironie durchgeführte Charakteristik russischen Lebens". Gogol' fand zwar, daß der „Deutsche ziemlich vernünftig urteile", doch war ihm die Ubersetzung „äußerst unangenehm", ver-

Slavische Literaturen (russische Literatur) mutlich weil er den Roman ohne den ganz anders geplanten zweiten Band nicht verbreitet sehen wollte. H. Bode, A. Lewald, W. Wolfsohn folgten mit weiteren Ubersetzungen. Erst 1854 erschien dt. der 1836 aufgeführte Revisor, bearbeitet von August von Viedert (Bühnenmanuskript). Aufgeführt wurde aber die Komödie in Berlin 1858 in einer Bearbeitung Albert Junkelmanns als Der Regierungscommissar oder das Incognito nach der Redaktion von 1842. Später wurde der Revisor häufig gespielt in den Übersetzungen von W. Lange (Leipzig 1877) und von F. Fiedler (Halle 1894). Der Petersburger Fiedler (1859-1917) ist als Ubersetzer u. a. von Gogol', Krylov, Lermontov, Nikitin sehr bekannt geworden. Dennoch ist bedauerlich, daß die sprachlich nüanciertere Ubersetzung Viederts sich nicht durchgesetzt hat. V i e d e r t (1829-1886) war Moskauer, literarisch früh an Belinskij und seinem Kreis orientiert. In Deutschland lebte er 1852/1853 und 1854-1857 und machte u. a. die Bekanntschaft von Varnhagen, Gutzkow, B. Auerbach und Th. Storm, der ihm einen Verleger für seine Verdeutschung der Aufzeichnungen eines Jägers von I. S. Turgenev 1854 besorgte. Für die 10. Auflage des „Brockhaus" schrieb Viedert eine Reihe von Artikeln über russ. Dichter. Ein sehr gut informierender Beitrag über V. G. Belinskij in Unsere Zeit. Jahrbuch zum ConversationsLexicon (Leipzig 1857) muß nach Meinung des vorzüglichen Kenners russ.-ausländischer literar. Beziehungen M. P. Alekseev (Leningrad) ebenfalls Viedert zugeschrieben werden. Der von dem berühmten Kritiker stark beeinflußte Viedert bereitete in Deutschland die Anschauung der 50er Jahre vom kämpferischliberalen, gesellschaftskritischen Charakter der russ. Lit. vor. Viederts Bekannter Wilhelm W o l f s ö h n (1820-1865) aus Odessa, ein Freund Lasalles, selbst gemäßigt liberal, lernte — nach Studium und Promotion in Leipzig — in Moskau im Hause von N . Pävlov und seiner Frau Karoline Westler viele Slavophile in ihren Streitgesprächen kennen, machte die Bekanntschaft von Puskins Freund, Fürst P. Vjäzemskij und von Mel'gunov, in Petersburg von Fürst V. Odöevskij, Graf V. Sollogub und Belinskij. In Deutschland hat Wolfsohn unermüdlich in Vorträgen und Ubersetzungen die russ. Lit. propagiert. Th. Fontane hat im

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Leipziger Herwegh-Klub schon 1841 seine Vorträge angehört. Später unternahm Wolfsohn in Deutschland, wo er 1851 naturalisiert wurde, erfolgreiche Vortragsreisen. Er ist einer der besten Ubersetzer, die die russ. Lit. im 19. Jh. bei uns gefunden hat. Er begann mit Gedichten (von Lomonosov bis Puskin) in der Sammlung Veilchen (Leipzig 1841). Das Werk Die schönwissenschaftliche Literatur der Russen, Abhandlung zur russ. Literaturgeschichte (nach Grec und König) und Anthologie (u. a. Igorlied, Gedichte von Lomonosov, Derzavin, Ryleev, Volkslieder und Stücke aus Kirsa Danilov), fand Beifall sogar bei W. Menzel. Von 1847-1851 hat Wolfsohn 10 russ. Novellen und 3 Romane übersetzt. In der von ihm 1863 gegründeten Russischen Revue sind Ubersetzungen u. a. von N. Nekräsov, Saltyköv-Scedrin, Dostoevskij (Auszüge aus Arme Leute und Aufzeichnungen aus einem toten Hause) und L. Tolstöj erschienen. Nach Gefängnis und Verbannung war 1847 Alexander H e r z e n (1812-1870), damals schon (als „Iskänder") einer der beliebtesten Schriftsteller der jungen Generation, nach Westeuropa emigriert. Seine Schriften erregten in Deutschland z. T. großes Aufsehen. Von der Entwicklung der revolutionären Ideen in Rußland, abgedruckt in Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben 1851, als Buch (mit Änderungen) u. d. T. Rußlands sociale Zustände (Hamburg 1854), beeinflußte auch die dt. Puskin-Rezeption: Der Freund Belinskijs ordnete die schöne Literatur der gesellschaftlichen Entwicklung ein und sah Puskin im geistigen Zusammenhang mit den Dekabristen. Malwida von M e y s e n b u g las nach dem enttäuschenden Ausgang des Jahres 1848 Herzens Vom anderen Ufer (Hamburg 1850) und war erstaunt über die „Spiegelung unserer eigenen zerstörten Ideale und Wünsche, unserer eigenen Hoffnungslosigkeit und Resignation in der Seele eines Russen". Als Erzieherin der Kinder Herzens lernte sie Russisch, übersetzte u. a. den Bauernroman Die Fischer (Rybaki, 1853) von Dmitrij Grigorövic (1822-1899) und mehrere Arbeiten A. Herzens ins Deutsche. Ihre Memoiren einer Idealistin (Stuttgart 1877) und Erinnerungen an Alexander Herzen (in den Gesammelten Werken, Bd. 3, Berlin 1899) bestimmten weitgehend das dt. Herzen-Bild.

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Chr. S c h u l t z e , Die Gogol'-, Kol'cov- u. Turgenev-Lesungen A. Viederts 1854/55 im Berliner 'Tunnel über der Spree'. ZfSl. 19 (1974) S. 393406. — Ders., Theodor Fontanes frühe Begegnung mit d. russ. Literatur. ZfSl. 8 (1963) S. 330-348. — E. R e i ß n e r , Alexander Herzen in Deutschland (1963; Veröff. d. Inst. f. Slawistik. 26). — Ders., Zur Herzen-Kritik in frühen sozialdemokratischen Zeitungen. ZfSl. 3 (1958) S. 483-493. — R. Ju. D a n i l e v s k i j , Gercen i nemeckaja literatura 30-ch godov 19 v. Russkaja literatura 8 (1968) S. 97-110. — Gerhard Zieg e n g e i s t , Die Erstfassung von Alexander Herzens Schrift 'Von der Entwicklung der revolutionären Ideen in Rußland' in der 'Deutschen Monatsschrift'. In: Vorträge auf d. Berliner Slawistentagung, 11.-13. Nov. 1954 (1956; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 8)S. 312-330. — Ders., Herzen u. Kolatschek (Herzens Brief v. 15. 4. 1851 an A. Kolatschek). ZfSl. 2 (1957) S. 366-385. — Ders., Herzen u. Herwegh. ZfSl. 7 (1962) S. 210-215.— Ders., Uber die Bedeutung von A. I. Herzens Schaffen für d. progressive dt. Geistesleben in d. 50er Jahren d. 19 Jh.s. ZfSl. 7 (1962) S. 515-529.

§ 14. Ivan Sergeevic Turgenev (18181883) hat sich in Deutschland in etwa zehn Jahren durchgesetzt. Aus dem Tagebuch eines Jägers (Bd. 1, Berlin 1854, von A. Viedert, Bd. 2, Berlin 1855, von A. Boltz übersetzt) und der Roman Das adelige Nest (dt. 1862) fanden zunächst wenig Beachtung, aber der Erfolg kam mit den Erzählungen in der Bodenstedtschen Übers, von 1864/1865. Ausgewählte Werke erschienen in Mitau/Hamburg 1869-1884 in 12 Bänden. Die außerordentliche Beliebtheit Turgenevs bis in die 80er Jahre hinein - selbst Raabe, Keller und Storm konnten sich mit seinen Erfolgen nicht messen - hatte verschiedene Gründe. Seine Erzählungen, besonders aber seine Romane schienen dem Leser Erklärungen und Analysen zu den Entwicklungen in Rußland zu bieten - Väter und Söhne etwa zum „Nihilismus". Turgenevs Realismus war zudem vom deutschen, zumindest bis 1873, nicht allzu verschieden. Man spürte auch seinen westeuropäischen Liberalismus, westeuropäischen Geschmack und den starken dt. Kultureinfluß. Turgenev hatte in Berlin bei Werder, Ranke und Böckh studiert, war viel in Deutschland gereist, hatte von 1863-1871 in Baden-Baden gewohnt und liebte Deutschland als sein zweites Vaterland. Sein dt. Briefwechsel läßt sich heute am besten in der Akademie-Ausgabe Polnoe sohranie socinenij,

Pis'ma, Band 1-13 (Moskau-Leningrad 19611968) übersehen. Sein dt. Bekanntenkreis ist groß; mit Th. Storm und Paul Heyse, vor allem aber mit Julian Schmidt und Ludwig Pietsch war Turgenev befreundet. Ludwig Pietsch wurde auch der rührigste Propagandist Turgenevscher Kunst, für den „das Verhältnis des Menschen zu Turgenjews Dichtung bald zum Gradmesser der Echtheit und Stärke seiner inneren künstlerischen Analyse, seines Sinnes für die Natur und Poesie" wurde. Julian Schmidt, durch Pietsch auf Turgenev hingewiesen, betrachtete in acht Rezensionen aus den Jahren 1868-1883 das Werk Turgenevs und erklärte schon 1868 in den Preußischen Jahrbüchern, „an poetischer Kraft weiche Turgenjew keinem der jetzt lebenden Schriftsteller Europas". Er sah bereits, daß Turgenevs eigentliches Gebiet die Novelle ist, in der die „unerhörte Begebenheit" aber zugunsten des Charakters des Helden zurücktrete. Die Grenzen dieser Charakternovelle zeigten sich da, wo der Dichter den Übergang zur großen Form des Romans zu finden versuche. Kontrovers ist die Frage nach der Beinflussung dt. Autoren durch Turgenevs Werk. Es kommt sehr darauf an, wie weit man diesen Begriff faßt. Laage ist 1967 z.B. der möglichen Beeinflussung Storms durch Turgenev nachgegangen. Sein Ergebnis ist: „Der Husumer Dichter war sich keiner Nachahmung bewußt; unbewußt aber hat er einige Anregungen von der Novellistik seines russischen Freundes aufgenommen und verarbeitet". Aber die von Laage festgestellten Anregungen sind so vielfältig und erstrecken sich über eine so lange Zeit, daß man diese auf einer durch verschiedene Ursachen bewirkten inneren Nähe zwischen Turgenev und Storm beruhenden „unbewußten Aneignungen" als häufigste Form der Beeinflussung unter gleichrangigen Autoren ansehen darf. Bei Storm gibt es aber auch m. E. eine direkte Auseinandersetzung mit Turgenev: Storm übernimmt aus der Erzählung Was Vater Alexis erzählt (in Die Gegenwart 1877) das Motiv der „geschändeten Hostie" in allen Einzelheiten in die Novelle Renate (in Deutsche Rundschau 1878), um damit aber zu einem ganz-anderen Ergebnis als Turgenev zu kommen. F o n t a n e fühlte sich zunächst von Turgenev durch dessen tiefen Pessimismus getrennt. „Er hat keinen Tropfen Erquicklich-

Slavische Literaturen (russische Literatur) keit . . . " , sagte er. „Und das ist ein Irrweg und ein Verkennen des eigensten innersten Wesens der Kunst". Erst mit fast 67 Jahren schrieb er Ende 1885 an Pietsch, daß er zu Adolph Menzel und zu Turgenev als zu seinen „Meistern und Vorbildern" aufsehe: „Es ist die Schule, zu der, soweit meine Kenntnisse reichen, nur noch Rudolf Lindau geh ö r t . " Storm und Heyse seien etwas für sich. D . v. L i l i e n c r o n äußerte 1872, seine damaligen Novellen seien „im Geiste Storms und Turgenevs geschrieben". Der junge Th. M a n n verschmolz Storm und Turgenev in der Gestalt von Tonio Krögers Vater. In einer Umfrage nannte er 1904 Turgenev einen der vielen, die ihn angeregt hätten, ohne ihn zu beeinflussen. Anregungen werden auch von ihm Marie v. Ebner-Eschenbach, F. v. Saar und E. v. Keyserling erhalten haben. Nachahmer Turgenevs sind L. v. SacherMasoch, den Turgenev nicht ausstehen konnte, Karl Detlev (Klara Bauer) und Ossip Schubin (Lola Kirchner). Turgenevs Schaffen und seine Bemühungen, die russ. Literatur in Deutschland bekannter zu machen, veranlaßten die Kritik, sich auch mit seinen Vorgängern und Zeitgenossen zu befassen. Bei der Einführung von Dostoevskij und Tolstoj knüpfte man häufig an den bekannten Turgenev an. K . D o r n a c h e r , Bibliographie d. dt.sprachigen Buchausgaben der Werke I. S. Turgenevs, 1854-1900. Wiss. Ztschr. d. Pädagog. Hochschule Karl Liebknecht, Potsdam 19 (1975) S. 285-292. I. S. Turgenev und Deutschland. Materialien u. Untersuchungen. Bd. 1, hg. v. Gerhard Z i e g e n g e i s t , (1965; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 34). K. D o r n a c h e r , Turgenev in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg (1945/56). ZfSl. 3 (1958) S. 395-420. Ders., Die Anfänge d. Turgenev-Rezeption in Deutschland (1845-1854). ZfSl. 13 (1968) S. 449-456. — Ders., Die Anfänge d. dt. Rezeption von Turgenevs Roman 'Väter und Söhne'. ZfSl. 18 (1973) S. 59-69. Chr. S c h u l t z e , I. S. Turgenev u. Fr. Spielhagen. ZfSl. 18 (1973) S. 154-162. I. G e s e r i c k , Marie v. Ebner-Eschenbach u. I. Turgenev. ZfSl. 3 (1958) S. 43-64. Karl Ernst L a a g e , Theodor Storm u. Iwan Turgenjew. Persönliche u. literar. Beziehungen, Einflüsse, Briefe, Bilder (1967; Schriften d. Theodor-Storm-Ges. 16). A. R a m m e l m e y e r , Die geschändete Hostie. Zu e. Motivübereinstimmung in 'Rasskaz otca Alekseja' von Ivan Turgenev u. Theodor Storms 'Renate', in: Ost und West. Aufsätze zur slav. Philologie. Hg. v. A . Rammelmeyer. Bd. 2 (1977; FAzSl. 24)

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S. 235-262. P. F i e d l e r , 'Die Gegenwart', Wochenschr. für Literatur, Kunst u. öffentliches Leben 1872-1911 u. ihre Vermittlung russ. Kultur in Deutschland. (Masch.) Magisterarb. Frankfurt a. M . 1976. G. J o n a s , Die Einführung von S. T. Aksakovs 'Semejnaja chronika' in Deutschland durch S. A. Raänskij. ZfSl. 12 (1967) S. 173-196. Dies., Paul Heyses Beziehungen zur russ. u. tschech. Literatur. ZfSl. 13 (1968) S. 440-448. Peter B r a n g , I. S. Turgenev. Sein Leben und sein Werk (1977).

§ 15. Wie Zola, Ibsen, Leo Tolstoj gelangte Fedor Michajlovic D o s t o e v s k i j (1821-1881) erst im Naturalismus zu breiterer Wirkung. In seiner Würdigung im Magazin für die Literatur des In- und Auslandes rühmte 1882 Wilhelm Henckel an ihm den „prävalierenden Zug einer außergewöhnlichen psychologischen Beobachtung" und „das tiefe, innige Gefühl für Humanität". Damit hatte er das die Zeit an Dostoevskij Interessierende getroffen : Die bis dahin unerhörte Meisterschaft der psychologischen Analyse bei der Darstellung des Außergewöhnlichen und krankhafter oder kranker Typen und das als Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft ausdeutbare Eintreten für die „Erniedrigten und Beleidigten". Als Meisterwerk Dostoevskijs galt der 1882 von Henckel übersetzte Raskölnikow (Prestuplenie i nakazdnie, 1866). E r fand hohe Anerkennung bei der älteren Generation, bei Bodenstedt, C . F. Meyer, P. Heyse, G. Freytag; begeisterte Zustimmung bei den Jungen, bei Michael Georg Conrad ( V o m Büchertisch, in: Die Gesellschaft 1887) oder Hermann Conradi (F. M. Dostojewski, ebenda 1889). Sein Adam Mensch (1889) ist ebenso von Dostoevskij beeinflußt wie Neid von Wilhelm Walloth, dessen eigentliches Gebiet ja der historische Roman war. Auch H. Bahr, A. Holz, W . Heine, J . Schlaf haben sich mit Dostoevskij beschäftigt. Nach Raskölnikow wurden im Laufe von etwa zwölf Jahren auch die anderen Romane und Erzählungen Dostoevskijs übersetzt. Doch setzte sich in dieser Epoche nur Raskölnikow durch. Er wirkte sogar auf die Unterhaltungsliteratur ein: Ihr Held wurde der schuldlos-schuldige Verbrecher, dessen Tat aus Veranlagung und Charakter erklärt wurde. Als gegen 1889 der Roman als führende Gattung im Naturalismus zugunsten des Dramas zurücktrat, machten E. Zabel und E.

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Koppel, angeregt von dem Erfolg von Tolstojs Macht der Finsternis und der Pariser Bühnenbearbeitung von Schuld und Sühne durch P. Ginisty und H. Le Roux (1888), aus dem Raskölnikow ein „Schauspiel in vier Akten". Der Mord an der Wucherin wurde darin zum Hauptereignis. Den Bühnenerfolg - 1890 in Leipzig, Berlin und Wien - verdankte das Machwerk nur großen Schauspielern. In der Dostoevskij-Kritik der Zeit gewann der Essay des bedeutenden dänischen Literaturhistorikers Georg B r a n d e s besonderes Gewicht. Er erschien zuerst in der Neuen Frankfurter Presse 1883, danach - erweitert unter dem Titel Dostojewski in Berlin 1889. Brandes konnte in ihm die Anschauungen Melchior de Vogües und Friedrich Nietzsches verarbeiten. Vogüe wies mit der Wiederaufnahme der alten Gegenüberstellung von Europa und dem rätselhaften Rußland, der Suche nach der „russischen Seele" und der Dostoevskij und dem russ. Volk zugeschriebenen „religion de souffrance" in seinem schnell berühmt gewordenen Buch Le roman russe (1886) bereits auf das Dostoevskijbild der „Neuromantik" voraus. Nietzsche, dessen Verhältnis zu Dostoevskij W. Gesemann 1961 untersuchte, las Dostoevskij erst 1887 und zählte den „einzigen Psychologen", von dem er etwas zu lernen gehabt hatte, „zu den schönsten Glücksfällen" seines Lebens. Brandes versteht 1889 Dostoevskij als „kolossales Muster" der von Nietzsche geschilderten ,, Sklaven-Moral''.

(1886), die noch lange Zeit als das beste Nachschlagewerk zur russ. Literatur galt. V. Setschkareff, Dostojevskij in Deutschland. ZfslPh. 22 (1953) S. 12-39. V. V. Dudkin u. K. M. A z a d o v s k i j , Dostoevskij v Germanii (1846-1921), in: F. M. Dostoevskij, Novye materialy i issledovanija, (M. 1973; Literaturnoe nasledstvo 86) S. 659-740. M. Wegner, Europäische Romanentwicklung im 20. Jh. u. F. M. Dostoevskij. ZfSl. 21 (1976) S. 500-512. W. Gesemann, Nietzsches Verhältnis zu Dostoevskij auf d. europäischen Hintergrund d. 80er Jahre. WdSl. 6 (1961) S. 129-156. R. Lauer, Eine DostojevskijParodie von Ludwig Strauß. ArchfNSpr. Lit. 206 (1970) S. 361-370. — V. Djuvel', Cernysevskij v nemeckoj rabocej pecati (1868-1889), in: Revoljucionnye Demokraty (M. 1959; Literaturnoe nasledstvo 67) S. 163-205. O. Haasler, Zur Rezeption russ. Lit. in d. dt. Sozialdemokrat. Presse 1869-1917. Wiss. Zs. d. Humboldt-Univ. Berlin, Ges.- u. sprachw. Reihe 13 (1964) S. 341-352. M. Wegner u. H. Schmidt s. Lit. zu § 19.

Im Naturalismus setzte auch in der in Stuttgart ab 1883 erscheinenden sozialdemokratischen Neuen Zeit mit den Beiträgen von Robert Schweichel („Rosus") - Ein russischer Roman (1884 über Raskölnikow) - und A. Bebel - Ein idealistischer Roman (1885, über N. Tschernyschewski, Was tun?, 1883) unter Beteiligung russ. Autoren die marxistische Rezeption der russ. Literatur ein. Sie ist bei O . Haasler 1964 und 1966, bei M. Wegner 1971 und H. Schmidt 1973 dargestellt.

§ 16. Verdeutschungen von Werken des Grafen Lev Nikoläevic T o l s t ö j (1828-1910) aus den 70er Jahren waren unbeachtet geblieben. Erst 1885, durch die - gekürzten Buchausgaben von Anna Karenina (18771878) und von Krieg und Frieden (Vojna i mir, 1865-1869) wurde die Kritik, M. Necker in den Grenzboten, Julian Schmidt in der Gegenwart, auf ihn aufmerksam. Danach setzte in den Publikationsorganen ein Strom von Ubersetzungen, in der Gegenwart z. B. vornehmlich aus den späten Volkserzählungen Tolstojs, und von Artikeln über ihn ein. Berühmt gemacht haben ihn in Deutschland nicht die beiden großen Romane, sondern, im Verein mit seinen sozialethischen Schriften, die Alterswerke mit ihrer Milieuschilderung, ihrer sozialen Kritik und ihrer tendenziöslehrhaften Art. Besonders stark hat die Macht der Finsternis gewirkt, die von der „Freien Bühne" in Berlin 1890, wenige Monate nach dem sensationellen Erfolg von G. Hauptmanns Vor Sonnenaufgang aufgeführt wurde.

Zweifellos verfügt man in der Zeit des Naturalismus über größere Kenntnisse in der russ. Literatur. H. Conradi nennt in dem zit. Aufsatz z. B. auch Grigorövic, Pisemskij, Saltyköv-Scedrin, Nekräsov, Oströvskij, Pomjalövskij, Uspenskij, Zlatovrätskij und empfiehlt als Informationsquelle Alexander von R e i n h o l d t Geschichte der russ. Literatur von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit

Schon H. Halm (1914) und K. Neuscheler (1924) haben eine weit über Vor Sonnenaufgang hinausgehende Abhängigkeit H a u p t m a n n s von Tolstoj behauptet. G. Kersten hat 1966 diese Behauptungen eingeschränkt: Danach zeigt Vor Sonnenaufgang im dramatischen Ansatz und im Milieu eine deutliche Abhängigkeit von der Macht der Finsternis, in der Personenkonstellation auch von Anna

Slavische Literaturen (russische Literatur) Karenina. Loths Weltanschauung ist in einigen Zügen von Worin besteht mein Glaube? beeinflußt. Nachwirkungen von Tolstojs Drama zeigen ferner Einsame Menschen, die Weber und Fuhrmann Henschel. Die weltanschaulichen oder religiösen Auffassungen in den Einsamen Menschen, in den Webern und im Emanuel Quint konnten teilweise auf die Kreutzersonate und die Traktate Worin besteht mein Glaube? und Gottes Reich ist in Euch zurückgeführt werden. Hauptmann hat die Nähe zu Tolstoj nie geleugnet. Noch 1945 sagte er: „Mein Drama Vor Sonnenaufgang ist befruchtet von der Macht der Finsternis. Die besondere Art kühner Tragik ist daher. . . . Die Keime, die bei uns aufgingen, stammten zum größten Teil aus russischem Boden . . . " An Werken weiterer Verfasser, die unter Tolstojs Einfluß standen, nennt Halm J. J. Davids Schauspiel Hagars Sohn (1891) und Max Halbes Mutter Erde (1896). T. Motyleva sieht 1957, ohne die Wirkung von Flauberts Madame Bovary in Betracht zu ziehen, Fontanes E f f i Briest (1894/1895) unter dem starken Einfluß von Anna Karenina. Die zeitgenössische dt. Kritik machte an Tolstoj einige bemerkenswerte Beobachtungen: Entsprechend der naturalistischen Poetik fand Heinrich H a r t 1890 in der Macht der Finsternis das SubjektObjekt-Verhältnis zwischen Autor und Werk aufgehoben: Tolstoj sei nicht, wie die anderen, ein Künstler, ein ängstlicher Nachbildner der Natur, sondern „selbst Natur und Schicksal". F o n t a n e sprach von der „dramatischen Gewalt" besonders des 5. Aktes (der Beichte Nikitas): Seine überragende Bedeutung gewinne das Drama durch seinen ethischen Gehalt. Und natürlich ohne die Tagebucheintragung Tolstojs von 1852 zu kennen (nämlich: daß er ohne Ziel und ohne Hoffnung auf einen Nutzen nicht schreiben könne), erklärte W. P. G r a f f , der Ubersetzer der Anna Karenina, im Hinblick auf die Alterswerke 1887 in der Gegenwart, Tolstoj sei „nur wegen seiner Sittenlehre Dichter". Maximilian H a r d e n erkannte 1896, daß dies für den alten wie für den jungen Tolstoj gelte. Aber der besonders in der Kreutzersonate (1890) und auch in der Auferstehung (1899) zum Ausdruck kommende Rigorismus der Tolstojschen Moral führte in Deutschland zu heftigen Diskussionen und weithin auch zur Ablehnung. Zwar konnten die von R. L ö w e n f e l d besorgten Sämtlichen Werke, Jena 1901-1911, ediert werden, aber das Interesse an Tolstoj war in den 90er Jahren doch beträchtlich zurückgegangen.

An Tolstojs Stelle treten in dt. Zeitschriften allmählich Vsevolod Gärsin (1855-1888), An-

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ton Pävlovic Cechov (1860-1904) und Maksim Gör'kij (Aleksej Maksimovic Peskov, 1868-1936). G a r s i n s Erzählung Die Künstler (Chudozniki, 1879) erschien 1885 in der Neuen Zeit; Hauptmann läßt in den Einsamen Menschen Anna Mahr aus ihr vorlesen. Der allem Russischen gegenüber voreingenommene Kritiker E. Bauer etikettierte 1887 in der Gegenwart Garsin als Pessimisten, Nihilisten und Naturalisten, aber die Zeitschrift, zu deren Aufgabengebiet die Literatur keinesfalls in erster Linie gehörte, druckte von 1886 bis 1900 acht Texte aus dem schmalen Werk des Frühverstorbenen ab, darunter die wichtigen Kurzgeschichten Attalea Princeps und Die rote Blume. C e c h o v wurde in der Gegenwart bereits 1892 als Humorist erwähnt. Gedruckt wurden seine Erzählungen in Deutschland etwa seit 1894, und schon 1902 erklärt E. Höber im Litterarischen Echo, Cechov sei als Erzähler „bekannt und beliebt", als Dramatiker jedoch, bis auf die Einakter Der Bär und Der Heiratsantrag, unbekannt. Er macht daher auf die 1902 erfolgten Ubersetzungen aufmerksam und empfiehlt Onkel Wanja zur Aufführung. 1900-1902 kommen auch in Leipzig/Jena Cechovs Gesammelte Werke in fünf Bänden heraus. Die überragende Größe Cechovs wurde von der Kritik zunächst nicht erkannt. Für A. v. Engelhardt ist er (im Litterarischen Echo 1898) der „russische Maupassant", ein „großes Talent", aber geringer als der Franzose und dem „Pessimismus fast gänzlich anheimgefallen", was allerdings auf die „furchtbaren Schäden" der russ. Gesellschaft zurückgeführt wird. Julius Norden schrieb 1901 in einer Betrachtung über Anton Tschechow und Maxim Gorki in der Gegenwart, der Eindruck Cechovscher Dramen sei trotz realistischer Milieuschilderung und humoristischer Zeichnung der Charaktere „niederschmetternd". Dagegen stelle sich bei der Lektüre Gor'kijscher Erzählungen ein Gefühl der Befreiung ein, denn „Gorki weiß dort lauteres Gold zu finden, wo Tschechow nur Schutt und Moder entdeckt". Maksim G ö r ' k i j , der plötzlich zu literar. Ruhm gelangte Dichter „aus dem Arbeiterstand", fesselte die Leser durch die Geschichten von den Vagabunden („bosjaki"), zu denen er selbst gehört hatte und deren „Herrenmoral" an Nietzsche erinnerte. Alle Richtungen der dt. Kritik erkannten ihn an. Welt-

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rühm gewann er durch die Berliner Aufführung von Nachtasyl 1903 (Na dne, 1902) in der Inszenierung Max Reinhardts. Über die Rezeption Gor'kijs unterrichtet die annotierte Bibliographie von Czikowski, Idzikowski und Schwarz. Die Flut von Ubersetzungen und von Artikeln über ihn kam von 1907 ab zunächst fast zum Versiegen: Gor'kijs Beteiligung an der russ. Revolution von 1905, seine Auftritte in den USA 1906 und der - in Rußland von der rechten wie von der linken Kritik festgestellte - künstlerische Mißerfolg des Romans Die Mutter (1907) mochten einen großen Teil der Leserschaft abgestoßen haben. Von den zahlreichen Schriftstellern und Dichtern, die Gor'kij ab 1900 in Petersburg zur Mitarbeit an der Verlagsgenossenschaft Znänie herangezogen hatte, wurden die bedeutendsten mit ihren Erzählungen sehr bald ins Deutsche übersetzt: 1903 Ivan Alekseevic Bunin (1870-1953), Vikentij Vikent'evic Veresäev (eigentlich: Smidövic) (1867-1945); 1904 Aleksandr Ivanovic Kuprin (1870-1938); 1905 Leonid Nikolaevic Andreev (1871-1919). Bis auf Bunin wurden sie alle durch aktuelle Themen bekannt, so daß die Aufnahme sehr schnell, fast stürmisch verlief. K u p r i n s Duell (1905) war ein Beitrag zur Trostlosigkeit russ. Offiziersdaseins um die Zeit des russ.-japanischen Krieges, A n d r e e v s Rotes Lachen (1905) ein vehementer Protest gegen den Wahnsinn dieses (und jedes) Krieges, Die Geschichte von den sieben Gehenkten (1908) gegen die Todesstrafe - selbst bei Terroristen. V e r e s a e v s Bekenntnisse eines Arztes (1903, 5. Aufl. 1915), eine in belletristische Form gebrachte Kritik an der damaligen ärztlichen Ausbildung und Praxis, erregte größtes Aufsehen in ganz Europa. Sein Bericht Meine Erlebnisse im russ.-japanischen Kriege (1908) erschien 1914 in 10. Auflage. Verglichen damit ging die Rezeption B u n i n s , des ersten russ. Nobelpreisträgers (1933), zögernd vor sich: Der Herr aus San Francisko (russ. 1915) lag erst 1922 dt. vor. Das autobiographische Werk Im Anbruch der Tage. Arseniews Leben (Paris 1927ff.) wurde erst 1934 nach Verleihung des Nobelpreises ins Deutsche übertragen. Die Erzählung Suchodol von 1912 erschien gar erst 1966. Gerhard K e r s t e n , Gerhart Hauptmann u. Lev Nikolaevic Tolstoj. Studien zur Wirkungsgeschichte von L. N. Tolstoj in Deutschland 1885-1910 (1966; FAzSl. 9). Ders., Zu e. russ.

Gedicht in Gerhart Hauptmanns Drama 'Einsame Menschen', in: Ost und West. Aufsätze zur slav. Philologie. Hg. v. A. Rammelmeyer. Bd. 1 (1966; FAzSl. 8). E. P e c h s t e d t , L. N. Tolstoj auf d. dt.sprachigen Bühne (1890-1945). ZfSl. 18 (1973) S. 664-676. — E. H e x e l s c h n e i d e r , Über die Rezeption d. russ. Lit. in Deutschland im letzten Viertel d. 19. Jh.s. ZfSl. 18 (1973) S. 50-58. Russische Lit. in Deutschland. Texte zur Rezeption von d. 80er Jahren bis zur Jk.wende. Hg. v. Sigfrid H o e f e r t (1974; Dt. Texte 32). — Erwin C z i k o w s k y , Ilse I d z i k o w s k i , Gerhard S c h w a r z , Maxim Gorki in Deutschland. Bibliogaphie 1899-1965 (1968; Veröff. d. Inst. f. Slawistik, Sonderr. Bibliogr. 2). — H . V o g t , Die zeitgenöss. dt. Literaturkritik zum Frühwerk Maxim Gorkis. ZfSl. 3 (1958) S. 590619. Ilse I d z i k o w s k i u. G . S c h w a r z , Entwicklung u. Wandel d. Gorki-Bildes in Deutschland, in: E. Czikowsky, I. Idzikowski u. G . Schwarz, Maxim Gorki in Deutschland (1968; Veröff. d. Inst. f. Slawistik, Sonderr. Bibliogr. 2) S. 9-31. O . H a a s l e r , Zur Aufnahme Maxim Gorkis durch die dt. Arbeiterbewegung. Wiss. Zs. d. Humboldt-Univ. Berlin, Ges.- u. sprachw. Reihe 19 (1970) S. 297-301. I. I d z i k o w s k i , Der Humanist Gor'kij. Einige Besonderheiten d. Aufnahme Gor'kijs in der DDR. ZfSl. 13 (1968) S. 644650. Dies., Zur Aufnahme von Maksim Gor'kijs Werk u. Persönlichkeit in d. westdt. Presse von 1945-1960. ZfSl. 9 (1964) S. 23-36. — M. B e v e r n i s , Zur Aufnahme Leonid Andreevs in Deutschland. ZfSl. 11 (1966) S. 75-92.

§ 17. Bereits vor der Jh.wende folgt in Deutschland auf den Naturalismus der Gegenschlag der N e u r o m a n t i k (s.d.). Entsprechend ihrem Charakter gewinnt sie ein wesentlich anderes Verständnis von der russ. Dichtung. Besonders deutlich wird das am Beispiel des aus Prag stammenden Rainer Maria R i l k e (1875-1926). Jakob Wassermann hatte ihn auf Turgenev und Dostoevskij hingewiesen und 1897 in München mit der aus Petersburg gebürtigen Lou Andreas-Salomé bekannt gemacht. Die beiden mit ihr unternommenen Rußlandreisen 1899 und 1900 brachten Rilke überwältigende Erlebnisse der russ. Natur und ihrer Menschen. Er machte unter Dichtern und Künstlern bleibende Bekanntschaften, war bei Tolstoj in Jásnaja Poljána und wohnte bei dem Bauerndichter Spiridón Dmítrievic Drózzin (1848-1930). Rußland half Rilke, sich selbst zu finden und, wie er am 27. 5. 1899 aus Petersburg schrieb, mit Hilfe russ. Dinge „die fürchtigsten Frömmigkeiten" seines Wesens endlich in seiner Kunst

Slavische Literaturen (russische Literatur) zum Ausdruck zu bringen. Den Dingen ähnlich in ihrer Geduld und Demut zum Leiden empfand der Dichter die frommen russ. Menschen. In Geduld und Demut sah er auch die Uberwindung des Leidens und verstand so die Russen als „Werdende" und „Zukünftige", ihren Gott als dunklen, werdenden Gott. Die Revolution hat er später als im Widerspruch zum Wesen des russ. Menschen stehend empfunden und als eines jener Leiden gedeutet, durch die das russ. Volk zur letzten Sendung durchdringen müsse. Die russ. Literatur berührte ihn da am stärksten, wo er Ubereinstimmungen zu seiner Auffassung vom russ. Volk sah. Besonders liebte er die Welt Turgenevs und Gogol's; die Armen Leute, aus denen er die Episode mit dem Studenten Pokrovskij übersetzte, hielt er zeitweilig für Dostoevskijs schönstes Werk. An Drozzins Dichtung schätzte er die enge Verbundenheit mit den Empfindungen des Volkes und mit der Volksdichtung. In seine eigene Dichtung ist sie, wenn man von seiner Übertragung des eigentlich der Kunstdichtung angehörenden altruss. Igorliedes absieht, mit Bylinenstoffen in die Geschichten vom lieben Gott (1904) und den Gedichtkreis Die Zaren (1899, umgearbeitet 1906) eingegangen. Reflexe russ. Volksfrömmigkeit, wie Rilke sie verstand, enthält auch das Stunden-Buch (1905). In Worpswede hat Rilke sich mit Cechov beschäftigt. Seinen Einfluß hat G. Najdenova 1942 im dramatischen Versuch Das tägliche Leben bemerkt. Auch das I n t e r e s s e an D o s t o e v s k i j dauerte fort. Rilke hatte über ihn das Buch von Vogüe, aber auch die erste dt. Biographie von Nina Hoffmann (1899) gelesen. Aus Rußland ließ er sich das Buch von D. Merezkövskij, Tolstoj i Dostoevskij (1901-1902) kommen, das, schon 1903 übersetzt, bei uns zu großem Ansehen gelangt ist. Rilke verfolgte auch die dt. Dostoevskij-Ausgaben und sah Unterschiede in der Qualität der Übersetzungen. Die e r s t e G e s a m t a u s g a b e erschien in dem damals jungen Verlag R. Piper in München. Wie Reinhard Piper in seinem Buch Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers (1947) schrieb, hatte ihn A. Moeller van den Bruck 1905 dazu angeregt und auch Merezkovskij als Mitherausgeber dafür gewonnen. Als erstes ließ man - nach den revolutionären Ereignissen von 1905 - die Dämonen 1906 als Epos der russischen Revo-

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lution erscheinen. Bis 1914 war die Ausgabe mit 22 Bänden abgeschlossen, aber sie war bis zum 1. Weltkrieg, „als eine geistige Auseinandersetzung mit den Russen unvermeidlich geworden war", kein Erfolg. Preisermäßigung, erhöhter Buchhändlerrabatt und ein als Werbung gedachter, kostenlos verteilter Essay von O. J . Bierbaum blieben wirkungslos. Erst von 1916 an wurden Neuauflagen nötig. Nach dem Kriege, den Revolutionen in Rußland, der gewaltigen russ. Emigration, die auch nach Deutschland flutete, stieg die Zahl der jährlich abgesetzten Bände 1920 auf 135000, 1922 gar auf 179000! Trotz der Ubersetzungsmängel - die Übersetzerin war die Schwägerin des Herausgebers, eine baltische Architekturstudentin, unter dem Pseudonym E. K. Rashin - , und trotz der z. T. sehr zeitgebundenen Einleitungen der Herausgeber war diese Ausgabe (auch heute wohl noch die verbreitetste) eine verlegerische Großtat. Sie hat Dostoevskij in Deutschland durchgesetzt. Die Neuromantik hat Dostoevskij außerordentlich hoch gewertet; Turgenev, aber auch L. Tolstoj traten neben ihm zurück. Man entdeckte, wenn auch nicht ohne gleich in Übertreibungen zu verfallen, den Metaphysiker und verstand im allgemeinen auch den Ethiker Dostoevskij besser. Diese Grundeinsichten verhinderten allerdings nicht zuweilen ganz gegensätzliche Deutungen. Ein Beispiel sind die Essays von Hermann B a h r (1863-1934) und Otto Julius B i e r b a u m (1865-1910) zu „Dostojewski", die Piper zusammen mit einem - im wesentlichen biographischen - Essay von Dmitri Mereschkowski 1914 herausbrachte. Bierbaum äußert sich als entschiedener Parteigänger Nietzsches, der für ihn der geniale Inbegriff westlichen Kulturgewissens, eigentlich seine Wiedergeburt ist. Ebenso ist Dostoevskij der geniale Inbegriff des russ. Volkes: Sein Glaube ist, daß am russischen Wesen die Welt genesen solle. Ist unser Menschenideal die sich - wie Napoleon - zu äußerer herrschender Wirkung entfaltende Persönlichkeit, so erzwingt Dostoevskij Bewunderung für äußerlich Verachtete, Zerbrochene, innerlich Glorreiche, Erhabene. Auf eine Formel gebracht lautet der Gegensatz: Hier Wille zur Macht, da Wille zur Demut. Bierbaum gesteht zu, daß das „Menschlich-Allzumenschliche" nicht bloß auf die heroische Nietzsche-Art überwunden werden könne, sondern auch „auf die für unsere Begriffe sklavische Art Dostoevskijs". Aber: „Unsere Liebe

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Slavische Literaturen (russische Literatur)

kann unmöglich bei Dostoevskij sein, dessen Ideale mit den unseren nichts zu tun haben." Als Künstler ist er freilich an schöpferischer Kraft nur mit e i n e m zu vergleichen: „Er ist der Shakespeare des Romans". N u r wenige Jahre trennen diesen Essay Bierbaums von dem 1913 abgeschlossenen Bahrs, und doch liegt eine Epoche zwischen der Selbstsicherheit des einen und dem - ihn mit den 20er Jahren verbindenden Krisenbewußtsein des anderen. Bahr bestreitet die verbreitete Ansicht, in Dostoevskijs W e r k e n sei „das Geheimnis einer Nation enthalten", das Nichtrussen nie erfühlen könnten. Es ist vielmehr „unser aller Geheimnis", weil Dostoevskij „das Problem unserer Zeit darstellt" und „der Dichter ist, an dem allein jetzt Europa sich finden und aufrichten kann", der „in der größten Krise des europäischen Gewissens die einzige Rettung zeigt". Diese Krise ist die Krise der Persönlichkeit. Die Bedeutung Dostoevskijs in dieser Situation liegt darin, daß er „in seiner Kunst dargestellt hat, was es mit unserem Leben ist und wie wir möglich sind". Dostoevskij, so meint Bahr, hat zwei sehr verschiedenartige Arten von Menschen gestaltet: Vollständig ausgeprägte Persönlichkeiten und neben ihnen Figuren, die eigentlich keine Personen, sondern „nichts als Menschen" sind, „sozusagen im Urwesen steckengeblieben". So sind im Werk Fürst Myskin, Alesa Karamazov oder der Starec Zosima. Sie sind wie eine Erinnerung „an die Seligkeit jener Urzeit, da jeder Mensch noch die ganze Menschheit war". Sie sind keineswegs eine Bucherfindung und keineswegs auf Rußland beschränkt: Im „Volk", versichert Bahr, habe er sie überall angetroffen. Volk ist das, „was noch nicht v o m Intellekt angefressen ist, was noch unverbrauchte K r a f t hat, was noch unmittelbar aus der Empfindung lebt" - wie die Figuren Dostoevskijs, die „nichts als Menschen" sind, wie das von ihm geschilderte russ. „Volk". Allerdings irrte Dostoevskij, wenn er nur seinem Volke heilende Kraft zuschrieb. Sie ruht in allen, „und alle großen geistigen Krisen" - wie Sturm und Drang oder die Romantik — „enden so immer mit einer Flucht ins Volk".

Auch für Jakob W a s s e r m a n n (18731934), der sich in seinen Publikationen mehrfach zu Dostoevskij geäußert hat, geht Dostoevskijs Wirkung weit über den Rahmen der Literatur hinaus: Er wirkte bestimmend auf die Weltanschauung der ganzen Generation; als Künstler, der einen neuen Menschen entdeckt hat, eröffnete er eine neue Epoche in der Geschichte des menschlichen Geistes. In Wassermanns dichterischem Werk hat Ruth Richter 1951 starke Einwirkungen Dostoevskijs auf Stoff- und Motivwahl festgestellt.

Beide legen dem Roman eine Idee zugrunde, die an den Figuren demonstriert wird; beiden ist das wichtige Doppelgängermotiv gemeinsam; bei beiden wirken Träume und Visionen als gestaltbildende Mittel. Dostoevskijs Heiligengestalten und „Kellerlochmenschen" beeinflußten die Figuren Wassermanns. Christian M o r g e n s t e r n (1871-1914) deutete in dem Gedicht An Dostojewski ihn nicht allein als Künstler: Er, den „nie des Bürgers platte Welt" gebannt hatte, war bereits der Anbruch einer neuen Zeit, das „neue Wort", das Dostoevskij selbst für die Zukunft erwartet hatte. Morgensterns Briefe von 18951909 zeugen von seinem weitgespannten Interesse an der russ. Literatur. Er spricht über Gogol', Tolstoj, Dostoevskij, das Gastspiel des Moskauer „Künstlertheaters" 1906 in Berlin, über Cechovs Onkel Wanja und Gor'kijs „vielgeschmähtes" Nachtasyl, über den „Schreckensmann Oblomow, von dem jeder von uns Teile in sich hat". In diesen Jahren erschienen die Gesammelten Werke von I. A. G o n t s c h a r o w in 9 Bänden (1909-1912). G o g o l ' war hingegen bereits vom Naturalismus - als Sozialkritiker - wiederentdeckt worden. Neuromantik und Expressionismus sehen nunmehr auch den unheimlichen Gogol', den das Buch von Dmitrij Mereschkowskij, Gogol. Sein Werk, sein Leben und seine Religion (1911), eindrucksvoll darstellt. Gogol's Sämtliche Werke erschienen in 8 Bänden (1910-1914). Leider fehlt es fast ganz an Arbeiten über die Aufnahme des mit der Neuromantik ungefähr gleichzeitigen russ. S y m b o l i s m u s (s.d.). Die Erinnerungen von Johannes v. G u e n t h e r (Ein Leben im Ostwind. Zwischen Petersburg und München, 1969), vermitteln immerhin, wie stark das gegenseitige literar. Interesse war. Dieser deutschbaltische Dichter und Ubersetzer war in den literar. Kreisen beider Länder zu Hause, mit allen führenden Symbolisten bekannt. Als Mittler hat er viel für beide Literaturen getan. Von der älteren Generation der russ. Symbolisten war Dmitrij M e r e z k o v s k i j (18661941) in Deutschland am erfolgreichsten. Piper zog ihn als Mitarbeiter an der Dostoevskij-Ausgabe in seinen Verlag, übernahm dann - in der Neuübersetzung von Alexander Eliasberg - seine Romantrilogie Christ und Antichrist (mit dem Kernstück Leonardo da Vinci), die sich „in ihrer Absatzkraft als nahe-

Slavische Literaturen (russische Literatur) zu unerschöpflich" erwies. Mit weiteren historischen Romanen, mehreren Essaybänden (darunter Ewige Gefährten mit Skizzen von Gontscharow und Turgenjew), mit den Büchern zu Tolstoj, Dostoevskij und Gogol', mit polit. Schriften zur Revolution - Der An-

marsch des Pöbels, Europa fuit? (Geleitwort

zu A. Eliasbergs Russischer Literaturgeschichte, 1922) - hat Merezkovskij in geistreichen, eigenwilligen und häufig konstruierten Interpretationen jahrzehntelang auf das dt. Bild von Rußland, seiner Geistesgeschichte und Literatur nachhaltig eingewirkt. Unter Merezkovskijs Generationsgenossen waren Poeten und Prosaiker, die in der russ. Literatur einen hohen Rang einnehmen. Von ihnen wurden in dieser Zeit bis in die 20er Jahre hinein nach Ausweis der Bibliographie bei Arthur Luther (Geschichte der russ. Literatur, 1924) mit einem oder mehreren Werken u. a. übersetzt: Konstantin Föfanov (18621911), Fedor Sologub (1863-1927), Vjacesläv Ivänov (1866-1949), Konstantin Bal'mönt (1867-1942), Zinaida Gippius (1870-1953, die Frau Merezkovskijs), Valerij Brjüsov (18731924), Michail Kuzmin (1875-1936), Aleksej Remizov (1877-1957). Vornehmlich symbolistische Lyrik brachte A. Eliasberg in Ubersetzungen in der Anthologie Russische Lyrik der Gegenwart (1907). Von der „jüngeren Generation" der Symbolisten sind zumindest Aleksandr B l o k (1880-1921) und Andrej B e l y j (eigentlich Boris Bugaev, 1880-1934) zu nennen. Beide sind mehrfach in Deutschland gewesen. Belyj ist noch im Januar 1914 bei Rudolf Steiner, dessen Anhänger er geworden war, dem todkranken Morgenstern begegnet. Einzelne Gedichte von Belyj wurden 1911 übersetzt, der Roman Die silberne Taube 1912, Petersburg, wohl der beste Roman der Epoche des Symbolismus überhaupt, 1919. J . v. Guenther übersetzte drei Gedichte Bloks für die von H. Bethge herausgegebene Anthologie

Lyrik des Auslandes in neuerer Zeit (1907),

R . v. Walter veröffentlichte zwei weitere im Hyperion (1908); Guenthers Neuer russischer Parnaß (1912), enthält noch vier Gedichte von Blok. Der Durchbruch gelang erst mit dem in der Oktoberrevolution entstandenen Poem Die Zwölf (Dvenddcat', 1918) und mit dem Gedicht Die Skythen (Sktfy, 1918). Die Zwölf erschienen von 1920 bis 1927 in fünf dt. Fassungen. Einen ausführlichen Uberblick

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zur Rezeption Bloks mit sorgfältiger Bibliographie gibt M. Baade (1967). Einen Band Neue russische Erzähler (1920) hat A. Eliasberg als Herausgeber und Ubersetzer „Thomas Mann, dem Meister der deutschen Erzählungskunst" gewidmet. Er enthält Beiträge u. a. von Bal'mönt, Brjusov, Bunin, Kuzmin, Merezkovskij, Prisvin und Remizov. St. M i t c h e l l , Rilke and Russia. Oxford Slavonic Papers 9 (1960) S. 138-145. L. P a s t e r n a k , Iz zapisok Leonida Pastemaka. Novyj zurnal. Bd. 77 (New York 1964) S.. 190-214. K. M. A z a d o v s k i j , R. M. Ril'ke i L. N. Tolstoj. Russkaja literatura 12 (1969) S. 129-151. Ders., R. M. Ril'ke - perevodcik ,Slova o polku Igoreve', in: Kul'tumoe nasledie drevnej Rusi. Istoki, stanovlenie, tradicii. (M. 1976) S. 217-224. Heinz Frederick P e t e r s , Lou. Das Leben der Lou Andreas-Salomé (1964); engl. Orig. u. d. T . : My Sister, my Spouse (London 1963). - Ruth R i c h t e r , Der Einfluß F. M. Dostojevskijs auf die "Werke Jakob Wassermanns. (Masch.) Diss. Bonn 1951. Christian M o r g e n s t e r n , Alles um des Menschen Willen. Gesammelte Briefe (1962). A. V. L a v r o v , Andrej Belyj i Kristian Morgenstern, in: Sravnitel'-noe izucenie literatur. Sbornik statej k 80-letiju akademika M. P. Alekseeva (L. 1976) S. 466-472. - J . H o l t h u s e n , Andrej Belyj u. Rudolf Steiner. Festschr. Max Vasmer zum 70. Geb. (1956; Veröff. d. Abt. f. slav. Sprachen u. Lit. d. Osteuropa. Inst. d. Freien Univ. Berlin 9) S. 187-192. - Johannes v. G u e n t h e r , Alexander Block. Der Versuch e. Darstellung, in: Block, Gesammelte Dichtungen, dt. v. J . v. Guenther (1947). R . - D . K l u g e , Johannes v. Guenther als Übersetzer u. Vermittler russ. Literatur. WdSl. 12 (1967) S. 77-96. M. B a a d e , Aleksandr Blok. 60 Jahre deutscher Rezeptionsgeschichte. E. Überblick (1905-1966). ZfSl. 12 (1967) S. 328-363. Dies., Grundfragen d. Übersetzung von Dichtungen A. Bloks ins Deutsche. ZfSl. 14 (1969) S. 1-11.

§ 18. Von der „anbetungswürdigen", „heiligen" russ. Literatur, wie er sie Tonio Kröger 1903 nennen läßt, hat Thomas M a n n oft geschrieben. Dostoevskij, Tolstoj, Turgenev, Goncarov, Cechov hat er früh gelesen. Und wenn auch Alois Hofmann 1967 den drei Letztgenannten einen in Einzelheiten zu weitgehenden Einfluß auf das Werk Manns einräumt, so ist die Bedeutung von Tolstoj und Dostoevskij für sein Schaffen unbestritten. An Tolstoj zog Mann „das naturalistisch Umfangsmächtige, die demokratische Massenhaftigkeit", an, „das Leitmotiv, das Selbstzitat,

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die stehende Sprachwendung, die seine Figuren charakterisiert. Seine Unerbittlichkeit im Ausführen, im Wiederholen, Einschärfen, seine Entschlossenheit, dem Leser nichts zu schenken, sein großartiger Wille zur Langweiligkeit . . . " . Bei all dem konnte „unter Tolstois Meistereinfluß" dennoch „auf eine von der seinigen unterschiedliche Weise" Kunst geschrieben werden. In den Buddenbrooks (1901) hat von den Russen vor allem Tolstoj Pate gestanden. Dostoevskij hat dagegen, wie Lilly Venohr 1959 festgestellt hat, auf die beiden Novellensammlungen Der kleine Herr Friedemann (1898) und Tristan (1903) eingewirkt. Im 1. Weltkrieg blieb Mann seiner Liebe zur russ. Lit. treu, aber das sozialreligiöse Programm Tolstojs wertete er zugunsten Dostoevskijs ab. Bei der Verteidigung Deutschlands in seiner „Weltanstößigkeit" und in seinem „ewigen Protestantentum" griff er in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) auf Gedanken Dostoevskijs aus dem Tagebuch eines Schriftstellers (von 1877) zurück. Bestimmend auf Manns Auffassung von Tolstoj und Dostoevskij hat das erwähnte Buch von Merezkovskij (1903) gewirkt. Noch mit 46 Jahren schreibt Mann im Vorwort zur Russischen Anthologie von A. Eliasberg, das man fast eine Summa seiner Äußerungen über die russ. Literatur nennen möchte: „Dmitri Mereschkowski! Der genialste Kritiker und Weltpsycholog seit Nietzsche! Er, dessen Buch über Tolstoi und Dostoevskij auf meine zwanzig Jahre einen so unauslöschlichen Eindruck machte und dessen ebenfalls völlig beispielloses Werk über Gogol ich überhaupt nicht wegstelle!" Diese Wertschätzung besteht auch in der Pariser Rechenschaft (1926) nach der persönlichen Begegnung mit Merezkovskij weiter. Mann übernimmt bestimmte, ihm wichtig erscheinende Thesen des russ. Kritikers etwa auch über die Bedeutung der Epilepsie Dostoevskijs für seine Kunst und die Deutung des Verbrecherischen - fast bis in die Wortwahl genau. Den von Merezkovskij beobachteten und durch die ganze Weltgeschichte verfolgten Gegensatz zwischen „Fleisch" und „Geist", zwischen dem „Hellseher des Fleisches" Tolstoj und dem „Hellseher des Geistes" Dostoevskij macht Thomas Mann für die eigene Betrachtung von „Natur" und „Geist" fruchtbar. Im Essay Goethe und

Tolstoi (1922), in dem sich für ihn ein Ausweg in die größere und freiere Welt Goethes ankündigt, versteht er beide als Kinder der Natur und kontrastiert sie in der Art Merezkovskij s — den einen mit Dostoevskij, den anderen mit Schiller, den Kindern des Geistes, ihre Dichtung als „naive" mit der „sentimentalischen" der anderen. Die von Merezkovskij erwartete Synthese der Gegensätze von „Fleisch" und „Geist" formuliert Mann als Vergeistigung, den Imperativ der Lieblinge der Natur, als Verleiblichung den der Geistessöhne. Im Aufsatz über Tolstoi. Zur Jahrhundertfeier seiner Geburt (1928) kommt Mann abermals auf die Unterscheidung des „großen Sehers des Leibes" vom „Seher des Geistes" zu sprechen und zitiert wiederum Merezkovskij, wie denn überhaupt diese grundlegende Gegenüberstellung im Werk Manns lebendig bleibt. Über den Bereich der russ. Literatur hinaus wirkt, wie Willy R. Berger 1971 nachgewiesen hat, Merezkovskij mit seinem Buch Die Geheimnisse des Ostens (1924) auf Manns Joseph und seine Brüder (1933-1943) ein. Nach dem 1. Weltkriege wurde Dostoevskij neben Kierkegaard zum Führer der Zeit. Allgemein wurde er als Dichter der Krise begriffen. Weite Kreise der Gebildeten blickten zu ihm wie zu einem Heilbringer empor und erwarteten von ihm die Lösung aller Fragen. Der dt. Dostoevskij-Mythos, vorbereitet von der Neuromantik, entstand. In Analogie zur Geldinflation sprach Sonja Lane rückblickend von einer Dostoevskij-Inflation, deren Höhepunkt 1921 mit einer Auflage von 203000 Exemplaren seiner Werke erreicht war. Das Dostoevskij-Bild der Zeit wurde durch die Erinnerungen der Frau und durch das tendenziöse Buch der Tochter Dostoevskijs beeinflußt. Die Biographie Nina Hoffmanns (1899) wurde 1920 von der Karl Nötzels abgelöst, die allerdings ebenfalls - nach der Formulierung Jileks - „mehr ein Heiligenleben" darstellt. Auch in dem Essay Stefan Zweigs in Drei Meister (1919), worin Dostoevskij von der Lebensphilosophie her gedeutet wird, und in dem Buche Julius Meier-Graefes, Dostojewski, der Dichter (1926) sieht Jilek „eine Mischung von Mythos und Historie, das Streben, den Dichter zum Symbol werden zu lassen". Dabei ist es zweifellos ein Verdienst Meier-Graefes, den Dichter zeigen zu wollen. Es ist jedoch bezeichnend, daß außer in den

Slavische Literaturen (russische Literatur) Einleitungen und Kommentaren der wichtigen Nachlaßbände der Piper-Ausgabe, die noch vor der entsprechenden russ. Publikation herauskamen, hervorragende russ. Dostoevskij-Forscher der literarhistor. Richtung (bis auf den heutigen Tag) überhaupt nicht zu Wort gekommen sind. Weltanschauliche Darstellungen interessierten; darum wurden auch Volynskij, V. Ivänov, Rözanov, Berdjajev übersetzt. Man dachte in Deutschland an den Philosophen und Theologen Dostoevskij. Dabei griff man vorzugsweise jene Elemente bei Dostoevskij auf, die der eigenen Sehnsucht der Zeit entsprachen. Sowohl die Psychoanalyse als auch die Konfessionen bemächtigten sich seiner. Dostoevskij noch am ehesten gerecht wurde die dialektische Theologie (so Eduard Thurneysen). Von der Lebensphilosophie her deutete Dostoevskij außer St. Zweig Hans Prager. Ein Schlagwort der Zeit ist das „Chaos". Hermann Hesse stellt 1922 im Blick ins Chaos der Formkraft der romanischen Welt das Chaos des Russentums gegenüber. An Dostoevskij soll entsprechend die Psychologie, die (angebliche) Abkehr von der bisherigen Ethik und selbst die Form seiner in Wahrheit sehr planvoll komponierten Romane chaotisch sein. Allerdings ist das Chaos ein Weg zur Wiedergeburt, ihn zu durchschreiten für den Westen wohl unvermeidlich. Kaum ein Dichter oder Schriftsteller des E x p r e s s i o n i s m u s entging dem Einfluß Dostoevskijs. Das gilt auch für die Prager Franz Kafka (1883-1924), Max Brod (18841968), Paul Kornfeld (1889-1942), Franz Werfel (1890-1945) und Johannes Urzidil (1896-1970). Die für W e r f e l von Marysia Turrian 1950 beigebrachten weltanschaulichen Übereinstimmungen mit Dostoevskij wird man nicht in allen Fällen gelten lassen können. Die Hauptverbindung zwischen beiden Dichtern, aus der sich dann alle weiteren Ubereinstimmungen ergeben, ist wohl, wie auch Zenta Maurina annimmt, eine anthropozentrische Weltschau. Von da aus ist es verständlich, daß die dichterische Ausprägung von Leiden, Demut, Liebe, Verzeihen für Werfel am Werk Dostoevskijs so wichtig ist. Die stärksten Einwirkungen des Russen sieht Maurina in

Barbara oder die Frömmigkeit (1929) und in Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933).

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Alfred D ö b l i n (1878-1957) hat seine frühe Begegnung mit Dostoevskij als ein für ihn epochales Ereignis in einer Zeit des Umbruchs verstanden. Durch ihn gewann Döblin den Blick für das Irrationale im Leben. Der Nervenarzt konnte in Dostoevskij einen Vorläufer S. Freuds sehen. Umso erstaunlicher war Döblins Beitrag Goethe und Dostojewski zum 100. Geburtstag des Dichters 1921. Darin erklärte er die Gestalten Dostoevskijs für Erzeugnisse seiner Phantasie, die mit dem wirklichen Rußland nichts zu tun hätten, warf ihm Feindschaft gegen den Westen vor und spielte gegenüber seinem Irrationalismus die Rationalität Goethes aus. Nach dem Übertritt vom Judentum zum Katholizismus hat er in einer Überarbeitung dieses Aufsatzes (1944) die einst abgelehnte Mystik Dostoevskijs dem Pantheismus Goethes vorgezogen. Im dichterischen Werk Döblins ist der Einfluß Dostoevskijs am stärksten in Berlin Alexanderplatz (1929). Der nächste Schritt - Dostoevskij als „Antipode Goethes" - wurde von H. v. Rimscha 1949 tatsächlich getan. In einer die Sprache des Nationalsozialismus vorwegnehmenden

Schrift Idiotenführer durch die russische Lite-

ratur (1925) kam folgerichtig Sir Galahad (Berta Eckstein-Diener) auf diesem Wege zur Ablehnung Dostoevskijs, der russ. Literatur, des Russentums überhaupt. Nach dem 2. Weltkrieg blieben die befürchtete erneute Dostoevskij-Inflation und das Wiedererblühen des dt. Dostoevskij-Mythos aus. (Über Ansätze unterrichtet V. Setschkareff 1953.) Außer polit. Ursachen wird auch die Entstehung einer ernsthaften dt. Dostoevskij-Philologie an den slavist. Lehrstühlen dazu beigetragen haben. Thomas M a n n , den die russ. Lit. in seinen Werken von den Anfängen bis zum Ende begleitete, hat den Dostoevskij-Uberschwang der 20er Jahre nicht mitgemacht. Publizistisch wurde ihm im 2. Weltkrieg Dostoevskij wie im ersten wiederum zum Helfer - diesmal gegen die Verblendung des eigenen Volkes. Für die Friedenszeit der Weimarer Republik, zu der er allmählich gefunden hatte, mochte er ihm aber zu endzeitlich-extrem erscheinen. Dichterisch beschäftigte ihn die russ. Welt erneut im Zauberberg (1924). Vielleicht ist Mme. Chauchat darin die Repräsentantin des vorrevolutionären Rußlands. Der „jesuitisch erzogene Kommunist" Naphta verkörpert da-

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gegen „die Grausamkeit der dogmatischen Diktatur, die eiserne Bindung durch den totalitären Staat". Seine Ansicht, die „staatsund klassenlose Gotteskindschaft", die proletarische Weltherrschaft, sei die zwingende und legitime Fortsetzung des Machtstrebens der katholischen Kirche, ist eine Variation der im Großinquisitor und im Tagebuch eines Schriftstellers geäußerten Gedanken Dostoevskijs über die Verbindung zwischen dem politischen Katholizismus und dem Sozialismus. Konstantin Fedin (1892-1977) hat in seiner Erzählung Sanatörij Arktür (1940) eine Antwort auf den Zauberberg versucht. - In der Emigration erfolgte im Doktor Faustus (1947) erneut die Hinwendung zu „Dostojewskis apokalyptisch-grotesker Leidenswelt", vor allem zu den Karamazovs. „Th. Manns Rezeption der Brüder Karamasow war intensiv. Sie war größer, als es der Autor des FaustusRomans wünschen mochte" (A. Hofman). Leverkühn, der auch den Teufel Ivan Karamazovs übereignet bekommen hat, gleicht in seiner Kälte aber auch dem von Th. Mann im Dostoevskij-Essay bewunderten unheimlichen Helden Stavrögin aus den Dämonen und in dem „Phänomen der Krankheit als Größe oder der Größe als Krankheit" nicht nur Nietzsche, sondern auch Dostoevskij selbst, wie ihn Mann seit alters verstand. Von der „Verführung" durch Dostoevskijs „epileptisch-apokalyptisches Sehertum über den deutschen Sinn" mußte sich Mann im Essay Dostojewski - mit Maßen (1946) in der Tat zu befreien suchen. - Die Neigung Manns, sich vertrauensvoll im Umgang mit der russ. Literatur auf Sekundärliteratur zu verlassen, zeigt sich auch im Versuch über Tschechow (1954). Hier gehört zur benutzten Literatur außer den bekannten dt. Traditionen Manns vor allem, wie Olga Medgyesi festgestellt hat, das Vorwort des Slavisten Reinhold Trautmann zu seiner Übersetzung der Meisterzählungen Cechovs (1947), aber auch die Biographie A. P. Tschechow (dt. Übers, v. Ina Tinzmann 1951) des durch seine Fehlurteile bekannten Vladimir Ermilov. Lilli V e n o h r , Thomas Manns Verhältnis zur russ. Literatur (1959; FAzSl. 1). Alois H o f m a n , Thomas Mann u. Rußland, e. ungelöste Frage d. vergleichenden Literaturwissenschaft. ZfSl. 7 (1962) S. 415-422. Ders., Thomas Mann a Rusko (Prag 1965). Ders., Thomas Mann u. d. Welt d. russ. Literatur. E. Beitr. zur literaturwiss. Kom-

parativistik (1967). Christian S c h m i d t , Bedeutung u. Funktion d. Gestalten d. europäisch östlichen Welt im dichterischen Werk Thomas Manns (1971; Slavist. Beiträge 52). V. V. D u d k i n , Ob odnom 'original'nom podrazanii' T. Manna, in: Dostoevskij, Materialy i issledovanija Bd. 2 (L. 1976) S. 225-229. W. R. B e r g e r , Thomas Mann u. d. antike Literatur, in: Thomas Mann u. d. Tradition, hg. Peter Pütz (1971) S. 52-100. Marysia T u r r i a n , Dostojewskij u. Franz Werfel. Vom östlichen zum westlichen Denken (Bem 1950; SprDichtg. 73).

§ 19. In den 2 0 e r J a h r e n erfolgt die Aufnahme der russ. Literatur in einem dreigeteilten Strom: Es wird weiterhin „ k l a s s i s c h e " Literatur übersetzt: Da die Novellen 1906 unbeachtet geblieben sind, erscheinen nach mehreren Einzelausgaben - die Gesammelten Werke von Nikolaj Lesköv (1831-1895) in Übertragungen von J. v. Guenther, H. v. Heiseler, A. Luther, E. Müller-Kamp (9 Bde, 1924-1927). Es wird daneben die entstehende E m i g r a t i o n s l i t e r a t u r übersetzt, zu der keineswegs nur „alle Schriftsteller um Merezkovskij" gehören, wie F. Mierau 1958 behauptet. Thomas Mann regt z . B . an, daß 1925 die Sonne der Toten (Solnce mertvych 1923) von dem erst 1922 aus Sowjetrußland ausgereisten Ivan Smelev veröffentlicht wird. Smelev (1875-1950) hatte seit seinem 1911 in Gor'kijs Sammelband Znanie veröffentlichten sozialkritischen Celovek iz restordna (Der Kellner 1926) einen großen Namen. Es wird im übrigen die entstehende S o w j e t l i t e r a t u r übersetzt. Zu ihrem Bekanntwerden in Deutschland fehlt es bisher noch immer an Einzeluntersuchungen. Von den Dichtern des mit dem dt. Expressionismus etwa gleichzeitig aufgekommenen und weitgehend dieselben künstlerischen Mittel verwendenden Futurismus wird zuerst Vladimir Vladimirovic M a j a k ö v s k i j (18931930, Selbstmord) bekannt. Er war 1922-1924 dreimal in Berlin gewesen, hatte da mehrmals über die revolutionäre russ. Dichtung gesprochen, seine Verse rezitiert und hatte u.a. auch J. R. Becher, F. C. Weiskopf, W. Herzfelde kennengelernt. Zu seinen Lebzeiten von proletarischen Eiferern als bürgerlicher „Mitläufer", von anderen als „Schreihals der Revolution" diffamiert und von Lenin in einer bekannten Notiz an den Volksbildungskommissar A. V. Lunacärskij vom 6. 5. 1921 herabgesetzt, wurde er 1935 von Stalin als „der

Slavische Literaturen (russische Literatur) beste, begabteste Dichter unserer Sowjetepoche" bezeichnet, dessen Gedächtnis und Werk teilnahmslos gegenüberzustehen, ein Verbrechen sei. Heute ist Majakovskij in aller Welt in seiner Größe und Bedeutung für die moderne Lyrik anerkannt. Seine Werke sind, übersetzt von H. Huppert, 1967-1972 in 5 Bänden in Ost und West erschienen; zahlreiche Einzelausgaben vorher und nachher weisen auf eine lebendige Rezeption. Die ersten dt. Veröffentlichungen erfolgten - nach F. Mierau (1958) - ab 1921. Unter ihnen waren Der linke Marsch (1921, 1922) und, in einer freien Nachdichtung von J . R. Becher, 150000000 (1924). Die Rezeption der Dramen beginnt mit den drei dt.sprachigen Ehrenvorstellungen des Mysterium buffo (1918; 2. Fassung 1921) anläßlich des III. Weltkongresses der kommunistischen Internationale (1921) in Moskau (Ubersetzung: Rita Rait). Durch die szenische Konzeption Wsewolod Meyerholds wirken Majakovskijs Bühnenvorstellungen auf Erwin Piscators Segment-Globusbühne. Die in der Tradition N. Gogols und A. W. SuchowoKobylins stehenden satirischen Dramen Die Wanze (1928/29) und Das Schwitzbad (1929/ 30) gewinnen durch ihre Kritik an der Verbürgerlichung des Arbeiters und an der Verselbständigung des Staatsapparates Interesse. Von dem großen Sänger des vergehenden dörflichen Rußlands, Sergej Aleksandrovic E s e n i n (1895-1925, Selbstmord), der 1922 mit seiner damaligen Frau, der Tänzerin Isadora Duncan, auch Deutschland besucht hat, sind zunächst nur einige Gedichte übertragen worden. Erst die Ubersetzungen seit dem Ende der 50er Jahre von J . v. Guenther, Karl Dedecius, Paul Celan, Adelheid Christoph und Rainer Kirsch lassen die Bedeutung Esenins ahnen. Von der proletarischen Dichtung der Zeit ist - nach der Aufstellung bei F. Mierau (1966) zu urteilen - bei uns wenig bekannt geworden. Von der Agitationslyrik des Dem'jan B e d n y j (eigentl. Efim Pridvörov, 1883-1945) ist die in Sowjetrußland zum beliebtesten Revolutionslied gewordene, 1918 geschriebene Kommunistische Marseillaise von Max Barthel 1922 übersetzt worden. Bednyjs zum 5. Jahrestag der Oktoberrevolution 1922 verfaßtes Poem Die Hauptstraße hat J. R. Becher 1924 nachgedichtet. Aus der ,,Proletkult"-Bewegung (Proletärskaja kuPtura), die mit dem Anspruch

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einer ganz neuen Dichtung antrat, aber sprachlich und formal in der Abhängigkeit von den Symbolisten, gedanklich in der der Narödniki verblieb, z. T. auch einem menschenbedrohenden Maschinenkult verfiel, wurde von Autoren wie Kirillov, Gästev, Geräsimov, Bezymenskij kaum mehr als je ein Gedicht übersetzt. Information über den „Proletkult" gaben die Broschüren seines Theoretikers Aleksandr Bogdänov (18731928): Die Kunst und das Proletariat (1919) und Was ist proletarische Dichtung? (1920). Weitergehende Unterrichtung über das neue Rußland und seine Literatur boten - neben den Schriften von L. Matthias und F. Jung A. Lunatscharskij, Eine Skizze der russ, Literatur während der Revolution (in: Das heutige Rußland 1923) und vor allem L. Trotzkij, Literatur und Revolution (1924). Die schnell aufblühende sowjetische P r o s a wurde bei uns seit 1923 bekannt: Bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 waren fast alle bedeutenden Schriftsteller der 20er Jahre mit einem oder mehreren Werken übersetzt. Allein der von W. Herzfelde geleitete Malik-Verlag in Berlin steuerte rund 50 Titel, darunter eine 17-bändige Gor'kij- und eine 10-bändige Erenburg-Ausgabe, bei. Ubersetzt und veröffentlicht wurde schnell, so daß die Prosa, die den Ereignissen im Lande aufmerksam folgte, auch eine Informationsquelle über das neue Rußland darstellte. Für solche aktuellen Themen lassen sich z. T. bedeutende künstlerische Werke anführen, so für die Darstellung von Revolution und Bürgerkrieg etwa die Partisanenerzählungen (1922, 1923) von Vsevolod Ivänov (1895-1963). Der eiserne Strom (1925) von Aleksandr Serafimövic (1863-1949), Budjönnys Reiterarmee (1926, 1931) von Isaak Babel' (1894-1941, in Haft), Städte und Jahre (1927) von Konstantin Fedin. Der Wiederaufbau der Industrie nach dem Bürgerkriege und aktuelle Fragen des Zusammenlebens der Geschlechter lieferten Fedor Gladköv (1883-1958) den Stoff zu dem Roman Zement (1927). Er wurde zu einem ganz großen Erfolg, erschien in fast allen KPDBezirkszeitungen als Fortsetzungsroman und wurde in der Bühnenbearbeitung von Heiner Müller noch 1975 in Frankfurt a. M. aufgeführt. - Die Periode des NEP, der „Neuen Wirtschaftspolitik" mit ihren kapitalistischen Unarten, spiegelt sich wider in den 1928 er-

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Slavische Literaturen (russische Literatur)

schienenen Romanen von Valentin Katäev (1897) Die Defraudanten und Der Dieb von Leonid Leönov (1899), die beginnende Kollektivierung in Die Genossenschaft der Habenichtse (russ. Bruski) von Fedor Panferov (1896-1960). - Ein Gesamtbild der Vorkriegszeit, der Kriegs- und Bürgerkriegszeit bot schließlich der an Krieg und Frieden erinnernde Roman von Michail Sölochov (1905), Der Stille Don (1929-1932), für den er nach Boris Pasternak (1958) als dritter Russe 1965 den Nobelpreis erhielt. - Besonders erfolgreich war der Band „junger russ. Prosa" Dreißig neue Erzähler des neuen Rußland, den der Malik-Verlag 1929 herausbrachte; in der 3. Auflage (1931) sind die Beiträge von B. Pasternak und M. Slonimskij gegen J. Olesa und S. Tret'jaköv ausgewechselt worden. Sergej Michäjlovic T r e t ' j a k ö v (18921939, in Haft), einst Symbolist, dann Futurist, Herausgeber der letzten fünf Hefte von Majakovskijs Zeitschrift Növyj Lef (1928, 8-12), bekannt als Autor des in Frankfurt am 9. 11. 1929 uraufgeführten Agitpropstücks Brülle, China!, vertrat, als er auf Einladung der „Gesellschaft der Freunde des Neuen Rußland" Anfang 1931 auf ein halbes Jahr nach Deutschland kam, die „von Lef der Belletristik entgegengestellte ,Literatur des F a k t s ' " : Bisher „niedrigere" Gattungen - wie Skizze, Reportage, Feuilleton, Essay u. ä. sollten von nun an der Schwerpunkt der Literatur sein. Die bisherige Rolle der „freien Einbildungskraft" sollte „dialektische Voraussicht" übernehmen, Fiktion aus der Literatur verbannt sein. Vom Autor wurde „direkte Teilnahme an der Produktion . . . und Koordinierung mit konkreten Bedürfnissen" verlangt. Uber seine Teilnahme am „Lebensaufbau" solcher Art hatte Tret'jaköv 1930 und 1931 in Skizzen berichtet, die dt. noch 1931 im Malik-Verlag unter dem Titel Feld-Herren. Der Kampf um eine Kollektiv-Wirtschaft erschienen. Vor ihrem Erscheinen hielt er in Berlin (am 21. 1. 1931), Wien, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Dresden, Aachen einen Vortrag zu dem Thema Der Schriftsteller und das sozialistische Dorf, der großes Aufsehen erregte. „Die deutsche Literatur saß zu Tretjakows Füßen und klatschte begeistert und enthusiasmiert", vermerkte Gottfried Benn in seinem Rundfunkvortrag Die neue literarische Saison (28. 8. 1931). Benn sah, daß es hier um eine neue Auffassung vom Menschen, von den Aufgaben der Literatur und des Schriftstellers ging. Der „rasende Reporter" Egon Erwin

Kisch hatte bereits Mitte 1929 proklamiert: „. . . für uns hat der literarische Lieferant politischen Propaganda-Materials turmhoch über dem überlegenen Weltdichter zu stehen, über allen Benns und Stefan Georges". Und J. R. Becher, der sich mit Kisch solidarisch erklärte, hatte im Dialog mit Benn 1930 die These von der „Dichtung als Tendenz" vertreten. Gegenüber solchen „Kollektivliteraten" hält Benn „altmodisch und abendländisch" (auch als Arzt) daran fest, „daß durch Organisation seiner Wohnungs- und Nahrungsverhältnisse der Mensch in seinen entscheidenden . . . Schichten nicht . . . erbmäßig formändernd, anlagemäßig wesenhaft . . . verändert wird." (Gesammelte Werke. Bd. 1, 1959, S. 425/26). Benn ist überzeugt, „daß der Mensch in allen Wirtschaftssystemen das tragische Wesen bleibt, das gespaltene Ich, dessen Abgründe sich nicht durch Streuselkuchen und Wollwesten auffüllen lassen, dessen Dissonanzen sich nicht auflösen im Rhythmus einer Internationale, der das Wesen bleibt, das leidet . . ." (Ebda, S. 426). Auf dem 1. Schriftstellerkongreß in Moskau 1934 erinnerte Tret'jaköv die Versammlung an die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit der Schriftsteller und führte als fruchtbare Beispiele Fr. Wolf und V. Visnevskij, B. Brecht und sich an. In meisterhaften literar. Porträts stellte er 1936 eine Reihe seiner ausländischen Bekannten dar, darunter Brecht, Wolf und J. R. Becher. Tret'jaköv nannte sein Buch Ljüdi odnogö kosträ, („Menschen eines Scheiterhaufens"), da die Bücher der Genannten 1933 von verblendeten dt. Studenten verbrannt worden waren. Das Gespräch mit Becher ist am kunstvollsten gestaltet: Tret'jaköv übersetzt Bechers Gedicht auf den Tod Clara Zetkins (1933) Stück um Stück. In den Übersetzungsvorgang werden Gesprächsfetzen, Erinnerungen, allerlei Assoziationen scheinbar beziehungslos eingefügt, Bechers Kunst wird charakterisiert, die möglichen Anreger - Brecht und Majakovskij - genannt, es fällt Bechers Vergleich: „Weinen eine Art deutscher Bedny, und ich - ein Majakovski". Allmählich entsteht das Bild des Dichters und Menschen Becher: vom expressionistischen Umstürzlertum zum kommunistischen Agitationslyriker, vom „Herrensöhnchen" „zum Mann, der in der proletarischen Reihe geht". Der Weg des Arztes, Revolutionärs und erfolgreichen Dramatikers Friedrich W o l f , führte von seinem „Würfelhaus" in Stuttgart für zwölf Jahre in die Emigration in der Sowjetunion. Hier wohnte er zeitweise in einem Zimmer mit dem ihm befreundeten Vsevolod Visnevskij (1900-1951) zusammen. Dieser bearbeitete drei Wolfsche Dramen - Die Matrosen von Cattaro, Bauer Baetz, Floridsdorf -, Wolf bearbeitete Visnevskijs Optimistische Tragödie (Optimisticeskaja tragedija, 1933);

Slavische Literaturen (russische Literatur) in seiner Fassung wurde das Werk in der D D R und 1972 auch in West-Berlin gespielt. Tret'jakovs Beziehungen zu B r e c h t , der zweimal die Sowjetunion besuchte, waren am intensivsten. Für Brecht war er bekanntlich sein „Lehrer, der große, freundliche". Tret'jakov brachte 1934 in Moskau drei Stücke von Brecht heraus, darunter Die Mutter nach dem Roman von Gor'kij. Vielleicht auch angeregt durch die Verfilmung Pudovkins arbeitete Brecht (mit G. Weisenborn) an der Mutter von 1930-1932. Russisch sind an ihm, meint Tret'jakov, nur die Namen: es wendet sich an dt. proletarische Mütter, „. . .ein komplettes Ausbildungspensum in Methodik und Taktik der revolutionären Propaganda". Die Wlassowa ist eine gelungene Agitatorin, das Arbeitermilieu, das Brecht damals nicht kannte, ist dagegen - so Tret'jakov - mißlungen. Brecht seinerseits bearbeitete das 1927 für das Theater W. Meyerholds geschriebene „Produktionsstück" Tret'jakovs Ich will ein Kind haben! Anfang der 30er Jahre und veröffentlichte es als Manuskriptdruck. Mierau macht 1972 darauf aufmerksam, daß im Guten Menschen von Sezuan (1938-1940) das Gespräch des Shen Te mit dem zu erwartenden Sohn eine Reminiszenz an eine entsprechende Situation bei Tret'jakov ist. Auf eine weitere russ. Reminiszenz hat Brecht selbst in der Notiz Wo ich gelernt habe hingewiesen: Das Lied der Grusche im Kaukasischen Kreidekreis (1944/ 1945) Ich werde warten auf dich . . . ist angeregt von dem Lied Zdi menjd (1942, Wart auf mich . . .) des auch bei uns durch seine Romane bekannten Konstantin Simonov (1915). Außer den Genannten lassen sich in dieser Skizze bei weitem nicht alle Schriftsteller und Dichter nennen, die mit der russ. Literatur in intensivere Berührung gekommen sind. Nur an einige sei noch erinnert: Heinrich M a n n (1871-1950), der von der franz. Lit. stark geprägt ist, fand in Ein Zeitalter wird besichtigt (1945) für die russ. Literatur folgende Worte: „. . . ein Vorgang ungeheuer und von einer Erbaulichkeit, daß wir . . . kaum glauben wollen, wir wären dabeigewesen". „Von Puschkin bis Gorki haben diese Romane, Glied an Glied in lückenloser Reihe, eine tiefe Kenntnis des Menschen, seiner Schwäche, seiner Furchtbarkeit, seiner unerfüllten Berufung gelehrt - und sind aufgenommen worden als Lehre. Ein Volk,

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eine „Gesellschaft", mit all ihren Abständen, lernte hier, nicht ganz vergebens". Henry v. H e i s e l e r (1875-1928), Siegfried v. V e g e s a c k (1888-1974), Frank T h i e s s (1890-1977) und Werner Bergengruen (1892-1964) eint ihre Herkunft aus dem alten Rußland (Petersburg und Baltikum) und die Faszination durch Dostoevskij. Puskins Dramen führten Heiseler zu seinen eigenen Bühnenwerken, von denen vier in Rußland spielen. Das Baltikum ist auch Edzard S c h a p e r (1908) zur geistigen Heimat geworden. Das russische Thema behandelt er in Die sterbende Kirche (1936) und in Der letzte Advent (1949). Lion F e u c h t w a n g e r (1884-1958), der über seine Reise in die UdSSR den Bericht Moskau 1937 geschrieben hat, hat 1912 an einer Ubers, des Kirschgartens von Cechov für Georg Müller in München mitgearbeitet und 1916 einen Essay über ihn verfaßt. Seine „melancholische Komödie" Der Amerikaner oder die entzauberte Stadt (1921) ist s. M. n. von t e c h o v beeinflußt. In seinen Sympathien neigte er sonst mehr zu Tolstoj als zu Dostoevskij. Tolstojsche Anregungen sieht T. Motyleva bei Arnold Z w e i g (1887-1968) im Streit um den Sergeanten Grischa (1927). Anna S e g h e r s (geb. 1900) kannte die Bücher Dostoevskijs seit ihrer Studentenzeit; sie hat sich auch mit Tolstoj beschäftigt (Über Tolstoi, über Dostojewski/, 1963). In dem Roman Die Toten bleiben jung (1949) läßt sie zwei Menschen aus Dostoevskijs Schuld und Sühne ganz verschiedene Schlüsse ziehen : Baron Lieven wählt Raskol'nikovs napoleonische Machtideologie (und geht unter); Anneliese Wenzlow, am Nationalsozialismus bereits zweifelnd, wird von Sonjas Replik auf Raskol'nikovs Theorien („Der Mensch ist doch keine Laus!") getroffen und entscheidet sich für Humanität. Wir und Dostojewskij ist der Titel eines von Manès Sperber 1972 herausgegebenen Buches, an dem neben Siegfried Lenz, André Malraux und Hans Erich Nossak Heinrich Boll beteiligt ist. B o l l s Interesse für Dostoevskij ist bekannt. Er hat zu dem Fernsehfilm des W D R über F. M. Dostojewski und Petersburg, der am 15. 5. 1969 gesendet wurde, den Text geschrieben ; er hat auch in seiner Nobelpreisrede seine Verbundenheit mit Dostoevskij berührt. In seinem Beitrag zum genannten Buch bemüht er sich, einige Zusammenhänge

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Slavische Literaturen r u s s i s c h e Literatur)

z w i s c h e n D o s t o e v s k i j s Religiosität, s e i n e m M y s t i z i s m u s u n d seiner P s y c h o l o g i e a u f z u d e c k e n . D i e w i c h t i g s t e n R o m a n e s i n d für ihn Die Dämonen - „ein prophetisches Modell f ü r d e n b l i n d e n abstrakten Fanatismus politis c h e r G r u p p e n u n d S t r ö m u n g e n " - u n d der Idiot - „ d e r k ü h n s t e V e r s u c h , d e n M e n s c h e n s o h n als d e n M i t l e i d e n d e n in der Literatur z u k o n k r e t i s i e r e n " - , die liebsten Figuren sind i h m K i r i l l o v u n d Satov, Fürst M y s k i n und Rogozin. E. H e x e l s c h n e i d e r u. M. W e g n e r , Deutsche Arbeiterbewegung und russ. Literatur. ZfSl. 10 (1965) S. 1-34. Michael W e g n e r , Theoretische Grundfragen d. Rezeption d. russ. Lit. in Deutschland zu Beginn d. 20. Jh.s. ZfSl. 13 (1968) S. 1-11. Ders., Dt. Arbeiterbewegung u. russ. Klassik 1900-1918. Theoretische u. praktische Probleme d. Sozialist. Erbe-Rezeption (Bln. 1971; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 58). Ders., Literatur und Revolution. Rosa Luxemburgs Einleitung zu Vladimir Korolenkos 'Istorija moego sovremennika'. I n : Slawist. Beiträge aus der DDR zum 50. Jahrestag d. Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, hg. v. H . H . Bielfeldt (1967; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 48) S. 7-36. H o r s t S c h m i d t , Dt. Arbeiterbewegung u. russ. Klassik 1917-1933. Funktion und Wirkung d. sozialist. Rezeption d. russ. Lit. im gesellschaftlichen u. literar. Prozeß d. Weimarer Republik (1973). G . S c h a u m a n n , Majakovskiju. d. dt. Expressionismus. ZfSl. 15 (1970) S. 517-520. H . W a l d , Hugo Huppert als Übersetzer d. Lenin-Poems. ZfSl. 15 (1970) S. 521-528. H . - D . M ü l l e r , Der Malik-Verlag als Vermittler. ZfSl. 3 (1958) S. 720-738. Fritz M i e r a u , Die Rezeption d. Sowjet. Lit. in Deutschland in den Jahren 19201924. ZfSl. 3 (1958) S. 620-638. Ders., Zum Problem d. dt. Übersetzung Sowjet. Lyrik. ZfSl. 8 (1963) S. 755-765. Ders., Dt. EseninÜbersetzungen. ZfSl. 11 (1966) S. 317-330. D e r s . , Tatsache u. Tendenz. Der „operierende" Schriftsteller Sergej Tretjakow. In: Sergej M. T r e t j a k o w , Lyrik, Dramatik, Prosa, hg. v. F. Mierau; (1972; Röderberg-Taschenb. 11) S. 421-528. Ders., Sergej Tret'jakov u. Bertolt Brecht. ZfSl. 20 (1975) S. 226-241. Ders., Sergej Tret'jakovs 'Ljudi odnogo kostra' (1936). Überlegungen zur dt. Ausgabe. ZfSl. 21 (1976) S. 9095. Sergej T r e t j a k o v , Die Arbeit d. Schriftstellers, H g . H e i n e r Boencke (1972; Das neue Buch 3). Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (1917-1921), hg. v. Richard Lorenz (1969; dtvSonderreihe 74). G . K r a t z , Untersuchungen zur Lyrik von V. T. Kirillov. Proletarische Dichtung und literar. Erbe. (Masch.) Magister-

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§ 2 0 . N a c h d e r G e n e r a t i o n der 20er u n d 3 0 e r Jahre sind i n z w i s c h e n in der Lit. der S o w j e t u n i o n n e u e G e n e r a t i o n e n aufgetreten u n d z u g l e i c h n e u e G a t t u n g e n (s. Science Fiction) ins B l i c k f e l d gerückt. D i e V e r s ä u m n i s s e d e r H i t l e r z e i t in d e r A u f n a h m e der russ. Literatur - R e i n h o l d Piper schrieb 1947, w ä h r e n d d e s K r i e g e s sei die g a n z e russ. Literatur v e r b o t e n g e w e s e n - k o n n t e n verständlicherw e i s e in der D D R schneller n a c h g e h o l t w e r d e n als in d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d , z u m a l die S o w j e t i s c h e M i l i t ä r - A d m i n i s t r a t i o n ( S M A ) in i h r e m Verlag sehr bald viele Titel russ. Literatur in U b e r s e t z u n g e n herausbrachte. A u c h h e u t e ist die Zahl der U b e r s e t z u n g e n aus d e r russ. Lit. in der D D R viel h ö h e r als in d e r B u n d e s r e p u b l i k . D o c h z e i g t e n über Jahre h i n v o r g e n o m m e n e B e o b a c h t u n g e n , d a ß die V e r l a g e in d e r B u n d e s r e p u b l i k t r o t z der tradit i o n e l l e n W e s t o r i e n t i e r u n g des L e s e p u b l i k u m s

Slavische Literaturen (russische Literatur) erfolgreich bemüht sind, neue Namen der russ. Lit. und neue Werke schon bekannter Schriftsteller vorzustellen. Von Vorteil für die Information des Publikums ist dabei, daß die Verlage keine Rücksicht auf die jeweilige Linie der Sowjet. Literaturpolitik zu nehmen brauchen. Polit. Ereignisse in Rußland haben häufig stimulierend auf die Rezeption der russ. Lit. in Deutschland eingewirkt. Das bestätigte sich wieder, als die russ. Lit. nach dem Tode Stalins (1953) und nach dem X X . Parteitag der KPdSU (1956), auf dem N. S. Chruscev über den „Personenkult und seine Folgen" berichtete, das Thema der Bewältigung dieser Vergangenheit des Personenkults aufnahm. Il'ja E r e n b u r g s Roman Tauwetter (Öttepel') gab dieser Periode den Namen. Er erschien in der Zeitschrift Znämja 1954 und 1956, als Buchausgabe 1956, dt. 1957. Ihm folgte Vladimir D u d i n c e v s Der Mensch lebt nicht von Brot allein (1957, die dt. Ausg. mit e. Vorw. des Autors im gleichen Jahr). Die Veröffentlichung der Memoiren von Il'ja Ehrenburg Menschen, Jahre, Leben (1960-1965 in Növyj mir, dt. 1962-1965 in 2 Bänden) erregte großes Aufsehen und wurde viel diskutiert. Das Druckverbot des Doktor Zivago von Boris Leonidovic P a s t e r n a k (1890-1960), seine Veröffentlichung in Italien, die dt. Ausgabe 1958, der Ausschluß des Dichters aus dem Schriftstellerverband, die Verleihung des Nobelpreises - führte zu einer ungewöhnlich schnellen Rezeption Pasternaks in der Bundesrepublik. Eine Auswahl seiner Lyrik und seine Prosa wurden bereits 1959 in Taschenbuchausgaben veröffentlicht. Die dem Andenken R. M. Rilkes gewidmete autobiographische Erzählung Ochrannaja grdmota (1931) wurde zweimal übersetzt (als Sicheres Geleit und als Geleitbrief). Die große Lyrikerin Anna A c h m ä t o v a (1889-1966), deren Gedichte in der Sowjetunion von 1974-1976 in drei Ausgaben erschienen sind, war durch Verfügung des Zentralkomitees der KP vom 14. 8. 1946 zur „typischen Vertreterin der unserem Volk fremden, leeren, ideenlosen Dichtung" gestempelt, ihre Gedichte als für die Erziehung der Jugend schädlich verurteilt worden. Ihre Lyrik wurde in der Sowjetunion erst 1958 wieder in einem schmalen Bändchen, in der Bundesrepublik 1964 und 1967 in Überset-

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zungen publiziert. Darunter war auch der in der Sowjetunion als Ganzes nicht erschienene Gedichtzyklus Requiem, Erinnerung an die Leiden 1935-1940 in der Zeit massenhafter Verhaftungen. Michail B u l g ä k o v s (1891-1940) 1940 abgeschlossener, in der Sowjetunion ohne Kürzungen erst 1973 herausgekommener Roman Der Meister und Margarita, der u. a. FaustMotive eigenartig verarbeitet, fand dt. 1968 großes Interesse. Bereits die mit ausdrücklicher Zustimmung Chruscevs 1962 gedruckte Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch (dt. 1963) hatte die Aufmerksamkeit auf Aleksandr S o 1 z e n i c y n (geb. 1918) gelenkt. Es ist verständlich, daß auch die folgenden Werke, die in der Heimat nicht mehr herauskamen, im Westen erschienen, darunter die Krebsstation (1968, russ. in London, danach in dt. Übers, mit e. Vorw. von H. Boll). Solzenicyn wurde 1969 aus dem sowjet. Schriftstellerverband ausgeschlossen, erhielt 1970 den Nobelpreis und wurde schließlich in den Westen abgeschoben. Die hohen Auflagen der Werke Pasternaks und Solzenicyns lassen leicht vergessen, daß in der Bundesrepublik auch Werke anderer Sowjet. Autoren gepflegt werden. In den in der Bundesrepublik erschienenen Sammelbänden russ. Gegenwartsliteratur sind fast ausschließlich Schriftsteller und Dichter der Sowjetunion vertreten: In dem von H. Kesten 1963 herausgegebenen Band Europa heute. Prosa und Poesie seit 1945 z. B. Achmatova, Aksenov, Bunin, Erenburg, Fedin, Jäsin, Evtusenko, Kazaköv, Kataev, Leonov, Martynov, Maksimov, Nagibin, Nekräsov, Pasternak, Paustövskij, Simonov, Solochov, Zabolöckij, Zöscenko, Voznesenskij. Die ein Jahr später von Hans Baumann ausgewählte Russische Lyrik brachte an weiteren Namen: Achmadülina, Aliger, Antoköl'skij, Berggöl'c, Chlebnikov, Drunina, Gorodeckij, Gumilev, Inber, Isakövskij, Kirsänov, Kuzmin, Majakovskij, Mandel'stam, Marsäk, Matveeva, Okudzäva, Rozdestvenskij, Sel'vinskij, Slückij, Seiner, Scipacev, Tichonov, A. Tolstöj, Volösin, Cvetäeva. Ein anderer Verlag, der sowjet. Erzähler in Taschenbüchern bekannt machte - u. a. Granin, Baklänov, Bek, Bondärin, Evdokimov - 1962 und 1965, brachte auch Romane von Baklanov, Vladimir Kiselev, Nikolaj Evdokimov und einen Kriminalroman von Arkadij Adämov in Einzel-

Slavische Literaturen (russische — polnische Literatur)

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ausgaben. Mit Obersetzungen von drei Romanen des bedeutendsten kirgisischen Schriftstellers Cingiz Ajtmätov (1928), der in seiner Muttersprache und Russisch schreibt, ist auch ein Schritt zur Berücksichtigung der regionalen Literaturen in der Sowjetunion getan. Alexander S t e i n i n g e r , Literatur u. Politik in d. Sowjetunion nach Stalins Tod (1965; Veröff. d. Osteuropa-Inst. München 26). H. A u e r s wald, Zur Rezeption Sowjet, Prosaliteratur im ersten Jahrzehnt d. Dt. Demokratischen Republik. ZfSl. 20 (1975) S. 538-544. W . R e i s s , Erweiterung der rezeptionsästhetischen Aktivität bei d. Rezeption d. Sowjetliteratur in den 70er Jahren, dargest. an d. Rezeption literar. Werke durch Armin Stolper und Heiner Müller. ZfSl. 20 (1975) S. 532-537. Vitalij Grigor'evic K o s t o m a r o v , Russkij jazyk sredi drugich jazykov mira. (M. 1975) S. 96-109. (

Alfred

Rammelmeyer

II. Die Aufnahme der polnischen Literatur in Deutschland § 1. Die Besonderheiten der geographischen Lage Deutschlands und Polens sowie die im MA. sich vollziehende dt. O s t k o l o n i s a t i o n führten in Polen zu einer siedlungsmäßigen Verzahnung beider Bevölkerungsgruppen, so daß sich auch im geistigen Bereich engste Kontakte ergaben. Viele Deutsche bildeten in Polen gerade jene soziale Schicht, die — zwischen Adel und Bauerntum stehend — u. a. im S c h u l - und B i l d u n g s b e r e i c h eine bedeutende Rolle spielte. Unter diesen Bedingungen entwickelte der dt. Be-, völkerungsteil eine überaus rege Tätigkeit, und die aus ihm hervorgegangenen Lehrer, Drucker und Verleger sind aus der Geistesgeschichte beider Völker nicht wegzudenken. Bei manchem Gelehrten ist es nicht immer leicht zu entscheiden, ob er ein polonisierter Deutscher ist oder ein Pole oder ein nur aus Liebe zu seiner neuen Heimat sich als Pole gebender Deutscher. In der F r ü h z e i t , als das Latein die Sprache der Wissenschaft und der Lit. war, wie auch im H u m a n i s m u s , war überdies die nationale Herkunft meist weniger wichtig als die Wirkung und die Leistung, wofür der aus einer deutschstämmigen Kaufmannsfamilie in Thorn stammende Nikolaus K o p e r n i k u s , der seine Ausbildung an der Artistenfakultät der Universität Krakau begann, das Studium in Italien fortsetzte und

schließlich nach Polen zurückkehrte, als Beispiel dienen mag. Das Problem des Einflusses der einen Lit. auf die andere gewinnt somit für diese frühe Periode eine internationale Dimension, die an dieser Stelle nicht zu behandeln ist. In die Zeit des Humanismus fällt auch der zweieinhalbjährige Aufenthalt (14881491) von Konrad C e l t i s in Krakau; seine Krakauer Geliebte Hasilina, deretwegen er das Polnische erlernt hat, wurde zum Idol des ersten Buches seiner Quattuor libri Amorum (Nürnberg 1502), einer topographisch aufgebauten Liebesdichtung, in der Persönlich-Biographisches, Landschaftliches und Philosophisches allegorisch verbunden sind und die den Dichter als Wanderpoeten erscheinen lassen. K. M e c h e r z y n s k i , OpobyciewPolsceKonrada Celtesa i jego wpfywie na rozbudzenie humanizmu. Rozprawy i sprawozdania z posiedzen Akademii Umiejftnosci, Wyd. Filol., Bd. 4 (1876) S. 263-313. Antonina J e l i c z , Konrad Celtes (Warschau 1956).

§ 2. Erst im B a r o c k z e i t a l t e r wird eine Einwirkung der poln. Literatur auf dt. Dichter greifbar, und zwar auf die Dichter der „Schlesischen Schulen" (s. d.) und des „Königsberger Kreises" (s.d.). Sie geht von Jan K o c h a n o w s k i ( 1 5 3 0 - 1 5 8 4 ) aus. A. Wröbel kommt in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, daß neben Übersetzungen ins Deutsche (Kaldenbach, 1651; Scherffer von Scherffenstein, 1652) auch Bearbeitungen und Abhängigkeiten von Kochanowskis Werken für diese Dichterkreise nachzuweisen sind. Besonders bekannt und von starker Wirkung war hier Kochanowskis Psaherz (1578) - er beeinflußte insbesondere Martin O p i t z und regte Christoph C o l e r zur Umarbeitung des 91. Psalms an. Kochanoswkis Fraszki (1584) erfuhren außer der Ubersetzung durch S c h e r f f e r v o n S c h e r f f e n s t e i n auch eine Bearbeitung durch Friedrich von L o g a u . Ebenso enthalten die Kirchenlieder (s.d.) des ostdt. Raumes Ubersetzungen und Bearbeitungen nach Kochanowski. Auch die lat. Dichtung des Hofpredigers Wladislaus' IV. Maciej S a r b i e w s k i (15951640) war den dt. zeitgenöss. Dichtern wohlvertraut: Paul F l e m i n g und Andreas G r y p h i u s übersetzten sie ins Deutsche, da sie die strenge horazische Form in Verbindung mit dem religiösen Gehalt als Vorbild empfanden. Noch anderthalb Jh.e später haben Sarbiews-

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Slavische Literaturen (polnische Literatur) kis „unschätzbare" Oden (in der Übers, von J . N . Götz) H e r d e r zu eigenen Ubersetzungen angeregt (Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan. Bd. 27, S. 313-316). Doch auch das polit. Schicksal Polens hat Herder, der in der Nationalgesinnung und der Allianz der Nationen die Voraussetzung für die zukünftige kulturelle Entwicklung sah, nicht gleichgültig gelassen. In Karlsbad ließ er sich vom Fürsten Czyrtoryski und Graf Potocki die Geschichte des Kosciuszko-Aufstandes (1794) erzählen und in der Adrastea schreibt er: „Mit Augusts des Ersten Wahl war sie [Polens Zerreißung] unterzeichnet worden: denn eine Nation, die ihre Krone mehreren Auswärtigen feil bietet, und sie denn zuletzt dem Meistbietenden zuschlägt, ist keine Nation mehr. Indem sie sich Jedem mächtigen Auswärtigen zur Beute gegeben, hat sie sich zu Allem verkaufet" (Ebda, Bd. 23, S. 429). Die gelehrte Welt des 17. Jh.s über Polen. Zeitgenöss. Texte.Hg.v.Elida-MariaSzarota.Histor. Einf., Einl. u. Anm. v. Adam Kersten (1972). E . - M . S z a r o t a , Polen im Lichte d. dt. Gelehrtenschrifttums d. 17. Jh.s. Weim. Beitr. 16 (1970), H . 2, S. 200-215. — A. W r ó b e l , Kochanowskia literatura niemiecka. Pamiftnik Literacki 43 (1952) S. 488-501. P a u l D r e c h s l e r , WencelSch.erffervon Scherffenstein. Diss. Breslau 1886. — Marian S z y r o c k i , Die dt. Lit. d. Barock (1968; rde. 300/301). Ders., Poln. Schriftsteller d. Renaissance u. Deutschland. Aufbau 11 (1955), H . 4, S. 301307. Ders., Martin Opitz (1956; Neue Beitr. z. Lit. wiss. 4). Ders., Andreas Gryphius. Sein Lehen u. s. Werk (1964). R . L i g a c z , Martin Opitz, der Hofhistoriograph Wladislaus' IV. u.s. Verhältnis zu Polen. Annali Ist. or. di Napoli 8 (1965) S. 77-103. — Frederick M. B a r n a r d , Zwischen Aufklärung u. polit. Romantik. E. Studie über Herders soziologisch-polit. Denken (1964; PhilStQuell. 17), erw. engl. Ausg. u . d . T . : Herder's social and political thought. From enlightenment to nationalism (Oxford 1965). E. B i r k e , Herder u. d. Slawen, in: Schicksalswege dt. Vergangenheit. Beiträge zur geschichtl. Deutung d. letzten 150 Jahre. Hg. v. W. Hubatsch (1950) S. 81-102.

§ 3. Im 18. J a h r h u n d e r t gehört Ignacy K r a s i c k i (1735-1801), Fürstbischof von Ermland, schon durch die Teilnahme an der Tafelrunde Friedrichs d. Gr. zu den in Deutschland bekanntesten poln. Dichtern. Seine Dichtungen wurden unmittelbar nach ihrem Erscheinen ins Deutsche übersetzt, seinen Freunden aber las er sie auf Französisch vor. K. M. Górski konnte nachweisen, daß P f e f f e l s Fabel Der

Postzug auf eine Fabel von Krasicki zurückgeht; auch für die Fabel Der Hänfling und der Zeisig ist weniger eine gemeinsame Vorlage als eine Beeinflussung durch Krasicki anzunehmen. Ins D t . übertragen wurden daneben Franciszek K a r p i n s k i (1741-1825) - durch G. G. Fülleborn - und Juljan Ursyn N i e m c e w i c z (1754-1841), der aber erst im 2. Viertel des 19. Jh.s weitere Verbreitung fand. Der große Erfolg, den in den 90er Jahren sein tendenziöses Lustspiel Powröt posta (dt. u. d. T.: Die Rück-

kehr des Reichstagsabgeordneten), mit dem er für die Konstitution warb, auch in Deutschland errang, läßt sich aus dem hier vorherrschenden polit. Interesse für Polen verstehen. Die erste Übersetzung stammt von S. G. Linde (1792), der auch die anonym hg. polit. Schriften von Niemcewicz und von Hugo KoU^taj übersetzt hat; 1792 und 1794 erschienen zwei weitere Ubersetzungen.

Von großer Bedeutung für die Anknüpfung literar. Beziehungen war die Initiative von V e r l e g e r n und B u c h h ä n d l e r n . Hier sind vor allem zu nennen: Lorenz Mitzier von K o l o f (1711-1778) und Michael G r o e l l (17221798); letzterer hat nicht nur zu der Verbreitung von Besprechungen, sondern auch zu Ubersetzungen poln. Dichtungen in Deutschland seit den 70er Jahren den ersten stärkeren Anstoß gegeben, und ihm ist es in erster Linie zu verdanken, daß zunächst Krasicki mit einer Reihe von Werken in Deutschland bekannt wurde. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre verlegte er dann Ch. G. Steiners Poln. Bibliothek (Warschau 1787/88), in der außer Krasicki auch F. D . Kniaznin (1750-1807) und Adam Naruszewicz (1733-1796) in Ubersetzungen erschienen.

Die

Göttingischen

Gelehrten

Anzeigen

brachten ab 1755, unter der Redaktion von A. v. Haller (1747-1770) und Ch. G. Heyne (17701813), fast laufend Besprechungen und Anzeigen der neuesten poln. Veröffentlichungen und der Werke über Polen, z. B. die Gottscheds und Chr. Wolfis zu J . St. Zahiski (1659-1758), Bischof von Krakau, und die Tätigkeit dt. Gelehrter in Polen. Gemessen an den anderen slavist. Aktivitäten der G ö t t i n g e r U n i v e r s i t ä t im Zeitalter der Aufklärung ist jedoch die Distanz zwischen Göttingen und Polen, erkennbar auch an der vergleichsweise geringen Zahl poln. Studenten, nicht zu übersehen. Als Gründe hierfür nennt R. Lauer den „aufklä-

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Slavische Literaturen (polnische Literatur)

rerischen Kulturoptimismus der Göttinger Gelehrten" und das „ausgesprochen protestant. Gepräge der Universität". Die Beziehungen werden erst im ersten Viertel des 19. Jh.s enger. Im Jahre der zweiten Teilung Polens erschien eine Geschichte und Übersicht der poln. Lit. alter und neuer Zeiten in Briefen (in den Nachrichten über Polen, hg. v. J . J . Kausch. 2 Bde Salzburg 1793) von einem Schriftsteller namens P o l o n i u s (Pseudonym); der Autor trat mit entschiedenen Worten gegen das in Deutschland der poln. Lit. entgegengebrachte Vorurteil auf. Es ist dies der erste dt.sprachige Überblick über die Gesch. der poln. Literatur. K. M. G ö r s k i , Studya nad bajkami Krasickiego. Przegle^d Polski. Bd. 85 (1887) S. 185215; 494-510; Bd. 86 (1887) S. 35-61. Max Poll, Die Quellen zu Pfeffels Fabeln. Diss. Straßburg 1888. — R. Lauer, Episoden aus d. Gesch. d.poln. Beziehungen der Universität Göttingen. Georgia Augusta. Nachrichten aus d. Univ. Göttingen 27 (Nov. 1977) S. 2-10. § 4. G o e t h e kommentiert seine Reise nach Polen ( er war dort 1790 nur einige Tage) in einem Brief an Herder: „Ich habe in diesen acht Tagen viel Merkwürdiges, wenn es auch nur meist negativ merkwürdig gewesen wäre, gesehen" (Weim. Ausg. I V , 9, S. 223 f.). In den Annalen von 1807 spricht er vom Haß der Polen „gegen die Preußen" und notiert aus Karlsbad, wo er schon 1785 mit der poln. Aristokratie in Berührung gekommen war, eine Provokation seines Sohnes durch vier Polen. Sein z. T . pittoreskes Polen-Bild ist durch die starken russ. Sympathien des Weimarer Hofes mitgeprägt, wie seine ,Maskenzüge' erkennen lassen (Aus den Maskenzügen russ. Nationen zum 16. Februar 1810, Festzug, dichterische Landeserzeugnisse, darauf aber Künste und Wissenschaften vorführend. 1818). Erst aus dem Nachlaß wurde sein Vorschlag zur Einführung der deutschen Sprache in Polen (1813/14) bekannt, der sich vermutlich auf jene Landesteile bezieht, die durch den Wiener Kongreß bei der sog. Vierten Teilung Polens an Preußen gefallen waren. A m 1. April 1814 trug Fürst Radziwill Goethe seine musikalischen Kompositionen zum Faust vor, und in den 20er Jahren wurde Goethe in Weimar von A. Mickiewicz, E . Odyniec und A. E . Kozmian besucht; die Begegnung mit Mickiewicz kam auf Empfehlung der aus Warschau stammenden Hofpianistin der Zarin, Maria Szymanowska (Inschrift

N r . 38) zustande und fand ihren Niederschlag in dem Zweizeiler An Adam Mickiewicz mit einer angeschriebenen Feder, August 1829 (An Personen, N r . 225). Die ältere Lit. hierzu ist verzeichnet bei J. v. T w a r d o wski, Goethe u. Polen, Polen u. Goethe. JbdGG. 19 (1933) S. 142-166. Vgl. außerdem: W. Lednicki, Goethe and the Russian and Polish Romantics. CompLit. 4 (1952) S. 23-43. F. Witczuk, Goethes poln. Bekanntschaften. Weim. Beitr. 16 (1970), H. 6, S. 196-210. § 5. V o n den Dichtern der dt. R o m a n t i k sind zwei auf das engste mit Polen verbunden: E . T . A. Hoffmann und Zacharias Werner. E . T . A . H o f f m a n n h a t t e p o l n . Vorfahren. Nach Abschluß seiner juristischen Ausbildung zunächst am preuß. Obergericht in Posen tätig, wurde er wegen seiner Fastnachts-Karikaturen nach Plock, dem Sitz der neuostpreuß. Regierung, versetzt, aber 1804 nach Warschau berufen, wo er auf einen kunstinteressierten Kreis traf und sowohl auf dem Gebiete der Musik wie der Literatur entscheidende künstlerische Impulse empfing. Die „deutsche Herrschaft" hatte Warschau „nicht zu einem deutschen O r t gemacht; vielmehr trug es ein höchst fremdartiges, man möchte sagen, außereuropäisches Gepräge, so daß der aus Preußen, dem wohlgeordneten, sogenannten ,alten Lande', in diese neue Welt Versetzte, in den ersten Wochen aus dem Staunen nicht herauskam" (Julius Eduard Hitzig, Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß. Bd. 1, 1823, S. 286f.). Hier entfaltete Hoffmann vor allem eine reiche musikalische Tätigkeit. Nach dem Einmarsch der Franzosen (28. N o v . 1806) und der Besetzung des Obergerichtes in Warschau mit Polen wurde er brotlos und mußte, da er den Huldigungseid für Napoleon nicht leisten wollte, Warschau verlassen. D o c h hat diese Zeit viele Spuren in seinem Werk hinterlassen. So entdeckt man besonders in einzelnen Gestalten die Urbilder von Menschen, die ihm damals nahestanden; ein Kabinettstück realistischer Darstellung ist z. B . der Untersuchungsrichter in den Elixieren des Teufels, der den sich als Leonard Krczynski ausgebenden Medardus in „echtpolnischem Dialekt" entlarvt. Züge seiner Frau, Maria Thekla Michalina (Mischa) Rohrer-Trzcinska, der Tochter eines poln. Stadtschreibers, die er 1802 in Posen geheiratet hatte, glaubt man in der Frau des Erasmus Spikher {Abenteuer der

Slavische Literaturen (polnische Literatur) Sylvesternacht) und in Röschen (Meister Floh) wiederzuerkennen. Zacharias W e r n e r dürfte die Werke von Ignacy Krasicki schon im Elternhaus in Königsberg kennengelernt haben, und es ist nicht auszuschließen, daß ihn die Satiren Krasickis zu seinen Grabschriften angeregt haben. Ein halbes Jahr in Piotrköw, dann zwei Jahre (die „glücklichsten, frohesten, heitersten") in Plock und von 1796 bis 1805 ebenfalls in Warschau als preuß. Beamter, fand er Gelegenheit, sich mit Sprache, Kultur und Folklore Polens vertraut zu machen. Mit Werner beginnt die Reihe der sog. ,Polenlieder'. Sein Kosciuszko-Lied bildet den Anfang, ihm folgen Fragmente und An ein Volk, drei Werke, die sein Engagement für Polen erkennen lassen. Sein Drama Das Kreuz an der Ostsee (1806) greift sowohl auf die preuß. als auch auf die poln. Geschichte zurück; vor Augen stand ihm „Der ew'ge Bund/ Von zweien großen edlen Nationen". In Wanda, Königin derSarmaten (1810) wird ebenfalls ein poln. Stoff verarbeitet, jedoch ist diese Tragödie auch von Werners persönlichem Schicksal, seiner Ehe mit der Polin Margarete Marchwiatowska und dem Scheitern dieser Ehe, geprägt. Während Werner am Anfang seines dichterischen Schaffens von der poln. Dichtung beeinflußt wurde, wirkte später sein Einfluß auch auf die poln. Dichtung; hierfür können Zygmunt Krasinski und Franciszek W§zyk genannt werden. Für die A u s b r e i t u n g der p o l n . L i t . in Deutschland waren die beiden ersten Jahrzehnte des 19. Jh.s jedoch ungünstig. Der Grund hierfür ist in der polit., kulturellen und literar. Situation Polens nach der dritten Teilung (1795) und in den Ereignissen der europäischen Politik zu suchen, die Polen mehr in den Hintergrund treten ließen. Nur wenige poln. Dichter erschienen in vereinzelten dt. Übersetzungen: außer früher schon übersetzten (Krasicki und Karpinski) war unter ihnen auch Wojciech B o g u s l a w s k i (1757-1829) mit dem Armen Studenten (Lemberg, um 1800). Bezeichnend für den herrschenden literar. Geschmack in Deutschland ist die von Aug. Wilh. S c h l e g e l in den Vorlesungen über Enzyklopädie (1803) vertretene Ansicht, daß „die poln. Sprache unter denen Slavischen Stammes gewiß gegen die Russische in manchen Vorzügen zurückstehen muß", und daß „in ihr auch keine Schätze poln. Lit. aufbewahrt werden, denn es gibt nichts, was entfernter Weise dem ähnlich

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sähe". Jacob G r i m m dagegen stellte sich in die Reihe derjenigen, die eine positive Haltung in der Frage der Erschließung des Slaventums für die dt. geistige Welt einnahmen; unter seinen zahlreichen Bekannten waren später auch Polen: der Literarhistoriker Adalbert Cybulski (1808-1867) und der Rechtshistoriker Wackw Macicjowski (1793-1883). Erst im Laufe der 2 0 e r J a h r e zeichnet sich eine größere Regsamkeit auf dem Gebiete der Ubersetzung ab. Dieser Beginn einer neuen Epoche der poln. Lit. in Deutschland fällt mit dem der p o l n . R o m a n t i k zusammen. Auch ein bedeutendes literargeschichtliches Werk erschien in dieser Zeit: P. J . Safariks Geschichte der slavischen Literaturen nach allen Mundarten (Ofen 1826), das eine überaus freundliche Aufnahme fand. Eine wichtige Rolle in der nun beginnenden Phase der Vermittlung spielten die Blätter für literarische Unterhaltung, die ihre Tätigkeit 1818 begannen. Der Höhepunkt ihrer Beschäftigung mit der poln. Lit. lag in den 30er und 40er Jahren. Julius Ursyn N i e m c e w i c z , der 1804 auf einer Deutschlandreise Nicolai, Tiedge, Fichte, Schlegel und Wieland kennengelernt hatte, erzielte jetzt eine stärkere Wirkung; übersetzt wurden Demetrius I. (1824), der Briefroman Lewi und Sara (1825) und der histor. Roman Jan z Tqczyna (1827), der in der Modeströmung der Nachahmung Walter Scotts in Deutschland Resonanz fand. Einer der ersten poln. Romantiker, die in Deutschland bekannt wurden, war Adam M i c k i e w i c z (1798-1855). Auf der mit seinem Freunde Antoni Edward Odyniec unternommenen Reise durch Deutschland hatte er neben Goethe auch Tieck, A. Bronikowski und A. W. Schlegel kennengelernt. Damit begann die Bekanntschaft der dt. geistigen Welt mit dem größten poln. Dichter, dessen Pan Tadeusz (1832/34), nach dem Vorbild von Goethes Hermann und Dorothea konzipiert, aber in der Ausführung eine realistische Beschreibung der altpoln. Adelskultur des ehem. Großfürstentums Litauen, zum poln. Nationalepos wurde. Er wurde den dt. Lesern zuerst 1829 in den Blättern für literarische Unterhaltung (Nr. 163) vorgestellt. Die Kette der Übersetzungen seiner Werke, der Berichte und Aufsätze über ihn reißt von nun an nicht mehr ab. Einer der erfolgreichsten Ubersetzer des Werkes von Mickiewicz war Siegfried L i p i n e r (18561911), der, in Galizien geboren, die poln. Sprache von Kind auf beherrschte. Die erste

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Slavische Literaturen (polnische Literatur)

Übersetzung des Pan Tadeusz erschien bereits 1836 (übers v. R . O . Spazier), die von S. Lipiner 1882. In den 30er Jahren traten außerdem in den Gesichtskreis des dt. Lesepublikums: Seweryn G o s z c y r i s k i (1803-1876) mit dem Epos Zamek Kaniovski (1828, dt. u. d. T . : Das Schloß von Kaniów, 1832), Alexander Fredro mit der Komödie Damy ihuzary (1825; dt. u. d. T . : Damen und Husaren, 1833), Konstanty G a s z y n s k i (1809-1866), übers, von J . Kerner im Chamisso-Schwabschen Musenalmanach 1834. Großen Publikumserfolg erzielte Michal C z a j k o w s k i (1804-1886) mit den Powiesci kozackie (1837, dt. u. d. T. : Nationalsagen der Kosaken, 1838) auf Grund ihres Stoffes aus dem Leben der Kosaken in der Ukraine. A. M. Wagner, Dt. u. poln. Romantik, NJbbAGLP. 20 (1917), Bd. 39/40, S. 608-622. J. Körner, Die Slaven im Urteil d. dt. Frühromantik. Histor. Vierteljahrsschr. 31 (1938) S. 565576. E. Klin, Die Wechselwirkungen zwischen dt. u. poln. Romantik. Forschungsstand u. Aufgaben. Weim. Beitr. 8 (1962) S. 189-196. Hans von Müller, Gesammelte Aufsätze über E. T. A. Hoffmann, Hrsg. v. Friedrich Schnapp (1974). H. Buddensieg, E. T. A. Hoffmann u. Polen. Mickiewicz-Blätter 4 (1959) S. 145-191. G. Streiter, E. T. A. Hoffmann in seiner Zeit. Zwischen Preußen, Polen u. Deutschland. Westöstl. Begegnung 2 (1960), H. 5, S. 8-12. St. Szenic, E. T. A. Hoffmann w Warszawie. Nowe Ksi^zki, Warschau 13. 10. 1969. — H. Buddensieg, Zacharias Werner und Polen. MickiewiczBlätter 5 (1960) S. 9-45, 81-120. G. Kozielek, Zacharias Werner ». Polen. Zs. f. Slawistik 16 (1971) S. 431-449 (dort weitere Lit.). — H. W. Schaller, Die poln. Romantik u. Jean Paul. Archiv f. d. Gesch. v. Oberfranken 52 (1972) S. 307-315. O. Feyl, Der poln. Nationaldichter Adam Mickiewicz im Spiegel d. dt.sprachigen wiss. Lit. •von der Vormärzzeit bis zur Gegenw. Wiss. Zs. d. Friedr. Schiller-Univ. Jena, Ges.-u. sprachwiss. R. 4 (1954/55) S. 353-357. H. Schröder, Mickiewicz in Germany, in: Adam Mickiewicz in World Literature. A Symposium. Ed. by Waclaw Lednicki (Berkeley 1956) S. 159-193. Dies., Adam Mickiewiczs literar. Aufnahme im Dichterkreis d. schwäb. Romantik, in: Festschrift f. Max Vasmer (1956; Veröff. d. Inst. d. Abt. f. slav. Sprachen u. Lit. am Osteuropa-Inst. d. Freien Univ. Berlin 9) S. 444-455. Jan Zygmunt Jakubowski u. Anna Milska, Adam Mickiewicz w kraju Goethego i Schillera (Warszawa 1956). § 6. Anfang der 3 0 e r J a h r e des 19. Jh.s rückt Polen in das Blickfeld der gesamten dt.

Öffentlichkeit. Die Julirevolution in Frankreich, pölit. Unruhen in Deutschland und der Novemberaufstand in Polen schaffen hierfür in Deutschland eine besondere Situation. Die im Aufstand gescheiterten Polen ziehen - auf dem Weg in die franz. Emigration - durch Deutschland und werden hier mit großer Begeisterung empfangen. Diese Polenbegeisterung erfaßt alle Bevölkerungsschichten, und es verbindet sich damit auch eine Demonstration gegen den Absolutismus. Diese Anteilnahme am Schicksal Polens findet ihren Ausdruck in einer Hochflut polit. Schriften und in der sog. deutschen , P o l e n d i c h t u n g ' der 30er Jahre. Fast jeder namhafte dt. Dichter dieser Zeit liefert einen Beitrag zu diesem Thema. An die hundert Namen werden hier allein in der L y r i k gezählt. Es schließen sich die Prosaisten an; das poln. Thema findet Eingang auch in den dt. histor. Roman und in die Novelle. Das Material für ihre Werke entnehmen die dt. Schriftsteller sowohl ihrem unmittelbaren Erlebnis der Vorgänge in Polen (z. B . Harro Harring, Memoiren über Polen unter russischer Herrschaft, Altenburg 1831; Erinnerungen aus 'Warschau, Nachträge zu den Memoiren über Polen, Nürnberg 1831) als auch ihrem unmittelbaren Umgang mit jenen Polen, die sich auf ihrer Flucht in die Emigration kurz in Deutschland aufhalten. Dies gilt z. B . für die schwäbischen Romantiker Justinus K e r n e r und Gustav S c h w a b , die eine rege Aktivität in den 30er Jahren entfalten und außer der eigenen Dichtung (Polenlieder) auch Ubersetzungen (aus Werken von Mickiewicz) verfassen. Innerhalb der dt. histor. P r o s a nimmt die poln. Thematik einen ansehnlichen Raum ein, und namentlich das Junge Deutschland benutzt die poln. Erhebung als Katalysator, um die eigenen Gegenwartsprobleme zu bewältigen. Heinrich L a u b e nimmt Anfang der 30er Jahre lebhaften Anteil am Schicksal Polens; unmittelbar nach dem Aufstand arbeitet er zusammen mit einem verwundeten poln. Offizier in Salzbrunn an poln. Memoiren, die jedoch ein Opfer der Zensur werden. Sein später veröffentlichter R o m a n Die Krieger (1837) kann als der beste Beitrag zu diesem Thema innerhalb der dt. Lit. gelten. Karl von Holteis Singspiel Der alte Feldherr (1829) mit seinen beiden Liedern Fordre Niemand und Denkst Du daran erfährt durch diese Lieder, deren Kenntnis zum Wahrzeichen der Generation wird, eine Aufwertung. Jedoch

Slavische Literaturen (polnische Literatur) geht Holteis' Wohlwollen für die Polen nicht sehr weit, und für die poln. Lit. zeigt er kein Interesse; nach 1848 wird er sogar zum PolenGegner. D e r aus Ungarn stammende Nikolaus L e n a u dagegen sucht den Kontakt zur poln. Kultur. E r lebt als Student in Wien mit dem poln. Dichter N . B o i o z v o n A n t o n i e w i c z in einem gemeinsamen Zimmer und übersetzt dessen Gedicht Abschied von Galizien als erstes. Später verfolgt er das Schicksal der Aufständischen, und seine Sympathie bleibt auch in der Zeit der Reaktion erhalten; sein letztes ,Polengedicht' stammt aus dem Jahre 1836 {Zwei Polen). Auch für die poln. Lit. zeigt er großes Interesse; als er die Werke von Mickiewicz kennenlernt, meint er, „bloß dieses Dichters wegen wollte ich, daß ich Polnisch verstünde". Franz von G a u d y , der mehrere Jahre in Breslau lebte, hat sogar das Polnische erlernt, das er bei seinem Interesse für die poln. Lit. auch praktisch nutzen konnte: er hat Mickiewicz und Niecewicz (Spiewy historyczne, 1816, dt. u. d. T . : Histor. Gesänge, 1833) übersetzt. Als Autoren der dt. Polendichtung sind ferner zu nennen: Ludwig Uhland (mit seinem Gedicht Mickiewicz), A. von Platen, Anastasius G r ü n , Fr. Grillparzer, F. Gregorovius, F. Hebbel, E . Geibel, M . Hartmann u. v. a. Die Erinnerung an den poln. Aufstand und die Sympathien für Polen schufen auch ein günstiges Klima für die V e r m i t t l e r poln. Literatur. Wie sehr aber diese sich immer noch am Anfang ihrer Aufgaben stehen sahen, zeigen die in Buchform hg. Berliner Vorlesungen über die neueste poln. Poesie (1842/43,1844/45) von Adalbert C y b u l s k i und das Werk Polens Litteraturund Cultur-Epoche seit dem Jahre 1831 (Posen 1843) von Anton M a u r i t i u s , der auch als Ubersetzer aus dem Poln. aufgetreten ist. Mauritius legte großen Nachdruck darauf, zu beweisen, daß die poln. Lit. durchaus imstande sei, ihren Platz in der Reihe der europäischen Literaturen einzunehmen. Die Kritik bestätigte seinem Werk die Berechtigung und Notwendigkeit der „Mission . . ., den civilisierten Westen unseres Erdteils und insbesondere Deutschland von dem verjährten Irrthum zurückzubringen, als sei Polen das Vaterland von Halbwilden" {Blätter für literar. Unterhaltung 1844, N r . 22). Erstmals übersetzt wurden in diesen Jahren die Werke von Zygmunt K r a s i r i s k i (18121859). Während der Roman Agay Han (1834, dt. übers, v. E . Brachvogel 1840) wenig freund-

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lich aufgenommen wurde, lobt W . v. Lüdemann die Nieboska komedia (1835, dt. Ubers, von F . H . Lewestamm 1841) in der Neuen Jenaischen Allgem. Literaturztg. (1848, N r . 30, 31) als eine beachtenswerte Dichtung, die „unverkennbar aus Goethe'schem Geist hervorgegangen" sei. Das Drama Irydion (1836, dt. Übers, v. A . Mauritius 1846) zeigt deutliche Spuren des Fiesco von Schiller. Von Juliusz S i o w a c k i (1809-1849) erschien eine Ubers, des Dramas Mazeppa (1840) in Both's Bühnenrepertoire Bd. 14 (1846); Slowackis eigentlicher Erfolg in Deutschland setzte allerdings erst nach seinem Tode ein, als in den 70er und vor allem in den 80er Jahren die wichtigsten seiner Werke in Übersetzungen erschienen. Wegen der „Volkstümlichkeit, Wärme und Wahrhaftigkeit der Darstellung" gelobt wurde das Epos Maria von Antoni M a l c z e s k i (1793-1826), das 1844 bei Brockhaus in der Originalausgabe und ein Jahr später im gleichen Verlag in der Ubers, von K . R . Vogel erschien, jedoch später bald in Vergessenheit geriet. D e r erfolgreichste Autor war Josef K r a s z e w s k i (1812-1887), der nach dem Aufstand von 1863 seinen Wohnsitz in Dresden nahm und dessen Werke in dem Jahrzehnt von 1875-1885 trotz der früh bemerkten und bemängelten Oberflächlichkeit in Deutschland weite Verbreitung fanden: von 1841 bis zur Gegenwart sind an 30 Einzelübersetzungen und 12 Bände Ausgewählte Werke erschienen. Robert Franz Arnold, Gesch. d. dt. Polenliteratur. Bd. 1. Von d. Anfängen bis 1800 (1900; Nachdr. 1966). Stanislaw Leonhard (Hg.), Polenlieder dt. Dichter. 2 Bde (Krakau-Podgörze 1911). Ders. (Hg.), Neue Polenlieder 1914-1915 (Krakau 1916). t . Slugocka (Hg.), Über die Grenzen hinaus. Dt. Polenlyrik seit d. Anfängen bis 1965 (Warszawa 1968). — H.-G. Werner, Die Bedeutung d. poln. Aufstandes 1830/1831 f. d. Entwicklung d. polit. Lyrik in Deutschland. Weim. Beitr. 16 (1970), H. 7, S. 158-175. — H. H. H o u b e n , Jungdt. Sturm u. Drang (1911). Karl N o l l e , Heinrich Laube als sozialer u. polit. Schriftsteller. Diss. Münster 1915. Olga Küthe, Heinrich Laubes Roman ,Die Krieger' im Zusammenhang mit der Polenbegeisterung von 1830. Diss. Marburg 1926. — E. Tempel, Nikolaus Lenaus Eintreten für Polen u. s. Bekanntschaf t mit d. Dichtung Adam Mickiewiczs. Zs. f. Slawistik 3 (1958) S. 715-726. T. Kachlak, Lenau u. Antoniewicz — eine Dichterfreundschaft. Lenau-Forum 3 (1971) S. 1-12. G. Kozielek, Lenaus Bekenntnis zu Polen. Sinn und Form 25 (1973) S. 1256-1276. — Walther Reinöhl, Uhland als Po-

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Slavische Literaturen (polnische Literatur) litiker (1911; Beitr. z. Parteigesch. 2). — Heinrich R e n c k , Platens polit. Denken u. Dichten (1910; BreslBtrLitg. 19). E. K i r c h e r , Platens Polenlieder. StvglLitg. 1 (1901) S. 50-67. — Georg H e r - . w e g h , Literatur u. Politik. Hg. v. Katharina Mommsen (1969; Samml. Insel 37). — Micha! C i e s l a , Uber einige Übersetzer d. poln. Dichtung im 19. Jh. Mickiewicz-Bll. 12 (1967) S. 138-143.

§ 7. Im Gegensatz zu den meisten ,Polenlieder'-Dichtern blieb Heines Beschäftigung mit dem Polenproblem nicht auf die Zeit der poln. Novembererhebung und die nachfolgende Emigration beschränkt. Sie läßt sich bis in die Berliner Studienzeit zurückverfolgen (Briefe aus Berlin, 8. 2.-19. 7. 1822, gekürzt in den Reisebildern, 1826), deren poln. Erlebnishorizont in den Memoiren des Herren von Schnabelewopski (1834) wieder lebendig wird, und sie erfährt in den Pariser Jahren entscheidende Impulse (Französische Maler, 1831; Französische Zustände, 1834). Bald jedoch durchschaut er die Sentimentalität des Polenenthusiasmus, den er als Flucht vor den polit. Aufgaben im eigenen Lande erkennt (Ludwig Börne, eine Denkschrift, 1840). Diese Beschäftigung findet zugleich einen Niederschlag in der Lyrik, die schon im Zyklus Die Heimkehr (1823/24) Zeugnisse einer Polenfreundschaft aufweist (Du bist wie eine Blume) und noch in der Romanzero-hy nk (1851) das Polen-Motiv thematisiert (Festgedicht, Zwei Ritter, Erinnerung, Verlorene Wünsche). Ausschlaggebend für Heines Verhältnis zu Polen waren die Jugendfreundschaft mit Eugeniusz Breza sowie die persönlichen Begegnungen mit poln. Studenten an der Berliner Universität, mit Juden poln. Abstammung in den literar. Kreisen des Berliner Judenvereins, später mit den Pariser Polonophilen und mit poln. Emigranten, besonders mit Musikern (Chopin, Eduard Wolf und Graf Antoine de Kontski). An seiner Loslösung von der Romantik hat die Beschäftigung mit dem Polenproblem keinen geringen Anteil. Ernst Josef K r z y w o n , Heinrich Heine u. Polen. E. Beitr. zur Poetik d. polit. Dichtung zwischen Romantik und Realismus (1972). Ders., Heinrich Heine u. Polen. Modell für eine dt.poln. Verständigung? Stimmen d. Zeit Jg. 97 = Bd. 190 (1972) S. 373-388. Maria G r a b o w s k a , Heine u. Polen - die erste Begegnung, in: Intern. Heine-Kongreß Düsseldorf 1972. Referate u. Diskussionen (1973) S. 349-369 u. 399.

§ 8. In den 6 0 e r und 70er J a h r e n wurde die poln. Lit. durch verschiedene A n t h o l o g i e n

vermittelt. Auf diese Weise kamen jetzt mehr neue Namen nach Deutschland als in den früheren Jahrzehnten. Auch die älteren Dichter bis hin zu Krasicki, ja bis zu Kochanowski wurden in diese Sammlungen aufgenommen, die damit einen Querschnitt durch die poln. Lit. gaben. Diese Belebung ist in erster Linie Heinrich N i t s c h m a n n zu verdanken, dessen Tätigkeit in dieser Zeit einsetzte. Im Jahre 1860 ließ er sein erstes Bändchen Der poln. Parnass erscheinen, das 25 Gedichte im Originaltext mit seinen Ubersetzungen enthielt. Schon im nächsten Jahr konnte er eine zweite, um das doppelte erweiterte Auflage (ohne den poln. Text) herausbringen, der 1863 eine dritte folgte. Die vierte Auflage (1875) schließlich, die bis dahin vollständigste Anthologie der poln. Dichtung in Deutschland, enthielt 50 Dichter mit insgesamt 180 Gedichten; 20 Autoren wurden hier zum erstenmal ins Deutsche übertragen. 1869 erschien Nitschmanns Album ausländischer Dichtung. Neben Nitschmanns Sammlungen sind zu nennen: August Woykes Proben neuerer poln. Lyrik und Epik (1861, 2. Aufl. 1864), sein zweibändiges poln. Lesebuch Sitten- und Charakterbilder aus Polen und Lithauen (1862) und Leo Zukers Einige lyrische Gedichte poln. Meistern nachgesungen (1869). Da die poln. Dichtung, besonders in der ersten Hälfte des 19. Jh.s, weitgehend lyrische Dichtung war, kommt diesen Sammelbänden eine besondere Bedeutung für die Ausbreitung der poln. Dichtung zu. In der dt. Lit. wird seit der Zeit der „Polenbegeisterung" das poln. Thema fester Bestandteil des histor. Romans und der h i s t o r . N o v e l l e . Es läßt sich durch die ganze zweite Hälfte des 19. Jh.s hindurch verfolgen und erhält je nach der polit. Situation und nach der Geisteshaltung des Autors bald polonophile, bald polenfeindliche Akzente. Als tendenziös gelten die Werke von St. G r a b o w s k i (Das Kruzifix, 1857; Polens Todeskampf, oder der Letzte vom Vierten Regiment, 1867), der den Gedanken propagiert, daß die Polen im Recht seien, wenn sie um die von Rußland annektierten Gebiete kämpften, jedoch nach preuß. Seite hin keine Legitimation für die Wiederherstellung ihrer Grenzen besäßen. Mit der Verstärkung der Germanisierungsidee erscheinen in den 70er Jahren entsprechende tendenziöse Romane von F. Koppen, O. Richter, F. Schmidt u. a. Aber auch die polonophile Lit. lebt weiter, so in den

Slavische Literaturen (polnische Literatur) Werken von F. Gregorovius, L. Königk und H . Wachenhusen. Gegen E n d e des 19. J h . s kommt es im Zuge der allgemeinen Wertschätzung des histor. Romans und unter dem Einfluß des Positivismus zu einer schnellen Rezeption der Werke von Henryk S i e n k i e w i c z (1846-1916). Der früh zu Weltruhm gelangende Roman Quo vadis (1895/96) wurde schon kurz nach seinem Erscheinen von J . Bolinski (1899) ins Dt. übersetzt, erfuhr 1902 gleich drei Übersetzungen und erreichte in der Obersetzung von J . Ettlinger 32 Auflagen; keinem anderen Werke der poln. Lit. war eine solche, auf Stoff und Erzählweise beruhende Massenwirkung beschieden. Einen dauerhaften Erfolg erzielten jedoch die Werke von Eliza O r z e s z k o w a (1842-1910), darunter der im jüdischen Milieu spielende Roman Meier Ezofowicz (1878, dt. 1885 übers, von L. Brixen und 1916 von A. Guttrie u. d. T . : Licht in der Finsternis). Drei Jahrzehnte lang nahm Orzeszkowa mit Frauenromanen, Juden- und Bauernnovellen einen festen Platz in Deutschland ein, da die gewählten Sujets hier einem bereits durch die einheimische Produktion entwickelten Lesebedürfnis entgegenkamen . Die Romane von Bolesfaw Prus(18171912) mußten dagegen lange auf ihre Ubersetzung warten. In den 80/90er Jahren wurden zunächst nur seine Erzählungen übersetzt, es folgte der Roman Palac i rudera (1876, dt. 1914 u. d. T . : Palast und Hütte) und nach 40jähr. Pause in schneller Folge: Lalka (1887/89, dt. 1954 u. d. T . : Die Puppe), Faraon (1895/96, dt. 1954 u. d. T . : Der Pharao) und Emancypantik (1891/93, dt. 1957 u. d. T . : Die Emanzipierten). Arno Will, Powstania polskie w niemieckiej beletrystyce XIX w. Prace polonistyczne 23 (1967) 230-253. Ders., Polska i Polacy w niemieckiej prozie literackiej XIX wieku (Lodz 1970) Jerzy Z i m n i k , Echa polonofilskie w literaturze niemieckiej (Opol 1964). Karl Dedecius, Deutsche und Polen (1971). — L. H. C. Thomas, German and Polisb nationalism in the histor. novel. GLL. NS. 3 (1949/50) S. 284-299. D. Sommer, Das Polenbild Fontanes als Element nationaler Selbstverständigung u. -kritik. Weim. Beitr. 16 (1970), H. 11, S. 173-190. D. G e r h a r d t , Slavische Irrungen u. Wirrungen. Die Welt d. Slaven 15 (1970) S. 321334. — G. K o z i e l e k , Ein unbekanntes PolenEpos von H. K. Neumann. Zs. f. Slawistik 12 (1967) S. 467-504. § 9. Von einem unmittelbaren Einfluß poln. Dichter oder einer engeren Verbindung zu

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ihnen kann man erst bei den Freundespaaren Stanislaw Przybyszewski - Richard Dehmel und Waclaw Lieder - Stefan George sprechen. P r z y b y s z e w s k i gehört als Schriftsteller beiden Literaturen an, der deutschen wie der polnischen, und seine Wirkung geht über das Literarische hinaus (so seine „Entdeckung" von E . Münch). Er studiert in Berlin, schließt sich der Berliner Boheme an, und hier beginnt auch die Freundschaft mit D e h m e l , die für beide von großer Bedeutung wird. Die Frage eines Einflusses von Przybyszewski auf Dehmel ist ungelöst geblieben. K. Klein leugnet einen Einfluß, andere Forscher wie J . Bab und F. Servaes sehen eine mehr oder weniger starke allgemeine Wirkung Przybyszewskis auf Dehmel und auf die junge Generation der 90er Jahre. K. Bittner spricht von einer gegenseitigen Anregung und Durchdringung dt. und poln. Geistesart, doch werde es nur mit den „allerschärfsten Instrumenten" möglich sein, „wieder zu sondern, was hier an poln. und dt. Geistesgut- zusammengeflossen" ist. Die literar. Wechselwirkung zwischen Przybyszewski und Dehmel charakterisiert F. W. Neumann: „Wo in ihren Werken Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten erkennbar sind, stammt das Emotionale in der Regel von Przybyszewski, das Formale meist von Dehmel. Anderes wieder ist gemeinsames Literaturgut der Zeit, und in vielen Fällen läßt sich das gegenseitig Entlehnte vom beiderseits genuin Gewachsenen nicht abgrenzen". Ebenfalls den 90er Jahren gehört die Freundschaft zwischen St. G e o r g e und Waclaw L i e d e r an. Sie führt zu gegenseitigen Ubersetzungen und regt zu Widmungs- und Dankesgedichten an. George hat die Möglichkeit, sich mit Lieder sowohl auf deutsch als auch auf französisch zu verständigen, doch begnügt er sich nicht damit, sondern lernt auch die Sprache des Freundes, das Polnische. Dadurch verschafft er sich einen viel innigeren Zugang zu Lieders Gedichten. Obwohl sich die Freunde 1906 zum letzten Mal sehen, spricht George auch später sehr warm von seinem „großen Waclaw". Julius Bab, Richard Dehmel. Die Geschichte e. Lebenswerkes (1926). K. Klein, Przybyszewski i Dehmel. Ruch Literacki 3 (Warszawa 1928) S. 200-204. K. Bittner, Bespr. v. Ida Dehmel, Przybyszewski, wie ich ihn sah. Germanoslavica 3 (1935) S. 193f. Ders., Bespr. v. Franz Servaes, Vom jungen Przybyszewski. Ger-

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Slavische Literaturen (polnische Literatur) manoslavica 4 (1936) S. 343. F. W. N e u m a n n , Stanisiaw Przybyszewski u. Richard Dehmel, in: Münchener Beiträge zur Slavenkunde, Festgabe f. P. Diels (1953; Veröff. d. Osteuropa-Inst. 4) S. 259-284. R . T a b o r s k i , Aus Stanislaw Przybyszewskis Beziehungen zu dt. Freunden. Zs. f. Slawistik 10 (1965) 410-422. — H. S c h r ö d e r , Eine literar. Freundschaft. Stefan George u. Waclaw Lieder, in: Festschrift für Margarete Wohner zum 70. Geb. 1967) S. 228-250 (dort weitere Lit).

§ 10. Das letzte Jahrzehnt des 19. Jh.sunddie ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jh.s zeichnen sich in der Ü b e r s e t z u n g s l i t e r a t u r als eine Epoche des Aufschwungs der lyrischen Poesie aus. Der Positivismus mit seinem Übergewicht der Epik wurde in den Hintergrund gedrängt bzw. lief als die ältere Strömung, deren bereits eingeführte Autoren (darunter besonders Orzeszkowa, Sienkiewicz) jetzt ihren breiteren Erfolg in Deutschland erlebten, neben der des Jungen Polen' einher. Wichtigste Vermittler der poln. Lit. in dieser Zeit sind die Zeitschriften Aus fremden Zungen (hg. v. Joseph Kürschner, 1891-1910), in der die Mehrzahl der in den 90er Jahren übers. Dichter ihre erste Aufnahme fand, und Das Literarische Echo (1898-1923, danach u. d. T . : Die Literatur). Daneben erschienen mehrere Sammelbände, die z. T . schon bekannte Dichter, aber auch eine Anzahl noch nicht übersetzter enthielten: A. Zipper, Gedichte (2. Aufl. 1892), darin Nachdichtungen (vorwiegend Mickiewicz und Ujejski); A. Weiss, Polnisches Novellenbuch in deutschem Gewände (5 Bde, 1892-1906) und Polnische Dichtung in deutschem Gewände (1894); Gregor' Kfcek, Slavische Anthologie (1896), in der poln. Abt. ein Querschnitt durch die poln. Dichtung von Mikoiaj Rej bis zur Gegenwart. Noch im Kriege erschien von Alexander v. Guttry übersetzt und hg. Polen. Ein Novellenbuch (1917). Es folgten von Leon Koppens Polnische Klänge. Nachdichtungen poln. Lyrik (1922, eingel. v. Julius Twardowski) und Lorenz Scherlag, Moderne poln. Lyrik (1923). Danach trat eine fast 30jähr. Pause ein, bis der Wiener Zsolnay-Verlag wieder eine Sammlung poln. Lyrik im Rahmen einer umfangreichen Anthologie (Felix Braun, Die Lyra des Orpheus, 1952) und der Ostberliner Verlag Volk und Wissen poln. Dichtungen seit 1944 (Polnische Lyrik, 1953) vorlegten. Nachhaltigen Erfolg erzielte in Deutschland WladysJaw St. R e y m o n t (1867-1925) mit sei-

nem monumentalen Bauernepos Chlopi (19021909, dt. 1912 u. d. T. Die poln. Bauern, übers, von J . P. d'Ardeschah [ = J . P. Kaczkowski]); erfolgreich war auch Stanisiaw W y s p i a n s k i (1869-1907) mit seinem Drama KL}twa (1899, dt. 1909 u. d. T. Der Fluch, übers, v. K. Rozycki), während von derdt. Ausgabe seiner dramatischen Werke nur ein Band (1917) erscheinen konnte. Als „stilistischer Überarbeiter derRohübersetzung"von Reymonts Chlopi wird Carl H a u p t m a n n angesehen; in dessen Züricher Studienjahre reicht die Freundschaft mit der poln. Philosophin und Sozialistin Josepha K r z y z a n o w s k a zurück, die in verschiedenen Werken Carl Hauptmanns, aber auch in Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen (1891) künstlerischen Ausdruck fand. Thomas M a n n , in seinem Werk den russ. Realisten verpflichtet, fand erst spät ein Verhältnis zur poln. Literatur. Poln. Motive begegnen allerdings schon in der Novelle Der Tod in Venedig (1911), die z . T . auf persönlichen Erlebnissen am Lido von Venedig beruht, wo Mann im Hotel-des-Bains gleichzeitig mit einer poln. Familie wohnte und in Wladyslaw Moes (gerufen „Wladzio", „Adzio") das Urbild für Tadzio und in Jan Fudakowski das Urbild für Jasio fand. Im 7. Kapitel des Zauberbergs (1924) verschlüsselte er den Ehrenstreit zwischen Stanisiaw Przybyszewski und Michat Japoll um Jadwiga Przybyszewski (Die große Gereiztheit). Zu einer persönlichen Begegnung zwischen Mann und Przybyszewski kommt es erst im März 1927, ein halbes Jahr vor Przybyszewskis Tod, als Mann auf Einladung des poln. PEN-Clubs einige Tage in Warschau verbringt und als literar. Repräsentant der Weimarer Republik gefeiert wird. In seiner Festansprache nennt Przybyszewski R. Dehmel, D . v. Liliencron und J . Schlaf seine innigsten Freunde, und Mann spricht von der „übernationalen Solidarität des Geistes", durch die allein die geistigen und machtpolit. Gegensätze zwischen Ost und West überwunden werden könnten. Der Besuch wurde in der Presse lebhaft diskutiert und erhielt mit der Verabschiedung durch Stanislaw Grabowski, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, offiziellen Charakter. Seit dieser Reise nach Warschau datiert auch die Verbindung zwischen Th. Mann und Otto F o r s t - B a t t a g l i a , dem ein großes Verdienst bei der Popularisierung der poln. Lit. in Deutschland und der dt. Lit. in Polen zukommt. Wegen der weiteren polit. Entwick-

Slavische Literaturen (polnische Literatur) lung konnte jedoch Mann Forst-Battaglia in seinem Vorhaben nicht mehr unterstützen. In einem Brief an Forst-Battaglia schreibt er zwar: „Ich bin namentlich seit meinem Besuche in Warschau durchdrungen von der Notwendigkeit, daß man sich in Deutschland mit poln. Lit. mehr als bisher beschäftigt", doch schränkt er seine Möglichkeit, bei der Vermittlung eines Verlegers behilflich zu sein, ein, denn „diese Leute sind zurzeit unter dem wirtschaftlichen Druck [. . .] wenig unternehmungslustig". Später beklagt er sich in seinen Briefen an Forst-Battaglia, daß seine Autorität bei den Verlegern rapide schwinde und daß er nicht in der Lage sei, jemanden den dt. Verlegern zu empfehlen. Eine noch weiter reichende Vermittlerrolle als Otto Forst-Battaglia spielte seit den 50er Jahren Karl D e d e c i u s . Aus einer dt. Familie in Polen stammend, hat Dedecius nach dem 2. Weltkrieg, nach Gefangenschaft und Ubersiedlung in die Bundesrepublik (1952), die Popularisierung der poln. Lit. zu seiner Lebensaufgabe gemacht. In Übersetzungen, Essays und Vorträgen erschließt er dem Leser dieses Gebiet immer von neuem. Weite Verbreitung fanden vor allem seine Anthologien Poln. Pointen. Satiren u. kleine Prosa des 20. Jh.s (1962), Poln. Poesie des 20. Jh.s (1964) und Poln. Prosa des 20. Jh.s (1966/67); zuletzt erschien das Poln. Lesebuch des 20. Jh.s (1978). Sein Wirken hat in Polen und in Deutschland Anerkennung gefunden; neben vielen anderen Ehrungen erhielt er 1976 die Würde eines Ehrendoktors der Universität Köln. In bescheidenerem Rahmen versuchte Hermann B u d d e n s i e g (1893-1976), dem wir eine Nachdichtung des Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz (1963) verdanken, die im Auftrag des Mickiewicz-Gremiums der Bundesrepublik Deutschland herausgegebenen Mickiewicz-Blätter (1956-1974) zu einem Organ zu machen, in dem die deutsch-polnischen Wechselbeziehungen durch Ubersetzungen und literaturwissenschaftliche Arbeiten erhellt und das Menschlich-Gemeinsame ins Bewußtsein gerufen werden sollten. A. S c h e r l a g , Die moderne poln. Lyrik. L E . 11 (1909) Sp. 1634-1640. Otto F o r s t - B a t t a g l i a , Zwischen zwei Epochen. Von Vergangenheit, Gegenwart u. Zukunft d. poln. Lit. Der Gral 20 (1926) S. 568-574. Alexander v. G u t t r y , Unbekannte Literatur. Charakteristiken poln. Dichter (Paris 1931). A. B r ü c k n e r , Die ,Moderne' in

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Polen. Osteuropa 11 (1935/36) S. 571-585. — O . F e y l , Dt. Verleger u. Bibliothekare als Vermittler poln. Lit. im 19. u. 20. Jh. Weim. Beitr. 16 (1970), H . 11, S. 190-203. J . C h o d e r a , Die dt. Polenliteratur 1918-1930. Stoff-u. Motivgeschichte (Poznan 1966). K. H e r m s d o r f , Wende zum Übernationalen. Motive u. Motivationen d. Polenbildes in d. dt. Lit. zwischen d. Weltkriegen. Weim. Beitr. 16 (1970), H . 12, S. 190-204. H. Olschowsky, Entwicklungswege Sozialist. Poesie in Deutschland und Polen zwischen 19181939. Weim. Beitr. 16 (1970), H. 5, S. 199-209. Jan C h o d e r a , Das Bild Polens in d. dt. Lit. Vierteljahreshefted. Evang. Akad. Berlin Jg. 18, H. 69/ 70 (Jan./April 1974) S. 28-47. Hubert O r l o w s k i , Zur anthropologischen Deutung dt.-poln. Begegnung in d. dt. Lit. Ebda, S. 48-59. — ikrytyCzeslaw J a n k o w s k i , ,Chlopi'Reymonta ka niemecka (Warszawa 1914). K. M u s i o l , Carl Hauptmann u. Polen. Lenau-Forum 4 (1972) S. 37-50. St. G o l d e n r i n g , Stanislaw Wyspianski. Aus fremden Zungen 18 (1908) S. 235-239. Vgl. zu Stefan ¿eromski Lit. zu § 11. Tomasz M a n n , Listy do Ottona Forst-Battaglii. [Mit e. Einl. v. R. Taborski] (Warschau 1973); die Briefe sind im Original mit poln. Ubers, abgedruckt. Norbert H o n s z a , Thomas Mann. Einige Überlegungen zu Quellenstudien u. Rezeption, in: Rezeption d. dt. Gegenwartsliteratur im Ausland. Tagungsbeiträge eines Symposiums d. Alexanderv. Humboldt-Stiftung. Hg. v. D . Papenfuß u. G. Göring (1976) S. 197-203. — Karl D e d e c i u s , Deutsche u. Polen. Botschaft der Bücher (1971), poln. u. d. T . : Polacy i niemcy. Poslannictwo Ksiazek (Krakau 1973). Ders., Deutsche u. Polen in ihren literar. Beziehungen (1973). Ders., Bücher als Brücke. Die Rezeption d. poln. Lit. in d. Bundesrepublik Deutschland. Dt. Studien 13 (1975) S. 265-276.

§ 11. Die seit den 5 0 e r J a h r e n zunehmende, aber in beiden deutschen Staaten unterschiedlich akzentuierte R e z e p t i o n der poln. Lit. vollzieht sich auf verschiedenen Gebieten: in der Memoirenliteratur (Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto, dt. 1958 [DDR], 1963 [Bundesrepublik]) und in derpolit. Belletristik (Jerzy Andrzejewski, Popiöl i diament, dt. 1960 u. d. T . : Asche und Diamant), in der Science-Fiction-Literatur (Stanislaw Lern), in der Satire (Slawomir Mrozek, Jerzy Stanislaw Lee) und in der Lyrik (Tadeusz Rözewicz). Leopold Kruczkowskis Schauspiel Niemcy (1950) gelangte in der D D R zu einem nachhaltigen Bühnen- und Filmerfolg. Großen Widerhall in der Bundesrepublik fanden die Werke des seit 1939 in Argentinien lebenden

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Slavische Literaturen (polnische — serbische und kroatische Literatur)

poln. Schriftstellers Witold Gombrowicz (1904-1969) vor allem durch ihre existenzialistischen Tendenzen. Der Versuch, die Prosawerke Stefan Zeromskis (1864-1925), eines Repräsentanten des krit. Realismus, in Deutschland durchzusetzen, scheiterte z. T. an den sprachlichen Grenzen der Ubersetzbarkeit und blieb auf die D D R beschränkt (Die Heimatlosen, 1954). Daneben ist . jedoch das Aufkommen einer neuen P o l e n l y r i k bemerk kenswert: Polen wird zum lyrischen Erinnerungsland (Horst Bienek, Gleiwitzer Kindheit), durch das die eigene Identität wiedergewonnen (Heinz Piontek, Am Narew 1944, Peter Jakostra, Polen) und in dem zugleich die polit. Vergangenheit (Peter Hüchel, Warschauer Gedenktafel) und romantisches Erbe (Günter Grass, Pan Kiehot) lebendig wird. Die Meinungsbildung über Polen scheint nicht zuletzt durch den Erfolg der Blechtrommel von Günter Grass (1959) positiv beeinflußt worden zu sein. Bibliographien zur Ubersetzungsliteratur: Ingrid K u h n k e u. Friedhilde K r a u s e , Poln. schöne Lit. in dt. Übersetzungen, 1900-1971 (Berlin: Dt. Staatsbibliothek 1975). Poln. Lit. Hg. v. Arbeits- u. Sozialminister d. Landes Nordrhein-Westf. (1965; Schriftenreihe f. d. Ost-WestBegegnung, Arbeitsheft 49). Polonica in d. Verlagen d. Bundesrepublik Deutschland 1946-1966. E. Ausw. ausgest. aufd. XIintern. Buchmesse in Warschau (1966). Ludomira R y l l u. Janina W i l g r a t , Polska Literatura w przekladach. Bibliografia 1945-1970 (Warszawa 1972), vgl. Länder- u. Autoren-Index. Alina L a s i e w i c k a u . Felicja N e u b e r t , Bibliografia literatury dla dzieci 1945-1960 (Warszawa 1971; Prace bibliotheki publicznej M. St. Warszawy 8), vgl. Register. Andrzej W i r t h , Poln. Lit. in Deutschland. Ihre Rezeption nach d. 2. "Weltkrieg. Actes du 5e Congr. de l'Ass. Intern, de Lit. Comp. (1969) S. 651-661. Siegfried L e n z , Die Deutschen, die Polen u. d. Lit. (1965), in: Lenz, Beziehungen. Ansichten u. Bekenntnisse zur Lit. (1972; dtv. 800) S. 195-200. — F. K r a u s e , Die poln. Tagebuchsammlung ,1m Feuer vergangen' u. ihre Rezeption. Zs. f. Slawistik 9 (1964) S. 318-325. Ludmilla S f u g o c k a , Die dt. Polenlit. auf dem Gebiet d. Dt. Demokrat. Republik in d. Zeit von 1945 bis 1960 (Poznan 1964). Dies., Polen in d. Lit. d. DDR. Weimarer Beitr. 16 (1970), H. 6, S. 164-187. Frank W a g n e r , Dt.-poln. Begegnungen in d. DDR-Lit. Weimarer Beitr. 16 (1970), H.8, S. 191-203. Ders., Das Bild d. Polen im literar. Werk von Anna Seghers. Weimarer Beitr. 20 (1974), H. 7, S. 136149. F. K r a u s e , Zur Wirkung d. poln. Lit. in

Deutschland vor u. nach d. zweiten Weltkrieg. E. Beitr. zur Rezeption d. Werke Stefan Zeromskis. Zs. f. Slawistik 18 (1973) S. 1-17.

§ 12. Uberblickt man die fünf Jahrhunderte deutsch-polnischer literar. Beziehungen in Deutschland, so läßt sich sagen, daß seit dem Zeitalter des Humanismus zunehmend die persönliche Bekanntschaft - oder sogar Freundschaft - dt. Schriftsteller mit Polen oder poln. Schriftstellern der Ausgangspunkt für ein Interesse an Polen als Staat, an seiner Geschichte und an seinem polit. Schicksal ist. Erst durch die persönlichen Beziehungen wird jene geistige Atmosphäre und Bereitschaft geschaffen, die zur Überwindung manipulierter polit. Wunschbilder und zu einem Miteinander und Füreinander führt, das durch ein geistig anregendes Klima wie im Berlin der letzten Jahrhundertwende gefördert wurde. Die Eigenart dieser Beziehungen verleiht auch den literar. Beziehungen ihre Besonderheit. M. F i s c h b a c h - P o s p e l o v a , Poln. Lit. in Deutschland. Stammler Aufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1960) Sp. 525-550. Dies., Poln. Lit. in Deutschland (1960; Frankf. Abhdlgn. z. Slavistik2). K a r l D e d e c i u s (siehe § 10). Norbert H o n s z a , Literar. Wechselbeziehungen zwischen Deutschland u. Polen, in: Rezeption d. dt. Gegenwartsliteratur im Ausland. Tagungsbeiträge eines Symposiums d. Alexander-v. Humboldt-Stiftung. Hg. v. D. Papenfuß u. G. Göring (1976) S. 155-165. Maria

Bräuer-Pospelova

III. Die Aufnahme der serbischen kroatischen Literatur in Deutschland

und

Abkürzungen: kr. - kroatisch; sb. - serbisch; sbkr. - serbokroatisch; ssl. - südslavisch.

§ 1. Die ssl.-dt. Literaturbeziehungen stellen kein Kontinuum dar. Langen passiven Phasen folgen Etappen regen Interesses an der ssl. Literatur. Die A n f ä n g e des ssl. Schrifttums in der Nachfolge der Slavenapostel Kyrill und Method, die geistliche und weltliche Lit. im sb. Nemanjiden-Reich, sodann die bedeutende Renaissance- und Barockliteratur in der Republik Ragusa und Dalmatien blieben den dt. Zeitgenossen unbekannt, und auch später hat eine über den Rahmen der slavist. Fachwissenschaft hinausgehende Rezeption kaum stattgefunden. Eine Ausnahme bilden für die frühere Zeit lediglich einige ssl. Humanisten, die im

Slavische Literaturen (serbische und kroatische Literatur) Zuge von Reformation und Gegenreformation Einfluß auf das dt. Geistesleben gewannen (Matthias Flacius Illyricus, Marko Marulic). Auch auf das sich seit dem 16. Jh. entwickelnde „illyrische" Sprach- und Nationalbewußtsein wurde man in Deutschland erst spät aufmerksam. Eine wichtige Vermittlerrolle spielten dabei die führenden U n i v e r s i t ä t e n d e r A u f k l ä r u n g s z e i t . In Halle führte der Missionseifer A. H . Franckes zur Beschäftigung mit den ssl. Sprachen und zur Förderung sb. Studenten. Ebenso unterhielt die Universität Jena, die 1823 Vuk Karadzic die philosophische Doktorwürde verlieh, über den slovakischen Protestantismus Beziehungen zu den Serben (H. Peukert). Das Interesse an den Völkern der europäischen Peripherie schlug sich besonders in der Berichterstattung der Göttinger Gelehrten Anzeigen über die durch A. Fortis entdeckten „Morlacken" nieder. Hier setzte man sich zugleich mit der illyrischen Hypothese und dem Problem der Absonderung des ssl. Volkes von der modernen Kultur auseinander (V. Jirat). Nachrichten von ssl. „Barden" drangen bis zu Klopstock, und A. v. Haller empfahl in seinen Fortis-Besprechungen (1775/76) die Ubersetzung jener „Romanze von der traurigsten A r t " , auf die wenig später auch Goethe stieß. Göttinger Gelehrte wie A. L. v. Schlözer setzten beim Ausbau ihrer ssl. Beziehungen auf den sb. Metropoliten Stratimirovic als Garanten für die Ausbreitung von Bildung und Gesittung. Dieser konservative Gegner der Sprachreform Karadzics wurde sogar 1817 zum Ehrenmitglied der Göttinger Sozietät gewählt. U m ein Gegengewicht zu schaffen, setzten Vuks Förderer B. Kopitar und J . Grimm mit polit. Geschick 1824 dessen Wahl zum Korrespondierenden Mitglied der Gesellschaft durch. Peter u. Gunhild K e r s c h e , Bibliographie d. Literaturen Jugoslaviens in dt. Übersetzung 17751977 (Wien 1978; Schriftenreihe d. österr. Ostu. Südosteurop. Inst. 6). — Max V a s m e r , Bausteine zur Gesch. d. dt.-slavischen geistigen Beziehungen. Bd. 1 (1939; AbhAkBln. 1938, 6). P. S l i j e p c e v i c , Gegenseitige Beziehungen d. dt. u. d. sbkr. Literatur. Lit. 42 (1939/40) S. 283-286. A. S c h m a u s , Südslavisch-dt. Literaturbeziehungen. Stammler Aufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1960) Sp. 481-502. Enciklopedija Jugoslavije. Bd. 6 (Zagreb 1965), Stichwort Njemacko-jugoslavenski odnosi. Strahinja K o s t i c , Deutsch-jugoslawische literar. Wechselbeziehungen in Vergangenheit u. Gegenwart (1968; Dortmunder Vorträge 93). Miljan

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M o j a s e v i c , Deutsch-jugoslawische Begegnungen. Aufsätze (1970; Wiss. Buchr. d. Intern. Lenau-Ges. 2). Ders., Nemacko-jugoslovenske kultume veze (Beograd 1974). Manfred J ä h n i c h e n , Zum Anteil d. Literaturrezeption bei d. Formung d. dt. u. österr. Südslavenbildes im 19. Jh. T . 1: 1800-1860. Zs. f. Slawistik 16 (1971) S. 221-234. Reinhard L a u e r , Zur Rezeption serbischer u. kroatischer Autoren im dt. Sprachraum, in: Wechselbeziehungen zwischen dt. u. slavischer Lit., hg. v. Bernhard Stasiewski (1978; Schriftenr. d. K o m m . f. d. Studium d. dt. Gesch. u. Kultur im Osten 14). Eduard W i n t e r , Die Pflege d. west- u. südslav. Sprachen in Halle im 18. Jh. (1954; Veröff. d. Inst. f. Slavistik 5). Herbert P e u k e r t , Die Slawen d. Donaumonarchie u. d. Universität Jena 1700-1848 (1958; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 16). V. J i r a t , Slavisches in d. 'Göttingischen Gelehrten Anzeigen' 1739-1790. E. Beitr. zum Problem „Herders Vorgänger", in: Xenia Pragensia. Emesto Kraus septuagenario et Josepho Janko sexeagenario (Prag 1929) S. 121-181. H . K u n s t m a n n , Slavische Gelehrte in der Göttinger Ges. d. Wissenschaften. Ossoliriski, Uvarov, Karadzic, Kopitar, in: Slavist. Studien zum }. Intern. Slavistenkongreß in Sofia (1963; Opera Slavica 4) S. 537-553. Vgl. zu Vuk Literatur zu § 3. — Mijo M i r k o v i c , Matija Vlacic Ilirik (Zagreb 1960; Djela Jugoslavenske Akademije znanosti i umjetnosti 50).

§ 2. Vorbereitet durch die slav. Forschungen der Aufklärung, eröffnet H e r d e r das bedeutendste Kapitel der ssl.-dt. Literaturbeziehungen. Seine Einfühlung in fremde Nationalcharaktere und -kulturen, die Entdeckung des tragischen historischen Schicksals der Slaven, der Hinweis auf die Volkspoesie als Born des Nationalgeistes sowie die Aufforderung an die Zeitgenossen, die Reste ihrer Gebräuche, Lieder und Sagen zu sammeln, haben den Boden für die nachmalige Aufnahme sbkr. Volksdichtung bereitet. Schon in seinen Volksliedern (1778/79) teilte er vier aus Fortis gewonnene „morlackische" Lieder mit, darunter Goethes „Nachbildung" (E. Krag) der Hasanaginica

(Klaggesang der edlen Frauen des Asan Aga), die 1775 entstanden war. G o e t h e hatte, von einer Ubersetzung des schweizer. Schriftstellers C . Werthes ausgehend, den rhythmischen Charakter („sb. Trochäen") und die Wortstellung des Originals wiederhergestellt, eine besondere Leistung seines Einfühlungsvermögens, das später auch die Fälschungen „illyrischer" Volkspoesie in Merimees La Guzla erspürte.

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Slavische Literaturen (serbische und kroatische Literatur)

Ein halbes Jh. später nahm sich Goethe erneut der sbkr. Lieder an, diesmal als Forscher und Rezensent. Inzwischen hatte Karadzic Volkslieder, eine Grammatik und ein Wörterbuch herausgegeben. B. Kopitar, J . Grimm und J. S. Vater waren mit Energie für ihn eingetreten. Am 1 5 . 2 . 1824 besuchte er Goethe und fand herzliche Aufnahme. In den Jahren 1823 bis 1827 denkt Goethe über die sbkr. Lieder nach, berichtet über sie in Kunst und Altertum, druckt einzelne Texte ab, regt weitere Ubersetzungen und Vertonungen an, kurz: fördert die Verbreitung der Lieder mit allen ihm gegebenen Mitteln. Selbst auf den sb. Dichter Sima Milutinovic, den späteren Erzieher Njegoss, der sich während seines Aufenthaltes in Leipzig, verbunden mit W. Gerhard und K. R. Herloszsohn, um die Popularisierung der sb. Volkspoesie bemühte, machte er, als ihm dessen Epos über den sb. Aufstand Serbijanka unterbreitet wurde, aufmerksam. Doch schon 1828, in der Anzeige von Gerhards Wila, überwiegt die Distanz, zumal sich die sb. Poesie, nach Goethes Meinung, inzwischen „dergestalt ausgebreitet" habe, „daß sie weiter keiner Empfehlung" bedürfe (Weim. Ausg. I, 41, 2, S. 308). Man darf, wenn man das Anziehen und Abstoßen der sbkr. Volkspoesie durch Goethe zu bewerten sucht, nicht vergessen, daß es neben der Beschäftigung mit anderen Volksliteraturen und im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Weltliteratur und der „Einen Dichtung" steht. Die typologischen Gemeinsamkeiten etwa der „leichtfertigen eigentlichen Lieder", die Gerhard vorlegte, mit den Liedern Berangers bestätigten Goethes Überzeugung, „daß es eine allgemeine Weltpoesie gebe und sich nach Umständen hervortue" (Ebda, S. 282). Trotz aller Bewunderung für die sbkr. Volkspoesie, vor allem die Liebeslieder, bleibt bei Goethe ein gewisses Widerstreben gegen das Unmenschliche, Grausame und Schaurige, das insbesondere die Heldenlieder aufweisen. Im Königsohn Marko findet er „einen absoluten monströsen Helden" (I, 42, 1, S. 252) und begrüßt es, daß diese „barbarischen Gedichte" von einem Frauenzimmer, Therese von Jakob (Talvj), übersetzt und damit abgemildert würden. Der besondere Begriff von vorschreitender Humanität und das schöne und heitere Menschenbild der Griechen trennen Goethe von der Welt der sbkr. Heldenepik. Wenn auch Goethes Kenntnisstand der ssl. Dinge nicht überschätzt werden sollte, verdient

ihre rasche Assimilierung und anschauliche Ausbreitung vor der literar. Welt durch ihn hohe Bewunderung. M . T r i v u n a c , Goethe u. d. sbkr. Lit. Germanoslavica 1 (1931/32) S. 462-488. P. S l i j e p c e v i c , Uticaj Geteov na prve kompozicije nasih narodnib pesama u Nemackoj, in: ]. V. Gete (Zagreb 1932) S. 67-69. Stj. T r o p s c h , Getejakov Grim i nasa narodna pesma, i n : / . V. Gete (Zagreb 1932) S. 49-55. Jevto M. M i l o v i c , Goethe, seine Zeitgenossen u. d. sbkr. Volkspoesie (1941; Veröff. d. Slav. Ins:, an d. Friedr. Wilh.-Univ. Berlin 30). Ders., Goethe i srpskohrvatska narodna poezija, in: Filozofski fakultet u Zadru 1956/57 (Zadar 1958) S. 67-84. E. K r a g , Goethe u. d. sbkr. Volksdichtung. Scando-Slavica 3 (1957) S. 17-30. — Franz M i k 1 o s i c h, Uber Goethes,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga'. Gesch. d. Originaltextes u. d. Übersetzungen. SbAkWien 103 (1883), Nr. 2, S. 413-489. Camilla L u c e r n a , Die südslav. Ballade von Asan Agas Gattin u. ihre Nachbildung durch Goethe (1905; FschgnNLitg. 28). M . T r i v u n a c , Gete u srpskohrvatskoj knji zevnosti — Geteov prepev' Asanaginice' (Beograd 1933). Matthias M u r k o , Das Original von Goethes ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga' (Asanaginica) in d. Lit. u. im Volksmund durch 150 Jahre (Brünn 1937; aus: Germannoslavica 3 u . 4 ) . M . C u r c i n , Die Hintergründe von Goethes morlackischem Lied, Von der edlen Frauen des Asan Aga'. Südostforschungen 15 (1956) S. 477-491. ,Hasanaginica' u svjetskoj knjizevnosti (Sarajevo 1974; Zivot 15, Sonderh.) — Jevto M . M i l o v i c , Übertragungen slav. Volkslieder aus Goethes Briefnachlaß (1939; Veröff. d. Slav. Inst, an d. Friedr. Wilh.-Univ. Berlin 28). P. S l i j e p c e v i c , Gete o Kraljevicu Marku, in: J. V. Gete (Zagreb 1932). S. 55-66. JevtoM. M i l o v i c , Talvjs erste Übertragungen für Goethe u. ihre Briefe an Kopitar (1941; Veröff. d. Slav. Inst, an d. Friedr. Wilh.-Univ. Berlin 33). M . M o j a s e v i c , Eine Leistung Goethe zuliebe. Talvj, Goethe u. d. sbkr. Volkslied. Goethe-Jb. 93 (1976) S. 164-189.

§ 3. Das Bemühen Jacob G r i m m s um die sbkr. Volkspoesie und Karadzics Sprachreform ergänzt und überschneidet sich mit dem Goethes. Seit seinem Wiener Aufenthalt 1814/15, als ihn B. Kopitar auf Karadzics erste Liedsammlung hinwies, bis zu seinem Tode hat sich Grimm mit der sbkr. Sprache, Grammatik und Volksdichtung auseinandergesetzt. Davon zeugen mehrere Rezensionen und seine Verdeutschung der Kleinen sb. Grammatik von Karadzic (1824). In der Besprechung der Talvjschen Ubersetzungen (1826) meinte er,

Slavische Literaturen (serbische und kroatische Literatur) daß man dieser Lieder wegen jetzt Slavisch lernen werde - er selbst hatte damit zehn Jahre zuvor begonnen. Begeistert von dem Reichtum und der Ursprünglichkeit der sbkr. Poesie - er stellte sie neben das Hohelied Salomos und die Homerischen Dichtungen - , vermittelte er Ubersetzungen, die Kopitar für ihn angefertigt hatte, einem großen Kreis von Interessierten, darunter Goethe, F. C. v. Savigny, Brentano und W. v. Haxthausen. Brentano rückte in den romantischen Almanach Die Sängerfahrt (1818) 19 sb. Lieder unter dem Signum der Brüder Grimm ein, ohne die Autorschaft Kopitars zu ahnen. Aus der Beschäftigung mit der „serbisch-kroatischen" Sprache und Volkspoesie gewann Grimm eine Reihe gewichtiger philologischer Erkenntnisse (M. Mojasevic). Der Zyklus um Königsohn Marko erschien ihm - Lachmanns Theorie entsprechend - als ein Heldenepos in statu nascendi, so daß er Karadzic vorschlug, „alle Lieder von Marko besonders zu übertragen und als ein Epos von Marko bekannt zu machen" (Brief vom 29. 5. 1845). Von den Übersetzungen der Lieder erwartete er die Beibehaltung der poetischen Kraft der Originale und bestand auf Neubildungen (nächtlein durchnachten, bürg bürgen, jagd jagen usf.), die der sbkr. Volkssprache nachempfunden waren. Vor allem aber fand er in der Vukschen Sammlung „den uralten, ungekünstelten Kern des Poetischen", der ihn zum Sammeln des Volksgutes trieb. Der in dem Zirkular an die Deutschen - ein Exemplar ging auch an Karadzic - ausgedrückte „Rettungsgedanke" (Mojasevic) hat die beiden Sammler und Forscher wohl am stärksten miteinander verbunden. Karadzic wußte Grimm für sein Engagement überschwenglichen Dank. E. T o n n e l a t , Jacob Grimm et les Slaves du Sud. Revue des Études Slaves 15 (1935) S. 189-209. Max Vas mer (Hg.), B. Kopitars Briefwechsel mit Jacob Grimm (1938). Milja n Mojasevic, Srpska narodna pripovetka u nemackim prevodima. Od Grima i Vuka do Leskina, 1815-1915. Diss. Beograd 1950. Ders., Nochmals zu Jacob Grimms Übersetzungen sbkr. Volkslieder, in: Brüder Grimm Gedenken. Hg. v. Ludwig Denecke. Bd. 2 (1975; Hess. Bll. für Volkskunde 64/65) S. 43-65. M. I b r o v a c , Iz Grimovog kruga: Grimoviprepisi srpskih narodnih pesama. Zbornik Matice srpske za knjiz. i jez. 3 (1955) S. 24-34. K. S c h u h e K e m m i n g h a u s e n , Jakob Grimm u. d. sbkr. Volkslied. Dt. Jb. f. Volkskunde 4 (1958) S. 301326. H. P e u k e r t , Jakob Grimm u. d. Slawen. Wiss. Zs. d. Friedr.-Schiller-Univ. Jena, Ges.- u.

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sprachwiss. Reihe 13 (1964), H. 2, S. 211-220. Ders., Bemerkungen über Jacob Grimms, Vorrede' AnaliFilozu Vuks'KleinerserbischerGrammatik. loskog fakulteta, sv. 4, god 1964 (Beograd 1966) S. 349-381. Str. K o s t i c , Vuk Stefanovic Karadzic u. d. Brüder Grimm. Stadt Sindelfingen. Jahresbericht 1972, S. 270-279. Vera B o j i c , Jakob Grimm u. Vuk Karadzic (1977; Slavist. Beiträge 106). —H. Wendel, Vuks Jenenser Promotion. Slavia 2 (1923/24) S. 327-334. M. T r i v u n a c , Vukov doktorat. Strani pregled 5 (1934) S. 155167. M. Vasmer, Vuks "Wahl zum Mitglied der Göttinger Ges. d. Wissenschaften. Zs. f. Slav. Philologie 15 (1938) S. 312-316. Irmgard M a h n ken, Vuk, Vuks Gegner u. Göttingen. Vukov zbornik (Beograd 1966; Srpska Akademija nauka i umetnosti. Posebna izdanja, knj. CD) S. 543-549.

§ 4. Im Umkreis des Interesses Goethes und Grimms an der sbkr. V o l k s d i c h t u n g entstand, von beiden mit kritischem Wohlwollen begleitet, eine ganze Reihe von Übertragungen, unter denen die beiden Bände Volkslieder der Serben (1825,2. Aufl. 1853) von Talvj, an deren Zustandekommen Goethe unmittelbaren Anteil nahm, die Sb. Hochzeitslieder (1826) von E. E. Wesely und die schon erwähnte Sammlung Wila von W. Gerhard (1826-28) hervorzuheben sind. Auch im Bereich der österreichischen Monarchie schreitet die Aufnahme der sbkr. Volksdichtung voran. Grimms langgehegter Wunsch, auch Märchen, Fabeln und Sprichwörter der Südslaven in Deutsch vorzulegen, erfüllte sich hier zuerst. Noch vor Karadzics Sammlung, die, übersetzt von Minna Karadzic, 1854 mit einer Vorrede Grimms erschien, hatten J. Schottky (1819) und J. N. Vogl (1837) Märchen veröffentlicht. Von Vogl stammt auch dies ein Gedanke Grimms - ein ganzer Zyklus von Marko-Liedern (1851), deren zwei fälschlich in Anastasius Grüns Werke aufgenommen wurden. Grün hat nur Volkslieder seiner krainischen Heimat übertragen und stand währenddem in engem Gedankenaustausch mit dem Illyristen Stanko Vraz. Auf die V e r m i t t l u n g s t ä t i g k e i t j ü d i s c h e r S c h r i f t s t e l l e r in Böhmen für die sbkr. Volksdichtung (L. A. Frankl, Gusle, 1852; S. Kapper, Gesänge der Serben, 1853, Gusle, 1875) ist von der Forschung hingewiesen worden. Bei einigen der genannten Ubersetzer (Herloszsohn, Vogl, Grün, Kapper) befruchtete die Beschäftigung mit den ssl. Liedern auch das originale Schaffen.

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Slavische Literaturen (serbische und kroatische Literatur) Milan C u r c i n , Das serb. Volkslied in d. dt. Lit. (1905). L j u b o m i r O g n j a n o v , Die Volkslieder d. Balkanslaven u. ihre Übersetzungen in dt. Sprache. Diss. Berlin 1941. Jevto M. M i l o v i c , Das Echo dersbkr. Volkspoesie in d. dt. Lit. Jb. d. Wiener Goethe-Ver. 68 (1964) S. 175-189. Horst R o h l i n g , Studien z. Gesch. d. balkanslav. Volkspoesie in dt. Übersetzungen (1975; Slavist. Fschgn. 19). — H . R o h l i n g , Beobachtungen an Wilhelm Gerhards Übersetzungen serb. Volkspoesie, \n:Aus d. Geisteswelt d. Slaven. Dankesgabe an Erwin Koschmieder (1967) S. 290-304. Zoran K o n s t a n t i n o v i c , Saradnja L. A. Frankla s Minom Karadzic na prevodjenju srpskih narodnih pesama. Vukov zbornik (Beograd 1966; Srpska Akademija nauka i umetnosti. Posebna izdanja, knj. C D ) S. 629-656. O . D o n a t h , Siegfried Kappers Leben u. Wirken. Archiv f. slav. Philologie 30 (1908/09) S. 400-447; 555-585. A. S c h m a u s , K. Herloszsohn u. d. sb. Volksdichtung, in: Franku Wollmanovi k sedmdesätinäm. Sbomik praci (Prag 1958) S. 150163.

Der Pilger in Karlovac, sahen nicht zuletzt ihre Aufgabe darin, kr. und sb. Literatur durch Übersetzungen und unterrichtende Beiträge dt.sprachigen Lesern zu vermitteln. Dieses Material wurde bisher von der Wissenschaft wenig beachtet. Wolfgang K e s s l e r , Buchproduktion u. Lektüre in Zivilkroatien u. -slavonien zwischen Aufklärung u. „Nationaler Wiedergeburt" (1767-1848). Zum Leseverhalten in e. mehrsprachigen Gesellschaft. Archiv f. d. Gesch. d. Buchw. 16 (1976) Sp. 339790 (mit ausf. Bibliographie). Michael L e h m a n n , Das dt.sprachige kath. Schrifttum Altungarns u. d. Nachfolgestaaten 1700-1950 (1975; Studia Hungarica 9). Josef M a t l , Dt. Literatur in KroatienSlawonien nach 1848, in: Matl, Südslaw. Studien (1965; Südosteurop. Arbeiten 63) S. 380-410. Josip B a d a l i c , O bilingvizmu u knjizevnosti hrvatskog Preporoda. Umjetnost rijeci 14 (1970), H . 1/2, S. 15-24. Jevto M . M i l o v i c , Die Beziehungen Petar II. Petrovic Njegoss zu Klemens Lothar Wenzel von Metternich in den Jahren 1836 und 1837, in: Festschr. f. Max Vasmer (1956; Veröff. d. Inst. d. Abt. f. slav. Sprachen u. Lit. am Osteuropa-Inst. an d. Freien Univ. Berlin 9) S. 332-340. Ders., Wien als erste Station d. Rußlandreise von Njegoss. Südostforschungen 30(1971) S. 260-291. — M. M o j a s e v i c , Pesnik Stefan Milov, ponemceni Srbin. Letopis Matica srpske. Bd. 370 (1952) S. 68-79. A. P e c i n o v s k y , Preradovic's 'Lina-Lieder'. Archiv f. slav. Philologie 30 (1908/09) S. 134-146. Istvan P o t , Pesmarica Jovana Pacica. Zbornik Matice srpske za knjiz i jez. 11 (1963) S. 131-182. Ljerka S e k u l i c , Nemacka 'Luna' u kulturnom zivotu Hrvatske (Zagreb 1968).

§ 5. Bei der Betrachtung der ssl.-dt. Literaturbeziehungen ist stets zu bedenken, daß die zur D o n a u m o n a r c h i e gehörigen Regionen (das heutige Slovenien, Kroatien und die Vojvodina) zugleich die süd-östliche Peripherie des Verbreitungsraumes dt. Lit. bildeten. Es bestand hier ein bilinguales (mitunter sogar trilinguales) literar. Milieu mit verschiedenen, sich durchdringenden Rezeptionsschichten. Zur dt. Lit. zählen nicht nur deutschstämmige Autoren, die in diesem Raum geboren oder in ihn verschlagen wurden (Lenau, Grün, Roda-Roda u.a.) oder germanisierte Slaven (Stephan Milow, Paula v. Preradovic, Bozena Begovic u. a.), sondern auch ssl. Dichter, die, solange ihre Literatursprache ungefestigt war, auf das Deutsche als poetisches Ausdrucksmittel zurückgriffen. Sind es im 18. und beginnenden 19. J h . meist panegyrische Texte auf offizielle Anlässe, so finden sich bei dem sb. Vorromantiker Jovan Pacic, bei den Illyristen Lj. Gaj, D . Demeter, M. Bogovic und P. Preradovic (LinaLieder), doch auch bei dem sb. Romantiker B. Radicevic (Abschied von Karlovitz) lyrische und balladeske Texte in dt. Sprache. O . Utjesenovic-Ostrozinski parodierte in seinem Lied

§ 6. Obwohl eine umfassende Bibliographie der dt. U b e r s e t z u n g e n ssl. Kunstliteratur noch aussteht und nur wenige Teilbereiche, wie die sb. Erzählliteratur von 1886-1940 (Str. Kostic), systematisch erschlossen wurden, kann gesagt werden, daß die kr. Literatur seit der nationalen Wiedergeburt (Illyrismus) und die sb. nach der Sprachreform Karadzics in zahlreichen Beispielen übersetzt wurde. Abgelegenheit und Verstreutheit, oft auch mangelnde Qualität der Ubersetzungen haben indes ihre Aufnahme erschwert.

Diese bisher wenig beachtete Dichtung wirkt sprachlich freilich oft mangelhaft und künstlerisch epigonal. Die dt.sprachigen Zeitschriften in diesem Raum, lange Zeit dem habsburgischen „Landespatriotismus" verpflichtet, wie Croatia und Luna in Zagreb oder

Zu den ersten bemerkenswerten Ubersetzungen zählen panegyrische Texte des sb. Klassizisten Lukijan M u s i c k i aus dem Jahre 1808 und Fragmente aus Dositej O b r a d o v i c s Selbstbiographie, die B. Kopitar 1810 vorlegte. Aufrüttelnd wirkte O . Utjesenovic-Ostrozinskis Gedicht Echo vom Balkan, das, 1842 in

vom Monatsakt Schillers Lied von der Glocke.

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mehreren Ubersetzungen verbreitet, auf die Leiden der unter türk. Herrschaft schmachtenden Südslaven aufmerksam machte. Von B . R a d i c e v i c erschien 1888 eine dt. Auswahl seiner Lyrischen Dichtungen, übersetzt von G . v. Schulpe. Die großen Nationalepen der Serben und der Kroaten im 19. J h . liegen in je drei Übersetzungen vor: I. M a z u r a n i c s Tod des Smail-aga Cengic wurde noch zu Lebzeiten des Dichters übertragen (C. Seeberger, 1864; W . Kienberger, 1876; St. Tschuturilo, 1929), während die erste Verdeutschung des Bergkranz von Petar Petrovic N j e g o s in die übersetzungsintensiven 1880er Jahre fällt (J. Kirste, 1886; K . Jovanovits, 1939; A. Schmaus, 1963). Zahlenmäßig stark vertreten sind die s b . R e a l i s t e n mit Erzählungen und Romanen aus der patriarchalischen Welt des balkanischen Dorfes ( L . Lazarevic, P. Kocic, Sv. Corovicu. a.). Str. Kostic betont, daß bei der Auswahl nicht nur ethnographische, sondern auch künstlerische Kriterien wirksam waren. Die Intensität der übersetzenden Vermittlung wurde durch die Schwankungen in den polit. Beziehungen der Serben zu Österreich und Deutschland merklich beeinflußt.

das Schummler, Bummler, 1909) oft zu wünschen übrig.

Polit. Intentionen standen auch hinter der fragwürdigen Ubersetzung von Ivan Gundulics Osman durch K . v. Pommer-Esche (1918), die das bedeutende Barockepos im Sinne der dt.türkischen Waffenbrüderschaft im 1. Weltkrieg zu einem „türkisch-illyrischen E p o s " verfälschte ( H . Peukert).

§ 7. U m die J h. w e n d e erreichten Serben und Kroaten mit dem Symbolismus bzw. der Moderne die Höhe der europäischen Literaturentwicklung. Aus diesem besonders für die Lyrik ergiebigen Bereich stellte O . Hauser 1912 in der Reihe Aus fremden Gärten sb. Dichter (J. Ducic, Sv. Stefanovic u. a.) vor. Die Dramatisierung der Hasanaginica des Kroaten M . Ogrizovic wurde 1910 übersetzt, während sich der kr. Lyrik (A. G . Matos, V. N a z o r , D . Domjanic) später Ubersetzer wie Camilla Lucerna, Z. Gorjan und A. ButtlarMoscon annahmen. Ein herausragendes, wenngleich noch wenig erforschtes Kapitel stellen die literar. Erfolge zweier Vertreter der kr. M o derne in Deutschland und Österreich dar: Josip Kosor (1879-1961) und Milan Begovic (1876-1948).

Größeren Widerhall fanden zwischen den Weltkriegen beim deutschen Publikum B. S t a n k o v i c s psychologischer Roman Hadschi Gajka verheiratet seine Tochter (dt. 1934), das bedeutendste Werk des sb. Realismus, in dem am Schicksal einer sensiblen Frauengestalt der Zerfall der patriarchalischen Ordnung in Vranje geschildert wird, sowie der erste von A. Schmaus besorgte Novellenband Ivo A n d r i c s (1939). Immer wieder gab es Versuche, durch A n t h o l o g i e n dem dt. Leser ein umfassenderes Bild der sb. und kr. oder auch der „jugoslavischen" Literatur zu vermitteln. Trotz einiger Glücksfälle (K. A. Jovanovits, Jugoslavische Anthologie, 1932; Z. Gorjan, Kr. Dichtung, 1933; G . Gesemann, Jugoslavische Novellen, 1938; F . Hille, Kr. und bosnische Novellen, 1940) läßt das sprachlich-künstlerische Niveau (E. Koller, Kr. Lieder, 1905) wie auch die Treue gegenüber dem Original (Roda-Ro-

Rossetummler,

G. Stadtmüller, Dichtung d. Balkanslaven in dt. Übertragung. Leipziger Vierteljahresschr. f. Südosteuropa 1940, S. 116-129. Hinko Vinkovic, Jugoslavische Literatur im , Morgenblatt', 18861935 (Zagreb 1936). Str. Kostic, Prilog proucavanju nemackih prevoda srpske umetnicke linke. Godisnjak Filoz. fak. u. Novom Sadu 1 (1956) S. 271-280. Ders., Nemacki prevodi srpskih umetnickih pripovedaka i romana do Drugog svetskog rata. Zbornik Matice srpske za knjiz. i jez. 4/5 (1956/57) S. 159-191 u. 6/7 (1958/59) S. 204-259.— Dragoslava Perisie, Prva srpskohravatska pesma u Listu 'Allgemeine Zeitung' i njen pesnik. Anali Filolosk. fak. 8 (Beograd 1968) S. 361-372. Herbert Peukert, Ivan Gundulics 'Osman' in Deutschland (1969; SBAkLeipzig 114, 2). Str. K o s t i c , Pesme Branka Radicevica u nemackim prevodima. Naucni zbornik Matice srpske 1 (1950), Ser. za drustvene nauke, S. 151-159. K. N. M i l u t i n o v i c , Nemacka knjizevna kritika o Borisavu Stankovicu. Letopis Matice srpske Bd. 344 (1935) S. 252-259. Str. Kostic, Delo Bonsava Stankovica u nemackim prevodima i ocenama, in: Delo Bore Stankovica u svome i danasnjem vrememu (Beograd 1978) S. 251-261.

K o s o r war durch Erzählungen aus dem Leben der slavon. Bauern in Zagreb bekannt geworden, als er im Feb. 1906 eine Reise nach Wien und München antrat, den Zentren der Sezession, in denen bereits kr. Künstler wie I. Mestrovic, V . Becic und J . Racic wirkten. Bis 1915 lebte er mit Unterbrechungen in Wien, München und Berlin, lernte mit verblüffender Schnelligkeit Deutsch und gewann die Fürsprache einflußreicher Literaten wie R . Schau-

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Slavische Literaturen (serbische und kroatische Literatur)

kal, St. Zweig und H. Bahr. Zweig bewunderte, nach Kosor, „das kosmische Element und die allmenschliche Großzügigkeit in der slavischen Poesie" (Jelcic, 138) und fand in Kosors Erzählungen dramatische Kraft, so daß er ihm die Beschäftigung mit dem Drama anriet. So entstanden die ersten Dramen Kosors, Brand der Leidenschaften (1910) und Versöhnung (1911), die an mehreren deutschen Bühnen mit Erfolg aufgeführt wurden. Man verstand sie gleichsam als kr. Variante des slavischen Naturalismus (L. Tolstoj, M. Gor'kij). Zweig lobte vor allem das Stück Versöhnung mit der eigentümlichen Gestalt eines schlichten Bauern, der zum Heiligen heranwächst. Es „gräbt einen neuen Weg auf und lenkt gleichzeitig zu dem zurück, was ja der Ausgang des Dramas war (und sein Ende wieder sein soll), zum Religiösen", schreibt er an Kosor (Brief vom 30. 5. 1911). In der Münchener Boheme um St. Przybyszewski, R. Dehmel und H. Ball war Kosor vor dem 1. Weltkrieg eine gefragte Erscheinung. Seine Gedichte und Erzählungen wurden in Wiener und Berliner Zeitungen veröffentlicht.

terar. Sektor. Erst als sich nach der Beseitigung literaturpolit. Restriktionen in Jugoslavien sowohl realistische als auch avantgardistische Strömungen entfalteten, die eine stärker mit dem sozialen Thema und dem Partisanenkrieg, die andere mit der Analyse der existentiellen und psychologischen Probleme der Kriegs- und Nachkriegszeit befaßt, zeichnet sich seit M i t t e d e r 5 0 e r J a h r e wieder Interesse an der sb. und kr. Lit. im nunmehr geteilten Deutschland ab. O . D a v i c o s Roman Die Libelle (dt. 1958) über die Illegalen im besetzten Belgrad und die Partisanenromane von B. C op i c auf der einen, Ivo A n d r i c s Parabel über den Grundmechanismus der Tyrannei, Der-verfluchte Hof (dt. 1957), und die makabren Erzählungen und Romane über die Kehrseite von Krieg und Nachkrieg von M. B u l a t o v i c auf der anderen Seite stehen für die unterschiedlichen Horizonte in Ost und West. Bulatovics sensationeller Erfolg in Deutschland dürfte den in seiner Heimat weit übertroffen haben. Auf der Bühne teilte er freilich mit seiner dramatischen Replik auf Becket, Godot ist gekommen (1966), die schwachen Erfolge anderer ssl. Dramatiker.

Etwas später als Kosor faßt auch B e g o v i c in Deutschland Fuß. 1908 hatte ihn Baron Berger als Dramaturgen ans Hamburger „Deutsche Schauspielhaus" geholt; 1912-15 wirkte er in gleicher Eigenschaft an der „Neuen Wiener Bühne". Diese Tätigkeit sowie die Beziehungen zu H. Bahr, F. Th. Csokor, St. Zweig u. a. begünstigten das Placement seiner literar. und publizistischen Arbeiten, die, wie der kapriziöse Einakter Die letzte Tanzstunde des Bischofs von Orleans (1910), teils zuerst in dt. Sprache verfaßt wurden. Bis in den 2. Weltkrieg hinein tauchten die dramatisch effektvollen Stücke Begovics (Die amerikanische Yacht im Hafen von Split, Herzen im Sturm u. a.) immer wieder auf dt.sprachigen Bühnen auf.

Die Verleihung des Nobelpreises an Ivo A n d r i c im Jahre 1961, die erste weltweite Anerkennung jugoslav. Literatur, löste eine Übersetzungswelle von bisher unbekanntem Ausmaß aus. Andrics drei große Romane und sein novellistisches Werk fanden wärmste Aufnahme und sind in vielfältigen Ausgaben verbreitet. Von der Kritik wurde vermerkt, daß mit Andric nicht nur ein großer Erzähler vor den dt. Leser trete, sondern auch die kontrastreiche Region Bosnien literarisch erschlossen werde. Der andere große lebende Schriftsteller Jugoslaviens, Miroslav K r l e z a vermochte, ebenso wie Sl. Kolar, M. Crnjanski, E. Kos, Jara Ribnikar u.a., nicht ganz aus dem Schatten des Nobelpreisträgers herauszutreten. Seine bislang übersetzten Werke, die den Zerfall der Donaumonarchie und die Fäulnis ihres Nachfolgestaates darstellen, wurden vielfach in einer Reihe mit R. Musil, J . Roth und H. v. Doderer genannt. Die sb. erzählerische Avantgarde, die vom Surrealismus und dem nouveau roman geprägt wurde, zum Teil auch der Strömung der „Jeans-Prosa" angehört, ist mit Autoren wie G. Olujic, B. Cosic, D. Kis, M. Kovac, D. Mihajlovic u. a., nicht zuletzt dank der rührigen Übersetzertätigkeit P. Urbans, gut vertreten. Von den jüngeren Kroaten wurde hingegen nur A. § o 1 j a n mit der Parabel über seine

Dubravko Jelcic, ¿ivot i djelo Josipa Kosora. Diss. Zagreb 1973. Maria Salzmann-Celan, Kosor u. Lovric in Wien. Wiener Slavist. Jb 24 (1978) S. 242-253. § 8. Nach dem 2. W e l t k r i e g , der mit besonderer Schärfe auch das deutsch-jugoslavische Verhältnis in Mitleidenschaft gezogen hatte, war es nicht leicht, einen neuen Anfang in den literar. Beziehungen zu finden. Zudem blieben die unterschiedliche polit. Entwicklung in Ost und West und Ereignisse wie die Kominformbüro-Krise nicht ohne Einfluß auf den li-

Slavische Literaturen (serbische und kroatische Literatur) Generation, Ein kurzer Ausflug (dt. 1966), bekannt. In Verlagen der D D R erschienen, der obengenannten Tendenz entsprechend, außer Andric und Krleza vorwiegend Autoren der realistischen Richtung (V. Kaleb, M . Lalic, C. Sijaric u. a.). M . S e l i m o v i c s Meisterwerk Der Derwisch und der Tod, das, gleichsam als Pendant zu Andrics Romanen, ein „immanent e s " - islamisches - Bild Bosniens mit aktuellen Bezügen entwirft, konnte 1973 in Ost und West erscheinen. Uberraschend breit ist das Spektrum der in den letzten Jahren vorgelegten L y r i k ü b e r s e t z u n g e n . Während von den Sammlungen wohl nur die von S. R . Baur herausgegebene Anthologie neuerer kroatischer Lyrik (Zagreb 1969) und der recht persönlich akzentuierte Band Beschwingter Stein (1976) von Ina Jun Broda einen zuverlässigen Querschnitt vermitteln, zeigen sich die einzelnen Autoren (D. Cesaric, O . Davico, M . Pavlovic) gewidmeten Bände in günstigerem Lichte. Allein Vasko P o p a fand mit seiner folkloristische, barocke und surrealistische Elemente vereinigenden Lyrik, dank der kongenialen Übersetzungen von K . Dedecius, größeres Echo. Bedeutende Autoren und charakteristische Texte sind damit präsent. Gleichwohl klaffen wie in der älteren Literatur, so auch in der neuen große Lücken, die sich, nachdem die Andric-Welle verrauscht scheint, nur schwer werden schließen lassen. Jugoslovenska knjizevnost u inostranstvu. Bibliografija (1959ff.). Belletristik d. Völker Jugoslawiens in d. DDR 1949-1977 (Berlin-Beograd 1978). Jugoslawische Literatur. E. Auswahl von Buchbesprechungen (Dortmund 1968). Ina Jun Broda, Beitrag über kroatische u. jugoslawische nord-siidliche Literaturexporte. The Bridge 39/40 (Zagreb 1974) S. 143-149. R. Lauer, Literatur, in: Südosteuropa-Handbuch. Bd. 1: Jugoslawien (1975) S. 414-438. Ders., Jugoslawien im Spiegel seiner ins Deutsche übertragenen zeitgenöss. Lit. Moderne Welt, 1964, S. 322-332. — M. J ä h n i c h e n, Jugoslovenska literatura u Nemackoj Demokratskoj Republici. Knjizevna istorija 9 (1976), H. 34, S. 289-294. — Str. Kostic, Kaproucavanju nemackihprevoda dela Iva Andrica, in: Ivo Andric (Beograd 1962; Inst, za teoriju knjizevnosti i umetnosti. Posebna izdaja 1) S. 267-285. — M. J ä h n i c h e n , Miroslav Krleza bei uns. Weim. Beitr. 19 (1973), H. 6, S. 138-150. § 9. Ein Gebiet, bei dem sich Kulturvermittlung und Stoffgeschichte durchdringen, ist vielfach Gegenstand der Forschung (M. Djordjevic,

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Z . Konstantinovic, J . Matl, M. Mojasevic) gewesen: das s s l . T h e m a in d e r d e u t s c h e n L i t e r a t u r . Hierzu zählt einmal der Strom der Reisebeschreibungen, der von der „statistischen" Bestandsaufnahme im 18. J h . über das Kaleidoskop der Eindrücke im Stile Heines bis zur touristischen Retrospektive in unserem Jh. reicht. Bedeutung besaßen für ihre Zeit die Reiseberichte von O . v. Pirch (1830), H . Stieglitz (1850), das dreibändige Werk Aus Dalmatien (1857) der Ida v. Düringsfeld sowie H . Bahrs Dalmatinische Reise (1909). Friedrich Hebbels politisch gefärbte Skizzen aus Agram (1850; in: Sämtliche Werke. Hg. v. R . M . Werner. Bd. 10, S. 161-167) sind nicht frei von deutschnationaler Herablassung gegenüber der kr. Wiedergeburtsbewegung. Großen Anteil an der Vermittlung von Informationen aus allen Wissensbereichen, nicht zuletzt auch aus der Literatur, hatten Zeitschriften wie das Prager Journal Ost und West oder das Cottaische Ausland (1828-93). Beim Durchstreifen der dt. Lit. nach ssl. Themen und Gestalten hat M . Mojasevic auf das seit dem 30-jährigen Krieg aufkommende Kroatenbild bei Grimmelshausen, Schiller, C . F . Meyer u. a. hingewiesen. Das ZrinjskiThema bei T h . Körner, der montenegrinische Pseudo-Demetrius in einer Novelle von Herloszsohn, sb. Helden in Balladen von J . N . Vogl und E . Geibel ( D i e weiße Schlange), „Illyrien" bei A. Grün, ein Serbenepos von S. Kapper sowie ein Drama über die historische Begegnung Friedrich Barbarossas mit dem sb. Reichsgründer Stefan Nemanja von Robert Weege sind weitere Beispiele. Im 20. Jh. stellte Mojasevic einen Strang von Romanen, vorwiegend aus dem Kriegs-, Reise- und Heimatgenre, von unterschiedlicher literar. Qualität und ideologischer Ausrichtung heraus, deren Schauplätze, Gestalten oder Problematik im ssl. Bereich liegen (H. Mann, W . v. Scholz, R . H . Bartsch, R . Michel, B . Brehm, J . M . Wehner, F . v. Gagern u. a.). Auch die Slavenexotik bei H . v. Doderer (Wasserfälle von Slunj) gehört in diesen Zusammenhang. In G . Gesemanns Kriegstagebuch Die Flucht (1935) gibt die sb. Heldendichtung den Kontrast zu den Ereignissen des 1. Weltkrieges ab; bei J . F. Perkonig gewinnt die archaische Gestalt des Guslaren, nicht ohne romantische Verzerrung (M. Djordjevic), Bedeutung. Aktuelle Ereignisse des 2. Weltkrieges haben F. Th. Csokor, der seit 1939 im jugoslav. Exil lebte, und der

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Slavische Literaturen (serbische und kroatische — tschechische Literatur)

aus Prag emigrierte Louis Fürnberg (in der Novelle Vuk) behandelt. Den während des Krieges nach Ägypten evakuierten Jugoslaven widmete Fürnberg seinen Verszyklus El Schutt (1946). Tief in der ssl. Welt wurzelt das Schaffen der Paula v. Preradovic, die einen biographischen Roman über ihren Großvater, den Illyristen Petar Preradovic, schrieb (Pave und Pero, 1940). In ihrer Lyrik besang sie Dalmatien und die Adria. Erwähnung verdienen hier auch zwei Reporter, deren ssl. Berichte zu den hervorragenden Leistungen des dt. Journalismus zählen: E. E. Kisch (Schreib das auf, Kischf, 1930) und der um den jugoslavisch-dtBrückenschlag verdiente Hermann Wendel. Einige der genannten Autoren versuchen, über die exotischen oder histor. Aspekte ihres Themas hinauszugelangen und an die alte folkloristische Tradition anzuknüpfen. Zoran K o n s t a n t i n o v i c , Dt. Reisebeschreibungen über Serbien «. Montenegro (1960; Südosteurop. Arbeiten 56). Ders., Odraz nase narodnooslobodilacke borbe « nemackoj knjizevnosti. Zivi jezici 1 (1957) S. 45-55. Ders., Die Entdeckung d. slaw. Mediterrans in d. dt. Lit. The Bridge 39/40 (Zagreb 1974) S. 176-182. — Josef M a t l , Preradovic, Kukuljevic, Düringsfeld in Dubrovnik, in: Resetarov zbornik (Dubrovnik 1931) S. 368-378, wiederholt in: Matl, Südslawische Studien (1965; Südosteurop. Arbeiten 63) S. 326-336. Ders., Ragusa (Dubrovnik) in d. dt. Lit. Zs. f. dt. Geistesgesch. 2 (1936) S. 82-99, wiederholt ebda, S. 337-363. P. S l i j e p c e v i c , Dubrovacki junak u nemackoj romantici. Zapisi (Cetinje 1932), S. 129-148. M. Mojasevic, Ida von Dühringsfelds literar. Beziehungen zu d. Südslaven. Ihre Reiseskizzen u. Ubersetzungen. Die Welt d. Slaven 2 (1957) S. 302-313. M. D j o r d j e vic, Freiherr von Herder u. Sima Milutinovic. Südostforschungen 17 (1958) S. 23-31. — M. D j o r d j e v i c , Hebelovi dopisi iz Zagreba. Prilozi za knjizevnost, jezik, istoriju i folklor 20 (1954) S. 60-69. M. M o j a s e v i c , 2asto je Fridrih Hebel pisao negativno o Hrvatima i Srbima? Zbornik Matice srpske za knjiz. i jez. 3 (1955) S. 102-109. — Alois H o f m a n n , Die Prager Zeitschrift ,Ost und West'. E. Beitr. z. Gesch. d. dt.-slaw. Verständigung im Vormärz (1957; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 13). M. M o j a s e v i c , Kulturno-posrednicka uloga casopisa ,Das Ausland' izmedju Nemaca i Jugoslovena (1828-1893). Zbornik Filoz. fak. Beograd 3 (1955) S. 421-517. Ders., Vuk Karadzic, Vilhelm Hopei 'AllgemeineZeitung'. VukovZbornik (Beograd 1966; Srpska Akademija nauka i umetnosti. Posebna izdanja, knj. CD)S. 571-628. — M. D j o r d j e v i c , Guslar u savremenom nemackom romanu. Prilozi za knjizevnost, jezik, istoriju i

folklor 18 (1938) S. 612-616. A. Schmaus, Herloszonova slika Crne Gora. Prilozi za knjizevnost, jezik, istoriju i folklor 24 (1958) S. 17-35. — M. M o j a s e v i c , Jugosloveni u nemackom romanu. Izmedju prvog i drugog svetskog rata. Zbornik Filoz. fak Beograd 2 (1952) S. 293-330; dt. Zusammenfassung 331-332. O. Z i v o t i c , Das Irrationale u. d. Slaven in H. v. Doderers Roman ,Die Wasserfälle von Slunj', in: Sodalicium Slavizantium Hamburgense in honorem Dietrich Gerhardt (Amsterdam 1971; Bibliotheca Slavonica 5) S. 419-424. Str. K o s t i c , Jugoslovenski motivi u delima Paule Preradovic (1887-1951). Godisnjak Filoz. fak. u Novom Sadu 2 (1957) S. 321-335.

§ 10. Eine B i l a n z der Rezeption sb. und kr. Literatur zeigt in groben Zügen folgendes Bild: fortdauernde Wirkung löste in der Goethezeit die Entdeckung der sbkr. Volkspoesie aus. Zahlreiche Erörterungen, Ubersetzungen, Nachdichtungen und Bearbeitungen gingen aus dieser Quelle hervor. Vergleichbare Wirkung konnte die Kunstliteratur der Serben und Kroaten trotz einer Fülle mehr oder minder gelungener Ubersetzungen nicht erreichen. N u r einzelne Autoren wie Kosor, Begovic, Stankovic oder in der Gegenwart Bulatovic konnten zeitweiligen Erfolg erringen. Andric und Krleza indes zählen heute zum Bestand der dem dt. Publikum geläufigen Weltliteratur. Reinhard

Lauer

IV. Die Aufnahme der tschechischen Literatur in Deutschland § 1. Die E i g e n a r t der tschechisch-dt. literar. Beziehungen beruht darauf, daß Tschechen und Deutsche nicht nur seit dem 6. Jh. in unmittelbarer Nachbarschaft leben, sondern daß auch dt. Enklaven im tschech. Sprachgebiet sehr aktiv Ubersetzung und Vermittlung der tschech. Lit. gefördert haben. Dies gilt besonders für die dt. Autoren Prags, die oft zweisprachig und in beiden Kulturen beheimatet waren. Bei den Beziehungen handelt es sich selten um Einflüsse im herkömmlichen Sinn. Nachrichten über Vorgänge in der tschech. Literatur, Ubersetzungen und Inszenierungen von Theaterstücken sind in einzelnen Epochen zahlreich. Bei der Übernahme einzelner Aspekte der tschech. Lit. durch die dt. geht es meist um Stoffe aus der böhmischen Geschichte. Intensivere Kontakte kommen zustande, w o Ströme von Ideen religiöser, philo-

Slavische Literaturen (tschechische Literatur) sophischer oder ästhetischer Art aufgenommen und verarbeitet werden (Hussitentum - Reformation, Religion der Brüdergemeinden Herrnhuterbewegung, Reformsozialismus, Strukturalismus). Arnost Kraus, Starä historie ceskä v nemecke literature (Praha 1902). Rudolf W o l k a n , Geschichte d. dt. Lit. in Böhmen u. in d. Sudetenländern (1925). Eduard W i n t e r , Tausend Jahre Geisteskampf im Sudetenraum (1938). Alois Schmaus, Tschech.-dt. Literaturbeziehungen. Stammler Aufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1960) Sp. 503-524. Paul R e i m a n n , Von Herder bis Kisch. Studien zur Geschichte der dt.-österr.-tschech. Literaturbeziehungen (1961). Dt.-tschech. Beziehungen im Bereich d. Sprache u. Kultur. Aufsätze u. Studien. Hg. v. Bohuslav H a v r ä n e k u. Rud. Fischer. 2 Bde (1965-1968; AbhAkLpz. 57,2 u. 59,2). Rud. F i s c h e r , Fragen d. tschech.-dt. Literaturbeziehungen. Wiss. Zs. d. Univ. Leipzig 16 (1967) S. 125-131. A. H o f m a n n , Tschech. Impulse u. Wirkungen auf d. dt. Geistesleben, in: Aktuelle Probleme d. vergl. Literaturforschung. Hg. v. Gerh. Ziegengeist (1968) S. 208-229. M. J ä h n i c h e n , Zu einigen Aspekten bei d. Erforschung d. tschech.-dt. u. siidslawisch-dt. Literaturbeziehungen. Ebda, S. 161-177. Deutsche u. Tschechen. Beiträge zu Fragen d. Nachbarschaft zweier Nationen (1971; Stifter-Jb. N.F. 9).

§ 2. Die literar. Beziehungen zwischen Tschechen und Dt. stehen wiederholt im Schatten einer A u s e i n a n d e r s e t z u n g um die V o r h e r r s c h a f t eines der beiden Völker und damit Kulturbereiche in Böhmen und Mähren. Dieser bald offene, bald latente Konflikt wird in einem der ältesten Beiträge der Tschechen zur dt. Lit. sichtbar: König Wenzel II. von Böhmen (1278-1305) verfaßte selbst dt. Minnelieder und war im übrigen der gepriesene Mäzen dt. Dichter (Reinmar von Zweter, Heinrich von Freiberg, Ulrich von Etzenbach, Heinrich von Mügeln u. a.). Er stand damit im Gegensatz zum tschech. Adel (auch des Hofes), der in vielen Werken der alttschech. Lit. den nationalen Standpunkt durchsetzte (Chronik des „Dalimil", Alexanderroman, Prokopslegende). Das älteste bekannte ins Dt. übersetzte Werk der tschech. Lit. ist die antideutsche Reimchronik des „Dalimil" (Original um 1300, Übers. 1. Hälfte d. 14. Jh.s). Die dt. Version mildert die Polemik gegen die Dt. und fügt das Werk in den Zusammenhang der dt. Reimchronik. Die Frage der Priorität zweier sehr nahe verwandter Streitgespräche, des frühnhd.

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Ackermann aus Böhmen und des tschech. Tkadlecek ist nach W. Krogmanns Untersuchungen wohl endgültig zugunsten des Ackermann entschieden. Wegen der Tätigkeit mehrsprachiger Wanderbühnen und einer gemeinsamen lat. Grundlage kommt es im Spätm i t t e l a l t e r zu mannigfachen Beziehungen im Bereich der geistlichen Spiele. Während das alttschech. Quacksalberdrama (Mastickär, 2. Hälfte des 14. Jh.s) neben lat. Stellen, meist in komischem Zusammenhang auch dt. enthält, sucht das (sprachlich nach Mitteldeutschland weisende) Innsbrucker Osterspiel von 1391 mit tschech. Einschüben heitere Wirkungen zu erzielen. Tschech. Grußformeln sind seit der böhmischen Herrschaft (nach 1246) in der Österreich. Ritterschaft in Mode. Erich R a w o l l e , Mundart u. Kolonisation in d. sächs.-böhm. Schweiz (1934; Nachdr. 1972). E. Skala, Die Entwicklung d. Bilinguismus in d. Tschechoslowakei vom 13.-18. Jh. PBB (Halle) 86 (1964) S. 69-106. Joseph D o b r o w s k y , Gesch. d. Böhmischen Sprache u. älteren Literatur (1818; Neudr. 1972). J . H r a b ä k , Zu d. dt.-tschech. literar. Beziehungen im MA. Wiss. Zs. d. E. M. Arndt-Univ. Greifswald 11 (1962) S. 417-420. V. K a r b u s i c k y , Über d. Beziehungen zwischen d. älteren tschech. u. german. Epik, in: Beiträge zur Sprachwiss., Volkskunde u. Literaturforschung. Wolfgang Steinitz zum 60. Geb. (1965) S. 197-213. W. S c h m i d t , Der ahd. 'Mastickär' u. s. Verhältnis zu d. dt. Osterspielen. Zs. f. Slawistik 2 (1957) S. 223-242. W. Schamschula, The Place of the Old Czech Mastickdf-Fragments within the Central European Easter Plays, in: American Contributions of the Eighth Intern. Congress of Slavists (Columbus/Ohio 1978) S. 678-690. Rud. Z r u b e k , Dt.-tschech. Gemeinsamkeiten in d. Weihnachtsspielen d. Adlergebirges. Jb. f. ostdt. Volkskunde 14 (1971) S. 10-102. Willy K r o g mann, 'Ackermann' u. 'Tkadlec'. Zs. f. slav. Philologie 22 (1954) S. 272-394.

§3. Jan H u s und das H u s s i t e n t u m stießen bei den dt. Zeitgenossen auf Ablehnung. Muskatblüt (Zeitgedichte über das Konstanzer Konzil) und Hans Rosenplüt (Teilnehmer an den Schlachten von Mies und Taus - 1427 u. 1431) verurteilten Hus und seine Anhänger als Ketzer. Mit Martin Luther, der von Anbeginn der „böhmischen" Ketzerei beschuldigt wurde, beginnt die positive Einstellung zum Hussitentum. Die Wirkung von Hus auf die dt. Reformation ist vielfältig: 1. in der Dogmatik, wobei es in der Abendmahlslehre auch zu Ge-

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gensätzen k o m m t (s. Luthers Schrift Vom Anbeten des Sakraments, 1523), 2. in der Liturgiereform (Einbeziehung der Volkssprache in das religiöse Leben, Betonung der Predigt), 3. in der damit im Zusammenhang zu sehenden F ö r d e r u n g der Bibelübersetzung und 4. in der F ö r d e r u n g des volkssprachlichen Kirchengesangs. Luther verteidigte „der Böhmen Sach" u n d edierte mit einem Vorwort Hussens Briefe aus dem Kerker in Konstanz. Luthers Schüler, der kroatische Gelehrte Matthias Flacius Illyricus, veranstaltete die erste Gesamtausgabe der lat. und tschech. Schriften des Magisters (1558). Gemeinsamkeiten bestimmten auch das Verhältnis zwischen den dt. Reformatoren und den Böhmischen Brüderunitäten, denen schon Melanchthon wohlgesinnt war und die bis ins 18. Jh. auf den dt. Pietismus sowie auf Zinzendorf und die Herrnhuter nachhaltig wirkten. Auf das radikale Hussitentum, die Taboriten, berief sich Thomas Münzer, der 1521 in Prag sein Reich Gottes errichten wollte. Johann Agricola, theologischer Gegner Luthers, gestaltete als erster nach Petr z Mladonovic Relatio de Magistro Johanne Hus literarisch Hussens letzte Lebenstage in Tragoedia Johannis Huss (1537). Die histor. Erforschung des Hussitentums beginnt im Reformationszeitalter. Den Anfang setzte der Breslauer Kanonikus Johannes Cochlaeus (1549), doch seit Flacius dominiert die protestant. Seite in der Erforschung des Hussitentums. Starke Impulse gingen von H u s in der Pflege des Kirchenliedes (s.d.) aus. Michael Weisse (1534), der auch über den Ursprung der Brüder in Behem schrieb, erklärt im Vorwort zu sein e m New Gesangbuchlen (1531), er habe der „böhmischen Brüder Cancional vor sich gen o m m e n " und „inn deutsche reym bracht". Von den 20 übersetzten Liedern wurden später 11 in die lutherischen Gesangbücher aufgenommen, doch auch die Katholiken übernahmen daraus Teile (Chr. Hecyrus, 1581). Arnost Kraus, Husitstvi v literatufe, zejmena nemecke. 3 Bde (Praze 1917-1924). F. M. Bartos, Husitstvia cizina (1931). Ders., Ohlas Husova dila ve svete (1940). Rudolf Wolkan, Das dt. Kirchenlied d. Böhm. Brüder im 16. Jh. (Prag 1891). K. B i t t n e r , Erasmus, Lutheru. d. böhm. Brüder, in: Rastloses Schaffen. Festschr.f. Fr. Lammert (1954) S. 107-129. P. Diels, Das Verhältnis der Jres epistolae' zum tschech. Original, in: Luther, Werke. Weim. Ausg. Bd. 50 (1914) S. 676-688.

§ 4. Rege Beziehungen entstanden zwischen tschech. und dt. H u m a n i s t e n . D e r von G o e t h e geschätzte Dichter Bohuslav Lobkowitz von Hassenstein (1462-1510) war seit seinem Studium in Bologna mit dem Straßburger Humanisten Peter Schott befreundet. U m die Herausgabe seiner Werke machten sich dt. Autoren wie Thomas Mitis (1523-1591) und G e o r g Rehm (1561-1625) verdient. Mit dem Herausgeber und Ubersetzer griech. Autoren Z i k m u n d z Jeleni (1497-1554) standen J. Camerarius und Melanchthon in freundschaftlichem Kontakt. A n einzelnen dt. U n i v e r s i t ä t e n bildeten sich in der Zeit der Reformation und Gegenreformation Zentren der Erforschung der tschech. Geschichte heraus. Dies gilt für Altd o r f , wo Marquard Freher (1565-1614) wichtige tschech. Quellen herausgab. Gefördert wurden solche Beziehungen durch die Studien tschech. Studenten an dt. Hochschulen (z.B. Wittenberg, Halle, H e r b o r n , Heidelberg). Nachhaltig wirkte auf das dt. Geistesleben Johann Arnos C o m e n i u s (Komensky, 15921670). Sein Einfluß reicht von August Herm a n n Francke über Leibniz, dessen Philosophie zwar von Comenius wegführt, ihm aber doch wichtige Anregungen verdankt, bis zu H e r d e r und Goethe. A m dauerhaftesten ist seine Wirkung auf die Pädagogik. Halle und der Kreis um Francke (1663-1727) wurden zur Pflegestätte der Lehre Komenskys. Dort entstanden auch zahlreiche tschech. pietistische Schriften und Bibelübersetzungen (Pietistenbibel, 1722). Komenskys Irenismus (Erbe Petr Chelcickys und der Brüderreligion) wurde im Toleranzgedanken der Aufklärung wirksam (Lessing, Herder). Auch auf kathol. Seite bestehen Querverbindungen zwischen tschech. und dt. Autoren. D e r Jesuit Bohuslav B a i b i n (1621-1688), der als einer der wenigen Tschechen des Zeitalters tschech. Patriotismus bekannte, korrespondierte mit Christian Weise (1642-1708), der auch ein D r a m a König Wenzel schrieb (über Wenzel II.). Das Schuldrama der Jesuiten behandelt wiederholt Herzog Wenzel, den böhmischen Landespatron. K. B i t t n e r , / . A. Comenius u. G. W. Leibniz. Zs. f. slav. Philologie 6 (1929/30) S. 115-145; 7 (1930) S. 53-93. Hildegard Staedke, Die Entwicklung d. enzyklopädischen Bildungsgedankens u. d. Pansophie d. J. A. Comenius (1930). H. K u n s t m a n n , 'Die sichtbare Welt Comenii'. Die

Slavische Literaturen (tschechische Literatur) Welt d. Slawen 2 (1957) S. 377-393. Ders., Die Nürnberger Universität Altdorf u. Böhmen (1963). Dmytro C y z e v s ' k y j , Der Kreis A. H. Franckes in Halle u. s. slavist. Studien. Zs. f. slav. Philologie 16 (1939) S. 16-68. Eduard W i n t e r , Die Pflege d. west- u. südslaw. Sprachen in Halle im 18. Jh. (1954; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 5). Ders., Die tschech. u. slowak. Emigration in Deutschland im 17. u. 18 Jh. (1955).

§ 5. Ein neuer Abschnitt in den Wechselbeziehungen beginnt im A u f k l ä r u n g s z e i t a l t e r . Dt. Gelehrte förderten mit ihrem Interesse die Erforschung von Böhmens Geschichte und Sprache. Zentren solcher Forschungen waren Göttingen (J. D. Köhler, A. v. Haller, A. L. Schlözer) und die Leipziger Societas Jahlonoviana, die in den 70er Jahren des 18. Jh.s die westslavische Frühgeschichte erforschte. Beim Entstehen der neuen tschech. Literatur nach anderthalb Jh.en der Unterdrückung in der Gegenreformation verlaufen die Strömungen zunächst einseitig von West nach Ost. Dennoch wird von dt. Seite diese Erneuerung beobachtet. Dobrovskys Literaturgeschichten wurden u. a. von Clemens Brentano und den Brüdern Grimm gelesen. G o e t h e verfolgte nicht nur die dt. Lit. Böhmens (A. Fürnstein, J . H . Gossler, K. E. Ebert), sondern auch die tschechische. 1818 lernte er in Karlsbad Josef Dobrovsky (1753-1829) kennen, der in Böhmen betreffenden Fragen künftig sein Gewährsmann wurde. In der zusammen mit Vamhagen von Ense verfaßten Rezension der Prager Museumszeitschrift (1827) würdigt Goethe die Bedeutung Dobrovskys. Zu den tschech. Dichtern, die Goethe persönlich oder durch ihre Werke kennenlernte, gehören Jan Nejedly (1776-1834, Homerübersetzer) und der tschechisch dichtende Slowake Jan Kollär (1793-1852), den Goethe in Schutz nahm, als er wegen seiner Teilnahme am Wartburgfest von den Österreich. Behörden verfolgt wurde. Von besonderem Interesse ist Goethes Bearbeitung eines Gedichts aus der Königinhofer Handschrift: Das Straussehen. V. Hanka, A. Swoboda und J . Linda hatten diesen selbstverfaßten Text als altes Ms. ausgegeben, um der tschechischen Literatur durch hohes Alter größeres Prestige zu verleihen. Die Zweifel an der Echtheit wurden erst in den 80er Jahren des 19. Jh.s durch exakte Analysen bestätigt. Goethe schätzte das Dokument, doch störte ihn der Aufbau des Sträusschens. Durch „Um-

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setzung", d.i. Umstellung der Übersetzung A. Swobodas suchte er den echt volkstümlichen Charakter des offenbar verderbten Textes wiederherzustellen. Walter S c h a m s c h u l a , Die Anfänge d. tschech. Erneuerung u. d. dt. Geistesleben, 1740-1800 (1973). Ders., Der tschech. Anteil an d. ,österr. Bidermanns-Chronik' (1784). Die Welt d. Slaven 16 (1971) S. 262-282. — Arnost K r a u s , Goethe a Cechy (Praze 1896). Ders., Goethe a Cechove. Sbornik Fil. 7 (1922) S. 70-88. Johannes U r z i d i l , Goethe u. d. böhm. Geschichte. Germanoslavica 2 (1932/33) S. 372-385. Ders., Goethe in Böhmen (1962). O . F i s c h e r , F. L. Celakovskys Übersetzungen für Goethe. Germanoslavica 1 (1931/32) S. 408-431.

§ 6. Im Z e i t a l t e r der t s c h e c h . E r n e u e r u n g (seit der 2. Hälfte des 18. Jh.s) bildet die dt. Lit. das Vorbild der tschechischen. Dennoch ist die Beziehung nicht einseitig. Der Aufnahmebereitschaft der Tschechen für dt. literar. Modelle, Gattungen und Stile steht ein dt. Interesse an tschech. Stoffen gegenüber. B ö h m e n als L a n d s c h a f t wird in Deutschland in der literar. Unterströmung beliebt, die die Romantik vorbereitet: im Trivialroman, der pseudohistorischen Prosa und besonders im Ritterroman. Vom ausgehenden 18. Jh. bis zu Rilke, Hofmannsthal, Werfel, Brod und Urzidil sind in einem großen Teil der dt. Literatur Böhmen und seine Menschen mit Eigenschaften wie natürlich, unverbildet, friedlich, herzlich, treu usw. assoziiert. Den Anfang setzt Christian Heinrich Spiess (1755-1799), der lange in Prag als Schauspieler und Dichter wirkte, mit seinen zahlreichen Ritterdramen. G. H. Heinse mit Turnier zu Prag (1792) und Herzog Othelrich von Böhmen (1803) setzt die Linie fort, die bis zu A. v. Kotzebues Rudolf von Hahsburg und König Ottokar von Böhmen (1816) führt. Die tschech. Sagenstoffe, die in der Chronik des Häjek z Libocan (1596 und später mehrfach ins Dt. übersetzt) zusammengestellt und als Geschichte dargeboten wurden, kamen dem Geschmack der dt. Romantiker sehr entgegen. Böhmen wurde zu einem unerschöpflichen Quell romant. Stoffe. Neben Häjek wurde auch die Chronologische Geschichte Böhmens von Franz Pubitschka (10 Bde., 1770-1801) benutzt, deren wissenschaftlicher Wert jedoch gering ist. Schon Herder hatte mit seinem Slavenkapitel und den Stimmen der Völker in Liedern damit

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begonnen, die slavische und damit tschechische Folklore als Ausdruck einer genuinen und unverbildeten Kreativität zu deuten und aufzuwerten. Musäus behandelte im 3. Teil seiner Volksmärchen der Deutschen mit Einfühlung den Libussa-Stoff. Die gleiche Thematik erscheint bei Clemens Brentanos Drama Die Gründung Prags (1813), das auf Häjek und Musäus fußt. Ein anderes beliebtes Thema, das auch in der tschech. Literatur wiederholt gestaltet wurde, ist Oldrich und Bozena, die Brautwerbung des Herzogs um ein Bauernmädchen. Seine Weigerung, eine ausländische Fürstentochter zu heiraten, wird als patriotische Tat bewertet. A. v. Chamisso gestaltet den Stoff in der Romanze Herzog Huldreich und Beatrix, und der Märchendichter Ludwig Bechstein schrieb den 1829 veröffentlichten Roman Die Weissagung der Libussa, in dem das Thema von Oldrich und Bozena einen wichtigen Platz einnimmt. Etwas abseits in seiner Behandlung böhmischer Stoffe steht Franz G r i l l p a r z e r . Er lehnte als Österreich. Patriot den aufkommenden Nationalismus der unter Habsburg vereinigten Völkerschaften ab. Dennoch wurde er immer wieder von den tschech. histor. und mythischen Stoffen angezogen. Przemysl Ottokar I I . erscheint zunächst in einer Ballade, dann im Drama König Ottokars Glück und Ende (1825). Hier sind die Protagonisten Ottokar und Rudolf nicht nur Vertreter unterschiedlicher Staatsauffassungen, sondern auch Nationalcharaktere. Die tschech. Öffentlichkeit reagierte auf die Darstellung polemisch. Das Drama Libussa (in den 40er Jahren verfaßt), das Musäus, Brentano und histor. Quellen benutzte, bildet den Höhepunkt in Grillparzers Bearbeitung tschech. Stoffe. In der Weissagung Libussas klingen Gedanken Herders (zukünftige histor. Bedeutung der Slaven) und Grillparzers restaurative Staatsauffassung an. Doris Leitinger, Über d. Beziehungen Jacob Grimms zu tschech. Gelehrten. Zs. f. Ostforschung 16 (1967) S. 401-417. G. Reckzeh, Grillparzer u. d. Slaven (1929). V. Jirät, Platen u. d. Slaven. Germanoslavica 4 (1936) S. 223-226. P. Kisch, Hebbel u. d. Tschechen (1913). Emanuel Grigorovitza, Libussa in d. dt. Lit. (1901). § 7. Im 19. J h . entfalteten d e u t s c h b ö h m i s c h e und - m ä h r i s c h e A u t o r e n große Aktivität bei der Vermittlung der tschech. Literatur. Sie behandelten zunächst aus landespa-

triotischer Gesinnung tschech. Stoffe und wurden zunehmend zur jungen tschech. Lit. hingeführt. Josef Wenzig (1807-1876), der in beiden Kulturen beheimatet war und zwischen ihnen vermittelte, übersetzte tschech. Poesie ins D t . Siegfried Kapper (1821-1879), der Übersetzer des bedeutendsten tschech. Romantikers K . H . Mächa, tendierte mehr zum tschech. Kulturbereich, fand jedoch als Jude, der für einen Übergang des Judentums in Böhmen und Mähren zur tschech. Kultur eintrat, bei den Tschechen nicht das erwartete Entgegenkommen. Zeitschriften wie R . Glasers Ost und West (18371848) oder A . Klaars Libussa (1842-1860) widmeten sich besonders der Ubersetzung und Verbreitung der tschech. Literatur. In der 2. Hälfte des 19. J h . s ist der Wiener Chirurg Eduard Albert der wichtigste Propagator und Ubersetzer der tschech. Literatur, besonders Jaroslav Vrchlickys. Phänomene besonderer Art sind Adalbert Stifter und Marie von Ebner-Eschenbach. S t i f t e r s Witiko (1867) ist die erste romanhafte Gestaltung eines tschech. Stoffs in der dt. Literatur mit den Mitteln, die der histor. Roman Walter Scotts bietet, und zugleich eine Abkehr von diesem Schema. Er errichtet das Bild höchster Sittlichkeit in einer Gestalt aus der böhmischen Geschichte. Marie von E b n e r E s c h e n b a c h , die von Vaterseite als Gräfin D u b s k y tschech. Herkunft war, gestaltete realistisch Charaktere des mährischen Landlebens z. B . in Bozena (1876). Manfred Jähnichen, Zwischen Diffamierung u. Widerhall. Tschech. Poesie im dt. Sprachgebiet 1815-1867 (1967; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 42). Ders., Der Weg zur Anerkennung. Tschech. Lit. im dt. Sprachgebiet 1867-1918 (1972; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 56). Alois Hof mann, Die Prager Zeitschrift ,Ost u. West' (1957; Veröff. d. Inst. f. Slawistik 13). G.Jonas, PaulHeyses Beziehungen z. russ. u. tschech. Lit. Zs. f. Slawistik 13 (1968) S. 440-448. § 8. Bei den Autoren des P r a g e r K r e i s e s : Rilke, Werfel, Brod, Kafka, Rudolf Fuchs, Paul Eisner, Johannes Urzidil u. a. tritt neben das Bestreben zu vermitteln noch eine landschaftliche und nationbezogene Affinität zum Tschechentum. Bei R i l k e äußert sich dies in seinen Anfängen, dem Larenopfer mit liebevoller Hinwendung zum tschech. Dichter (Tyl, Zeyer, Vrchlicky) oder zur Volkspoesie und gleichzeitiger Warnung vor Chauvinismus,

Slavische Literaturen (tschechische Literatur) während in späteren Jahren sein böhmisches Heimatgefühl verdrängt wird durch eine Anlehnung an die russische Welt. K a f k a s Verhältnis zum Tschechentum ist mehr das einer elementaren Zuneigung ohne unmittelbaren literar. Reflex. Daß Bozena Némcovás Darstellung des Schloßlebens in Babicka (Die Großmutter, 1856) ihm die Idee des Schlosses eingegeben habe (Kafkas Kenntnis dieser Erzählung ist belegt), ist nicht nachweisbar. Reich sind die Verdienste Max B r o d s für die tschech. Literatur durch eigene Übersetzungen, Anregungen und Gestaltung tschech. Themen. In Die Verkaufte Braut (1962) behandelt er das Leben des Textdichters der Smetana-Oper, Karel Sabina, in seinem von Tragik gezeichneten Ablauf. Auf Brods Anregung geht die erfolgreiche Übersetzung von Haseks Abenteuern des braven Soldaten Schwejk durch Grete Reiner zurück, die dem Roman zu seinem Siegeszug verhalf. Rudolf Fuchs ersetzte mit seiner Übertragung der Schlesischen Lieder von Petr Bezruc (1916) den Tschechen bis zum Kriegsende 1918 das wegen seiner starken nationalen und sozialen Anklage verbotene Original. Als U b e r s e t z e r treten auch Urzidil, Paul Eisner (mit seiner umfassenden Anthologie Die Tschechen, 1928), P. Weiskopf und Franz Werfel hervor. Hugo von Hofmannsthal mit ähnlich elementar-liebevoller Einstellung zum Tschechentum wie viele Prager Dichter (vgl. Ochs auf Lerchenau im 1. Aufzug des Rosenkavalier) förderte Ubersetzungen wie die Anthologie Eisners. Enge Beziehungen entwickelten sich, als n a c h 1933 dt. Autoren in die Tschechoslowakei emigrierten. Dort entstanden nicht nur zahlreiche Werke (z. B. Feuchtwangers, Friedrich Wolfs, Bruno Franks), sondern es kam auch zu Kontakten zwischen den Literaturen. F. W. Nielsen z. B. übersetzte als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber dem Gastland die Meistersatire Tiroler Elegien des Heine wesensverwandten K. Havlicek-Borovsky. Weltfreunde. Konferenz über d. Prager dt. Lit. H g . v. Eduard Goldstücker (1967). H . P o l i t z e r , Dieses Mütterchen hat Krallen. Prag u. d. Ursprünge R. M. Rilkes, F. Kafkas u. F. Werfeis. Literatur u. Kritik 9 (1974) S. 15-33. Gertrude U r z i d i l , Zur Quadratur d. Prager Kreises. Literatur u. Kritik 5 (1975) S. 528-536. Lucy T o p o l ' s k á , Prazstí némectí básníci jako pfekladatlelépoezie. Germanistica Olomucensia 3 (1973) S. 17-23. Claudio M a g r i s , Der habsburgische Mythos in d. österr. Literatur (Salzburg 1966),

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§ 9. Das meistverbreitete Werk der tschech. Literatur wurde Jaroslav H a s e k s satirischer Roman Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk (1921-1923). Seine antimilitaristische, antibürokratische, gegen Monarchie und Kirche gerichtete Tendenz beeindruckte dt. Autoren wie Tucholsky, Weiskopf, Becher u . a . nachhaltig. Bertolt B r e c h t schätzte Hasek hoch und verfaßte 1941-1943 das Drama Schweyk im zweiten Weltkrieg, das eine längere Geschichte hat: 1. die Dramatisierung des Romans durch Max Brod und Hans Reimann (1927), die Piscator nicht befriedigte, 2. die von Piscator und Brecht veränderte Fassung, die 1928 erfolgreich aufgeführt wurde, 3. Piscators und Brechts Pläne für einen Schwejk-Film (30er Jahre) und 4. das Drama. Im Vergleich mit dem Roman ergeben sich zunächst Unterschiede aus dem veränderten Schauplatz (Aktualisierung des Stoffs, Einbeziehung histor. Gestalten wie Hitler, Himmler, Göring usw. in das Stück), aus der Straffung zur Erhöhung der Bühnenwirksamkeit, und Ubereinstimmungen in der Personenzeichnung. Die Grundtypen wie Schwejk, Baloun oder Brettschneider haben die gleiche Funktion wie im Roman. Die dramatischen Elemente des Romans sind ausgenutzt, und Schweyk ist in Sprache (angelehnt an die Reinersche Übersetzung) und Stil (als verschlagener Narr charakterisiert, häufig in scheinbar nebensächliche Anekdoten abschweifend) überzeugend nachgebildet. Pavel Petr, Haseks ,Schwejk' in Deutschland (1963; Neue Beitr. z. Lit.-wiss. 19). Herbert Knust (Hg.), Materialien zu Bertolt Brechts ,Schweyk im zweiten 'Weltkrieg' (1974; Ed. Suhrkamp 604). § 10. N a c h d e m 2. W e l t k r i e g waren die Prager dt. Literatenkreise weitgehend durch Emigration und Verfolgung (nach 1939) und Vertreibung bzw. Flucht (nach 1945) ausgefallen. D e r dt.-tschechische Dialog kam erst in den 6 0 e r J a h r e n in Gang, besonders nach der

Entstalinisierung. Die reiche Thematik und die formale Experimentierfreudigkeit der jungen tschech. Lit. und des Theaters erregten Aufsehen und ließen ein Anknüpfen an ältere Traditionen erkennen. Durch zahlreiche Ubersetzungen wurden nicht nur Nachkriegsautoren, sondern im Rückgriff auch ältere Schriftsteller im dt. Sprachbereich bekannt. Die dt. Übersetzungen wirkten oft vermittelnd im angelsächs. und franz. Bereich. Hrabal, Linhartovä, Kundera, Vyskocil, Kohout und Havel sind die wichtigsten Neuentdeckungen; J . Mühlberger, F. P. Künzel, P. Demetz, R . Kunze und G . Baumrucker sind die namhaftesten Übersetzer. E s kommt auch zu literarisch bedeutsamen Briefwechseln zwischen dt. und tschechoslowakischen Autoren: G . Grass und P. Kohout, R . Hochhut und L . Mnacko. Franz Peter Künzel, Übersetzungen aus d. Tschech. u. d. Slowakischen ins Deutsche nach 1945. Bd. 1 (1969). Josef Mühlberger, Linde u. Mohn. 100 Gedichte aus 100 Jahren tschech. Lyrik (1964). A. Hofmann, Das böhmische Grenzland im zeitgenöss. dt. Roman. Casopis pro mod. fil. 43 (1961) S. 129-146. A. Willimek, Das Bild d. Tschechen im sudetendt. Roman. Sudetenland 4 (1962) S. 27-39.

§ 11. Im Zuge der Neuentdeckung älterer tschech. Traditionen wurden auch die Ideen des tschech. literatur- und kunstwissenschaftlichen S t r u k t u r a l i s m u s verbreitet. Da der russ. Formalismus (einer der Vorläufer der Strömung) und der franz. Strukturalismus bereits Eingang gefunden hatten, erregten die Arbeiten der Prager Schule (J. Mukarovsky, F. Vodicka, J . Levy) als Zwischenglied etwa seit der ersten dt. Ausgabe Mukarovskys (1967) allgemeines Interesse (andere Vertreter der Prager Schule wie R . Wellek und R . Jakobson waren bereits aus engl. Publikationen bekannt). Das im Strukturalismus erkennbare Streben nach Dynamisierung und größerer Exaktheit der geisteswissenschaftlichen Methoden traf auf ähnliche Tendenzen in der dt. Ästhetik, während es in der soziologisch orientierten Literaturtheorie als „dynamisierter Positivismus" teilweise abgelehnt wurde. Kvetoslav Ch vatik, Strukturalismus u. Avantgarde. Aufsätze zur Kunst u. Literatur (1970; Reihe Hanser 48). Hans Günther, Die Konzeption d. literar. Evolution im tschech. Strukturalismus. Alternative 80 (Okt. 1971 = Tschech.

Slavische Literaturen (tschechische Literatur) — Sozialistischer Realismus Strukturalismus. Ergebnisse u. Einwände) S. 183200. Jan M u k a r o v s k y , Studien zur strukturalist. Ästhetik u. Poetik (1974), Nachwort: Die strukturalist. Ästhetik u. Poetik Jan Mukarovskys.

§ 12. Die Rezeption der tschech. Literatur in der D t . D e m o k r a t i s c h e n R e p u b l i k gestaltet sich konstanter als in der Bundesrepublik und in Österreich. Schon in den 50er Jahren wurden dort die stalinistischen Spätwerke V. Nezvals übersetzt (Kuba), ferner die Lit. des tschech. Widerstandes (Jan Drda, Julius Fucik u. a.), sowie die ältere tschech. Literatur. In der Behandlung der ideologiefreien experimentellen sowie der regimefeindlichen tschech. Lit. des Prager Frühlings kommt es zu tiefgreifenden Unterschieden zwischen Ost und West.

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union, ausgesprochen traditionsbeladen und in seinem Funktionieren autoritativ abgesichert, so daß kaum eine Möglichkeit besteht, ihn offen in Frage zu stellen. Die Folge ist, daß das Etikett S.R. zwar beibehalten, aber implizit entsprechend der jeweiligen Situation pragmatisch umgedeutet wird. Auf dem Hintergrund dieser Kommunikationsbedingungen kann man in der gegenwärtigen Diskussion der Sowjetunion - ähnliches gilt für die D D R - folgende Hauptpositionen unterscheiden :

Sozialistischer Realismus

1. Die k o n s e r v a t i v e Interpretation, die sich in den offiziellen Standardwerken über den S . R . niederschlägt. Sie sieht ihre Aufgabe darin, möglichst viel von der ursprünglichen Bestimmung des Begriffs gegenüber Neuerungen und Abweichungen zu verteidigen. Die 1934 in das Statut des sowjetischen Schriftstellerverbandes aufgenommene Definition lautet: „Der S . R . , der die Hauptmethode der sowjetischen schönen Literatur und Literaturkritik darstellt, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung muß mit den Aufgaben der ideologischen Umgestaltung und Erziehung der Werktätigen im Geist des Sozialismus verbunden werden" {Sozialistische Realismuskonzeptionen, hg. v. Hans-Jürgen Schmitt u. Godehard Schramm, S. 390).

§ 1. B e g r i f f . Die inhaltliche Bestimmung des Begriffes S . R . ist heute mehr denn je strittig, obwohl der S . R . in der Mehrzahl der sozialistischen Länder Europas, mit Ausnahme Polens und Jugoslawiens, erklärtermaßen als Orientierungsleitlinie der Kulturpolitik gilt. Die zahllosen Abhandlungen und Lexikonartikel behelfen sich in der Regel mit genetischen Definitionen, die die Entwicklung des S . R . nachzeichnen, oder mit der Aufzählung kanonischer Autoren und Werke. Soweit systematische Definitionen versucht werden, beziehen sie gewöhnlich nur die ideologischen Prinzipien des S . R . ( z . B . Parteilichkeit, Volkstümlichkeit, Ideengehalt) ein. Da aber der Autorenkanon wie die ideologischen Prinzipien einem ständigen Wandel unterworfen sind, wird der Begriff des S. R. zu einem vieldeutigen Etikett, das sehr unterschiedliche Dinge bezeichnen kann. Der Begriff des S . R . ist, besonders in der Sowjet-

2. Innerhalb der i n n o v a t o r i s c h e n Richtung, die stärker mit dem lebendigen literar. Prozeß verbunden ist, aber unsystematischer und inexpliziter zu Wort kommt als die konservative, lassen sich zwei unterschiedliche Tendenzen feststellen: a) Die e x t e n s i v e Auslegung beruft sich auf die „Weite und Vielfalt" des S . R . Sie will den S . R . um ursprünglich nicht dazugehörige oder nur peripher geduldete Elemente erweitern (z. B. durch eine Aufwertung moderner und avantgardistischer Formen). So hatte etwa Roger Garaudys D'un réalisme sans rivages. Picasso, Saint-John Perse, Kaßa (Paris 1963, russ. Ubers. 1966) ein starkes Echo in den sozialistischen Ländern. Eine ähnliche Wirkung ging seit der Kafka-Konferenz in Liblice (1963) von Ernst Fischer aus. Die dynamisch expandierende weite Auslegung des S . R . hat inzwischen auch die Konservativen zur Anerkennung mehrerer innerhalb des S.R. koexistierender

Eduard G o l d s t ü c k e r , Üher Franz Kafka aus d. Prager Perspektive (1963), in: Franz Kafka aus Prager Sicht (Prag 1965) S. 23-43, wiederholt in: Franz Kafka. Hg. v. Heinz Politzer (1973; WegedFschg. 322) S. 351-364. E. Bahr, Kaßa and the Prague Spring. Mosaic 3 (1969/70), Nr. 4, S. 15-29; dt. in: Franz Kafka (1973) S. 516-538. M. J u n g m a n n , Kafka and contemporary Czech prose. Mosaic 3 (1969/70), Nr. 4, S. 179-188. A. L i e h m , The mosaicof Czech culture in the late 1960's. The inheritors of the Kafka-Hasek dialectic. Mosaic 1 (1967/68), Nr. 3, S. 12-28. Walter Schamschula

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Sozialistischer Realismus

„Stilströmungen" genötigt. So wird neben der eigentlich sozialistisch-realistischen Strömung eine romantische, kritisch-realistische, satirische u. ä. m. angenommen, b) Die r e s t r i k t i v e Interpretation des S. R. ist in den sozialistischen Ländern am schwächsten vertreten. Auf der 1967 in Moskau abgehaltenen Konferenz „Aktuelle Probleme des S . R . " trat als einer der wenigen der sowjetische Literarhistoriker Pospelov für eine eingeschränkte, wissenschaftlich begründbare Verwendung des Begriffs ein: „Die völlig unrichtige Identifizierung des ganzen konkreten Inhalts der Werke der sozialistischen Literatur mit dem , S . R . ' , die Verwandlung des Terminus , S . R . ' in die offizielle Bezeichnung der gesamten sozialistischen Lit. dogmatisiert das Denken der Literaturwissenschaftler und hindert sie daran, die Vielfalt der Erkenntnisprinzipien dieser Literatur zu sehen" (Aktual'nye problemy socialisticeskogo realizma, 1969, S. 428). Tvorceskijmetod. Sbornik statej(Moskau i960). Probleme d. Realismus in d. Weltliteratur. Aus d. Russ. Dt. Redaktion: Eberhard Dieckmann (1960). KsenijaD. M u r a t o v a , Vozniknoveniesocialisticeskogo realizma v russkoj literature (Moskau, Leningrad 1966). Gennadij M. P o s p e l o v , Metodologiceskoe razvitie sovetskogo literaturovedenija, in: Sovetskoe literaturovedenie za pjat'desjat let. Sbornik statej, pod red. V. I. Kulesova (Moskau 1967) S. 7-125. Aktual'nye problemy socialisticeskogo realizma (Moskau 1969). Problemy chudozestvennoj formy socialisticeskogo realizma Hg. v. A. S. Mjasnikov, N. K. Gej u. Ja. E. El'sberg. 2 Bde (Moskau 1971). Vasilij I. I v a n o v , Idejno-ésteticeskie principy sovetskoj literatury. Formirovanie i suscnost' (Moskau 1971). Aleksej I. M e t c e n k o , Krovnoe, zavoevannoe. Iz istorii sovetskoj literatury (Moskau 1971). J . - U . P e t e r s , Réalisme sans rivages? Zur Diskussion über d. Sozialist. Realismus in d. Sowjetunion seit 1956. Zs. f. slav. Philologie 37 (1974) S. 291-324. Andrej N. I e z u i t o v , Socialisticeskij realizm v teoreticeskom osvescenii (Leningrad 1975). Dmitrij F. M a r k o v , Zur Genesis d. sozialist. Realismus. Erfahrungen u. Leistungen süd- ». westslawischer Literaturen in den 20er und 30er Jahren (1975). Leonid I. T i m o f e j e w , Georgi J . L o m i d s e , Literatur einer sozialist. Gemeinschaft. Zur Herausbildung u. Entwicklung d. multinationalen Sowjetliteratur. 1917-41 (1975).

§ 2 . Da der weite Begriff des S.R. weder inhaltlich noch zeitlich abgrenzbar und sein wissenschaftlicher Erkenntniswert deshalb ge-

ring ist, erscheint folgende t e r m i n o l o g i sche Unterscheidung gerechtfertigt: „Sozialistische Literatur" im weiten Sinn wird verstanden als ideologisches Pendant zur „bürgerlichen Literatur", „ S . R . " dagegen als eine, vor allem in den 30er bis 50er Jahren in der Sowjetunion dominierende, bestimmte Richtung innerhalb der sozialist. Literatur. Der Begriff des S.R. bezeichnet dann eine Stilformation (Aleksandar Flaker), d.h. ein System an den Werken selbst nachprüfbarer, relativ konstanter literar. Normen. Die im weiteren aufgeführten Kriterien gelten für den Roman als wichtigstes literarisches Genre des S. R . : 1. Wesentliches Merkmal des S.R. ist die Dominanz der sozial-pädagogischen Funktion, die in der Definition von 1934 als „Verbundenheit mit den Aufgaben der ideologischen Umgestaltung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus" angesprochen ist. Die erzieherische Funktion kommt auf allen Ebenen des literar. Textes zur Geltung. Im thematischen Bereich z. B. baut sie auf der Identifizierung des Lesers mit dem vorbildlichen „positiven Helden" auf. Sie setzt Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit durch den Leser voraus. 2. Sozialistisch-realistische Romane sind durch die thematische Basisopposition ,Altes' versus .Neues' (Reaktion vs. Fortschritt, Konterrevolution vs. Revolution) charakterisiert. Dem entspricht in der Konfiguration eine Polarisierung der Figuren in zwei Gruppen, die Repräsentanten des ,Alten' und die Repräsentanten des ,Neuen' (Weiße und Rote im Bürgerkriegsroman, Vertreter des sozialistischen Aufbaus und „Schädlinge" im Produktionsroman). Aus der Gruppe der Vertreter des ,Alten' vollziehen dabei gewöhnlich eine oder mehrere unentschiedene, schwankende Figuren nach inneren Konflikten den Übertritt ins Lager des ,Neuen'. 3. Die narrative Ebene ist gekennzeichnet durch die Dominanz kollektiven Handelns und die Zuspitzung zum antagonistischen Konflikt zwischen den entgegengesetzten Figurengruppen. Die Lösung des zentralen Konflikts durch physischen oder ideologischen Kampf ist im Sinn des Sieges des ,Neuen' über das ,Alte' vorentschieden (historischer Optimismus). 4. Figuren und Figurengruppen sind als typische Repräsentanten außerliterar. sozialer

Sozialistischer Realismus Träger (Klassen, Schichten, Gruppen usw.) konzipiert. Die Iiterar. Figuren und ihre Handlungen erscheinen als „Widerspiegelung" historischer oder zumindest historisch sehr wahrscheinlicher Prozesse. 5. Die Entfaltung der Figuren und die Darbietung der Handlung erfolgt „organisch" (Lukács) nach dem Vorbild des psychologischen Realismus: Die Handlungskonstruktion ist kontinuierlich und in ihrem Verlauf unkompliziert. Zwischen Innenleben und Handlung sowie zwischen Figur und Umgebung werden Ausgewogenheit und Übereinstimmung angestrebt. 6. Hinsichtlich der Erzählperspektive wird ein überlegener allwissender Erzähler bevorzugt, der das Geschehen überblicken, ordnen und entsprechend der marxistisch-leninistischen Weltanschauung ausdeuten kann. 7. Im stilistisch-sprachlichen Bereich wird Klarheit und Verständlichkeit zur Erfüllung der erzieherischen Funktion erstrebt. Das Postulat der „Reinheit" der Sprache schließt die Vermeidung von Experimenten und Sprachspielen, von Jargon- und Dialektformen ein. Der „mittlere Stil" des S.R. ist am Vorbild der klassischen russ. Literatursprache orientiert. 8. Zu den wichtigsten ideologischen Prinzipien des S. R. zählen Parteilichkeit (partijnost'), Volkstümlichkeit (narodnost') und Ideengehalt (idejnost'), wobei die Auslegung und Gewichtung der Prinzipien erheblichen Schwankungen unterliegt. Der vage Begriff des Ideengehalts diente oft nur dazu, nichtkonformer Literatur Ideenlosigkeit (bezydejnost') vorzuwerfen. Die Forderung nach Parteilichkeit wurde aus Lenins Artikel Parteiorganisation und Parteiliteratur (1905) abgeleitet, in dem postuliert wird, „der heuchlerisch freien, in Wirklichkeit aber mit der Bourgeoisie verbundenen Literatur die wirklich freie, offen mit dem Proletariat verbundene Literatur gegenüberzustellen" (W. I. Lenin, Uber Kultur und Kunst, 1960, S. 64). In der kulturpolitischen Praxis wurde das Prinzip der Parteilichkeit sehr unterschiedlich gehandhabt. Die Befürworter einer weiteren Auslegung der Parteilichkeit pflegen sich bis heute auf Lenins Bemerkungen zu berufen, daß das Iiterar. Schaffen „am allerwenigsten eine mechanische Gleichmacherei, eine Nivellierung, eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit" verträgt und daß auf diesem

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Gebiet ein weiter „Spielraum für Gedanken und Phantasie, Form und Inhalt" gesichert werden muß (ebd., S. 61). Die Volkstümlichkeit, die Volksverbundenheit ebenso wie Verständlichkeit einschließt, setzte sich in der Sowjetunion erst ab 1935 im Gefolge ideologischer Verschiebungen (z. B. der Umwertung des Geschichtsbilds) durch, nachdem vorher Begriffe wie Klassengebundenheit (klassovost'), Verständlichkeit (ponjatnost') oder Massenverbundenheit (massovost') im Vordergrund gestanden hatten. § 3 . Das W o r t S.R. wird zum erstenmal in der Literaturnaja gazeta vom 23. Mai 1932 verwendet. In der Wiedergabe einer Rede des damaligen Chefredakteurs der Izvestija, Ivan M. Gronskij heißt es: „Die Frage nach der Methode darf man nicht abstrakt stellen, man darf an die Dinge nicht so herangehen, als müßte der Schriftsteller zuerst Kurse im dialektischen Materialismus durchlaufen und dann erst schreiben. Die grundlegende Forderung, die wir an die Schriftsteller stellen, lautet: schreibt die Wahrheit, bildet unsere Wirklichkeit, die selber dialektisch ist, wahrhaftig ab. Daher ist die grundlegende Methode der sowjetischen Literatur die Methode des S.R." (zit. nach Stepan I. Sesukov, Neistovye revniteli, 1970, S.336). Das Zitat wird nur im Zusammenhang der damaligen literaturpolit. Diskussionen verständlich. Seit Ende der 20er Jahre hatte die RAPP (Vereinigung proletarischer Schriftsteller Rußlands) als stärkste unter den literarischen Gruppierungen eine Hegemoniestellung errungen. In ihrer Zeitschrift Na literaturnom postu (Auf dem literarischen Posten) führte sie einen an Schärfe zunehmenden Kampf gegen die poputciki (Mitläufer, Weggefährten), d. h. nichtproletarische, nichtkommunistische Autoren. Die Angriffe der RAPP richteten sich u. a. gegen die Gruppe Pereval (Gebirgspaß) und den linksavantgardistischen LEF (Linke Kunstfront). Die auch von RAPP-Mitgliedern wie Gladkov, Fadeev oder Solochov mißbilligte sektiererische Polemik und die simplifizierenden Ansichten der RAPP wie z.B. die direkte Übertragung der „dialektisch-materialistischen Methode" auf die Literatur führten zu einer Kritik seitens der Partei, die im Gegensatz zur RAPP darauf aus war, eine möglichst breite organisatorische Plattform der Schriftsteller zu

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Sozialistischer Realismus

schaffen. Mit der ZK-Verordnung Über die Umbildung der Literatur- und Kunstorganisationen vom 23. April 1932 wurden alle literar. Gruppierungen einschließlich der RAPP aufgelöst. Ein Organisationskomitee, an dessen Spitze Gronskij stand und dessen Ehrenvorsitzender Maksim Gor'kij war, wurde mit der Vorbereitung des 1. Allunionsschriftstellerkongresses beauftragt. Sovetskaja literatura na novom etape. Stenogramma pervogo plenuma orgkomiteta sojuza sovetskich písatelej, 29 oktjabrja-3 nojabrja 1932g (Moskau 1933). V sporach o metode. Sbomik statej o socialisticeskom socializme (Moskau 1934). Hermán E r m o l a e v , Soviet Literary Theories 19171934. The Genesis of Socialist Realism (Berkeley, 1963; Univ. of Calif. Publ. in modern philology. 69). Stepan S e s u k o v , Neistovye revniteli. Iz istorii literaturnoj bor'by 20-ch godov (Moskau 1970). Anatolij V. L u n a c a r s k i j , Stat'i o sovestskoj literature (2. Aufl. Moskau 1971). Dokumente zur Sowjet. Literaturpolitik 1917-1932. Hg. v. Karl E i m e r m a c h e r (1972). Alexander F a d e j e w , Über Literatur (1973). Edward M o z e j k o , Dersozialist. Realismus. Theorie, Entwicklung und Versagen einer Literaturmethode (1977).

§ 4. Der 1. sowjetische Schriftstellerkongreß des Jahres 1934 propagierte den S . R . als Hauptmethode der sowjetischen Lit. und verankerte ihn im Statut des neuen Schriftstellerverbandes. Der Kongreß war durch starke Integrationstendenzen gekennzeichnet. Günstige Voraussetzungen dafür hatte einerseits die Brechung der ideologischen Vorherrschaft der RAPP geschaffen, die sich darin ausdrückte, daß im S. R. an die Stelle der von der RAPP geforderten „dialektisch-materialistischen Methode" die weniger enge Forderung nach wahrhaftiger Abbildung der Wirklichkeit trat. Andererseits fand der Kongreß, an dem auch viele ausländische Autoren teilnahmen, bereits im Zeichen des Kampfes gegen die faschistische Bedrohung statt, was die allgemeine Bereitschaft zur Einigung über gegensätzliche Literaturkonzeptionen hinweg förderte. Von einer einheitlichen Auffassung des S. R. konnte auf dem Schriftstellerkongreß, auf dem die Hauptreferate von Maksim Gor'kij und von den Parteifunktionären Andrej Zdanov, Karl Radek und Nikolaj Bucharin gehalten wurden, allerdings noch keine Rede sein. Eine solche Konzeption bildete sich erst allmählich im Lauf der 30er Jahre heraus. Ein grundlegender Zug trat

jedoch bereits deutlich in Erscheinung: die Orientierung am „klassischen Erbe" des psychologischen Realismus und die ablehnende Haltung gegenüber der modernen und avantgardistischen Kunst. Aus Gor'kijs Rede wird ersichtlich, in welchem Maß der S. R. - unter bewußter Uberspringung der Moderne - sich als direkter Erbe des psychologischen Realismus versteht. Hinsichtlich der Stilmittel wird der Realismus des 19. Jh.s vorbildlich. Im thematischen und ideologischen Bereich überwiegen jedoch die Differenzen. An die Stelle des „überflüssigen Menschen", des Typs des gesellschaftlichen Außenseiters, soll der im Einklang mit der Gesellschaft stehende Erbauer des Sozialismus treten. Der entscheidende Unterschied zum alten Realismus wird durch den Begriff der revolutionären Romantik markiert. Gor'kij: „Wenn man aber zu dem extrahierten Sinn der realen Gegebenheiten das Gewünschte und Mögliche hinzufügt, das heißt nach der Logik einer Hypothese zu Ende denkt und dadurch die Gestalt ergänzt, erhält man jene Romantik, die der Mythe zugrunde liegt und äußerst nützlich ist, weil sie die Entfaltung eines revolutionären Verhältnisses zur Wirklichkeit fördert, das die Welt praktisch verändert" (Sozialistische Realismuskonzeptionen, S. 64). Der S . R . ist also kein kritischer, sondern ein ideologisch perspektivierter, „romantisierter" (Gor'kij) Realismus, der das Positive, „Gewünschte" durch Mittel der Idealisierung und Heroisierung herausstellt, das Negative dafür tendenziöser als der kritische Realismus akzentuiert. In dieser Frage steht der S.R. weniger in der Tradition Turgenevs und Tolstojs als in der Cernysevskijs, dessen Roman Was tun? (1863) mit seiner utopischen Perspektive und seinen idealisierten revolutionären Helden von dem Volkskommissar für Bildung Lunacarskij dem Typ des „intellektuellen Romans" zugeordnet und der sowjetischen Literatur als Vorbild empfohlen wurde. § 5. Die auf dem Schriftstellerkongreß von 1934 geführten Debatten erhalten ihre Bedeutung erst im Kontext der vorangehenden und folgenden A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n um e i n e s o z i a l i s t . L i t e r a t u r . Hier ist einmal die Diskussion über faktographische Literatur, zum anderen die sog. Expressionismusdebatte, insbesondere die Kontroverse zwi-

Sozialistischer Realismus sehen Brecht und Lukács zu nennen. In ihren Kongreßbeiträgen wenden sich vor allem Fadeev und Gladkov gegen die u. a. von Il'ja Érenburg verteidigte Verwendung faktographischer (nichtfiktiver, dokumentarischer, reportage- und skizzenhafter) Elemente in der Prosa. Fadeev stellt der „Beschreiberei" und dem „primitiven Kopieren" die Forderung nach „monumentalen", „synthetischen" Formen, nach dem „großen Flug der Phantasie" gegenüber (vgl. Sozialistische Realismuskonzeptionen, S. 120ff.). Eine Auseinandersetzung um die faktographische Schreibweise hatte es bereits 1932 in der deutschen sozialistischen Zeitschrift Die Linkskurve gegeben, wo Georg Lukács Kritik an Ernst Ottwalds Justizroman Denn sie wissen, was sie tun (1931) übte. Seine Angriffe gegen die Faktographie setzte Lukács in Erzählen oder Beschreiben (Internationale Literatur, 1936, danach in: Lukács, Probleme d. Realismus, 1955, S. 103-145) fort. Dieser Artikel faßt alle wesentlichen Argumente des S . R . gegen den „Naturalismus", gegen das „Selbständigwerden der Einzelheiten", die Auflösung des in sich abgerundeten Individuums und des kontinuierlichen Handlungsverlaufs zusammen. In der weiteren Faktographie-Debatte tritt immer deutlicher die Bevorzugung traditioneller geschlossener Prosaformen gegenüber offenen Formen hervor. Das von Lukács u. a. vertretene Prinzip der künstlerischen „Gestaltung" entsprach mehr den sozial-pädagogischen Intentionen des S . R . als die Skizzen- und Dokumentationsliteratur. § 6. Die auf dem Schriftstellerkongreß geführte Auseinandersetzung um James Joyce gehört in den Rahmen der sowjetischen „Modernismus"-Diskussion der 30er Jahre. Den pauschalen Angriffen Karl Radeks gegen die „mikroskopische" Technik von Joyce hält Wieland Herzfelde seine kritische Einschätzung der neuen Verfahren entgegen. Ihre Fortsetzung findet diese Diskussion in der sog. Expressionismus-Debatte, die 1937/1938 in der Moskauer antifaschistischen Exilzeitschrift Das Wort (Jg- 1937, H. 9 u. 12, Jg. 1938, H. 2-7) geführt wurde. Kontroverse Meinungen zu zentralen Fragen einer sozialistischen Literatur wurden in diesem Zusammenhang besonders von B r e c h t und L u k á c s vertreten.

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Lukäcs hat in vielen Punkten entscheidend zur Entstehung der Theorie des S.R. beigetragen, so z. B. durch seine Aktualisierung der philosophischen Ästhetik Hegels. Lukäcs' Begriff des Typischen als unmittelbares Zusammenfallen von Wesen und Erscheinung entspricht weitgehend Hegels Begriff des Ideals. Die Durchsetzung der philosophischästhetischen Redeweise über Kunst in der Theorie des S. R. hatte insofern weitreichende Konsequenzen, als die in der Sowjetunion seit den 20er Jahren verbreiteten exakteren Methoden der Strukturanalyse als „Formalismus" diskreditiert und über Jahrzehnte verdrängt wurden. Lukäcs ist einer der wichtigsten Repräsentanten der zu Beginn der 30er Jahre entstehenden Widerspiegelungstheorie, die sich vor allem auf Lenins Tolstoj-Artikel (19081911), seine polemische Schrift Materialismus und Empiriokritizismus (1909) sowie - allerdings in sehr viel geringerem Maß - auf seine 1929/1930 veröffentlichten Philosophischen Hefte aus den Jahren 1914/1915 beruft. Bei der Widerspiegelung geht es aber nicht bloß um die „wahrheitsgetreue" (vgl. die Bestimmung des S . R . von 1934) Wiedergabe der Wirklichkeit. Vielmehr besteht die hauptsächliche Funktion des Widerspiegelungspostulats darin, die Literatur auf eine als verbindlich gesetzte bestimmte Interpretation von Wirklichkeit festzulegen. Die Aufgabe der Literaturkritik ist es dann, die Übereinstimmung bzw. Abweichung eines gegebenen Werks bezüglich der herrschenden Interpretation als richtige bzw. falsche Widerspiegelung zu bewerten. Die Entstehung des S . R . in den 30er Jahren ist gekennzeichnet durch die Kanonisierung der Äußerungen der Klassiker Marx, Engels und Lenin über Fragen der Kunst. Die Theorie des S . R . wurde zu einem großen Teil auf der Grundlage zusammengetragener Klassikerzitate errichtet. Lukäcs' enger Mitarbeiter Michail A. Lifsic brachte 1933 den Sammelband Marx und Engels über Kunst und Literatur, 1938 Lenin über Kultur und Kunst heraus. Durch die Fixierung von Lukäcs auf die Linie der „großen Realisten" Balzac-TolstojThomas Mann erhält seine Auffassung einen ausgesprochen normativen Zug. Die Entwicklung der modernen Lit. erscheint dabei als Linie des Verfalls, des Subjektivismus und des Formalismus. Zwar heißt es im Statut des

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Sozialistischer Realismus

Schriftstellerverbandes von 1934: „Der S . R . sichert dem künstlerischen Schaffen außerordentliche Möglichkeiten in bezug auf die Entwicklung schöpferischer Initiative und die Wahl mannigfacher Formen, Methoden und Genres (Sozialistische Realismuskonzeptionen, S. 390). Dieser verbalen Offenheit steht jedoch in der Praxis eine präskriptive Literaturkritik gegenüber. Wladimir I. L e n i n , Über Kultur u. Kunst. E. Samml. ausgew. Aufsätze u. Reden (1960). Michail L i f s c h i t z , Karl Marx u. d. Ästhetik (i960; Fundus Bücher 3). Georg L u k ä c s Werke, Bde. 56; Probleme des Realismus / - / / / (1970, 1964, 1965). Maxim G o r k i , Über Literatur (1968). Marxismus u. Literatur. E. Dokumentation in drei Bänden. Hg. v. Fritz R a d d a t z (1969; Rowohlt Paperback 80-82). Helga G a l l a s , Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarischrevolutionärer Schriftsteller (1971; Sammlung Luchterhand 19). Die Expressionismusdebatte. Materialien zu e. marxistischen Realismuskonzeption. Hg. v. Hans-Jürgen S c h m i t t (1973; Edition Suhrkamp 646). Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller. Hg. v. Hans-Jürgen S c h m i t t u. Godehard S c h r a m m (1974; Edition Suhrkamp 701).

§ 7. Eine alternative Konzeption sozialist. Literatur wurde von Bertolt B r e c h t vertreten, der sich zwar im Wortgebrauch der sowjetischen Diskussion anschließt, aber Begriffen wie Realismus oder Formalismus einen abweichenden Sinn verleiht. So wendet z. B. Brecht den gängigen Formalismus-Vorwurf gegen Lukäcs zurück, indem er das Festhalten an funktionslos gewordenen Formen als „formalistisch" bezeichnet: „Wir dürfen nicht bestimmten vorhandenen Werken den Realismus abziehen, sondern wir werden alle Mittel verwenden, alte und neue, erprobte und unerprobte, aus der Kunst stammende und anderswoher stammende, um die Realität den Menschen meisterbar in die Hand zu geben. Wir werden uns hüten, etwa nur eine bestimmte, historische Romanform einer bestimmten Epoche als realistisch zu bezeichnen, sagen wir die der Balzac oder der Tolstoi, so für den Realismus nur formale, nur literar. Kriterien aufstellend" (B. Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 8, 1967, S. 325f.). Brecht lehnt die „Einfühlungstechnik des bürgerlichen Romans", die „Einfühlung in ein Mittelpunktsindividuum" aus dem Grunde ab, weil

sie in seinen Augen eine den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten entsprechende Darstellung des Individuums eher verhindern als fördern. Brechts Realismusbegriff bezeichnet keine Stilformation, wie es der S . R . tut, sondern mißt die Lit. an ihrer Fähigkeit, gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen. Der Traditionsbruch ist kein Selbstzweck, er entspringt vielmehr der ständigen Suche nach „praktikablen Abbildern", die zur Aufdekkung des gesellschaftlichen Kausalkomplexes beitragen. Während Lukäcs in der Widerspiegelungsfrage die Übereinstimmung zwischen Werk und Wirklichkeit, genauer einer bestimmten Wirklichkeitsauffassung, hervorhebt, interessiert sich Brecht einerseits für die Produktion literar. Abbilder, d. h. für literar. Technik, andererseits für die gesellschaftliche Wirkung der Abbilder. Dem klassizistischen Postulat nach dem Zusammenfallen von Wesen und Erscheinung stellt Brecht die Verfremdungsverfahren gegenüber, die die Widersprüchlichkeit von Wesen und Erscheinung bewußt machen und zum Erkenntnisgewinn einsetzen. Die Faktographie- und Expressionismusdiskussion sowie die Kontroverse zwischen Brecht und Lukäcs zeigen, in welchem Maß sich die H e r a u s b i l d u n g des N o r m e n s y s t e m s des S.R. in den 30er Jahren in permanenter Absetzung von der modernen und avantgardistischen Literatur vollzog. Dazu mag die starke Tradition der realistischen Lit. in Rußland, wie sie sich auch in Lenins Ansichten äußerte, beigetragen haben. Ein weiterer Grund liegt in der gewaltigen kulturellen Rückständigkeit des Landes, die Lenin zunächst durch die nachholende Aneignung des bürgerlichen Kulturerbes bekämpfen wollte. Angesichts des niedrigen Kulturniveaus der Massen befürchtete die Partei, keineswegs ohne Grund, wie man sagen muß, daß die Verfahren der modernen und avantgardistischen Literatur, die in dem Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution in der sowjetischen Kunst starke Verwendung gefunden hatten, dem breiten Publikum unverständlich bleiben und damit die der Literatur zugedachte erzieherische Funktion verfehlen würden. § 8. In der D D R war das herrschende Verständnis des S. R. zunächst weitgehend von Lukäcs bestimmt. Seine Auffassung lag der Kulturpolitik der Pflege des klassischen

Sozialistischer Realismus nationalen Erbes zugrunde. Erst die nach 1956 an Lukäcs einsetzende Kritik ermöglichte eine Entwicklung wie den Bitterfelder Weg (1959), der eine weniger am Vorbild der deutschen Klassik und stärker an der Gegenwartsrealität orientierte Literatur einleitete. In den 60er Jahren wurde die Brecht-LukäcsDebatte neu entdeckt — Brechts Beiträge waren ja seinerseits zum Teil unveröffentlicht geblieben — und unter umgekehrtem Wertungszeichen fortgesetzt. Brechts offenes, funktionsbestimmtes Realismuskonzept wurde in den S . R . integriert, was zu einer beträchtlichen Ausweitung des Begriffs führte. Werner Mittenzwei, Die Brecht-LukäcsDebatte. Sinn u. Form 19 (1967) S. 235-269. Klaus Völker, Brecht u. Lukäcs. Alternative 67/68 (1969) S. 134-147. Sozialistischer Realismus. Positionen, Probleme, Perspektiven. Hg. v. Erwin Pracht und Werner Neubert (1970). Erwin Pracht, Versuch e. Gegenstandsbestimmung der Theorie d. sozialistischen Realismus. Weim. Beitr. 16 (1970) S. 25-47. Ders., Sozialistischer Realismus u. Leninsche Abbildtheorie. Dt. Zs. f. Philosophie 19 (1971) S. 755-777. Lothar Baier, Streit um d. schwarzen Kasten. Zur sog. Brecht-Lukäcs-Debatte. Text u. Kritik, Sonderband Brecht. Bd. 1 (1972) S. 37-44. Christian Fritsch u. Peter Rütten, Anmerkungen zur Brecht-Lukacs-Debatte, in: Rhetorik, Ästhetik, Ideologie. Aspekte e. Kulturwiss. (1973) S. 137-159. Anil Bhatti, Brecht and Lukäcs: a review. Journal of the School of Languages 1 (1973/74), H. 2, S. 77-85. Bertolt Brecht, Über Realismus (3. Aufl. 1975; Edition Suhrkamp 485). Einführung in die Theorie, Geschichte und Funktion der DDR-Literatur. Hg. v. HansJürgen Schmitt (1975; Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 6). Dietrich Löffler, Polit. Anschauungen u. ästhet. Theoriebildung in d. Brecht-Lukäcs-Kontroverse. Germanica Wratislaviensia 22 (1975) S. 81-103. Literatur u. Literaturtheorie in der DDR. Hg. v. Peter Uwe Hohendahl u. Patricia Herminghouse (1976; Edition Suhrkamp 779). § 9. D e r S . R . wurde vorbereitet durch die s o w j e t i s c h e p r o l e t a r i s c h e P r o s a der 20er Jahre. Fedor V. Gladkovs Zement (1925) wurde zum Vorbild für das später sehr verbreitete Genre des Aufbau- und Produktionsromans. Ebenso ist der Roman Die Neunzehn (1927) von Aleksander A. Fadeev zu nennen. A b 1929 nahm Maksim Gor'kij eine wichtige Rolle bei der Propagierung des S. R . ein. Sein bei uns besonders durch die Dramatisierung Brechts bekannt gewordener Roman Die

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Mutter (1906), in dem die Mutter des Revolutionärs Pavel Vlasov sich allmählich zu einer bewußten Kämpferin entwickelt, wurde nachträglich in den Rang eines Musters für den sozialist. Entwicklungs- und Erziehungsroman erhoben. Zu den klassischen Werken des S. R . zählen: Nikolaj A. Ostrovskijs "Wie der Stahl gehärtet wurde, Michail A. Solochovs Neuland unterm Pflug (Teil 1, 1932, Teil 2, 1960) sowie sein Stiller Don (1928-40), Anton S. Makarenkos Weg ins Leben (1933-35) und Flaggen auf den Türmen (1938). Seit Anfang der 30er Jahre begannen auch viele ehemalige poputciki, sich die Normen des S . R . zu eigen zu machen, so z. B . Leonid M . Leonov in seinen Romanen Das Werk im Urwald (1932), Der Weg zum Ozean (1936) und Der russische Wald (1953) oder Aleksej N . Tolstoj in seiner Trilogie Der Leidensweg (1919-41). Unter den der Kriegsthematik gewidmeten Romanen seien hier nur Fadeevs Junge Garde (1946) und Konstantin Simonovs Werk Die Lebenden und die Toten (1959) genannt. Gleb Struve, Gesch. d. Sowjetliteratur (1957), Neuaufl. [1963](= Goldmanns Gelbe Taschenb. 1395-1397). Johannes Holthusen, Russ. Gegenwartsliteratur. 2 Bde (1963-1968; Dalp-Taschenbücher 368 u. 369). Kulturpolitik d. Sowjetunion. Hg. v. Oskar Anweiler u. Karl-Heinz Ruffmann (1973; Kröners Taschenausgabe 429). Geschichte der russischen Sowjetliteratur. Hg. v. Harri Jünger u.a. Bd. 1 (1973), Bd. 2 (1975). Handbuch d. Sowjetliteratur 1917-1972. Hg. v. Nadeshda Ludwig (1975). Multinationale Sowjetliteratur. Kulturrevolution, Menschenbild, Weltliterarische Leistung 1917-1972. Hg. v. Gerhard Ziegengeist u. a. (1975). § 10. D i e k u l t u r p o l i t i s c h e Ä r a ¿dan o v s (1946-52), die sich auch in den nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Volksdemokratien auswirkte, hat mit ihrem schematisch verengten Verständnis des S . R . und ihren administrativen Maßnahmen gegen nichtkonforme Autoren viel dazu beigetragen, den S . R . zu diskreditieren. Die Lit. wurde auf die Illustration vorgefaßter ideologischer Anschauungen festgelegt. D e r 2. sowjetische Schriftstellerkongreß des Jahres 1954, der den Satz über die Erziehung der Werktätigen aus dem Statut des Schriftstellerverbands strich, eröffnete in gewissem Umfang die M ö g l i c h k e i t z u r K r i t i k an der „Unaufrichtigkeit", der „Schönfärberei"

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Sozialistischer Realismus — Spiele, Mittelalterliche geistliche

(lakirovka dejstvitel'nosti), der „Theorie der Konfliktlosigkeit" (teorija beskonfliktnosti) u. ä. m. In der literar. Praxis und Literaturkritik wurde der klassische S. R . erheblich modifiziert oder völlig aufgegeben. Die bis heute andauernde scheinbar unangefochtene Weiterverwendung des Wort-Etiketts kann nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß die Stilformation des S. R . (wie sie in § 2 definiert wurde) sich seit den 50er Jahren in Auflösung befindet und heute bereits weitgehend durch andere Stilnormen abgelöst ist. Die neuen Tendenzen der Sozialist. Lit. der Gegenwart lassen sich nicht mehr auf den Begriff des S.R. bringen. Im Nachhinein kann man feststellen, daß die Entstehung des S. R . nicht zu trennen ist von den ungeheuren Schwierigkeiten der Grundlegung des Sozialismus in einem ökonomisch und kulturell unterentwickelten Land. D e r S . R . , der nicht nur in der Literatur, sondern auch in der bildenden Kunst, der Architektur, im Theater usw. seine Ausprägung fand, kann daher als Teil der gelenkten Massenerziehungskultur verstanden werden, die dem polit. System des „Stalinismus" und im ökonomischen Bereich der nachholenden Sozialist. Industrialisierung entspricht. Die Krise der Stilformation des S. R . läßt darauf schließen, daß wesentliche sozial-ökonomische, politische und kulturelle Bedingungen entfallen sind, die dem S.R. seinerzeit zur Durchsetzung verholfen haben. Die freiere Entfaltung der materiellen und geistigen Produktivkräfte in den sozialist. Ländern verlangt ein neues Kulturmodell.

Hans Günther Spiele, Mittelalterliche geistliche I. Allgemeine Aspekte. § 1. Gegenstandsbestimmung. § 2. Forschungslage. § 3. Uberlieferung. § 4. Stoffe. § 5. Quellen. § 6. Sprachliche F o r m . § 7. Sprache und Musik. § 8. Lateinisch und Deutsch. § 9. Bühne. § 10. Requisiten und Kostüme. § 1 1 . Bearbeiter, Regisseure und Darsteller. § 12. Darstellungsabsicht und -Stil. II. Historisch-geographische Aspekte. § 13. Entstehung. § 14. Datierungsprobleme. § 15. Zeitliche Verteilung und Gattungsgeschichte. § 16. E n d e und Fortleben. § 17. Lokalisierungsprobleme. § 18. Niederdt. Spiele. § 19. Westmitteldt. Spiele. § 2 0 . Ostmitteldt. Spiele. § 2 1 . Westoberdt. Spiele. § 22. Ostoberdt. Spiele. § 23. Literatursoziologische Aspekte. § 24. Beziehungen zu außerdt. Spielen.

III. Passionsspiele. § 25. Gattungsdefinition. § 2 6 . Entstehung und Geschichte. § 27. Die Texte des 13. und 14. Jh.s. § 2 8 . Die hessische Spielgruppe. § 2 9 . Das Luzerner Spiel. § 30. Die Tiroler Spielgruppe. § 31. Die übrigen Texte. IV. Die Marienklagen. § 32. Gattungsdefinition. § 3 3 . Entstehung und Geschichte. § 34. Die Texte. V. Die Fronleichnamsspiele. § 35. Gattungsdefinition. § 36. Entstehung und Geschichte. § 37. Die Texte. VI. Die Weihnachtsspiele. § 38. Gattungsdefinition. § 3 9 . Entstehung und Geschichte. § 4 0 . Die Texte. § 41. Weitere Spiele im Weihnachtsumkreis. VII. Die Osterspiele. § 4 2 . Gattungsdefinition. § 43. Entstehung und Geschichte. § 44. Die Texte des 13. und 14. Jh.s. § 4 5 . Die Texte des 15. und 16. Jh.s. § 4 6 . Weitere Spiele im Osterumkreis. VIII. § 4 7 . Die Himmelfahrtsspiele. I X . Eschatologische Spiele. § 48. Gattungsdefinition. § 4 9 . Entstehung und Geschichte. § 50. Weltgerichtsspiele. § 51. Antichristspiele. § 52. Zehnjungfrauenspiele. X . Legendenspiele und Marienspiele. § 5 3 . Marienhimmelfahrtsspiele. § 54. Marienlegendenspiele. § 55. Heiligenlegendenspiele. § 56. Reliquienlegendenspiele: Heiligkreuzspiele. X I . Sonstige Spiele. § 57. Alttestamentliche Spiele. § 58. Moralitäten. § 59. Sonstige.

I. A l l g e m e i n e A s p e k t e . § 1. G e g e n s t a n d s b e s t i m m u n g . Gegenstand des Artikels sind die im M A . aufgezeichneten Texte geistlicher Schauspiele, in denen überwiegend oder ausschließlich die dt. Sprache verwendet ist. Mit dieser Definition ist eine mehrfache Abgrenzung getroffen, die sachlich und forschungsorganisatorisch bedingt ist. Das geistl. Volksschauspiel der Neuzeit wird im allgemeinen nicht als Gegenstand der dt. Lit.geschichte angesehen, sondern von der Volkskunde und zum Teil auch von der Theaterwissenschaft betreut (s. u. § 16). Die in Deutschland überlieferten lat. Spiele sind in dem Artikel Mittellateinische Dichtung (Bd. 2, S. 335ff.) von Karl Langosch behandelt, auf den hier ausdrücklich für diese Texte und für die im Lateinischen liegende Entstehungsgeschichte des geistl. Dramas verwiesen wird. Für das mal. weltliche Schauspiel ist auf den folgenden Artikel Spiele,

Mittelalterliche

weltliche (Fastnachtspiel) zu

verweisen. Innerhalb des derart abgegrenzten Bereichs dt. sprachiger mal. geistlicher Spiele bilden die erhaltenen Texte den Schwerpunkt

Spiele, Mittelalterliche geistliche der Darstellung. Neben ihnen existiert eine bisher nicht übersehbare und gliederungsfähige Menge an Einzelzeugnissen, insbesondere über die Aufführung von Spielen, zu denen sehr oft keine Texte erhalten sind. Auf derartige Zeugnisse kann nur in Einzelfällen eingegangen werden; im allgemeinen muß es bei summarischen Hinweisen bleiben (s. u. §9-11). Literaturgeschichtlich gesehen ist das geistliche Schauspiel des MA.s eine eigenständige Gattung. Mit dem antiken Drama besteht kein histor. Zusammenhang; in der frühen Neuzeit gibt es nur gelegentliche Nachwirkungen (s. u. § 16); auch lebt das mal. Schauspiel in gewisser Weise im neuzeitlichen Volksschauspiel fort. Mit dem literar. Drama der Neuzeit besteht jedoch ebenfalls kein histor. Zusammenhang; vergleiche den Artikel Drama (Neuzeit). Angesichts dieser geschichtlichen Diskontinuität kann das geistl. Schauspiel des M A . s keinen Beitrag zur histor. Erklärung des neuzeitlichen oder gar modernen Dramas leisten. Andererseits begründet gerade diese literaturgeschichtl. Eigenständigkeit ein besonderes Interesse an einer Gattung, deren Anfang und Ende überschaubar sind. Die Breite der Überlieferung und der Umfang des Publikums sichern dieser Gattung einen bedeutenden Platz innerhalb der dt. Lit. des Spätmittelalters, die ohne Berücksichtigung des geistl. Schauspiels nicht angemessen beschrieben werden kann. § 2 . F o r s c h u n g s l a g e . Das geistl. Schauspiel des M A . s hat nie im Zentrum germanistisch-mediävistischer Arbeit gestanden; nicht immer wurden ihm die besten Kräfte gewidmet. Daher müssen bis heute eine erschöpfende Bibliographie und ein verläßliches Handbuch, ja auch nur zuverlässige Lexikonartikel als Desiderate bezeichnet werden. Die Editionen stammen aus ganz verschiedenen Zeiten und entsprechen nicht alle den heutigen Anforderungen. Eine Reihe von Texten ist noch unediert. Bibliographien: Maximilian J. Rudwin, A Historical and Bibliographical Survey of the German Religious Drama (Pittsburgh 1924. Univ. of Pittsburgh Studies in Lang, and Lit.). Rolf Steinbach, Die dt. Oster- u. Passionsspiele d. MA.s. Versuch e. Darstellung u. Wesensbestimmung nebst e. Bibliographie zum dt. geistl. Spiel d. MA.s (1970; Kölner Germanist. Studien4) S. 225-

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313; enthält als Ergänzung zu Rudwin nur die nach 1924 erschienene Literatur. Carl J. Stratman, Bibliography of Medieval Drama (2. Aufl. New York 1972). Die Bibliographien werden ergänzt durch die Forschungsberichte der DVLG.: Wolfgang F. M i c h a e l , Das dt. Drama u. Theater vor d. Reformation. E. Forschungsbericht. DVLG. 31 (1957) S. 106-153. Ders., Das dt. Drama u. Theater vor d. Reformation. E. Forschungsbericht. DVLG. 47 (1973) Sonderh. S. l*-47». Auf die zahlreichen Einzelartikel zu geistl. Spielen im VerfLex. kann hier nur pauschal hingewiesen werden; dabei ist zu beachten, daß eine zweite Auflage im Erscheinen begriffen ist. Alle Spiele werden im folgenden mit dem Titel bezeichnet, unter dem sie in der Neuauflage des VerfLex. zu finden sind; Abweichungen werden ausdrücklich angegeben. Neuere Handbücher zum Drama des MA.s haben Anlaß zu deutlicher Kritik gegeben: Wolfgang F. Michael, Das dt. Drama d. MA.s (1971; Grundriß d. german. Philologie 20); dazu die Rez. von Hansjürgen Linke, in: AnzfdA. 84 (1973) S. 220-228. David Brett-Evans, Von Hrotsvit bis Folz u. Gengenbach. E. Geschichte d. mal. dt. Dramas. I. Von d. liturg. Feier zum volkssprachlichen Spiel, II. Religiöse u. weltliche Spiele d. Spätma.s. (1975; GrundlGerm. 15 u. 18); dazu die Rezensionen von Hansjürgen L i n k e , in: AnzfdA. 88 (1977) S. 22-28. Rolf Bergmann, in: AnSpr. (1978) (im Druck). Es ist daher auf die neueren Literaturgeschichten zu verweisen, sowie auf die älteren Gesamtdarstellungen zum Drama, die nicht in jeder Hinsicht überholt sind: Hansjürgen Linke, Das volkssprachige Drama d. späten MA.s im dt. u. niederländ. Sprachbereich, in: Das europäische Spätmittelalter (1977; Neues HdbLitwiss. 8). Hans Rupprich, Die dt. Lit. vom späten MA. bis zum Barock 1. Das ausgehende MA., Humanismus u. Renaissance (1970; de Boor-Newald 4,1). Wilhelm Creizenach, Gesch. d. neueren Dramas, Bd. 1. MA. u. Frührenaissance (2. Aufl. 1911). Hans Heinrich B o r cherdt, Das europäische Theater im MA. u. in d. Renaissance (1935). Eduard Hartl, Das Drama d. MA.s, für die zweite Auflage bearb. von Friederike W e b e r , in: StammlerAufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1960) Sp. 1949-1996. Hans Heinrich B o r c h e r d t , Geschichte d. dt. Theaters, in: StammlerAufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1962) Sp. 10991244. Eine Reihe von Spielen ist in Textsammlungen ediert: Franz Joseph Mone, Altteutsche Schauspiele (1841; Bibl. d. gesammten dt. Nationallit. von der ältesten bis auf die neuere Zeit 21). Franz Joseph Mone, Schauspiele d. MA.s. Aus Hss. hg. u. erklärt. 2 Bde (1846). Richard F r o nin g, Das Drama d. MA.s. Die lat. Osterfeiern und ihre Entwickelung in Deutschland. Oster-

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spiele. Passionsspiele. Weihnachts- u. Dreikönigsspiele. Fastnachtsspiele (1891-1892; Nachdr. 1964). Eduard H a r t l , Das Drama d. MA.s. Sein Wesen u. s. Werden. I. Osterfeiern, II. Osterspiele, [III. nicht erschienen,] IV. Passionsspiele. 2. Das Donaueschinger Passionsspiel (1937-1942. DtLit. Reihe Drama d. MA.s, Nachdr. 19641969) dazu die Rezensionen von N e i l C . B r o o k s , in: J E G P h 38 (1939) S. 623-628 u. Wilh. E m r i c h , in: AnzfdA. 60 (1941) S. 114-123. Im übrigen überwiegen die Einzeleditionen.

§ 3. Ü b e r l i e f e r u n g . Die Texte sind überwiegend in Papierhandschriften, nur zu einem geringen Teil in Pergamenthandschriften überliefert; einige wenige Stücke sind ausschließlich in Drucken erhalten. Fragmentarische und vollständige Uberlieferung steht wie sonst auch nebeneinander. Charakteristisch für die Gattung ist die starke Bindung der Überlieferung an gattungsbedingte Zwecke, insbesondere bei der Aufführung, sowie die damit zusammenhängende relative Selbständigkeit jeder einzelnen Handschrift. Neben Heften und Buchbänden steht die besondere Form der Rolle, des aufgerollten langen Pergamentstreifens wie bei der in dieser Form erhaltenen Frankfurter Dirigierrolle oder den zu einer Rolle rekonstruierten Fragmenten des Osterspiels von Muri. Die Bände und Hefte kommen in verschiedenen Formaten vor: Charakteristisch ist ein sogenanntes Schmalfolio- oder Heberegisterformat von etwa 30-40 cm Höhe und etwa 10 cm Breite, das durch Längsfaltung von Folioeinzelblättern oder durch Querfaltung von Quartdoppelblättern entsteht. Dieses Format haben z. B. die Handschriften des Donaueschinger, Egerer und Alsfelder Passionsspiels, des Innsbrucker Osterspiels, des Künzelsauer Fronleichnamsspiels usw. Dagegen sind beispielsweise das St. Galler Weihnachtsspiel und das Heidelberger Passionsspiel in Quartbänden von eher gewöhnlichen Formaten überliefert. Den Formatunterschieden entsprechen Unterschiede im Erhaltungszustand: Die Quart-Hss (z. B. die des Heidelberger Passionsspiels) sind meist gut erhalten, die Schmalfolio-Hss (z.B. die des Donaueschinger Passionsspiels) zeigen starke Gebrauchsspuren, nämlich Beschädigungen am Rand und an den Ecken, sowie eingeheftete, eingeklebte, eingelegte Zettel oder Blattlagen mit Textänderungen. Neben den überwiegenden Einzelhss stehen einige wenige bedeutende

Sammelhss mit Spielen, so die Hs 960 der Universitätsbibl. Innsbruck von a. 1391, die nach der Aufbewahrung in Erlau (Ungarn) benannte Erlauer Spielhandschrift und der von Benedikt Debs gesammelte Codex (Sterzing, Stadtarchiv Nr. IV). Außer den Volltexten existieren Verkürzungen oder Auszüge wie die auf die Textanfänge beschränkte Frankfurter Dirigierrolle oder die nicht wenigen Einzelrollentexte (Gothaer Botenrolle, Steinacher Salvatorrolle u. a.). Über die Textzeugnisse hinaus gehen schließlich die Spielerverzeichnisse und sonstigen Regiematerialien, die vor allem aus Luzern überliefert sind. Die Überlieferung zeigt die Einbettung der Texte in den Zusammenhang der Aufführungspraxis; in einzelnen Fällen, beispielsweise beim St. Galler Weihnachtsspiel, ist aber ebenso deutlich die andersartige Zweckbestimmung zum erbaulichen Lesetext erkennbar. In jedem Fall hat der Zweck der Hs Konsequenzen für ihre Anlage und damit auch für die Textgestalt des Spiels, was bei der Interpretation zu beachten ist. Da der einzelne Text meist eine für eine Aufführung hergestellte Fassung bietet, ist die Uberlieferung in jeweils nur einer Hs charakteristisch. Wo am selben Ort oder in derselben Landschaft eine längere Spieltradition zu überblicken ist, wird bei aller Bewahrung der Spieltexte an den Bearbeitungen jeweils auch die Eigenständigkeit der einzelnen Fassungen sichtbar. Rolf B e r g m a n n , Zur Überlieferung d. mal. geistl. Spiele, in: Festschr. Matthias Zender. Studien zu Volkskultur, Sprache u. Landesgesch. Bd. 2 (1972) S. 900-909. Ders., Studien zu Entstehung u. Gesch. d. dt. Passionsspiele d. 13. u. 14. Jh.s (1972; Münstersche MA.-Schriften 14). Paul-Gerhard V ö l k e r , Überlegungen zur Gesch. d. geistl. Spiels im MA., in: Werk-Typ-Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in d. älteren dt. Lit. Hugo Kuhn zum 60. Geb. Hg. v. I. Glier u.a. (1969) S. 252-280. - Ein die Überlieferung aller Spiele darstellender Katalog der dt.sprachigen geistl. Spiele des MA.s befindet sich auf Veranlassung der Kommission für Dt. Lit. des MA.s der Bayer. Akademie der Wiss. zur Zeit in Bearbeitung.

§ 4 . S t o f f e . Die geistl. Spiele bringen ganz überwiegend biblische, aber auch apokryphe und legendarische Stoffe zur Darstellung; allegorische Stoffe sind sehr selten. Nach der

Spiele, Mittelalterliche geistliche Zahl der Spiele und nach dem Umfang der Darstellung stehen die Geburt, Passion und Auferstehung Jesu eindeutig im Zentrum. Die alttestamentl. Stoffe sind wie die eschatologischen meist heilsgeschichtlich der Erlösung durch Jesus zugeordnet; nur die legendarischen Stoffe stehen für sich. Uber die innere Organisation und Beziehung der Stoffe in den einzelnen Gattungen ist in den entsprechenden Paragraphen zu handeln (§§ 25, 32, 35, 38, 42, 47ff.). Hier soll ein Uberblick über die überhaupt vorkommenden Stoffe gegeben werden, wobei im einzelnen keine Vollständigkeit in der Aufzählung erreicht werden kann. Im Zusammenhang von Schöpfung und Sündenfall werden im einzelnen dargestellt: Erschaffung der Welt, Erschaffung der Engel, Sturz Luzifers, Erschaffung des Menschen, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies. An alttestamentlichen Einzelszenen kommen neben vielen anderen vor: Kain und Abel, das Opfer Melchisedeks, die Opferung Isaaks, Jakobs Betrug an Esau, Joseph und seine Brüder, Szenen aus dem Leben des Moses, Samson, David und Goliath, das salomonische Urteil, Susannaszenen, Jonas im Walfisch usw. Den Auftritten der Propheten und prophetischen Zeugen ist manchmal der Streit der Töchter Gottes und ein eigener Beschluß der Erlösung zugeordnet. Zum Komplex des Weihnachtsgeschehens gehören Darstellungen aus dem Leben Marias bis zur Verkündigung, die Herbergssuche, Hirten- und Dreikönigsszenen, die Flucht nach Ägypten und der Kindermord usw. Aus dem Leben Jesu werden zahlreiche Szenen dargestellt: das Auftreten des zwölfjährigen Jesus im Tempel, Taufe, Versijphung, Jüngerberufung, Bergpredigt, Hochzeit zu Kana, Tempelreinigung, die Szenen mit der Samariterin, mit der Ehebrecherin und mit Zachäus, die verschiedenen Auseinandersetzungen mit den Juden. Von Jesu Wundern kommen die verschiedenen Heilungen von Aussätzigen, Blinden, Gichtbrüchigen, Krüppeln, Lahmen, Stummen usw. vor, sowie die Auferweckungen des Jünglings von Naim, der Tochter des Jairus und des Lazarus. Im Zusammenhang mit der Taufe Jesu stehen die Szenen vom Ende Johannes des Täufers. Breiten Raum nehmen die Szenen vom Weltleben und der Bekehrung der Maria Magdalena ein. Die Passion Jesu kommt in allen Einzelheiten vom Einzug in

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Jerusalem über Abendmahl, Gefangennahme, Verhöre, Verurteilung und Kreuzigung bis zum Begräbnis zur Darstellung. In den Osterzusammenhang gehören Grabwächterszenen, die Höllenfahrt, die Bemühungen der Teufel um eine Wiederauffüllung der Hölle, dann vor allem die Auferstehung, Auftritte des Salbenkrämers, der Salbenkauf der Marien, die Marien am Grab und die Erscheinungen Jesu. Die neutestamentl. Szenen enden mit der Himmelfahrt Jesu, dem Pfingstwunder und der Himmelfahrt Mariae. Das Ende der Heilsgeschichte wird in Antichrist- und Weltgerichtsspielen dargestellt, sowie in der Dramatisierung des Gleichnisses von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen. Die legendarischen Stoffe lassen sich gruppieren nach Marienlegenden (Rettung der Päpstin Jutta und des Teufeisbündners Theophilus), Heiligenlegenden (Darstellungen aus den Legenden von Georg, Alexius, Dorothea, Katharina u. a.) und Kreuzlegenden (Kreuzauffindung und Kreuzerhöhung). Die Lit. zu den einzelnen Stoffkomplexen wird in § 5 sowie bei den einzelnen Spielgattungen genannt.

§ 5 . Q u e l l e n . Die Frage nach der Herkunft der in § 4 genannten Stoffe ist mit der .Bezeichnung der Stoffe als biblisch oder legendarisch zum größten Teil bereits beantwortet. Neben dem Alten und Neuen Testament und neben den jeweiligen Legenden sind ferner die Apokryphen und die theologische Tradition zu nennen. So stammen die Ausgestaltungen der Kindheit Jesu, beispielsweise die Wunder auf der Flucht nach Ägypten, aus dem Pseudo-Matthäus-Evangelium, die Ausgestaltungen der Höllenfahrt Jesu aus dem Nikodemus-Evangelium. In theologischer Lit. haben beispielsweise die Disputationen zwischen Ecclesia und Synagoge und der Streit der Töchter Gottes ihren Ursprung. Doch lassen sich nicht alle stofflichen Einzelheiten der Spiele auf geschriebene Quellen zurückführen; teilweise mag es sich auch um volkstümliche Elemente handeln oder auch einmal um individuelle Erfindung des Spielbearbeiters. Neben die Feststellung der Herkunft der Stoffe tritt die Frage nach den vom einzelnen Spielbearbeiter jeweils benutzten Quellen, die ihm diese Stoffe vermittelten. Für die

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Untersuchung dieser Frage ist das methodische Prinzip aufgestellt worden, von den besonderen, nächstliegenden zu den allgemeinen, fernerliegenden Quellen vorzugehen, dem auch hier in der Übersicht gefolgt werden soll. Die im buchstäblichen Sinne am nächsten liegende Quelle für ein Spiel ist in vielen Fällen ein bereits am gleichen Ort oder in der Nachbarschaft existierendes Spiel gewesen, das für eine weitere Aufführung bearbeitet wurde. Manche Hss enthalten in Form von Streichungen und Ergänzungen mehrere, für verschiedene Aufführungen bestimmte Textfassungen (z. B. das Künzelsauer Fronleichnamsspiel). In anderen Fällen entwickelten sich an einem Ort (wie in Luzern) oder in einer Landschaft (wie in Tirol) durch immer neue Bearbeitungen ganze Spieltraditionen. Freilich hat insbesondere die ältere Forschung die Suche nach Abhängigkeiten übertrieben und sich deren Nachweis mit der bloßen Feststellung ähnlich lautender Einzelverse zu leicht gemacht. Gegenüber dt. Dramen treten Epen als Quellen stark zurück. Sicher nachgewiesen ist nur der Einfluß der Erlösung auf die Frankfurter Dirigierrolle. Bei den lat. liturgischen Feiern, vor allem den Osterfeiern, ist ein starker Einfluß auf die dt. Spiele festzustellen. So sind die Kernszenen des Ostergeschehens, insbesondere der Besuch der Marien am Grab, deutlich durch die Form und die Texte der Visitatio sepulchri geprägt. Auch andere liturgische Gestaltungen wie etwa die Palmsonntagsprozession sind mit ihren Texten in die Spiele eingegangen. Darüber hinaus ist die Liturgie insgesamt wichtig, weil sie vielfach Arrangements von biblischen Textstellen bot, die in der jeweiligen Anordnung und gelegentlich vom Bibeltext abweichenden Formulierung in die Spiele aufgenommen wurden. Doch konnte jeder Spielbearbeiter jederzeit auch auf den Bibeltext zurückgreifen und ihn gegenüber der Liturgie selbständig benutzen, was ebenfalls geschehen ist. Hauptaufgabe der Quellenuntersuchung an geistl. Spielen ist daher die Ermittlung der jeweiligen Quelle. Allerdings ist diese Forderung sehr oft nicht erfüllbar, da die Spielbearbeiter in der überwiegenden Zahl der Fälle Geistliche gewesen sein dürften, die durch ihre Ausbildung in einer im weitesten Sinne theologischen Tradition standen und denen viele biblische, apokryphe oder legendarische Stoffelemente, sowie biblische und

liturgische Textstellen einfach bekannt waren. Diese Tradition ist in der umfassenden Quellenanalyse von G. Duriez durch die Auswertung von Werken wie der Historia Scholastica des Petrus Comestor, des Spéculum quadruplex des Vincenz von Beauvais, der Legenda aurea des Jacob von Vorago und anderer berücksichtigt. Zu den Quellengrundlagen überhaupt mit ausführlichen Einzelnachweisen zu zahlreichen Textstellen vieler Spiele: Georges D u r i e z , La théologie dans le drame religieux en Allemagne au moyen âge (Paris, Lille 1914; Mémoires et travaux publiés par des professeurs des Facultés Catholiques de Lille 11). — Zur mal. Liturgie im allgemeinen und als Quelle der Spiele : Handbuch d. Liturgiewissenschaft, hg. v. Aimé-Georges M a r t i m o r t . Ubertr. aus d. Franz. 2 B d e (19631965). - Suitbert B ä u m e r , Gesch. d. Breviers. Versuch e. quellenmäßigen Darstellung d. Entw. d. altkirchl. u. d. röm. Officiums bis auf unsere Tage (1895). - Adolf F r a n z , Die Messe im dt. MA. Beitr. z. Gesch. d. Liturgie u. d. religiösen Volkslebens (1902). Theodor K l a u s e r , Kleine Abendländische Liturgiegeschichte. Bericht u. Besinnung. Mit zwei A n h . : Richtlinien für d. Gestaltung d. Gotteshauses, Ausgew. bibliogr. HinDie weise (5. Aufl. 1965). Thomas S c h ä f e r , Fußwaschung im monastischen Brauchtum u. in d. lat. Liturgie. Liturgiegeschichtl. Untersuchung (1956; Texte u. Arbeiten. Hg. durch d. Erzabtei Beuron. I, 47). Hermann J . G r ä f , Palmenweihe u. Palmenprozession in d. lat. Liturgie (1959; Veröff. d. Missionspriesterseminars St. Augustin, Siegburg 5). Paul Edward K r e t z m a n n , The Liturgical Element in the Earliest Forms of the Médiéval Drama, with Special Reference to the English and German Plays (Minneapolis 1916; The Univ. of Minnesota Studies in Lang, and Lit. 4). R . B e r g m a n n , Studien (1972) S. 202ff. Zu den Apokryphen im allgemeinen und als Quelle der Spiele: Edgar H e n n e c k e u. Wilh. S c h n e e m e i c h e r , Neutestamentliche Apokryphen in dt. Übers., I. Evangelien (3. Aufl. 1959), II. Apostolisches, Apokalypsen u. Verwandtes (3. Aufl. 1964). Josef K r o l l , Gott und Hölle. Der Mythos vom Descensuskampfe ( 1932 ; Nachdr. 1963. Studiend. Bibl. Warburg 20). Georges D u r i e z , Les apocryphes dans le drame religieux en Allemagne au moyen âge (Lille 1914; Mémoires et travaux publiés par des professeurs des facultés catholiques de Lille 10). Richard P. W ü I c k e r , Das Evangelium Nicodemi in d. Abendländischen Literatur. Nebst drei excursen über Joseph von Arimathia als apostel Englands, das drama ,horrowing of Hell' und Jehan Michel's passion Christi (1872). Achim M a s s e r , Bibel, Apokryphen u. Legenden. Geburt u. Kindheit Jesu in d. religiösen Epik d. dt. MA.s (1969). —

Spiele, Mittelalterliche geistliche Zu den lat. Feiern, insbesondere den Osterfeiern, im allgemeinen und als Quellen der Spiele: Karl Y o u n g , The Drama of the Medieval Church. 2 Bde (Oxford 1933; verb. Nachdr. 1962). Walther L i p p h a r d t (Hg.), Lat. Osterfeiern u. Osterspiele. 1 ff. (1975ff.). Osborne Bennett Hardison, Christian Rite and Christian Drama in the Middle Ages. Essays in the Origin and Early History of Modern Drama (Baltimore 1965). Helmut de B o o r , Die Textgeschichte d. lat. Ostfrfeiern (1967; Hermaea. NF. 22). R. Bergmann, Studien (1972) S. 170ff. — Zu den Beziehungen zwischen dt. Spielen: Barbara Thoran, Studien zu den österlichen Spielend, dt. MA.s(E. Beitr. zur Klärung ihrer Abhängigkeit voneinander), (2. Aufl. 1976; GöppArbGerm. 199). R. Bergmann, Studien (1972) S. 87ff. — Vgl. auch § 43. —Zu den Beziehungen zwischen den Spielen und der .Erlösung': R.Bergmann,Studien (1972)S. 127ff.Ursula Hennig, Die Ereignisse d. Ostermorgens in der , Erlösung'. E. Beitr. zu d. Beziehungen zw. geistlichem Spiel u. erzählender Dichtung im MA., in: Mediaevalia litteraria. Festschr. für Helmut de Boor (1971) S. 507-529.— Zu theologischen Traditionselementen als Quellen: Eduard Johann Mäder, Der Streit der,,Töchter Gottes". Zur Gesch. e. allegorischen Motivs (1971; EuroHS. I. 41). Hiram Pflaum, Die religiöse Disputation in d. europäischen Dichtung d. MA.s. I. Der allegorische Streit zwischen Synagoge u. Kirche (1935). § 6 . S p r a c h l i c h e F o r m . Die Sprache wird in den geistl. Spielen sehr oft durch die Musik unterstützt; vgl. dazu § 7. Der Abgrenzung in § 1 entsprechend handelt es sich um dt.sprachige Spiele; doch steht neben dem Deutschen in vielen Fällen in breitem Umfang die lat. Sprache; vgl. dazu § 8. Die dt.sprachigen Texte sind im Hinblick auf ihre sprachgeographische und sprachsoziologische Einordnung und im Hinblick auf die stilistische und metrische Gestaltung zu charakterisieren. Wie alle mal. dt. Texte zeigen die Spiele regionale Sprachformen; zur Verteilung auf die verschiedenen Dialektgebiete vgl. § 18-22. Systematische Vergleiche der Landschaftsgebundenheit der Sprache der Spiele mit den Verhältnissen in anderen literar. G a t tungen oder in nichtliterar. Textarten fehlen. D e r lokalen und regionalen Bindung der Sprachformen entspricht die Volkstümlichkeit des einfachen und schlichten Stils. Abweichungen von der stilistischen Mittellage nach oben in einen gehobenen Sprachstil sind selten ( z . B . im Osterspiel von Muri); öfter begegnen Abweichungen nach unten in eine derbvulgäre, ja gelegentlich obszöne Ausdrucks-

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weise (so insbesondere in den Salbenkrämerszenen mancher Osterspiele). Die metrische F o r m wird so gut wie ausschließlich vom Reimpaarvers bestimmt, der im allgemeinen vier Hebungen hat, wobei freilich eine große Freiheit in der Versfüllung zu beobachten ist. Selten werden strophisch gegliederte lyrische Texte in die Spiele übernommen, so beispielsweise in den Magdalenenszenen zur Charakterisierung der weltlichen Einstellung Maria Magdalenas vor ihrer Bekehrung. Rhetorische Kunstmittel wie die Reimbrechung werden nur gelegentlich angewandt, beispielsweise im Osterspiel von Muri und in Arnold Immessens Sündenfall. Im ganzen darf wohl festgestellt werden, daß die Sprache nicht das wichtigste Gestaltungs- und Wirkungsmittel in den dt. Spielen war. D o c h bleibt auch diese Verallgemeinerung problematisch, da in einzelnen Spielen eben auch sprachlich gelungene und eindrucksvolle Stellen begegnen. Richard H e i n z e l , Abhandlungen zum altdt. Drama (1896; SBAk Wien 134, 10) S. 72-108. — Allgemeine Hinweise zu den Problemen der sprachlichen Form finden sich auch in den in § 2 genannten Handbüchern. Detaillierte Angaben zu Metrik und Stil der einzelnen Spiele sind in einer Reihe von Einzeluntersuchungen enthalten, die zu den betreffenden Spielen angegeben werden. Vgl. auch die in § 12 genannte Literatur. § 7 . S p r a c h e u n d M u s i k . Die in nicht wenigen Hss aufgezeichneten Noten bezeugen unmittelbar, daß viele Texte zum Gesang bestimmt waren. Bei den meist bekannten liturgischen Gesängen fehlen in den Hss oft aber auch die Noten. Der Umfang des Gesungenen war also jedenfalls größer als die N o tenaufzeichnungen zeigen. In der Hauptsache handelt es sich um lat. Gesänge aus der Liturgie, und zwar vor allem um Responsorien und Antiphonen, die von einem C h o r oder von einzelnen Schauspielern gesungen wurden. Daneben kommen auch Hymnen und Sequenzen vor. Lat. Gesänge weltlichen Inhalts treten z . B . in Magdalenenszenen auf, die auch dt. Lieder enthalten. Weitere Szenen mit profanen Gesängen sind insbesondere die Grabwächter- und Salbenkrämerszenen. U n ter den dt. Liedern religiösen Inhalts ist vor allem das Osterlied Christ ist erstanden zu nennen, das auch am Ende lat. Osterfeiern vorkommt. In den dt. Gesängen der Marien-

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klagen zeigt sich Einfluß profanen Gesangs, so in der Verwendung der Nibelungenstrophe in der Trierer Marienklage. Das Verhältnis von gesungenen und gesprochenen Texten hat man sich vielfach so vorgestellt, daß im allgemeinen auf gesungene lat. Texte gesprochene deutsche gefolgt seien. Demgegenüber vertritt Hansjürgen Linke neuerdings die Auffassung, daß „sowohl der lat. als auch der dt. Text teils im Melodie-, teils im Lektionsgesang dargeboten wurde". Der berechtigten Forderung, bei der Interpretation geistlicher Spiele müsse die Rolle der Musik gebührend berücksichtigt werden, vermag die Lit.wiss. nicht ohne weiteres zu genügen. Walther Lipphardt, Liturgische Dramen d. MA.s. MGG. 8 (1960) Sp. 1012-1051. Karl Dreim ü l l e r , Die Musik d. 'Alsfelder Passionsspiels'. E. Beitr. z. Gesch. d. Musik in d. geistl. Spielen d. dt. MA.s. Mit erstmal. Veröff. d. Melodien aus d. Kasseler Hs d. Alsfelder Spiels (Landesbibl. Kassel 2° Mss. poet. 18). I-III. (Masch.) Diss. Wien 1935. Ders., Die Musik im geistl. Spiel d. späten dt. MA.s, dargest. am 'Alsfelder Passionsspiel' in: Kirchenmusikal. Jb. 34 (1950) S. 27-34. Alfred O r e l , Die Weisen im 'Wiener Passionsspiel' aus d. 13. Jh. Mittlgn. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Wien 6 (1926) S. 72-95. Helmuth Osthoff, Dt. Liedweisen u. Wechselgesänge im mal. Drama. Archiv f. Musikforschung 7 (1942) S. 65-81. Ders., Die Musik im Drama d. dt. MA.s. Quellen u. Forschungsziele. Dt. Musikkultur. Zweimonatshefte f. Musikleben u. Musikforschung 8 (1943) S. 29-40. Ernst August Schuler, Die Musik d. Osterfeiem, Osterspiele u. Passionen d~. MA.s (1951; Diss. Basel 1940). Hansjürgen Linke, Rez. zu R. Bergmann, Studien (1972) in: AnzfdA 85 (1974) S. 19-26, bes. S. 23ff. § 8. L a t e i n i s c h und D e u t s c h . Das mal. geistl. Drama einschließlich der liturg. Feiern w a r anfangs ausschließlich lateinisch; allenfalls am Ende eines lat. Osterspiels stand das dt. Osterlied Christ ist erstanden. Die Geschichte des dt.sprachigen mal. geistl. Dramas beginnt im 13. J h . mit dem Auftreten der dt. Sprache neben der lat., z . B . im Benediktbeurer Passionsspiel. Seit dem 14. Jh. sind auch Spiele ohne lat. Texte überliefert, wie das St. Galler Weihnachtsspiel. Andererseits sind bis in die Spiele vom Anfang des 16. Jh.s umfangreiche lat. Textpartien erhalten, wie z. B. im Alsfelder Passionsspiel; und neben den dt. Spielen existieren die rein lat. Osterfeiern fort. Das Verhältnis von Lateinisch und Deutsch kann daher in dieser Hinsicht nicht als Ablö-

sung der einen Sprache durch die andere verstanden werden. Es handelt sich vielmehr um das Aufkommen der dt. Sprache in den Spielen im 13. Jh., dem beispielsweise auch das gleichzeitige Aufkommen der dt. Sprache in den Urkunden vergleichbar ist, das zunächst ebenfalls keine Ablösung des Lat. bedeutete. Im Nebeneinander lat. und dt. Textpartien in^ den Spielen sind drei verschiedene Fälle zu erkennen. Recht oft kommen dt. Texte ohne lat. Grundlagen vor, vor allem bei Szenen ohne biblische oder liturgische Grundlage; im Vergleich damit sind lat. Texte ohne dt. Entsprechungen selten, kommen aber beispielsweise in liturgischen Gesängen vor. Meist stehen lat. und dt. Texte in inhaltlicher Entsprechung nebeneinander, wobei allerdings keine engen Ubersetzungen gegeben werden. Durch Versform und Reimbindung werden die dt. Wiedergaben lat. Texte oft mit Füllversen aufgeschwellt; in den späten Spielen geht der dt. Text in vielen Einzelheiten auch über den lat. hinaus. Wilfried Werner, Studien zu d. Passions- und Osterspielen d. dt. MA.s in ihrem Übergang vom Latein zur Volkssprache (1963; PhilStQuell. 18). Ruprecht Wimmer, Deutsch u. Latein im Osterspiel. Untersuchungen zu d. volkssprachl. Entsprechungstexten d. lat. Strophenlieder (1974; MTU 48). § 9 . B ü h n e . Von einer Bühne im eigentlichen Sinne kann nur bei Aufführungen im Freien gesprochen werden, die für die umfangreicheren Spiele anzunehmen oder bezeugt sind. Bei Aufführungen in einer Kirche, die für die szenischen Marienklagen zu vermuten und noch spät für einzelne Spiele bezeugt sind, entfiel ein Bühnengerüst. Über die Bühnenverhältnisse geben in erster Linie die Bühnenanweisungen in den Spielhandschriften Auskunft, ferner die in einigen Fällen überlieferten Bühnenpläne, sodann auch archivalische Quellen wie Rechnungen über die Kosten des Auf- und Abbaus der Bühnengerüste. Die Bühne der geistl. Spiele bestand aus einem größeren freien Platz, beispielsweise einem Marktplatz wie dem Weinmarkt in Luzern; sie ist als dreidimensionale Raumbühne zu charakterisieren. Die Zuschauer umgaben die Bühne auf allen Seiten, soweit die Bebauung dies zuließ, oder sahen aus den Fenstern der umliegenden Häuser zu. Eine

Spiele, Mittelalterliche geistliche einheitliche Blickrichtung der Zuschauer fehlte; entsprechend gab es keinen eigentlichen Bühnenraum. A u f dem Bühnenplatz befanden sich die für das Spiel notwendigen Handlungsorte gleichzeitig ; im Hinblick darauf wird die Bühne des mal. Spiels Simultanbühne im Gegensatz zur Sukzessionsbühne des neuzeitlichen Dramas genannt. Bühnenorte waren vor allem die durch Dekorationen dargestellten Häuser der beteiligten Personen, im Passionsspiel beispielsweise die Häuser des Pilatus, der H o henpriester, der Apostel, des Lazarus usw. Bei diesen „Häusern" ist im allgemeinen an von vier Pfosten getragene Dächer zu denken, die von allen Seiten Einsicht erlaubten; doch konnten auch die den Platz umgebenden Gebäude mit einbezogen werden. Andere Bühnenorte sind Himmel und Hölle, der Tempel, der ö l b e r g usw. sowie ein für verschiedene Szenen verwendbarer freier Platz. Das Simultanprinzip kann sich auch auf die Handlung erstrecken, indem manche faktisch oder geistig miteinander zusammenhängende Handlungen an verschiedenen Orten so untereinander verflochten wurden, daß sie praktisch gleichzeitig stattfanden. Die Spiele vollzogen sich außer im Sprechen und Singen des Textes vorwiegend in Bewegungen auf der Bühne. Jede Verlagerung des Geschehens von einem O r t zum andern wurde als Bewegung auf der Bühne sichtbar, z. B . der Gang vom Abendmahl in den Garten Gethsemane, die Heranführung der Soldaten durch Judas, die Wegführung Jesu zum Haus der Hohenpriester, zum Haus des Pilatus, zum Haus des Herodes usw. D i e Bühne der geistl. Spiele ist nicht geeignet, eine Illusion der histor. Schauplätze des Geschehens zu erzeugen. Illusion ist auch nicht der Sinn der Inszenierung, sondern Veranschaulichung der im Geschehen enthaltenen geistigen Beziehungen. Die Anordnung der Schauplätze auf der Bühne ist Ausdruck dieser Beziehungen. D e m im Osten aufgebauten Himmel steht die Hölle gegenüber. Wenn vor dem Himmel die drei Kreuze aufgebaut sind, erhalten die beiden Schächer am Kreuz die ihnen zukommenden Seiten. Die linke Bühnenseite ist auch im ganzen für die Gegner Jesu vorbehalten, die rechte Seite für seine Anhänger. Der Platz einer Person, von dem sie ausgeht und zu dem sie zurückkehrt, weist ihr auch auf der Sinnebene ihren Platz zu.

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Kostüme und Requisiten treten noch unterstützend hinzu. Bei aller Fülle der Bewegungen und Handlungen ist so stets ihre Bedeutung anschaulich. Edmund Kercherer Chambers, The Medieval Stage. 2 Bde (Oxford 1903; 3., unveränd. Aufl. 1955). Anton Glock, Zur Mysterienbühne, in: Analecta Germanica. Hermann Paul dargehr. (1906), S. 1-18. Wolfgang F. Michael, Frühformen d. dt. Bühne (1963; SchrGesThg. 62). Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas.Bd. 1. Das Theater d. Antike u. d. MA.s (1957). Hans Heinrich B o r c h e r d t , Gesch. d. dt. Theaters. StammlerAufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1962) Sp. 10991244. Ders., Das europäische Theater im MA. u. in d. Renaissance (1935). Hans Knudsen, Dt. Theatergeschichte (1959; Kröners Taschenausgabe 270). John William Kurtz, Studies in the Staging of the German Religious Drama of the Late Middle Ages. Abstract of a Thesis in the Graduate School of the University of Illinois (Urbana 1932). — Zu den überlieferten Bühnenplänen s. bei den einzelnen Spielen. § 10. R e q u i s i t e n und K o s t ü m e . Ü b e r Requisiten und Kostüme unterrichten uns im wesentlichen dieselben Quellen wie über die Bühnenverhältnisse: an erster Stelle die Bühnenanweisungen selbst, dann vor allem auch Requisiten- und Kostümverzeichnisse, sowie Rechnungen über die Anfertigung. Umstritten ist die Frage, ob aus den Darstellungen in der bildenden Kunst Rückschlüsse auf die Verhältnisse in den geistl. Schauspielen möglich und zulässig sind. Die Quellen zeigen eine deutliche Ungleichheit in ihrer zeitlichen Verteilung. D i e Bühnenanweisungen sind in den älteren Spielen knapp; erst die jüngeren Spiele enthalten detailliertere Angaben. Eigene Kostümverzeichnisse liegen erst aus dem 16. J h . in Luzern vor. So ruft die Quellenlage leicht den Eindruck einer Entwicklung zu immer genauerer Angabe der Kostümierung und auch einer Entwicklung zu immer differenzierterer Kostümierung hervor, der aber wenigstens teilweise auch quellenbedingt sein kann. In den Spielen des 13. und 14. Jh.s finden sich pauschale Kostümangaben wie z. B .

omnibus persortis decenter omatis im St. Galler mittelrheinischen Passionsspiel. Daneben findet sich in dem ganzen Spiel als einzige für die E r Einzelangabe in specie ortulani scheinung Jesu vor Maria Magdalena. Die Bekehrung der Magdalena wird schon in Spie-

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Spiele, Mittelalterliche geistliche

len des 13. Jh.s durch den Wechsel des Kostüms veranschaulicht: Tuncdeponat uestimenta secularia et induat nigrum pallium heißt es beispielsweise im Benediktbeurer Passionsspiel. Die späteren Quellen lassen deutlich die ständisch und religiös charakterisierende Kostümierung erkennen, die den jüdischen Figuren die damalige Tracht der Juden, den Soldaten das entsprechende kriegerische Kostüm, den Aposteln ihre inzwischen traditionellen Farben und Attribute zuwies. Wie die Bühne so dienten auch die Kostüme nicht der Erzeugung histor. Illusion; vielmehr charakterisierten sie die Personen und versinnbildlichten ihre Stellung im Spiel. Ähnliches läßt sich auch von den Requisiten sagen, soweit sie nicht unmittelbar durch das darzustellende Geschehen erfordert wurden, wie z. B. der Tisch, Brot und Wein, Trinkgefäße usw. beim Abendmahl. In späteren Spielen treten daneben auch versinnbildlichende Requisiten wie die gemalten Seelen der beiden Schächer, die von einem Engel und einem Teufel in den Himmel, bzw. in die Hölle getragen werden. Die theatergeschichtliche Lit. ist bereits in § 9 genannt. Vgl. ferner R. Heinzel, Abhandlungen zum altdt. Drama (1896) S. 18-55. Zu den reichen Luzerner Kostüm- und Requisitenquellen vgl. M. Blakemore Evans, Das Osterspiel von Luzem. E. histor.-krit. Einl. (1961; Schweizer Theater-Jahrbuch 27). Vgl. weiter Bernd Neumann, Zeugnisse mal. Aufführungen im dt. Sprachraum. E. Dokumentation zum volkssprachigen geistl. Schauspiel. Diss. Köln 1977. Max von Böhn, Das Bühnenkostüm im Altertum, MA. u. Neuzeit (1921). — Zum Problem des Zusammenhangs von geistl. Spielen mit der bildenden Kunst: Frederick P. Pickering, Literatur u. darstellende Kunst im MA. (1966; Gründl. Germ. 4). Wolfgang Stammler, Wort u. Bild. Studien zu den Wechselbeziehungen zw. Schrifttum u. Bildkunst im MA. (1962). Ders., Schrifttum u. Bildkunst im dt. MA., in: StammlerAufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1962) Sp. 613-698. E. Grube, Untersuchungen über d. Quellenwert bildkünstlerischer Darstellungen für d. Erforschung d. mal. Theaters. (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1955. H.H. B o r c h e r d t , Theater u. bildende Kunst im Wandel d. Zeiten. Euph. 32 (1931) S. 179-187. Gustav B e b e r m e y e r , Lit. u. bildende Kunst. Reallex. Bd. 2 (2. Aufl. 1965) S. 89, § 19 mit weiterer Literatur. § 11. B e a r b e i t e r , R e g i s s e u r e und Schaus p i e l e r . Die Texte geistl. Spiele entstanden in den beobachtbaren Fällen durch Bearbeitun-

gen schon vorhandener Fassungen, so daß zweckmäßiger Weise von Bearbeitern statt von Autoren gesprochen wird. Die Bearbeiter sind bei den meisten Spielen unbekannt. Erst aus dem späten 15. und vor allem aus dem 16. Jh. sind einzelne Persönlichkeiten bekannt, so vor allem Benedikt D e b s in Bozen und Vigil R a b e r in Sterzing, Zacharias B l e t z , Hans S a l a t und insbesondere Renward C y s a t in Luzern. Sie wirkten als Sammler bzw. Bearbeiter und Schreiber der Texte sowie als Spielleiter. Als Autoren sind ferner Dietrich S c h e r n b e r g , der Verfasser des Spiels von Frau Jutten, Arnold I m m e s s e n , der Verfasser eines Spiels vom Sündenfall, Wilhelm S t a p f e r , der Verfasser des Zuger Heiligkreuzspiels, Matthias G u n d e l f i n g e r , der Verfasser des Zurzacher Passionsspiels, Felix B ü c h s e r , der Verfasser des Einsiedler Meinradspiels und Johannes W a g n e r , der Verfasser des Spiels von St. Mauritzen und St. Ursen zu nennen. Die meisten unbekannten Textbearbeiter dürften Geistliche gewesen sein; auch in der späteren Zeit unterstanden die weltlichen Redaktoren wie der Lehrer Debs, der Maler Raber, der Stadtschreiber Cysat geistl. Oberaufsicht. In den meisten Fällen werden die Textbearbeiter gleichzeitig die Spielleiter gewesen sein, wie es von Cysat bezeugt ist. Die Schauspieler waren anfangs ausschließlich Geistliche. Für die späteren umfangreichen Spiele bedurfte es der Mitwirkung der Bürgerschaft der jeweiligen Stadt. Wo die Quellen — wie in Luzern— entsprechende Einblicke ermöglichen, wird das Interesse der Bürger an den großen Rollen sichtbar, die manchmal mehrere Generationen in einer Familie bleiben. Für das Erlernen der Rollen wurden Einzelrollentexte hergestellt, die in einigen Fällen erhalten sind. Bis ins späte 15. Jh. wurden übrigens die Frauenrollen ausschließlich von Männern gespielt. Uber diese Besetzungsfragen unterrichten uns vor allem die erhaltenen Spielerverzeichnisse. Einzelrollentexte: Johannesrolle, Kaufmannsrolle, Luziferrolle, Synagogarolle zum Alsfelder Passionsspiel; Rollenblatt der Malerzunft zum Freiburger Fronleichnamsspiel, Rothenburger Kasparrolle eines Fronleichnamsspiels, Lüneburger Praelocutorrolle eines Osterspiels, Steinacher Salvatomrolle eines Osterspiels, Wiener Rubinusrolle eines Osterspiels, Gothaer Botenrolle eines Spiels von der Zerstörung Jerusalems.

Spiele, Mittelalterliche geistliche Spielerverzeichnisse: Spielerverzeichnis zum Alsfelder Passionsspiel, mehrere Spielerverzeichnisse zu den Luzerner Passionsspielen, Sterzinger Spielerverzeichnisse zum Passionsspiel von a. 1489 und a. 1496, Bozner Spielerverzeichnis zum Passionsspiel von a. 1514, Bartfelder Spielerverzeichnis eines Osterspiels. Die theatergeschichtliche Lit. ist in § 9 genannt ; zu den Spielleitern, Einzelrollen und Spielerverzeichnissen vgl. die Lit. in den entsprechenden Paragraphen in Teil III ff.

§ 12. D a r s t e l l u n g s a b s i c h t und -stil. Die Darstellung geistl. Stoffe unter geistl. Leitung dient natürlicherweise in erster Linie religiösen Absichten der Belehrung und Erbauung. Gegenstand der Belehrung sind insbesondere die heilsgeschichtlichen Grundtatsachen, in deren Mittelpunkt die Erlösung durch Jesu Tod und Auferstehung steht. Dem einzelnen Gläubigen soll darüber hinaus individuelle Erlösungsgewißheit vermittelt, er soll durch die Anschauung der Wunder Jesu oder der Heiligen, des Leidens Jesu, der Auferstehung usw. erbaut werden. Der skizzierten Absicht dienen in den verschiedenen Zeiten vom 13. bis 16. Jh. verschiedene Stilmittel, ohne daß einfachhin von einer stilgeschichtlichen Entwicklung gesprochen werden könnte. Die geistliche Lehre kann in der direkten Form der Belehrung in Prologen, Zwischenreden oder Schlußpredigten auftreten. Größeren Anteil hat die Veranschaulichung in der Spielhandlung selbst, die im Detail realistisch sein kann, so wenn für den Lanzenstich des Longinus ein blutgetränkter Schwamm als Requisit vorgeschrieben wird. Gerade bei der Darstellung der Passion Jesu geht der Detailrealismus sehr weit, so daß über die bloße Veranschaulichung hinaus das Mitgefühl der Zuschauer geweckt und sie zur compassio geführt werden. Die Gültigkeit der dargestellten Heilstatsachen für die Mitwirkenden und für die Zuschauer wird durch die Verschmelzung der Zeitebenen deutlich. Die Darstellung erfolgt nicht nur im Kostüm der Zeit der Aufführung; sie bezieht die religiöse und soziale Gegenwartswirklichkeit in die dargestellten Verhältnisse ein. Dies wird besonders in den Höllenszenen deutlich, in denen die Teufel nach der Höllenfahrt Jesu die Hölle mit neuen Sündern auffüllen.

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Hennig B r i n k m a n n , Die Eigenform d. mal. Dramas in Deutschland. GRM. 18 (1930) S. 1637, 81-98; wiederabgedr. in: Brinkmann, Studien zur Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur, Bd. 2, Literatur (1966) S. 193-231. Walther M ü l l e r , Der schauspielerische Stil im Passionsspiel d. MA.s (1927; FuG. 1). Alfons B r i n k m a n n , Liturg. u. volkstümliche Formen im geistl. Spiel des dt. MA.s (1932; Fschgn. z. dt. Sprache u. Dichtung 3). Ludwig W o l f f , Die Verschmelzung d. Dargestellten mit d. Gegenwartswirklichkeit im geistl. Drama d. dt. MA.s. DVLG. 7 (1929) S. 267-304; wiederabgedr. in: Wolff, Kleinere Schriften zur altdt. Philologie (1967) S. 319-349. Hansjürgen L i n k e , Zwischen Jammertal u. Schlaraffenland. Verteujelung u. Verunwirklichung d. saeculum im geistl. Drama d. MA.s. ZfdA. 100 (1971) S. 350-370. Rainer H. S c h m i d , Raum, Zeit u. Publikum d. geistl. Spiels. Aussage «. Absicht e. mal. Massenmediums (1975).

II. H i s t o r i s c h - g e o g r a p h i s c h e A s p e k t e . § 13. E n t s t e h u n g . Das dt.sprachige geistl. Schauspiel des MA.s verdankt seine Entstehung dem lat. liturgischen Drama des MA.s; die Hypothese einer Entstehung aus Uberresten heidnisch-german. Kultspiele hat keine Anerkennung gefunden. Über die allgemeine Feststellung der Abhängigkeit vom Lateinischen hinausgehende Erkenntnisse zur Entstehungsgeschichte liegen bisher zur Gattung im ganzen nicht vor. Dieser Problembereich ist weitgehend unerforscht; nicht einmal die elementarsten chronologischen Voraussetzungen sind geschaffen; vgl. § 14. Überdies muß damit gerechnet werden, daß die Entstehungsgeschichte bei den einzelnen Gattungen verschieden war. So sind die Oster- und Weihnachtsspiele deutlich von den lat. Oster- und Weihnachtsfeiern abhängig, ohne jedoch ganz aus ihnen ableitbar zu sein. Für die Passionsspiele liegen die Verhältnisse jedenfalls hinsichtlich ihrer Leben-Jesu- und ihrer Passionsszenen deutlich anders. Eine verbreitete Theorie des Anwachsens von kürzeren zu längeren Spielen, beispielsweise durch Ergänzung der Osterspiele durch Passions-, LebenJesu-, Weihnachtsszenen usw. findet in der Uberlieferung keine Stütze; vgl. § 15. Zu der Theorie germanisch-heidnischen Ursprungs: Robert S t u m p f t , Kultspiele der Germanen als Ursprung d. mal. Dramas (1936); die umfangreiche Diskussion zu dieser Arbeit ist bei R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- und Passionsspiele, S. 273 f. bibliographiert. Im übrigen ist auf die in

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§ 2 genannte allgemeine Lit. sowie auf die zu den einzelnen Gattungen in §§ 26, 32, 35, 38, 42f. und 50ff. genannte Lit. zu verweisen.

§ 14. D a t i e r u n g s p r o b l e m e . Bei der Datierung der Hss geistlicher Spiele stellen sich keine für diese Gattung speziellen Probleme. Wenn die Hss nicht durch Schreibereinträge datiert sind, was im 15. und 16. Jh. nicht einmal so selten ist, muß die Datierung aufgrund der üblichen paläographischen Kriterien vorgenommen werden, womit freilich oft nur sehr ungenaue Zuweisungen an ein ganzes Jh. erreichbar sind. Die Datierung der in einer Hs überlieferten Textbearbeitung eines Spiels ist von der Datierung der Hs methodisch zu trennen. Die beiden Datierungen fallen aber faktisch oft zusammen, so vor allem, wenn der Schreiber mit dem Textbearbeiter identisch ist oder wenn archivalische Zeugnisse eine Aufführung belegen, der der Text zugeordnet werden kann, wie es in einer Reihe von Fällen in Tirol und durchgehend in Luzern der Fall ist. Auch ohne derartige Zeugnisse läßt sich bei einer durch ihre Einrichtung deutlich für Aufführungszwecke bestimmten Hs annehmen, daß die Textbearbeitung zu derselben Zeit wie die Anlage der Hs erfolgte. Das methodische Prinzip der Trennung der beiden Datierungen wirkt somit nur bei den im Vergleich selteneren Fällen der Oberlieferung in literar. Sammelhandschriften oder in ausgesprochenen Leseexemplaren. Für die Datierung solcher Texte kommen dann nur textimmanente Kriterien in Betracht, wie die Beziehung auf zeitgenöss. Personen oder Ereignisse, wie es beispielsweise beim Schwäbischen Weihnachtsspiel der Fall ist. Zum Problem der Datierung aufgrund des literaturgeschichtlichen Entwicklungsstadiums s. §15. Vgl. die in § 3 genannte Lit. zur Uberlieferung; im übrigen ist auf die Einzeluntersuchungen und Einleitungen zu den Editionen zu verweisen.

§ 15. Z e i t l i c h e V e r t e i l u n g und G a t t u n g s g e s c h i c h t e . Eine gattungsgeschichtliche Gesamtdarstellung fehlt; bisher sind im Grunde nur schwach begründete Hypothesen über die Geschichte des mal. geistl. Dramas geäußert worden. Erst in jüngster Zeit entsteht durch einige dem lat. Drama gewidmete

Untersuchungen ein Problembewußtsein für die methodischen und wissenschaftstheoretischen Implikationen einer Gattungsgeschichte. Die lat. Osterfeiern wurden beispielsweise in dem Werk von K. Young ohne Berücksichtigung der Hssdatierung nach der vorausgesetzten logischen Ordnung der Entwicklung („the logical order of development") geordnet, und das heißt, von den einfachsten zu den kompliziertesten. Derartige Entwicklungsvorstellungen liegen auch den Darstellungen des dt. Dramas zugrunde; das in einer Hs des 14. oder 15. Jh.s überlieferte Trierer Osterspiel liegt nach D. Brett-Evans (s. § 2), I, S. 101 „ganz in der Nähe des hypothetischen Archetyps" und steht „entwicklungsgeschichtlich" auf einer sehr frühen Stufe. Die dieser literaturgeschichtl. Betrachtung zugrundeliegende Idee einer Entwicklung hat schon W. Emrich in seiner Besprechung von E. Hartls Drama des Mittelalters klar erkannt und zugleich die weitblickende Forderung erhoben, die Ursprünge dieser Auffassung in „dem entwicklungstheoretischen Denken des 19. Jh.s und seiner histor. Ursprungsmetaphysik" einmal zu untersuchen. Eine derartige Untersuchung hat inzwischen O . B. Hardison für das lat. Drama durchgeführt; sie hat auf H . de Boors Textgeschichte der lat. Osterfeiern weitergewirkt. Voraussetzung für eine Übertragung dieser neuen methodischen Ansätze auf das dt.sprachige geistl. Schauspiel ist allerdings die ernsthafte Ermittlung und Berücksichtigung der genauen Uberlieferungschronologie. Im folgenden wird daher eine chronolog. Ubersicht über die erhaltenen Texte gegeben, in der freilich einige kleinere Fragmente und einige unklare Fälle weggelassen werden mußten. Auch fehlen die für eine wirkliche Gattungsgeschichte unverzichtbaren Aufführungsnachrichten. Bei der überlieferungschronologischen Reihenfolge bleibt für eine geringe Zahl von ausgesprochenen Lesetexten die Frage höheren Alters der überlieferten Textfassung unberücksichtigt. 13. Jh.: 1. Hälfte: BenediktbeurerPassionsspiel. — Mitte: Himmelgartner Passionsspielfragmente, Osterspiel von Muri. — Ende 13. Jh./Anfang 14. J h . : Amorbacher Spiel von Mariae Himmelfahrt. 14. Jh.: Maastrichter ribuarisches Passionsspiel, St. Galler mittelrhein. Passionsspiel, St. Galler Weihnachtsspiel, Berliner thüringisches Osterspielfragment, Harburger Osterspiel, Marburger Pro-

Spiele, Mittelalterliche geistliche phetenspielfragment. — Anfang: Frankfurter Dirigierrolle. — 1. Hälfte: Wiener Passionsspielfragment, Münchner Hortulanusszene. — um 1340: Lienzer Osterspielfragment. — Mitte: Kremsmünsterer schlesisches Dorotheenspielfragment, Kreuzensteiner ribuarisches Passionsspiel. — 3. Viertel: Mühlhäuser Zehnjungfrauenspiel, Mühlhäuser Katharinenspiel. — spätes 14. Jh.: Breslauer Osterspielfragment. — a. 1391 : Innsbrucker thüringisches Osterspiel, Fronleichnamsspiel, Spiel von Mariae Himmelfahrt und Spiel von der Zerstörung Jerusalems. — Ende 14. Jh. : Osnabrücker Passionsspielfragment. — Ende 14./Anfang 15. Jh.: Göttinger Spiel von Jacob und Esaù. — ausgehendes 14. Jh. oder 15. J h . : Trierer Osterspiel, Trierer Marienklage. 15. Jh.: Erlauer Spielhandschrift, Kodex des Benedikt Debs, Wolfenbütteler Theophilusspiel, Braunschweiger Simsonspielfragment, Gothaer Botenrolle, Schwäbisches Weihnachtsspiel, Berliner Spiel vom Sündenfall und von der Erlösung, Lübener Osterspielfragment, Göttweiger Osterspielfragment, Prager Abendmahlsspiel, Kopenhagener alemannisches Weltgerichtsspiel, Docens Marienklage, Wolfenbütteler Marienklage. — Anfang: Melker rheinfränkisches Osterspielfragment, Wienhäuser Osterspiel, Rothenburger Kasparrolle. — 1. Drittel: Basler Teufelsspielfragment. — 1. Hälfte: Donaueschinger Weltgerichtsspiel. — um a. 1416: Aggsbacher Marienklage. — a. 1428: Darmstädter Zehnjungfrauenspiel. — a. 1437: Wiener elsässische Verachtung der Welt. — a. 1448: Coburger Spiel von Frauen Ehre und Schande. — Mitte: Trierer Theophilusspiel, Wolfenbütteler Osterspiel, Bartfelder Rollenverzeichnis eines Osterspiels. — 2. Hälfte: Hessisches Weihnachtsspiel, Wiener Rubinusrolle, Wiener Weltgerichtsspiel, Donaueschinger südbairisches Magdalenenspielfragment. — a. 1453/a. 1454: Koblenzer Weltgerichtsspielfragment. — um a. 1460: Augsburger Passionsspiel, Fritzlarer Passionsspielfragment. — a. 1460: Berliner rheinisches Osterspiel, Berliner Alexiusspiel. — a. 1464: Redentiner Osterspiel. — a. 1467: Schaffhauser Weltgerichtsspiel. — a. 1472: Wiener schlesisches Osterspiel. — um a. 1474: Friedberger Dirigierrolle. — a. 1476: Bordesholmer Marienklage. — a. 1479: Künzelsauer Fronleichnamsspiel. — um a. 1480: Berliner niederrheinisches Passionsspiel. — a. 1480: Dietrich Schernberg, Spiel von Frau Jutten. — a. 1482: Berliner Weltgerichtsspiel. — a. 1486: Sterzinger Passionsspiel (Pfarrkirchers Passion). — a. 1489: Sterzinger Rollenverzeichnis. — a. 1493: Frankfurter Passionsspiel. — a. 1494: Mathias Gundelfinger, Zurzacher Passionsspiel. — a. 1495: Bozner Passionsspiel (A und B), Bemer Weltgerichtsspiel. — a . 1496: Sterzinger Rollenverzeichnis, Sterzinger Passionsspiel von 1496 und 1503. — Ende 15. Jh. : Stockholmer Theophilusspiel, Wiener (Kärntner) Passionsspielfragment, Donaueschinger Passionsspiel, Saganer Passionsspielfrag-

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ment, Lüneburger Praelocutorrolle eines Osterspieles, Welser Passionsspiel, Wiener Susannaspiel, Augsburger Georgsspiel, Augsburger südbairisches Heiligkreuzspiel. 16. Jh.: Tiroler Passionsspiel. Erster Teil, Tiroler Dramatisierung des Johannes-Evangeliums II, Freiburger Dreikönigsspiel, Feldkircher Osterspiel, Walenstädter Weltgerichtsspiel. — Anfang: Zwickauer Osterspiel I und II. — um a. 1500: Arnold Immessens Spiel vom Sündenfall, Egerer Passionsspiel. — 1. Hälfte: Osnabrücker Osterspiel, Münchner Osterspiel. — a. 1501/a. 1517: Alsfelder Passionsspiel. — a. 1503: Sterzinger Passionsspiel von 1496 und 1503. — a. 1506/a. 1524: Zerbster Fronleichnamsspiel. — a. 1507: Ingolstädter Fronleichnamsspiel. — a. 1510: Münchner Weltgerichtsspiel. — a. 1511: Tiroler Weihnachtsspiel, Tiroler Marienklage. — a. 1514: Haller Passionsspiel, Bozner Passionsspiel von 1514, Bozner Rollenverzeichnis zum Passionsspiel von 1514, Bozner Palmsonntagsspiel, Heidelberger Passionsspiel, Tiroler Verkündigungsspiel, Bozner Passionsspiel von 1514 (Raber-Passion). — a. 1515: Tiroler David- und Goliath-Spiel. — a. 1516/a. 1526: St. Galler Himmelfahrtsspiel. — a. 1517: Tiroler Himmelfahrtsspiel aus Cafless (Cavalese), Churer Weltgerichtsspiel. — a. 1520: Tiroler Osterspiel. — um a. 1520: Steinacher Salvatorrolle, Der Jesusknabe in der Schule. — a. 1521: Löbauer Prozessionsordnung eines Fronleichnamsspiels. — a. 1522: Tiroler Pfingstspiel. — a. 1523: Brixener Emmausspiel. — a. 1526: Tiroler Dramatisierung des Johannes-Evangeliums I. — a. 1529: Tiroler recht daß Christus stirbt. — a. 1530/a. 1550: Sterzinger Passionsspiel der Mischhandschrift. — a. 1535: Tiroler Entwürfe zu einem Passionsspiel, Tiroler Rollen aus Marienklagen. — a. 1539: Tiroler Spiel vom reichen Mann und armen Lazarus. — a. 1543: Bozner Fronleichnamsspiel. — a. 1545/a. 1616: Luzemer Passionsspiel. — a. 1549: Luzemer Weltgerichtsspiel, Luzerner Antichristspiel. — Mitte: Regensburger alemannisches Osterspiel. — 2. Hälfte: Admonter Passionsspiel. — a. 1551: Brixener Passionsspiel. — a. 1574: Sonthofener Passionsspiel . — a. 1575: Renward Cysat, Luzerner Heiligkreuzspiel. — a. 1576: Einsiedler Meinradspiel des Felix Büchser. — a. 1581: Johannes Wagner, St. Mauritzen- und St. Ursen-Spiel. — a. 1598/a. 1614: Wilhelm Stapfer, Zuger Heiligkreuzspiel. — a. 1599: Villinger Passionsspiel. — a. 1599/a. 1604: Freiburger Fronleichnamsspiel. — a. 1685: Wiener Passionsspiel von St. Stephan. Die Datierungen beruhen auf den bereits genannten Handbüchern (s. o. § 2) sowie auf den noch zu nennenden Editionen und Spezialuntersuchungen (s.u. §§ 27ff.). Zu den Aufführungsnachrichten: Bernd N e u m a n n , Zeugnisse mal. Aufführungen (s. o. § 10). Zur Problematik der Gattungsgeschichte: W. E m r i c h , in: AnzfdA. 60 (1941) S. 114-123. O. B. H a r d i s o n , (s.o.

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§ 5). Helmut de B o o r , Die Textgeschichte d. lat. Osterfeiern (1967). R. Bergmann, Studien (1972) S. 30ff. Paul Gerhard V ö l k e r , Überlegungen zur Gesch. d. geistl. Spiels im MA., in: Werk-Typ-Situation, Studien zu poetolog. Bedingungen in der älteren d. Lit. hg. v. I. Glier u. a. (1969) S. 252-280. R. Warning, Ritus, Mythos und geistliches Spiel. Poetica 3 (1970) S. 83-114. § 16. E n d e und F o r t l e b e n . Das Ende der geistl. Schauspiele des MA.s läßt sich sehr pauschal (und beinahe tautologisch) mit dem Ende des M A . s bestimmen. Bei genauerer Betrachtung wird im 16. J h . und noch bis in den Anfang des 17. J h . s ein Nebeneinander mal. und neuzeitlichen Dramas sichtbar. Das hängt schon mit der unterschiedlichen Stellung der einzelnen Territorien und Städte zur Reformation zusammen. W o die Reformation sich früh durchsetzte, wurden die mal. geistlichen Spiele rasch vom Reformationsdrama abgelöst. I m katholisch gebliebenen Luzern hielt man bis ins 17. J h . an dem mal. Passionsspiel fest. O b und inwieweit die mal. geistl. Spiele im Schuldrama oder in den Moralitäten des 16., im Jesuitendrama des 17. J h . s im einzelnen Fortwirkungen hatten, ist bisher nicht untersucht worden. Etwas deutlicher sind hingegen schon jetzt-die Zeugnisse für ein Fortleben der Texte in den neuzeitlichen Volksschauspielen erkennbar. So steht für das im Jahre 1634 begründete Oberammergauer Passionsspiel die Abhängigkeit des ältesten Textes vom Augsburger Passionsspiel fest. In neuzeitlichen steirischen und kärntnerischen Spielen sind textliche Spuren der mal. Tiroler Spiele gefunden worden. Hans Rupprich, Die dt. Lit. vom späten MA. bis zum Barock. 1. Das ausgehende MA., Humanismus u. Renaissance. 1370-1520. (1970; de Boor-Newald 4, 1). August Hartmann, Das Oherammergauer Passionsspiel in s. ältesten Gestalt (1880). Willi Flemming, Oberammergau u. d. MA.,in: Volk. Sprache. Dichtung. Festgabe für Kurt Wagner (1960) S. 61-78. Karl Konrad P o l h e i m , Volksschauspiel u. mal. Drama. Am Beispiel d. Passionsspiele aus Tirol, Kärnten u. d. Steiermark, in: Tiroler Volksschauspiel. Beitr. zur Theatergeschichte d. Alpenraumes. Hg. v. Egon Kühebacher (1976; Schriftenreihe d. Südtiroler Kulturinst. 3) S. 201-240. Leopold Schmidt, Das dt. Volksschauspiel. Ein Handbuch (1962). § 17. L o k a l i s i e r u n g s p r o b l e m e . Die Aussagen zu den Datierungsproblemen in § 14

gelten im Prinzip auch für die Fragen der Lokalisierung. Wenn die Hss nicht durch Schreibereinträge lokalisiert sind, was im 15. und 16. J h . nicht einmal so selten ist, muß die Lokalisierung aufgrund der üblichen paläographischen Kriterien vorgenommen werden, wofür im späten M A . allenfalls die Wasserzeichen in Frage kommen. Die Lokalisierung des Spieltextes fällt im allgemeinen mit der Lokalisierung der Hs zusammen, insbesondere dann, wenn Schreiber und Textbearbeiter identisch sind oder der Text eindeutig mit Aufführungszeugnissen verbunden werden kann. Bei den nichtlokalisierten Hss gibt die Sprachform des Textes am ehesten Aufschluß über die geographische Herkunft, wobei allerdings ortsgenaue Festlegungen nicht erreichbar sind. Die Verteilung der überlieferten Texte ohne die kleineren Fragmente und ohne einige unklare Fälle auf die einzelnen Teile des dt. Sprachgebiets ist aus den Listen in §§ 18-22 ersichtlich. Für eine wirkliche Gattungsgeographie müßten in diese Liste auch die Aufführungsnachrichten eingearbeitet werden. Hugo Stopp, 2ur Lokalisierung alter, besonders spätmhd., literar. Texte. WirkWort 14 (1964) S. 105-120. Zu den Aufführungsnachrichten vgl. Bernd Neumann, Zeugnisse mal. Aufführungen (s. o. § 10). § 18. N i e d e r d e u t s c h e S p i e l e . In mnd. Sprachformen sind die folgenden Spiele überliefert, für deren genauere Behandlung auf die entsprechenden Paragraphen in Teil I I I - X I verwiesen wird, wo auch die Editionen und die Einzelliteratur angegeben sind: Trierer Theophilusspiel, Osnabrücker Passionsspielfragment, Osnabrücker Osterspiel, Himmelgartner Passionsspielfragmente, Braunschweiger Simsonspielfragment, Wienhäuser Osterspiel, Wolfenbütteler Theophilusspiel, Wolfenbütteler Osterspiel, Wolfenbütteler Marienklage, Arnold Immessens Spiel vom Sündenfall und von Mariae Geburt, Lüneburger Praelocutorrolle eines Osterspiels, Göttinger Spiel von Jacob und Esau, Bordesholmer Marienklage, Redentiner Osterspiel, Stockholmer Theophilusspiel, Zerbster Fronleichnamsspiel (mnd.omd.). Literatur zu den ndd. Spielen insgesamt: Wolfgang Stammler, Geistliche Spiele im niedersächs. MA. Niederdeutsche Bühne 1 (1921) S. 39-46; wiederabgedr. in: Stammler, Kleine Schriften zur Literaturgeschichte d. MA.s (1953) S. 257-263.

Spiele, Mittelalterliche geistliche L. W o l f f , Das ndd. geistliche Spiel d. Spätmas. WirkWort 6 (1955/56) S. 199-207. § 19. W e s t m i t t e l d e u t s c h e S p i e l e . In w e s t m d . Sprachformen sind die folgenden Spiele überliefert: Kreuzensteiner ribuarisches Passionsspiel, Maastrichter ribuarisches Passionsspiel, Koblenzer Weltgerichtsspielfragment, Der Jesusknabe in der Schule, Trierer Osterspiel, Trierer Marienklage, Marburger Prophetenspielfragment, St. Galler mittelrheinisches Passionsspiel, Frankfurter Dirigierrolle, Berliner rheinisches Osterspiel, Frankfurter Passionsspiel, Friedberger Dirigierrolle, Alsfelder Passionsspiel, Fritzlarer Passionsspielfragment, Heidelberger Passionsspiel, Melker rheinfränkisches Osterspielfragment, Darmstädter Zehnjungfrauenspiel, Hessisches Weihnachtsspiel. § 2 0 . O s t m i t t e l d e u t s c h e S p i e l e . In o s t m d . Sprachformen sind die folgenden Spiele überliefert: Breslauer Osterspielfragment, Berliner thüringisches Osterspielfragment, Berliner Alexiusspiel, Mühlhäuser Zehnjungfrauenspiel, Mühlhäuser Katharinenspiel, Innsbrucker thüringisches Osterspiel, Fronleichnamsspiel, Spiel von Mariae Himmelfahrt und Spiel von der Zerstörung Jerusalems, Coburger Spiel von Frauen Ehre und Schande, Dietrich Schernbergs Spiel von Frau Jutten, Zwickauer Osterspiel I und II, Löbauer Prozessionsordnung eines Fronleichnamsspiels, Kremsmünsterer schlesisches Dorotheenspielfragment, Wiener schlesisches Osterspiel, Gothaer Botenrolle, Lübener Osterspielfragment, Saganer Passionsspielfragment, Aggsbacher Marienklage, Zerbster Fronleichnamsspiel (omd.-mnd.). § 2 1 . W e s t o b e r d e u t s c h e S p i e l e . In westobd. Sprachformen sind die folgenden Spiele überliefert: St. Galler Himmelfahrtsspiel, Mathias Gundelfingen Zurzacher Passionsspiel, Basler Teufelsspielfragment, Amorbacher Spiel von Mariae Himmelfahrt, Regensburger alemannisches Osterspiel, Osterspiel von Muri, Churer Weltgerichtsspiel, St. Galler Weihnachtsspiel, Kopenhagener alemannisches Weltgerichtsspiel, Berner Weltgerichtsspiel, Schaffhauser Weltgerichtsspiel, Walenstädter Weltgerichtsspiel, Freihurger Dreikönigsspiel, Einsiedler Meinradspiel, Luzerner Passionsspiel, Luzerner Weltgerichtsspiel, Luzerner Antichristspiel, Luzerner Heiligkreuzspiel, Wilhelm Stapfers Zuger Heiligkreuzspiel, Johannes Wagners Spiel von St. Mauritzen und St. Ursen, Wiener elsässische Verachtung der Welt, Freihurger Fronleichnamsspiel, Donau-

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eschinger Passionsspiel, Donaueschinger Weltgerichtsspiel, Villinger Passionsspiel, Berliner Spiel vom Sündenfall und von der Erlösung, Feldkircher Osterspiel, Berliner Weltgerichtsspiel, Augsburger Passionsspiel, Augsburger Georgsspiel, Schwäbisches Weihnachtsspiel, Harburger Osterspiel, Sonthofener Passionsspiel, Künzelsauer Fronleichnamsspiel, Rothenburger Kasparrolle. § 22. O s t o b e r d e u t s c h e S p i e l e . In osto b d . Sprachformen sind die folgenden Spiele überliefert: Wiener Passionsspielfragment, Egerer Passionsspiel, Münchner Hortulanusszene, Münchner Osterspiel, Münchner Weltgerichtsspiel, Ingolstädter Fronleichnamsspiel, Lichtenthaler Marienklage, Welser Passionsspiel, Wiener Susannaspiel, Wiener Weltgerichtsspiel, Wiener Passionsspiel von St. Stephan, Wiener Rubinusrolle, Benediktbeurer Passionsspiel, Erlauer Spielhandschrift, Wiener (Kärntner) Passionsspielfragment, Admonter Passionsspiel, Lienzer Osterspielfragment, Donaueschinger südbairisches Magdalenenspielfragment, Tiroler Passionsspiel. Erster Teil, Tiroler Dramatisierung des Johannes-Evangeliums I und II, Tiroler Verkündigungsspiel, Tiroler David- und Goliath-Spiel, Tiroler Himmelfahrtsspiel aus Cafless (Cavalese), Tiroler Osterspiel, Tiroler Pfingstspiel, Tiroler recht daß Christus stirbt, Tiroler Entwürfe zu einem Passionsspiel, Tiroler Marienklage, Tiroler Rollen aus Marienklagen, Tiroler Spiel vom reichen Mann und armen Lazarus, Tiroler Weihnachtsspiel, Augsburger südbairisches Heiligkreuzspiel, Haller Passionsspiel, Steinacher Salvatorrolle, Sterzinger Passionsspiel von 1486 (Pfarrkirchers Passion), Sterzinger Rollenverzeichnis von 1489, Sterzinger Rollenverzeichnis von 1496, Sterzinger Passionsspiel von 1496 und 1503, Sterzinger Passionsspiel der Mischhandschrift (1530-1550), Brixener Passionsspiel, Brixener Emmausspiel, Bozner Spiele des Codex des Benedikt Debs, Bozner Passionsspiel von 1495 (A und B), Bozner Passionsspiel von 1514 (Raber-Passion) Bozner Palmsonntagsspiel, Bozner Passionsspiel von 1514, Bozner Rollenverzeichnis zum Passionsspiel von 1514, Bozner Fronleichnamsspiel von 1543. § 23. Literatursoziologische Asp e k t e . U n t e r literatursoziolog. Aspekt ist zu fragen, in welchen gesellschaftlichen Z u s a m menhängen die geistlichen Schauspiele p r o d u ziert u n d rezipiert w u r d e n . Die Herstellung der Texte und die Organisation und D u r c h f ü h r u n g d e r A u f f ü h r u n g e n lag anfangs w o h l ausschließlich in geistlicher H a n d . Eine geistliche O b e r a u f s i c h t blieb auch erhalten, als die A u f f ü h r u n g e n städtische Angelegenheit gew o r d e n waren. Sie w u r d e n n u n vom Engagement d e r städtischen Bürgerfamilien getragen

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und bedurften der Genehmigung, zum Teil auch der Finanzierung durch den Rat der Stadt. Das Publikum der Aufführungen wurde stets von den Einwohnern der jeweiligen Stadt und des Umlandes gebildet. D e r geistlichen Absicht entsprechend war jeder Gläubige angesprochen. Für die Gattung charakteristisch ist die Aufführung selbst; in der Aufführung vollzog sich das Spiel, agierten die Mitwirkenden, wurde das Publikum belehrt, erbaut, erschüttert und getröstet. Die Oberlieferungsumstände der Texte zeigen - wie in § 3 gesagt deutlich diese Beziehung zur Aufführung; nur in Ausnahmefällen liegt einmal ein Text in einer für Lesepublikum bestimmten Hs vor. Bei der Interpretation der Spiele als literar. Gestaltungen ist daher aus der Uberlieferung erst einmal die Spielgestalt zu rekonstruieren. Die Methoden der Interpretation von Leseoder Rezitationstexten können nicht unbesehen auf die geistlichen Spiele übertragen werden. Literatursoziologische Aspekte werden in den Handbüchern berührt; vgl. § 2. Die städtischbürgerliche Einbettung der Spiele wird am deutlichsten in dem Werk von M. Blakemore Evans, Das Osterspiel von Luzem. E. historisch-krit. Einleitung (1961). - Vgl. ferner M. B. Evans, Beteiligung d. Luzerner Bürger am Passionsspiel. Der Geschichtsfreund 87 (1932) S. 304-335. Rainer H. Schmid, Raum, Zeit u. Publikum d. geistlichen Spiels. Aussage u. Absicht e. mal. Massenmediums (1975). - Vgl. auch P.-G. Völker, Überlegungen zur Geschichte d. geistlichen Spiels im MA., in: Werk, Typ, Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in d. älteren dt. Lit. Hg. v. I. Glier u. a. (1969) S. 252-280. § 24. B e z i e h u n g e n z u a u ß e r d e u t s c h e n S p i e l e n . Geistliche Spiele sind außer im dt. Sprachgebiet auch in Italien, Frankreich, England, den Niederlanden und in Böhmen auf lateinisch und in der Volkssprache überliefert. Daher stellt sich die Frage etwaiger Beziehungen der dt. Spiele zu außerdeutschen Spielen. Eine von M . Wilmotte vertretene Hypothese franz. Herkunft und Beeinflussung der dt. Passionsspiele ist mit Recht als unbegründet abgelehnt worden. Mit neueren Textfunden in Italien stellt sich die Frage etwaiger ital. Einflüsse bei der Entstehung der dt. Passionsspiele, die noch weiterer Untersuchung bedarf. Nachgewiesen sind bisher nur deutsch-niederländ. Beziehungen.

R. Heinzel, Abhandlungen zum altdeutschen Drama (1896) S. 66-72. — Maurice Wilmotte, Les passions allemandes du Rhin dans leur rapport avec l'ancien théâtre français (Bruxelles 1898; Mémoires couronnés de l'Acad. royale de Belgique 35). Besprechungen dazu: N. C. Brooks, in: JGPh. 3 (1901) S. 376-380; E. Martin, in: AnzfdA. 25 (1899) S. 208-209; E. Stengel, in: Zs. f. franz. Spr. u. Litt. 22, 2 (1900) S. 129-131; F. Vogt, in: GGA. 162 (1900) S. 70-79. — Helmut Niedner, Die dt. u. franz. Osterspiele bis zum Ii. Jh. (1932; GermSt 119). W. Foerste, Zur Heimat d. Osnabrücker Osterspiels. NddKbl. 60 (1953) S. 10-11. Ursula Hennig, Die lateinisch-liturgische Grundlage d. tschechischen Marienspiele. ZfdPh. 96 (1977) S. 89-102. Th. Stemmler, Liturgische Feiern u. geistliche Spiele. Studien zu Erscheinungsformen d. Dramatischen im MA. (1970; Buchr. d. Anglia 15). Hardin Craig, English Religious Drama of the Middle Ages (Oxford 1955). D. M. Inguanez, Un dramma de lia passione del secolo XII (2. ed. Montecassino 1939; Miscellanea Cassinese 18). VincenzodeBartholomaeis, Originidellapoesia drammatica Italiana ( 2 . ed. Roma 1952; Nuova Biblioteca Italiana 7). P. Leendertz, Middelnederlandsche dramatische poezie (Groningen [1907]; Bibliotheek van Middelnederlandsche letterkunde). III. P a s s i o n s s p i e l e . § 25. G a t t u n g s d e f i n i t i o n . Die verschiedenen Einzelgattungen der geistlichen Spiele werden nach unterschiedlichen Aspekten benannt. Mit Bezeichnungen wie ,Legendenspiel' und ,WeltgerichtsspieP wird der dargestellte Stoff hervorgehoben; bei den Fronleichnamsspielen ist der Aufführungszusam 1 menhang namengebend. Stoff und Zeitpunkt der Aufführung sind in den Benennungen ,Weihnachtsspiel' und ,Osterspiel' berücksichtigt. Bei den Passionsspielen liegt nur scheinbar eine stoffliche Bezeichnung vor. Die als Passionsspiel benannten Spiele enthalten nicht nur die Darstellung der Passion Jesu; meist gehen Szenen aus dem öffentlichen Leben J e s u , teilweise sogar auch Weihnachtsszenen voraus, und in den meisten Spielen folgen auch Osterszenen. Die Gattungsbezeichnung Passionsspiel liegt daher auf einer anderen begrifflichen Ebene als die Bezeichnungen ,Weihnachtsspiel* und ,Osterspiel'; sie hebt die Passion Jesu als Erlösungstat hervor und berücksichtigt damit den in vielen Spielen ausgedrückten heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Sündenfall und

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Erlösung. Im Hinblick auf den Stoff haben die Gattungsbezeichnungen ,Weihnachts-' und .Osterspiel' ausschließenden Charakter, die Bezeichnung .Passionsspiel' dagegen nicht. Andersartige Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen zwischen .Passionsspiel' und ,Fronleichnamsspiel', da im ,Fronleichnamsspiel' derselbe Inhalt wie im .Passionsspiel' auftreten kann; doch hilft hier der Prozessionscharakter der Aufführung unter Umständen bei der Unterscheidung.

Überlieferung im 15. und 16. J h . zeigt nunmehr deutlich textliche Abhängigkeiten zwischen einzelnen Spielen bis hin zu landschaftlichen Texttraditionen. Die späteren Spiele sind sehr viel umfangreicher als die früheren, weil in ihnen jede Einzelheit im Detail ausgestaltet wird. Besonderen Umfang gewinnen dabei vor allem die Passionsszenen, in denen weit über die biblische Uberlieferung hinaus die Grausamkeit der Peiniger Jesu ausgemalt wird.

Im folgenden werden als , Passionsspiele' alle die Spiele behandelt, die die Passion Jesu darstellen oder in den inhaltlichen Zusammenhang des öffentlichen Lebens Jesu gehören.

Eine Monographie zur Geschichte der Passionsspiele existiert nicht; daher ist insoweit auf die Handbücher zu verweisen. Zur Entstehung der Gattung: K. Young, Observations on the Origin of the Mediaeval Passion-Play. PMLA. 25 (1910) S. 309-354. H. Craig, The Origin of the Passion-Play: Matters of Theory as well as Facts, in: Studies in Honor of A. H. R. Fairchild. The University of Missouri Studies 21 (1946/47) S. 83-90. Zur Entstehung und frühen Geschichte: R. B e r g m a n n , Studien (1972) S. 250-259. — Zu den Spielgruppen des 15. und 16. Jh.s ist die in den folgenden Paragraphen genannte Lit. zu vergleichen.

Zur Definitionsproblematik W. Creizenach, Gesch. d. neueren Dramas, Bd. 1, S. 84f., 119. R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 103. R. Bergmann, Studien, S. 258. § 26. E n t s t e h u n g und G e s c h i c h t e . Mit dem Benediktbeurer Passionsspiel reicht die Gattung bis in die erste Hälfte des 13. J h . s zurück; sie ist die am frühesten in Texten überlieferte Gattung der dt. sprachigen geistlichen Spiele. Wenig später, nämlich in der Mitte des 13. J h . s , zeigen die Himmelgartner Fragmente bereits die Verbindung von Weihnachts- und Leben-Jesu-Szenen. Mit diesen überlieferungsgeschichtlichen Fakten werden alle die Entstehungstheorien der Passionsspiele zu reinen Spekulationen, die von einem allmählichen Anwachsen von Szenen an einen ersten Kern ausgehen; als solcher wurden die Osterszenen, die Marienklagen oder die Magdalenenszenen angesehen. D e r Uberlieferungsbefund des 13. und 14. J h . s zeigt deutlich, daß die ältesten dt.sprachigen Passionsspiele auf der Grundlage von Bibel und Liturgie, Theologie und Legende beruhende, formal und inhaltlich selbständige Gestaltungen des heilsgeschichtlichen Zusammenhangs von Sündenfall und Erlösung sind. Textliche A b hängigkeiten sind nur in wenigen Ausnahmefällen zwischen den frühen Spielen festzustellen. Es gibt daher keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme eines dt. Urspiels der Passionsspiele. Die inhaltliche Vielfalt der Spiele bleibt auch im 15. und 16. J h . erhalten; die formale Vielfalt wird schon im 14. J h . reduziert zu dem für die spätere Zeit beherrschenden T y p mit lat. liturgischen Prosatexten und dt. Reimpaarversen. Die größere Breite der

§ 27. D i e T e x t e d e s 13. u n d 14. J h . s . Das älteste Passionsspiel, in dem die dt. Sprache neben dem Lateinischen verwendet wird, ist das in der Carmina Burana-Iis (München, Bayer. Staatsbibl. clm 4660) überlieferte, nach dem früheren Aufbewahrungsort der Hs benannte Benediktbeurer Passionsspiel. Es zeigt bair. Sprachstand und stammt aus der ersten Hälfte des 13. J h . s ; es enthält Szenen aus dem öffentlichen Leben Jesu und aus der Passion einschließlich der Kreuzigung. D e r Schluß ist unvollständig. D t . und lat. Text zeigen die verschiedenartigsten Reim- und Strophenformen. Die zum Teil in der Vagantenzeile geschriebenen lat. Texte der Magdalenenszene kehren wörtlich in dem nach dem Aufbewahrungsort benannten Wiener Passionsspielfragment wieder (Wien, ö s t e r r . Nat.-Bibl. cod. 12887). Die dt. Texte dieses aus der ersten Hälfte des 14. J h . s stammenden Spiels zeigen bair. Sprachstand, der aber eine westmitteldt. Vorlage erkennen läßt. Das am Ende unvollständige Spiel setzt mit Luzifers Sturz und dem Sündenfall ein und führt über eine Höllenszene und Magdalenenszenen bis zum Abendmahl. In der formalen Vielfalt gleicht es dem Benediktbeurer Passionsspiel, in der stofflichen O r ganisation dem allerdings erheblich breiteren ribuarischen Maastrichter Passionsspiel, das

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nach einem früheren Aufbewahrungsort der heute in Den Haag befindlichen Hs (Koninkl. Bibl., 70 E 5) benannt ist. Es stammt aus dem 14. Jh. und bringt den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von der Erschaffung der Welt, dem Abfall Luzifers und der Vertreibung aus dem Paradies über den Erlösungsbeschluß Gottes bis zur Geburt Jesu und zu seinem Leben und Leiden; doch bricht die Hs nach der ölbergszene ab. Engere Textbeziehungen bestehen mit den ebenfalls ribuarischen Kreuzensteiner Passionsspielfragmenten, die nach dem Auffindungsort der Fragmente (Burg Kreuzenstein bei Korneuburg) benannt sind. Uber den Verbleib ist nichts bekannt. Die aus der Mitte des 14. Jh.s stammenden Fragmente sind am Anfang und Ende sowie im Innern unvollständig; gleichwohl ist die Verbindung von Weihnachtsgeschehen und öffentlichem Leben Jesu deutlich erkennbar. Sie findet sich bereits ein Jh. früher in den südostfälischen Himmelgartner Passionsspielfragmenten , die nach ihrer Herkunft aus dem Kloster Himmelgarten benannt und heute verschollen sind. Ebenfalls nur geringe Bruchstücke haben sich von einem weiteren mittelnd. Passionsspiel in den westfälischen Osnabrücker Passionsspielfragmenten vom Ende des 14. Jh.s erhalten; die Bezeichnung bezieht sich nur auf die Aufbewahrung im Staatsarchiv Osnabrück (Mscr. 24 1 ); trotz ihres geringen Umfangs zeigen die Fragmente die Verbindung von öffentlichem Leben, Passion und Ostergeschehen. Sie begegnet auch in dem einzigen vollständig überlieferten Spiel der frühen Zeit, dem St. Galler mittelrhein. Passionsspiel, das nach dem Aufbewahrungsort (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 919) benannt ist und rheinfränk. Sprachstand zeigt. Es wird in der Gegend von Mainz und Worms lokalisiert und stammt aus dem 14. Jh. Die von Augustinus eingeleiteten und kommentierten Szenen bringen in einer knappen Auswahl die für die Feindschaft der Juden wichtigsten Stationen aus Jesu öffentlichem Leben. Die Darstellung ist in den Mitteln schlicht und noch weit von dem Detailrealismus des 15. Jh.s entfernt. Die Frankfurter Dirigierrolle aus dem Anfang des 14. Jh.s nimmt durch ihre Überlieferung eine Sonderstellung ein. Die in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt aufbewahrte Rolle (Ms. Barth. 178., Ausst. 29) enthält nur die Textanfänge eines durch ein Prophetenspiel eingeleiteten, von

der Taufe bis zur Himmelfahrt Jesu reichenden und durch eine Disputation zwischen Ecclesia und Synagoge abgeschlossenen Passionsspiels, das der Sprache nach in Frankfurt lokalisiert werden kann. Editionen: Benediktbeurer Passionsspiel: Carmina Burana. Mit Benutzung d. Vorarbeiten Wilh. Meyers krit. hg. v. Alfons Hilka u. Otto Schumann. I. Bd.: Text, 3. Die Trink-u. Spielerlieder. — Die geistlichen Dramen. Nachträge hg. v. Otto Schumann u. Bernhard Bischoff (1970), Nr. 16*. — Wiener Passionsspiel: Joseph Haupt, Bruchstück e. Osterspiels aus d. 13. Jh. Archiv für d. Gesch. dt. Sprache u. Dichtung 1 (1874) S. 355-381. R. Froning, Das Drama d. MA.s, S. 305-324. — Maastrichter Passionsspiel: Julius Zacher, Mittelniederländ. Osterspiel. ZfdA. 2 (1842) S. 302-350. H. E. Moltzer, De middelnederlandsche dramatische poezie (1875) S. 496—538. — Kreuzensteiner Passionsspielfragmente-. Kaspar D ö r r , Die Kreuzensteiner Dramenbruchstücke. Untersuchungen über Sprache, Heimat u. Text (1919: Germanist. Abh. 50). — Himmelgartner Passionsspielfragmente: Eduard Sievers, Himmelgartner Bruchstücke. ZfdPh. 21 (1889) S. 393-395. — Osnabrücker Passionsspielfragmente: Ludwig W o l f f , Das Osnabrücker Passionsspiel. Nddjb. 82 (1959) S. 87-98. — St. Galler Passionsspiel: F. J. Mone, Schauspiele d. MA.s, I, S. 72-128. — Emil Wolter, Das St. Galler Spiel vom Lehen Jesu. Untersuchungen u. Text (1912; Germanist. Abh. 41). — Das Mittelrhein. Passionsspiel der St. Galler Handschrift 919. Neu hg. v. Rudolf Schützeichel. Mit Beitr. von Rolf Bergmann, Irmgard Frank, Hugo Stopp u. e. vollst. Faks. (1978). — Frankfurter Dirigierrolle: R. Froning, Das Drama d. MA.s, S. 340-374. — Zu Überlieferung, Lokalisierung und Datierung, Inhalt, Form und Quellen aller Spiele: R. Bergmann, Studien, passim, mit der vorgängigen Literatur. Zur Interpretation aller Spiele: R. Steinbach, Die dt. Oster- und Passionsspiele, S. 104-161, mit weiterer Literatur. Vgl. ferner: W. Fechter, Zum 'Benediktbeurer Passionsspiel'. Mittellat. Jb. 11 (1976) S. 196-200. — Ursula Hennig, Zum Osterteil der 'Frankfurter Dirigierrolle'. PBB (Tüb.) 95 (1973) Sonderheft: Festschrift für Ingeborg Schröbler, S. 289-308. — R. Bergmann, Die Prophetenszene d. 'Frankfurter Dirigierrolle'. ZfdPh. 94 (1975) Sonderheft: Mal. dt. Drama, S. 22-29.

§ 28. D i e h e s s i s c h e S p i e l g r u p p e . In der Tradition der Frankfurter Dirigierrolle (s. § 27) steht eine Gruppe von hess. Passionsspielen des späten 15. und frühen 16. Jh.s, die auch untereinander enge textliche Beziehungen zeigen. Aus Frankfurt selbst ist in einer

Spiele, Mittelalterliche geistliche H s von a. 1493 (Stadtarchiv Barth.-Buch V I , 63) ein Text zu den Aufführungen von a. 1492 und a. 1498 erhalten, der neben einer Prophetenszene das öffentliche Leben Jesu sowie die Passion bis zum Begräbnis Jesu umfaßt. D e r Text stimmt an zahlreichen Stellen wörtlich mit den über anderthalb Jh.e älteren Textanfängen der Dirigierrolle überein. Aus der Stadt Alsfeld ist die zu den Aufführungen von a. 1501 bis a. 1517 verwandte Hs erhalten (Kassel, Landesbibl. Ms. poet. fol. 18); sie zeigt in zahlreichen Änderungen und Zusätzen die mit den Aufführungen verbundene Arbeit am Text. Außerdem sind im Stadtarchiv Alsfeld eine Dirigierrolle, ein Spielerverzeichnis und mehrere Einzelrollen erhalten. Das Spiel reicht vom öffentlichen Leben Jesu über die Passion hinaus bis zu den Osterszenen und der Aussendung der Jünger. Es zeigt den Detailrealismus der späten Zeit in besonderer Deutlichkeit; bekanntes Beispiel dafür ist die genaue Prüfung jeder einzelnen Münze durch Judas beim Verrat. Einen stärkeren Eigencharakter hat das in einer ausgesprochenen Lesehandschrift von a. 1514 (Heidelberg, Univ.-Bibl. Pal. germ. 402) überlieferte Heidelberger Passionsspiel, das vermutlich auf den Text von Mainzer Aufführungen zurückgeht. In den vom Auftreten Johannes des Täufers bis zum Begräbnis Jesu reichenden Text sind zahlreiche alttestamentliche Szenen als Präfigurationen eingefügt, z. B . die Susannaszenen vor die Szene mit der Ehebrecherin, Jonas im Walfisch vor das Begräbnis Jesu usw. Von einem Fritzlarer Passionsspiel haben sich nur zwei aus Buchdeckeln gelöste Fragmente von um a. 1460 erhalten (Fritzlar, Dombibliothek Ms. 125,30). Eine Friedberger Dirigierrolle von um a. 1474 ist verschollen; sie ist nur in Auszügen bekannt. Zusammen mit den zahlreichen Aufführungsnachrichten aus Mainz und Frankfurt, Alsfeld, Friedberg und anderen Orten repräsentieren die erhaltenen Texte und Fragmente eine reiche landschaftliche Spieltradition im hess. Raum. Frankfurter Passionsspielx Edition: R. F r o ning, Das Drama d. MA.s, S. 379-532.-Alsfelder Passionsspiel: Editionen: R. Froning, Das Drama d. MA.s, S. 547-864. C. W. M. Grein, Alsfelder Passionsspiel mit Wörterbuch (1874). Edward Schröder, Kleine Mitteilungen. 'Alsfelder Dirigierrolle', AnzfdA. 18 (1892) S. 299300. Hans Legband, Die 'Alsfelder Dirigier-

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rolle'. Archiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde NF. 3 (1904) S. 393-456. Ernst Wilhelm Zimmermann, Das 'Alsfelder Passionsspiel' u. d. Wetterauer Spielgruppe. Archiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde NF. 6 (1909) S. 1-206. Ed. B e c k e r , Nachlese zum 'Alsfelder Passionsspiel'. Archiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde NF. 7 (1910) S. 484-492. K. Dreimüller, Die Musik d. 'Alsfelder Passionsspiels' (s.o. § 7). Heidelberger Passionsspiel: Edition: Heidelberger Passionsspiel, hg. v. Gustav Milchsack (1880; BiblLitV. 150). Ernst Beutler, Forschungen u. Texte zur frühhumanist. Komödie (1927; Mittlgn. aus d. Hamburger Staats- u. Univ.-Bibl. N.F. d. Mittlgn. aus d. Stadtbibl. in Hamburg 2). — Fritzlarer Passionsspielfragmente: Edition: Karl B r e t h a u e r , Bruchstücke e. hess. Passionsspiels aus Fritzlar. ZfdA. 68 (1931) S. 17-31. - Friedberger Dirigierrolle: Weigand, Friedberger Passionsspiel. ZfdA. 7 (1849) S. 545-556. Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im spätmal. Friedberg. Wetterauer Geschichtsblätter. Beiträge zur Gesch. u. Landeskunde 24 (1975) S. 113131. — Zu den genannten Spielen vgl. außerdem: R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 141-181. B. T h o r a n , Studien zu den österlichen Spielen. P . G . V ö l k e r , Schwierigkeiten bei der Edition geistl. Spiele d. MA.s, in: Kolloquium über Probleme altgermanistischer Editionen. Marbach am Neckar, 26. und 27. April 1966 (1968; Dt. Forschungsgem., Forschungsberichte 13.), S. 160-168. § 2 9 . D a s L u z e r n e r S p i e l . In der Zentralbibl. Luzern befinden sich aus den folgenden Jahren Texthandschriften des in Luzern aufgeführten Passionsspiels: Ms. 167, II: a. 1545, Text des zweiten Tages, geschrieben von Zacharias Bletz; Ms. 171: a. 1571, Text des ersten Tages, geschrieben von Renward Cysat; Ms. 172, I X : a. 1583, Erster Teil des Textes des ersten Tages, geschrieben von Renward Cysat; Ms. 172, VIII: a. 1583, Erster Teil des Textes des ersten Tages, geschrieben von Renward Cysat; Ms. 179, V: a. 1597, Text des zweiten Tages; Mss. 185, I-III: a. 1616, Zweiter Teil des Textes des ersten Tages und Text des zweiten Tages. Insgesamt lassen sich ungeachtet der Variationen bei den einzelnen Aufführungen Inhalt und Aufbau des Spiels deutlich erkennen. Es beginnt mit der Erschaffung des Menschen und dem Sündenfall und führt über Kain und Abel, die Opferung Isaaks, Jakob und Joseph, Moses, David und Goliath zum Beginn des neutestamentlichen Geschehens mit der Verkündigung und Geburt Jesu. Das öffentliche Leben Jesu wird von der Taufe an dargestellt;

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ihm folgen die Passion und Auferstehung und die Erscheinungen Jesu. Die Geschichte des Luzerner Passionsspiels läßt sich aus den sonstigen Quellen, vor allem aus Aufführungsdaten, bis in die Mitte des 15. Jh.s zurückverfolgen. Ab etwa a. 1470 übernahm die Bruderschaft der Dornenkrone die Trägerschaft der Spiele, die wenig später (um a. 1480) zweitägigen Umfang erreichten. Diese Gestalt des Luzerner Spiels ist, wenigstens teilweise, im Donaueschinger Passionsspiel aus dem Ende des 15. Jh.s erhalten. Das nach der Aufbewahrung (Donaueschingen, Fürstl. Fürstenbergische Hofbibl. 137) benannte Spiel stammt vermutlich aus Villingen; es beginnt mit den Magdalenenszenen und stellt das öffentliche Leben Jesu, die Passion, Auferstehung und Höllenfahrt dar. Die besondere Bedeutung des Luzemer Spiels liegt in dem einzigartigen Reichtum an theatergeschichtlichen Quellen, die neben den Spieltexten überliefert sind. Zu jeder Einzelfrage findet sich hier aussagekräftiges Material, zu den Kostümen und Requisiten, der Bühne und ihren Dekorationen, der Rollenverteilung und Regie, der Textbearbeitung, der Finanzierung, städtischen Organisation usw. Das gesamte Material ist nur in Auszügen ediert, in seiner Gesamtheit aber in die Darstellungen von R. Brandstetter und M.B.Evans eingegangen. Das Luzerner Osterspiel. Gestützt auf die Textabschrift von M. Blakemore Evans u. unter Verw. s. Vorarbeiten zu e. krit. Edition nach d. Hss hg. v. Heinz Wyss, Bd. 1-3 (1967; Schriften hg. unter d. Patronat d. Schweizer. Geisteswissenschaft!. Ges. 7). — Aus den zahlreichen Studien von R. Brandstetter und M. B. Evans seien hier nur die wichtigsten zusammenfassenden genannt; weitere Lit. dort und bei R. Steinb a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 254f.: Renward B r a n d s t e t t e r , Die Aufführung e. Luzerner Osterspiels im 16./17. Jb. Der Geschichtsfreund. Mittlgn. d. histor. Ver. d. fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwaiden u. Zug 48 (1893) S. 277-336. M. Blakemore Evans, Das Osterspiel von Luzern. E. histor.-krit. Einleitung (1961; Schweizer Theater-Jahrbuch 27). — Donaueschinger Passionsspiel: Editionen: F. J. Mone, Schauspiele d. MA.s., II, S. 150-350. E. H a r t l , Das Drama d. MA.s. Bd. 4. Das Donaueschinger Passionsspiel. Georg Dinges, Untersuchungen zum 'Donaueschinger Passionsspiel' (1910; Germanist. Abhdlgn 35). R. Steinbach, Die dt. Oster- u. Passionsspiele S. 215-222.

§ 30. Die T i r o l e r S p i e l g r u p p e . Nördlich wie südlich des Brenners ist in Tirol eine besonders bedeutende Passionsspieltradition in zahlreichen Texten und Aufführungsnachrichten faßbar. Sie überragt durch ihren Umfang die übrigen landschaftlichen Textgruppen und läßt die textgeschichtlichen Zusammenhänge besonders gut erkennen. Ihre Bedeutung liegt darüber hinaus auch in der breiten Wirkung in die neuzeitliche Volksschauspieltradition Tirols. Die Haupthandschriften sind in ihren Beziehungen von J. E. Wackerneil erforscht worden. Das Bozner Passionsspiel von a. 1495 ist in den beiden Fassungen A (auch Amerikaner Passion; Hs Ithaca F 6) und B (Hs Bozen, Franziskanerkloster) überliefert, deren gemeinsame Vorlage verloren ist. Von B hängt das Bozner Passionsspiel von 1S14 ab (HS Meran-Zenoburg. Privatbesitz Brakenberg, zwei Teile), zu dem auch zwei Spielerverzeichnisse in einer Sterzinger Handschrift (bei J. E. Wackerneil Nr. 34) erhalten sind. Mit der erschlossenen Vorlage von A und B geht das Sterzinger Passionsspiel von a. 1496 und a. 1503 (Hs Sterzing Nr. II) auf eine ebenfalls erschlossene gemeinsame Vorstufe zurück, die wiederum mit der erschlossenen Vorlage des Sterzinger Passionsspiels von a. 1486 (Hs Sterzing Nr. XVI, Pfarrkirchers Passion) auf eine gemeinsame Vorlage zurückgeführt wird. Ein anderer Zweig der von demselben Ausgangspunkt abzuleitenden Tradition wird durch das Haller Passionsspiel von a. 1514 (Hs Sterzing zu Nr. XI), durch das Sterzinger Passionsspiel der Mischhandschrift von ca. a. 1530-1550 (Hs Sterzing Nr. XIII), durch das Bozner Palmsonntagsspiel von a. 1514 (Hs Sterzing Nr. V) und durch das Bozner Passionsspiel von a. 1514 (Hs Sterzing Nr. III, Raber-Passion) gebildet. Einen eigenen Zweig repräsentiert das Brixener Passionsspiel von a. 1551 (Hs Innsbruck, Landesmuseum B.T.F. 575). Eine bedeutende Rolle als Handschriftensammler und Schreiber wie als Spielleiter spielte der Sterzinger Maler Vigil Raber, der in Bozen und Sterzing Regie führte; von seiner Hand stammen u. a. die oben genannten Sterzinger Hss Nr. III und Nr. V. Raber unterrichtet uns auch über den Bozner Lehrer Benedikt Debs, der ebenfalls Spielhandschriften sammelte und als Schauspieler bei den Bozner Passionsspielen von a. 1495 und a. 1514 mitwirkte.

Inhaltlich unterscheiden sich die Tiroler Passionsspiele von den hessischen und von den Luzerner Spielen durch die strenge Konzentration auf die Vergegenwärtigung des Geschehens am Gründonnerstag (1. Spiel: Von der Beratung der Juden über das Abendmahl bis zur Gefangennahme Jesu), am Karfreitag

Spiele, Mittelalterliche geistliche (2. Spiel: Die Verhöre mit der Dornenkrönung, die Kreuzigung) und am Ostersonntag (3. Spiel: Auferstehung und Höllenfahrt). Das öffentliche Leben Jesu wird nur in dem selteneren Vorspiel dargestellt. Die Geschichte der Tiroler Passionsspiele läßt sich an den Aufführungsnachrichten bis a. 1430 erkennen; die älteste Vorstufe der erhaltenen Texte dürfte im Anfang des 15. Jh.s in Tirol entstanden sein. Die immer wieder behauptete Abhängigkeit des Tiroler Passionsspiels von dem thüring. Osterspiel der aus Neustift bei Brixen stammenden Innsbrucker Hs (Univ.-Bibl. Cod. 960) von a. 1391 existiert nicht; das Tiroler Spiel ist eine eigenständige, wohl Sterzinger Leistung. In der Tradition der Tiroler Passionsspiele steht ein verlorenes Sonthofener Passionsspiel von a. 1574; in steirischkärntischen Volksschauspielen läßt sich bis ins 20. Jh. der Einfluß der mal. Tiroler Spieltradition erkennen. Dagegen hat das steirische Admonter Passionsspiel aus der zweiten Hälfte des 16. Jh.s stärkere Eigenständigkeit, ist aber in vielem noch mittelalterlich geprägt. Die eigentliche Tiroler Passionsspieltradition läßt sich noch nicht abschließend übersehen, da einige zum Passionsgeschehen gehörige Spiele des von Benedikt Debs gesammelten Codex (Sterzing N r . IV) nur auszugsweise mitgeteilt sind (Bozner Abendmahlsspiel, Bozner Grablegungsspiele I und II) und da eine ganze Reihe von Texten aus der ersten Hälfte des 16. Jh.s noch gar nicht ediert ist: Hss Sterzing N r . VIII und XII mit zwei Dramatisierungen des Johannes-Evangeliums, N r . IX mit dem recht, daß Christus stirbt, N r . X mit dem ersten Teil eines Passionsspiels und N r . XI mit verschiedenen Einzelentwürfen zu einem Passionsspiel.

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in: Tiroler Volksschauspiel, S. 194-200. Zur Frage der Abhängigkeit vom Innsbrucker Osterspiel-. Hans Moser, Die Innsbrucker Spielhandschrift in d. geistl. Spieltradition Tirols, in: Tiroler Volksschauspiel, S. 178-189. Barbara T h o r a n , Das Osterspiel d. Innsbrucker Hs Cod. 960 - ein Neustifter Osterspielf in: Tiroler Volksschauspiel, S. 360-379. — Sonthofener Passionsspiel: J.E. W a c k e r n e l l , E. neue Hs d. altd. Passionsspiele in Tirol. AnSpr. 112 (1904) S. 130-133. — Admonter Passionsspiel-. Karl Konrad Polheim, Das Admonter Passionsspiel. I. Textausgabe, Faksimileausgabe (1972). Zum 'recht daß Christus stirbt': M. Blakemore Evans, The Staging of the Donaueschingen Passion Play. MLR. 15 (1920) S. 68. — Bozner Grablegungsspiele I und II jetzt ediert von Gesine T a u b e r t , Zwei Kreuzabnahmespiele aus dem Debs-Kodex. ZfdA. 106 (1977) S. 32-72. Insgesamt zu den Tiroler Passionsspielen vgl. noch: R. Steinbach, Die dt. Oster- «. Passionsspiele, mit weiterer Lit. — Hansjürgen Linke, Ist das Tiroler Schauspiel d. MA.s Volksschauspiel? in: Tiroler Volksschauspiel, S. 88-109. Walther L i p p h a r d t , Musik in den spätmal. Passionsspielen u. Osterspielen von Bozen, Sterzing u. Brixen, in: Tiroler Volksschauspiel, S. 127-166.

§ 31. D i e ü b r i g e n T e x t e . Im folgenden sind die Passionsspiele und Fragmente der späteren Zeit kurz zu besprechen, die außerhalb der dargestellten landschaftlichen und lokalen Traditionen stehen. Aus dem böhmischen Eger stammt das in einer Nürnberger Hs (Germ. Nat.-Mus. 7060) überlieferte Egerer Passionsspiel von um a. 1500. Sein umfangreicher Inhalt erstreckt sich von der Schöpfung über den Sündenfall und eine Reihe weiterer alttestamentl. Szenen bis zu Jesu Geburt, öffentlichem Leben, Passion und Auferstehung. Aus derselben Zeit ist das in München (Bayer. Staatsbibl. cgm 4370) aufbeJoseph Eduard W a c k e r n e l l , Altd. Passions- wahrte Augsburger Passionsspiel überliefert, spiele aus Tirol (1897), mit den grundlegenden das mit der Beratung der Juden gegen Jesus Untersuchungen über die Hss und Editionen nach dem Leithandschriftenprinzip. Vgl. ferner einsetzt und auf die Passion und AufersteJ. E. W a c k e r n e l l , Die ältesten Passionsspiele in hung konzentriert ist. Seine besondere Bedeutung liegt in der Tatsache, daß es im 17. Jh. Tirol (1887; Wiener Beitr. z. dt. u. engl. Philoals Grundlage für den Oberammergauer logie). Adolph P i c h l e r , ÜberdasDramad.MA.s in Tirol (1850). — Bozner Passionsspiel von a. Text gedient hat. Das Villinger Passionsspiel 1495 (= Amerikaner Passion) Edition: H. M. von a. 1599 (Hs Donaueschingen, Fürstl. S c h m i d t - W a r t e n b e r g , E. Tiroler Passionsspiel Fürstenberg. Hofbibl. 138) ist nur noch mitd. MA.s, PMLA. 5 (1890); Bozner Passion von telbar als mittelalterlich anzusehen, da es a. 1514: Norbert Richard W o l f , Die Bozner weitgehend auf dem von der Reformation gePassion von 1514. Die wiedergefundene Hs BH I, prägten Zürcher Passionsspiel Jakob Rufs bein: Tiroler Volksschauspiel (s. o. § 16) S. 380-400; ruht. Zu diesem Spiel gehört vermutlich der Brixener Passionsspiel: Bernd N e u m a n n , Neue Funde zur Brixener Theatergeschichte d. 16. Jh.s, Donaueschinger Bühnenplan, der der Hs des

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Donaueschinger Passionsspiels beilag. Ebenfalls nur n o c h mittelbar d e m M A . zuzurechnen ist das in W i e n aufbewahrte ( ö s t e r r . N a t . - B i b l . Cod. 8227) u n d in W i e n aufgeführte Wiener Passionsspiel von St. Stephan von a. 1685. N u r Teile des üblichen Inhalts zeigt Matthias G u n d e l f i n g e r s Zurzacher Passionsspiel von a. 1494, das z w a r in einer Luzerner H s überliefert ist (Zentralbibl. M s . 177), aber entg e g e n früheren Meinungen nichts mit dem Luzerner Passionsspiel z u tun hat. Lediglich Fragmente aus d e m Ende des 15. Jh.s existieren v o n einem Welser Passionsspiel (Wels, Stadtarchiv), v o n einem Kärntner Passionsspiel (Wien, ö s t e r r . Nat.-Bibl. C o d . 13022) u n d v o n einem schlesischen Saganer Passionsspiel (Breslau, U n i v . - B i b l . I Q 440). Auf ein niederrhein. Passionsspiel in einer verlorenen Berliner H s (Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz M s . germ. quart. 1479) v o n u m a. 1480 verw e i s t eine unklare K a t a l o g - N o t i z ; schließlich ist ein n o c h unediertes Abendmahlsspiel in der Prager H s X X I I I F 128 der U n i v . - B i b l . , 15. J h . , z u nennen. In den K o m p l e x der Passionsspiele lassen sich auch die selbständ i g e n Magdalenenspiele einordnen, die den z u m Teil umfangreichen Szenen v o n Weltleben u n d Bekehrung Maria Magdalenas in d e n Passionsspielen entsprechen. Ein derartiges Spiel ist in der Erlauer Spielhandschrift des 15. Jh.s enthalten (Erlau/Ungarn, Cod. B . V . 6 . ) , der aus G m ü n d in Kärnten stammt. Ebenfalls südbairisch ist das Donaueschinger Magdalenenspielfragment aus der 2. Hälfte des 15. Jh.s (Fürstl. Fürstenberg. H o f b i b l . A III 22). D e n für die Passionsspiele charakteristischen Zusammenhang von Sündenfall u n d Erlösung zeigt auch ein nur in A u s z ü g e n mitgeteiltes schwäbisches Lesedrama des 15. J h . s in einer Berliner H s (Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz M s . germ. quart. 496). Egerer Passionsspiel: Edition: Egerer Fronleichnamsspiel, hg. v. Gustav Milchsack (1881; BiblLitV. 156). Heinrich G r a d l , Dt. Volksauf führungen. Beitr. aus d. Egerlande zur Gesch. d. Spiels u. Theaters. Mittlgn. d. Ver. für Gesch. d. Deutschen in Böhmen 33 (1894/95) S. 121-152,' 217-241, 315-336. — Augsburger Passionsspiel-. Edition: August H a r t m a n n , Das Oherammergauer Passionsspiel in seiner ältesten Gestalt (1880) S. 3-95. R. S t e i n b a c h , Die dt. Osteru. Passionsspiele, S. 205-215. — Villinger Passionsspiel: Antje K n o r r , Villinger Passion. Literarhistor. Einordnung u. erstmal. Herausgahe d. Urtextes u. d. Überarbeitungen (1976; GöppArb-

Germ. 187). B. T h o r a n , Studien zu den österlichen Spielen. Wiener Passionsspiel von St. Stephan: Edition: Albert v. C a m e s i n a , Das Passionsspiel bei St. Stephan in "Wien. Berichte u. Mittlgn. d. Alterthums - Vereines zu Wien 10 (1869) S. 327-348. A. S c h ö n b a c h , Über d. Passionsspiel hei St. Stephan in Wien. ZfdPh. 6 (1875) S. 146-153. Marie C a p r a , Das Spiel der Ausführung Christi bei St. Stephan in Wien. Jb. d. Ges. für Wiener Theaterforschung (1945/46) S. 116-157. — Mathias Gundelfingers Zurzacher Passionsspiel: Edition: Adolf R e i n l e , Mathias Gundelfingers Zurzacher Osterspiel von 1494, 'Luzerner Grablegung'. E. Beitr. z. Abklärung d. Frühgesch. d. Luzerner Osterspiele. Innerschweizer. Jb. für Heimatkunde 13/14 (1949/50) S. 6596. — Welser Passionsspiel: Editionen: Ludwig K a f f , Mal. Oster- u. Passionsspiele aus Oberösterreich im Spiegel musikwissenschaftl. Betrachtung (1956; Schriftenr. d. Inst. f. Landeskunde von Oberösterreich 9). L. K a f f , Das 'Welser Passionsspiel' (1951; Festschrift des Bundesrealgymnasiums Wels) S. 31-50. — Wiener Kärntner Passionsspiel: Editionen: Leopold Zatocil, Bruchstück e. südbair. Osterspiels (1964; Sbornik praci filosoficke fakulty Brnenske university D 11) S. 129-134. Oskar P a u s c h , Das Fragment e. Kärntner Passionsspieles aus d. endenden 15. Jh., in: Neues aus Alt - Villach (1969; Jb. d. Stadtmuseums 6) S. 191-248. — Saganer Passionsspiel: Edition: Joseph K l a p p e r , Das mal. Volksschauspiel in Schlesien. Mittlgn. d. Schles. Ges. für Volkskunde 29 (1928) S. 168-216. — Berliner niederrheinisches Passionsspiel: Bernd Neum a n n , Mal. Schauspiel am Niederrhein. ZfdPh. 94 (1975) Sonderh. Mal. dt. Drama, S. 151, A n m . 23, N r . 6. Erlauer Magdalenenspiel: Edition: Karl Ferd. K u m m e r , Erlauer Spiele. Sechs altdt. Mysterien nach e. Hs d. 15. Jh.s (1882). Alois K o s c h a r , Die Erlauer Spiele. Literatur- und sprachgeschichtl. Beiträge zu d. einzigen aus d. MA. erhaltenen geistl. Spielen Kärntens. Carinthia I 160 (1970) S. 796-824. — Donaueschinger Magdalenenspiel: Edition: Wolfgang I r t e n k a u f u. Hans E g g e r s , Die 'Donaueschinger Marienklage'. Eine neue wohl aus Österreich stammende Quelle für d. Marienklagen u. Magdalenenszenen d. 15. Jh.s. Carinthia I 148 (1958) S. 359-382. — Berliner Spiel vom Sündenfall und von der Erlösung: Johannes B o l t e , Das Spiegelbuch, e. illustriertes Erbauungsbuch d. 15. Jh.s in dramatischer Form. SBAkBln. 1932, 8, S. 144-148.

IV. D i e

Marienklagen.

§ 32. G a t t u n g s d e f i n i t i o n . Innerhalb der Darstellungen der Passion Jesu erfährt die Kreuzigungsszene selbst eine besondere A u s -

Spiele, Mittelalterliche geistliche gestaltung durch die Klage der Mutter Maria. Diese Klage kommt nicht nur innerhalb der Passionsspiele vor, sie begegnet auch in selbständiger Ausgestaltung und Uberlieferung, weshalb sie einer eigenen Behandlung bedarf. Dabei kann es im vorliegenden Zusammenhang nur um szenisch gegliederte, zur Aufführung bestimmte selbständige Marienklagen gehen, nicht um rein lyrische oder epische Formen. In diesem Sinne ist unter Marienklage eine im Zusammenhang der Kreuzigung stehende Szenenfolge zu verstehen, in der die Mutter Maria, auch gemeinsam mit den anderen Marien, die Passion Jesu beklagt und der Jünger Johannes, auch Jesus selbst, sie zu trösten versuchen. Die Handlung umfaßt lediglich den Tod Jesu und die Kreuzabnahme. Gerd Seewald, Die Marienklage im mlat. Schrifttum u. in d. german. Literaturen d. MA.s (Masch.) Diss. Hamburg 1953. Gottfried Weiss, Die dt. Marienklagen. Quellen u. Entwicklung. (Masch.) Diss. Prag 1932. Anton Schönbach, Überd. Marienklagen. (Graz 1874; Festschr. d. k. k. Univ. in Graz zur Jahresfeier am 15. November). Walther Lipphardt, Studien zu den Marienklagen. PBB. 58 (1934) S. 390-444. Gesine T a u bert, Die Marienklagen in der Liturgie des Karfreitags. Art u. Zeitpunkt d. Darbietung. DVLG. 49 (1975) S. 607-627. Hans Fromm, Mariendichtung, in: Reallex. Bd. 2, S. 285-288 mit weiterer Literatur. § 33. E n t s t e h u n g und G e s c h i c h t e . Die dt. Marienklagen wurzeln in lat. Sequenzen des 12. J h . s , vor allem den Sequenzen Planctus ante nescia und Flete fideles animae. Die Sequenz Planaus ante nescia wurde bereits um das J a h r 1200 ins Deutsche übertragen, und seit dieser Zeit ist eine große Zahl verschiedener textlicher Gestaltungen überliefert. Demgegenüber ist die Zahl der eindeutig szenischen Marienklagen gering und ihre chronologische Verteilung als Grundlage einer geschichtl. Darstellung zu schmal. Der Ansatzpunkt der szenischen Ausgestaltung lag in dem Rollenbezug der lyrischen Texte, in denen zunächst Maria die sprechende Person ist; mit der Einführung des Johannes als weiteren Sprechers war bereits ein dialogischer Charakter auch in lyrischen Texten gegeben. Eine besondere Bedeutung gewinnen die Marienklagen für die Geschichte der geistlichen Spiele durch ihre Aufnahme in die Passionsspiele, wobei neben rein monologischen Kla-

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gen auch szenisch ausgestaltete Formen Verwendung finden konnten. D a die Marienklagen in allen Gattungen auftreten, werden sie angemessener insgesamt im Rahmen der Mariendichtung (s. d.) behandelt. § 34. D i e T e x t e . Die sicher szenischen Marienklagen sind alle in Hss des 15. J h . s überliefert. Die aus einem Dialog zwischen Maria und Johannes bestehende Lichtenthaler Marienklage (Hs Karlsruhe, Bad. Landesbibl. Lichtenthai 30) stammt noch aus dem 13. J h . , enthält aber keine Bühnenanweisungen, die auf eine Aufführung deuteten. In den anzuführenden Texten des 15. J h . s treten jeweils mehr Personen auf; das Handlungsgerüst wird mit Bühnenanweisungen angedeutet. Mnd. Sprachform zeigen die Wolfenbütteler und die Bordesholmer Marienklage. Die Wolfenhütte ler Marienklage (Hs Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibl. Heimst. 965, 15. J h . ) läßt außer der Mutter Maria und zwei weiteren Marien Jesus, Johannes sowie auch Petrus, Joseph und Nikodemus als sprechende Personen auftreten und bezieht mit letzterem auch das Begräbnis ein. Die Bordesholmer Marienklage (Hs Kiel, Univ.-Bibl. 53, 4°) von a. 1476 hat eine geringere Rollenzahl (Maria und zwei weitere Marien, Jesus und J o hannes), aber einen größeren Textumfang. Durch die ungewöhnlich detaillierten, auch die Gesten präzise vorschreibenden Bühnenanweisungen ist die Bordesholmer Marienklage eine besonders wichtige Quelle für den darstellerischen Stil der Marienklagen und der geistl. Spiele überhaupt. Aus westmitteldt. Gebiet ist die Trierer Marienklage überliefert (Hs Trier, Stadtbibl. 1973/63, 15. J h . ) . Außer den Kernfiguren Jesus, Maria und Johannes tritt hier nur noch Petrus auf, jedoch keine anderen Frauen. Bühnenanweisungen sichern auch hier den szenischen Charakter. Die ostmitteldt., wohl aus Prag stammende Aggsbacher Marienklage (Hs Wien, ö s t e r r . Nat.-Bibl. Cod. ser. nov. 3867) von um a. 1416 enthält einen Dialog zwischen Maria und Johannes sowie das Begräbnis durch Nikodemus und Joseph. Der obd. Dialektraum ist wie insgesamt so auch bei den Marienklagen am breitesten vertreten, und zwar mit verschiedenen bair. Texten. Eine von B . J . Docen nur unvollständig edierte, jedenfalls szenische Marienklage hat sich in der Münchner H s (Bayer. Staatsbibl. clm

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19614) des 15. Jh.s wiedergefunden. In der aus Kärnten stammenden Erlauer Spielhandschrift des 15. Jh.s ist eine szenische Marienklage mit den Rollen der Maria, zweier weiterer Marien, des Johannes und Jesus überliefert. Die eine, bereits edierte Bozner Marienklage (I) des Debs-Codex (Sterzing, Stadtarchiv N r . IV) zeigt eine wesentlich breitere Ausgestaltung im ganzen; besonders charakteristisch ist hier eine Reihe von Prophetenauftritten mit auf die Passion zielenden Prophezeiungen. Die Bozner Marienklage II des Debs-Codex, eine Tiroler Marienklage in einer Sterzinger Hs von a. 1511 (Sterzing, Stadtarchiv unsigniert, bei J. E. Wackerneil N r . 15) und die Einzelrollen Daniels und Salomos aus einer Tiroler Marienklage (Sterzing, Stadtarchiv N r . XI) von a. 1535 sind noch unediert. Lichtenthaler Marienklage: Editionen: F. J. M o n e , Schauspiele d. MA.s, I, S. 31-37. Philipp W a c k e r n a g e l , Das dt. Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jh.s Bd. 2 (1867) S. 346-347. R. F r o n i n g , Das Drama d. MA.s Bd. 1, S. 251-256. — Wolfenhütteier Marienklage: Otto S c h ö n e m a n n , 'Der Sündenfall' u. 'Marienklage'. Zwei ndd. Schauspiele aus Hss d. Wolfenhüttier Bihl. hg. (1855) S. 129-148. — Bordesholmer Marienklage: hg. u. eingel. von G. K ü h l , in: N d d j b . 24 (1898) S. 1-75, Anhang S. 1-14. Karl M ü l l e n h o f f , Bordesholmer Marienklage. ZfdA. 13 (1867) S. 288-319. Maria Greiner, Die Bordesholmer Marienklage. Hochland 60 (1968) S. 381-384. — Trierer Marienklage: Editionen: Heinrich H o f f m a n n v o n F a l l e r s l e b e n , Fundgruben für Gesch. dt. Sprache u. Lit. Bd. 2 (1837) S. 260-272. Ph. W a c k e r n a g e l , Das dt. Kirchenlied, Bd. 2, S. 347-352. A. G e e r i n g , Die Nibelungenmelodie in d. 'Trierer Marienklagein: Internationale Gesellschaft für Musikwissenschaft. Vierter Kongreß Basel 29. Juni bis 3. Juli 1949. Kongreßbericht (1949) S. 118-121. — Aggsbacher Marienklage: Edition: Hermann M a s c h e k , Eine dt. Marienklage aus d. 15. Jh. PBB. 60 (1936) S. 325-339. — Docens Marienklage: Editionen: Bernhard Josef D o c e n , Beiträge zur Gesch. d. teutschen dramat. Dichtkunst. 1. Mariae Clage. Neuer Literar. Anzeiger 6 (1806) Sp. 82-84. Ph. W a c k e r n a g e l , Das dt. Kirchenlied, Bd. 2, S. 369-371. Karin S c h n e i d e r , Docens Marienklage. ZfdA. 106 (1977) S. 138-145. — Erlauer Marienklage: Edition: K. F. K u m m e r , Erlauer Spiele, S. 147167. — Bozner Marienklage I: Edition: A. P i c h l e r , Über d. Drama d. MA.s in Tirol, S. 115-140. Bozner Marienklage I und II: J. E. W a c k e r n e i l , Altdt: Passionsspiele aus Tirol, S. XIV. — Tiroler Marienklage: J. E. W a c k e r n e l l , Altdt. Passions-

spiele aus Tirol, S. XV. — Tiroler Rollen aus Marienklagen: J. E. W a c k e r n e l l , Altdt. Passionsspiele aus Tirol, S. XIV.

V. D i e F r o n l e i c h n a m s s p i e l e . § 35. G a t t u n g s d e f i n i t i o n . Mit der Bezeichnung Fronleichnamsspiel ist eine eindeutige chronologische Beziehung zum Fronleichnamsfest gegeben; wegen des Charakters dieses Festes kann aber keine gleichmäßige inhaltliche Gestaltung erwartet werden. Diese Spiele lassen sich daher zunächst nur allgemein definieren als Spiele, die am Fronleichnamstag aufgeführt wurden und die eine Beziehung zum Inhalt dieses Festes, dem Abendmahlssakrament, aufweisen. Wie die Geschichte der Fronleichnamsspiele zeigt, gerieten sie unter starken inhaltlichen Einfluß der Passionsspiele, denen sie darum teilweise sehr ähnlich sehen, was zu Schwankungen in den Bezeichnungen geführt hat. Eine klare Abgrenzung der Fronleichnamsspiele von den Passionsspielen erlaubt ihr prozessionaler Charakter, sofern er sicher erkennbar ist. Der Terminus Prozessionsspiel hebt diesen Aufführungsaspekt hervor; er ist aber nicht gleichbedeutend mit Fronleichnamsspiel verwendbar, weil er weitere Spiele einschließt. Wolfgang F. M i c h a e l , Die geistl. Prozessionsspiele in Deutschland (1947; Hesperia 22). Neil C. B r o o k s , Processional Drama and Dramatic Procession in Germany in the Late Middle Ages. J E G P h . 32 (1933) S. 141-171. Oskar S e n g p i e l , Die Bedeutung d. Prozessionen für d. geistl. Spiel d. MA. in Deutschland (1932; Germanist. Abh. 66). — Elizabeth W a i n w r i g h t , Studien z. dt. Prozessionsspiel. Die Tradition d. Fronleichnamsspiele in Künzelsau u. Freiburg u. ihre textliche Entw. (1974; Münchener Beitr. z. Mediävistik u. Ren.-Forschung 16).

§ 36. E n t s t e h u n g und G e s c h i c h t e . Die Entstehung der Fronleichnamsspiele ist datiert durch die allgemeine Einführung des Fronleichnamsfestes durch Papst Urban IV. a. 1264 und durch die allmähliche Durchsetzung der Fronleichnamsprozession in der ersten Hälfte des 14. Jh.s. Die überlieferten Spielhss und Prozessionsordnungen gruppieren sich mit einer Ausnahme, dem Innsbrucker Fronleichnamsspiel von a. 1391, in dem Zeitraum von der zweiten Hälfte des 15. bis zur ersten Hälfte des 16. Jh.s und zum Teil noch darüber hinaus. Der Uberliefe-

Spiele, Mittelalterliche geistliche rungsbefund, der durch Aufführungsnachrichten bestätigt wird, entspricht vermutlich der tatsächlichen Geschichte der Gattung. Das älteste Spiel ist sehr kurz und dogmatisch-lehrhaft auf die Erläuterung des Glaubensbekenntnisses beschränkt. Alle späteren Spiele umfassen jeweils die gesamte Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, wenn auch in unterschiedlicher Vollständigkeit. Damit ergibt sich eine inhaltliche Ubereinstimmung, zum Teil sogar Abhängigkeit von Passionsspielen. Die prozessionalen Aufführungsformen variieren bei den späten Spielen sehr stark; sie stimmen nur in der organisatorischen Verbindung mit den Zünften überein, die nach den jeweiligen Prozessionsordnungen ihre Bilder oder Figuren auszurüsten und vorzuführen hatten. Umstritten ist, ob die Spiele aus den Prozessionen entstanden oder stärker in der Tradition der geistl. Spiele zu sehen sind; letzteres ist wahrscheinlicher. § 37. D i e T e x t e . Das Innsbrucker thüringische Fronleichnamsspiel von a. 1391, benannt nach dem Aufbewahrungsort (Innsbruck, Univ.-Bibl. Cod. 960), enthält keine Handlung, sondern bloße Reden der Apostel und Propheten, am Schluß auch des Papstes, die dogmatischen Charakter besitzen (Erklärung des Glaubensbekenntnisses) und im Rahmen einer Prozession zu denken sind. Diese Szene ist auch noch im Künzelsauer Fronleichnamsspiel von a. 1479 (Hs Schwäbisch-Hall, Bibl. des Hist. Ver. Ms. E 89) erhalten, das in Künzelsau aufgeführt wurde. Das Spiel gibt eine sehr ausführliche Darstellung der gesamten Heilsgeschichte, bei der der Prozessionsspielcharakter nicht aufgehoben wird. Von ihm abhängig ist wohl das Zerhster Fronleichnamsspiel, das in nicht weniger als 15 Hss von a. 1506-1524 im Stadtarchiv Zerbst überliefert ist. Das in einer mnd.-omd. Sprachmischung vorliegende Spiel besteht nur aus stummen Bildern, die der Prozessionsleiter erklärt. Das Bozner Fronleichnamsspiel kann nur in der Prozessionsordnung von a. 1543 (Hs Meran-Zenoburg, Privatbesitz Brakenberg) noch zu den mal. geprägten Spielen gerechnet werden. Von der Tiroler Tradition hängt offenbar das Freiburger Fronleichnamsspiel ab, das in der Zeit von a. 1498 bis a. 1515 entstanden ist. Es liegen zwei Texthss A von a. 1599 und B von

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a. 1604 (Stadtarchiv Freiburg i. Br. H 12 und H 13) vor, sowie ein Rollenblatt der Malerzunft von vor a. 1560, ein Regieblatt aus dem Weihnachtsspiel aus dem ersten Drittel des 16. Jh.s sowie drei Prozessionsordnungen, deren älteste von a. 1515/16 stammt; dazu kommen noch die Aufführungsnachrichten. Auch in diesem Spiel kam die ganze Heilsgeschichte zur Darstellung; die Hs A läßt deutlich verschiedene Bearbeitungsschichten am Text erkennen, in Hs B ist die Passion noch einmal erweitert. Nur noch Prozessionsordnungen sind erhalten aus Ingolstadt (a. 1507), wo die Darstellung der Heilsgeschichte deutlich von einer Fassung der Biblia pauperum geprägt ist, und aus Löbau (a. 1521), wo der Titel der Ordnung auf ein Kreuzfest, ihr Inhalt aber auf Fronleichnam verweist. Von einem Rothenburger Fronleichnamsspiel ist nur die Einzelrolle des Königs Kaspar aus dem Anfang des 15. Jh.s überliefert. Innsbrucker Fronleichnamsspiel: Edition: F. J . M o n e , Altteutsche Schauspiele, S. 145-164. Die Neustifter-Innsbrucker Spielhs von 1391 (Cod. 960 d. Universitätsbibl. Innsbruck). In Abb. hg. v. Eugen T h u r n h e r u. Walter N e u h a u s e r (1975; Litterae 40). Dora F r a n k e, Das Innsbrucker Fronleichnamsspiel. Diss. Marburg 1921. —Künzelsauer Fronleichnamsspiel: hg. v. Peter K. L i e b e n o w (1969; Ausg. dt. Lit. d. 15.-18. Jh.s, Reihe Drama 2). Elizabeth W a i n w r i g h t , Studien z. dt. Prozessionsspiel (1974). — Zerbster Fronleichnamsspiel-. Edition: Willm R e u p k e , Das Zerbster Prozessionsspiel 1507 (1930; Quell, z. dt. Volkskunde 4). — Bozner Fronleichnamsspiel: Edition: Anton D ö r r e r , Tiroler Umgangsspiele. Ordnungen u. Sprechtexte d. Bozner Fronleichnamsspiele u. verwandter Figuralprozessionen vom Ausgang d. MA.s bis zum Abstieg d. Aufgeklärten Absolutismus (1957; Schlern-Schriften 160) S. 193-206. — Freiburger Fronleichnamsspiel: Edition: Ernst M a r t i n , Freiburger Passionsspiele d. 16. Jh.s Zs. d. Ges. f. Beförderung d. Geschichts-, Alterthums- u. Volkskunde von Freiburg 3 (1873/74) S. 1-206. Wolfgang M i c h a e l , Die Anfänge d. Theaters zu Freiburg im Breisgau. Diss. München 1934. Elizabeth W a i n w r i g h t , Studien zum dt. Prozessionsspiel (1974) mit weiteren Angaben. — Prozessionsordnung von Ingolstadt: Edition: Neil C . B r o o k s , An Ingolstadt Corpus Christi Procession and the Biblia Pauperum. J E G P h . 35 (1936) S. 1-16. — Ordnung von Löbau: Edition: Karl P r e u s k e r , Blicke in d. vaterländische Vorzeit. Sitten, Sagen, Bauwerke u. Geräthe, zur Erläuterung d. öffentl. u. d. häusl. Volkslebens im heidnischen Alterthume u. christl. MA. d. sächs. u. angränzenden Lande,

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Spiele, Mittelalterliche geistliche Bd. 1 (1841) S. 96-100. — Rothenburger Kasparrolle: Edition: Elizabeth W a i n w r i g h t , Das Rothenburger Rollenbuch. ZfdPh. 94 (1975) Sonderh.: Mal. dt. Drama, S. 138-147. Vgl. im übrigen die in § 35 genannte Literatur.

VI. D i e W e i h n a c h t s s p i e l e . § 38. G a t t u n g s d e f i n i t i o n . Weihnachtsspiele sind nach Stoff und Aufführungstermin definierbar als in der Weihnachtszeit aufgeführte Darstellungen des Weihnachtsgeschehens. Die zentralen Stoffe sind das Wiegen des Jesuskindes und die Hirten- und Dreikönigsauftritte; zu letzteren können der Kindermord mit Klage der Rachel und die Flucht nach Ägypten gehören. Der Rückkehr aus Ägypten kann die Darstellung im Tempel folgen. Am Anfang begegnen vor den Hirtenszenen im allgemeinen die Verkündigung und davor Prophetenauftritte. Im einzelnen unterscheiden sich die Spiele in der Auswahl aus dem Stoff erheblich. Bei der Erforschung der Weihnachtsspiele sind diejenigen Passionsund Fronleichnamsspiele mit zu berücksichtigen, die Darstellungen aus dem Weihnachtsstoffkreis enthalten. Luise B e r t h o l d , Die Kindelwiegenspiele. PBB. 56 (1932) S. 208-224. W. K o p p e n , Beiträge z. Geschichte d. dt. Weihnachtsspiele (1893). Georg B e n c k e r , Das dt. Weihnachtsspiel. Diss. Greifswald 1933. V. T e u b e r , Die Entwicklung d. Weihnachtsspiele seit d. ältesten Zeiten bis zum 16. Jh. Progr. d. CommunalObergymnasiums in Komotau (1898) S. 3-32; (1898/99) S. 3-22.

§ 39. E n t s t e h u n g und G e s c h i c h t e . Die in den dt. Spielen enthaltenen lat. Textstellen lassen die Grundlage der Spiele deutlich erkennen. Die dt. Spiele sind aus lat. Prophetenspielen und Weihnachtsfeiern entstanden. Seit dem 12. Jh. spätestens gab es lat. Prophetenspiele, die auf eine pseudo-augustinische Predigt Contra Judaeos, Paganos et Avianos zurückgehen. In ihnen werden Propheten in je verschiedener Auswahl aufgerufen, die die Ankunft Jesu vorhersagen. Hirten- und Dreikönigsszenen erscheinen in lat. liturgischen Weihnachtsfeiern schon im 11. Jh. Doch sind nicht alle Szenen der dt. Weihnachtsspiele hieraus ableitbar. Das älteste Zeugnis für dt. Weihnachtsszenen liegt in den Himmelgartner Passions-

spielfragmenten (Mitte des 13. Jh.s) vor, in denen jedenfalls Dreikönigsszenen und die Flucht nach Ägypten erkennbar sind. Der älteste selbständige Weihnachtsspieltext stammt aus dem 14. Jh. (St. Galler Weibnachtsspiel); aus dieser Zeit sind auch weitere Passionsspiele mit Weihnachtsszenen überliefert (Maastrichter und Kreuzensteiner Passionsspiele). Alle übrigen Texte stammen erst aus dem 15. und beginnenden 16. Jh. Eine Geschichte der Gattung existiert bisher nicht; dafür mag die Textgrundlage auch zu schmal sein. In der älteren Forschung sind Abhängigkeiten zwischen den Spielen auf bloße Versanklänge gestützt worden; W. Koppen wollte daraus sogar ein gemeinsames Urspiel der dt. Weihnachtsspiele erschließen, wofür aber alle Grundlagen fehlen. Vgl. § 38; zu den lat. Texten s. K. Y o u n g , The Drama of the Medieval Church. 2 Bde (Oxford 1933. Verbesserter Nachdr. 1962).

§ 40. D i e T e x t e . Das alem. St. Galler Weihnachtsspiel aus dem 14. Jh. ist in einer Sammelhs geistlichen Inhalts (Stiftsbibl. St. Gallen 966) überliefert; das Spiel zeigt formale Merkmale eines Lesetextes. Sein Inhalt erstreckt sich von den Prophetenauftritten über die Vermählung Marias, die Verkündigung, Marias Besuch bei Elisabeth, die Hirten- und Dreikönigsszenen bis zum Kindermord, der Flucht nach Ägypten und der Rachelklage. Von den anderen Spielen ist es charakteristisch durch das Fehlen volkstümlich-komischer Elemente unterschieden. In der aus Kärnten stammenden Erlauer Spielhs des 15. Jh.s sind zwei Weihnachtsspiele überliefert, ein ganz kurzes Krippenspiel (Ludus in cunabilis Christi) mit der Kindelwiegenszene und ein ausführlicheres Dreikönigsspiel (Ludus trium magorum), das von der Verkündigung an die Hirten bis zur Flucht nach Ägypten und dem Kindermord reicht. In dem Hessischen Weihnachtsspiel aus der zweiten Hälfte des 15. Jh.s (Hs Kassel, Landesbibl. Ms. poet. fol. 19) nehmen volkstümlichkomische Elemente breiten Raum ein, so in der Grobheit eines Wirtes bei der Herbergssuche, in der naiven Bitte der anbetenden Hirten um ein gutes Gedeihen aller möglichen Gemüse und besonders im handgreiflichen Streit Josephs mit den Mägden Hillegart und Gutte. Das Spiel enthält die Kindelwiegenszene mit Teilen des Liedes Joseph, lieber

Spiele, Mittelalterliche geistliche neve mein. Dieser Text kommt auch in dem von Vigil Raber geschriebenen Tiroler Weihnachtsspiel in einer Hs von a. 1511 (Sterzing, Stadtarchiv unsign., bei J . E . Wackernell Nr. 4) vor. Das Spiel enthält eine breite Vermählungsszene Marias, Prophetenauftritte, die Verkündigung, die Herbergssuche, die Hirtenszenen und, wiederum in volkstümlicher Prägung, die Versorgung des Kindes. Offenbar unvollständig überliefert ist ein Schwäbisches Weihnachtsspiel in einer Hs der Houghton Library (Harvard Univ., Cambridge/Mass., Ms. Ger. 74) aus dem 15. J h . ; erkennbar sind Prophetenauftritte, Geburt, Hirtenszenen und Flucht nach Ägypten. Der in einer Sammelhs enthaltene Text kann wegen einer Berufung auf Papst Martin V. in die Zeit von a. 1417 bis a. 1431 datiert werden. Aus dem 16. Jh. ist noch der alemann. Text eines Dreikönigs-Prozessionsspiels aus Freiburg in der Schweiz erhalten. St. Galler Weihnachtsspiel: Joseph K l a p p e r , Das 'St. Galler Spiel von der Kindheit Jesu'. Untersuchungen u. Text (1904. Germanist. Abh. 21). — Erlauer Weihnachtsspiele: Edition: K. F. K u m m e r , Erlauer Spiele, S. 5-9, 15-30. Hessisches Weihnachtsspiel-. Karl Wilh. P i d e r i t , Ein Weihnachtsspiel aus e. Hs d. Ii. Jh.s unter Benutzung e. Abschrift derselben von Vilmar u. mit dessen Anm. zum erstenmale hg. (1869). R. F r o n i n g , Das Drama d. MA.s, S. 904-937. Erich R e i n h o l d , Über Sprache u. Heimat d. hess. Weihnachtsspieles. Diss. Marburg 1909. — Tiroler Weihnachtsspiel: Edition: Rudolf J o r d a n , Das 'Sterzinger Weihnachtsspiel' vom Jahre 1311 u. d. 'Hessische Weihnachtsspiel'. 2 Bde (19021903. Jahresber. d. k. k. Staats- Obergymn. in Krumau 29 u. 30). — Schwäbisches Weihnachtsspiel-. Edition: Eckehard S i m o n , Das 'schwäbische Weihnachtsspiel'. E. neu entdecktes Weihnachtsspiel aus der Zeit 1417-1431. ZfdPh. 94 (1975) Sonderh.: Mittelalterliches dt. Drama, S. 30-50. Eckehard S i m o n , Korrekturen u. Nachtr. zum 'schwäbischen Weihnachtsspiel' ZfdPh. 96 (1977) S. 103-105. — Freiburger Dreikönigsspiel: Edition: Peter W a g n e r , Das Dreikönigspiel zu Freiburg in d. Schweiz. Freiburger Geschichtsblätter 10 (1903) S. 77-101. Wolfgang F. M i c h a e l , Die geistlichen Prozessionsspiele in Deutschland (1947; Hesperia 22). Zu dem Lied Joseph lieber neve mein: Franz Viktor S p e c h t l e r , Lied u. Szene im mal. dt. Spiel, in: Tiroler Volksschauspiel, S. 337348.

§ 41. W e i t e r e S p i e l e im W e i h n a c h t s u m k r e i s . In den Umkreis der Weihnachtsspiele gehören Spiele, in denen einzelne Teile

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des Weihnachtsstoffes dargestellt werden. Bei dem sog. Marburger Prophetenspielbruchstück, das nur in einem Druck von a. 1642 erhalten ist, ist die ursprüngliche inhaltliche Erstreckung nicht sicher erkennbar. Das kurze Fragment ist wichtig wegen seines unbestreitbaren Zusammenhangs mit der Erlösung, einem geistlichen Epos aus dem Anfang des 14. Jh.s. Der Sterzinger Debs-Codex (Sterzing, Stadtarchiv Hs IV, 15. Jh.) überliefert ein Bozner Verkündigungsspiel, das in der Hauptsache Prophetenauftritte enthält, und ein Bozner Lichtmeßspiel mit der Darstellung Jesu im Tempel einschließlich der Auftritte Simeons und der Prophetin Anna. Das in der Kirche aufzuführende Spiel ist wegen seiner genauen Bühnenanweisungen wichtig, in denen Haltung und Kleidung der Spieler festgelegt werden. Ein weiteres Tiroler Verkündigungsspiel in einer Hs von a. 1514 (Sterzing, Stadtarchiv unsign., bei J . E. Wackernell Nr. 19) ist noch unediert. Marburger Prophetenspielbruchstück: Editionen: J . C . D i e t e r i c h , Specimen antiquitatum biblicarum (Marpurgi Cattorum 1642) S. 122124. Died. von S t a d e , Specimen Lectionum antiquarum Francicarum Ex Otfridi Monachi Wizanburgensis Libris Euangeliorum atque aliis Ecclesiae Christianae Germanicae veteris monumentis antiquissimis, collectum, cum interpretatione Latina (1708) S. 34. F . H . v o n der H a g e n , Schauspiel von der Geburt Christi, nach Virgils u. Sibyllen Weißagung, Germania H . 7 (1846) S. 348-351. Edward S c h r ö d e r , Zum Erlösungsspiel. AnzfdA. 35 (1912) S. 302-303. R. B e r g m a n n , Studien, S. 168-170. — Bozner Verkündigungsspiel: A. P i c h l e r , Über d. Drama d. MA.s in Tirol, S. 5-6. — Bozner Lichtmeßspiel: Edition: A. P i c h l e r , Über d. Drama d. MA.s in Tirol, S. 99-111. — Tiroler Verkündigungsspiel: J . E . W a c k e r n e l l , Altdt. Passionsspiele aus Tirol, S. X V .

VII. D i e O s t e r s p i e l e . § 42. G a t t u n g s d e f i n i t i o n . Osterspiele sind nach Stoff und Aufführungstermin definierbar als an Ostern aufgeführte Darstellungen des Ostergeschehens. Hauptinhalte sind Auftritte der Marien und der Jünger am leeren Grab, die Auferstehung und Höllenfahrt, die Erscheinungen Jesu. An die Höllenfahrt schließen die Teufelsszenen mit dem erneuten Seelenfang an. Vor und nach der Auferstehung liegen Auftritte der Grabwächter; dem Gang der Marien zum Grab geht der

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Spiele, Mittelalterliche geistliche

Salbenkauf voraus. Der Salbenkrämer kann Mittelpunkt eigener Szenen sein. Die Spiele unterscheiden sich in der jeweiligen Auswahl und Anordnung des Stoffes, doch ist bei vielen ein identischer Grundbestand erkennbar. Das gilt auch für die Osterteile in Passions- und Fronleichnamsspielen, die bei der Erforschung der Osterspiele mit zu berücksichtigen sind. Eine Gesamtdarstellung der Osterspiele existiert nicht. Zahlreiche Arbeiten sind einzelnen Stoffkomplexen oder Darstellungsfragen gewidmet: O t t o S c h ü t t p e l z , Der Wettlauf der Apostel u. d. Erscheinungen d. Peregrinispiels im geistl. Spiel d. MA.s (1930; Germanist. Abh. 63). Karl Konrad P o l h e i m , Petrus oder Johannes? Uber d. Jüngerlauf im europäischen Drama d. MA.s, in: Tiroler Volksschauspiel, S. 241-292. Alfred B ä s c h l i n , Die altdt. Salbenkrämerspiele. Diss. Basel 1929. Karl Wilh. Christian S c h m i d t , Die Darstellung von Christi Höllenfahrt in d. dt. u. d. ihnen verwandten Spielen d. MA.s. Diss. Marburg 1915. Rolf Max K u l l i , Die Ständesatire in den dt. geistl. Schauspielen d. ausg. MA.s (1966; Basler Stud. z. dt. Spr. u. Lit. 31). Anke R o e d e r , Die Gebärde im Drama d. MA.s. Osterfeiem, Osterspiele (1974; M T U . 49). Helmut N i e d n e r , Die dt. u. franz. Osterspiele bis zum 15. Jh. (1932; GermSt. 119). — Vgl. auch die Literatur zu § 43.

§ 43. E n t s t e h u n g und G e s c h i c h t e . Die in den dt. Osterspielen enthaltenen lat. Texte lassen wie bei den dt. Weihnachtsspielen die lat. Grundlage deutlich erkennen. Die in außerordentlicher Breite und in verschiedenen Ausprägungen überlieferten lat. liturgischen Osterfeiem sind in die Volkssprache übertragen worden, wobei wie in allen Spielen die lat. Texte nicht aufgegeben wurden. Für eine größere Gruppe von dt. Osterspielen und Osterteilen von Passionsspielen hat H. Rueff ein westmitteldt. Spiel erschlossen, das auf eine ebenfalls im westlichen Deutschland vermutete lat. Fassung zurückgehen soll. H. Rueffs Ergebnis beruht auf der detaillierten Analyse der einander entsprechenden Verse in den auf der lat. Tradition beruhenden Kernszenen wie der Visitatio sepulchri; die rekonstruierten Reimverhältnisse erlauben jeweils die sprachgeographische Einordnung im Westmitteldeutschen. H. Rueffs Untersuchung ist im einzelnen nicht überprüft worden; eine weithin offenbar unzugängliche Arbeit von B. Schreyer widerlegt oder korrigiert H. Rueff

an keiner Stelle. Doch ist u. a. von H. de Boor darauf hingewiesen worden, daß H. Rueff nicht alle dt. Osterspiele berücksichtigen konnte und daß mit unabhängigen Spielen neben der Tradition des westmitteldt. Urspiels zu rechnen ist. Grundlage einer Geschichte der Osterspiele muß auch hier zunächst die Chronologie der Überlieferung sein, in die die entsprechenden Passionsspielteile einzubeziehen wären. Das älteste dt.sprachige Osterspiel von Muri stammt aus der Mitte des 13. Jh.s. Eine Reihe von Texten und Fragmenten ist aus dem 14. Jh. erhalten: Harburger und Innsbrucker thüringisches Osterspiel, Berliner thüringisches, Breslauer und Lienzer Osterspielfragment, sowie Münchner Hortulanusszene. Wie bei den übrigen Gattungen ist auch bei den Osterspielen der größte Teil der Texte erst aus dem 15. und beginnenden 16. Jh. überliefert, wozu die bekanntesten und bedeutendsten Spiele überhaupt gehören wie z . B . die beiden Osterspiele in der Erlauer Spielhandschrift, das Wiener schlesische Osterspiel, das Redentiner Osterspiel, das Berliner rheinische Osterspiel usw. Hans R u e f f , Das 'Rheinische Osterspiel' d. Berliner Hs Ms. Germ. Fol. 1219. Mit Untersuchungen z. Textgesch. d. dt. Osterspiels (1925; AbhAkGöttingen N F . 18, 1) S. 75-126. Brigitta S c h r e y e r , Die Textgeschichte d. lat.-dt. Osterspiels. (Masch.) Habil.-Schr. Halle 1951; dazu R . B e r g m a n n , Studien, S. 123f., Anm. 1022. Helmut de B o o r , Die lat. Grundlage d. dt. Osterspiele, in: de Boor, Die Textgesch. d. lat. Osterfeiem (1967) S. 329-345. Ursula H e n n i g , Die Klage d. Maria Magdalena in den dt. Osterspielen. ZfdPh. 94 (1975) Sonderh.: Mittelalterliches dt. Drama, S. 108-138.

§ 44. D i e T e x t e des 13. und 14. Jh.s. Am Anfang der Osterspiele und fast am Anfang der geistl. Spiele überhaupt steht ein wegen seiner sprachlichen und dramat. Gestaltung bemerkenswertes Spiel, das in der Kantonsbibliothek Aarau aufbewahrte Osterspiel von Muri (Mitte 13. Jh.). Trotz fragmentarischer Überlieferung ist der Inhalt von der Bestellung der Grabwache über die Auferstehung und Höllenfahrt sowie den Salbenkauf bis zum Gang der Marien zum Grab und der Erscheinung Jesu vor Magdalena sicher erkennbar. Mit seiner Beherrschung von Sprache und Vers, die sich in Reinheit des Reims, geregeltem Versbau und Reim-

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Spiele, Mittelalterliche geistliche b r e c h u n g a u s d r ü c k t , hat das Spiel eine einzigartige Stellung in der ganzen G a t t u n g ,

die

a u c h n o c h d a d u r c h h e r v o r g e h o b e n w i r d , daß m i t d e r v o n H . R u e f f aufgezeigten westmitteld t . T r a d i t i o n k e i n Z u s a m m e n h a n g besteht. B e i d e r I n t e r p r e t a t i o n des Spiels w e r d e n stark die h ö f i s c h e n E l e m e n t e h e r v o r g e h o b e n ; d o c h verd i e n e n die b e s o n d e r e n Ü b e r l i e f e r u n g s u m s t ä n d e , die auf eine ursprüngliche

Soufflierrolle

h i n d e u t e n , m e h r B e a c h t u n g bei der I n t e r p r e t a t i o n . D i e F r a g m e n t e aus d e m 14. J h . lassen v o n d e n u r s p r ü n g l i c h e n Inhalten nur kleine Teile

erkennen,

das

(Breslau,

Univ.-Bibl.

Münchner

Hortulanusszene

Breslauer I. Q

Osterspiel

2 2 6 a) und die ( B a y e r . Staatsbibl.

c g m 5 2 4 9 / 5 8 ) enthalten jeweils die E r s c h e i n u n g J e s u v o r M a g d a l e n a , das Berliner ringische

Osterspielfragment

thü-

(Staatsbibl.

P r e u ß . K u l t u r b e s i t z M s . g e r m . fol. 7 5 7 ) den Salbenkauf. Lienzer

Bei

Fragments

den

wenigen

(Innsbruck,

Versen

des

Landesregie-

r u n g s a r c h i v C o d . 1 2 0 ) ist die Z u g e h ö r i g k e i t zu einem Osterspiel umstritten. D i e Bedeutung d e r F r a g m e n t e liegt v o r allem in der B e z e u g u n g v o n O s t e r s p i e l e n für die verschiedenen L a n d s c h a f t e n ; dazu ist n o c h das Osterspiel

Harburger

zu stellen ( H a r b u r g , F ü r s t l .

ött.-

W a l l e r s t e i n s c h e H o f b i b l . I I . 1. 4° 6 2 ) , das aus F ü s s e n s t a m m e n soll und daher auch als sener

Osterspiel

bezeichnet wird.

Ganz

E n d e des 1 4 . J h . s steht das Innsbrucker ringische

Osterspiel

Füsam thü-

in einer H s v o n a. 1 3 9 1 ,

b e n a n n t n a c h der A u f b e w a h r u n g in I n n s b r u c k ( U n i v . - B i b l . C o d . 9 6 0 ) . In d e m üblichen I n halt v o n der B e s t e l l u n g der G r a b w a c h e bis zu d e n E r s c h e i n u n g e n J e s u n e h m e n hier der Salb e n k a u f u n d die i h m vorausgehenden Salbenkrämerszenen

besonders

breiten

Raum

ein.

D a b e i tut sich R u b i n , der K n e c h t des Salbenk r ä m e r s , d u r c h seine d e r b - z o t i g e A u s d r u c k s w e i s e und d u r c h seine R a u f l u s t v o r den anderen h e r v o r . Das Osterspiel von Muri: Faksimiledruck hg. v. Max W e h r l i (1967). Friedrich R a n k e , Das Osterspiel von Muri, nach d. alten u. neuen Fragmenten hg. (1944). R . F r o n i n g , Das Drama d. MA.s, S. 228-244. E. H a n l , Das Drama d. MA.s. Bd. 2, S. 273-290. Rudolf M e i e r , Das 'Innsbrucker Osterspiel'. Das 'Osterspiel von Muri'. Mhd. u. nhd. (1962) S. 114-155. Eduard H a r t l , Anmerkungen zu mhd. Osterspielen. ZfdPh. 62 (1937) S. 240-243. Friedr. R a n k e , Zum 'Osterspiel von Muri'. ZfdA. 80 (1944) S. 71-82. Werner D a n n e , Die Beziehungen d. 'Osterspiels von Muri' zu d. lat. Osterfeiern u.

-spielen u. zu d. übrigen dt.sprachigen Osterspielen. (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1955; dazu R. B e r g m a n n , Studien, S. 102-104. A. H o l t o r f , Höfische Theologie im 'Osterspiel von Muri', P B B . 97 (Tüb. 1975) S. 339-364. Rolf B e r g m a n n , 2ur Überlieferung d. mal. geistl. Spiele. Festschr. Matthias Zender. Studien zu Volkskultur, Sprache u. Landesgesch. Bd. 2 (1972) S. 900-909, 900f. R. S t e i n b a c h , Die dt. Osteru. Passionsspiele, S. 53-59. — Breslauer Osterspielfragment: Edition: Joseph K l a p p e r , Das mal. Volksschauspiel in Schlesien. Mittlgn. d. Schles. Ges. für Volkskunde 29 (1928) S. 168216. R . S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 16-17. — Münchner Hortulanusszene: Edition: Wilh. M e y e r , Fragmenta Burana (1901; Festschr. z. Feier d. 150jähr. Bestehens d. Königl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Abh. d. philolog.-histor. Kl.) S. 139-144. — R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 1314. — Berliner thüringisches Osterspielfragment: Edition: Wilh. S e e l m a n n , Das Berliner Bruchstück e. Rubinscene. ZfdA. 63 (1926) S. 257-267. R . S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 26-27. — Lienzer Osterspielfragment: Editionen: Ursula H e n n i g , Zu dem sog. Osterspiel-Fragment von Innichen, ZfdA. 101 (1972) S. 358-368. Wolfgang F. M i c h a e l , Zum Innicher Osterspielfragment von 1340. ZfdPh. 87 (1968) S. 387-390. Norbert H ö l z l , Theatergesch. d. östl. Tirol vom MA. bis zur Gegenwart. Bd. 1 (1966), S. 25, Bd. 2 (1967) S. 484f. — Harburger Osterspiel: Edition: Dietrich S c h m i d t k e , Ursula H e n n i g , Walther L i p p h a r d t , 'Füssener Osterspiel' und 'Füssener Marienklage'. PBB. 98 (Tüb. 1976) S. 231-288, 395-423. — Innsbrucker thüringisches Osterspiel: Editionen: F . J . M o n e , AltteutscheSchauspiele, S. 109-144. E. H a r t l , Das Drama d. MA.s Bd. 2, S. 136-189. Rudolf M e i e r , Das 'Innsbrucker Osterspiel'. Das 'Osterspiel von Muri' (1962) S. 4-111. Die NeustifterInnsbrucker Spielhs von 1391 (s. § 37). Rudolf H ö p f n e r , Untersuchungen zu d. 'Innsbrucker', 'Berliner' und 'Wiener Osterspiel' (1913; Germanist. Abh. 45). Eduard H a r t l , Textkritisches zum 'Innsbrucker Osterspiel'. ZfdA. 74 (1937) S. 213-226. R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 60-68.

§ 45. D i e

Texte

des

15. u n d 16. J h . s .

D i e F ü l l e der überlieferten Spiele und F r a g mente

wird

im f o l g e n d e n

in einer

geogra-

phisch u n d c h r o n o l o g i s c h gegliederten Ü b e r sicht

vorgeführt,

aus

der

die

wichtigeren

Spiele j e n a c h ihrer B e d e u t u n g h e r v o r g e h o b e n w e r d e n . A u s d e m A n f a n g des 15. J h . s o d e r n o c h aus d e m E n d e des 14. J h . s stammt als ältestes

mnd.

Osterspiel

das

Fragment

92

Spiele, Mittelalterliche geistliche

eines kurzen, stark liturgisch geprägten Wienhäuser Osterspiels, dessen Hs im Kloster Wienhausen liegt. Besondere Beachtung der Forschung hat mit Recht das Redentiner Osterspiel von a. 1464 gefunden (Karlsruhe, Bad. Landesbibl. Hs K. 369 Autographa A in 4°), das in Lübeck oder Wismar lokalisiert wird. Es enthält in einem ersten Teil Auferstehung, Höllenfahrt und Grabwächterszenen; ein zweiter Teil gleichen Umfangs enthält in der Seelenfangszene der Teufel eine sog. Ständesatire. Sehr viel kürzer ist das Wolfenbütteler Osterspiel aus der Mitte des 15. Jh.s (Wolfenbüttel, Herzog August-Bibl. Heimst. 965), das mit Salbenkauf, Grabbesuch der Marien und Erscheinungen Jesu den üblichen Inhalt zeigt. Etwa derselbe Inhalt kann auch aus einer Lüneburger Praelocutorrolle vom Ende des 15. Jh.s erschlossen werden. Eine eigene Stellung nimmt das in Osnabrück entstandene und aufbewahrte (Bischöfl. Gen.-Vik. Hs Gertrudenberg 1) Osnabrücker Osterspiel aus der ersten Hälfte des 16. Jh.s ein. Durch seine sehr umfangreichen lat. Texte ist es stark liturgisch geprägt und läßt sich mit der sonstigen Osterspieltradition nicht verbinden. Aus dem Westmitteldeutschen stammt das sehr kurze Trierer Osterspiel (Hs Trier, Stadtbibl. Ms. 1973/63), das von manchen noch ins 14. Jh. datiert wird. In den Anfang des 15. Jh.s gehört das in New York (Pierpont Morgan Libr. Ms. 886) aufbewahrte Melker rheinfränkische Osterspielfragment, das nur den allerdings sehr breiten Salbenkrämerauftritt mit Salbenkauf enthält. Als künstlerisch besonders gelungen gilt das Berliner rheinische Osterspiel in einer Hs (Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Ms. germ. fol. 1219) vom Jahre 1460, das in Mainz lokalisiert wird. Im Vergleich mit vielen anderen Spielen fällt hier die geschlossene Gestaltung auf, die die komischen Elemente stark eingeschränkt hat und die geistliche Lehre stärker betont. Das wenig später (a. 1472) aufgezeichnete Wiener schlesische Osterspiel (Wien, österr. Nat.-Bibl. Cod. 3007) enthält demgegenüber derb ausgestaltete Salbenkrämerszenen wie manche anderen Spiele auch. Ein weiterer schlesischer Text, das Lübener Osterspielfragment, befand sich in einer verlorenen Berliner Hs und ist nur durch Auszüge A. Bäschlins bekannt. Die beiden Zwickauer Osterspiele aus dem Anfang des 16. Jh.s (Zwickau, Ratsschulbibl. Cod.

X X X V I . I. 24) zeigen den gerade in dieser späten Zeit nicht seltenen Typ des sehr kurzen, stark liturgisch geprägten Spiels. Darin vergleichen sich ihnen die aus dem alemann. Raum überlieferten Osterspiele des 16. Jh.s, das aus Augsburg stammende Feldkircher Osterspiel (Feldkirch, Klosterbibl. Liturg. 1 retr. m.) und das ebenfalls nach seiner Aufbewahrung benannte Regensburger alemannische Osterspiel (Regensburg, Proskesche Musikbibl.). Der bayer. Raum ist auch in dieser Gattung breit vertreten. Die aus Gmünd in Kärnten stammende Erlauer Spielhandschrift enthält als drittes Spiel ein Osterspiel mit sehr ausgedehnten Salbenkrämerszenen und als fünftes Spiel ein sog. Wächterspiel, in dem die Grabwache breit ausgestaltet ist. Der in Sterzing (Stadtarchiv Hs IV) aufbewahrte Spielcodex des Benedikt Debs enthält drei Bozner Osterspiele, von denen zwei nur in Auszügen mitgeteilt sind; das dritte zeigt den üblichen Inhalt von der Bestellung der Grabwache bis zu den Erscheinungen Jesu, wobei die Ausgestaltung der Gärtnerrolle des Auferstandenen auffällt. Unediert ist ein Tiroler Osterspiel von a. 1520 (Sterzing, Stadtarchiv Hs VII). Von um a. 1520 stammt die Steinacher Salvatorrolle, die zu einem Passionsspiel gehören soll, aber nur Texte aus Osterszenen enthält. Eine andere Einzelrolle ist die Wiener Rubin rolle aus der zweiten Hälfte des 15. Jh.s (Wien, österr. Nat.-Bibl. cod. ser. nov. 3980). Das Münchner Osterspiel (München, Bayer. Staatsbibl. cgm 147) ist am bayer. Herzogshof in München in der ersten Hälfte des 16. Jh.s aufgeführt worden und in einem für die Gattung einmaligen Prachtband überliefert. Schließlich sind noch ein Göttweiger Osterspielfragment und ein Rollenverzeichnis eines Osterspiels aus Bartfeld in der Slowakei zu nennen. Wienhäuser Osterspiel: Edition: Walther L i p p h a r d t , Die 'Visitatio sepulchri' in Zisterzienserinnenklöstern d. Lüneburger Heide. Daphnis 1 (1972) S. 119—128. — Redentiner Osterspiel: Hartmut W i t t k o w s k y , Das 'Redentiner Osterspiel'. Hg. und übers. (1975). Ludwig E t t m ü l l e r , dat spil van der upstandinge (1851; Bibl. d. ges. dt. National-Lit. 31). R. Froning, Das Drama d. MA.s, S. 123-198. Carl Schröder, 'Redentiner Osterspiel'. Nebst Einl. u. Anm. (1893; Ndd. Denkmäler 5). Willy K r o g m a n n , Das 'Redentiner Osterspiel' (De resurrec-

Spiele, Mittelalterliche geistliche tione.) Textausg. (2. Aufl. 1964; Altdt. Quellen 3). Brigitta S c h o t t m a n n , Das 'Redentiner Osterspiel'. Mnd. u. N h d . Übers, u. kommentiert (1975). Ludwig W o l f f , Zu den Teufelsszenen des 'Redentiner Osterspiels'. Gedenkschrift für William Foerste (1970) S. 424-431. Hellmut R o s e n f e l d , Das 'Redentiner Osterspiel' — e. Lübecker Osterspiel! PBB. 74 (1952) S. 485-491. Hansjürgen L i n k e , Die Teufelsszenen d. 'Redentiner Osterspiels'. N d d j b . 90 (1967) S. 89-105. Lothar H u m b u r g , Die Stellung d. 'Redentiner Osterspiels' in d. Tradition d. mal. geistlichen Schauspiels (1966; Fschgn hg. im Auftr. d. Ver. f. ndd. Sprachforschung, N F . B, 6). Achim M a s s e r , Das 'Redentiner Osterspiel' u. d. Totentanz von Lübeck. ZfdPh. 89 (1970) S. 66-74. R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 47-53. Hansjürgen L i n k e , Zu Text u. Textkritik d. Auferstehungsszene im 'Redentiner Osterspiel'. ZfdA. 106 (1977) S. 24-31. Ders. in: AnzfdA. 88 (1977) S. 28-33. — Wolfenbütteler Osterspiel: O t t o S c h ö n e m a n n , Der 'Sündenfall' und 'Marienklage'. Zwei ndd. Schauspiele aus Hss d. Wolfenbüttler Bibl. (1855) S. 149-168. — R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 17-20. — Lüneburger Praelocutorrolle: Edition: Fritz G o e b e l , Praelocutio e. mnd. Osterspiels. N d d j b . 22 (1896) S. 144-146. — Osnabrücker Osterspiel: Hans-Hermann B r e u e r , Das mnd. 'Osnabrücker Osterspiel'. Der Ursprung d. Osterspiels u. d. Prozession. Untersuchungen, Einl. u. Ausg. (1939; Beitr. z. Gesch. u. Kulturgesch. d. Bistums Osnabrück 1). R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 85-90. William F o e r s t e , Zur Heimat d. 'Osnabrücker Osterspiels'. NddKbl. 60 (1953) S. 10-11. Trierer Osterspiel: Editionen: R. F r o n i n g , Das Drama d. MA.s, S. 49-56. E. H a r t l , Das Drama d. MA.s Bd. 2. S. 48-58. — R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 14-17. — Melker rheinfränkisches Osterspielfragment: Edition: Curt F. B ü h l e r , Carl S e l m e r , The Melk Salbenkrämerspiel: An Unpubl. Middle High German Mercator Play. PMLA. 63 (1948) S. 21-63. R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 27-33. F. S v e j k o v s k y , VetulaEpisode im Melker Salbenkrämerspiel. ZfdPh. 87 (1968) S. 1-16. — Berliner rheinisches Osterspiel: Edition: Hans R u e f f , Das rhein. Osterspiel der Berliner Hs Ms. Germ. Fol. 1219 (1925). R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 90-99. Hansjürgen L i n k e , Bauformen geistl. Dramen d. späten MA.s, in: Zeiten u. Formen in Sprache u. Dichtung. Festschr. f . Fritz Tschirch zum 70. Geb. (1972) S. 203-225. — R. H ö p f n e r , Untersuchungen zu dem 'Innsbrucker', 'Berliner' u. 'Wiener Osterspiel' (1913). — Wiener schlesisches Osterspiel: Editionen: R. F r o -

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n i n g , Das Drama d. MA.s, S. 97-102. E. H a r t l , Das Drama d. MA.s Bd. 2, S. 74-119. H . H o f f m a n n v o n F a l l e r s l e b e n , Fundgruben f. Gesch. dt. Spr. u. Litt. Bd. 2 (1837) S. 297-336. R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 68-77. R. H ö p f n e r (s. o.). E. H a r t l , Anmerkungen zum 'Wiener Osterspiel', in: Lebendiges Erbe. Festschr. aus dem Kreise d. Mitarbeiter an der Monumentalsammlung 'Deutsche Literatur' z. 60. Geb. ihres Verlegers Dr. Emst Reclam (1936) S. 20-61. — Lübener Osterspielfragment: Inhaltsangabe bei Alfred B ä s c h l i n , Die altdt. Salbenkrämerspiele, Diss. Basel 1929, S. 58-62. — Zwickauer Osterspiel I und II: Paul S t ö t z n e r , Osterfeiem, hg. nach e. Zwickauer Hs aus d. Anfange d. 16. Jh.s Progr. Zwickau (1901) S. 3-29. R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 20-22. — Feldkircher Osterspiel: Edition: Walther L i p p h a r d t , Ein lat.dt. Osterspiel aus Augsburg (16. Jh.) in d. Bibl. d. Kapuzinerklosters Feldkirch. Jb d. Vorarlberger Landesmuseumsvereins 1972 (1975) S. 14-29. — Regensburger alemannisches Osterspiel: Editionen: Dominikus M e t t e n l e i t e r , Aus d. musikalischen Vergangenheit bayr. Städte. Musikgeschichte d. Stadt Regensburg. Aus Archivalien u. sonstigen Quellen bearb. (1866) S. 246-248. Joseph P o l l , Ein Osterspiel, enth. in e. Prozessionale d. Alten Kapelle in Regensburg. Kirchenmusikal. Jb 34 (1950) S. 35-40. E. H a r t l , Das Regensburger Osterspiel u. s. Beziehungen zum 'Freiburger Fronleichnamsspiel'. ZfdA. 78 (1941) S. 121-132. R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 22-25. Erlauer Osterspiele: Edition: K. F. K u m m e r , Erlauer Spiele, S. 35-89, 125-146. W. S u p p a n , Zur Musik d. 'Erlauer Spiele'. Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 11 (1969) S. 409-421. R. S t e i n b a c h , Die dt. Osteru. Passionsspiele, S. 36-39. Alois K o s c h a r , Die Erlauer Spiele. Carinthia I 160 (1970) S. 796-824. — Bozner Osterspiel I: A. P i c h l e r , Über d. Drama d. MA.s in Tirol. S. 43-49. — Bozner Osterspiel II: A. P i c h l e r , Über d. Drama d. MA.s in Tirol, S. 42-43. — Bozner Osterspiel III: Edition: A. P i c h l e r , Über d. Drama d. MA.s in Tirol, S. 143-168. — R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 80-85. — Tiroler Osterspiel: J. E. W a c k e r n e l l , Altdt. Passionsspiele aus Tirol, S. X, XIV. A. P i c h l e r , Uber d. Drama d. MA.s in Tirol, S. 41 f. — Steinacher Salvatorrolle: Edition: Hanns B a c h m a n n , Ein Bruchstück e. Passionsspieles aus Steinach. Tiroler Heimatblätter 16 (1938) S. 152-157. R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele, S. 184-185. — Wiener Rubinrolle: Edition: Ferdinand M e n c i k u. Edward S c h r ö d e r , Eine Wiener Rubinus-Rolle. ZfdA. 51 (1909) S. 263-273. R. S t e i n b a c h , Die dt. Oster- u. Passionsspiele,

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Spiele, Mittelalterliche geistliche S. 33-35. — Münchner Osterspiel-. Edition: Anton B i r l i n g e r , Ein Spilvon der Urstend Christi. AnSpr. 39 (1866) S. 367-400. — Göttweiger Fragment: Edition: H. Hoffmann von Fall e r s l e b e n , Fundgruben f. Gesch. dt. Spr. u. Litt. Bd. 2 (1837) S. 244. — Bartfelder Rollenverzeichnis-. Edition: Eugen Abel, Das Schauspielwesen zu Bartfeld im Ii. u. 16. Jh. Ungarische Revue 4 (1884) S. 649-675.

§ 46. W e i t e r e S p i e l e im O s t e r u m k r e i s . In den Umkreis der Osterspiele gehören Spiele, in denen einzelne Teile des Osterstoffes dargestellt werden. Uberliefert sind aus dem Tiroler Raum drei Gestaltungen der Emmausszene. Das Bozner Emmausspiel I im Codex des Benedikt Debs (Sterzing, Stadtarchiv H s IV) aus dem 15. J h . zeigt Lucas und Cleophas unterwegs, denen sich der Auferstandene anschließt. Der Einkehr in Emmaus geht ein Streit der Wirte um die Gäste voraus. Nachdem Jesus sich zu erkennen gegeben hat, endet das Spiel mit einer Prügelei des Lucas und des Cleophas mit dem um die Zeche geprellten Wirt. Das unedierte Bozner Emmausspiel II aus derselben Hs hat denselben Inhalt. Das im Brixener Diözesanmuseum aufbewahrte Brixener Emmausspiel von a. 1523 stammt von Vigil Rabers Hand; in Inhalt und Darstellungsweise gleicht es den B o z n e r Spielen. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß ein Emmausspiel auch als Teil des Passionsspiels vorkommt, so in dem Sterzinger Passionsspiel von a. 1486 (Pfarrkirchers Passion). Bozner Emmausspiel I: Edition: Norbert Richard Wolf, Das erste Emmausspiel im Kodex d. Benedikt Debs. Der Schiern 49 (1975) S. 467-473. Ders., Zum Text d. ersten Emmausspiels im Debs-Kodex. Der Schiern 50 (1976) S. 659-662. Bozner Emmausspiel II: A. Pichler, Über d. Drama d. MA.s in Tirol, S. 49-51. — Brixener Emmausspiel-, J . E . Wackerneil, Altdt. Passionsspiele aus Tirol, S. XVII. Edition: Norbert H ö l z l u. Karl Wolfsgruber, Das Emmaus-Spiel aus d. spätmal. Brixen. Der Schiern 42 (1968) S. 151-162. — Emmausspiel im Sterzinger Passionsspiel von a. i486-. Edition: J . E . Wackernell, Altdt. Passionsspiele aus Tirol, S. 473-480. V I I I . § 47. D i e H i m m e l f a h r t s s p i e l e . Die Himmelfahrt Jesu ist in manchen Passionsspielen enthalten, wo sie den Abschluß bilden kann; es sind aber auch drei selbstän-

dige Spiele über diesen Stoff bekannt. Das Bozner Himmelfahrtsspiel im Codex des Benedikt Debs aus dem 15. J h . (Sterzing, Stadtarchiv Hs IV) bietet eine breite handlungsarme Ausgestaltung der Abschiedsreden Jesu von den Jüngern und der Aussendung der Jünger, in die eine Blindenheilung und eine erfolgreiche Fürbitte Marias für einen Sünder eingebettet sind. Der Himmelfahrt folgt die Trennung der Jünger. Diese Szenen werden eingerahmt von Auftritten des Archisynagogus, der am Ende von Petrus bekehrt wird. Ein anderes Tiroler Himmelfahrtsspiel aus Cafless (Cavalese) von a. 1517 ist unediert (Sterzing, Stadtarchiv Hs VI). In einer in St. Gallen (Stiftsbibl. Cod. 1006) aufbewahrten H s von a. 1516-1526 ist ein kürzeres alemann. Himmelfahrtsspiel überliefert, das nur die Erscheinung Jesu vor Maria und den Jüngern, die Bekehrung des ungläubigen Thomas und die Himmelfahrt enthält. Bozner Himmelfahrtsspiel: Edition: Adolf P i c h l e r , Ludus de ascensione domini. E. mal. Schauspiel. Progr. d. k.k. akadem. Staats-Gymnasium zu Innsbruck 3 (1852) S. 3-17. A. Pichler, Über d. Drama d. MA.s in Tirol, S. 51-62. — Tiroler Himmelfahrtsspiel aus Cafless (Cavalese): J. E. W a c k e r n e l l , Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, S. IX, XIV. — St. Galler Himmelfahrtsspiel: Edition: F. J. Mone, Schauspiele d. MA.s. Bd. 1, S. 254-264.

IX. E s c h a t o l o g i s c h e Spiele. § 48. G a t t u n g s d e f i n i t i o n . Unter eschatologischen Spielen werden Spiele verstanden, die vom Ende der Heilsgeschichte handeln. Dabei ist in erster Linie an das Jüngste Gericht zu denken, das in den Weltgerichtsspielen dargestellt wird. Ihr zentraler Inhalt ist im Anschluß an Matth. 25, 31-46 das Gericht Christi über die Gerechten und die Verdammten. Dem Gericht selbst gehen nach mal. Tradition die fünfzehn Zeichen des Jüngsten Gerichts voraus, die von Propheten und Kirchenlehrern verkündet werden. Das im Matthäus-Evangelium (25, 1-13) vorausgehende Gleichnis von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen wird in den Zehnjungfrauenspielen dramatisiert, die die Verdammung der törichten Jungfrauen besonders eingehend darstellen. Über die dem Jüngsten Gericht vorausgehende Zeit bestand eine an verschiedene Stellen des Neuen Testa-

Spiele, Mittelalterliche geistliche ments anknüpfende mal. Tradition vom Antichrist. Seine den Werken Christi nachgebildeten Taten und sein Ende stellen die Antichristspiele dar. § 49. E n t s t e h u n g und G e s c h i c h t e . Zehnjungfrauen-, Antichrist- und Weltgerichtsspiele sind im lat. Bereich früh überliefert bzw. bezeugt. Schon im 12. Jh. entstand der Tegernseer Ludus de Antichristo und das als Sponsusspiel bezeichnete Zehnjungfrauenspiel. A m Ende des 13. Jh.s sind beispielsweise in Cividale Aufführungen von Spielen bezeugt, die auch das Jüngste Gericht umfaßten. Die lat. Texte in den dt. Zehnjungfrauenspielen zeigen deutlich die Beziehung zu der lat. Tradition, die auch für die Weltgerichts- und Antichristspiele aus dem Inhalt erkennbar ist. Die dt. Zehnjungfrauenspiele und die Antichristspiele sind aber schon aufgrund ihrer geringen Zahl nicht in einer Gattungsgeschichte darstellbar. Die Antichristspiele sind darüber hinaus nach Form und Funktion disparat, während die beiden Zehnjungfrauenspiele wenigstens einen deutlichen Textzusammenhang aufweisen. Die Weltgerichtsspiele sind erheblich zahlreicher" und sie stehen auch in einem erkennbaren textgeschichtlichen Zusammenhang. Ihre Uberlieferung setzt aber erst im 15. Jh. ein und konzentriert sich stark auf dessen zweite Hälfte und die erste Hälfte des 16. Jh.s, so daß ihre Entstehung im Dunkeln bleibt. § 50. W e l t g e r i c h t s s p i e l e . Die dt. Weltgerichtsspiele stehen, soweit die ungenügende Editionslage dies überhaupt zuverlässig erkennen läßt, bis auf Ausnahmen alle in einer eng zusammenhängenden, vorwiegend westobd. Texttradition, zu der die entsprechenden Szenen in Fronleichnamsspielen noch zuzurechnen sind. Der Inhalt der Spiele stimmt bis in die Aufgliederung überein: Nach der festen Reihe von meist sechs Propheten und Kirchenlehrern sprechen vier Engel. Nach dem Urteil über die Gerechten und seiner Begründung folgt das Urteil über die Verdammten, deren Bitten alle vergeblich sind. Die von Johannes unterstützte Fürbitte Marias wird von Christus soweit berücksichtigt, wie sich die Sünder vor ihrem Tod an Maria gewandt haben. Die anderen werden den Teufeln überantwortet, die sie in die Hölle führen. Die Apostel loben Christus und gehen mit ihm und den Gerechten in den Himmel.

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Diese Szenenfolge ist mit einer Reihe Abweichungen in folgenden Spielen überliefert: Donaueschinger Weltgerichtsspiel (Donaueschingen, Fürstl. Fürstenberg. Hofbibl. 136), alem., erste Hälfte 15. Jh.; Schaffhauser Weltgerichtsspiel (Zürich, Zentralbibl. Ms. C 216), alem., a. 1467; Berliner Weltgerichtsspiel (Berlin, Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Ms. germ. fol. 722), schwäb., a. 1482; Bemer Weltgerichtsspiel (Bern, Burgerbibl. Hist. Helv. X 50), alem., a. 1495 \ Kopenhagener Weltgerichtsspiel (Kopenhagen, Kgl. Bibl. Ms. Thott 4° 338), alem., 15. Jh.; Münchner Weltgerichtsspiel (München, Bayer. Staatsbibl. cgm 4433), bair., a. 1510; Churer Weltgerichtsspiel (Chur, Staatsarchiv B 1521), alem., a. 1517; Luzemer Weltgerichtsspiel (Fassung £ bei RBrandstetter; Luzern, Zentralbibl. Ms. 169, I), alem., a. 1549; Walenstädter Weltgerichtsspiel (Hs verschollen), alem., 16. Jh. Das kurze Koblenzer Weltgerichtsspielfragment (Koblenz, Staatsarchiv Hs 701/193, mfrk., a. 1453-54) gehörte wohl nicht zu der genannten Tradition. Für ein unediertes Wiener Weltgerichtsspiel (Wien, österr. Nat.-Bibl. cod. 4119, bair., zweite Hälfte 15. Jh.) muß diese Frage offen bleiben. Eine eigene Stellung nimmt die von Zacharias Bletz bearbeitete Fassung des Luzemer Weltgerichtsspiels ein (Fassung E bei R. Brandstetter; Luzern, Zentralbibl. Ms. 169, III, alem., a. 1549), die mit 9000 Versen ein Vielfaches an Umfang erreicht; sie bildet mit dem Luzerner Antichristspiel (Fassung y und 6) zusammen ein zweitägiges Spiel, zu dem auch ein Spielerverzeichnis überliefert ist (Ms. 169, I). Karl R e u s c h e l , Die dt. Weltgerichtsspiele d. MA.s u. d. Reformationszeit (1906; Teutonia 4). Rudolf K l e e , Das mhd. Spiel vom jüngsten Tage. Diss. Marburg 1906, mit e. krit. Edition nach d. damals bekannten Hss. — Zu den einzelnen Spielen: Donaueschinger Weltgerichtsspiel: unediert; vgl. Karl Aug. B a r a c k , Die Hss d. Fürstlich-Fürstenherg. Hofbibl. zu Donaueschingen (1865) S. 135. — Schafßauser Weltgerichtsspiel (früher auch: Rheinauer Jüngster Tag): Edition: F. J . M o n e , Schauspiele d. MA.s, Bd. 1, S. 265304. — Berliner Weltgerichtsspiel: unediert; vgl. Beschr. Verz. d. Miniaturen-Hss d. Preuß. Staatsbibl. zu Berlin. Bd. 5, bearb. v. Hans Wegener, (1928) S. 110-112. — Berner Weltgerichtsspiel: Aus d. Hs d. 15. Jh.s hg. v. Wolfgang S t a m m l e r (1962; TextspMA. 15). Hansjürgen L i n k e , Bauformen geistlicher Dramen d. späten MA.s (s. o. § 45) S. 203-225. — Kopenhagener Weltgerichtsspiel: Kollation bei H. J e l l i n g h a u s , Das Spiel vom Jüngsten Gerichte. ZfdPh. 23 (1891) S. 426436.— Münchner Weltgerichtsspiel: in Auszügen bei August H a r t m a n n , Volksschauspiele. In Bayern u. Österreich-Ungarn gesammelt (1880) S. 412-421. — Churer Weltgerichtsspiel; unediert; Vgl. dazu § 51. — Luzemer Weltgerichtsspiel

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Fassung in Auszügen mitgeteilt von Renward B r a n d s t e t t e r , Die Technik d. Luzemer Heiligenspiele. II. AnSpr. 75 (1886) S. 407-409, 415, 417-418. — Walenstädter Weltgerichtsspiel: Das jüngste Gericht, hg. v. N. Senn v o n B u c h s W e r d e n b e r g (1869). — Koblenzer Weltgerichtsspielfragment: Edition: Berner Weltgerichtsspiel. Aus d. Hs d. 15. Jh.s hg. v. W. S t a m m l e r , S. 4 6 f . — Wiener Weltgerichtsspiel: unedlen; vgl. Hermann M e n h a r d t , Verzeichnis d. altdt. literar. Hss d. Osterr. Nationalhihl. Bd. 2 (1961) S. 1000. — Luzerner Weltgerichtsspiel ¿es Zacharias Bletz (Fassung e): in Auszügen mitgeteilt von R. B r a n d s t e t t e r , in: AnSpr. 75 (1886) S. 405-407, 414-415, 417; Spielerverzeichnis: R. B r a n d s t e t t e r , in: AnSpr. 75 (1886) S. 385-388, 394-395; K. R e u s c h e l , Die dt. Weltgerichtsspiele, S. 321-328.

§ 51. A n t i c h r i s t s p i e l e . Die heterogene Überlieferung von Antichristspielen wird nur durch den Stoff zusammengehalten; in der Form zeigen sie, den ganz verschiedenen Funktionen entsprechend, große Unterschiede. Zwei Spiele sind als Fastnachtsspiele ganz aus dem vorliegenden Zusammenhang auszuscheiden: Des Entcrist Vasnacht und Das Spil von dem herzogen von Burgund. Eine Antichristszene bildet im Churer Weltgerichtsspiel in einmaliger Weise den Schluß des Spiels. Auch im Künzelsauer Fronleichnamsspiel ist eine Antichristszene enthalten, dort allerdings in der zu erwartenden Stellung vor dem Weltgericht. Das einzige umfangreiche geistl. Antichristspiel ist aus Luzern vom Jahre 1549 überliefert. Es handelt sich um die Fassungen ß und y in Ms. 169 III 3 und die Fassung 6 in Ms. 169 II. Dabei ist 6 eine Reinschrift der von Zacharias B l e t z bearbeiteten Fassung y, die mit der Fassung e des Weltgerichtsspiels zusammen der zweitägigen Aufführung vom Jahre 1549 zugrundelag, zu der auch das Spielerverzeichnis gehört. Dieses Spiel enthält zunächst den Aufstieg des Antichrist mit seinen scheinbaren Heilungen und Auferweckungen und der Unterwerfung aller Könige. Den Kampf gegen den Antichrist nehmen dann Elias und Enoch auf, die aber unterliegen; erst der Erzengel Raphael überwindet den Antichrist, der hier ganz als verführter Verführer dargestellt ist, dessen Handlungen vom Teufel gelenkt werden. Georg J e n s c h k e , Untersuchungen zur Stoff geschickte, Form u. Funktion mal. Antichristspiele. Diss. Münster 1971. Klaus A i c h e l e , Das Antichristdrama d. MA.s, d. Reformation

u. Gegenreformation (1974). — Luzemer Antichristspiel von Zacharias Bletz (Edition nach Fassung 6 und y): Karl R e u s c h e l , Die dt. Weltgerichtsspiele, S. 209-320; vgl. auch Renward B r a n d s t e t t e r , in AnSpr. 75 (1886) S. 383-418.

§ 52. Z e h n j u n g f r a u e n s p i e l e . Eine Eisenacher Aufführung eines Zehnjungfrauenspiels im Jahre 1321 ist berühmt geworden, weil sie den ihr beiwohnenden Landgrafen Friedrich so erschütterte, daß er einen Schlaganfall erlitt und zwei Jahre später starb. Mit dieser Aufführung werden die beiden überlieferten Spiele in Zusammenhang gebracht, ohne daß eines von ihnen das Eisenacher Spiel vom Jahre 1321 wäre. Das Mühlhäuser Zehnjungfrauenspiel (Mühlhausen, Stadtarchiv Ms. 60/20) stammt noch aus dem 14. Jh. (3. Viertel) und zeigt thüring. Sprachstand. Das Darmstädter Zehnjungfrauenspiel (Darmstadt, Hessische Landes- u. Hochschulbibl. 3290) ist auf das Jahr 1428 datiert und zeigt oberhess. Sprachstand. Die beiden Spiele stimmen, abgesehen von einer gewissen Tendenz zur Verbreiterung in dem Darmstädter Spiel, weitgehend überein; sie dramatisieren das biblische Gleichnis ohne größere Zusätze. Otto B e c k e r s , Das 'Spiel von den zehn Jungfrauen' u. d. 'Katharinenspiel' unters, u. hg. (1905; Germanist. Abh. 24). — Das Eisenacher Zehnjungfrauenspiel, hg. v. Karin S c h n e i d e r (1964; TextspMA. 17) mit synoptischer Ausgabe beider Spiele.

X. L e g e n d e n s p i e l e und M a r i e n s p i e l e . § 53. M a r i e n h i m m e l f a h r t s s p i e l e . Die mal. Tradition vom Tode und Begräbnis Marias, von ihrer Auferweckung und leiblichen Aufnahme in den Himmel ist beispielsweise in der Legenda aurea faßbar. Beim Tode Marias sind auf ihren Wunsch die Apostel versammelt; ein Plan der Juden, ihren Leichnam zu verbrennen, wird vereitelt, die Juden werden zum christl. Glauben bekehrt. Drei Tage nach dem Begräbnis erscheint Christus, um Maria aufzuerwecken und in den Himmel zu führen. Zwei Dramatisierungen dieses Stoffes sind erhalten. Vom Ende des 13. oder aus dem Anfang des 14. Jh.s stammen die stark zerstörten Fragmente eines alemann. Spiels, das nach seinem Aufbewahrungsort Amorbacher Spiel von Mariae Himmelfahrt heißt (Amorbach, Fürstl. Leiningisches Archiv). Das Spiel steht unter dem Einfluß der alle-

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gorischen Hoheliedexegese und fügt den traditionellen Elementen einen von dort beeinflußten Streit zwischen Synagoge und Ecclesia hinzu. Demgegenüber steht das vollständig erhaltene Innsbrucker Spiel von Mariae Himmelfahrt (Innsbruck, Univ.-Bibl. cod. 960) von a. 1391, das thüring. Sprachstand zeigt, ganz in der Tradition und erscheint streckenweise wie eine einfache Dramatisierung der epischen Darstellung in der Legenda aurea. Aufgrund der in beiden Spielen enthaltenen lat. Gesänge ist aber mit einer liturgischen Grundlage, vielleicht sogar mit lat. Spielen als Quellen zu rechnen.

Wolfenbütteler Theophilusspiel ist in der Hs Heimst. 1203 der Herzog August Bibl. Wolfenbüttel überliefert; nach der Hs-Signatur wird es auch Helmstedter Theophilusspiel genannt. Von einem skandinavischen Schreiber für einen nd. Besteller ist das Stockholmer Theophilusspiel geschrieben (Stockholm, Kgl. Bibl. Mscr. Vitterh. Tysk 29 4°). Bei beiden Hss handelt es sich um Sammelhss mit unterhaltendem und erbaulichem Inhalt. Dagegen ist das Trierer Theophilusspiel in einer für den Aufführungsgebrauch eingerichteten Hs überliefert, die nur dieses Spiel enthält (Trier, Stadtbibl. 1120/128).

Amorbacher Spiel von Mariae Himmelfahrt-. Edition: Rudolf H e y m , Bruchstück e. geistl. Schauspiels von Marien Himmelfahrt. ZfdA. 52 (1910) S. 1-56. — Innsbrucker thüringisches Spiel von Mariae Himmelfahrt-. Edition: F. J . M o n e , Altteutsche Schauspiele, S. 21-89 (bis V. 2513). Die Neustifter-Innsbrucker Spielhs von 1391 (s. § 37). Franz E b b e c k e , Untersuchungen zur Innsbrucker Himmelfahrt Mariae. Diss. Marburg 1929.

Dietrich Schernbergs Spiel von Frau Jutten (1480). Nach d. einzigen Uberlieferung im Druck d. Hieronimus Tilesius (Eisleben 1565), hg. v. Edward S c h r ö d e r (1911; Kl. Texte f. theolog. u. philolog. Vöries, u. Übungen 67). Dietrich S c h e r n b e r g , Ein schoen spiel von frau Jutten. Nach d. Eislebener Druck von 1565, hg. v. Manfred L e m m e r (1971; TextspMA. 24). Hansjürgen L i n k e , Bauformen geistl. Dramen d. späten MA.s (s. o. § 45) S. 203-225. — Theophilus. Mnd. Drama in drei Fassungen, hg. v. Robert P e t s c h (1908; GermBibl. II, 2). Karl P l e n z a t , Die Theophiluslegende in d. Dichtungen d. MA.s (1926; GermSt. 43). Elke U k e n a , Die dt. Mirakelspiele d. Spätmittelalters. Studien u. Texte (1975; EuroHS. I, 115) S. 150-222.

§ 54. M a r i e n l e g e n d e n s p i e l e . Zwei Marienlegenden, in denen reuige Sünder, die durch einen Pakt mit dem Teufel besondere Schuld auf sich geladen haben, durch Marias Fürbitte Gnade erlangen, sind in Spielen dramatisiert worden. Die eine Legende handelt von einer im Spiel Jutta genannten Frau, die sich durch die Hilfe des Teufels zum Kleriker, Kardinal und schließlich zum Papst machen läßt, die andere von dem vicedominus Theophilus, der nach Ablehnung der ihm angebotenen Bischofswürde von dem neuen Bischof seines Amtes enthoben wird und mit Hilfe des Teufels seine Wiedereinsetzung erreicht. Vor der ewigen Verdammnis bewahrt diese Sünder die durch Reue erlangte Fürbitte Marias. Das Spiel von Frau Jutten verfaßte Dietrich S c h e r n b e r g um a. 1480 in Mühlhausen in Thüringen. Seine Uberlieferung verdankt es dem protestant. Pfarrer Hieronimus Tilesius, der den Inhalt des Spiels als historisch ansah und den Text in polemischer Absicht a. 1565 in einem Eislebener Druck veröffentlichte. Immerhin ist dadurch ein besonders durch seinen dramat. Aufbau bemerkenswertes Stück erhalten geblieben. Die Theophiluslegende ist in drei mnd. Spielen aus dem 15. Jh. dargestellt, die untereinander eng zusammengehören, ohne daß man sie als Abschriften eines Spiels ansehen könnte. Das

§ 55. H e i l i g e n l e g e n d e n s p i e l e . Unter dem Begriff Heiligenlegendenspiele werden Spiele zusammengefaßt, die ganz verschiedene Stoffe aus Heiligenlegenden darstellen. Das thüring. Mühlhäuser Katharinenspiel, überliefert in Ms. 60/20 des Stadtarchivs Mühlhausen aus dem dritten Viertel des 14. Jh.s, enthält eine Dramatisierung der Märtyrerlegende der heiligen Katharina von Alexandrien, die stofflich eng an die Legendentradition anschließt. Ein weiteres Märtyrerspiel ist nur teilweise erhalten in dem Kremsmünster er schlesischen Dorotheenspielfragment (Kremsmünster, Stiftsbibl. C C 81) aus der Mitte des 14. Jh.s, in dem ebenfalls enger Anschluß an die Legende zu beobachten ist. Einen anderen Typ des Heiligenlegendenspiels repräsentiert das Augsburger Georgsspiel, das die Rettung der heidnischen Königstochter Elia von Libia vor einem Drachen und die Bekehrung ihres ganzen Volkes durch den heiligen Georg darstellt. Das Spiel ist in der Hs Augsburg, Stadtbibl. 4° Cod. 27 vom Ende des 15. Jh.s überliefert und zeigt ostschwäb. Sprachstand.

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Von einem Berliner thüringischen Alexiusspiel (Berlin, Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Ms. germ. fol. 1219) von a. 1460 ist nur der Anfang erhalten; das mitüberlieferte Rollen Verzeichnis erlaubt die Bestimmung als Dramatisierung der Alexiuslegende. Das Einsiedler Meinradspiel des Felix B ü c h s e r stammt erst aus nachreformatorischer Zeit (a. 1576), ist aber noch in manchem dem mal. Heiligenlegendenspiel zuzurechnen (Uberlieferung: Einsiedeln, Stiftsbibl. cod. 1228). Unediert und daher weitgehend unbekannt ist das in Solothurner Hss (Zentralbibl. S I 81, 101, 120) überlieferte St. Mauritzenund St. Ursen-Spiel Johannes Wagners von a. 1581. Mühlhäuser Katharinenspiel: Edition: Otto B e c k e r s , Das 'Spiel von den zehn Jungfrauen' und das 'Katharinenspiel' (1905; Germanist. Abh. 24) S. 125-157. — Siegfried S u d h o f , Die Legende d. hl. Katharina von Alexandrien (Masch.) Diss. Tübingen 1951. —Kremsmünsterer Dorotheenspielfragment: Edition: Elke U k e n a , Die dt. Mirakelspiele, S. 315-357. Heinrich S c h a c h n e r , Das Dorotheaspiel. ZfdPh. 35 (1903) S. 157-196. Lotte B u s s e , Die Legende d. heiligen Dorothea im dt. MA. Diss. Greifswald 1930. — Augsburger Georgsspiel: Edition: Elke U k e n a , Die dt. Mirakelspiele, S. 361-451. — Berliner Alexiusspiel: Edition: Hans R u e f f , Das rhein. Osterspiel d. Berliner Hs Ms. germ. fol. 1219 (1925) S. 208-216. — Einsiedler Meinradsspiel: Edition: Gall M o r e l , Ein geistl. Spiel von S. Meinrads Lehen u. Sterben. Aus d. einzigen Einsiedler Hs hg. (1863; BiblLitV. 69). P. Rafael H ä n e , Das Einsiedler Meinradspiel von 1576 (1930). — Johannes Wagners St. Mauritzen- und St. Ursen-Spiel: Jakob B ä c h t o l d , Gesch. d. Dt. Lit. in d. Schweiz (1892) S. 384 f. u. Anm. S. 105f. Heinrich B i e r m a n n , Die dt.sprachigen Legendenspiele d. späten MA.s u. d. frühen Neuzeit. Diss. Köln 1975.

§ 56. R e l i q u i e n l e g e n d e n s p i e l e : H e i l i g k r e u z s p i e l e . Die Geschichte des Kreuzes Christi wird in der mal. Legende vom Beginn der Heilsgeschichte an dargestellt. Adams Sohn Seth hat einen von einem Engel empfangenen Zweig eingepflanzt. Den daraus gewachsenen Baum hat König Salomo fällen lassen, konnte ihn aber nicht zum Bau verwenden. Die Königin von Saba hat das Holz als Kreuzesholz vorauserkannt und verehrt. Es lag im Teich Bethsaida verborgen und bewirkte dessen Heilkraft. Nach Christi Tod vergruben es die Juden. Nachdem Konstantin im Zeichen des Kreuzes über Maxentius gesiegt hatte, erforschte seine Mutter Helena

in Jerusalem von einem Juden namens Judas das Versteck des Kreuzes. Judas wurde Christ und erlitt als Bischof Quiriacus von Jerusalem unter Julian das Martyrium. Fast dreihundert Jahre später raubte der Perserkönig Cosdras das Kreuz aus Jerusalem; der Kaiser Eraclius führte es wieder nach Jerusalem zurück.

Die drei überlieferten Heiligkreuzspiele treffen eine jeweils unterschiedliche Auswahl aus dem Legendenstoff. Das der Sprache nach aus Tirol stammende Augshurger Heiligkreuzspiel aus dem Ende des 15. Jh.s (Hs Augsburg, Stadtbibl. 4° Cod. H 27) enthält im ersten Teil den Kampf zwischen Konstantin und Maxentius und die Kreuzauffindung durch Helena, im zweiten Teil die sog. Kreuzerhöhung durch Eraclius. Das von Renward C y s a t bearbeitete Luzerner Heiligkreuzspiel von a. 1575 (Luzern, Zentralbibl. Ms. 173), zu dem auch Spielerverzeichnisse und weiteres Regiematerial erhalten sind, ist ein Kreuzauffindungsspiel, das von der Vergrabung des Kreuzes bis zu seiner Auffindung reichen sollte, dessen Text aber nur zur Hälfte erhalten ist. Wilhelm S t a p f e r s a. 1598 in Zug aufgeführtes Heiligkreuzspiel, das in einer Hs von a. 1614 überliefert ist (Aarau, Kantonsbibl. Ms. Z 18 q), enthält als einziges die gesamte Kreuzlegende. Augshurger Heiligkreuzspiel: Edition: Elke U k e n a , Die dt. Mirakelspiele, S. 455—559. — Luzerner Heiligkreuzspiel: Edition: ebd., S. 563-771. — Zuger Heiligkreuzspiel: Edition: ebd., S. 775-954. Heinrich B i e r m a n n (s. o. § 55).

XI. S o n s t i g e S p i e l e . § 57. A l t t e s t a m e n t l i c h e Spiele. Als alttestamentl. Spiele werden hier nach dem behandelten Stoff einige Spiele und Fragmente zusammengefaßt. Am bedeutendsten ist das aufgrund eines Akrostichons einem Arnold I m m e s s e n zugeschriebene Spiel, das wenig zutreffend Spiel vom Sündenfall benannt worden ist. Das in der Hs Wolfenbüttel, Herzog August-Bibl. Heimst. 759 (um 1500) überlieferte mnd. Spiel stellt den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von der Schöpfung und dem Sündenfall bis zum Beschluß der Erlösung dar, zu deren Vorbereitung die Jungfrau Maria geboren wird. Beratungen der Propheten mit Salomo nehmen breiten Raum ein. Das Spiel ist aufgrund seines gedanklichen Zusammenhangs mit den

Spiele, Mittelalterliche geistliche Passions- und Fronleichnamsspielen zu vergleichen, auf deren alttestamentl. Szenen an dieser Stelle hingewiesen sei, bleibt aber praktisch auf das A T . beschränkt. In einer bair. Sammelhs vom Ende des 15. Jh.s (Wien, ö s t e r r . Nat.-Bibl. 3027) ist ein Wiener Susannaspiel überliefert, in dem die Verleumdung und Rehabilitierung Susannas dramatisiert ist. Zwei kurze mnd. Fragmente sind als Darstellungen alttestamentl. Stoffe identifiziert; ein größerer Zusammenhang ist in beiden Fällen nicht erkennbar: Das Göttinger Fragment eines Spiels von Jacob und Esau (Göttingen, Univ.-Bibl. Dipl. App. 10 E Mappe X V I N r . 30) stammt noch vom Ende des 14. oder vom Anfang des 15. Jh.s, das Braunschweiger Simsonspielfragment (Braunschweig, Stadtarchiv) aus dem 15. J h . Un-

ediert ist ein Tiroler David- und Goliath -

Spiel (Sterzing, Stadtarch. unsign., bei J . E . Wackernell N r . 20) vom Jahre 1515. Arnold Immessens Spiel vom Sündenfall: Editionen: Otto Schönemann, 'Der Sündenfall' u. 'Marienklage'. Zwei nd. Schauspiele aus Hss d. Wolfenbüttler Bibl. (1855) S. 1-126. Friedrich Krage, Arnold Immessen. 'Der Sündenfall' (1913; GermBibl. II, 8). Ludwig Wolff, Arnold Immessen. Bedeutung u. Stellung s. Werks in d. Gesch. d. geistl. Spiele (1964). — Wiener Susannaspiel: Editionen: Adelbert von K e l l e r , Fastnachtspiele aus d. 15. Jh. Nachlese (1858; BiblLitV. 46) S. 231-245. Karl Schröder, Susanna. Germania-Pf. 22 (1877) S. 342-351. — Göttinger Spiel von Jacob und Esau: Edition: Karl Meyer, Nd. Schauspiel von Jacob u. Esau. ZfdA. 39 (1895) S. 423-426. —Braunschweiger Simsonspielfragment-. Edition: Hänselmann und C. Walther, Fragment e. Dramas von Simson. Nddjb. 6 (1880) S. 137-144. — Tiroler David- und Goliath-Spiel: J. E. Wackernell, Alt dt. Passionsspiele aus Tirol, S. XV. § 58. M o r a l i t ä t e n . Unter Moralitäten werden Spiele verstanden, in denen Personifikationen von Abstrakta als Figuren auftreten sowie in weiterem Sinne allegorische Spiele überhaupt. Aus dem dt. Sprachgebiet sind nur wenige noch dem M A . zuzurechnende derartige Spiele überliefert, die alle unediert sind; ihre Bestimmung bleibt daher teilweise unsicher. In einer Coburger Hs (Landesbibl. Ms. Cas. 43) von a. 1448 ist ein wohl thü-

ringisches Spiel von Frauen Ehre und Schande überliefert. Eine Wiener H s ( ö s t e r r . Nat.Bibl. 3 0 0 9 ) von a. 1437 enthält ein elsäss.

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Spiel von der Verachtung der Welt. Schließlich ist in der Tiroler Überlieferung ein

Spiel

vom reichen Mann und armen Lazarus von

a. 1539 enthalten (Sterzing, Stadtarchiv unsign., bei J . E . Wackernell N r . 29). Coburger Spiel: Franz Georg Kaltwasser, Die Hss d. Bibl. d. Gymnasium Casimirianum u. d. Scheres-Zieritz-Bibl. (1960; Kataloge d. Landesbibl. Coburg 3) S. 109. — Wiener Spiel: Hermann Menhardt, Verz. d. altdt. literar. Hss d. Osten. Nationalbibl. Bd. 2 (1961) S. 766. — Tiroler Spiel: J. E. Wackernell, Altdt. Passionsspiele aus Tirol, S. XV. § 59. S o n s t i g e . Einige Spiele lassen sich keiner der bisher behandelten Gattungen zuordnen; sie sollen der Vollständigkeit halber hier genannt werden. Die Zerstörung Jerusalems durch die R ö m e r wird in zwei Spielen

behandelt. Das Innsbrucker thüringische Spiel von der Zerstörung Jerusalems, in der Hs

Innsbruck, Univ.-Bibl. 960 von a. 1391 überliefert, handelt von der Bekehrung und Taufe eines Heidenkönigs durch die Apostel und von den Vorbereitungen zum Krieg gegen die Juden; es bricht bei der Belagerung Jerusalems ab. Von einem anderen, ebenfalls thüringischen Spiel ist nur die Einzelrolle eines Boten erhalten, die Gothaer Botenrolle aus dem 15. J h . (Gotha, Forschungsbibl. Chart. B 1582). — Die Basler Teufelsspielfragmente (Basel, Univ.-Bibl. N . I. 2. 91) aus dem ersten Drittel des 15. Jh.s sind inhaltlich bisher nicht bestimmt; sie enthalten eine Aussendung der Teufel wie in den Osterspielen, sodann aber eine Szene zwischen einem habgierigen Gutsbesitzer und einem armen Pächter. — Das nur im Druck (um a. 1520) überlieferte mittelfränk. Fragment vom Jesusknaben in der Schule steht im Zusammenhang apokrypher Kindheit-Jesu-Uberlieferung, zeigt aber keine Beziehung zu Weihnachtsspielen oder zu Szenen aus dem öffentlichen Leben Jesu. — Schließlich ist noch ein unediertes Tiroler Pfingstspiel Vigil R a b e r s von a. 1522 (Sterzing, Stadtarchiv unsign., bei J . E . W a c k e r n e l l N r . 23) zu nennen. Innsbrucker Spiel von der Zerstörung Jerusalems: Edition: F. J. Mone, Altteutsche Schauspiele, S. 89 (ab V. 2514)-106. Die Neustifter-Innsbrucker Spielhs von 1391 (s. § 37). — Gothaer Botenrolle: Editionen: Karl Bartsch, Beiträge z. Quellenkunde der altdt. Lit. (1886) S. 355-358. Edward Schröder, Die Gothaer Botenrolle.

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Spiele, Mittelalterliche geistliche — weltliche (Fastnachtspiel)

ZfdA. 38 (1894) S. 222-224. — Basler Teufelsspielfragment: Editionen: Gustav Binz, E. Basler Fastnachtspiel aus d. 15. Jh. ZfdPh. 32 (1900) S. 58-63. Friederike C h r i s t - K u t t e r , Frühe Schweizerspiele (1963; AdtObgtexte 19) S. 20-29. — Der Jesusknabe in der Schule: Edition: Johannes B o l t e , in: Nddjb. 14 (1888) S. 4-8. — Tiroler Pfingstspiel: J . E. W a c k e r n e i l , Altdt. Passionsspiele aus Tirol, S. XV. Rolf Bergmann

Spiele, Mittelalterliche weltliche (Fastnachtspiel) § 1. G e g e n s t a n d und F o r s c h u n g s l a g e . Ebenso wie das geistliche Spiel ist auch das F. nur vor dem Hintergrund des Ablaufs des mal. Kirchenjahres zu verstehen. Das Wort F. bezeichnet ganz allgemein verschiedene Spielaufführungen zur Fastnachtszeit. Sie waren das Werk von kleinen „Laien"-Schauspielgruppen, die etwa 4-10 Personen umfaßten. Die erhaltenen Texte, die durchschnittlich 100-600 Verse (bei längeren Stücken ist der Einfluß anderer dramatischer Gattungen evident) umfaßten, und histor. Dokumente zu diesen Aufführungen bezeugen eindeutig eine spezifisch literarische, „dramatische" Gattung von überwiegend komischer Eigenart, an deren Realisation neben Tanz und Musik auch typisierende Maskierungen mitwirkten. Bei der Unterscheidung des F.s von anderen literarisch-theatralischen Formen dürfen allerdings die Begriffe „dramatisch" und „Gattung" nicht im Sinne der klassizistischen Normpoetik angewendet werden. Der überwiegend heteronome Charakter der mal. Lit. zwingt zu einer wesentlich engeren Fassung des Gattungsbegriffs, der immer an vorgegebene literar. und rhetorische Muster gebunden war und von konkreten gesellschaftlichen Situationen abhing (vgl. K. Ziegler, in: Stammler Aufr. Bd. 2, Sp. 2001-2047; R. Alewyn, in: Dt. Philologie. Neuerer Teil. Aufgaben dt. Forschung, T. 1, 2. Aufl. 1956, S. 185; E. Catholy, Fastnachtspiel, 1966, S. 2-7). Das von der Forschung lange gebotene Bild des F.s war von soziologischen und volkskundlichen Blickwinkeln geprägt. Diese wurden zur Untermauerung geistesgeschichtlicher Thesen herangezogen: Als Spätstufe germ. Fruchtbarkeitsriten sah R. Stumpfl das F. an, daran wurde von A. Dörrer, O. Eberle, H. Kindermann und M. J . Rudwin festgehalten. Die

Annahme, mal. Vaganten hätten in der Nachfolge der antiken Mimen die Entstehung des F.s entscheidend beeinflußt, schien an den Schwierigkeiten der Quellenlage und ihrer Interpretationen zu scheitern (vgl. Joh. Bolte, B. Hunnigher, W. F. Michael). Auch die rein volkskundliche Perspektive, nämlich das F. und seine spezifischen Strukturen aus dem Fastnachtsbrauchtum herzuleiten, trug immer nur zu der Klärung eines Teils der Phänomene bei (bes. Naumann, Wolfram, K. Holl). Die unter den F.n sehr verbreiteten Arztspiele führten schließlich auch zur Annahme, das F. könne mit den derb-komischen Salbenkrämerszenen der Osterspiele zusammenhängen und von dort her verselbständigt worden sein (dazu Streicher). Doch haben sich die Ansätze der älteren Arbeiten von L. Lier, V. Michels und Th. Hampe für die Beschreibung des F.s als fruchtbarer erwiesen. Sie wurden weitergeführt und zu einem überzeugenden Nachweis des literar. Charakters des F.s ausgebaut. Dieses erscheint nun als Erzeugnis individueller Verfasser vor dem Hintergrund der Sozietät der spätmal. Stadt, allerdings in Verbindung mit dem jeweiligen Fastnachtsbrauchtum (W. Lenk und vor allem E. Catholy, Das Fastnachtspiel d. SpätMA.s, 1961). Daneben gibt es noch immer die etymologischen Interpretationen, die vom Wort ,F.' her Inhalt und Eigenart der Gattung erschließen wollen (G. Kahlo, D. M. van Abbé, Meisen). Forschungsberichte: W. F. M i c h a e l , Das dt. Drama ». Theater vor d. Reformation. E. Forschungsbericht. DVLG. 31 (1957) S. 106-153. R. T a r o t , Lit. zum dt. Drama ». Theater d. 16. ». 17. Jh.s. E. Forschungsbericht (1945-1962). Euph. 57 (1963) S. 411-453. P. Kertz u. I. S t r ö s s e n r e u t h e r , Bibliographie zur Theatergeschichte Nürnbergs (1964; Veröff. d. Stadtbibl. Nürnberg 6). J . J a n o t a , Neue Forschungen zur dt. Dichtung d. Spätmittelalters (1230-1500). 19571968. DVLG. 45 (1971), Sonderh. S. l*-242*. W. F. M i c h a e l , Das dt. Drama ». Theater vor d. Reformation. E. Forschungsbericht. DVLG. 47 (1973), Sonderh. S. l i : -47 ; : .

§ 2 . T e x t e u n d A u t o r e n . Die Verfasser der überlieferten F.-Texte sind zu einem Großteil nicht bekannt. Trotzdem sind die Texte als Werke individueller Autoren anzusehen, die allerdings mit den Schreibern nicht immer identisch sein müssen. Einige bekannte Autoren von F.n sind auch mit der Entwicklung

Spiele, Mittelalterliche weltliche (Fastnachtspiel) des Meistersangs (s. d.) verbunden. Die Verbreitung fastnächtlichen Brauchtums seit der Mitte des 13. Jh.s ist dagegen kein Beleg für eine gleichlaufende Verbreitung des F.s (im Gegensatz zu H. Berner). Die überlieferten Texte lassen sich folgenden Sprachlandschaften und Autoren zuordnen: a. N ü r n b e r g . Adelbert von Kellers Sammlung, die im Widerspruch zu ihrem Titel nicht nur F.e, sondern auch geistliche Spiele, Moralitäten und Stücke aus anderen Gattungen enthält, weist mehr als 100 Spiele auf, die aus lokalhistorischen Anspielungen und sprachlichen Gegebenheiten her der Stadt Nürnberg zuzuweisen sind. Das schließt nicht aus, daß andere bei Keller edierte Spiele alemannischen, niederdt. oder Österreich. Ursprungs sind. Die wichtigsten Hss stammen aus der zweiten Hälfte des 15. Jh.s (in Wolfenbüttel, Dresden, Nürnberg und München, vgl. V. Michels). Die hohe Zahl der aus Nürnberg überlieferten Stücke weist für das 15. Jh. den oberdt. Raum als Hauptverbreitungsgebiet des F.s aus. Unter den überlieferten Texten lassen sich zwei Autorennamen feststellen: Hans R o s e n p l ü t („der schneperer") und Hans F o l z , der auch für die Weiterentwicklung des Meistersangs von großer Bedeutung war. Hans Sachs zählte ihn zu den 12 alten Nürnberger Meistern. Während die unter den Namen von Rosenplüt und Folz überlieferten F.-Texte Aufführungstexte sind, die je nach Lage und Anlaß verändert wurden, erreichen die erhaltenen Spiele von Hans S a c h s , Peter P r o b s t und Jakob A y r e r den Höhepunkt und die Grenzen des F.s. Sie unterscheiden bereits zwischen „fastnachspil" und „comedien" und führen das F. durch die Aufnahme fertig vorgeformter literar. Stoffe (Boccaccio) unter dem Einfluß engl. Komödianten zu seinem Ende. Bei Hans Sachs tritt die Affinität von Schwank (Facetie) zum F. deutlich zutage, als Zeichen beginnender „Literarisierung". Es beginnen die Frühformen des deutschen Lustspiels. b. N i e d e r d e u t s c h l a n d . Auch in Lübeck erscheint das F. als städtische literar. Form, deren Verwirklichung hier Sache und Vorrecht des Patriziats gewesen ist. Aus der Lübecker Uberlieferung sind nur ein Text (Henselyns boek gedr. um 1500, wahrscheinlich basierend auf dem 1484 aufgeführten Spiel Von der rechtverdicheyt; vgl. dazu C.

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Wehrmann) und die Titel von 73 Stücken erhalten; diese Zeugnisse lassen auf die Gestaltung mythologischer und histor. Stoffe schließen und auf eine stark moralisierende und didaktische Haltung. Diese ist auch für die übrigen sieben nicht mit Lübeck zusammenhängenden ndd. Spiele maßgebend (hg. v. Wilh. Seelmann). Sie lösen sich bereits vom Aufführungsanlaß der Fastnacht, gestalten moralische und religiöse Anliegen des bürgerlichen Alltags oder nehmen sogar Stellung zu politischen Ereignissen (Der scheveklot). c. A l e m a n n i s c h e r R a u m . Aus diesem Sprachgebiet ist aus der Zeit vor 1500 nur ein weltliches Spiel erhalten, ein Jahreszeitenstreit, der wohl nicht dem F. zuzurechnen ist (Text hg. von F. Christ-Kutter; Lit. vgl. A. Dörrer u. S. Singer). Die aus der Zeit um 1434 stammenden Basler F.szenen (hg. v. F. Christ-Kutter) sind Teile eines geistlichen Spiels. Die übrigen F.e aus dem alemann. Raum stammen aus dem 16. Jh. und zeigen durch ihre reformatorischen und moralkritischen Programme eine Fülle von Einflüssen anderer literar. Gattungen der Zeit. Die Autoren - Pamphilius G e n g e n b a c h , Niclas M a n u e l , Zacharias B l e t z und Renward C y s a t - schrieben für ein gebildetes Bürgertum und stellen sich mit ihren Spieltexten bereits in den Dienst reformatorischen oder humanistischen Engagements. d. T i r o l . Um 1500 führte die wirtschaftliche Blüte der Brennerstädte zu einer stadtbürgerlichen Spielkultur. Die von dem Maler und Spielleiter Vigil R a b e r aufgezeichneten 25 F.-Texte (das 26. ist das Szenar des 1951 v. Anton Dörrer hg. Tiroler Neidhartspiels) sind zum großen Teil Übernahmen und Weiterbildungen von bei Keller gedruckten Nürnberger Stücken, allerdings örtlichen sprachlichen und sozialen Gegebenheiten angepaßt. Doch übertrifft der stoffliche und formale Reichtum der Sterzinger Spiele (hg. v. Oswald Zingerle) die Nürnberger Texte um ein Vielfaches. Dies hängt mit der Tradition und Praxis anderer, vor allem geistlicher Spielarten in Tirol zusammen. Rabers Anteil an den von ihm überlieferten Texten ist schwer zu bestimmen. Die alte Ausgabe von Zingerle wird in Kürze überholt sein. Uber die abenteuerliche Geschichte des Sterzinger Spielarchivs vgl. A. Dörrer, in: ZfdA. 94 (1965), S. 138-141.

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§ 3. D i e G e s t a l t der S p i e l e . Wesentliches Kennzeichen des F.s ist seine Öffnung zum Publikum hin. Die Sphären der Zuschauer und der Spieler sind nicht streng getrennt, beide werden vom Aufführungsanlaß, eben von der Fastnacht, gleichermaßen umfaßt. Veranstalter und Darsteller sind Stadtbürger, meist Zunftangehörige, die inmitten der fastnächtlichen Veranstaltungen auftreten und nachher, meist auf dem Weg fingierter Prügelszenen und brauchtümlicher oder gesellschaftlicher Tänze, in das Publikum zurücktreten. a. A u f b a u . E. Catholy hat in seiner bahnbrechenden Arbeit über das F. des Nürnberger Raums im wesentlichen zwei Typen unter den überlieferten Texten unterschieden, die allerdings keineswegs als Gestaltdogma mißverstanden werden dürfen: das R e i h e n s p i e l und das H a n d l u n g s s p i e l . Das Reihenspiel stellt den wesentlich älteren Typus des F.s dar und zeigt tatsächlich noch eine gewisse Nähe zum Fastnachtsbrauchtum. Dieses ist gekennzeichnet durch die apotropäische Schimpfrede, durch das Herumtragen obszöner Symbole und durch das Abreagieren intraspezifischer Agressionen innerhalb derselben Gesellschaftsgruppe durch Scheltwettbewerbe und fingierte Kampfszenen. Die damit verbundene Ritualisierung führt zu einer Festigung des Brauchablaufs und zu einer Verselbständigung der verbalen Teile. Aus dem Reihenaufzug der scheltenden Masken wird durch Parteiung eine Revue von Typen, die um ein bestimmtes Ziel rivalisiert, z. B. eine Reihe von Männern, alles Vertreter der in den Stadtzünften erfaßten Berufe, wirbt um eine ,Frau Venus', die dann ihrerseits dem letzten Bewerber unerwartet ihre Hand verspricht. Oder das alte Streitgespräch zwischen Herbst und Frühling wird zum Scheltduell zwischen ,Mai und Herbst', die beide als Ritter mit Gefolge auftreten. In der F.-Fassung des alten Motivs siegt stets der Herbst als Vertreter der Vitalsphäre und die von den beiden Anführern und ihren Gefolgsleuten gegeneinander abgeführten witzigen Schimpfreden enden mit einer solennen Prügelei, zum gemeinsamen Gaudium von Darsteilem und Zuschauern. Ähnlich, doch im Ablauf schon fester gefügt, sind die weit verbreiteten Gerichtsspiele. Die Gerichtsverhandlung ist ebenfalls durch eine Reihe von Vorträgen gegnerischer Parteien

gekennzeichnet. Als witzig-derbe Verhandlung über Sexualprobleme in der Ehe oder als Klageführung gegen den „vaschang" selbst haben die Gerichtsspiele die erotische Sphäre oder den Spielanlaß selbst zum Gegenstand. Das H a n d l u n g s s p i e l bedeutet nun die Aufnahme und bewußte Gestaltung literar. Motive oder geschichtlicher und mythologischer Begebenheiten. Diese werden aus der Heldenepik, aus Schwanksammlungen, aus der großen Masse der spätmal. Didaktik sowie aus der antiken Kulturüberlieferung genommen und führen in Ansätzen zur Ausgestaltung einer eigenen Spielwelt, da sie Requisiten und die Illusion eines zeitlich von der Situation der Zuschauer abgesetzten Handlungsablaufes benötigen. Die Aufnahme von polit. Fragen führt zu beachtlichen Leistungen in der Ständesatire und zum Beginn individueller Charakterisierung der Figuren, die das eigentliche F. dann bald durchbricht. Auch die ältesten F.e enthalten trotz aller Derbheit der Sprache und trotz drastischer Mittel der Komik Anspielungen auf literar. und soziale aktuelle Anlässe, die später bald zur bestimmenden Intention des ganzen Spiels werden. Wir haben es also tatsächlich mit einer literar. Gattung zu tun, die ein bis zu einem bestimmten Grad informiertes Publikum voraussetzt und bereits frühzeitig ein immanentes Formgesetz ausbildete. b. F i g u r e n . Die in den Spielen auftretenden Figuren sind Typen einer uralten Spieltradition und tragen maskenartigen, holzschnittähnlichen Charakter. Gerade dadurch sind sie mit dem Spielanlaß und der Zuschauerwelt eng verbunden. Viel ist über die B a u e r n f i g u r der F.e gerätselt worden. Es scheint der komische Reihenauftritt von Bauern mit sprechenden Namen ( „ R u e b m f r a ß " ) geradezu als Kennzeichen des F.s empfunden worden zu sein, denn es wurden auch literar. Stoffe, die dem F. fern lagen, durch Einfügen von komischen Bauernfiguren als F. adaptiert (z. B. der Tiroler Rex mortis). Trotz der meist feststehenden Züge von Plumpheit, täppischer sexueller Gier und skatologischer Unflätigkeit ist der Versuch, aus der Bauernfigur der älteren F.e gesellschaftskritische Inhalte herauszulesen, nicht immer geglückt. Sie muß eher als mimischer Typ verstanden werden (vgl. dazu bes. F. Martini) und verliert die alten derben und unflätigen Züge sofort,

Spiele, Mittelalterliche weltliche (Fastnachtspiel) wenn sie als Vehikel sozialer Kritik und damit als O b j e k t realistischer Zeichnungsversuche auftritt (vgl. das späte Tiroler Spiel Die zwen stenndt). Die Bauerngestalt ist also eine Art zentraler Figur der älteren F.e, einerseits als lustige Person, andererseits doch als ein Symbol entfesselter Triebhaftigkeit. Hierin liegt der Hauptpunkt, den Bauern im F. sozialkritisch zu sehen: der städtische Bürger hatte nur diese Figur zur Verfügung, wenn er seine Triebhaftigkeit sichtbar machen wollte. Freilich muß dazu gesagt werden, daß die Städte, die sich als Verbreitungsgebiete und Zentren des F.s erwiesen, starke Verbindungen zur bäuerlichen Sphäre hatten, ja daß eine Trennung von Stadt und Land im heutigen Sinn für jene Zeit nicht galt. Ebenso kennzeichnend für die F.e war die Figur des P r e c u r s o r s . Er begrüßte die Zuschauer, machte für die Spieler Platz - es wurde sehr häufig in Wirtsstuben gespielt, und die Spielbanden zogen von Gasthaus zu Gasthaus, wohl auch zu privaten Schmausereien - und gab ein Argumentum am Beginn. Wichtig war, daß der Precursor die Spielsphäre von den Zusehern abgrenzen half. Das wurde immer weniger benötigt, je deutlicher sich eine eigene Spielwelt mit einem immanenten Zeitablauf herausbildete. In den späten F.en tritt der Precursor daher zurück oder ändert seine Funktion. E r wird vom Abgrenzer und Ankündiger zum Interpreten oder Anwalt der Ansichten seines Autors, was besonders beim F. mit reformatorischem Gehalt zu beobachten ist. Schließlich lenkte der Precursor am Ende eines Spiels die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf die Fastnachtsfeier zurück und gliederte die Schauspieler in diese ein durch eine Aufforderung zu allgemeinem Tanz oder durch die Bitte um einen Gratistrunk als Lohn für die Spieldarbietung. Die übrigen Figuren im F . werden meist durch sprechende Namen in ihren Funktionen charakterisiert, sofern sie nicht durch eine literar. Tradition vorgegeben waren, die als bekannt vorausgesetzt werden durfte. Frauenrollen wurden in den meisten Fällen von Männern gegeben.

c. S p r a c h e und M e t r u m . Der stereotype Bau der F . e und ihre eindeutige Wirkungsabsicht bedingen mit ihre sprachliche und stilistische Färbung. Naturgemäß nimmt das Vokabular aus der Sexualsphäre und aus dem Bereich des Skatologischen großen Raum ein.

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Doch ist hier bezeichnend, daß die Ausdrücke für sexuelle Aktivität in den meisten Fällen aus dem Vorrat an Ausdrücken für handwerkliche und gewerbliche Tätigkeiten der Stadtbürger gewählt werden. Bewußte sprachliche Gestaltung findet sich bei der Charakteristik mancher Rollen. Die in den Tiroler Spielen häufige Figur des Arztes wird manchmal mit verunstalteten italienischen Wörtern ausgestattet: zweifellos ein Versuch, aus dem Süden kommende Quacksalber realistisch nachzuzeichnen {„Der scheissend"). Die Prologe des Precursors verraten die Einflüsse traditioneller Schulrhetorik mit ihren Bitten um Aufmerksamkeit und Geneigtheit der Zuschauer und ihren Versuchen, durch eine nicht allzudeutliche Inhaltsangabe die Spannung des Publikums zu erwecken. Meist wird noch auf irgendeinen besonderen Gag hingewiesen, der im Zuge der Darstellung geboten wird. D e r Epilog enthält meist eine Danksagung für Aufmerksamkeit und Bewirtung, die Bitte, die im Spiel gebotenen Derbheiten auf Kosten der Fastnacht zu setzen und das Ersuchen um Entlassung. Dieses wird häufig mit dem Versprechen verbunden, daß die Truppe im nächsten Jahr wieder erscheinen wird. Ebenso oft wird um eine kleine Entlohnung gebettelt. Bei der rhetorischen Ausschmückung erwiesen sich die Tiroler Spiele den aus Nürnberg stammenden weit überlegen. Die metrische Darbietungsform des F.s ist der paarweise gereimte Knittelvers. Dabei kommt es zu wirksamem Einsetzen von Stichomythien und vor allem des Stichreims, der zur satirischen Wirkung gebraucht wird. Er garantiert im Munde zweier Personen die Zusammenstellung großer Gegensätze, meist bei obszönen Späßen oder ständischer Scheltrede. § 4. F o r t l e b e n . Mit dem wachsenden Einfluß der Reformation und des Schulhumanismus wird das F . bis zur Mitte des 16. J h . s zum beliebten Instrument konfessioneller und damit politischer Agitation. Es wendet sich ganz ins Moralisch-Didaktische und verliert besonders in den Gebieten, in denen sich die Reformation durchgesetzt hatte, seinen ursprünglichen Charakter. Was unter bemühter Förderung reformatorisch gesinnter Magistrate und Schulmänner zur Fastnachtszeit aufgeführt wird, sind eigentlich didaktisch-polemische Parabelstücke, die schließlich auch den Namen F . nicht mehr

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führen. Literar. Bedeutung gewinnt das F . erst wieder im 18. J h . , allerdings unter dem Einfluß der engl, und franz. Literaturfarce (s. Farce). Hier wird die alte Form von Goethe wieder entdeckt, von Lenz, Klinger, H . L . Wagner sowie von A. W . Schlegel und Tieck zu kurzem Leben erweckt. F . e gibt es ferner gegenwärtig noch immer als Teil dörflichen Brauchtums. Ihre Betrachtung ist aber heute nicht mehr Gegenstand der Literaturgeschichte. Editionen: Adelbert v. Keller (Hg.), Fastnachtspiele aus d. Ii. Jh. T. 1-3 u. Nachlese (1853-1858; BiblLitV. 28-30 u. 46). F. Schnorr von C a r o l s f e l d (Hg.), Vier ungedruckte Fastnachtspiele d. Ii. Jh.s ArchfLitg. 3 (1874) S. 1-25. Hans F o l z , Auswahl. Hg. v. Ingeborg Spriewald (1960; Studienausg. zur neueren dt. Lit. 4). D. H u s c h e n b e t t , 'Von dem König Salomon und Markolf u. e. Narren'. ZfdPh. 84 (1965) S. 369-408. D. Wuttke, Die Druckfassung des Fastnachtspieles 'Von König Salomon u. Markolf. ZfdA. 94 (1965) S. 141-170. Hans Sachs, Sämmtliche Fastnachtsspiele. In chronolog. Anordnung nach d. Originalen. Hg. v. Edmund Goetze. 7 Bde (1880-1887; NDL 26/27. 31/32, 39/40, 42/43, 51/52, 60/61, 63/64). Peter P r o b s t , Die dramatischen Werke (1H3-H56). Eingel. u. hg. v. Emil Kreisler (1907; NDL. 219/221). Jakob A y r e r , Dramen. Hg. v. Adelbert v. Keller (1865; BiblLitV. 76/80). Wilhelm Seelmann (Hg.), Mittelniederdeutsche Fastnachtspiele (1885; Drucke d. Ver. f. ndd. Sprachforschung 1). Ella Schafferus (Hg.), Zwei ndd. Dramen der Reformationszeit. Das Spiel 'Claus Bur', Liborius Hoppes 'Interium-Spiel' (1938; Samml. älterer ndd. Schriftdenkmäler 2). C. W a l t h e r (Hg.), Das Fastnachtspiel 'Henselin oder: Von der Rechtfertigkeit'. Jb. d. Ver. f. ndd. Sprachforschung 3 (1877) S. 9-36. Friederike C h r i s t - K u t t e r (Hg.), Frühe Schweizerspiele (1963; AdtÜbgtexte 19). Karl Goedeke (Hg.), Pamphilus Gengenbach (1856). Jakob Bächtold (Hg.), Nikiaus Manuel (1878; Bibl. älterer Schriftwerke d. dt. Schweiz 2). Oswald Zingerle (Hg.), Sterzinger Spiele. Nach Aufzeichnungen d. Vigil Raber (1886; Wiener Neudrucke 9 u. 11). Allgemeine Darstellungen: Emil Haueis, Das dt. Fastnachtspiel d. Ii. Jh.s. Progr. Baden bei Wien 1874. Wilhelm Creizenach, Zur Entstehungsgesch. d. neueren dt. Lustspiels (1879). Victor M i c h e l s , Studien über d. ältesten dt. Fastnachtspiele (1896; QF. 77). A. G l o c k , Über d. Zusammenhang d. röm. Mimus u. e. dramatischen Tätigkeit mal. Spielleute mit dem neueren komischen Drama. ZfvglLitg. NF. 16 (1906) S. 25-45 u. 172-193. N. C. B r o o k s , Fastnacht-

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Fastnachtspiel bei Hans Sachs. Diss. Kiel 1903. Eugen G e i g e r , Hans Sachs als Dichter in seinen Fastnachtspielen im Verhältnis zu s. Quellen betrachtet (1904). G. L u s s k y , The Structure of H. Sachs' Fastnachtspiele in Relation to their Place of Performance. JEGPh. 26 (1927) S. 521-563. H. O p p e l , Neue Wege d. Hans Sachs-Forschung. DuV. 39 (1938) S. 238-247. Heinz K i n d e r m a n n , H. Sachs u. d. Fastnachtspielwelt, in: Kindermann, Meister der Komödie. Von Aristophanes bis B. Shaw (1952) S. 111-121. Gemma Filice, I Fastnachtspiele di Hans Sachs (Napoli 1960). Barbara K ö n n e k e r , Hans Sachs (1971; SammlMetzler. 94). Dies., Die Ehemoral in d. Fastnachtspielen d. Hans Sachs. Zum Funktionswandel d. Nürnberger Fastnachtsspiels im 16. Jh., in: Hans Sachs u. Nürnberg (1976; Nürnberger Forschungen 19, S. 219-244. D.-R. Moser, Fastnacht u. Fastnachtspiel. Zur Säkularisierung geistl. Volksschauspiele bei H. Sachs u. ihre Vorgesch. Ebda S. 182-218. Werner M. Bauer Spielmannsdichtung § 1. Die Bezeichnung Spmd. entstammt d e m 19. J h . u n d sucht einen zu verschiedenen Zeiten ganz verschieden weit gefaßten Bezirk mal. Literatur vom präsumptiven T r ä g e r her zu charakterisieren statt, wie etwa der an sich eng verwandte Begriff „ H e l d e n d i c h t u n g " (s. d.), vom Gegenstand her. Sie hat sich dabei allenfalls in der Subkategorie S p i e l m a n n s e p i k (Spme.) bis z u r Gattungsbezeichnung im engeren Sinn konkretisiert, aber selbst diese w i r d heute kaum noch oder n u r mit großen Einschränkungen akzeptiert. Schon garnicht läßt sich Spmd. als ein mehrere Gattungen zusammenfassendes Etikett rechtfertigen, n u r weil Spielleute (Spl.) mehr oder weniger offensichtlich nicht n u r reproduktiv s o n d e r n auch schöpferisch in der Geschichte dieser G a t t u n g e n eine Rolle spielen. - T r o t z d e m geht es u m einen bedeutungsvollen Asp e k t des mal. Literaturbetriebs: den Einfluß einer reich (und dabei höchst unübersichtlich) gegliederten zwischenständischen, insgesamt allenfalls am Rand literarisch interessierten G r u p p e von Berufsunterhaltern auf die literar. P r o d u k t i o n der Zeit, - sei es mittelbar in Thematik, Motivik, formtechnischer Hinsicht o d e r Weltanschauung oder unmittelbar durch Verbreitung u n d Vortrag und eben auch d u r c h eigene dichterische Leistung. F ü r eine „ B e g r i f f s b e s t i m m u n g " sind dabei die Verhältnisse im einzelnen viel zu undurchsichtig,

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aber der Funktionsbereich des Spielmanns (Spm.s) kann umschrieben und einiges Material kann kommentiert ausgebreitet werden, das die angedeuteten Verhältnisse veranschaulicht. Spmd. als solche ist, soweit sie überhaupt auszumachen ist, unter- bzw. besser: außerliterarisch und deshalb kaum jemals direkt greifbar. Der Spm. ist eine gemeineuropäische Erscheinung. Sein produktiver Anteil an der Gestaltung der mlat. wie der volkssprachlichen Literaturen des MA.s wird allerdings je nach Disziplin recht verschieden hoch veranschlagt. Dafür sind Unterschiede in der wissenschaftlichen Betrachtungsweise ebenso verantwortlich wie Unterschiede in der Quellenlage und der (mal.) Terminologie und tatsächliche regional-nationale Sonderentwicklungen. Solange das bewußt bleibt, ist eine (vorsichtig) vergleichende die wohl fruchtbarste Betrachtungsweise auch der Verhältnisse im dt.sprachigen Raum. Neuere Gesamtdarstellungen bzw. Forschungsberichte: Piet W a r e m a n , Spmd. Versuch e. Begriffsbestimmung (Amsterdam 1951). Walter Sal m en, Der fahrende Musiker im europäischen MA, (1960; Die Musik im alten u. neuen Europa. 4), bes. S. 7-144. Michael C u r s c h m a n n , „Spme." Wege u. Ergehnisse d. Forschung v. 1907-1965. Mit Erg. u. Nachtr. bis 1967 (1968; DVLG., Referate), bes. S. 84-96. — Zu einzelnen Literaturen (außer der dt.): A. O l r i k , Middelalderens vandrende spillemaend i Norden og deres visesang. Opuscula philologica (Kopenhagen 1887) S. 74-84. Edmond Faral, Les jongleurs en France au moyen âge (Paris 1910; Bibl. de L'école des hautes études 187). Alois Brandl, Spm. Verhältnisse in frühmal. Zeit (1910; SBAkBln. 41). Ramón M e n é n d e z Pidal, Poesia juglaresca y orígenes de las literaturas románicas (6. Aufl. Madrid 1957. 1. Aufl. 1924 u. d. T. Poesía juglaresca y juglares). B. Szabolcsi, D. ungar. Spl. d. MA.s. Gedenkschr. f. H. Abert. Hg. v. Friedr. Blume (1928) S. 154-164. Reinhold T r a u t m a n n , Die Volksdichtung d. Großrussen I: Das Heldenlied (D. Byline) (1935; Sammig. slav. Lehr- u. Handbb. III, 7), bes. S 104ff. D. Th. Enklaar, Varende Luyden. Studien over de middeleeuwsche groepen van onmaatschappelijken in de Nederlanden (Assen 1937; Van Gorcum's historische Bibliotheek 12). T. N o r l i n d , Musiker och lekare under medeltiden i Sverige. Svensk Tidskrift för Musikforskning 22 (1940) S. 29-52. D. A. Seip u. P.-E. W a l l i n , Leikarar, in: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder. Bd. 10 (1965) S. 462-467. Zur Vagantendichtung s. u. § 3 a.

§ 2. Der Spm.begriff des 19. Jh.s ist das letzte Glied einer Reihe von T r ä g e r b e g r i f f e n (Meister, Barde, Sänger), mit denen man sich - beginnend schon im SpätMA. - um das Verständnis des mal. Dichters - insbesondere des „volkstümlichen" Dichters - bemüht hat. Unmittelbar voraus geht der „Sänger", der Produzent jener anonymen Dichtungen, die unter dem im Prinzip auf Herder zurückgehenden Begriff der National- und Volkspoesie ihre erste umfassende Sichtung und Gliederung erfuhren. Die Vorstellung von der schöpferischen Funktion des Sängers war allerdings hier und da eingeschränkt durch das Postulat einer Volkspoesie, die des Sängers nur als ihres Verwalters und Verbreiters bedurfte, und gerade in diesem Lager der Forschung, d . h . , besonders bei den Brüdern G r i m m , versuchte man eine K o n k r e t i s i e r u n g mit Hilfe des mal. spilman. Der weitere Weg führt über Karl L a c h m a n n . Noch 1833 hatte er von der „Poesie der Fahrenden" im allgemeinen Sinn des Vortrags und der Verbreitung durch Spl. gesprochen (Über Singen und Sagen. Kleinere Schriften I, S. 475). In den Anmerkungen Zu den Nibelungen und zur Klage (1836, S. 290) ist dann schon von einer „Gattung der Spielmannspoesie" die Rede (die Beispiele sind „Ruther, Morolt, Oswald, Orendel, Tragemundslied, Laurin"), die dem „reineren" Volksgesang (d. h. dem Heldenepos) gegenüber „zwar erfindungsreich, aber willkürlich und weit roher" wirkt. Um die Jh.mitte war aus diesem Rudiment eines Stilkonzepts im Rückgriff auf das ältere Axiom der Einheit von Dichten und Vortrag der Begriff des dichtenden Spm.s geworden, den Fr. V o g t s einflußreiche Abhandlung von 1876 so nachdrücklich wie ungeprüft mit der mhd. Sache spilman gleichsetzte. Mit H. N a u m a n n s spätem, aber umso heftigerem Einwand, daß dieser spilman in Wirklichkeit nirgends als Dichter greifbar werde, die Vorstellung des 19. Jh.s also jeglicher Grundlage entbehre, war dann das Kind mit dem Bad ausgeschüttet und eine Diskussion eingeleitet, in der (im Hinblick auf die Spme.) v.a. Th. F r i n g s noch einmal einen prospmän., neoromantischen Standpunkt verfochten hat, — gestützt auf das von ihm und M. B r a u n analysierte serbokroatische Material (s. u. § 9) und im Zusammenhang einer interdisziplinären Debatte um Epenschöpfung und Epenentwicklung. Im übrigen hat diese Diskussion

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das Problem des dichtenden Spm.s wenigstens insoweit eingegrenzt, als schon der bürgerliche Wanderdichter und -rezitator des 13. Jh.s als Künstler sui generis betrachtet werden kann und die mit grundsätzlichen sozialen Umschichtungen verbundenen Verhältnisse des 14. und 15. Jh.s erst recht außer Betracht bleiben dürfen. Die späteren Jh.e stehen u. a. im Zeichen zunehmender S p e z i a l i s i e r u n g : erst jetzt entstehen die Institutionen des gewerbsmäßigen Nur-Musikers und des Berufssprechers. Die folgende Darstellung gilt also im wesentlichen der Zeit bis etwa zur Mitte des 13. Jh.s.

Wanderns z . T . recht enge Beziehungen zwischen dem Vaganten und dem Spm. Auch in den untersten Niederungen des Unterhaltungsbetriebs war sicher mancher ursprüngliche Lateinschüler zu finden, die Carmina Cantabrigiensia wie die Carmina Burana nehmen Deutsches auf, ein clerc wie A i m e r i c de B e l e n o i wurde u . U . zum joglars (Biographies des Troubadours, hg. v. J. Bouriere [1964] S. 255), die Limburger Chronik erzählt von einem Barfüßermönch, der volkssprachliche Lieder dichtete und vertonte, die di lüde alle gern sangen und die spellude in ihrem Repertoire führten (vgl. u. § 5e), P e t r u s C a n t o r spricht von rimariis clericis et Forschungsgeschichte: Botho Spittler, Pro- hystrionibus aliis (II, 1957, S. 353; s. u. blemgeschichtliches zur Vorstellung vom dichten§ 7), und eine spmän. Dichterpersönlichkeit den Spm. Diss. Königsberg 1928. J. Bahr, Der wie W a l t h e r (u. § 5e) ist kaum ohne den „Spm." in d. Lit.Wissenschaft d. 19. Jh.s. ZfdPh. 73 (1954) S. 174-196. — Fr. Vogt, Lehen u. Hintergrund vagantischer Poesie zu versteDichten d. dt. Spl. im MA. (1876). H. Nau- hen. Schließlich wäre generell zu bedenken, mann, Versuch e. Einschränkung d. romanti- daß Spmd. bzw. Dichtung spmän. Färbung schen B e g r i f f s Spmd. DVLG 2 (1924) S. 777-794. gelegentlich erst unter dem Einfluß gebildeter Ders., Spmd. Reallex. 1. Aufl. Bd. 3 (1928) Mitglieder der Zunft bis zur Schriftlichkeit S. 253-269 (beides basierend auf der Studie von gedeihen mochte. Sabine Reinicke, Untersuchungen über d. Träb. Die Gruppe der b e r u f s m ä ß i g e n U n ger d. sog. Spielmannsepen in Deutschland. t e r h a l t e r , die wir als Spl. bezeichnen, um[Masch.] Diss. Frankfurt 1924). H. Steinger, faßt beinahe alles, was mit irgendeinem Talent Fahrende Dichter im dt. MA. DVLG 8 (1930) zur Unterhaltung des Hofes - des stationären S. 61-79 (mit e. Nachw. v. H. Naumann, S. wie des ambulanten - wie auch des Markt80f.). Bruno Boesch, Die Kunstanschauung in d. mhd. Dichtung (1936), bes. S. 205-234. Th. platzes beitragen kann: Akrobaten, Tänzer, Frings, Die Entstehung d. dt. Spielmannsepen. Mimen, Rezitatoren, Tierbändiger, Sänger, Zs. f. dt. Geisteswiss. 2 (1939/40) S. 306-321; Instrumentalmusiker der verschiedensten Art, dann in PBB. (Halle) 91 (1969) S. 296-315. — Possenreißer, - oft beiderlei Geschlechts und Zum 14. und 15. Jh.: J. Bolte, Fahrende Leute gelegentlich auch in Truppen auftretend. Die in d. Lit. d. IS u. 16. Jh.s. SBAkBln. 31 (1928) Reiserechnungen des Passauer Bischofs S. 625-655. J. Klapper, Die soziale Stellung d. W o l f g e r v o n E r l a (hg. v. Hedwig Heger, Spm.s im 13. u. 14. Jh. ZfVk. N.F. 2 (1930) Das Lebenszeugnis Walthers v. d. VogelweiS. 111-119. D. Th. Enklaar (o. § 1). W. de, 1970) bieten ein buntes Bild, das in manSalmen (o. § 1). Heinz Mundschau, Sprecher cher Hinsicht für die Verhältnisse des als Träger d. ,,tradition vivante" in d. Gattung „Märe" (1972; GöppArbGerm. 63). — Eine AusHochMA.s wohl bezeichnender ist, als die oft wahl (vor allem älterer) Forschungsarbeiten entzitierte Görlitzer Glosse von 1387 zum Landhält der Sammelband Spielmannsepik, hg. v. Walrecht des Sachsenspiegels I 38 § 1 (hg. v. C. G. ter Johannes Schröder (1977; WegedFschg 385). Homeyer [3. Aufl. 1861] S. 194; vgl. dort weiter I, 50 § 2; III, 45 § 9). Immerhin § 3. a. Nur im Vorbeigehen kann dabei die bezeugt diese Erklärung des Stichworts Rede sein von einer Gruppe mal. Unterhalter, speilüde, in welchem Maß wir es hier, ähnlich die dem Spm.tum in vielem sehr nahesteht wie bei dem romanischen jongleur, joglar, und bedeutende Dichter hervorgebracht hat, juglar und dem me. menestrel, mit einer den clerici vagantes. Sie beanspruchen Sammelbezeichnung zu tun haben: phifer, (mit gewissem Recht) traditionellerweise ihre puker, videler, singer, Springer u. koukeler, eigene Rubrik in den Handbüchern, denn ihre lezer, scherer, beder u. alle gerende lute u. Basis ist die Schule und ihre Sprache das herolde u. schreyer. Latein. In der Praxis bestehen natürlich schon durch die gemeinsame Lebensform unsteten

Sie sind so fester Bestandteil des höfischen Fests (wie des höfischen Alltags), daß die

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Pariser Kanonistenschule sie als atriales mitklassifizierte (s. u. § 7; bes. Baldwin II, S. 118, Anm. 25). Entsprechend ist der Auftritt oder zumindest das Beschenken von Spl. aller Art ein fester Topos höfischer Festbeschreibung (besonders ausführlich, allerdings auch relativ spät, ist der Karlmeinet: V. 287,11 ff.). Guot umb ere nemen ist das (mehrdeutige) Stichwort, mit dem ihre Aktivität im Grundsätzlichen umschrieben wird. Ältere, seit dem 8./9. Jh. als G l o s s e n zu lat. Ausdrücken belegte dt. Benennungen sind u. a. scirrto (für scurra), tumari (für scurra wie histrio) und antarari (für histrio). Auch in dieser lat./dt. Glossographie ist jedoch ahd./mhd. spil(i)man, eine Lehnbildung zu lat. joculator, der gemeinsame Nenner. Grundbedeutung von spil ist „Tanz", lustbetonte Bewegung. Hieraus leitet sich u. a. die Affinität des Spm.s zur Musik ab, der zentralen Kunstübung des „Standes" (eine sekundäre Bildung spilwip ist nicht selten und auch spilmennin kommt vor). Das Summarium Heinrici dürfte das Wortverständnis des 11. und 12. Jh.s jedenfalls für Deutschland am authentischsten wiedergeben (hg. v. Reiner H i l d e b r a n d t , 1974): an ein und derselben Stelle glossiert spilman sowohl mimus wie histrio und joculator (VIII, 8, 289-293), obwohl sich gerade das Summarium auf dem Wege über die Etymologie ( I s i d o r s ) um eine Abgrenzung zumindest von mimus und histrio bemüht. Im allgemeinen sind auch diese drei Vokabeln, diejenigen, hinter denen im Einzelfall am ehesten dichtende Spl. vermutet werden könnten, praktisch austauschbar. So folgt einmal in den erwähnten Reiserechnungen Wolfgers auf ioculatorj cum cultellis unmittelbar der Eintrag alij (!) mimo (IV, 99f.). Der berühmte T a i l l e f e r (u. § 6) w i r d v o n G u y v o n A m i e n s sowohl histrio wie mimus und von G e o f f r e y G a i m a r joglere genannt (die Quellen bei Piet Wareman [§ 1], S. 67 [vgl. auch S. 87], und Chronique des ducs de Normandie par Benoit, hg. v. Francisque Michel, III [1844] S. 209f.) Ohne einen ganz spezifischen Zusammenhang läßt sich deshalb im Einzelfall meistens nicht feststellen, was der betreffende Unterhalter wirklich tat. Bemerkenswert im Hinblick auf die Möglichkeit dichterischer Aktivität des Spm.s ist, daß das Summarium Heinrici das Stichwort poeta weder mit dem alten scopf noch mit spilman, sondern mit den ganz neuen

Bildungen uersmachari/büchmachere glossiert (VIII, 15, 709). Der Sachsenspiegel wie Dokumente schon des frühen MA.s bezeichnen diese ganze Gesellschaft als rechtlos, sie gilt darüber hinaus als heimatlos, ohne Grundbesitz und festen Wohnort, von Erwerbsmöglichkeit zu Erwerbsmöglichkeit wandernd, auf Herrengunst und den typischen Spm.lohn, das getragene Gewand, angewiesen und von der Kirche verfemt. Bei näherem Zusehen lassen sich innerhalb dieses im Grundsätzlichen richtigen Bildes spmän. Lebensform und Lebensbedingungen immer wieder Ausnahmen erkennen. U . a . klafft zwischen der offiziellen Stellungnahme der Kirche und den tatsächlichen Verhältnissen an manchem bischöflichen Hof und in manchem Kloster offensichtlich eine beträchtliche Lücke. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Beobachtung, daß dieses Spm.tum k e i n e n e i g e n e n , s o z i o l o g i s c h k l a r u m r i s s e n e n S t a n d b i l d e t , sondern - als L e b e n s f o r m - Angehörige aller möglichen sozialen Gruppen zusammenbindet. Anders gesagt: in dieser interständischen, lockeren Gruppierung von Berufskünstlern (Künstler hier im mal. Sinn verstanden) bleiben die Grenzen stets offen, - nach oben wie nach unten. Zu a: die beste Einführung ist nach wie vor Helen W a d d e l l , The Wandering Scholars (6. Aufl. Garden City 1961), mit reicher Bibliographie. Eine wichtige neue Darstellung im Rahmen der dt. spmän. Dichtung ist Ewald E r b , Gesch. d. dt. Lit. von d. Anfängen bis z. Gegenwart. Bd. I, 2 (1964) S. 527ff. Vgl. ferner Friedr. v. d. L e y e n , Märchen u. Spmd. G R M 10 (1922) S. 129-138. H . B r i n k m a n n , Werden u. Wesen d. Vaganten. Preußjbb. 195 (1924) S. 3344. Martin B e c h t h u m , Beweggründe u. Bedeutung d. Vagantentums in d. lat. Kirche d. MA.s (1941; Beitr. z. mal., neueren u. allgem. Gesch. 14). Energisch gegen die Vorstellung von einem dichtenden Vaganten jetzt Heinrich N a u m a n n , Gab es eine Vaganten-Dichtung? Der altsprachl. Unterricht, Reihe 12, H . 4 (1969) S. 69-105. Zu b: Fr. V o g t (o. § 2). Johannes S t o s c h , Der Hofdienst d. Spl. im dt. MA. Diss. Berlin 1881. Johann I l g , Gesänge u. mimische Darstellungen nach d. dt. Konzilien d. MA.s. Programm Urfahr (Linz) 9 (1906). Adolf M ö n c k e b e r g , Die Stellung d. Spl. im MA. 1. Kap.: Spl. u. Kirche im MA. Diss. Freiburg 1910. G. S c h n ü r e r , Die Spm.legende. Vereinsschr. d. Görresges. 1914, S. 78-90. J . S c h w i e t e r i n g , Gemeit. ZfdA. 56 (1919) S. 125-132. Theodor H a m p e ,

Spielmannsdichtung Die fahrenden Leute in d. dt. Vergangenheit (2. Aufl. 1924; Monogr. z. dt. Kulturgesch. 10). E. Schröder, Spiel u. Spm. ZfdA. 74 (1937) S. 45f. F. H. Bäuml, „Guot umh ere nemen" and Minstrel Ethics. JEGPh. 59 (1960) S. 173183. Werner Danckert, Unehrliche Leute: die verfemten Berufe (1963), bes. S. 214-262. M. D j o r d j e v i c , Zum Wort Jpilman' bei d. Serben. Formen mal. Lit. S. Beyschlag zu s. 65. Geb. (1970; GöppArbGerm. 25) S. 19-22. § 4 . Das gilt wohl schon für die U r s p r ü n g e . Auf der einen Seite stellt der mimus - v. a. im Bereich der niederen Komik - eine Verbindung zwischen der Spätantike und dem M A . her. Auf der anderen Seite steht der germ. H o fdichter, der Verwalter traditioneller Helden- und Preisdichtung (ae. scop), und der ausschließlich nordische skald. Einige Male sehen wir sie nebeneinander agieren, wie schon im 5. J h . bei dem von P r i s k o s beschriebenen Hofgelage A t t i l a s

(Historia Byzantina,

in: Fragmenta

Histori-

corum Graecorum, hg. v. Karl Müller, I V (1868) S. 92 b) oder gar in ausdrücklicher Konfrontation, wie z. B . dann im 9. J h . bereits am H o f H a r a l d S c h ö n h a a r s (Thorbjörn Hornklofi, Haraldsquaedi, Str. 18 f. bzw. 2 2 f . ; hg. v. Finnar Jönsson, Den NorskIslanske Skaldedigtning I, 1908, S. 24ff.). Andererseits ist scop mit großer Wahrscheinlichkeit eine kontinentale Bildung aus mimus und kann im Einzelfall beides bedeuten. Der lat. Ursprung (joculator) des ae. gleoman ist noch deutlicher, und ein solcher gleoman tritt im Beowulf ebenso als Hofsänger auf wie Hrothgars scop (V. 1160 bzw. 1066). Noch in L a y a m o n s Brut sind die Begriffe synonym. Einen „Durchschnittstyp" - soweit es um Dichtung geht - vertritt wohl W i d s i t h , der im übrigen die Heldenliedsänger als gleomen gumena charakterisiert (V. 136). Daß dann im Spm.tum vom 8. bis zum 12. J h . , die Periode, über die wir am wenigsten Bestimmtes wissen, wieder eine Trennung in „ h o c h " und „nieder" erfolgt sei, ist ein Postulat, das auch im Hinblick auf die Tradition der Heldendichtung kaum mehr Berechtigung hat (s.u.

Hermann R e i c h , Der Mimus (1903). Andreas Heusler, Nibelungensage u. Nibelungenlied (5. Aufl. 1955) S. 16 passim. Georg Baesecke, Vor- u. Frühgeschichte d. dt. Schrifttums I (1940), bes. S. 482-490. Wilhelm Wissmann, Skop (1955; SBAkBln. 1954, 2). Friedr. v. d.

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Leyen, Skop. u. Spm. FuF. 32 (1958) S. 149151. Vgl. auch die Lit. zu § 6. § 5. Was über den Spm. als D i c h t e r zu sagen ist, muß - v. a. auch soweit es sich um tatsächlich erhaltene Texte handelt - im wesentlichen V e r m u t u n g bleiben. Das liegt z . T . an der allgemeinen Unschärfe der Begriffe und der gerade für Deutschland sehr ungünstigen Quellensituation, ist aber in der Sache selbst mit begründet. Die Quellen pflegen nicht zwischen Abfassung und Vortrag zu scheiden. Vielfach, besonders im Bereich der Gelegenheits- und Kleindichtung, deutet das auf eine Ubergangszone zwischen im engeren Sinn literar. Aktivität und anderen Wirkungsbereichen des Spm.s. In anderen Fällen, besonders im Rahmen der traditionellen Poesie (Heldenlied und -epos), wird es sich um mündliche Dichtung handeln: mündlich in dem strengen Sinn, daß Neuschöpfung ad hoc und Vortrag in der Tat ein und dasselbe sind (in jedem Fall würde man, wie es v. a. in der Romanistik gelegentlich geschehen ist, die Zeugniskraft des vorliegenden Materials ganz entschieden überfordern, wollte man einen dichtenden Spm. für alle die Gattungen in Anspruch nehmen, an deren Verbreitung er nachweislich beteiligt ist). a. Gelegenheitsdichtung aphoristischer Art ist eine schon früh bezeugte D o mäne des Spms. Auch wenn es sich nicht immer um wirkliche Vorkommnisse, sondern um literar. Konvention handeln sollte, - es macht doch schon die Existenz der Anekdote den tatsächlich schlagfertig improvisierenden Spm. wahrscheinlich: ein mimus regis (auch puer genannt), zu dessen Aufgaben es gehört, den König per verba jocularia bei guter Laune zu erhalten, vergeht sich an den Trauben des hl. Martin, wird bestraft und ruft in Versen um Hilfe (Gregor v. Tours, Libri octo miraculorum, M G H S . Merov. I [1885] S. 651); nach einer im Chronicon Novalidense überlieferten ätiologischen Sage bietet ein lombardischer joculator K a r l d e m G r o ß e n seine Hilfe als Führer an, und er tut das in F o r m eines selbstverfaßten Liedes (cantiuncu-

lam a se compositam de eadem re rotando in conspectu suorum cantare: M G H S . V I I [1846] S. 100). Ebenso sind die Verse, mit denen ein scurra den Sinn Karls gegenüber dem in Ungnade gefallenen Grafen U l r i c h wendet, spmän. Stegreifdichtung (Notker Balbulus,

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Gesta Karoli I, 13; hg. v. Reinhold Rau, Quellen z. karoling. Reichsgeschichte III [1960] S. 338. „Rückübersetzung" ins Ahd. durch M. Haupt in MSD., S. 60). b. Durch eine satirische Auslassung in den Sermones des S e x t u s A m a r t i u s (ca. 1050) erfahren wir etwas über das enge Zusammenwirken von spmän. Vortrag und vagantischer Dichtung im Bereich l i e d h a f t - e r z ä h l e n d e r Dichtung: ein jocator trägt gegen Honorar im Wirtshaus vier Lieder vor und begleitet sich selbst auf einem Saiteninstrument (hg. v. Max Manitius, 1888, 1, 439ff.). Drei dieser Lieder sind in der Cambridger Sammlung überliefert, wir haben es also mit bekannten Schlagern zu tun. W i l l i a m v. M a l m s b u r y zufolge verfaßte und vertonte der gelehrte Bischof A l d h e l m (gest. 709) gelegentlich volkssprachliche Lieder der leichten Art (Carmen triviale). Mit einem solchen Repertoire stellte er sich dann den zu hastig nach Hause strebenden Kirchenbesuchern in den Weg, wobei er allmählich inter ludicra auch Worte der Schrift mischte {De gestis pontificum Anglorum, hg. v. N.E.S.A. Hamilton [1870] S. 336): die geistliche Kontrafaktur eines Straßensängertyps, dem eigene Dichtung und Komposition zuzutrauen war. Die Kehrseite der hier beschriebenen Situation kommt später in einem Kommentar P e t r u s C a n t o r s zu Psalm 118, 171 (eructabunt lahia mea hymnum) zur Sprache: scurrilia vel effeminata carmina seien nicht die geeignetste Unterhaltung an Pilgerstraßen (zit. nach der Hs. bei Baldwin [u. § 7] II, S. 138, Anm. 178). In welchem Zusammenhang das frühdt. winileod gehört, ist nach wie vor unklar; es sei aber daran erinnert, daß die Glossen zu den kanonisch verbotenen plebei psalmi über cantica rustica aut uuinileod oder seculares cantilenas bis zu scofleod reichen. c. Die zahlreichen Hinweise auf aktuelle (und relativ kurzlebige) Z e i t l i e d e r (der neuerdings gebrauchte Ausdruck „Sagelied" ist unglücklich gewählt) sprechen im allgemeinen von vulgari traditione und dergl. Verhältnismäßig eindeutig ist aber Saxo G r a m m a t i c u s (Saxonis Gesta Danorum XIV, 18f.; hg. v. Jorgen Olrik und Hans Raeder, I [191] S. 404): ein cantor germanicus improvisiert in fröhlicher Tafelrunde ein polit. Spottlied auf die Flucht des Dänenkönigs Svend (1157), das er — so scheint es wenigstens - dann später in einer Weise weiterverwendet, die direkt an

die Berichte über den Normannen Tai lief er (u. § 6) gemahnt: medius acies interequitabat cantor, qui parricidalem Suenonis perfidiam famoso carmine prosequendo Waidemari milites . . . in bellum accenderet (a.a.O., S. 410). Improvisation eines geistlich-legendarischen Zeitlieds schreibt der Triumphus S. Remacli (11. Jh.) zum 8. Mai 1071 einem cantor iocularis zu (MGHS. XI [1854] S. 456). So mögen Spl. auch schöpferischen Anteil an der Verbreitung der (höhnischen) Kunde von den fränkischen Verlusten in der Schlacht bei Eresburg (915) gehabt haben (ut a mimis declamaretur ubi tantus ille infemus esset, qui tantam multitudinem caesorum capere posset. W i d u k i n d v. C o r v e y , Res gestae Saxonicae I, 23; hg. v. Albert Bauer u. Reinhold Rau, Quellen z. Geschichte d. sächs. Kaiserzeit [1971] S. 54). d. Breiten Raum in der Tätigkeit der Spl. nehmen das sprechen, die Lob - und S c h e l t r e d e ein, eine Randzone des Literarischen, über die Beziehungen zur Spruchdichtung zumindest des HochMA.s zu bestehen scheinen. Derartige halbliterar. Gelegenheitsäußerungen können spontan entstehen, meist werden sie aber entweder auf Bestellung abgefaßt oder wie Schablonen tradiert und auf Bestellung nur auf die spezifische Situation angewandt worden sein. Hinweise auf eine solche Tätigkeit begegnen schon im frühen MA., z. B. die mit einem quidam de scurris ioculariter inquit eingeleitete Scherz- oder Spottrede eines mimus an Kaiser L u d w i g (Notker Balbulus, Gesta Karoli II, 21; hg. v. Reinhold Rau, Quellen z. karoling. Reichsgeschichte III [1960] S. 424). Sicher steht sie der unter a) behandelten frühen Gelegenheitsdichtung nahe. Erst die höfische Gesellschaftsform schafft die Voraussetzung für eine ausgebreitete und systematische Kunstübung dieser Art, die von da dann in die bürgerliche Sphäre des späten MA.s hineingetragen wird. Mit dem sprechen ist vielfach nur das Possenreißen gemeint, die witzige Unterhaltung der Gäste bei Festen und Gelagen, gegebenenfalls verbunden mit persönlichen Bettelsprüchen. Mehr noch als die Possenreißer (loter) sind die Lob- und Scheltredner eine typische Erscheinung der höfischen Zeit. Das gesprochene oder gesungene Lob des Gastgebers gehört ebenso zum höfischen Fest wie die musikalische Unterhaltung und anderes. Hinter Versen H e i n r i c h s von V e l d e k e

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(Eneide 13199f.: die Spl. wurden reich beschenkt, so daß sie lof den koninge sungen/ igelic ane siner tungeri) oder H a r t m a n n s (Erec 2199: reich beschenkt scheidet manec wol sprechender spilman) erkennen wir den Typ des Lobredners, den aus der Warte des späten 13. Jh.s S e i f r i d H e l b l i n g karikiert (II, 1301ff.). Ihm zur Seite steht der schelter, der Verfasser und Verbreiter von Schmähreden, der freilich bei entsprechender Zuwendung umfunktioniert werden kann: de gewant de si armen lüten solten geben durch got, de gebent si spillüten uh scheitern, de si si loben (Dt. Predigten d. 13. Jh.s, hg. v. Franz Karl Grieshaber I [1844] S. 73). Volkstümliche, mimisch-literar. Satire als Zuständigkeitsbereich des Spm.s tritt in der Brandrede König E d g a r s an die kirchlichen Würdenträger Englands über die Mißstände in den Klöstern zutage: haec milites clamant, plebs submurmurat, mimi cantant et saltant in triviis (Cartularium Saxonicum, hg. v. Walter de Gray Birch III [1893] S. 573). Man denkt an die scurri vagi, die loquuntur obprobia et ignominias de absentibus (u. § 7). Gelegentlich ist die vielumworbene Strophe MF. 3,7ff. aus den Carmina Burana in diesem Sinn interpretiert worden. Auch im Fall der Lobund Rügedichtung braucht freilich der Spm. keineswegs der eigentliche Verfasser zu sein. William Longchamp, der Kanzler Richards II., benützte cantores et joculatores nur zur Verbreitung von Lobsprüchen über sich; die Verse selbst waren emendicata carmina aus anderer Quelle, vermutlich dem Kreis der Höflinge (Roger de Hoveden, Chronica, hg. v. William Stubbs, III [1870] S. 143). Der alte Held S t a r k a d stellt die Verhältnisse geradezu auf den Kopf mit seinem (improvisierten) Spottlied auf einen mit verzweifelter Anstrengung musizierenden und gestikulierenden histrio/mimus (Saxo Grammaticus, Geste VI, 8; a.a.O., S. 169). Diesen halbliterar. Typen gegenüber hat die S p r u c h d i c h t u n g , insbesondere wie sie seit der 2. Hälfte des 13. Jh.s als literar. Gattung vorliegt, in Form und Ethos eigene Voraussetzungen. Dennoch sind Beziehungen nicht zu leugnen. Besonders die Sprüche persönlichen Inhalts haben in Lob, Schelte und Bitte oft den gleichen Tenor, und die Haltung der Spruchdichter ist, wie die der Spl., weitgehend durch berufsmäßige Kunstübung und durch die Abhängigkeit von der Gunst der Her-

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ren bedingt. Im Gegensatz zu den bürgerlich-kunstbewußten Literaten des mittleren 13. und des 14. Jh.s, die immerhin die Konkurrenz des loter zu fürchten haben, könnte man noch H e r g e r / S p e r v o g e l direkt als spmän. Erscheinung betrachten, und nicht weit davon steht - literarisch überhöhend und wohl auch „zitierend" - W a l t h e r s Spruchdichtung, besonders der Teil, der (in Lob oder Tadel) den persönlichen Beziehungen gilt. Auch das spotten gehört zu T r i s t a n s Spmtum (Gotfrid, Tristan 7566). e. Immer wieder wird deutlich, daß der Spm. v. a. über die Musik Zugang zum Literarischen gewinnt. Das gilt besonders für den Minnesang des 12. und 13. Jh.s und Verwandtes. Schon um 1100 urteilt der engl. Musiktheoretiker J o h n C o t t o n : ioculatores et histriones, qui prorsus sunt illiterati, dulcísonas aliquando videmus contexere cantilenas (Música, hg. v. Martin Gerbert, Scriptores II [1784; Nachdr. 1963] S. 232 b). Hier ist Einheit von Dichten und Komponieren wohl ebenso selbstverständlich vorausgesetzt wie in der Stellungnahme eines späteren dt. Theoretikers, E n g e l b e r t v. A d m o n t (um 1280): metricus enim modus est histrionum, qui vocantur cantores nostro tempore, et antiquitus dicebantur Poetae, qui per solum usum rhythmicos vel métricos cantus ad arguendum vel instruendum mores, vel ad movendum ánimos et affectus ad delectationem vel tristitiam fingunt et componunt (M. Gerbert, a.a.O., S. 289a). Die Liste der ioculatores in der Antiqua Rhetorica des Italieners B u o n c o m p a g n o wird angeführt von einem inventor cancionum (hg. v. Ludwig Rockinger, Briefsteller u. Formelbücher d. 11. bis 14. Jh.s, I [1863] S. 163), und in dem Roman Gautier d'Aupais verfaßt ein jouglere auf Wunsch des Helden eine Liebesfrage an ein Mädchen in poetischer Form (V. 362; hg. v. Edmond Faral, 1919). Solche liedschöpferische Tätigkeit einzelner jongleurs ist besonders verständlich, insofern franz. troubadours häufig jongleurs in ihren Diensten haben, die ihre Lieder vortragen oder sie instrumental begleiten (vgl. z. B. Biographies des Troubadours [o. § 3 a] S. 335). Die provenz. Vidas erwähnen mehrfach, daß solche jongleurs auch dichten (komponieren) bzw. troubadours werden (ibid. S. 59, 196, 235, 236, 491), und die innerhalb dieses reich belegten (und viel umstrittenen) symbiotischen Komplexes er-

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kennbaren Spannungen machen deutlich, daß der troubadour sich häufig selbst in seinem eigensten Zuständigkeitsbereich, dem Dichten und Komponieren, von der Konkurrenz des jongleurs bedroht fühlte. Zwei lyrische Episteln G u i r a u t s de R i q u i e r von ca. 1275 dienen u. a. dem Zweck einer klaren Scheidung im oben angedeuteten Sinn (hg. v. S. L. H. Pfaff, G. R., in C. A. F. Mahn, Die Werke der Troubadours IV [1853] Nr. L X X I X und LXXX). Die dt. Quellen fließen wieder sehr viel spärlicher als die roman. Eindeutig meinen, wenn sie von spmän. Vortrag sprechen, sowohl Ottokars österreichische Reimchronik (MGH. Dt. Chron. V, 1 [1890] V. 676ff.) wie auch die Limburger Chronik (MGH. Dt. Chron. IV, 1 [1883] S. 70; vgl. o. § 3a) den Vortrag von Liedern anderer, von denen der eine als bekannter Edelmann und der andere als vagierender Barfüßermönch identifiziert ist. Die terminologische Konfusion, die auch in diesem Kunstbereich herrscht und sowohl den Vortragenden wie auch das Vorgetragene betrifft, mag Laurin A, 1045ff., illustrieren: dar nach sach man für gan / zwene wol singende man, / zwene guote sprechaere. / hovelichiu maere / si sungen vor den fürsten vil. Der Karlmeinet (o. § 3 b) erwähnt unter den Unterhaltern solche, de van mynnen ind leue sprachen, _ und zwar sunder breue (V. 287, 19f.), was bedeuten mag, daß es ihre eigenen Lieder waren. G o t f r i d s Tristan stilisiert den spilman zum Künstler an sich, v. a. in musikalisch-lyrischer Hinsicht. Nur so wird in Deutschland wenigstens einmal eine „den romanischen Spielleuten vergleichbare Künstlergestalt" (Wareman, S. 90) greifbar. Ist es übrigens Zufall, daß T r i s t a n s Rolle als der niuwe spilman (3563), ein höfscher spilman (7560) und Isoldes meister der spilman (8000) in der Regel reproduktiv ist? Der einzelne Spm. vermag sich durchaus auch höfisch anzupassen, wie das Beispiel Tristans weiter zeigt, aber die Kennmarke spilman hat grundsätzlich einen negativen Beiklang. Das Nibelungenlied setzt deshalb folgendermaßen ins Höfische um: Volker ist an sich ein edel herre, - spilman heißt er nur durch daz er videln künde (Str. 1477. Noch deutlicher die Klage V. 1389ff.). Die landläufige Vorstellung sah im spilman eher eine Figur wie M o r o l f : in roter Seide, mit der dutschen harpfe in der Hand auf der Landstraße

(Salman und Morolf Str. 688). Als Morolf/ Stolzelin vor der Königin singt, reproduziert er übrigens auch nur (Str. 252). Aus diesem Bereich kam aber offensichtlich ebenso die Konkurrenz des (beruflichen) Minnesängers wie in Frankreich und der Provence. Auch in Deutschland besteht ein gewisses Kontinuum, durch das der standesbewußte Minnesänger sich sozialhierarchisch wie materiell bedroht fühlt. D e r von B u w e n b u r c spricht es deutlich genug aus (VI, 47ff.; hg. v. Karl Bartsch, Die Schweizer Minnesänger [1886] S. 264): swer getragener kleider gert, / derst niht minnesanges wert; / die sol man stillen / durh Minne willen, / wan ir minnesanc ist wibes schände. Das gehört - mitsamt derselben Formel - auch mit zur Pointe von W a I t h e r s berühmter keiser/spileman-Sxxophe (62,36-63,7). Walthers Lebensform ist spmän., und darin gründet nicht nur zu wesentlichen Teilen seine Kunst, sondern auch sein Streben nach sozialer Anerkennung. f. Den darstellenden Funktionen der Spl. näher als den literarischen steht ihre Beteiligung am weltlichen und geistlichen Schauspiel, mit der die Forschung nicht selten gerechnet hat, und die dann u. U. auch literar. Elemente, z. B. eine Art spmän. Farce, mitumfassen soll. Der röm. Mimus als dramatische Kunst reicht aber nicht über das 6. Jh. hinaus, wenn auch kurze Mimenschwänke von Vaganten bis ins 15. Jh. hinein weitergepflegt worden sein mögen, und die Annahme, daß Spl. das Erbe germ. Kultspieler übernehmen, verkennt, daß die an ältere Kultspiele anknüpfenden mal. Bräuche im wesentlichen gemeinschaftlich gebunden sind und dem auf Darstellung und Vorführung eingestellten Spm. kaum eine einträgliche Betätigungsmöglichkeit bieten. Damit ist die gelegentliche Beteiligung von Spl. (in diesem Fall bes. wandernden Scholaren) am Fastnachtsspiel und in den komischen Szenen des geistlichen Spiels nicht ausgeschlossen. Gesichert ist, daß Spl. hie und da als Marionettenspieler auftreten. So hören wir im Wachtelmaere (134ff.; hg. v. H. F. Maßmann, Denkmäler dt. Sprache u. Lit. I [1828] S. 110), daß sie die tatermanne an Schnüren bewegen. Auch in roman. Quellen wird das Puppenspiel gelegendich zum Spm.repertoire gerechnet, wie im Roman de Flamenca (V. 611; hg. v. Paul Meyer, 2. Aufl. 1901). Das früheste Bildzeugnis eines mal.

Spielmannsdichtung Puppenspiels, fol. 215r des Hortus deliciarum aus der 2. Hälfte des 12. J h . s , illustriert das Thema vanitas vanitatum und zeigt Salomon als Zuschauer eines ludus monstrum: die beiden Spieler, die zwei Marionetten an Schnüren bewegen, sind mit Sicherheit keine Kinder, aber auch kaum Spl., sondern Hofdiener (The Hortus Deliciarum of Herrad of Hohenburg [Landsberg], hg. v. R. Green u. a., 2 Bde, Rekonstruktionsbd. [1978] pl. 123). Zu c: E. Erb (o. § 3 a) II (1964) S. 632-636. Markus D i e b o l d , Das Sagelied. Die aktuelle dt. Heldendichtung d. Nachvölkerwanderungszeit (1974; Europ. Hochschulschr. I. 94), bes. S. 84-91. Zu d und e: A. Wallner, Drei Spmnamen. PBB. 33 (1908) S. 540-546. Ders., Herren u. Spl. im Heidelberger Liedercodex (ebd. S. 483-540) und Zu Walther v. d. Vogelweide (ebd. S. 1-58). H. Steinger (o. § 2). B. Boesch (o. § 2). W. Mohr, ,Tristan u. hold' als Künstlerroman. Euph. 53 (1959) S. 153-174. F. H. Bäuml (o. § 3b). Eberhard Lämmert, Reimsprecherkunst im Spät-MA. (1970), passim. M. Curschmann, Waltherus cantor. Oxford German Studies 6 (1971/72) S. 5-17. Kurt F r a n z , Stud. z. Soziologie d. Spruchdichters im späten 13. Jh. (1974; GöppArbGerm. 111), bes. Kap. III, 4; V, 1 und 4. Z u f : E . K. Chambers, The MediaevalStage, 2 Bde. (Oxford 1903), passim. H. Naumann, Studien über d. Puppenspiel. ZfdB. 5 (1929) S. 1-14. E. B e u t l e r , Die Comedia Bile. GRM. 14 (1926) S. 81-96. Eva Mason-Vest, Prolog, Epilog u. Zwischenrede i. dt. Schauspiel d. MA.s. Diss. Basel 1949. M. H. Marshall, .Theatre' in the Middle Ages. Symposium. 4 (1950) S. 1-39; 366-389, bes. 375-378. J. D. A. Ogilvy, Mimi, Scurrae, Histriones: Entertainers of the Early Middle Ages. Spec. 38 (1963) S. 603-619. § 6. Was im vorausgehenden Abschnitt zu behandeln war, ist im wesentlichen situationsbezogene Kleinkunst. Eine weit schwerere Verantwortung bürdet die germanist. Forschung dem Spm. auf, wenn sie ihm die mehr oder weniger ausschließliche Pflege des germ. H e l d e n l i e d e s , wenn möglich bis hin zur epischen (und schriftlichen) G r o ß f o r m , zuschreibt, wie es gerade in neuerer Zeit wieder öfter geschieht (z. B . im Reallex. Bd. 1, 2. Aufl. [1958] S. 640). Diese Annahme war u. a. ein Kernstück in A. H e u s l e r s evolutionärer Nibelungenlied-Theorie, und erst vor kurzem ist noch einmal ein Spm. als Autor einer jungen, „Passauer" Strophenschicht apostrophiert

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worden (W. M ü n z , Euph. 65 [1971] S. 345376). Konkrete Belege sind jedoch kaum zur Hand. Dazu kommt: wenn der Begriff „spmän. Stil" (s. u. § 9) überhaupt etwas besagen soll, dann ist das (alte) Heldenlied, wenigstens das uns erhaltene, keine Spmd. Womit freilich nicht ausgeschlossen bleibt, daß der Spm. sich im Einzelfall in den Typus einzufühlen vermochte (oder daß er vorwiegend einen Heldenliedtypus pflegte, der, aus welchem Grund auch immer, nicht bis zur Schriftlichkeit überlebte). Im Anschluß an das bereits oben (§ 4) Bemerkte seien noch ein paar Belege aus späterer Zeit zur Diskussion gestellt. Den Sachsen S i w a r d (der Name findet sich nur in der Vita S. Kanuti des R o b e r t u s E l g e n s i s : M G H S . X X I X [1892] S. 10, Anm. 10), der 1131 den Herzog K n u d L a v a r d mit einem Lied von Krimhilds Rache vor Verrat zu warnen suchte, stellt man sich am besten als zugewanderten Berufssänger (augenblicklich in fester Anstellung bei Magnus) vor, der über ein heldenepisches Repertoire verfügte, aus dem er ad hoc erneuernd vortrug. Bei S a x o G r a m m a t i c u s wird er als cantor ( a . a . O . , S. 3 5 4 f . ) , in einer Passio S. Kanuti als puer M G H S . X X I X [1892] S. 15f.; vgl. o. § 5 a) bezeichnet. Die weiteren wesentlichen Punkte: quod Kanutum Saxonici et ritus et nominis amantissimum scisset (das spätere Compendium Saxonis verdeutlicht zu sciens... Teutonicorum; eum diligere mores et cantus hg. v. M . C l . Gertz, Scriptores minores historiae Danicae medii aevi I [1918] S. 398) . . . . , speciosissimi carminis contextu notissimam Grimildae erga fratres perfidiam. . . . memorare adorsus (Saxo Grammaticus, a . a . O . , S. 355). Denselben Typ verkörpert der histrio/ mimus/joglere T a i l l e f e r (s. o. § 3 b ) , der in der Schlacht von Hastings (1066) dem normannischen Heer mit einem Lied über Karl, Roland und Roncevalles vorausritt. Er gehört übrigens wie der Sänger W i l h e l m s in der Chanson de Guillaume (V. 1258ff.; hg. v. Duncan McMillan, I, 1949), der denselben und noch viele andere Stoffe beherrscht, oder der scop H r o t h g a r s (o. § 4 ) zugleich zur Kriegerkaste des Hofs. Es spricht für die relativ bedeutsame literar. Rolle des franz. jongleur, wenn vereinzelte Quellen einem tatsächlichen (wie dem Kleriker B e r t r a m de B a r - s u r - A u b e ) oder vermeintlichen ( R a i m b e r t de P a r i s ) Verfasser

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einer geste diese Bezeichnung geben. O b sich das auf dt. Verhältnisse übertragen läßt, ist eine andere Frage. Einerseits berichten die Flores temporum ( M G H S . X X I V [1879] S. 250), daß multa de ipso ( = D i e t r i c h v. B e r n ) cantantur, que a ioculatoribus sunt conficta. Andererseits: selbst wenn H e i n r i c h d e r V o g l e r ein Spm.name wäre, so bezeichnet doch dise wernde swaere, die er gesprochen und getihtet haben soll (Das Buch von Bern, 7999f.), nur die spezifische Zeitklage, die an dieser Stelle zitiert wird, nicht das ganze Epos. D e r Sachse Siwart steht auch unter den Beispielfiguren der „mittleren" und „späten" germ. Heldenliedzeit ziemlich allein. Der Angelsachse L u k a s , der 1170 clara voce prorumpens die bedrückten Gemüter dänischer Truppen mit memoratis ueterum uirtutihus wieder aufrichtete, war ein halbgebildeter Schreiber, scriha . . .: literis quidem tenuiter instructus, sed historiarum scientia apprime eruditus (Saxo Grammaticus, a . a . O . , S. 583). Er nimmt dabei die Funktion wahr, die früh als eine der wichtigsten des germ. Heldenliedsängers belegt ist, und die in vergleichbarer Situation im Jahr 1030 ein wieder anderer Erzählertyp für O l a f d e n H e i l i g e n und sein Heer erfüllt: der isländische Skalde Olafs, T h o r m o d , singt am Morgen der Schlacht das „alte Bjarkilied" (Snorri Sturluson, Olafs Saga Helga, Kap. 208; Heimskringla, hg. v. Bjarni Adalbjarnarson, II, 1945). Und wie paßt in dieses (höchst fragmentarische) Bild der blinde B e r n l e f , ein fries. Bauer um 790, der antiquorum actus regumque certamina bene noverat psallando promere (Altfrid, Vita Liudgeri, M G H S . II [1829] S. 412)? Die Gesta Hungarorum des „ P . M a g i s t e r " aus dem 13. J h . benennen im Rahmen ihrer toposhaften Kritik an den „ G e schichtsfälschungen" der Heldendichtung interessanterweise den Bauern (oder Landadeligen) und den Spm. als alternative Träger: falsae fahulae rusticorum bzw. garrulus cantus ioculatorum (hg. v. Ladislaus Juhäsz [1932] S. 1; vgl. auch S. 28. Solche Kritik hindert andererseits den Chronisten nicht, wenn nötig, Spl. als Quelle anzuführen: vt dicunt nostri ioculatores [S. 18]). Selbst bei weitherzigster Auslegung des Begriffs - daß der Spm. der alleinige Träger des Heldenlieds und der nachfolgenden Schwellformen war, scheint somit ausgeschlossen.

Aber daß er als einer von mehreren eine besonders wichtige Rolle spielte, ist nicht nur gelegentlich deutlich angezeigt, sondern gewissermaßen ein Postulat historischer Vernunft. Wer sonst hätte für überregionale Verbreitung gesorgt? Wer war annähernd so gut geeignet, (wiederum auf überregionaler Basis) mündlichen Stil, die traditionelle Kompositionsweise der ad hoc Reproduktion durch Erzählschablone und sprachliche Formel, am Leben zu erhalten? Gerade der Spm. wird im außerliterar. Bereich für die Kontinuität der poetischen Technik gesorgt haben, ohne die heldenepische Dichtung nicht denkbar ist. Insofern, wenn auch nicht im Sinn eines genau umrissenen Sängerstandes, haben die Vergleiche mit dem russischen S k o m o r o c h e n und dem s e r b o k r o a t i s c h e n V o l k s s ä n g e r der jüngsten Vergangenheit durchaus ihre Berechtigung. Den relativ besten Eindruck von der vorschriftlichen spmän. Heldendichtung mag die Thidrekssaga vermitteln (hg. v. Henrik B e r t e l s e n , Kopenhagen 1905-11). Belege v. a. bei Wilhelm G r i m m , Die Dt. Heldensage (4. Aufl. 1957). — Andreas Heusler, Nibelungensage (§ 4), passim. H. Fromm, Das Heldenzeitlied d. dt. HochMA.s. NeuphilMitt. 62 (1961) S. 94-118. Klaus v. See, Germ. Heldensage (1971), S. 131-147. Vgl. K. H. I h l e n b u r g , Die gesellschaftl. Grundlage d. germ. Heldenethos u. d. mündliche Überlieferung heroischer Stoffe. Weimarer Beitr. 17,2 (1971) S. 140-169. Dieter H o f m a n n , Vers u. Prosa in d. mündlich gepflegten mal. Erzählkunst d. germ. Länder. Frühmal. Studien 5 (1971) S. 135-175 und v. a. auch die Lit. zu § 4. — Zum Prinzip mündlicher Dichtung allgemein: Albert B. L o r d , Der Sänger erzählt. Wie e. Epos entsteht (1965. Engl. Original Cambridge, Mass. 1960). Auf den germ. Sänger übertragen: F. P. M a g o u n , Jr., Bede's Story of Caedman: the Case History of an Anglo-Saxon Oral Singer. Spec. 30 (1955) S. 49-63. Zur chanson de geste als mündlicher Dichtung: Jean R y c h n e r , La chanson de geste. Essai sur l'art épique des jongleurs (Genève 1955; Soc. de pubi, romanes et françaises. 53). Hierauf u. a. M. D e l b o u i l l e , Le mythe du jongleur-poète. Studi in onore di Italo Siciliano (Firenze 1966) S. 317-327; M. T y s s e n s , Le ,jongleur' et l'écrit. Mélanges offerts à René Crozet, I (Poitiers 1966) S. 685-695. — M. C u r s c h m a n n , Oral Poetry (u. § 9). § 7. Das Verhältnis des Spm.s zur e p i s c h e n G r o ß f o r m des H o c h M A . s und damit zumindest am Rand auch Genese und Zielsetzung der sog. (dt.) S p i e l m a n n s e p e n

Spielmannsdichtung (Spmen) beleuchtet der oft zitierte, aber meist falsch datierte und aus dem histor. Zusammenhang gerissene Abschnitt De histrionibus in der Summa Confessorum des T h o m a s v o n C h o b h a m (um 1215; hg. v. F. Broomfield [Louvain, Paris 1968] S. 291-293). Er ist im Gefolge allmählicher Auflockerung und Differenzierung der kirchlichen Haltung gegenüber der histrionia ad recreationem entstanden, die sich schon um die Mitte des 12. Jh.s deutlich bemerkbar macht (vgl. Johannes v. Salisbury, Policraticus, hg. v. Clement C. J . W e b b , II [Oxford 1909] S. 316); und im engeren Sinn systematisiert er Gedankengänge, die in den folgenden Jahrzehnten u. a. die Pariser Lehrer und Mitschüler des Thomas, v.a. P e t r u s C a n t o r (vgl. Summa de sacramentis, hg. v. Jean-Albert Dugauquier, Louvain 1954ff.) beschäftigt hatten. Auch für Thomas gehört das officium des histrio noch zu denen, die ex toto peccata sunt (S. 290), und das gilt in jedem Fall für zwei Kategorien von Unterhaltern: die, welche nur mit dem Körper (und Masken) agieren (S. 291), und die, welche - von Hof zu Hof ziehend - mit nichts als Scheltreden ihr Brot verdienen (ibid.; zit. o. § 5b. Hierzu die Definition Petrus Cantors, a . a . O . III [1963] S. 427: de turpi loquio vel vani loquio). Innerhalb einer dritten Gattung, histrion[es] qui habent instrumenta musica ad delectandum homines, macht Thomas dann aber einen gewichtigen Unterschied zwischen solchen, die bei öffentlichen Anlässen lascivas cantilenas singen, ut moveant homines ad lasciviam (S. 292; vgl. o. § 5b Petrus in der Summa, a.a.O.: enormia uel effeminata carmina), und solchen - sie heißen ioculatores und sind allein nicht eo ipso verdammt, - qui cantant gesta principum et vitas sanctorum et faciunt solatia hominibus vel in egritudinibus suis vel in angustiis suis (ibid.). Diese Systematik entspringt, wie u. a. der Vergleich mit P e t r u s C a n t o r und anderen aus seiner Umgebung zeigt, dem Bemühen eines praktischen Moraltheologen, „to comprehend the social complexities he wished to evaluate" (Baldwin I, S. 200), und bietet nicht notwendig ein genaues Abbild der historischen Wirklichkeit. Trotzdem sind - im Zusammenhang mit anderen Quellen - ein paar vorsichtige Schlußfolgerungen am Platz. Die joculatores, von denen hier die Rede ist, t r a g e n v o r , sie dichten nicht: Musik und

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Gesang, - das sind die entscheidenden Kriterien zur Ausgrenzung der dritten Kategorie insgesamt. Epischer Vortrag durch jongleurs ist schon durch die Eingänge einiger chansons hinlänglich bewiesen, und Zurschaustellung eines Vortragsrepertoires ist geradezu ein Topos altfranz. Lit. des späten 12. und des 13. Jh.s. Daß die Verfasser vielfach woanders zu suchen sind, bekundet aber gerade die bunte Vielseitigkeit des Angebots, das im übrigen Artusepik mit einschließt, die in einem ganz anderen Zusammenhang auch von Peter v. B1 o i s mit histriones als Vortragenden in Verbindung gebracht wird (De confessione, PI. 207 [1855] Sp. 1088. Vgl. auch Odo Tusculanus, Sermones, hg. v. J . B . P i t r a , Analecta novissima Specilegii Solosmensis [1885-88] II, S. 227. Daß Spi. in einem früheren, vorChrestienschen Stadium an der poetischen Bearbeitung auch dieser Stoffe zumindest mitbeteiligt sind, bekundet der clerc Chrestien selbst, wenn er sich im £rec-Prolog von den berufsmäßigen Erzählern [und Verfälschern] der Materie distanziert: V. 19ff.; hg. v. Mario Roques, Genève 1953). Vergleichbare Uberblicke sind in Deutschland selten und verhältnismäßig spät. Das einzige umfängliche Beispiel ist der bekannte Spruch des M a r n e r , der u. a. König Rother und Teilkompositionen des Nibelungenstoffs anbietet, wenn auch - als im Grunde spmän. Repertoire (?) - nicht ohne Widerwillen (XV, 14; hg. v. Ph. Strauch, 1876. Zum Vortrag heldenepischer Stoffe vgl. man H u g o v. T r i m b e r g , Der Renner, V. 10348ff., oder Karlmeinet, V. 287, 15-17). Des (Vor-)Lesers, den die bereits zitierte Sachsenspiegel-Glosse (§ 3) unter den Spi. erwähnt, gedenken spmän. Dichtungen selbst gelegentlich; sie berücksichtigen auf diese und andere Weise die Situation des Vortrags durch einen professionellen Rezitator schon in der Textkonstitution mit (vgl. Salman u. Morolf Str. 451; 521,4 Var. u.ö.; Laurin A, V. 1218; Herzog Ernst G, Str. 61, 8 ff. Hierher gehört auch Reinhard Fuchs, V. 854f.: swer des niht gelovbet, / der sol drvmme niht geben). Ähnlich wird sich der Hinweis auf daz (diz) buoch u.ä. öfter auf das Vortragsmanuskript beziehen. Wie steht es mit den bei Thomas umrissenen I n h a l t e n solcher Darbietung? Der Vortrag von Heiligenleben durch jongleurs oder mimi ist ebenfalls anderweit zu belegen (z. B. AS. Aprili, I, S. 672a; MGHS. X X V I [1882]

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S. 447; vgl. W. Foerster, Nachr. AkGöttingen, 1914, S. 132), aber in einem weiteren, erläuternden Satz erwähnt Thomas nur noch gesta principum et alia utilia. Die entsprechende Stelle in Peters Summa lautet (a.a.O., S. 177): si cantant cum instrumentis de gestis rebus ad recreationem vel forte ad informationem; und in der längeren Fassung seines Verbum abbreviatum heißt es: antiquas historias ad movenda corda ad compaciendum (zit. bei Baldwin II, S. 142f., Anm. 219). Der Akzent liegt offensichtlich auf utilia im Zusammenhang mit erbaulich-belehrender Entspannung, zu der sich Heldenepisches und Hagiographisches u. U. vereinen, ohne daß dabei an klar unterschiedene Gattungen gedacht wäre. Die chansort de geste stellt ohnehin häufig diese Kombination schon bereit, und z . T . handelt es sich wohl auch um ein Wunschbild: wo er die wahren Interessen der sündigen Gemeinde umschreibt, da unterscheidet Thomas strickt: bene sciunt vanas cantilenas et gesta Caroli et aliorum principum et nesciunt rectam fidem nec gesta Salvatoris et aliorum sanctorum que leguntur in ecclesia ( a . a . O . , S. 242). Was hier in der 2. Hälfte des 12. Jh.s in Frankreich und England akademisch durchdacht und formuliert wird, kommt sicher nicht von ungefähr. Es ist Ausdruck eines geistigen Klimas, das von kirchlicher Seite aus die Entstehung eines weltlich-geistlichen Literaturtyps begünstigt und das selbst in Deutschland unterschwellig spürbar gewesen sein wird. John W. B a l d w i n , Masters, Princes, and Merchants. The Social Views of Peter the Chanter and His Circle. 2 Bde ( Princeton 1970), bes. I, S. 198-204; II, 138-144. § 8. Die sog. S p i e l m a n n s e p i k (Spme.) entspricht in der Tat in vieler Hinsicht dem von Thomas v. Chobham entworfenen Bild, obwohl musikalischer Vortrag nur für den Salman u. Morolf wahrscheinlich ist und das national-heroische Element im Einzelfall abgeht (dafür ist unter den Erzählformen und Stilmitteln [s.u. § 9], die hier am ausgeprägtesten zu Tage treten, an erster Stelle der internationale Erzähltypus „Brautwerbung" zu nennen). - Es handelt sich um eine Gruppe von Epen mittlerer Länge, als deren typischstes der Salman u. Morolf (Salm.) gilt. Neben ihn stellen sich auf der einen Seite die

„Legendenepen" Münchner Oswald (Osw.) und Orendel (Or.), auf der anderen die eher politisch-historisch orientierten König Rother (Ro.) und Herzog Emst (Er.). Das ist der Kanon, der - mit der immer häufigeren Ausnahme des Er. - die Diskussion um die Autorschaft der Spmen überdauert hat, obwohl heute fast nur noch Geistliche als die Verfasser der Buchform gelten. Daß die Texte schon in der 2. Hälfte des 12. Jh.s schriftlich vorlagen, ist für Ro. und Er. (hier durch Fragmente einer Fassung A) hsl. gesichert, für die anderen drei nach Analogie und aus Gründen der literarhistor. Logik mehr als wahrscheinlich, obwohl hier die Überlieferung für uns erst im 15. Jh. einsetzt. Die ursprüngliche Gestalt läßt sich freilich nur in Umrissen, d . h . , als literar. Komposition und nicht als „Wortkunstwerk" wiedergewinnen. Auch hat eine Datierung von Salm., Osw. und Or. ins 13. Jh. (oder noch später), wie schon im 19. Jh., noch in der Gegenwart ihre Befürworter. a. Es gibt nach dem Ausfall des Spm. als Verfasser dieser Buchepen kaum noch Gründe an einer „Gattung" Spme. festzuhalten oder gar ein entsprechendes mal. Gattungsbewußtsein vorauszusetzen. Wohl aber schließen sich die genannten Werke u. a. in dem Sinn locker zusammen, als sie gemeinsam den für das 12. Jh. charakteristischen Aufstieg einheimischer mündlicher Dichtungstradition in die Sphäre der von Geistlichen verwalteten Buchdichtung repräsentieren. Weiter: die großen Unterschiede in der geographisch-kulturhistorischen Herkunft der Stoffe oder in der Provenienz der ersten Bearbeitung; jeweils ganz verschiedene motivische und thematische Verflechtung mit anderen Erzähltypen, wie etwa der chanson de geste auf der einen und der lat. Legende auf der anderen Seite, die durchaus ungleichmäßige Orientierung am spmän. Erzähltyp u. ä. mehr - all das wiegt letztlich geringer als einige innere Gemeinsamkeiten: die neue Welthaltigkeit des Erzählens, das gleichgerichtete Bestreben, dieses Diesseits in symbolischer, gefährlicher Raumerfahrung und Erfassung des menschlichen Partners zu bewältigen, und die Darstellung dieser Erfahrung in einer Doppelhandlung, in der - in jeweils verschiedener Weise - dem falschen oder mißglückten Anlauf ein zweiter mit günstigem Ausgang folgt. „Welt" bedeutet dabei nicht die eigene (gegenwärtige oder heldenepisch-historisch verbürgte) Welt, sondern

Spielmannsdichtung eine mittelmeerisch-orientalische Wunderwelt, die zugleich auch einheimisches Sagen-, Märchen- und Mythengut neu belebt. Die Kreuzzugserfahrung, die überall auch direkt anklingt, hat hier sowohl neue Wirklichkeit vermittelt als auch die eigene Wirklichkeit und histor. Situation symbolisch verfremden und damit interpretieren helfen. Mit bisher im dt.sprachigen Schrifttum kaum gekannter Fabulierfreudigkeit handelt der neue Erzähltyp vom rechten Gebrauch weltlicher Macht, von gesellschaftlicher Organisation und zwischenmenschlicher, insbesondere zwischengeschlechtlicher Beziehung. In letzterem Punkt bestehen enge innere Verbindungen zum frühen Minnesang (wobei auch das Bild der Frau als aktiver Partnerin entschieden an Kontur gewinnt), und insgesamt weist diese spmän. Epik durchaus mit auf den höfischen Roman voraus, wenn dieser auch den einheimischen Ansatz dann verdrängt und überlagert. Gleichzeitig setzt sich in all dem das Bemühen älterer geistlicher Dichtung um die Diskussion weltlicher Fragestellungen fort. Technisch gesehen wird es möglich durch die reflektierende Manipulation einer traditionellen Kompositionstechnik und traditioneller Erzählmuster, die gerade aus der handwerklichen Schematik des Darstellungsvorgangs individualisierende Effekte und Strukturen ableitet. So wird allmählich die alte Aggregattechnik sowohl des geistlichen Schrifttums wie der mündlich konzipierten, addierenden weltlichen Erzählung überwunden. Während damit einerseits alte Stoffe der mündlichen Unterschicht „aufsteigen", führt dieser Literarisierungsvorgang zugleich neue Stoffe in den Bereich unterhaltsam erzählender Epik ein. Lange haben im Hinblick auf diese Episierung und im Hinblick auf die Typik der Motive und Themen entstehungs- und entwicklungsgeschichtliche Fragen und Fragen der gegenseitigen Abhängigkeit im Vordergrund der Forschungsdiskussion gestanden. Daß die Texte nur so genommen werden können, wie sie sich erhalten haben, und darüberhinaus als literar. Denkmäler ernstgenommen werden wollen, ist ein Gesichtspunkt, der sich nur zögernd durchgesetzt hat. Zur Charakterisierung der einzelnen Denkmäler müssen Stichworte genügen, im übrigen ist auf das Verfasserlexikon zu verweisen. Die relativ ausführlichen Literaturangaben berücksichtigen insbesondere neuere Erscheinungen.

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b. Herzog Ernst: das dt. Epos A , das sich nur in wenigen mfr. bzw. hochdt. Fragmenten erhalten hat, durch eine höfisierende Bearbeitung B (ca. 1210) aber relativ gut vertreten wird, gehört in einen auf breiter Front - lat., dt., in Prosa, Reimpaarversepos und strophischem Lied - bis ins 15. Jh. hinein aktiv entfalteten Stoffkreis. Inwieweit (und ob überhaupt) eine lat. Prosa schon zwischen einem spmän.-mündlichen Zeitlied oder histor. Kurzepos und A vermittelt hat, ist nach wie vor unklar. A B strebt nach politisch-gesellschaftlicher Aktualisierung dt. Reichsgeschichte im Orientabenteuer des vertriebenen E r n s t , das im Vorbild wie im Gegenbild bereits Möglichkeiten einer höfischen Gesellschaftsform skizziert. Das Thema Brautwerbung, das die übrigen Spmen beherrscht, bleibt unter diesem Gesichtspunkt am Rand, im Vordergrund steht mal. Ethnographisches. — König Roth er: das Werk eines in Bayern wirkenden Rheinfranken, der vermutlich eine einheimische spmän. Erzählformel des Brautwerbungsschemas aufgriff, die sich im Bericht des P a u l u s D i a c o n u s über die Werbung des Langobarden A u t h a r i spiegelt (Historia Langobardorum, III, cap. 30). Vielfach hat man den vorliegenden Text als Endprodukt gradueller Episierung verstanden, v. a. im Hinblick auf die Wilzensage in der Thidrekssaga, einer Variante derselben Formel. Auf der anderen Seite klingen - unüberhörbar - zeitgeschichtliche Reminiszenzen und politische Problematiken an. In diesem Kraftfeld ist der Ro. eher allgemein reichspolitisch als weifisch oder staufisch parteilich orientiert. Im einzelnen hat darüberhinaus der Kreis der ostbair.-österr. Auftraggeber entschieden Einfluß genommen. Die Brautfahrt führt sowohl zum gemeinsamen Anschluß des westlichen Helden und der Tochter des byzantinischen Basileus an die Reichsgenealogie wie weiterhin zur Moniage. Politische und private (Minne-) Thematik greifen ebenso in der Entfaltung der Schemata ineinander (gerade in der Gestaltung der ersten Begegnung R o t h e r s mit seiner Braut beweist im übrigen der Dichter besondere Kunst und besonderes Feingefühl). Der Ro. bleibt im 13. Jh. als heldenepische Brautwerbung lebendig: er gehört zum Vortragsprogramm des M a r n e r (o. § 7) und wird im Buch von Bern praktisch zitiert (V. 1315f.). — Salman u. Morolf: ist im Unterschied zu den anderen in

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(spmän.-kleinlyrischen?) Strophen abgefaßt, und die (spätmal.) Überlieferung ist durchwegs bebildert. Mit der Geschichte von Salomon und seiner ungetreuen Gattin (das Werbungsschema ist konsequent verkehrt) greift der Salm, einen alten, im Orient wie im Abendland weit verbreiteten Erzählstoff auf (neben das Epos stellt sich - mit anderer Konstellation Salomon/Morolf [ M a r k o l f ] eine lat./dt. Dialogtradition, die in ihrem epischen Schlußteil dieselbe Erzählung [zumindest spätmal.] in anderer Form aufnimmt): Paradebeispiel einer spmän. gewachsenen, gebauten und tradierten Dichtung ( F r i n g s ) , die deshalb auch heute noch weitgehend als absichtslose Fabelei gilt. Über die Rolle eines traditionell ambivalenten Minnehelden isoliert der Verfasser die Liebesbeziehung im Gegensatz zum Ro. weitgehend, und er versinnbildlicht ihre negativen Aspekte durch S a l m e s Rückfall ins Heidentum. M o r o l f fungiert in diesem Zusammenhang nicht nur als listiger Helfer, sondern auch als Kritiker seines Bruders. — Münchner Oswald: spmän. Kernstück der literar. (im wesentlichen bair.) Tradition um den nordhumbrischen Märtyrerkönig. Es gehört zu dieser Tradition u.a. (spätmal. Prosaauflösungen bzw. -bearbeitungen; Fragment eines Legendenepos nach Art der chanson de geste aus dem 14. Jh.) eine kürzere, ganz legendarisch ausgerichtete schles. Fassung (Wiener Oswald), die gelegentlich noch als dem ursprünglichen Konzept näherstehend betrachtet wird. Der Osw. variiert das Grundschema der Brautwerbung v. a. durch Verschränkung mit der Struktur der christlichen Legende und führt in diesem Prozeß O s w a l d s Heiratswunsch und die damit verbundene Frage nach der Berechtigung irdischer Liebe zu dem „negativen" Schluß einer keuschen Ehe. — Orendel: diese christlich wie heldisch überspannte Version des Osw. -Typs, in deren ideellem Zentrum allerdings nicht die Werbung O r e n d e l s um B r i d e , sondern die Gewinnung des grauen, ungenähten Rocks Christi für T r i e r steht, entspringt entsprechenden lokalen Propagandabestrebungen (depositio des Rocks im Dom 1196) und wird in ähnlichem Zusammenhang 1512 (mit Bildern) neu aufgelegt bzw. bearbeitet (der mal. Titel lautet entsprechend Der graue Rock). Daneben rückt eine knappe Nacherzählung im Straßburger Heldenbuch den Or. auch in

heldenepische Rezeptionszusammenhänge. Eine eigene ältere Orendel-Tradition ist nicht zu greifen, obwohl neuerdings gerade die eventuelle Vorgeschichte in Mythos, Sage oder Legende wieder besondere Beachtung findet. Literar. Modell ist v. a. der spätantike Roman in Gestalt des Apollonius. Zu a: Gesamtüberblick: Walter Johannes S c h r ö d e r , Spme. (2. Aufl. 1967; Samml. Metzler 19). M. C u r s c h m a n n , „Spme" (o. § 1). — K. H a m p e , Der Kulturwandel um d. Mitte d. 12. Jh.s. ArchfKultg. 21 (1931) S. 129-150. C. E r d m a n n , Fabulae Curiales. Neues zum Spmgesang u. zum Ezzo-Liede. ZfdA. 73 (1936) S. 87-98. M. M a c k e n s e n , Soziale Forderungen u. Anschauungen d. frühmbd. Dichter. Neue Heidelbgjbb. N F . 1925, S. 133-171. Th. F r i n g s , Die Entstehung (o. § 2). Klaus F u s s , Der frühgotische Roman (1941). Zur im engeren Sinn stilistischen Typologie s. die zu § 9 aufgeführten Arbeiten von G. B a e s e c k e , R. H ü n n e r k o p f und K. z u r N i e d e n . — W. S t a m m l e r , Die Anfänge weltlicher Dichtung in dt. Sprache. E. neue Kennung. ZfdPh. 70 (1947) S. 10-32; wiederabgedr. in: Stammler, Kleine Schriften (1953) S. 3-25. Friedr. H e e r , Die Tragödie d. Hl. Reiches (1952) S. 106-118; Kommentarband (1953) S. 51-53. Friedr.-Wilh. W e n t z l a f f E g g e b e r t , Kreuzzugsdichtung d. MA.s (1960), bes. S. 98-128. I. ( K ö p p e - ) B e n a t h , Vergleichende Studien z. d. Spmen Ro., Or. u. Salm. PBB. (Halle) 84 (1962) S. 312-372, und 85 (1963) S. 374-416. Dies., Christliches in d. „Spmen" Ro., Or. u. Salm. Ebd. 89 (1967) S. 200-254. M. C u r s c h m a n n , Der Münchener Oswald (u. § 8 b ) . Hans S z k l e n a r , Studien z. Bild d. Orients in vorhöf. dt. Epen (1966; Pal. 243. Ro. und Er.). H . F r o m m , Doppelweg. W e r k - T y p Situation, hg. v. I. Glier u. a. (1969) S. 64-79. Kurt R u h , Höfische Epik d. dt. MA.s. T. 1 (1967; GrundlGerm. 7), bes. S. 58-66. H.-J. B ö c k e n h o l t , Untersuchungen z. Bild d. Frau in d. mhd. „Spielmannsdichtungen". E. Beitr. z. Bestimmung d. literarhist. Standortes d. Epen Ro., Salm., Osw. u. Or. Diss. Münster 1971. Rodney F i s h e r , Studies in the Demonic in Selected Middle High German Epics (1974; GöppArbGerm. 132). Uwe M e v e s , Studien zu Ro., Er. u. Grauer Rock (Or.) (1976; EuroHS. I, 181).

Zu b: Herzog Ernst. Ausg.: K. B a r t s c h (1869; u. a. B, aber nur die Prager Fragmente von A). Bernhard S o w i n s k i (1970; ReclamUB. 8352-57): Text von B (nach Bartsch) und aller Fragmente von A, mit nhd. Ubers., Anm. und Nachwort. — Lit.: C. H e s e l h a u s , Die Er.Dichtung. D V L G . 20 (1942) S. 170-199. H . N e u m a n n , Die dt. Kemfaheld. Er.-Epos. Euph. 45 (1950) S. 140-164. Esther R i n g h a n d t , Das

Spielmannsdichtung Er. -Epos. Vergleich d. dt. Fassungen A, B, D, F. (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1955. H.-Fr. R o s e n f e l d , VerfLex. 5 (1955) Sp. 386-406. Ders., Das Er.-Lied u. d. Haus Andechs. ZfdA. 94 (1965) S. 108-121; wiederabgedr. in: Rosenfeld, Ausgewählte Schriften. Bd. 1 (1974; GöppArbGerm. 124) S. 64-121. M. W e h r l i , Er. Dtschunt. 20 (1968) S. 31-42; wiederabgedr. in: Wehrli, Formen mal. Erzählung (1969) S. 141-153. St. K a p l o w i t t , Herzog Ernst and the Pilgrimage of Henry the Lion. Neophil. 52 (1968) S. 387-393. H. B e c k e r s , Brandan u. Er. E. Untersuchung ihres Verhältnisses anhand d. Motivparallelen. Leuv. Bijdr. 59 (1970) S. 41-55. Ch. G e r h a r d t , Verwandlungen e. Zeitliedes: Aspekte d. dt. Er.Überlieferung. Verführung z. Geschichte: Festschr. z. 500. Jahrestag d. Eröffnung e. Universität in Trier, hg. von Georg Droege u. a. (1973) S. 71-89. G. Z i n k , Er. et chansons de gestes. fitudGerm. 32 (1977) S. 108-118. König Rother. Ausg.: Th. F r i n g s u. J. K u h n t (1922; Rhein. Beitr. u. Hülfsbücher z. germ. Philol. u. Volkskde 3). Jan de V r i e s (1922; GermBib). II, 13). Beide mit wichtigen Einleitungen. Frings und Kuhnt bieten einen diplomatisch getreuen Textabdruck, der mehrfach nachgedruckt ist: in den altdt. Texten (Halle), 3. Aufl. 1968 (I. K ö p p e - B e n a t h ) , mit Lit. seit 1922 und Vorschlägen zum Text. Zum Text vgl. weiterhin die Untersuchungen G. K r a m e r s , PBB. (Halle) 79 (1957) S. 186-203, und SonderBd. S. 111-130; ebd. 82 (1960) S. 1-82; 84 (1962) S. 120-172. — Lit.: Friedr. P a n z e r , Italische Normannen in dt. Heldensage (1925); Dt. Fschgn 1. Th. F r i n g s , Rothari-Roger-Rothere. PBB. 67 (1944) S. 368-370. Joachim B a h r , Der Ro. u. d. frühmhd. Dichtung: formgeschichtliche Untersuchungen. (Masch.) Diss. Göttingen 1951. W. J. S c h r ö d e r , Ro. Gehalt u. Struktur. DVLG. 29 (1955) S. 301-322. Klaus S i e g m u n d , Zeitgeschichte u. Dichtung im König Ro. (1959; PhilStQuell. 2). H. F r o m m , Die Erzählkunst d. ,Rother'-Epikers. Euph. 54 (1960) S. 347-379. Christian Gell in e k , Die Rolle d. Heiligen im ,Ro.'. JEGPh. 64 (1965) S. 496-504. Ders., Ro.: Stud. z. literar. Deutung(1968). Eckart L o e r z e r , Eheschließung u. Werbung in d. 'Kudrun' (1971; MTU 3 7 ) , p a s s i m . Ch. G. N e l s o n , 'Ro.' and the Norms of Comedy. GermQuart. 45 (1972) S. 70-92. I. R e i f f e n s t e i n (u. § 9). Ferdinand U r b a n e k , Schwund u. Verwandlung d. Nebenfiguren im 'Ro.' Amsterdamer Beitr. z. älteren Germanistik 6 (1974) S. 49-91. Ders., Kaiser, Grafen u. Mäzene im 'Ro.' (1976. PhilStQuell. 71). Gudula D i n s e r , Kohärenz u. Struktur. Textlinguistische u. erzähltechn. Untersuchungen von Ro. (1975; Böhlau forum litterarum 3). — Salman u. Morolf. Ausg.: Friedr. V o g t (1880; Nachdr. Halle 1954, ohne die grundlegende Einleitung und die Anm.; jetzt auch in: Spielmannsepen, II:

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Sankt Oswald, Or., Salm. Texte, Nacherzählungen, Anmerkungen u. Worterklärungen, hg. v. Walter Johannes Schröder, 1976). Faksimile des elsäß. Drucks von 1499: Koenig Salomon u. Marcolphus (Straßburg 1930; Elsäss. Frühdrucke 2). Eine die gesamte Uberlieferung berücksichtigende Ausg. fehlt. Die Erzählung des lat. Dialogus (Hs S) und des dt. „Spruchgedichts": Salomon et Marcolfus, hg. v. Walter B e n a r y (1914; Sammig. mlat. Texte 8), bzw. Salomon u. Markolf, hg. v. Walter H a r t m a n n (1934). Dt. Ubers, der Dialogus-Fassung mit wertvollen Anm. bei Albert W e s s e l s k i , Märchen d. MA.s (1925) S. 24ff. bzw. 197ff. — Lit.: Friedr. P a n z e r (o. unter a). H. W. J. K r o e s , Zum mhd. Salm. Neophil. 30 (1946) S. 58-63. Th. F r i n g s M. B r a u n , Brautwerbung (u. § 9). H.-Fr. R o s e n f e l d , VerfLex. 4 (1953) Sp. 4-21. Werner M a t z , Der Vorgang im Epos (1947; Dichtung, Wort u. Sprache 12). Edyta P o l c z y r i s k a , Stud. z. Salm (1968; Uniwersytet Im. Adama Mickiewicza W Poznaniu. Prace Wydzialu Filologicznego, Seria Filologia Germanska 4); hierzu die Rez. von U. M e v e s , ZfdPh. 92 (1973) S. 447450. St. J. K a p l o w i t t , The Heathens in Salm. ArchfNSprLit. 213 (1976) S. 9 5 - 9 9 . — Münchner Oswald. Ausg.: Georg B a e s e c k e (1907; GermAbh. 28; jetzt auch in: Spielmannsepen, II, hg. v. W. J. Schröder [o. unter Salm.]), im Text überholt, aber immer noch grundlegend in Untersuchungen u. Anm. M. C u r s c h m a n n (1974; AdtTextbibl. 76), mit der ostschwäb. Prosabearbeitung des 15. Jh.s und ausführlicher Einleitung. — Lit.: J. D ü n n i n g e r , St. Oswald u. Regensburg. Zur Datierung d. Osw. Gedächtnisschr. f. A. Hämel (1953) S. 17-26. Michael C u r s c h m a n n , Der Osw. u. d. dt. spmän. Epik. Mit e. Exkurs z. Kultgeschichte u. Dichtungstradition (1964; MTU 6). Rolf B r ä u e r , Das Problem d. „Spielmännischen" aus der Sicht d. St.-Oswald-Uberlieferung (1969; Dt.Ak.d.Wiss.Berlin. Veröff. d. Instit. f. dt. Sprache u. Lit. 42). W. H a u g , Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoret. Experiment an mal. Texten. GRM. N.F. 23 (1973) S. 129-152. — Orendel. Ausg.: Arnold E. B e r g e r (1888; Nachdr. 1974. Nach wie vor maßgebend). Hans S t e i n g e r (1935; AdtTextbibl. 36; jetzt auch in: Spielmannsepen, II, hg. v. W. J. Schröder [o. unter Salm.]). Helmut de B o o r , Die dt. Lit.: Texte u. Zeugnisse. MA. Bd. 1 (1965) S. 330-350 (V. 1-833). Ludwig D e n e c k e (1972; SammlMetzler 111): in separaten Bänden Faksimileausg. der gedruckten Versfassung und der gedruckten Prosaauflösung ( H a n s O t h m a r s ? ) . — Lit.: E. T o n n e l a t , Le roi Orendel et la tunique sans couture du Christ. Mélanges Ch. Andler (1924) S. 351-370. S. S i n g e r , Dogma u. Dichtung d MA.s. PMLA. 62 (1947) S. 861-872, bes. S. 864ff. Ernst T e u b e r , Zur Datierungsfrage d. mhd. Orendelepos. (Masch.) Diss. Göttingen, 1954. W. J u n g -

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Spielmannsdichtung

a n d r e a s , Orendel u. d. Hl. Rock. Kurtrierisches J b . 8 (1968) S. 84-95. Ludwig D e n e c k e (Vorwort zum Faksimile der Prosafassung). C h . W e 1 s , Ein unbekanntes Folioblatt über d. 'Heiligen Rock' zu Trier. Kurtrierisches J b . 12 (1972) S. 37-45. H . B i r k h a n , Irisches im Or.? E b d . 14 (1974) S. 33-45. A . E b e n b a u e r , Or. - Anspruch u. Verwirklichung. Strukturen u. Interpretationen. Studien z. dt. Philologie gewidm. B. Horacek z. 60. Geb. (1974; Philologica Germanica 1) S. 25-63. U . M e v e s , Das Gedicht vom 'Grauen Rock' (Or.) u. d. Trierer Reliquientradition. Kurtrierisches J b . 15 (1975) S. 5-19.

§ 9. Aus dieser Spe. ist im allgemeinen die Vorstellung des s p i e l m ä n n i s c h e n S t i l s abstrahiert, die neben Eigenheiten der Formund Sprachgebung v. a. ein bestimmtes Ethos und eine bestimmte Weltanschauung bezeichnen soll. Das Verfahren als solches, das bedarf kaum mehr der Betonung, ist bedenklich, und die resultierenden Definitionen und Typologien divergieren entsprechend. Dazu kommt als weitere grundsätzliche Einschränkung die neue Bestimmung des Spm.s als eines soziologisch nicht fixierbaren ambulanten Berufserzählers mit primär „außerliterarischem" Wirkungsbereich. Wenn wir trotzdem die hergebrachte Nomenklatur am ehesten in diesem Zusammenhang beibehalten, dann v. a. deshalb: es gibt in der dt. Lit. des 12. und 13. Jh.s einen mit der Vorliebe für ganz bestimmte Erzählformen und -inhalte verbundenen, „dritten" stilistischen Grundton, der sich deutlich vom höfischen Erzählmodus unterscheidet, ohne sich doch mit dem heldenepischen zu identifizieren, und der andererseits beide, v. a. aber den heldenepischen, so wie er im 13. Jh. hervortritt, im Einzelfall stark beeinflußt. Er macht sich in diesem, die verschiedenen Gattungen, v. a. auch die sog. Geistlichendichtung, übergreifenden Zusammenhang besonders in folgenden Punkten geltend. a. In der Propagierung und Ausgestaltung des B r a u t w e r b u n g s s c h e m a s als Erzählgerüst hat der dt. spmän. Literaturträger seine bedeutsamste Leistung vollbracht. Er hat dabei u. a. ältere thematisch beschränkte (und nur indirekt bezeugte) einheimische Erzählmuster mit einer viel breiteren, modernen weltliterar. Tradition verschmolzen, und auf dieser Basis haben sich eine Fülle von bis ins einzelne schematisierten Varianten entwickelt, - ein mächtiges Ferment in der Geschichte des hochmal. Epos. Die Thidrekssaga gibt

wieder über manches Vorschriftliche Auskunft (vgl. o. § 6). Abgesehen von der spmän. benützt die heroische Erzählung des 13. Jh.s den T y p am ausgiebigsten. Extreme Möglichkeiten stellen in dieser Hinsicht das Nibelungenlied und die Kudrun dar: hier die sorgfältige Verschränkung zweier Werbungstypen zum neuen Handlungsgerüst der Tragödie von Worms (in der weiteren Evolution des Texts in A , B und C macht sich der Einfluß einer noch länger konkurrenten, spmän. mündlichen Brünhildewerbung geltend) dort das (bewußt) manieristische, additive Durchspielen der Schablonen. Der dt.-jüd. Dukus Horant vom Ende des Jh.s schaut noch einmal in spmän. Weise auf die nunmehr schon weitgehend literar. Tradition zurück. Im Bereich des (früh)höfischen Epos verdankt v. a. der T r i s t a n - S t o f f , speziell in der Fassung B e r o u l / E i l h a r d , dieser Schematik Wesentliches; der Graf Rudolf steht hier nahe; aber auch die Gahmuret-Vorgeschichte des Parzival ist ohne die spmän. minne/aventiureKombinatorik schwer denkbar. Zu diesem Erzähltyp (wie zur Lebensform des Spm.s) gehört der l i s t i g e H e l d und mehr noch der listige und kundige H e l f e r , der durch geistige Beweglichkeit siegt, wo rohe Gewalt versagen müßte. Das ist in Teilen auch „Erziehungsideal" ( R o t h e r s Sangeskunst; die Sprachbegabung des O s w a l d Raben, Erziehung E m s t s , Harfen und Schachspiel M o r o l f s , T r i s t a n s vielerlei Künste) oder Abbild eines ganz bestimmten Künstlertyps, v. a. aber Ausdruck einer pragmatisch-nüchternen, grundsätzlich opportunistischen Weltsicht. Wer im einzelnen das in diesem Erzählfundus Bereitgestellte aufgreift, zu welchem Zweck und in welchem soziologischen Zusammenhang, - das sind dann Sonderfragen, die, wie schon angedeutet, u. U . jeweils ganz verschieden zu beantworten wären. Mit dem Stichwort „frühstadtbürgerliche Verfasserschaft" (R. Bräuer) als pauschaler Alternative zum Spm. (oder Geistlichen) als V e r f a s s e r und einer ja durchaus vielschichtigen und verschiedensten literarischen Tendenzen aufgeschlossenen Adelswelt als primärer P a t r o n a t s i n s t a n z sind die Verhältnisse ganz sicher unzulänglich vereinfacht. b. Auch über das unmittelbar zur Brautwerbungsthematik gehörende Motivgut hinaus stehen die sog. Spme. und Verwandtes in

Spielmannsdichtung einer weit gespannten, g e m e i n e u r o p ä i s c h e n M o t i v g e m e i n s c h a f t , die wenigstens teilweise das Werk des Spm.s selber ist und die die Handlung oft bis ins Detail hinein typifiziert. Hierher gehört Heldenepisches, wie etwa die Motivik des Ächtermäre im Er. und anderweit, ebenso wie das BurleskKomische, das spmän. Erzählung in besonderer Weise kennzeichnet, im übrigen aber ebenfalls durchaus gattungstranszendent ausstrahlt: im Salm, schert M o r o l f seinen Wächtern Tonsuren, im Großen Neidhartspiel tut N e i d h a r t dasselbe mit den Bauern; der zum Zweck einer listigen Entführung induzierte Scheintod der ungetreuen Gattin ist ein Kernmotiv des Salm.: C h r e s t i e n verwendet es im Cliges ebenfalls, aber parodistisch und schließlich rein komisch verzerrend. Die Brautnacht G u n t h e r s im Nibelungenlied ist reine Spmburleske; auch in der K a r l s e p i k (Karl und Elegast) tri« dieses die intellektuelle Listkomik ergänzende burleske Element zutage. — In anderen Motivbereichen stehen dem, was wir spmän. nennen, je nachdem Märchen, Legende oder Artuserzählung nahe. Wir haben gelernt, in solchen Fällen die typologische Ähnlichkeit zu sehen und gegenüber der eventuellen genetischen zu betonen. c. Als spmän. S t i l e i g e n t ü m l i c h k e i t e n im e n g e r e n S i n n sind immer wieder genannt worden: sorglos-flüchtige Erzähltechnik, Derbheit und zugleich Beschränktheit des Ausdrucks, Übertreibung, Wiederholung und weitgehende Formelhaftigkeit der Sprache; dazu spezifischere Stilistika wie Quellenberufung, Wahrheitsbeteuerung, Publikumsanrede und Einbeziehung des Vortragenden in den Text (hierzu o. § 7) oder spezifischere formtechnische Elemente wie Flickverse und unreine Reime. Unter solchen Gesichtspunkten wäre von den Heldenepen v. a. der Laurin zur „Spielmannspoesie" zu rechnen, wie schon L a c h m a n n bemerkt hat (o. § 1). Auf dem Weg über diesen grundsätzlich viel zu weit gefaßten und im einzelnen kaum jemals reflektierten Stilbegriff ist im übrigen vielfach die G e i s t l i c h e n d i c h t u n g des 12. Jh.s als „spmän." charakterisiert worden. Was daran richtig ist, läßt sich unter drei Gesichtspunkten begreifen, die einander ergänzen: 1. die Spme. setzt auch im Stilistischen die vorhöfisch-geistliche Epik voraus (und sucht sie in mancher Hinsicht zugleich zu überwinden,

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insbesondere in der neuen Typisierung allen Geschehens); 2. vieles Gemeinsame geht letztlich auf die Situation des Vortrags vor einem unmittelbar gegenwärtigen Publikum zurück; 3. der Stil mündlicher spmän. Kurzpoesie hat schon früh umgekehrt auf die literar. Produktion der Geistlichen eingewirkt. P. W a r e m a n orientiert die Vorstellung „spmän." schließlich ganz an der Lebensform des Spm.s einerseits und im engeren Sinn stilistischen Aspekten der Erzählung andererseits: spezifisch spmän. ist nur, was einen gleichsam alles noch einmal - öffentlich selbst erlebenden Vortragenden zeigt, der übertreibt, Belege anführt, seinen Bericht durch Wiederholung längt und um Lohn bittet (S. 146; vgl. auch S. 153). Fruchtbarer dürfte es sein, auf dem Weg über die Schematik der Komposition und die Stereotypik der Sprachgebung in der ursprünglichen Mündlichkeit der Tradition und des Dichtungsvorgangs ein Kriterium zu definieren, das die zur Diskussion stehenden Phänomene an der literarsoziologischen Wurzel faßt. Freilich ist die Spme., so wie sie uns erhalten ist, längst nicht mehr mündliche Dichtung, und es fehlt uns vorläufig auch an einer mal. Verhältnissen angemessenen Definition von Formelhaftigkeit und deren Verhältnis zum mündlichen Sprachstil. Walther V o g t , Die Wortwiederholung. E. Stilmittel im 'Ortnit' u. Wolfdietrich A u. in d. mhd. Spmen Or., Osw., u. Salm. (1902; GermAbh. 20). Fr. P a n z e r , Erzbischof Alhero v. Trier u. d. dt. Spmen. Germanist. Abhdlgn. H . Paul dargebr. (1902) S. 303-332. Leo W o l f , Der groteske u. hyperbolische Stil d. mhd. Volksepos (1903; Pal. 25). G . B a e s e c k e , Der Osw. (o. § 8 b zu Osw. Vgl. auch die Einleitungen und Anmerkungen zu den älteren Ausgaben des Salm., Ro., Er. und Or.). Walter H a w e l , Das schmückende Beiwort in d. mhd. volkstümlichen Epen. Diss. Greifswald 1908. Franz B e r n a t z k y , Über d. Entwicklung d. typischen Motive in d. mhd. Spmdichtungen, bes. in d. Wolfdietrichen. Diss. Greifswald 1909. Johannes L i n d e m a n n , Über d. Alliteration als Kunstform im Volks- u. Spmepos. Diss. Breslau 1914. Richard H ü n n e r k o p f , Beiträge z. deskriptiven Poetik in d. mhd. Volksepen u. in d. 'Thidrekssaga'. Diss. Heidelberg 1914. J . de V r i e s , Die Brautwerbungssagen. G R M . 9 (1921) S. 330-341; 10 (1922) S. 31-44. H . S c h n e i d e r , Dt. u. franz. Heldenepik. ZfdPh. 51 (1926) S. 200-243; wiederabgedr. in: Schneider, Kleinere Schriften (1962) S. 52-95. G . B a e s e c k e , Heinrich d. Glichezare. ZfdPh.

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S p i e l m a n n s d i c h t u n g — Sprachgesellschaften

52 (1927) S. 1-22, bes. S. 15ff. Marta Maria H e l f f , Studien z. 'Kaiserchronik' (1930; Beitr. z. Kulturg. d. MA.s u. d. Ren. 41). Karl zur N i e d e n , Uber d. Verfasser d. mhd. Heldenepen. Diss. Bonn 1930. H. M a r q u a r d t , Die Hilde-Gudrunsage in ihrer Beziehung z. d. germ. Brautraubsagen u. d. mhd. Brautfahrtepen. ZfdA. 70 (1933) S. 1-23. Ingeborg S c h r ö b l e r , Wikingische u. spmän. Elemente im 2. Teile d. 'Gudrunliedes' (1934; Rhein. Beitr. u. Hülfsbücher z. germ. Philol. u. Volkskde. 20). Th. F r i n g s , Herbort. SBAkLeipzig 95,5 (1943; später in PBB. [Halle] 91 [1969] S. 347-378). Ders. und Max B r a u n , Brautwerbung. SBAkLeipzig 96,2 (1947); die einleitende Darstellung des Kompositionsvorgangs später erneut von Maximilian B r a u n , Das serbokroatische Heldenlied (1961; Opera Slavica 1) S. 131 ff. W. M a t z (o. § 8b zu Salm.). J . B a h r , D. Ro. (o. § 8b zu Ro.). Walter T h o s s , Untersuchungen z. Stil d. Spmd. Diss. (Masch.) München 1954. Friedmar G e i s s l e r , Brautwerbung in d. Weltlit. (1955). Hans J . B a y e r , Untersuchungen z. Sprachstil weltlicher Epen d. dt. Früh- u. HochMA.s (1962; PhilStQuell. 10). M. C u r s c h m a n n , Oral Poetry in Mediaeval English, French, and German Literature: Some Notes on Recent Research. Spec. 42 (1967) S. 36-52. Hinrich S i e f k e n , Überindividuelle Formen u. d. Aufbau d. Kudrunepos (1967; Medium Aevum 11). Rolf B r ä u e r , Literatursoziologie u. epische Struktur d. dt. „Spm"u. Heldendichtung. (1970; Dt. Ak. d. Wiss. zu Bln. Veröff. d. Inst. f. dt. Sprache u. Lit. 48). Paul Horst G o t t s c h a l k , Strukturelle Stud, zum Ortnit u. d. mhd. Spmen. Diss. (Masch.) University of Colorado 1970 (Mikrofilmnr. 71-5897). Uwe P ö r k s e n , Der Erzähler im mhd. Epos. Formen s. Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs 'Willehalm' u. in d. „Spmen" (1971; PhilStQuell. 58). I. R e i f f e n stein, Die Erzählervorausdeutung in d. frühmhd. Dichtung. Zur Geschichte u. Funktion e. poetischen Formel. PBB. 94, Sonderbd., Festschr. H . Eggers (Tüb. 1972) S. 551-576. Ä. W i s h a r d , Formulaic Composition in the Spme. Papers on Language and Literature 8 (1972) 243-251. Wolfgang N ä s e r , Die Sachbeschreibung in d. mhd. ,Spmen". Untersuchungen z. ihrer Technik (1972; Marburger Beitr. z. Germanistik 42). Manfred C a l i e b e , Dukus Horant. Studien z. seiner literar. Tradition (1973; PhilStQuell 70). Karl-Bernhard K n a p p e , Repräsentation u. Herrschaftszeichen. 2. Herrscherdarstellung in d. vorhöfischen Epik (1974; Münchener Beiträge zur Mediävistik u. Renaissance-Forschung 17). Werner H o f f m a n n , Mhd. Heldendichtung (1974; GrundlGerm. 14), bes. S. 33-37 u. 53-59; hierzu die Rez. von J. H e i n z l e , AnzfdA. 87 (1976) S. 7-12. Joachim Bahr — Michael Curschmann

Sprachgesellschaften I. E i n f ü h r u n g , Definitionen. § 1. U n t e r dem B e g r i f f ,Sprachgesellschaften' ( S G ) im engeren Sinn versteht die dt. Sprach- und Literaturwissenschaft üblicherweise bestimmte Sozietäten des 17. J h . s , die sich die F ö r d e r u n g der dt. Sprache zum ausdrücklichen Ziel gesetzt hatten. Im Gegensatz zu den - jüngeren - S G im weiteren Sinn des Wortes (etwa dem ,Allgemeinen Deutschen Sprachverein' des 19./20. J h . s ) sind die Ziele der genannten Sozietäten umfassender: ihre sprach- und literaturreformerischen Bemühungen sind nicht Selbstzweck, sondern auch Werkzeug in einem übergreifenden K o n zept moralischer und kultureller Erneuerung, die in Anbetracht der polit, und sozialen Misere der dt. L ä n d e r besonders dringlich erschien. D e r Begriff , S G ' ist deshalb in diesen Sozietäten nicht üblich (sie bevorzugen die Bezeichnungen ,Gesellschaft' b z w . . O r d e n ' ) , er fehlt auch im Wörterbuch K a s p a r Stielers (Der deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs 1691), obwohl er unter dem Stichwort „ G e s e l l s c h a f t " die „Fruchtbringende G e s e l l s c h a f t " , der er selbst angehörte, erwähnt. Ü b l i c h geworden ist der heutige T e r minus offenbar nach der ersten Gesamtdarstellung v o n O t t o Schulz ( D i e Sprachgesellschaften des 17. Jh.s 1824). In diesem Titel drückt sich der G e i s t der Berliner G e s e l l schaft für deutsche Sprache' aus, die sich damit selbst in eine alte Tradition hineingestellt sah. A b g e s e h e n von den konkreten politischsozialen Anlässen ist die Entstehung der S G natürlich nicht isoliert zu betrachten von der vorausgehenden Tradition der ritterlichen und humanist. Gesellschaftsbildungen und der daneben existierenden barocken Gesellschaftstradition. Als unmittelbare Vorbilder und Parallelen sind ausländische, besonders ital. A k a d e m i e n anzusehen, auch niederländ. A n regungen wurden aufgenommen. Keine der dt. S G hatte allerdings so unmittelbaren E r folg wie die Accademia della Crusca (Florenz), die an eine geschlossene klassische Literaturtradition anknüpfen konnte, keine wurde — wie die Académie française - zur Institution von nationaler Gültigkeit gehoben (1635), weil alle polit. Voraussetzungen dafür fehlten.

Sprachgesellschaften § 2. D i e in jeder Beziehung bedeutendste dieser Gesellschaften ist die „ F r u c h t b r i n g e n d e G e s e l l s c h a f t " (gegr. 1617). Sie war zeitlich die erste u n d vereinigte mit dieser Priorität immer eine unbestrittene geistig/soziale Vorbild- und Führungsstellung: durch die Zahl ihrer Mitglieder und deren Streuung über den ganzen protestantischen Teil Deutschlands ( w o d u r c h Köthen/Weimar als wichtiges Zentrum auf der geistigen L a n d karte erscheint), durch die Leistungen ihrer literarisch produktiven (meist bürgerlichen) Mitglieder, mit denen sich das Sozialprestige der hochadeligen Spitze und der zahlreichen adeligen Mitglieder (3/4) verband, und durch die K o n s e q u e n z , mit der - wenigstens in der ersten Generation - die Gesellschaftsziele verfolgt w u r d e n . Insofern sind die anderen kleineren, regional und sozial beschränkteren Gesellschaften als Wirkungen des Impulses anzusehen, den die „ F r u c h t b r i n g e n d e " gegeben hatte, und in deren Vorfeld anzusiedeln. In diesem beschränkteren Sinn haben sie aber durchaus ihre eigene Individualität und verfolgen ihre Ziele auf zwar ähnlichen, aber nicht ganz gleichen Wegen. A u c h diese Ziele sind jeweils anders nüanciert, aber im K e r n gleichartig. Was die S G darüber hinaus als verschiedene A u s p r ä g u n g e n ein- und desselben T y p s erweist, ist die enge personelle Verflechtung: ihre O b e r h ä u p t e r (außer R o m p i e r ) gehörten alle der Fruchtbringenden Gesellschaft an, auch sonst sind D o p p e l - ja Mehrfachmitgliedschaften nicht selten. § 3. D e s h a l b soll im folgenden, paradigmatisch f ü r die Erscheinung , S G ' , die „ F r u c h t bringende G e s e l l s c h a f t " genauer und nach verschiedenen Gesichtspunkten charakterisiert werden. D i e darauf folgenden Skizzen der übrigen S G setzen dieses Bild voraus und betonten diejenigen Eigenheiten, durch die sie sich von der „ F r u c h t b r i n g e n d e n " abheben.

II. D i e Fruchtbringende Gesellschaft ( F G ) . A.

Geschichte, glieder.

Organisationsform,

Mit-

§ 4. D i e A n r e g u n g zu ihrer G r ü n d u n g k a m von K a s p a r v o n Teutleben (Weimarischer H o f m a r s c h a l l ) , dem deshalb auch in der Mitgliederliste die erste Ehrenstelle zuerkannt

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wurde, gewichtigster M i t b e g r ü n d e r war L u d w i g , Fürst von Anhalt-Kothen. Dieser war schon vor Teutlebens T o d (1629) die Seele der Vereinigung und leitete sie dann bis zu seinem T o d (1650) als unbestrittenes Oberhaupt. Erklärtes V o r b i l d der F G waren die „ I t a liänischen Gesellschaften", vornehmlich die ,Accademia della C r u s c a ' , der Ludwig seit 1600 als Mitglied angehörte. G r u n d g e d a n k e war, in ähnlicher Weise wie diese „ z u A n reitzung der löblichen J u g e n d / z u allerley hohen Tugenden/Erhaltung gutes Vertrauens/ E r b a u u n g wolanständiger Sitten/und denn absonderlich zu nutzlicher A u s ü b u n g jedes V o l kes L a n d s p r a c h e " tätig zu werden. D a s V o r b i l d der ,Accademia della C r u s c a ' beeinflußte auch die äußere E r s c h e i n u n g s f o r m und den K o m m e n t der F G . N a c h ihrem Vorbild ( crusca = Kleie; die Spreu sollte v o m Weizen getrennt werden) gab sie sich einen sprechenden N a m e n (,Die F G ' ) , wählte sich ein „ W o r t " , d. h. einen Sinnspruch ( „ A l l e s zu N u t z e n " ) und ein G e mälde (den „Indianischen Palmen- oder N u s b a u m " ) , d. h. ein Sinnbild (Emblem), das den Spruch symbolisierte (die Palme galt als allseitig nutzbringende Pflanze). In einem Kling-Geäichte wurden Name, Bild und Spruch in Beziehung zueinander gesetzt und gedeutet: „Komt/lemt vom Palmenbaum' . . . das euch fruchtbringend' heiß' und halt' ein iederman . . . Fast alles/was bedarf der Mensch in seinem leben/ Bringt vor der bäum . . . /Wol dem/der/ gleich wie er darnach nur strebt und ringt/Das er in allem Frucht und Nutzen bring' auf Erden." In A n a l o g i e zur Gesellschaft selbst bekam auch jedes Mitglied N a m e n , Sinnspruch und E m b l e m . A l s N a m e n benutzte m a n substantivierte Adjektive/Partizipien ( „ D e r A n m u t i g e " , „ D e r H o f f e n d e " , „ D e r Vielgekörnte"), als E m b l e m eine in irgendeiner Hinsicht als nützlich z u deutende Pflanze. Bild und Name wurden nach Möglichkeit mit Charakter, Schicksal oder Werk des Trägers in Verbindung gebracht (der poeta laureatus Martin Opitz etwa hieß ,Der Gekrönte' und trug den Lorbeerkranz als Sinnbild). Die ersten dieser Charakteristika erinnern noch an die ,Accademia della crusca': Teutleben etwa hieß ,Der Mehlreiche', bildliche Entsprechung ist der Weizen, der aus einem Sack in den Mahlkasten geschüttet wird, der Sinnspruch lautet „Hierin find sichs"; ähnlich bei Ludwig: ,Der Nährende' - Weizenbrot - „Nichts Bessers".

Sprachgesellschaften

124 Bei Z u s a m m e n k ü n f t e n Reihe von Verhaltensregeln.

gab

es

eine

Es sollten z. B. die Gesellschaftsnamen verwendet werden, die Sitzordnung orientierte sich nicht am Stand des Mitglieds, sondern am Datum des Eintritts, die Gesellschafter trugen an seidenem Band eine Münze (Gesellschaftspfennig) mit ihrem „Gemähide" auf der einen und dem der Gesellschaft auf der anderen Seite. Solche Zusammenkünfte fanden besonders anläßlich der Aufnahme von neuen Mitgliedern, aber auch bei anderen Gelegenheiten statt; eine Versammlung der Gesamtgesellschaft hat es nie gegeben. Die literarisch tätigen Gesellschafter standen im B r i e f v e r k e h r miteinander; sein aktiver Mittelpunkt war Ludwig, dem nach den Satzungen jedes unter dem Gesellschaftsnamen publizierte Werk zur Begutachtung zuzuschicken war. Ein prächtiges ,Stammbuch' enthielt Namen, Wappen, Embleme usw. aller Mitglieder (1646 in 2. Aufl. mit Stichen von Merian gedruckt), in einem Archiv, dem ,Ertzschrein', wurde der Schriftverkehr gesammelt. 1647 verfaßte Karl Gustav von Hille eine erste Lobschrift auf die Gesellschaft: Der Teutsche Palmbaum . . . (zur zweiten s. unten § 6). § 5. Jeder Gesellschafter hatte das Recht, neue M i t g l i e d e r zur Aufnahme vorzuschlagen. Meist geschah dies, wenn der in Aussicht genommene Kandidat die Geneigtheit oder den Wunsch zur Aufnahme zu erkennen gegeben hatte; geworben wurde grundsätzlich nicht. Die meisten Gesellschafter waren von Adel (ein guter Teil aus dem höchsten protestantischen Adel Mittel- und Norddeutschlands), doch grundsätzlich hatten auch Bürgerliche Zutritt. Einen Vorschlag, die F G in einen Ritterorden umzuwandeln, lehnte Ludwig unter Verweis auf die Zielsetzung der Gesellschaft energisch ab. Auch konfessionelle Gegensätze sollten außen bleiben, jeder Christ konnte Aufnahme finden; die Zahl der Katholiken war allerdings verschwindend klein. Insgesamt gehörten der Gesellschaft nur zwei Geistliche an (Rist, Andreä), diese ausschließlich wegen ihrer literar. Verdienste. Frauen blieben ausgeschlossen, die Frauen der Mitglieder wurden aber als zugehörig empfunden. Die sprach- bzw. literaturgeschichtlich interessantesten der vor 1650 aufgenommenen Gesellschafter sind: Tobias Hübner (1619),

Diederich von dem Werder (1620), Martin Opitz (1629), Karl Gustav von Hille (1637), Christian Gueintz (1641), August Buchner (1641), Georg Philipp Harsdörffer (1642), Justus Georg Schottel (1642), Johann Michael Moscherosch (1645), Johann Valentin Andreä (1646), Johann Rist (1647), Johann Matthias Schneuber (1648), Johann Wilh. von Stubenberg (1648), Friedrich von Logau (1648), Philipp von Zesen (1648). § 6. Im letzten Lebensjahrzehnt Ludwigs hatte die F G ihren Höhepunkt erreicht. Nach seinem T o d verfiel sie relativ schnell. Das hing damit zusammen, daß seine Nachfolger Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar (bis 1662) und Herzog August von Sachsen (bis 1680) persönlich zur Förderung der ursprünglichen Gesellschaftsanliegen wenig Initiative entfalteten. Es fehlte damit an einer Integrationsfigur, die wie Ludwig den Gedankenaustausch innerhalb der F G vermittelt, Themen gestellt oder Anregungen gegeben hätte. Schon daß unter Wilhelm recht häufig die Bezeichnung ,(Palmen-)Orden' als Gesellschaftsname verwendet wurde, zeigt die Richtung der Entwicklung: Repräsentation und Hang zur Exklusivität treten in den Vordergrund, unter den 262 neuaufgenommenen Mitgliedern sind nur mehr 30 Bürgerliche, die FG bekommt mehr den Charakter eines adeligen Ordens. Die (nach Hille, s. oben § 5) zweite Selbstdarstellung der Gesellschaft, Der Neusprossende Palmbaum (1668), verfaßt vom Erzschreinhalter Georg Neumark, spiegelt den neuen Geist (vgl. auch unten § 14). Sie zog zwar noch einige Dichter von Namen an sich (Anton-Ulrich von Braunschweig, Sigmund von Birken, Andreas G r y phius), aber selbst ihr eifriges Mitglied Harsdörffer bemängelte schon 1657, daß daneben zu viele „Unwürdige" stünden und „von dem ersten Vorsatze weit abgewichen" werde. Herzog August, das letzte Oberhaupt, beschränkte seine Tätigkeit im wesentlichen auf die Aufnahme neuer Mitglieder. B . Ziele und Leistungen im einzelnen. § 7. Die Z i e l e der F G , niedergelegt in ihren Satzungen, enthalten einen ersten, allgemeinen und einen speziellen Teil. Zuerst wird gefordert, jeder Gesellschafter solle „erbar/ weiß/tugendhaft/ höflich/nutzlich und ergetzlich/gesell- und mäßig sich überall bezeigen/

Sprachgesellschaften rühm und ehrlich handeln/bey Zusammenkünften sich gütig/ frölich und vertreulich/ in worten/Geberden und Werken treulichst erweisen . . . Also solle man auch dagegen aller ungeziemenden Reden und groben Schertzens sich zu enthalten/festiglich verbunden seyn". Zum zweiten und vor allen Dingen solle den Gesellschaftern aber „obligen/ unsere hochgeehrte Muttersprache/in ihrem gründlichen Wesen/und rechten Verstande/ohn Einmischung fremder ausländischer Flikkwörter/ sowol in Reden/Schreiben als Gedichten/ aufs allerzier- und deutlichste zu erhalten und auszuüben". Die Satzungen bestätigen also, daß die Zielsetzungen der FG über das hinausgehen, was der Terminus ,Sprachgesellschaft' aussagt. Die Pflege der deutschen Sprache ist hier in ein Konzept eingebaut, das die „Erhaltung und Fortpflanzung aller Ritterlichen Tugenden/Aufrichtung und Vermehrung Teutschen wolgemeinten Vertrauens" mit einschließt. In diesem Konzept sind Bestrebungen verschiedener Art verschmolzen, die grundsätzlich auch außerhalb der FG wirksam waren. Diese sind - wie Aufbau und Organisation des Ordenslebens - im Ansatz zukunftsgerichtet, in den Mitteln und Formen dagegen oft sehr traditionsgebunden. Das zentrale und oft artikulierte kulturpatriotische Bemühen um eine nationale Erneuerung etwa legitimierte sich unter anderem mit einer stark idealisierten, an Aventin anknüpfenden Deutung der altdeutschen' Geschichte (Askenas, der ,Urvater' der Germanen, galt als Vorfahre Ludwigs von Anhalt, Ludwig selbst verband in kabbalistischer Manier germanus mit germans = fruchtbringend). Auch die - protestantisch geprägten - ethischen Ideale (Mäßigung, Redlichkeit/Aufrichtigkeit, Treue, Tapferkeit/Heldenmut, Schlichtheit) galten in diesem Sinn als eigenwüchsig und wurden, häufig im Bild des teutschen Biedermanns, dem höfisch-klerikalen Kavaliersideal Südund Westeuropas entgegengestellt. Den politischen Niedergang Deutschlands sah man in enger Verbindung mit dem moralisch-geistigen und mit dem Abfall von den Tugenden der altdeutschen' Sprache. Aus der re-formatio der Sprache erwartete man deshalb eine allgemeine Erneuerung. O p i t z beschwört seine Leser schon in seiner J u gendschrift, dem .Aristarch", bei der „vielgeliebten Mutter Deutschland" und bei „den glorreichen

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Ahnen: zeigt eine Gesinnung, würdig eures edlen Volks, verteidigt eure Sprache mit derselben Ausdauer, mit der jene ihre Grenzen schützten". J. G . Schottel, der bedeutendste Sprachgelehrte aus dem Kreis der F G , formuliert noch zugespitzter: „ A u f die Enderung der Sprache folget die Enderung der Sitten. Verenderte Sitten pflegen gemeiniglich das gemeine Leben so zu endern, daß Unglükk und Untergang auf dem fusse daher folget."

§ 8. Diese Einbindung des sprachlichen in ein ethisch-patriotisches Programm macht die häufig als merkwürdig empfundene Tatsache verständlich, daß zahlreiche Mitglieder aufgenommen wurden, die selbst nicht literarisch tätig waren (sogar einige Mitglieder nichtdt. Muttersprache gab es). Die Art der Einbindung erklärt, warum man gerade der Sprache so intensive Aufmerksamkeit schenkte. Sie muß wohl auch einem Urteil über die Wege zugrundegelegt werden, auf denen man dem angestrebten Ziel näherzukommen hoffte: den sprachwissenschaftlich-sprachpflegerischen im engeren Sinn, den der Ubersetzungsarbeit und den poetischer und poetologischer Eigenproduktion. § 9. Der erste führte zuerst und vor allem zum p u r i s t i s c h e n K o n z e p t der FG: Kampf gegen die sprachliche Überfremdung des Deutschen: „Monsieur mon trèshonoré frère hochgeehrter Patron. Seine hohe Meriten . . . causieren mich/derselben mit diesen Zeilen zu serviren . . . habe ich bis Dato mein officium re ipsa nicht praestiren können." A u f diese Weise karikiert z. B. Hille einen Sprachstil, der als Abfall von der ersten „angebornen rechten Muttersprache" und damit v o m eigenen Wesen verabscheut wurde.

Man hat dieses puristische Streben — wohl in Opposition zu späteren, betont nationalistischen Ausprägungen des Purismus - oft recht pauschal abgewertet. Nun stand zwar der Kampf gegen „Frömdsucht" und „Sprachmengerei" ohne Zweifel im Vordergrund des Bewußtseins, trug z. T. auch pedantisch-schulmeisterliche Züge und war gewiß nicht frei von provinzieller Enge. Andererseits hatte er prinzipiell seine guten Gründe, sowie respektable Motive und führte in manchem zu einer Bereicherung des deutschen Wortschatzes. Wörter wie „Briefwechsel", „Bruchstück", „Durchmesser", „Mitleid", „Vorsitz" und grammatische Termini wie „Einzahl", „Mehrzahl", „Fall",

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Sprachgesellschaften

„Geschlecht" u. a. sind dadurch in den dt. Wortschatz gekommen. Die Abwehr des Fremden brachte einen Mann wie Schottel immerhin auch zu Einsichten wie: das Deutsche halte „eine andere Art der Gewisheit in sich" und erfordere deshalb „andere Augen, sich beschauen zu lassen, als mit welchen man das Hebräische, Griechische oder Lateinische durchsehen hat". § 10. Ebenso einig wie darin, die Reinheit der dt. Sprache wiederherzustellen, waren die maßgeblichen Gesellschafter auch im Streben nach einer einheitlichen Regelung der O r t h o g r a p h i e , in der man den „Anfang" und den „ G r u n d " der Sprachlehre erblickte. Wahrscheinlich hat die Uberschätzung der Recht-Schreibung, durch die man (im Sinn der alten /»¿ryse/-Theorie) mit Hilfe der Laute und Buchstaben „zum richtigen verstände der bedeutung eines ieglichen wortes" (Gueintz) zu gelangen hoffte, eine Einigung eher erschwert. D i e direkte Verbindung der Orthographie mit der Sprachtheorie und der Beurteilung der Sprachwirklichkeit führte in prinzipielle Uneinigkeit: weder in der Frage, o b es eine deutsche Sprachlandschaft mit mustergültiger Aussprache gebe, noch in der Einschätzung der Rolle, die Sprachusus, Etymologie und Analogieprinzip für die Schreibung spielen sollten, gab es Einhelligkeit.

So erschien zwar im Jahre 1645 die Deutsche Rechtschreibung von Chr. Gueintz, ausgezeichnet mit der Bemerkung „von der F G übersehen", und insofern eine Gemeinschaftsarbeit, als sich der Verfasser mit Ludwig von Anhalt und anderen Gesellschaftern mehr als zwei Jahre lang darüber beraten hatte. Aber Ludwig mußte ihn zur Fertigstellung des Werks drängen, damit „nicht alleine von dem Spielenden" ( = Harsdörffer) „und Clajo in Nürnberg und dan von dem Suchenden" ( = Schottel) „Zu Braunschweig unterschiedene Neue und sich übel schickende Schreibarten wollen aufgebracht, sondern auch vornemlich noch eine fremdere und ungewöhnlichere von Zäsio eingefüret werden". Das heißt aber, die Gesellschaft trat mit sich selber in Konkurrenz! § 1 1 . Ähnliches gilt für die Bemühungen im Bereich von Grammatik/Sprachlehre und P o e t i k . Gemeinschaftsarbeiten fehlen hier ganz. Denn einig war man sich auch in

diesen Bereichen nur in der grundsätzlichen Hochschätzung der deutschen „Haupt- und Heldensprache". Wie in der Fremdwortfrage sind diese Bemühungen nicht frei von z. T . peinlichen Übertreibungen: S. von Birken wertet einmal das Italienische und Französische als „verkrüppeltes L a t e i n " gegenüber dem Deutschen ab, das nach allgemeiner Auffassung diesen Sprachen deshalb überlegen war, weil man es direkt auf N o a h zurückführte, womit es sogar das Griechische und Lateinische aus dem Feld schlug.

Sobald es aber in die Sprachwirklichkeit ging, lagen die Positionen oft recht weit auseinander: „Eygensinn und vorurtheill hemmet viel gutes, verdirbt daß meiste", meinte z. B. Gueintz von Schottels Sprachkunst. In allen diesen Teilbereichen gibt es jedoch bahnbrechende Leistungen einzelner produktiver Gesellschaftsmitglieder: so z. B. die Ausführliche Arbeit von der deutschen Hauptsprache von J . G . Schottel, die metrisch/poetologischen Arbeiten von M. Opitz und K. Stielers 'Wörterbuch (1691), die Marksteine in der dt. Wissenschafts- und Literaturgeschichte darstellen. § 12. Wieweit die Gesellschaft - direkt oder indirekt - auf die S c h u l e gewirkt hat, wäre zu prüfen: immerhin war Gueintz zusammen mit dem Reformpädagogen Wolfgang Ratichius im anhaltischen Schuldienst tätig. Auch auf die - immer noch beachtete - Sprache der K a n z l e i e n dürfte die F G über ihre fürstlichen und juristisch tätigen Mitglieder Einfluß ausgeübt haben. § 13. Schwerer abzuschätzen sind die liter a r i s c h e n V e r d i e n s t e der F G . Sicherlich ist der durch sie geförderte geistige Austausch der Arbeit ihrer Mitglieder zugute gekommen. Insofern ist die Leistung der Einzelmitglieder zu einem (freilich kleineren Teil) auch der Gesellschaft gutzuschreiben, zumal sie auch deren äußere Bedingungen verbesserte (vgl. unten § 14). Unsicher ist, ob und wie weit die Autoren Werke, die sie der Gesellschaft (d. h. Ludwig und seinem Kreis) zur Begutachtung vorgelegt hatten, nach deren Vorstellungen korrigierten. Unübersehbar aber haben die sprachreformerischen Bestrebungen der F G in der literar. Produktion ihrer Mitglieder Ausdruck gefunden: Opitz

Sprachgesellschaften und Moscherosch etwa richteten sich mehrfach gegen die Sprachmengerei, Gryphius hat in der Ausgabe letzter Hand entbehrliche Fremdwörter getilgt. Vorbehaltlos positiv hat man wohl auch die generelle Hochschätzung der U b e r s e t z u n g s t ä t i g k e i t zu werten: eine große Zahl von Gesellschaftern (darunter auch Ludwig selbst) übersetzten aus dem Griechischen und Lateinischen, sowie aus den lebenden europäischen Nationalsprachen. Unter denen, die den stilbildenden Wert des Ubersetzens betont haben, sind Opitz, Harsdörffer und Buchner zu finden. Stubenberg, der seine Ubersetzungen einmal direkt als „Spracharbeit" bezeichnet, hat damit sicher einen wichtigen Punkt hervorgehoben: die Notwendigkeit, einzudeutschen und der Versuch, fremde literar. Formen nachzuahmen, sind der Präzision und Ausdrucksfähigkeit des Deutschen zugute gekommen. § 14. Die meisten literarisch produktiven Gesellschafter waren b ü r g e r l i c h e r Herkunft. Viele von ihnen haben sich ausdauernd um Aufnahme in die Gesellschaft bemühen müssen: durch Dedikationen, Lobgedichte, Einschaltung von Vermittlern. Viele poetische Werke erschienen unter dem Gesellschaftsnarnen des Autors. Besonders für diese Gruppe der Autoren brachte die Mitgliedschaft offensichtlich auch persönliche Vorteile mit sich. Sie bedeutete die öffentliche Aufnahme in die Elite der dt. Bildung und damit einen Zugewinn an persönlicher Reputation. Sie war eine Hilfe für Drucklegung und Verbreitung des Werks: Ludwig hatte in Kothen eine Druckerei eingerichtet, die Gesellschaft kümmerte sich um Neuauflagen von Schriften verstorbener Mitglieder. Das Ansehen der FG und der Einfluß ihrer fürstlichen und adeligen Mitglieder war als Schutz vor Angriffen und als Sicherung vor Raubdrucken nützlich. Der Verzicht auf Ehrentitel und Namen im Verkehr der Gesellschafter untereinander und ihr Ersatz durch den Gesellschaftsnamen bedeutete zwar nicht eine grundsätzliche Aufhebung ständischer Unterschiede. Er dokumentierte aber immerhin die Gleichberechtigung der Bürgerlichen hinsichtlich der angestrebten Ziele, ein Faktum, das für diese Zeit durchaus beachtlich ist. Freilich scheint sich auch diesbezüglich das Klima nach 1650 merklich geändert zu haben.

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Ludwig hatte auf ständischer Offenheit bestanden und legte Wert darauf, mit dem Gesellschaftsnamen angeredet zu werden; nach ihm gab man diesem Namen eher den Sinn, adelige Rangstreitigkeiten hintanzuhalten; jene „Niedrigem" hingegen, die „denen vornehmen Standespersonen . . . aus unbescheidener Kühnheit und thörichter Einbildung/sich unterstanden/alzu nahe zu treten" (Neumark), wurden in die Schranken gewiesen. Diese Refeudalisierung in Aufnahmepolitik und Umgangsformen entzog natürlich dem ursprünglichen Ziel nach breiter nationaler Erneuerung den Boden, weil die, „so doch die feder am meisten führen müßen" (Ludwig), abseits blieben.

III. Die Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen (AGT). § 15. 1633 gegründet, nimmt sich die AGT neben der FG wie ein privater Dichterzirkel aus. Sie wurde von einem Freundeskreis um Jesaias Rompier von Löwenhalt gegründet und umfaßte Zeit ihres Bestehens nur einige wenige Mitglieder: neben Rompier gehörten ihr J. Freinsheim, A . Hecht, J . M. Schneuber und P. S. Thiederich mit Sicherheit an. Andere standen ihr zumindest nahe, wenn auch ihre Mitgliedschaft nicht (sicher) zu erweisen ist; so H . H . Schill, F. G. Weckherlin und J . M . Moscherosch. Über das Gesellschaftsleben und seine Formen ist so gut wie nichts bekannt. Die - bewußt - klein gehaltene Mitgliederzahl machte eine Regelung wie in der FG wohl überflüssig. In den generellen Zielen schloß die A G T an die FG an, Rompier, Mitglied der DG, beteiligte sich schon in den dreißiger Jahren an der sprachlichen Reformdiskussion. Entsprechend seinem Sitz an der Sprachgrenze tritt beim Straßburger Kreis das kulturpatriotische Motiv deutlich hervor. Wahrscheinlich in enger Verbindung zur Straßburger Universität (Matthias Bernegger) spielte die A G T im elsässischen literar. Leben eine wichtige Rolle. Christian Weise konnte offenbar noch 1680 mit der Bekanntheit ihres Namens rechnen, wenn er sie in der Zweyfachen Poetenzunfft als „Tannzapfenzunft" apostrophierte.

IV. Die (DG).

Deutschgesinnete

Genossenschaft

§ 16. Die DG ging aus dem Hamburger Freundeskreis um Philipp von Zesen hervor. Uber das genaue Gründungsdatum besteht Unsicherheit. Am wahrscheinlichsten ist wohl

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Sprachgesellschaften

1643. Sie lehnte sich in Zielen und Satzungen eng an die FG an: Sie verlangte von ihren Mitgliedern weitgehend dieselben „Tugenden" und trug ihnen insbesondere die Förderung der Hochdeutschen Sprache durch Schriften oder andere Mittel (d. i. besonders durch die Unterstützung der literar. Werke der Mitgesellschafter) auf. Auch in Organisationsform und äußeren Zeichen bestanden Ähnlichkeiten. Die DG war allerdings in mehrere, nach ihrem Emblem benannte „Zünfte" gegliedert, die ihrerseits wieder aus einer bestimmten (symbolisch interpretierten) Zahl von „Zunftsitzen" mit ebensovielen Mitgliedern bestanden (Rosenzunft: 9 Sitze ä 9 Mitglieder, Lilienzunft 7, Nägleinzunft 5, Rautenzunft 12). Oberhaupt war Zesen, nach seinem Tod (1689) Johann Heinrich Gabler. Ob dieser einen Nachfolger fand, ist unsicher, denn Anfang des 18. Jh.s verlieren sich die Spuren der DG. Zesen selbst hatte die Rosenzunft geleitet, den anderen Z ü n f t e n standen die einzigen weiblichen Mitglieder der Gesellschaft v o r : C . R . v o n G r e i f f e n berg (Lilien) und U . H . von Feldheim (Näglein); f ü r die generell unvollständige Rautenzunft w a r o f fenbar s c h w e r eine D a m e zu finden.

Insgesamt weiß man von 207 Mitgliedern, darunter G. Ph. Harsdörffer, J. Rompier von Löwenhalt, J. Klai, W. Scherffer von Scherfenstein, H. M. Moscherosch, S. von Birken, J. Beilin, D. Schirmer, Chr. Knorr von Rosenroth, K. von Hövelen, B. Feind, J. Chr. Männling, J. A. Haßlocher; auch der niederländische Dichter J. van den Vondel war Mitglied. Die Gesellschafter waren zu etwa 90% bürgerlicher Herkunft. Ziemlich groß ist der Anteil an Geistlichen. Das findet seine Entsprechung darin, daß im Zentrum der allgegemeinen Tugendvorstellungen nicht, wie in der FG, ethisch-patriotische Ideale standen, sondern die christlichen Haupttugenden: Hoffnung (Lilie), Glaube (Näglein) und insbesondere die immer wieder hervorgehobene Liebe (Rose). Die „vergesenheit der Kristlichen Liebe" ist nach Zesen für alles Unglück der Zeit verantwortlich, „unterliche Liebe" (d. h. Liebe als Prinzip zwischenmenschlicher Beziehung), „Liebe zur spräche" und Liebe zum „Vaterlande" sollten auf lange Sicht Besserung bringen. In seiner Adriatischen Rosenmund, deren Heldin die D G symbolisiert, hat Zesen dieses Programm

literarisch gestaltet. In ironischem Kontrast dazu steht die Tatsache, daß Zesen, s o w o h l als Person wie in seinen W e r k e n , vielumstritten und angefeindet w a r . Die Bedeutung, die er seinen persönlichen Lebensdaten (das Gründungsdatum fällt auf seinen Namenstag, N a m e n - und Geburtstag sind bevorzugte Termine f ü r die Neuaufnahme v o n M i t gliedern) im Gesellschaftsleben gab, w a r w o h l nicht ganz frei v o n persönlichem Ehrgeiz. Daß gerade er, den man als einen der ersten deutschen ,Literaten' bezeichnen könnte, wegen der Unsicherheit seiner sozialen Stellung auf einen möglichst eng geknüpften Bund Gleichgesinnter (von den 2 0 7 Mitgliedern w a r e n 6 8 auch in irgend einer F o r m Funktionäre der Gesellschaft) besonders angewiesen war, scheint naheliegend.

In der Verfolgung seiner sprachlichen Ideale verliert Zesen manchmal das Augenmaß: seine „närrische orthographi" (Schottel) wurde schon von den Zeitgenossen kritisiert und parodiert; sie belastete, obwohl er sich von ihrer extremen Ausformung als einer Jugendsünde' distanzierte, sein Verhältnis zur FG, deren Mitglied er ohnehin erst sehr spät (1648) geworden war. Im Versuch, die Orthographie ohne Rücksicht auf bestehende Gewohnheiten umzugestalten, überschätzt er die Möglichkeiten des Einzelnen gegenüber der sozialen Wirklichkeit der Sprache genauso wie in vielen seiner Eindeutschungsvorschlägen. Für die Entwicklung der deutschen Orthographie blieb er deshalb - abgesehen von unmittelbaren Schülern und Nachahmern (M. J. Bellin: Hochdeutsche Rechtschreibung . . . 1657) - aufs ganze gesehen folgenlos. Anders in seinen puristischen Bemühungen: sehr viele seiner Neuschöpfungen sind zwar untergegangen, andere („Lustgetöhne", „Schauglas", „Meichelpuffer", „Zeugemutter", „Zwölfling", „Edelgesteinkrähmer" für „Musik, Spiegel, Pistole, Natur, Alexandriner, Juwelier" und die berühmten „Manszwünger" und „Jungferzwünger" für „Kloster") gaben vielen Generationen Anlaß zum Spott; da seine Verdeutschungsvorschläge aber meist systemgerecht waren, haben sie sich teilweise durchgesetzt und den dt. Wortschatz bereichert („Lehrsatz", „Arzneimittel", „Sinngedicht", „Feigling", „dichterisch", „wahrscheinlich", „abbilden"). Daß gut 15% dieser Neubildungen aus dem Niederländischen lehnübersetzt sind, belegt an einem anschaulichen Beispiel die Ausstrahlung des niederländ. Einflusses auf die deutschen SG.

Sprachgesellschaften V. Der Pegnesische Blumenorden (PB). § 17. Der PB ist stärker literarisch ausgerichtet als die übrigen SG und deshalb in Band 2, S. 705ff. unter dem Stichwort Nürnberger Dichterschule (s. d.) näher charakterisiert (vgl. insbesondere die Informationen über Gründung, Schäferspiel, Auffassungen von Poetik und Kunsttheorie). Sowohl sein Programm wie sein Mitgliederkreis erweisen ihn aber auch als Variante des hier besprochenen Gesellschaftstyps. Gegründet wurde der PB 1644 von Johann Klaj und Georg Philipp Harsdörffer, der bis 1657 sein erstes Oberhaupt war. Nach dem Tod Harsdörffers, der insgesamt nur 14 Mitglieder aufgenommen hatte, drohte die Gesellschaft unterzugehen, wurde aber durch Sigmund von Birken wiederbelebt und ausgebaut; obwohl noch mehrmals vor dem Aussterben, hat sie sich als einzige der alten SG - in gewandelter Gestalt - bis ins 20. Jh. gehalten. Auskunft über die frühe Ordensgeschichte gibt v. a. Herdegen (Historische Nachricht

von deß löblichen Hirten- und BlumenOrdens an der Pegnitz Anfang und Fortgang, 1744). Danach gab es auch beim PB die für die SG typischen Gesellschaftsbräuche: Übernamen, Embleme, Rituale; allerdings von stark spielerischem Charakter, als eine Art Inszenierung der dichterischen Schäferidylle. Das erste Emblem der Gesellschaft selbst war z . B . die siebenfache „Pans-Pfeiffe", der Sinnspruch dazu lautete: „Mit nutzen erfreulich"; die Einzelgesellschafter hatten Blumen als Emblem; bezeichnend sind auch die Namen, die von denen der F G und der D G (dort wären sie unerbittlich eingedeutscht worden) markant abweichen: Strephon (Harsdörffer), Floridan (Birken), Daphnis (Rist), Fontano, Amyntas, Diana usw. Obwohl der Gründer und andere Mitglieder der F G angehörten, hatte der Orden nicht nur diesbezüglich ein eigenes Gesicht: seine Mitglieder waren fast durchwegs bürgerlicher Herkunft, sie sollten eigenschöpferisch tätig, im Idealfall kaiserlich gekrönte Dichter sein; auch Damen wurden aufgenommen, weil man fand, „daß die Natur dieses Geschlechts, von der Tugend und Weisheits-Fähigkeit" nicht ausschließe. Die Zahl der Mitglieder war verhältnismäßig klein (unter Harsdörffer 14, unter Birken schließlich 58, darunter 13 Damen und 5 Adelige).

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Im Vordergrund des theoretischen Interesses standen metrische und rhetorischpoetische Fragen, die mit der dichterischen Praxis der Gesellschafter und der Gesellschaft (es gab auch Gemeinschaftsdichtungen) zusammenhingen (vgl. auch oben Bd. 2, S. 705ff.). Besonders Harsdörffer beteiligte sich aber auch intensiv an den sprachlich-grammatischen Diskussionen der F G und der D G und vertrat dort den relativ undogmatischen Standpunkt der Nürnberger. Die R e c h t s c h r e i b u n g war ihm „kein wesentliches Stück der Sprache" (vgl. dazu § 10), die Großschreibung der Substantive hielt er zwar für einen „beliebten Mißbrauch", wollte aber auch darin einem „jeden seine Meinung lassen; weil solches alles keine Glaubenssachen belanget/ und ein jeder nur eine Stimme in dem Capitel hat"; auch in der F r e m d w o r t f r a g e rät er zum Maßhalten, um nicht mit „neuerdichten Worten sich lächerlich und von vielen verächtlich" zu machen. Übrigens verraten auch die Gesellschaftsnamen (wie beim E S O : vgl. § 18), daß der Purismus nicht übertrieben wurde.

Das generelle, der Sprach- und Literaturarbeit übergeordnete Tugendkonzept steht dem der F G zwar nahe, akzentuiert aber von Anfang an die religiöse Komponente und läßt - bis in die biblisch getönte Hirtendichtung ein zunehmend pietistisch anmutendes Frömmigkeitsideal durchscheinen: die Gesellschaft legte sich unter Birken ein zweites Emblem zu, die „Granadill oder Passions-Blume", die (nach Herdegens Bericht) als „Leidens-Fürbild unsers Erz-Hirten" interpretiert wurde.

VI. Der Elbschwanenorden (ESO). § 18. Der E S O wurde 1658 wahrscheinlich auf Anregung fürstlicher Mitglieder der F G (Herzog August d. J . von Braunschweig, Herzog Christian von Mecklenburg) vom Wedeler Pastor Johann Rist gegründet und ist nach dessen Tod (1667) wieder untergegangen. Möglicherweise spielte bei der Gründung des E S O auch Rists Konkurrenzdenken gegenüber Zesen und dessen Gesellschaft die Hauptrolle. Der E S O bestand aus Bürgerlichen, 36 der 45 Mitglieder waren (allerdings häufig von Rist zum Zwecke der Aufnahme) gekrönte Poeten. Die Gesellschaft verstand sich nach Rists Aussage gegenüber Wilhelm IV., dem Oberhaupt der F G , als „Pflantzgarten", aus dem

130

Sprachgesellschaften

„ein und ander geschikktes/ und würdiges Mitglied genommen/ und . . . in den höchstbelobten Durchleuchtigsten Palmorden versetzet werden möchte" (so Neumark im Neusprossenden Teutschen Palmbaum). Ziele und Bräuche orientierten sich am Vorbild, wenn auch - dem provinziellen Charakter des Ordens entsprechend - in recht äußerlicher Form. Uber das Gesellschaftsleben (Tagungen) und die Symbolik der Namen (sie sind durchwegs gelehrter Natur: vgl. unten) und Zeichen ist wenig bekannt. Offensichtlich kam es bald zu ernsten Spannungen, weil die preuß. Gesellschaftsmitglieder mit der Art, wie Conrad von Hövelen (Gesellschaftsname Candorin) den ESO beschrieben und verteidigt hatte, nicht einverstanden waren (Des Hochlöblich-ädelen Swa-

nen-Ordens

Deudscher

Zimber-Swan

1666;

mit Zusätzen 1667 und 1669). Zu den literarisch interessanteren Mitgliedern zählen neben Johann Rist (Palatin): G . Greilinger (Celadon), Fr. Hoffmann (Epigrammatocles), C. von Hövelen (Candorin), B. Kindermann (Kurandor), J . Praetorius (Prophlidor) und G. W. Sacer (Hierophilo). VII. Andere Gesellschaften. § 19. Außer den beschriebenen gibt es noch einige kleine und wenig bedeutende Gesellschaften, die in den Umkreis der SG gestellt werden können; so Die Neunständige Hänseschaft (1643/44), eine Geheimgenossenschaft, als deren einziges Mitglied Ph. von Zesen bekannt ist, Das Poetische Kleeblatt in Straßburg (1671), Der belorbeerte Tauben-Orden (1693) und Der Leopolden-Orden (Dresden 1695). Uber sie weiß man insgesamt sehr wenig, sie bezeugen - ähnlich wie verwandte Dichtervereinigungen (Poetische Gesellschaft/ Leipzig, Ister-Nymphen, öttinger Blumengenossen) - die allgemeine Disposition zum Gesellschaftswesen, die durch die größeren SG sicher auch gefördert worden war.

VIII. Gesamtbeurteilung (Grenzen und Leistungen). § 20. Uber die B e d e u t u n g d e r S p r a c h g e s e l l s c h a f t e n im ganzen ist die Forschung keineswegs einig. Für eine wirklich fundierte Wirkungsgeschichte wären noch eine Reihe von Vorarbeiten nötig. Eine Reihe von Edi-

tionen/Editionsvorhaben und Einzelstudien (M. Bircher, F. van Ingen, K. Bulling, K. F. Otto, Chr. Stoll u. a.) haben darin den Anfang gemacht. Doch besonders zur Klärung der literaturhistor. Fragen ist noch viel zu tun. Die gelegentlich recht pauschalen Negativurteile früherer Forschung sind sicher in manchem zu korrigieren. In der ,Oberflächenstruktur' des literar. Lebens im 17. Jh. spielen die SG eine dominierende Rolle: sie waren die sichtbaren Zentren dieses Lebens, sie förderten die literar. Produktion und bestimmten in weitem Ausmaß die Themen und die Richtung der Diskussion, sie waren auch dank ihres Ansehens ein wichtiger literatursoziologischer Faktor. Dieses äußere Bild muß in einem Gesamturteil Berücksichtigung finden. Es sagt aber für sich selbst noch nichts darüber aus, wie tief der direkte Einfluß der SG auf das Werk der einzelnen Dichter war, wie hoch man diese Dichtung überhaupt einzuschätzen hat und wie weit die dadurch begründeten Traditionen weitergewirkt haben. In dieser Hinsicht dürfte die Bedeutung der SG doch beschränkt sein, beschränkter jedenfalls, als das äußere Bild für die Zeitgenossen wohl vermuten ließ. Einige dieser Zeitgenossen haben darauf schon aufmerksam gemacht. J . B . Schupp (1610-1661) etwa zweifelte am nationalen Nutzen ihrer gelehrten Sprachpflege; der Hang zu (Sprach)pedanterie und Trockenheit, besonders aber der übertriebene Purismus mancher Gesellschafter hat u. a. J . J . Chr. von Grimmelshausen und Chr. Weise zu Spott und Widerspruch gereizt. Deren Gegnerschaft setzt wohl auch schon voraus, daß in der zweiten Hälfte des Jh.s der tradiHonalistische Ballast die zukunftsgerichteten Tendenzen der Anfangszeit bereits erstickt hatte. Wieweit die Fixierung an äußere Formen, die historisierende Verklärung des Deutschen zum einen, die thematische und gedankliche Abhängigkeit von ausländischen Vorbildern und das Bemühen, diese auf ihrem eigenen Feld zu schlagen andererseits dafür verantwortlich sind, kann schwer ausgemacht werden. Ganz sicher trägt die politisch/soziale Situation die Hauptschuld. Angesichts dieser Situation sind die Leistungen der SG sicher erstaunlicher als ihr Scheitern. Denn trotz aller Einschränkungen, obwohl die Entwicklung in vielem über sie hinweggegangen ist, obwohl die Art ihrer Wissenschaftlichkeit bald mitleidiges Lächeln

Sprachgesellschaften erweckte und die von ihnen ersehnte dt. Lit. z . T . an ganz anderen Ausgangspunkten ansetzte, sind ihnen gewisse l a n g f r i s t i g e Wirkungen von Gewicht nicht abzusprechen: sie haben zum erstenmal im dt. Sprachraum so etwas wie eine literar. Öffentlichkeit geschaffen. Dadurch und durch ihre ständische Offenheit haben sie mitgeholfen, einer künftigen bürgerlichen Lit. den Weg zu bereiten. Durch die scharfe Thematisierung der Sprache lenkten sie die öffentliche Aufmerksamkeit in vorher nie gekannter Intensität auf das einzige, was die politisch und konfessionell zersplitterte Nation noch gemeinsam hatte und leisteten insofern der Emanzipation des Deutschen als Literatursprache einen wichtigen Dienst. Als Gesellschaftstyp waren sie eine Vorstufe auf dem Weg zu den dt. gelehrten Akademien der späteren Zeit (Leibnitz, der die Gründung der Preuß. Akademie der Wissenschaften anregte, wußte um sie) und wagten sich an Projekte von sprachhistorischer Bedeutung: die normierende Vereinheitlichung der Schriftsprache und die Schaffung eines umfassenden deutschen W ö r terbuchs (s. Akademien). Q u e l l e n t e x t e : Martin B i r c h e r (Hg.), Die FG. Quellen u. Dokumente in 4 Bd.n (1970f.). — Georg Krause, Der FG Ertzschrein (1855). Jesaias Rompier v. Löwenhalt, Erstes Gebüsch seiner Reimgedichte (1647). Philipp v. Zesen, Das Hochdeutsche Helikon. Rosenthal . . . (1669) sowie: Der hoch-preis-wiirdigen DG Erster Zwo Zünfte . . . Zunft-Tauf-und Geschlechtsnamen (1676; erw. 1678); Des Hochdeutschen Helikon. Liljentahles . . . Vorbericht (1679); Des . . . Nägleintahles . . . Vorbericht (1687). Eberhard Mannack (Hg.), Die PegnitzSchäfer. Nürnberger Barockdichtung (1968; ReclamUB. 8543/48. Siegmund v. B i r k e n , Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey (1645; Neudr. hg. v. Klaus Garber 1966; Dt. Neudr., Reihe Barock 8). Johann Herdegen, Historische Nachricht von deß löbl. Hirten- und Blumen-Ordens . . . Anfang und Fortgang (1744). C. v. Hövelen, Candorins Deutscher Zimber Swan . . . (1667) und: Der Träu-flihssender Zimber-Swan . . . (1669). Hinzuweisen ist ferner auf die Anthologie bei Stoll (vgl. unten unter „einführende Werke"), auf Ausgaben zu Einzelmitgliedern und Neudrucke (z. B. zu Schottel, Stieler, Buchner, Harsdörffer). Zur bibliographischen Erschließung neueren Datums ist neben den unten genannten Einführungen besonders heranzuziehen: E. W. K i r r m a n n , A Bibliography of the Membership

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Lists of the FG. GermRev. 19 (1944) S. 69-76. Blake Lee Spahr, The Archives of the PBO (1960; Univ. of Calif. Publ. of modem phil. 57). H. Z i r n b a u e r , Bibliographie d. Werke G. Ph. Harsdörffers. Philobiblon 5 (1961) S. 12-49. W. B e n d e r , Herzog A. U. v. BraunschweigWolfenbüttel. Philobiblon 8 (1964) S. 166-187. R. Mai, Bibliographie zum Werk S. v. Birkens. Jb. d. dt. Schillerges. 13 (1969) S. 577-640. Karl F. O t t o , Ph. v. Zesen. A Bibliographical Catalogue (1972; Intern. Bibl. d. dt. Barocklit. II, 1). K. B u l l i n g , Bibliographie zur FG. Marginalien. Blätter d. Pirckheimer-Ges. 20 (1965) S. 3-110. G. D ü n n h a u p t ; Biographie u. Bibliographie zu D. v. d. Werder. Philobiblon 18 (1974) S. 26-38. Die M i t g l i e d e r l i s t e n , soweit nicht in den genannten Quellen enthalten, sind zu ergänzen aus: Goedeke, Grundriß. Bd. 3, S. 6-19, K. Dissel (vgl. unten unter „ D G " ) und K. F. O t t o (s. unten unter „Einführung"), S. 55 und S. 70f. Zur Einführung ins Thema sind - außer den einschlägigen Passagen in den Literatur- und Sprachgeschichten - besonders zu empfehlen: Karl F. O t t o , Die SG des 17. Jh.s (1972; Samml. Metzler 109). Christoph Stoll, SG im Deutschland d. 17. Jh.s (1973; List TB 1463). F. v. Ingen, Überlegungen zur Erforschung der SG. Internat. Arbeitskreis f. dt. Barocklit. 1. Jahrestreffen (1973) S. 82-106. F. v. Ingen, Die SG d. 17. Jh.s. Daphnis 1 (1972) S. 14-23. Im Reallex. vgl. den Artikel Barockliteratur von J. H. Schölte. Zu den SG allgemein vgl. man weiters: Giovanni Batt. Z a n n o n i , Breve storia dell'Accademia della Crusca. Atti dell'A. d. C. 1 (1819) S. I - C X X . Alfred v. Reumont, Zur Geschichte der Akademie der Crusca (1857; Reumont: Beiträge zur italienischen Geschichte. Bd. 6 S. 141-238). — Joh. Otto Leop. Schulz, Die SG d. 17. Jh.s (1824). Hans Schultz, Die Bestrebungen d. SG d. 17. Jh.s für Reinigung d. dt. Sprache (1888). Ders., Die kleineren SG d. 17. Jh.s Diss. Göttingen 1888. Hans Wolff, Der Purismus in d. dt. Lit. d. 17. Jh.s Diss. Straßburg 1888. Man. Herrn. J e l l i n e k , Geschichte d. nhd. Grammatik Bd. 1 (1913). Kurt Wels, Die Patriot. Strömungen in d. Lit. d. 30jähr. Krieges. Diss. Greifswald 1913. Cornelie Prange, Ein Jahrzehnt dt. Sprachreinigung von 1640-1650. (Masch.) Diss. Freiburg/B. 1922. Friedr. Seiler, Das Lehnwort d. neueren Zeit. 2 Bde (1810-1812; 2. Aufl. 1924; Seiler: Die Entwicklung d. dt. Kultur im Spiegel d. dt. Lehnwortes. Bd. 3 u. 4. Paul H a n k a m e r , Die Sprache. Ihr Begriff u. ihre Deutung im 16. u. 17. Jh. (1927; Nachdr. 1965). Karl V i e t o r , Probleme d. dt. Barocklit. (1928; Von dt. Poeterey 3). Erika V o g t , Die gegenhöfische Strömung in d. dt. Barocklit. (1932; Von dt. Poeterey 11). G. F r i c k e , Die Sprachauffas-

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Sprachgesellschaften — Sprichwort

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Sprichwort im Mhd. noch altez, altsprochen, gemeinez wort, auch Spruch, bispruch, biwort (Glosse für proverbittm übersetzung vorwort)',

biscaft,

bispel,

biwort,

ist auch die Lehnund die schon ahd.

(biwurti),

furiwurti.

Die jetzt herrschende Form Sprichwort (für die sich besonders Adelung einsetzte), ist richtig, während die seit dem Frnhd. erschei-

nenden sprüch-

und Spruchwort

etymologische Umdeutung und

eine volksHerleitung

von Spruch darstellen. Für das im MA. ge-

Sprichwort läufige Sprichwortgut in lat. Sprache steht meist proverbium (vielleicht aus pro verbo esse oder alqd. pro verbo habere hervorgegangen), das (seit Varro und Cicero) älteres adagio (zu aio) ersetzt, aber auch das in Anlehnung an proverbium gebildete adagium. An den griech. Begriff Jtagoijna (= Nebenrede) knüpft die heutige international orientierte S.wortforschung, die Parömiologie an. Auch die B e g r i f f s b e s t i m m u n g des Wortes ist nicht eindeutig; vom eigentlichen S. ist einmal die sprichwörtliche Redensart zu scheiden. Beiden gemeinsam ist bildhafter Ausdruck, formelhafte Gängigkeit; im Gegensatz aber zur geschlossenen Form des S.s verzichtet die R., in die Rede eingeflochten, auf festgefügte Formung, gibt sie keinen allgemeingültigen Satz wieder, bedarf sie vielmehr der inhaltlichen wie syntaktischen Beziehung auf eine bestimmte Person oder Sache. Sammlungen verzeichnen oft S.er und R.en gleichermaßen, ohne sie gegeneinander abzugrenzen. Tatsächlich sind die Grenzen fließend und Ubergänge leicht möglich: so lassen sich viele R.en durch Zusatz von ,man soll'/,man muß' (oder ,man soll/muß nicht') zu S.ern formen, während viele S.er, bezieht man sie auf eine bestimmte Person und baut man sie in das Satzgefüge ein, leicht in sprichwörtliche Wendungen aufzulösen sind. - Zum andern ist das S. abzugrenzen gegen Sprüche, Sinnsprüche, Sentenzen u. ä., die auch geschlossen geformt sind, doch nicht der Alltags- und Umgangssprache angehören; auch hier ist exakte Abgrenzung schwer möglich. Spruch (s. d.) als Gattungsbezeichnung ist ohnehin problematisch, werden doch dabei zwei Gattungen: der gesprochene,Sprech'- und der lyrische ,Sang'spruch ungerechtfertigt vermischt; in älterer Zeit deckt der Begriff auch noch das S. Nicht selten wird der Terminus so unscharf definiert, daß er alles Sentenzhafte im weitesten Sinne einbezieht. - Büchmann rückt seine Geflügelten Worte nahe an das S., wenn er in ihnen allgemein bekannte und sprichwortartig verwendete Sentenzen sieht; nur ihr meist eindeutig feststehender Urheber, ihr in jedem Fall geklärter Ursprung, trennt sie dann vom S. Das von ihm erfaßte Spruchgut aber zeigt doch größere Nähe zum Zitat, und Walter Robert-Tornow, der Mitarbeiter seiner letzten Jahre, macht dies auch durch seine eigene Definition deutlich. Das »geflügelte Wort' ist somit ein Zitat (s. d.),

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das innerhalb einer engbegrenzten Trägerschicht gängig ist. In ihrer Aussage sind beide Spruchtypen eher gegensätzlich: fordert das ,geflügelte Wort' oft zu aktivem, individuellem Gestalten auf, fördert das S. in starkem Maße träge-ergebenes Beharren. - Den Aphorismus (s. d.) nennt man oft ,das Sprichwort der Gebildeten', während das S. nicht selten als volkstümliche Variante der Sentenz' angesprochen wird. Gemeinsam ist ihnen die Ausrichtung auf eine Pointe und die knappe Formulierung, doch hat das S. (Reim, Rhythmus) die einprägsamere Form; beide beobachten, nehmen wahr, erkennen, formulieren. Dabei ist es Absicht und Anliegen des S.s, den persönlichen Eindruck aus dem Bereich situationsgebundenen individuellen Erlebnisses in den der allgemeingültigen Erfahrungstatsache zu erheben, wodurch es rasch Allgemeingut wird; während der A. den persönlichen Gedankensplitter, die spontane Erkenntnis, das gezielt wertende Urteil absichtsvoll subjektiv ausspricht. Das S. zielt inhaltlich so sehr ins Allgemeine, sucht die geschlossene, formelhafte, streng fixierte Aussage, daß es der Anonymität seines Verfassers geradezu bedarf; während gerade der Verf. es ist, der durch seinen A. vom Leser eigene gedankliche Auseinandersetzung fordert, durch ihn zu Mit- und Weiterdenken der angesprochenen Problematik aufruft. Ist der A. eher kontextgebunden, kann das S. in völliger sprachlicher Isolierung stehen; bezweifelt der A. oft überlieferte Werte wie Gegebenheiten, will das S. eben diese tradierten Wertvorstellungen in verbindlicher, fest geprägter Form bequem an die Hand geben. Das S. hat im Laufe der Zeit eine große Zahl meist unvollständiger, einseitiger D e f i n i t i o n e n erfahren. Lehrhafte Tendenz und Wirkung, sowie Volkstümlichkeit fordern nahezu alle; übereinstimmend gilt das S. als Ergebnis praktischer Lebenserfahrung wie Ausdruck der Volksmoral. Für U h l a n d sind S.er „einfachste volksmäßigste Lebensweisheit", „bündiger Ausdruck der Gesinnungen, Ansichten, Erfahrungen des Volkes" (Schrif-

ten zur Geschichte der Dichtung und Sage, 2. Bd. 1866, S. 524/525). André J o l l e s (Einfache Formen, 1930) widerspricht der deflatorisch geforderten Lehrhaftigkeit als einer der ersten nachhaltig, und sieht in der rückschauenden Tendenz des S.s wie in seinem resignierenden Charakter wesenhafte Merk-

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Sprichwort

male. Mathilde H a i n entgegnet entschieden (Sprichwort und Volkssprache, 1951), und macht das S. primär zum Träger sozial verbindlicher Wertung wie Lehrhaftigkeit. Hermann B a u s i n g e r (Formen der Volkspoesie, 1968) tastet sich zu der „vorsichtigen Definition" (S. 98) heran, wonach das S. „eine partiell gültige Lebensregel" ist; wobei sich „im Begriff ,Regel' Sein und Sollen" treffen. Er sieht diese ,Regel' zumeist als Kommentar formuliert, der auf eine Gesetzlichkeit hinweist, die „passiv zu erdulden oder klugerweise in Rechnung zu stellen" ist. - So ist das S. ein im Wortschatz breiter Schichten (zu bestimmten Zeiten oder über längere Zeiträume hinweg) fest verankerter Spruch, von geschlossener, zu Formelhaftigkeit tendierender Form, von bildhaftem, gleichnisartigem Ausdruck, der in feststellender Art durch Rückschau gewonnene praktische Erfahrung fixiert, Richtlinien für die Lebensführung inhaltlich mundgerecht macht; Leitsätze, die nur partiell gültig sein können, da zu schnell vom Einzelfall auf das Allgemeingültige geschlossen wird, woraus sich charakteristische Einseitigkeit wie Widersprüchlichkeit ergibt. Das S. hat nach Inhalt wie Funktion große Variationsbreite; Lehrhaftigkeit ist nur eine der vielschichtigen Funktionsmöglichkeiten. Die hohe Autorität, die ältere Zeiten dem S. einräumten, begünstigte seinen Einsatz zu didaktischen Zwecken. Heute kommt diesen „monumenta humana" (M. Kuusi) lediglich eine gewisse „Autorität der Realistik" (M. Lüthi) zu. S.er erfüllen oft einleitende, verdeutlichende, zusammenfassende Funktion; im schriftsprachlichen Gebrauch fungieren sie nicht selten als umgangssprachlicher Gegenpol. Als vielbenutzter Spruch ist es einem vielseitig angreifenden Abnutzungseffekt ausgesetzt: die geschlossene Form steht einem ,Zersägen' nicht im Wege. War schon immer Variationsmöglichkeit ein Wesenszyg des S.s, ist sie heute der dominierende. § 2. Nicht jedes S. einer Epoche ist im ganzen Volke gängig: m u n d a r t l i c h e , b e r u f l i c h e und g e s e l l s c h a f t l i c h e A b s t u f u n g schränkt weitgehend eine allgemeine Verwendung ein. Viele S.er sind nur in bestimmten Sprachlandschaften heimisch: so verzeichnen die Mundartwörterbücher auch dialektgebundene Kleinformeln und dokumentieren so deren Zugehörigkeit zu einem

bestimmten Sprachraum. Doch ist dies keineswegs so zu verstehen, daß es sich dabei nur um ,Eigenbau' (A. J . Lippl) handelt; aus dem großen gemeinsprachlichen Vorrat werden vielmehr zahlreiche S.er der besonderen Funktionsebene regional begrenzten Gebrauchs angepaßt, werden gleichsam, wie Lippl in bezug auf seine Sammlung bayrischer S.er formuliert, „weiß-blau angestrichen". M. Hain erkennt auch im S.Bereich einen Stadt-Land-Dualismus. So ist für sie das im dörflichen Bezirk benutzte S. Ausdruck spezifisch bäuerlicher Moral, tradierte ethische Normen in praktischer Verkleidung bietend, während das zum S.inventar des Städters gehörende sich vorwiegend am Nutzen orientiere. Ist diese Zweiteilung mit Sicherheit zu einseitig, ist das S. doch an bestimmte Vorstellungen gebunden, erwächst es spezifischen soziologischen Strukturen, die genauer untersucht und herausgearbeitet werden müßten. Im R e c h t s s p r i c h w o r t , der Bauernregel, dem Wellerismus bildet das S. bedeutsame Sonderformen aus. In seinem Ursprung ist das Rs. eine Formel, die bestimmte Rechtsnormen in leicht einprägsamer Form bündig formuliert. So macht z. B. Oswald von Wolkenstein in einem Alterswerk (1438) mit Hilfe solchen Spruchguts mal. Rechtsgrundsätze den Menschen seiner Zeit verständlich. Sicher aber dienten Rs.er ehemals auch als Lernund Merkformeln für den Unterrichtsgebrauch. Aus der großen Zahl derartiger Formeln verfestigten sich die zum S., die die Bindung an den streng juristischen Bereich mit der Zeit verloren hatten; etwa weil ihr Inhalt nunmehr als selbstverständlich gelten konnte, oder weil die juristische Entwicklung sie in dieser speziellen Form überflüssig machte. In Wesen und Funktion zeigen diese Rechtsformeln - wie Bausinger erkennt - Berührungspunkte zur heute gängigen formelhaften Popularisierung von Verkehrsregeln und -bestimmungen. An Sammlungen (J. F. Eisenhart, 1758; Graf und Dietherr, 1864) läßt sich die Volkstümlichkeit dieser alten Rechtssätze im MA. ablesen. Klingen bei Jacob Grimm (Von der Poesie im Recht, 1815) zwar volkskundliche Fragestellungen an, fehlt doch bis heute eine eingehende Untersuchung von dieser Seite. B a u e r n r e g e l n finden sich in alten wie neuen S.Sammlungen, ausdrücklich als solche

Sprichwort gekennzeichnet oder ohne Erläuterung eingefügt. In Form wie Funktion dem S. angeschlossen, sind sie doch stark milieuverhaftet, ist ihre Gängigkeit eingeengt. Zwei Gruppen sind unterscheidbar: die A r b e i t s r e g e l n , die naturgemäß nur von gruppenspezifischem Interesse sind, und die oft breit bekannten und geläufigen W e t t e r r e g e l n , deren Herkunft aus bäuerlicher Erfahrung aber jeder kennt oder unterstellt. Sie sind es, die auf besonders ausgeprägte und auffällige Weise Variabilität wie Widersprüchlichkeit des gesamten S.gutes exemplarisch vor Augen führen. Für den W e l l e r i s m u s (nach Samuel Weller in Charles Dickens' Pickwick Papers) gibt es viele Namen: apologisches S., Anekdoten spruch, Beispielsprichwort, Beispielwort, Sagwort, Sagsprichwort, Sagtesprichwort. Der Begriff W . ist der einzige, der international eine gewisse Verbreitung erfahren hat. Die Herkunft des W. ist weithin ungeklärt. Schon bei den Griechen und Römern vorkommend, fällt für den europäischen und analog auch für den deutschen - Sprachraum eine Dominanz der Verbreitung im Nordwesten und Norden auf, die zu voreiligen Schlüssen führte; denn auch die romanischen Länder kennen den W. Diese sprachliche Formel ist wesenhaft gekennzeichnet durch die Einfügung eines epischen Elements. Der Spruch ist üblicherweise dreiteilig: einem S. oder s.ähnlichen Ausdruck folgt der gattungsspezifische Mittelteil, der den Sprecher nennt; im Schlußteil wird streiflichtartig die Situation aufgezeigt. Oft hat der W. die Funktion, formelhaft erstarrte Gemeinplätze aufzuheben, die absolute Gültigkeit solcher Sätze in ironischer wie drastischer Weise anzugreifen; er kann dabei zur S.parodie werden. Im 16. Jh. sind es Humanisten, Kleriker, Studenten, die in oft grotesker dt.-lat. Sprachmischung den W . in dieser Funktion pflegen. Er eignet sich aber auch dazu, den Inhalt einer pointierten Erzählung auf einen einfachen Nenner zu bringen. Sagwörter solcher Art fungieren gleichsam als Anspielungsformeln. Heute werden zu parodistischen wie satirischen Zwecken zahlreiche neue Wellerismen geformt. § 3. Der breite Strom des dt. Sprichwortschatzes entspringt zwei H a u p t q u e l l e n : volkstümlicher Spruch- und literarischer

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Buch- wie Schulbuchweisheit; wobei die Schule seit mal. Zeit zumeist antikes wie biblisches Spruchgut in dt. Ubersetzung vermittelt. Die Grenzen zwischen volkstümlichem und literarischem S. sind fließend: die Literaten schöpfen aus dem Volksmund und dieser macht sich literar. S.er zu eigen. Wir sprechen heute von Volkss. freilich nicht in der alten, von Aristoteles, Rousseau, Herder und den Romantikern vertretenen Meinung, als habe das S. seinen geheimnisvollen Ursprung in der unerschöpflichen Tiefe der ,Volksseele'. Gewiß, das S. ist Ausdruck und Bewahrer einer uralten Volksweisheit, aber sein Schöpfer ist so wenig wie beim volkstümlichen Lied, Märchen und der Sage das Volk als solches. Vielmehr machte sich stets ein einzelner zum geschickten Former und Deuter volkhafter Weisheit. Das S. ist Ergebnis der Beobachtung alltäglicher Geschehnisse oder Erzeugnis der Einbildungskraft. Die Hörer nahmen den Spruch auf, trugen ihn weiter und gaben ihm, falls nötig, eine schlagkräftige Gestalt. Der Anteil des Volkes am S. erstreckt sich also wie bei der Wortschöpfung und Wortwahl nur auf Auslese und Überlieferung. Ansehnlich ist die Zahl der S.er, die der Buchweisheit von Dichtern und Denkern, gelehrten wie volkstümlichen, ihre Entstehung verdanken. Sie zeichnen sich aus durch kunstvollere Form, tieferen Gehalt: viele davon sind in das umfangreiche S.reservoire der alltäglichen Sprache eingegangen. Schon seit dem frühen M A . bedienen sich dt. und lat. Schriftsteller gern des S.s, ihrer Darstellung eine volkstümliche Würze zu geben. Auch kann der Kern einer kleinen Erzählung wie Fabel, Anekdote, Schwank, Märchen zu sprichwörtlichen Fassungen verdichtet und in dieser Form gängig werden; diese S.er sind - von ihrer Entstehung her - Verkürzungsformeln. Diesen Vorgang fördert die Fabel schon von ihrer Grundkonzeption her; die Griechen bringen diese strukturellen Zusammenhänge durch denselben Begriff für Fabel und S. zum Ausdruck. Das führte nicht selten dazu, für die Entstehung allen s.liehen Spruchgutes Herleitung aus solchen Quellen zu fordern; wie denn auch umgekehrt die Entwicklung von Lehrgedicht, Satire, Fabel, Schwank aus Märchen, Sage, Sprichwort erwogen wurde: eine These, die sich nicht erhärten läßt. - Das S. gehört zu großen Teilen also in den Kreis gesunkenen Kulturguts. Die so lebhafte Auf-

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Sprichwort

nähme durch breite Schichten hat ihren Ursprung in einem ethisch-psychologischen Grundbedürfnis des Menschen. Seit alters wird praktische Lebenskenntnis in Formeln umgesetzt und werden diese Formeln, soweit sie für Denken und Fühlen, Tun und Lassen sinnfällige vorgeprägte Formen bieten, auf breiter Basis aufgenommen. Erst mit der Aufklärung wendet sich die Oberschicht vom tradierten volkstümlichen Spruchgut ab, eine Haltung, die längst relativiert ist. § 4. Nicht durch Tiefe, Eigenheit oder Neuheit der verkündeten Weisheit wird eine Wendung zum S., im Gegenteil: viele der gängigsten S.er sprechen Alltagsgedanken aus. Das Entscheidende ist die F o r m , begründet in der Freude am Klang, am Spiel der Vokale, am Laut schlechthin: je wirksamer die sprachliche Einkleidung in Wortwahl, poetischer Formung, in rhythmischer Bewegtheit und Klangfülle das Rechte trifft, desto eher hat ein Spruch Aussicht, daß er sich zum S. festigt. Diese Formung ist ein Akt dichterischer Kleinkunst: es können leicht eingängige Wortkunstwerke entstehen, die beim ersten Hören haften bleiben. Die Kunstmittel der poetisch geformten S.er (daneben gibt es auch solche in weniger gepflegter Prosa) sind vielgestaltig nach innerer und äußerer Form. Technische Mittel der äußeren Formgebung sind Altertümlichkeit der Sprache nach Form und Bedeutung, Kurzrede, Sinnreim, Gleichartigkeit der Gliederung, Vielgliedrigkeit, verstärkt durch Wortwiederholung und Wortgegensatz (Zwei- bis Vielspruch), formelhafte Wendungen und Satzverbindungen, Rhythmus und Reim (Stabreim seltener, Endreim häufig), wobei dieser zugleich Gedächtnishilfe ist. Die wichtigsten Mittel der inneren Formgebung sind Bildhaftigkeit, Beseelung, Verpersönlichung durch Eigennamen, scheinbare Widersinnigkeit, Übertreibung bis zur Groteske, Ironie, Verhüllung, Wortspiel, Witz. Die vielen Tausend S.er, die den S.schatz einer Sprachgemeinschaft ausmachen, lassen sich auf eine relativ kleine Anzahl Sprachund Bildformeln reduzieren; ein Aspekt, der gründlich erforscht werden müßte, konnte doch eine solche G r u n d f o r m e l über längere Zeiträume hinweg jeweils neue S.er schaffen und so das Repertoire weiter vergrößern. Beispielhaft stellte Wayland Hand in den 30er Jahren eine S.liste des Typs ,Armut ist die

Mutter der Künste' zusammen. Dieser Typ läßt sich auf die allgemeine Formel ,X ist die Mutter von Y' bringen, die als stabiler Baukern immer neuer Varianten Grundlage zum formelhaften Ausdruck einer Vielzahl von Lebenserfahrungen wurde. - Das S. will bequemes R ü s t z e u g z u r L e b e n s e i n s i c h t u n d L e b e n s f ü h r u n g an die Hand geben. So umgreift es alles, was der Natur-, Menschenund Weltkunde dient. Naturgeschehen, Fragen des Familien- und Staatslebens, Erscheinungen des Alltags wie der überirdischen Welt, auch Erziehungs- und Klugheitsregeln jeder Art sind besonders beliebt. In alle Seiten und Winkel des menschlichen Daseins von der Kindheit bis zum Alter wird hineingeleuchtet, um Welterkenntnis und Lebenskunde zu verbreiten. Bald werden Sittenregeln zur Befolgung gegeben, bald Sittengemälde zur Anschauung gebracht. Neben ernstgemeinten Klugheits- und Tugendlehren stehen auch scherzhafte wie spöttische, ohne Anspruch auf Wahrheit und Gemeingeltung. Kurz: alle Gedanken, Beobachtungen, Erfahrungen, die der Beachtung vieler sicher sind, reizen zu s.licher Prägung. Die Fülle Allgemeingültigkeit beanspruchender Sätze muß zwangsläufig zu Einseitigkeit wie Widersprüchlichkeit führen. Diese A n t i t h e t i k wird überall sichtbar: zu fast jedem S. läßt sich ein Gegen-S. finden. Weithin bekannte Beispiele dafür sind die Sätze , Recht geht vor Gewalt' und die Umkehrung , Gewalt geht vor Recht'; ,jung gefreit hat niemand gereut' und ,jung gefreit hat gar oft gereut'. Manche S.er erwecken den Eindruck, als verdankten sie ihre Entstehung dem synthetischen Bemühen um Ausgleich dieser Widersprüchlichkeit; sie sind also gleichsam Ausgleichsformeln: neben ,frisch gewagt ist halb gewonnen' steht ,erst wäg's, dann wag's'; in ,wagen gewinnt, wagen verliert' treffen sich S. und Gegen-S. Die allgemeine Lebenserfahrung lehrt, daß nicht selten nackter Egoismus zu sichtbarem Erfolg führt, eine Erkenntnis, die sich selbstverständlich auch im Spruchgut niederschlägt (,selber essen macht fett'; R e h men ist seliger als Geben' u. viele andere) und nicht selten zu Kritik an diesen „amoralischen" S.ern geführt hat. Zwischenmenschliche Spannungen und Schwierigkeiten gehören zur Lebenswirklichkeit und werden ebenso auf formelhaften Nenner gebracht wie Unzufriedenheit mit der sozialen Situation.

Sprichwort Sie äußert sich in Sätzen wie ,kleine Diebe hängt man, große läßt man laufen', sowie in solchen, die an Berufs- und Standesgruppen Kritik üben, die diese soziale Wirklichkeit maßgebend gestalten. Eine eingehende Untersuchung dieser Aspekte wäre erforderlich. ,Ein Sprichwort - ein Wahrwort'? Der S.schatz einer Sprache birgt eine unendliche Fülle einseitig formulierter Erfahrungssätze, die es jedem sehr leicht macht, den für den Augenblick passenden, d. h. den sein Verhalten legitimierenden ,Erfahrungssatz' zu finden. § 5. Damit ist eine Kernfrage der S.forschung aufgeworfen, die Frage nach der F u n k t i o n s.licher Formeln. Dem S. wurde - von seinem Benutzer wie seinem Erforscher schon immer große Wirksamkeit in jeder Sicht zugesprochen. Die Forschung aber verzichtete lange Zeit darauf, die Strukturen dieser Wirkkraft sichtbar zu machen. Erst die letzten beiden Jahrzehnte verhalfen dieser Zentralfrage volkskundlicher Betrachtungsweise zum Durchbruch. S.er sind Allgemeingut; jeder kann sie für seine Zwecke ohne jede Einschränkung nutzen; so hat die Funktion dieser Formeln eine erstaunliche Variationsbreite: das S. kennt neben Bedeutungs-, Sinn-, Bild-, Formvarianten genauso selbstverständlich Funktionsvarianten. Das S.reservoire einer Sprachgemeinschaft unterliegt — hinsichtlich seines Umfangs wie der Intensität seiner Nutzung - zeitgebundenen, gruppenspezifischen, individuellen Veränderungen. Gilt das 16. Jh. als Jh. des volkstümlichen Spruchgutes, wird das S. heute totgesagt; zu Unrecht: es wird, wenn auch in variierter Form und geänderter Funktion, oft verwendet. Auch die einzelnen literar. Gattungen nutzen das S. - nach Intensität wie Funktion - sehr unterschiedlich. S.reich ist die didaktisch orientierte Literatur; in der Fabel verkörpert das S. einen allgemeinen moralischen Satz, der die zusammenfassende Nutzanwendung des vorgeführten ,Falles' darstellt; die Predigt früherer Zeiten konnte S.er - anstelle des Bibeltextes - zum Gegenstand der Auslegung machen; in der Exempelliteratur bekräftigt das S. die Moral, die zum Ausdruck kommen soll. Auch die Schwank- und Volksbuchlit. ist reich an s.lichen Formeln, ebenso die Satire. Wenig volkstümliches Spruchgut findet sich im Drama; wenn es hier genutzt wird, hat es

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charakterisierende oder distanzierende Funktion zu erfüllen. Sprichwörtliches findet sich in der Komödie, auch hier zur Charakterisierung einer Person oder Situation eingesetzt. Generell ist der Gebrauch von S.ern von der einzelnen Persönlichkeit, ihrer zeitlichen, sozialen Gebundenheit, ihrer jeweiligen Stimmungslage abhängig; ferner auch vom augenblicklichen Medium ihrer Äußerung, wie von der Art des Gegenstandes, dem sie sich gerade zuwendet. Die Funktionen, die dem S. zukommen, sind unterschiedlich und vielfältig; überwiegend erfüllt es bekräftigende, erklärende, charakterisierende, didaktische, summierende, vordeutende, werbende, kritische, satirische, provozierende Funktionen. Zu diesem Zweck kann es als Einleitungs- wie Schlußformel stehen, oder fest in den Kontext eingebaut sein; heute wird es oft (meist in abgewandelter Form) zur Schlagzeile. S.er aber werden zu allen Zeiten auch gedankenlos als belanglose, abgegriffene Füllsel verwendet. Eine Uberblicks-Skizze soll nun einzelne Aspekte jeweiliger Funktionsintentionen in historischer Schichtung kurz aufzeigen. Ältere Untersuchungen, die sich dem Spruchgut des M A . s zuwenden, richten ihr Augenmerk fast ausschließlich auf Häufigkeit, Form wie Inhalt des S.s. Seine Lehrhaftigkeit wird definitorisch vorausgesetzt; doch ist damit nicht seine didaktische Funktion gemeint, vielmehr gilt Lehrhaftigkeit als Komponente der inhaltlichen Aussage. Jüngere Arbeiten, die den vernachlässigten Aspekt in den Vordergrund rücken, bearbeiten das S. des M A . s bislang k a u m ; diese ersten Ansätze umfassender Funktionserschließung des S.s gelten vorwiegend dem Spruchgut unserer Zeit. Die Forschung steht vor der Aufgabe, den weiten Bereich s.licher FunktionsVarianten von mhd. Zeit bis heute zu erarbeiten. Die Werke einzelner Autoren sind dabei nach dieser Sicht zu erschließen, wobei die Frage nach struktureller, spezieller und spezifischer Funktion des Spruchgutes gestellt werden muß: was bedeutet das S. für die Struktur des Einzelwerkes, was für die des Gesamtwerkes? Welche Funktion hat es an der jeweiligen Einzelstelle? Gibt es eine das betreffende literar. Erzeugnis charakterisierende Funktion des S.s? Läßt das Gesamtwerk eines Autors eine dominierende Funktionsebene erkennen, vielleicht sogar eine für ihn typische? Auch Äußerungen des betreffenden Schriftstellers

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zu seinem Werk, etwa in Abhandlungen, Briefen, überlieferten Gesprächen sind mit einzubeziehen, können sie doch wichtige Aufschlüsse über beabsichtigte Wirkung geben. Aus solcher Einzelschau können Funktionscharakteristiken einzelner Jh.e erwachsen, die mit Sicherheit ein Bild komplexer Vielgestaltigkeit zeichnen werden. Die bloße Lehrhaftigkeit des mal. S.s wird schon in Frage gestellt, wenn man sich seine Funktion etwa im Tristan Gottfrieds von Straßburg ansieht: durch die sprichwörtliche Formel wird hier der exemplarische Charakter des Geschehens verdeutlichend hervorgehoben; sie erfüllt also die Aufgabe einer zusätzlichen Bekräftigung. - Charakterisierende und konfrontierende Funktion hat das S. im s.reichen Salomo-Markolf-Dialog: den Bibelsprüchen Salomos stehen in strenger Antithetik die volkhaften Markolfs gegenüber. - Im Ackermann aus Böhmen des Joh. v. Tepl (s. Streitgedicht), kommt dem S. ebenfalls große Bedeutsamkeit zu. Seine Funktion ist hier, den harten Dualismus beider Kontrahenten sichtbar zu machen, die beiden Gegner zu charakterisieren, wie die ausgetauschten Argumente zusätzlich zu pointieren. So benutzt der Tod S.er oft in satirischer Funktion; durch die Art ihres Gebrauchs macht er deutlich, für wie beschränkt er den Ackermann hält: für einen nämlich, mit dem man' sich nur auf der Ebene einfachster vorgefertigter Formeln verständigen kann. In den Anklagen des Ackermanns fungiert das S. als überzeugender Ausdruck seines resignierenden Pessimismus; betont wird diese Funktion dadurch, daß er immer dann zur vorgeprägten Formel greift, wenn er sich auswegslos in die Enge gedrängt sieht. Das S.vorkommen des Werkes konzentriert sich auffällig im 20. Kapitel. Hier kann man schon von S.reihung sprechen, wie sie später für das bekannte S.kapitel Wie der böse Geist dem betrübten Fausto mit seltsamen spöttischen Scherzreden und Sprichwörtern zusetzt des Volksbuches der Historia von D. Johann Fausten (1587) typisch ist; auch Joh. Fischart und Hans Sachs bilden solche Reihungen. In Rollenhagens Froschmeuseler (1595) ist das S. tragendes Strukturelement: ihm kommt in der Gesamtkonzeption des Werkes die Funktion zu, die der ,topos' oder ,locus communis' in der klassischen und humanist. Rhetorik einnimmt. Der Leser soll rational wie

emotional angesprochen werden; dieser zweifachen Funktion entsprechend, bevorzugt der Autor zwei S.typen: „rhetorically persuasive" und „dialectically convincing proverbs" (R. Richter). - Im Till Eulenspiegel (1515) hat das S. überwiegend einleitende, hinführende Funktion; in Kirchhofs Wendunmut (1563) schließt die Erzählung oft mit sprichwörtlicher Formel; ebenso in Paulis Schimpf und Ernst (1519); die Schlußfunktion des S.s erkennt auch Seb. Franck. — Luther sieht im S. eine „starcke beweisung" und benutzt es entsprechend zur Bekräftigung wie komprimierten Zusammenfassung seiner Aussage. Diese Funktionsebene dominiert auch in der Exempelliteratur. Im Promptuarium exemplorum (1568) des Andreas Hondorff z.B. bildet das mit dem einzelnen Exempel in Verbindung gesetzte S. den bekräftigenden Schluß, wobei insbesondere die Moral untermauert werden soll. - In der s.reichen Predigt der Zeit hat das S. einmal die Funktion zu beleben, aufzulockern, die Aufmerksamkeit zu fördern, und damit die Aufnahmebereitschaft zu erhöhen. Ferner bekräftigt, unterstreicht, beweist es, faßt es zusammen; in den sog. Sprichwörterpredigten vertritt es ein Bibelwort. Murners Satiren zeigen ähnliche S.funktion: zeitgenöss. Kritiker werfen ihm vor, er brauche die Bibel nicht, wenn er nur ein S. habe. In der strukturellen Gesamtkomposition seines Werkes verknüpfen S.er inhaltsähnliche Stellen gedanklich. - In dieser Zeit darf aber auch die rein spielerische Nutzung des S.s nicht übersehen werden, wie sie uns z. B. bei Fischart besonders augenfällig entgegentritt. Verfolgt das Zeitalter der Reformation oft das Ziel, mit Hilfe des Spruchgutes die Richtigkeit der reformatorischen Bewegung zu beweisen, hat das S. bei den Mitgliedern der Sprachgesellschaften (s.d.) wie den Grammatikern des 17. Jh.s die Aufgabe, für den hohen Rang der dt. Sprache zu sprechen. Besonders klar tritt diese Funktion bei J. G. Schottel zutage. (Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubt-Sprache, 1663). Dasselbe Anliegen vertritt aber auch Georg Philipp Harsdörffer, vornehmlich in der Schutzschrift für die Teutsche Sprache, die er seinen Frauenzimmer-Gesprächsspielen (1641-1649) vorausschickt. Mit der Ubersetzung der Comédie des Proverbes ins Deutsche (1632) will er die Gleichrangigkeit der dt. mit der franz. Sprache beweisen. Zu zeigen, daß das Dt.

Sprichwort einen ebenso großen S.fundus hat wie das Franz., verfaßt er auch zwei Sprichwörterbriefe: dem satirischen Liebesbrief Liebe vermeinte Jungfer, der nur aus S. und s. wörtlichen Redensarten besteht, folgt ein ebensolcher Antwortbrief Edel vermeinter Junker. - I m 18. J h . wird das S. vorwiegend in der Predigtliteratur wie in Popularschriften genutzt; aber auch Johann Peter Hebel gab seinen Erzählungen und nützlichen Lehren in den Kalendergeschichten oft S.Überschriften, mit der Funktion, den folgenden Text zu erläutern. Einzelne Dichter und Kritiker setzen sich betont für das Spruchgut ein, der in gebildeten Kreisen herrschenden Tendenz, es überheblich pauschal abzulehnen, entgegenzutreten. Im ganzen ist das J h . sprichwortarm; erst im 19. J h . kommt dem S. wieder größere Wirkbreite zu. Prosaschriftsteller wie Ludwig Anzengruber, Berthold Auerbach, Annette von Droste-Hülshoff, Jeremias Gotthelf, O t t o Ludwig und Theodor Storm verwenden es gezielt in ihren in Dörfern wie Kleinstädten spielenden Erzählungen. Jeremias Gotthelf z. B . will bewußt Volksschriftsteller wie Volkserzieher sein. Zur Charakterisierung der Volkssprache muß er zum S. greifen, das, wie so oft festgestellt, ,dem Volk die Philosophie ersetzt'; auch seine erzieherischen Absichten verwirklicht er am besten durch sprichwörtlich gefaßte Lebensregeln, wobei er, der Pfarrer, besonders oft zu solchen biblischen Ursprungs greift. In seinen Bauernromanen zieht er das Spruchgut aber auch zur Charakterisierung der Personen, ihrer G e fühle und Situationen heran, wobei es auch zum Ausdruck ihrer Rechtfertigung wie ihrer Verteidigung werden kann. Nicht zu übersehen ist auch die witzige, ironische, satirische Funktion, insbesondere dann, wenn G . den Zeitgeist geißeln will; insgesamt also eine erstaunliche Variationsbreite genutzter Funktionsmöglichkeiten. In ähnlicher Art wie Gotthelf, aber mit polit. Kontext, verwendet Erwin Strittmatter das S. in seinem Bauernroman Ole Bienkopp (1972). Sprichwortreihungen charakterisieren die Gedankengänge des Titelhelden in E i c h e n d o r f f s Aus dem Leben eines Taugenichts; darüber hinaus hat das S. die ironische Funktion, in Situationen, in denen Hilfe gebraucht wird, G o t t „erscheinen" zu lassen. - In F o n t a n e s Roman Cécile charakterisieren zwei Berliner durch ihren S.gebrauch den klischee-

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haft erstarrten Erfahrungsgemeinplatz, den ,man' in jeder Situation griffbereit hat. - In Alfred D ö b l i n s Berlin Alexanderplatz wird das S. besonders gern als Abschnittstitel verwendet, um die Situation des einzelnen Menschen in der Anonymität großstädtischer Masse zu signalisieren; das S. erscheint hier als Verkörperung kollektiven Sprechens. Sind die S.er in den Erzählvorgang eingebaut, erfüllen sie meist erläuternde, bekräftigende Funktion. Welche Aussagen Döblin auf solche Weise kommentiert, zeigt der Satz: „ E s ist aber in der Welt so eingerichtet, daß die dämlichsten Sprichwörter recht behalten" (S. 372). Auch ein Mord wird durch das S. erläutert, wobei die sprachliche Formel in beziehungsreicher Weise zerrissen und entstellt wird. Überwiegend satirisch-ironische Funktion hat das S. bei B r e c h t , der es als Mittel des Verfremdungseffektes häufig pervertiert (z. B . im Song von der großen Kapitulation in Mutter Courage). - In seinen Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull ironisiert Thomas Mann durch das S. die Einseitigkeit formelhaft vereinfachter Lebenserfahrung; im Doktor Faustus faßt Leverkühn seine Rechtfertigung wiederholt in sprichwörtliche Formeln. - Günther G r a s s verwendet weniger das volksläufige S. als das S. in abgeänderter F o r m , dem in seinen Romanen Schlüsselstellung zukommt. Karl K r a u s greift in satirischen Aphorismen immer wieder das S. auf, um seine Einseitigkeit bloßzustellen. E r bietet gleichsam Musterbeispiele für S.variierung und schreibt dazu: „Ein Literaturprofessor meinte, daß meine Aphorismen nur die mechanische Umdrehung von Redensarten seien. Das ist ganz zutreffend. Aber er hat den Gedanken nicht erfaßt, der die Mechanik treibt: daß bei der mechanischen Umdrehung der Redensarten mehr herauskommt als bei der mechanischen Wiederholung. Das ist das Geheimnis des Heutzutag." (Beim Wort genommen, hg. v. Heinrich Fischer, 1955, S. 332). So benutzt er das S. als Mittel des Aphorismus in meist abwertender Umkehrung; dabei kann es einen völlig entgegengesetzten Sinn erhalten (,wer andern keine Grube gräbt, fällt selbst hinein'); es wird aber auch in seiner ursprünglichen Form vorgestellt und durch einen Zusatz parodiert. (,Raum ist in der kleinsten Hütte, aber nicht in derselben Stadt für ein glücklich liebend Paar'). S.er

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Sprichwort

sind f ü r ihn Ausgangspunkt kritischer Überprüfung tradierter Wertvorstellungen; ironisch-satirisch stellt er einseitig formulierte Aussagen in Frage; manchmal aber hat der S.gebrauch nur rein spielerischen Charakter. Nicht selten kennzeichnen Dichter und Schriftsteller ihre S.er deutlich als solche. Derartige Einführungsformeln haben signalisierende Funktion: sie ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers direkt auf diesen Satz; zugleich aber erhöhen sie dessen Wirkkraft, indem sie seinen Autoritätsanspruch betonen: einmal ist es das Alter des Spruchgutes, das seine Autorität begründet: ,der alte Spruch, der ist war'; ,die alten Sprüche sagent uns daz'; ,ein Spruch was bi den alten'; zum andern sind es kluge und erfahrene Menschen, die für die Gültigkeit der Erfahrungssätze bürgen sollen: ,die wisen sprechent';

,als man dicke hoeret sprechen in ir Sprichworten

die wisen'; auch soll der allgemeine Bekanntheitsgrad des S.s zugleich seine allgemeine Gültigkeit implizieren: ,die liute hant ein Sprichwort' u. a. Einführungsformeln benutzt auch die Literatur der Gegenwart, wenn auch nicht mehr so häufig. Auf Alter wie Verbindlichkeit des S.s verweisen Formeln wie ,die alte Erkenntnis', ,die alte Regel'; ,der alte Grundsatz'; seine Funktion zeigen Hinweise auf wie ,nach dem Motto'; ,nach der Devise'; .bleibt das Fazit'.

Zum Sprichwortgebrauch des 20. J a h r h u n d e r t s sind viele Bemerkungen aus unterschiedlicher Sicht gemacht worden. Einmal wird festgestellt, daß das S. heute tot sei, zum andern wird besonders intensive Nutzung des S.repertoires betont. Daß beide Äußerungen in gewissem Sinne richtig sind, charakterisiert die entscheidende besondere Funktion der in der Gegenwart benutzten S.-Formel. Dem S. in seiner traditionellen Form kommt heute — hinsichtlich Bedeutung wie Häufigkeit - längst nicht die Geltung früherer Zeiten z u ; in abgewandelter, variierter F o r m aber ist es produktiv, erfaßt es alle Bereiche gesprochener wie geschriebener Sprache, ist es so lebendig wie in seinen Blütezeiten; wobei zu betonen ist, daß es diese erneute Blüte vorwiegend in den M a s s e n m e d i e n erfährt. Die Bedeutung des traditionellen S.s ist gesunken, weil breitere Schichten dem Formelgut älterer Zeiten zunehmend kritischer gegenüberstehen. Bindende Gültigkeit wird mehr und mehr solchen Wendungen abgesprochen, die besonders deutlich Wertvorstellungen bestimmter sozialer Schichten widerspiegeln. Doch soll damit nicht gesagt werden, daß es das ,alte' S.

nicht mehr gibt, nicht mehr geben kann. In allen Medien wird es noch heute, wenn auch nicht sehr häufig - verwendet in bekräftigender, charakterisierender, einleitender wie summierender Funktion; aber auch als alltagssprachlicher Gegenpol in abstrakten Texten und (vor allem in der polit. Rede) als eine Formel, mit der man noch immer glaubt, sog. ,einfachen' Schichten der Bevölkerung, Ansichten, Ideen spielend leicht nahebringen zu können. Aber auch gedankenloser Gebrauch dieser vorgefertigten Sätze ist zu beobachten, ebenso ihre Nutzung, völlig Banalem, nicht Sagenswertem, den Rang der Bedeutsamkeit zu verleihen. Dieses „geistige Kleingeld" hat man auch heute noch „wie Pfennige" zur Hand (Ihering), wenn man sich die Mühe eigenen Formulierens ersparen will. Insgesamt aber tritt uns heute das S. vorwiegend in v a r i i e r t e r Form entgegen. Auf diese Weise wird es der von Technisierung und wirtschaftlichem Denken geprägten modernen Lebensform angepaßt. Der tradierten Formel wird - unter geschickter Nutzung ihres Autoritätsanspruchs — neuer Sinn verliehen. Der neue Spruch, in dem der alte assoziativ mitklingt, wird gezielt eingesetzt, der Aussage Glaubwürdigkeit wie Uberzeugungskraft zu verleihen. Die gewünschte Wirkung aber kann sich nur einstellen, wenn die Autorität der ursprünglichen Formel nicht völlig in Frage gestellt ist. Jede Variierung setzt aber in erster Linie voraus, daß das sprichwörtliche Uberlieferungsgut noch auf breiter Basis bekannt ist. S.variierung an sich ist keineswegs neu. Schon immer wurde die V a r i a t i o n s f ä h i g k e i t d e s S.s in gewissen Grenzen genutzt. Diese scheinbar so doktrinären Formeln zeigten stets eine ausgeprägte Bereitschaft zum Zerreden, ,Zernutzen', wie zur Parodie. Im mündlichen Gebrauch lebte das S. wie das Volkslied von vielfältigen (zumeist nicht aufgezeichneten) Varianten. Auch der mal. Dichter schuf schon eigene Umgestaltungen. So ist bei Freidank swer rehte tuot, derst wol geborn belegt; im Winsbeke heißt es ,swer tugent hat, derst wol gebom' und bei Spervogel: ,swer guote witze hat, derst wol gebom'. Luther nutzt die Möglichkeit der Variierbarkeit, unter ausdrücklichem Hinweis auf diesen Vorgang: „wie das gemeine Sprichwort lautet: Ich leb und weis nicht wie lange,/ Ich sterbe und weis nicht, wanne,/ Ich fahr und

Sprichwort weis doch nicht, wohin, Mich wundert, das ich froelich bin. Oder soll ich das Sprichwort umkehren und sagen: Ich lebe und weis, wie lange,/ Ich sterbe und weis, wanne,/.. . " {Predigten von 1531; Weimarer Ausg. Bd. 34,2, S. 274/275); auch läßt er einem S. Variantenreihen folgen wie: „Not hat keyn gepott, nott hatt keyn schäm, nott hatt keyn schände, not hat keyn ergerniß". (Bd. 10,2, S. 35). Auf die Tatsache, daß durch Variierung einer sprachlichen Grundformel schon immer neue S.er entstanden sind, wurde schon verwiesen; d. h., Varianten dieser Art gewannen in ihrer Mehrheit selbst S.Charakter. Die heutigen Abwandlungen aber sind Augenblicksbildungen von großer Individualität und von gewisser Einmaligkeit, entstammen sie doch rein subjektiven gestalterischen Absichten und übernehmen die Funktionsintentionen ihres namentlich bekannten Urhebers. Auch die dadurch bedingte große Zahl solcher Prägungen trägt mit dazu bei, ihre Aufnahme in das gängige Formelreservoir zu verhindern. Für einige neue Wendungen wäre formelhafte Verfestigung unter gewissen Umständen nicht völlig undenkbar, dann, wenn sie in ganz bestimmter Situation an vielen Stellen simultan .gefunden' würden; weiterhin müßten sie besonders griffig, einprägsam, humorvoll oder satirisch sein. Einer längerfristigen Aufnahme neuer Formeln steht aber auch die Bereitschaft vieler entgegen, lieber selbst spielerisch neue Varianten zu e r finden' als gehörte, gelesene aufzugreifen, wie man an zahlreichen Beispielen in Leserbriefen' ablesen kann. Das S. hat im 20. Jh. einen Funktionswechsel erfahren, es wurde und wird vielfach sogar umfunktioniert'. Eine weitverbreitete Vorliebe für Formelhaftes (Slogans, Parolen) kommt diesem Vorgang dabei sehr entgegen. Die alltägliche Umgangssprache verwendet das abgewandelte S. wenig; rege hingegen wird es in Interviews, Diskussionen, Reden genutzt. Innerhalb der heute so wichtigen Zeitungssprache verteilt es sich ungleich auf die einzelnen Sparten. Sehr häufig finden sich diese so betont individuellen, ja individualistischen Umprägungen in Leitartikeln und anderen subjektiven Kommentaren jeder Art; selten oder gar nicht sind sie in Kurzmeldungen und Referaten mit Nachrichten-Charakter vertreten. Eine besonders hohe Verbreitungsdichte haben sie im Bereich der Sprache der Politik und der

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Wirtschaft. Im komplexen Bereich polit. Aussage wird die neue Formel gezielt zur Verstärkung der argumentierenden Äußerung eingesetzt. Der polit. Journalismus nutzt sie in einleitender, zusammenfassender, charakterisierender, kritisierender Funktion. Hier wird die Umprägung - mehr noch als in anderen Sparten - als Schlagzeile verwendet, die zunächst als Blickfang dienend - die Bereitschaft zum Weiterlesen wecken soll. In der Berichterstattung über das Ausland lebt teilweise die alte Unsitte, mit Hilfe des S.s fremde Völker zu charakterisieren bis heute fort; dazu muß nicht selten ein .passendes' Wort aus dem Formelschatz des betreffenden Landes herhalten. Zu allen Zeiten wurde immer wieder der Versuch unternommen, die M e n t a l i t ä t des eigenen V o l kes wie f r e m d e r V ö l k e r aus dem Spruchgut zu erschließen; wobei es fast ausschließlich negative Merkmale sind, die fremde Wesens- und Sinnesart charakterisieren. Objektiver erscheinen Aussagen, die aus der Sprichwort-Dichte in einzelnen Stichwort-Bereichen ausgeprägte Anliegen wie Interessen herleiten. Eine beliebte Feststellung dieser Art ist, daß der dt. S.schatz ganz besonders viel Spruchgut enthält, das um Essen und Trinken kreist. Statistische Untersuchungen, die diesen Sektor in vergleichende Beziehung zum entsprechenden, etwa im franz. S.reservoire setzen könnten, fehlen. Wissenschaftlich ernstzunehmende Arbeiten zu diesem Gesamtkomplex liegen nicht vor; die zahlreichen Versuche, die Mentalität eines Volkes auf einen allzu einfachen Nenner zu bringen, kritisiert schon Erasmus ( L o b der Torheit).

Das variierte S. hat in der Sprache der Wirtschaft weitgehend dieselbe Funktion wie im polit. Bereich. In der Wirtschaftswerbung werden diese individuellen Modifikationen naturgemäß geschickt eingesetzt, assoziiert man doch mit Bekanntem, Vertrautem, wie es das zugrundeliegende S. noch immer ist, vorwiegend Positives. Hier ist die gängige einprägsame Form besonders wichtig; Klang, Rhythmus, Reim spielen eine große Rolle, und das Zusammenwirken mit einem Bild erhöht die Effektivität wesentlich. - In den humoristischen Sparten von Zeitungen, Zeitschriften, Illustrierten zeigt sich die Anpassungsfähigkeit des S.s ebenfalls prägnant. Hier dominiert der Wellerismus; der Stern bringt z. B. regelmäßig in Dingsbums einen Wellerismus. Seine Nutzung bietet sich in dieser Funktion geradezu an, da er schon immer adäquate Form zur Parodierung einseitiger Sprichwort-

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Sprichwort

licher Aussagen gewesen ist. Diese modernen Wellerismen sind oft ausgeprägt intellektuell; nicht selten tragen sie Züge verkrampfter Erzwungenheit. Nur relativ wenige Beispiele für umgewandeltes S p r u c h g u t sind von wissenschaftl. Seite bisher zusammengestellt worden; exakte, eingehende Analysen dieser nach Funktion, Aussage, Stuktur, Wirkung so vielschichtigen Neu-Formeln fehlen. Einzelaspekte wurden streiflichtartig aufgezeigt, so vor allem von Wolfgang Mieder. Anhand von Material aus eigener Sammeltätigkeit seien hier deshalb wesenhafte Einzelbeobachtungen und -fragen vorgetragen. Die Beispiele stammen aus Reden, Interviews, Fernsehsendungen und sind Plakaten, Tageszeitungen, Zeitschriften (wie Spiegel, Stem, Zeit), Kulturmagazinen (wie Westermanns Monatshefte, Merkur) ebenso wie geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Fachorganen (wie Zeitschrift für deutsche Philologie, Muttersprache-, Bild der Wissenschaft, Kosmos) sowie Publikationen, die spezielle Lesergruppen ansprechen (wie Brigitte, Ratgeber, Der Garten als Jungbom), entnommen. Umgewandelte S.er können grundsätzlich den Baukern, das Bildungsschema, das sprachliche Gerüst aller vorgeprägten Formeln benutzen. Wie die Beobachtung zeigt, werden jedoch einzelne G r u n d m u s t e r bevorzugt; sie scheinen sich in besonderem Maße anzubieten, wohl weil sie aufgrund ihrer Struktur Aussagen von großer Bandbreite aufzunehmen vermögen. Die neugefundenen P r ä gungen sind individuelle gegenstands- wie situationsbezogene Momentaussagen unterschiedlicher Prägnanz wie Wirkkraft. Sie sind in ihrer Mehrheit Schreibtischformulierungen; daß sie aber auch in Diskussionen und Interviews etwa ad hoc gefunden werden, macht ersichtlich, wie ,eingeschliffen' diese Art persönlicher Sprachgestaltung bereits ist. Hauptträger dieses neuen Formelgutes sind Journalisten und Schriftsteller, wenn sich auch grundsätzlich jeder Sprecher aktiv beteiligen kann (.Leserbriefe'). Aufgegriffen wird dieses Spruchgut allenfalls kurzfristig in der Funktion eines Zitats. Als Beispiel für die B e l i e b t h e i t e i n z e l n e r G r u n d f o r m e l n sei das S. ,Ende gut, alles gut' angeführt, das sich als vielfältig beziehbar erweist. ,Ende gut - nichts ist gut' heißt es z. B. auf ein Fußballspiel bezogen; .Abstand gut - alles gut' summiert Aussagen zum Verhalten im Straßenverkehr; ,Knödel gut - alles gut' und ,Ente gut alles gut' leiten (in mehreren Publikationen) Knödel-, bzw. Enten-Rezepte ein; .Rente gut - alles gut' ist das Fazit eines langen Artikels über Möglichkeiten individueller Altersvorsorge; .Haare gut alles gut' ist einem Artikel über Haarkosmetik vorangestellt; .Hände gut - alles gut' ist der Titel eines Fernsehfilmes (Januar 1976), wie auch das bereits obengenannte ,Ente gut - alles gut' zugleich als Titel einer Fernsehquizsendung fungierte. -

Beim Gießen alter S.er in neue Form wird oft und nicht nur im Bereich der Werbung — mit W o r t - und K l a n g s p i e l gearbeitet. Die alte Formel klingt hier nicht nur assoziativ über Satzbau und Rhythmus mit, sie wird durch gezielte Klangnähe zusätzlich beschworen; wobei auch eine bewußt gesuchte volksetymologische Komponente mit einwirkt. Bildungen dieser Art sind oft besonders humorvoll und witzig; sie sind umso besser, je weniger dabei das Original verändert zu werden braucht: manchmal genügt allein geänderte Schreibung eines Wortes oder das Auswechseln eines einzigen Buchstabens. ,Klau schau wem'; ,trau schau dem'; .Gelegenheit macht Liebe'; ,ein Mann ein Cord'; ,Scheich und Scheich gesellt sich gern'; ,Iren sind menschlich'; ,Not lehrt treten'; ,Hunde mit Bällen beißen nicht'; ,wo ein Willi ist, ist auch ein Weg'; .lesen und lesen lassen'; .der kluge Mann schaut vor'; .klein aber Mainz'; hierher gehören auch die in anderen Zusammenhang gestellten .Ente gut . . .', .Rente gut . . .', .Hände gut . . . ' . - Daß die Sprache der Politik und Wirtschaft das abgewandelte S. intensiv nutzt, ist bekannt; daß aber auch w i s s e n s c h a f t l i c h e A r t i k e l diese Form der Aussage — wenn auch in geringerem Maße — nutzen, bleibt festzustellen. Dabei handelt es sich nicht allein um Abhandlungen, die für eine nicht fachspezifisch vorgebildete Öffentlichkeit bestimmt sind (in wiss. Sparten der Zeit etwa), vielmehr auch um Aufsätze in Fachorganen. .Intelligenz schützt vor dieser „Torheit" nicht' wird in einem Artikel in Bild der Wissenschaft festgestellt; bekräftigt wird damit die Aussage, daß oft auch sehr intelligente Menschen nach der Einnahme wirkungsloser Scheinpräparate (Placebos) Wirkungen verspüren, wenn ihnen der Charakter des .Medikaments' unbekannt ist. Dieses S. nutzt auch ein hochschulpolitisch engagierter Wissenschaftler in einer Studie zum Thema Hochschule und Beruf: .Zwar schützt Intelligenz vor Torheit nicht, doch darin steckt eben die Gefahr'. ,Lyrik schützt vor Dummheit nicht' formuliert ein Autor in der Zeitschrift für deutsche Philologie. ,Ein Orkan kommt selten allein' ist die formelhaft vereinfachte Grundfeststellung eines wiss. Berichtes über Orkane. Ein Aufsatz, der sich zum Thema Auto als Tatwaffe kritisch äußert, stellt die Regel auf: »Zeige mir, wie du fährst, und ich sage dir, wer du bist'. Im Beitrag Anatomie des Detektivromans in: Weltliteratur und Volksliteratur (1972) wird eine umgewandelte Formel zur ,Regel' erhoben: „Wenn die Regel zutrifft: Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist, könnte eine Befragung des Detektivromans . . . " (S. 102). - In diesem Bereich fällt eine weithin festzustellende Erscheinung in besonderem Maße auf: eine enge s p r a c h l i c h e I n t e g r i e r u n g des abgewandelten S.s in den Satz, die zu einer gewissen Lockerung oder Auflösung der Formelhaftigkeit führt; die syntaktische Einheit des neuformulierten Spruches wird somit gestört. Auch die - im Vergleich mit dem

Sprichwort alten S. - sehr viel stärkere K o n t e x t b i n d u n g wird immer wieder offenbar; die oben gegebenen Hinweise zeigen auf, daß einer neuen Formel oft eingehende Erklärungen angefügt werden müssen, wenn der Kontextzusammenhang nicht mitgeliefert wird. Ein besonders markantes Beispiel für syntaktische Integrierung wie Kontextverhaftung liefert eine Formulierung Ralf Dahrendorfs (Zeit vom 3.1. 75). Im Anschluß an die Feststellung, daß die Liberale Partei Schwedens 40% aller von ihr zu vergebenden Stellen Frauen vorbehält, schreibt Dahrendorf: „So kommen wir nicht nur vom Regen des ,männlichen Chauvinismus' in die Traufe der ,Women's Lib', sondern programmieren vor allem Widersprüche". - Beispiele für festes Einfügen der Formel in den Kontext kennt selbstverständlich auch die Sprache der polit. Berichterstattung: ,vor den zweifelhaften Erfolg des Ford-Programms hat die US-Verfassung auch noch den Kongreß gesetzt'. Den Eindruck größerer sprachlicher Geschlossenheit vermitteln solche Variierungen dann, wenn die Einschübe oder Erweiterungen - wie beim Sagwort - nur die Person des sich Äußernden nennen: ,Wenn einer eine Reise bucht, dann soll er, so wollen es die Veranstalter, was erleben'. Auf die Funktion der neugewonnenen Formel als Schlagzeile wurde schon verwiesen; aufzuzeigen bleibt noch, daß sie sich auch zum T i t e l verfestigen kann, z. B. von Fernsehbeiträgen: Was Häuschen nicht lernt, lernt Hans umso schneller oder von Büchern: Die Zeitung bringt es an den Tag (von Egon Larsen); Der Affe fällt nicht weit vom Stamm (von Roy Lewis) u. a. Wird in einer Schlagzeile die Abwandlung einer reduzierten Grundformel gegeben, bietet der folgende Text nicht selten eine erweiterte Formel oder deren Vollform: Wer einmal bremst heißt es z. B. in einer Überschrift; im Text erscheint dann: ,Wer einmal bremst, dem glaubt man nicht'. S.er in abgewandelter Form können auch zu Anspielungsformeln reduziert werden, die dann die Funktion sprichwörtlicher Redensarten erfüllen; so ist in den wirtschaftspolit. Diskussionen die bekannte Schwalbe, die noch keinen Sommer macht, als ,Zins-Schwalbe' intensiv bemüht worden. - Viele neugeprägte Formulierungen sind Erzeugnisse mehr oder weniger langen Nachdenkens und Suchens. Besonders leicht stellen sich Varianten ein, die sich inhaltlich wie sprachlich vom Original kaum entfernen wie: ,sich regen bringt auch Segen'; Wendungen dieser Art dienen nicht selten der Verschleierung augenfälliger Gedankenarmut. Einige Abwandlungen lassen sich im Augenblick ihrer Entstehung fassen, dann, wenn in Diskussionen ad hoc formuliert wird. In Werner Höfers bekannter Frühschoppensendung sind immer wieder Formulierungen zu hören wie: ,Der Gerling in der Hand ist immer noch besser als der Sachverwalter am Dach' (wobei das Klangspiel Gerling/Sperling sicher auslösend wirkte), oder: ,man muß die Kriege feiern wie die Feste fallen'. Wendungen wie die eben-

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genannten führen besonders augenfällig vor, wie ,normal' dieser schöpferische Vorgang bereits ist: er ist für Gestalter wie Hörer/Leser in jedem Augenblick verfügbar. - Beispiel für die oben erwähnte - selten genutzte - Möglichkeit, eine Neuprägung wie ein Zitat aufzugreifen, ist ein Satz wie „'Das Nato-Hauptquartier denkt und die jeweilige Hauptstadt lenkt', klagte der Vorsitzende des Nato-Militärausschusses". Hier wird dankbar eine Formel aufgenommen, die das Resümee des eigenen Berichts autoritativ unterstreicht. Das abgewandelte S. bringt auch hie und da R a t schläge in Regel-Form, berührt sich hier also besonders eng mit tradierter sprichwörtlicher Aussage. Ein voller Bauch chauffiert nicht gern steht über einem Artikel, der Ratschläge für die Ferienfahrt mit dem Auto erteilt; ,wer plant gewinnt', formuliert eine Broschüre des Bundesverkehrsministeriums zum Ferienbeginn (1973); ,hilf dir selbst, so hilft dir Bonn' rät eine Beschreibung der vielfältigen Möglichkeiten, in den Genuß staatlicher Zuschüsse und Prämien zu gelangen; .frisch gewagt ist halb verloren' heißt der einfache Nenner, auf den eingehende Warnungen vor ziel- wie planlosem Hamsterkauf von sog. Sonderangeboten gebracht werden; ,wer zuerst kommt, spart am meisten' und ,man muß die Preise feiern, wie die Preise fallen' stellen Regeln für umsichtige Nutzung der Schlußverkäufe auf; .jung gebaut hat selten gereut' ist der formelhaft verfestigte Rat, den eine Bausparkasse Bauwilligen vermittelt. - Zumeist aber sind es vereinfachte Summierungen der Kernaussage, die uns das abgewandelte Spruchgut liefert, wobei Zustimmung wie Kritik und Ironie mit eingefangen sind. .Andere Sender, gleiche Sitten' unterstreicht eine ausführlich begründete Feststellung, daß Journalisten in Funk und Fernsehen überall Schleichwerbung betreiben; .Alter schützt vor Pleite nicht' heißt das Ergebnis einer statistischen Aufstellung, die der Frage der Abhängigkeit eines Firmenzusammenbruchs vom Alter des Betriebes gilt. .Gasgeben ist seliger denn Gasnehmen' summiert Feststellungen über typisches Fahrverhalten einer Mehrheit aller Autofahrer. Formulierungen dieser Art machen deutlich, daß diese Neubildungen charakteristische sprachliche Äußerungen unserer schnellebigen Zeit sind. Wer sich formelhaft kurz und prägnant auszudrücken vermag und das gilt besonders für den meist unter Zeitdruck arbeitenden Journalisten - hat die größere Chance, gelesen zu werden; daß dabei Einseitigkeiten wie Vergröberungen unterlaufen, wird in Kauf genommen. Ist im allgemeinen Formelhaftigkeit Ausdruck unserer Gegenwart, bezieht dies auch die sprichwörtliche Formel mit ein. Auch das umgewandelte Sprichwort ist gesunkenes Kulturgut: es

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Sprichwort

ist ein vereinfachter wie vereinfachender Aphorismus. § 6. a) Die zu Sprüchen geprägte Volksund Lebensweisheit ist uralter Menschheitsbesitz. Auch bei den Germanen war volkstümliche G n o m i k rege und wurde früh in eine metrische Kunstform gebracht. Die N o r d g e r m a n e n und Angelsachsen entwikkelten diese Kunstsprüche zu einer förmlichen Dichtungsgattung mit Stabreimstrophen. Nicht so günstig lagen die Bedingungen bei den S ü d g e r m a n e n , weil bei ihnen die christliche Mission, aller heidnischen Poesie feindlich, der Verbreitung des alten Spruchgutes entgegenwirkte. So sind aus der frühahd. Zeit nur wenige, literarisch überlieferte S.er auf uns gekommen wie z. B. das be-

kannte ort widar orte im Hildebrandslied. Erst

zu Beginn des 11. Jh.s zeichnet Notker weitere 12 ahd. S.er als Übungsbeispiele für seine St. Galler Klosterschule auf. b) Gleichzeitig setzen auch die lat. S p r i c h w o r t s a m m l u n g e n ein, die dt. S.er in lat. Hexameterform gießen. Die älteste und um-

fassendste ist die Fecunda

ratis (,das voll-

beladene Schiff') Egberts von Lüttich, gleichfalls zum Lehr- und Lesebuch für den Schulunterricht bestimmt. Ausgang des 14. Jh.s stoßen wir auf solche lat. Sammlungen, kleinere und größere, die für Geschichte, Erforschung wie Uberlieferung der dt. S.er von Belang sind. Sie dienen den gleichen lehrhafterzieherischen Schulzwecken wie vordem die unter Catos Namen laufenden Disticba de moribus oder Avians Fabelbuch: durch sie sollen die Schüler gutes Latein und zugleich Tugend und Lebensweisheit lernen. Sie schöpfen aus der antiken Überlieferung, aus der Bibel und Patristik und vor allem aus dem Volksmund: ohne sie wäre die Kenntnis unseres altheimischen S.schatzes höchst lückenhaft. Zudem entstanden viele dt. S.er durch Übersetzung lat.. Spruchguts aus alter und neuer Zeit wie:

aurora habet aurum in ore; dum Spiro spero; uniti muniti; per angusta ad augusta (.durch die Enge zum Gepränge'); per crucem

ad lu-

cem; qualis rex talis grex; nemo sapiens nisi

patiens u. a. Es handelt sich hier um sog. Lehnsprichwörter; ihre Zahl wurde später durch Luthers Bibelübersetzung wie die Tätigkeit der Lateinschulen der Reformationszeit vergrößert. So kann man für unser S.reservoir in einer Vielzahl von Fällen Parallelen in der

griech. und lat. Lit. wie der Bibel finden, aber es ist schwer zu bestimmen, ob es sich im einzelnen um Rezeption oder Polygenese handelt. (Für das S. in gesamteuropäischer Sicht gilt dieser Satz ebenso uneingeschränkt.) Aber auch franz. S.er gelangten, in lat. Memorialverse umgesetzt, aus franz. Klosterschulen in deutsche; in späteren Zeiten wird dann besonders oft franz. Spruchgut lehnübersetzt. Lehnsprichwörter werden besondes häufig und gern variiert; vielleicht deshalb, weil nicht selten schon bei ihrer Ubersetzung ein Bildwechsel vorgenommen wurde. So entstand z. B. aus non omnes qui

habent citharam sunt citharoedi: ,es sind nicht

alle Jäger, die das Horn blasen'. Im weiteren Verlauf knüpften zahlreiche Varianten daran an, die den Jäger' gegen eine ganze Reihe anderer Berufs- wie Standesvertreter austauschen. - Auch die mlat. Dichtung wie der Ruodlieb und Isengrimus ist reich an gelehrtem und volkstümlichem Spruchgut. c) In der m i t t e l a l t e r l i c h e n dt. D i c h t u n g pflegen das S. allen voran die Didaktiker: die älteren Spruchdichter wie Spervogel, dann Reinmar und Walther, zumal die Verfasser der größeren Lehrdichtungen wie Heinrich von Melk, Thomasin von Zirclaere, der Winsbeke, Freidank, Hugo von Trimberg, der Teichner u. a. bis herunter zu Ulrich Boner. In den für die höfische Ritterschaft bestimmten rein epischen und lyrischen Dichtungen ist das S. auch vertreten, wenn auch in viel geringerem Umfang. In der volkstümlichen satirisch-didaktischen Literatur der frühnhd. Epoche schwillt der S.reichtum dann zu einem breiten Strom an: bei Seb. Brant, Geiler von Kaisersberg, Burkard Waldis, Luther, Hans Sachs, Thomas Murner, Johann Fischart; auch in der Schwank- und Chronikliteratur häufen sich die S.er zu Tausenden. Seit dem Ausgang des 14. Jh.s werden auch die dt. S p r i c h w o r t s a m m l u n g e n häufiger. Die Sammler schöpfen ihr Material aus dem Volksmund und der Literatur, wobei die jüngeren die älteren bedenkenlos ausschreiben. Gern wird der dt. Fassung die lat. beigesetzt, unbekümmert, ob diese oder jene die ursprüngliche ist. Auch sie dienen dem Schulunterricht: zunächst die Schwabacher Sammlung (mit 162 S.ern), die Straßburger (43), die Grazer (7); dann im 15. Jh. die Prager (191), Klagenfurter (66), Münchener (42), die Ebs-

Sprichwort torfer Sprüche bis zu den bedeutenderen wie

umfangreicheren Proverbia

communia sive

seriosa (803) vom Ende des 15. Jh.s mit vielen, auf dt. Boden sonst nicht überlieferten Sprüchen. Kein Zufall, daß diese Sammlung in den Niederlanden entstand, denn dort erfreute sich das S. seit alters ganz besonderer Pflege. Durch den Buchdruck der Allgemeinheit früh zugänglich gemacht, bildete die Sammlung eine ergiebige Quelle für die anschließende Entwicklung der S.-Literatur. d) Die lat. Sprüche der vorhumanistischen Sammlungen sind im Gewand des scholastischen Schul- und Kirchenlateins Ausdruck einer mal. Geisteshaltung. Mit dem Sieg des H u m a n i s m u s wird das anders: Die humanistisch gebildeten Sammler, im Bestreben auch die lat. S.er ihren sprachdidaktischen Zwecken dienstbar zu machen, kleiden ihre Sprüche in ein klassisch-elegantes, geradezu prunkhaftes Latein. Humanisten von Rang üben an den S.ern ihren poetischen und Prosaprunkstil. Die berühmtesten Sammlungen dieser Art sind die Adagiorum collectanea des E r a s m u s v o n R o t t e r d a m (Paris 1500) und die Proverbia Germanica (1508) des Tübinger Dichterhumanisten Heinrich B e b e l . Jene enthält rund 800 (die Aufl. von 1515 bereits 3400) aus griech. und lat. Schriftstellern zusammengelesene S.er mit Interpretationen. Diese Sammlung faßt den S.begriff sehr weit, enthält eine ganze Reihe Verkürzungsformeln aus Fabel und Sage und gibt einen Einblick in die Funktionsebene des Spruchgutes der Zeit. Das Buch erlebte mit über fünfzig Auflagen (davon allein 30 zu Lebzeiten seines Autors) einen seltenen Erfolg, den es der Klassizität in Gehalt und Gestalt zu danken hatte. - Anders die Bebeische Schrift, die inhaltlich die Linie der Proverbia communia fortsetzt z. T. in direkten Entlehnungen, und viele Sprüche unmittelbar der Volkssprache entnimmt; eine wichtige Quelle für das volksläufige S. jener Ubergangsepoche. Durch Herkunft und Umgang mit Sprech- und Denkart des .gemeinen Volks' vertraut, möchte der Humanist den reichen Schatz volkhafter Spruchweisheit heben. So trägt er 600 S.er zusammen, von einer doppelten Absicht geleitet: einmal will er zeigen, daß auch solche volkstümlichen Spruchreden recht gut in klassisches Latein umgesetzt werden können; zum andern möchte er auch der gebildeten Oberschicht das im Volksmund

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lebendige Spruchgut, den Träger praktischer Lebenserfahrung und sinniger Weltweisheit bekannt und schmackhaft machen. Doch scheint Bebels Schrift, wenn auch von 15081516 mehrfach aufgelegt, längst nicht die gleiche Beachtung gefunden zu haben wie das Buch des Erasmus. Für das volkhafter Sprache und Anschauung verhaftete S. wollte das kunstreiche gezierte Humanistenlatein wenig taugen: den breiten, das S. schätzenden Volksschichten hatte Bebels Latein nichts zu sagen, und das Interesse gelehrter Kreise war eine zu schmale Basis, als daß sie einen starken und dauerhaften Erfolg hätte tragen können. Deshalb legt zu gleicher Zeit ein anderer Humanist, der Westfale Punnicius, Lehrer an der Schola Paulina in Münster, seiner Sammlung westfälischer S.er (Köln 1513) die nd. Fassung zugrunde, die er dann jeweils in lat. Hexameter übersetzt. Er bringt 1362 S.er zusammen, davon etwa die Hälfte aus den Pro-

verbia communia.

e) Daß die nach Wesen und Wirkung volkstümliche Literatur des R e f o r m a t i o n s j a h r h u n d e r t s das einprägsame, bequeme Mittel sprichwörtlicher Rede ausgiebig zu nutzen versteht, liegt auf der Hand. Das S. soll die Moral heben und der Reformation dienen. So sind denn die Verfasser der damaligen Sammlungen fast alle protestant. Geistliche. Der Reformator selbst, wohl vertraut mit Sprech- und Denkweise des .gemeinen Mannes', wertet das S. so hoch wie die Fabel und würzt seine für großen Leserkreis bestimmten Schriften gehörig mit diesem volkstümlichen Ausdrucksmittel. Das Gleiche tut auch sein schärfster literar. Gegner, Thomas M u r n e r , der mit Vorliebe ein S. zum Kapitelthema seiner großen Satiren macht. Und all die andern, die in die Breite wirken wollen, von Hans Sachs bis Fischart, folgen diesem Beispiel. L u t h e r , der die ersten S.-Sammlungen seines Landsmannes Joh. A g r i c o l a aus Eisleben begrüßt (Teil I 1529, II 1534, III 1548; zahlreiche Neudrucke bis 1592), fordert in der Vorrede zu seiner Fabelsammlung zu weiterer Sammeltätigkeit auf und legt sich für seinen eigenen Bedarf eine Sammlung von fast einem halben Tausend geläufiger Sprüche an

{Luthers SprichwörterSammlung,

hg. v. Ernst

Thiele, 1900). Auch andere gehen mit regem Eifer ans Werk, am erfolgreichsten Sebastian F r a n c k aus Donauwörth, der in zwei Ausgaben (Frankfurt: Egenolph 1541) rund 7000

146

Sprichwort

S.er zusammenbringt, nachdem er schon 1532 eine namenlose Sammlung von 750 Sprüchen veröffentlicht hatte. Alle ihm erreichbaren literar. Quellen hat Franck wahllos ausgeschöpft. Sein geschäftstüchtiger Verleger Egenolph, druckte 1548 eine geschickte Auswahl aus Franck und Agricola (1/3 aus Agricola, 2/3 aus Franck); diese Kompilation wurde lange für ein authentisches Werk Francks gehalten und bis 1691 mehrfach aufgelegt. Gegen Franck fallen die übrigen Sammlungen des 16. Jh.s von Gärtner, Seidel, Neander, Büchler u. a. weniger ins Gewicht. Die letzte, die Proverbiorum copia (in drei Teilen 1601-1603), stammt von dem thüringischen Pfarrer Eucharius Eyering ( t 1597): eine umfangreiche, alphabetisch geordnete Sammlung dt. Sprüche alter und junger Herkunft, jeweils mit lat. Fassung und langatmiger Erklärung in dt. Knittelversen. f) Großes Interesse am S. hat auch das in seiner Gesamthaltung nicht volkstümliche Schrifttum des 17. J a h r h u n d e r t s ; zu Stoffanhäufungen jeder Art tendierend, stellt es die meisten und größten Sammlungen zusammen. Sprachgesellschaften und Grammatiker greifen es auf, fördern seine Verbreitung. Prediger wie Abraham a Santa Clara tragen viel dazu bei, das alte Spruchgut lebendig zu halten. Die Reihe der Massensammlungen eröffnet die des Braunschweiger Pfarrers Friedrich P e t e r s (in drei Teilen, Hamburg 1604-1605) mit über 21.600 Sprüchen: wohl das meiste, was damals an volkstümlichem Spruchgut umlief oder in literar. Quellen erreichbar war, ist hier unter Ausschluß der sprichwörtlichen Redensarten vereinigt. Starke Beachtung scheint das reichhaltige Werk nicht gefunden zu haben, es erlebte keine Neuauflage. Noch umfangreicher ist Cristoph L e h m a n n s Flori-

legium Politicum oder politischer

Blumen-

garten, Teil I, Frankfurt 1630, dann wiederholt nachgedruckt und mit Zusätzen aus Lehmanns Nachlaß erneuert als Florilegium Politicum auctum (Frankfurt 1640) zuletzt vierbändig 1662 erneuert. Neben reinen S.ern stehen Sinnsprüche, oft mit lat. Fassungen gemischt; der letzte Teil enthält überhaupt nur Auszüge aus den antiken Schriftstellern. Lehmanns ,Blumengarten' mit seinen annähernd 23.000 Nummern die reichhaltigste S.-Sammlung bis auf Wander, war allen späteren Sammlern und Forschern, auch Lessing, eine ergiebige, gern benutzte Fundgrube. Der geistvolle Baltasar Schuppius setzte Lehmanns

Florilegium „allernächst nach der Bibel". An die Bedeutung des Lehmannschen Monumentalwerkes reichen die übrigen Sammlungen

des 17. Jh.s, das Florilegium Ethico-Politicum des Janus Gruterus (Frankfurt 1610-1612), das in über 14.000 Nummern das abendländische Spruchgut nach Humanistenart sammelt, und Georg Henischs Teutsche Sprach und Weisheit (Augsburg 1616), ein fleißig gearbeitetes Wörterbuch, das bei den Stichwörtern jeweils auch S.er verzeichnet, nicht entfernt heran. Der schwäbische Schulmeister J . G . Seybold fertigte zwei S.-Sammlungen, eine kleinere für Unterrichtszwecke (Nürnberg 1665) und eine größere für die Allgemeinheit (Nürnberg 1677) bestimmt; beide enthalten alphabetisch geordnete lat. Sprüche, die durch dt. Fassungen erklärt werden. g) In der A u f k l ä r u n g waren die führenden Köpfe, im Bewußtsein, daß Menschen und Dinge der Welt nicht in gedanken- und formstarren Sätze faßbar sind, dem S. im allgemeinen weniger geneigt und zugänglich. Doch gibt es Dichter und Kritiker von Rang wie Lessing und Herder, die über das S. freundlicher urteilen. L es s i n g reizt die dem S. eigene Verstandesschärfe, der Mutterwitz so, daß er selbst eine Sammlung altdt. Sprüche vorbereitet. H e r d e r betont gegen die Verächter des S.s mit Nachdruck dessen volkserzieherische Kraft, die der Masse der Nation zugute komme. Dieser Hinweis auf den Wert des S.s zur Förderung von Tugend und Moral leuchtete namentlich den Popularaufklärern ein. Sie schätzten ja in der Dichtung jene Gattungen am höchsten, die den Leser moralisch bessern und belehren. Bei solcher Blickrichtung mußten sie auch im S. ein wirksames Mittel sehen, Vernunft und Tugend im Volke zu heben. Die P r e d i g t macht vom S. besonders reichen Gebrauch. Die Gattung der Sprichwörterpredigt (ein S. ist Gegenstand der Auslegung), schon im SpätMA. bezeugt, von V. Herberger ( f 1627) wieder aufgegriffen, erfährt jetzt ihre höchste Blüte; ihre Wirksamkeit reicht bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jh.s. Die Prediger fungieren als Bewahrer volkstümlichen Spruchgutes wie als Vermittler literar. Erzählgutes, das auf diese Weise breite Schichten zu erreichen vermag. So erklärt sich, daß auch das 18. J h . die lange Reihe von S.-Sammlungen fortsetzt. Wenn die Sammler den Sprüchen gern moralische Anmerkungen auf

Sprichwort den Weg gaben, wußten sie die Tradition Zwecken der Volksbildung unterzuordnen. Man denkt dabei auch an die Lehrer, die durch Unterricht und Umgang breiten Schichten die alte Weisheit vermitteln sollen. - Von größeren Sammlungen ist bemerkenswert die des Würzburger Professors Andreas Schellhorn (Nürnberg 1797), der sein Werk „dem biedern Bürger und Landmann" zur moralischen Einkehr und Erbauung widmet. Den Ubergang zum 19. Jh. bildet Jos. Michael Sailers Die Weisheit auf der Gasse (Augsburg 1810). Sailer, Theologieprofessor und Regensburger Bischof, betrachtet das S. nach ethisch-moralischen und philosophischreligiösen Gesichtspunkten. Er sammelt nicht nur, er ordnet und erklärt auch, will also eine Art S.künde geben. Halten auch seine Ergebnisse wissenschaftlicher Prüfung nicht stand, so hat er doch der späteren Forschung des 19. Jh.s vorgearbeitet, die dem S. ein wachsendes Interesse zuwandte. Im 19. J a h r h u n d e r t sind als Sprichwortforscher M. Kirchhofer, J. Eiselein, W. Körte, K. Simrock, A. Wächter u. a., vor allem Karl Friedr. Wilh. W a n d e r zu nennen, dessen fünfbändiges Deutsches Sprichwortlexikon (1867-1880) über 250.000 S.er enthält; ein Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (in zwei Bänden) wurde hingegen erst 1973 von Lutz Röhrich vorgelegt. Um die Jh.wende hatte Franz Frh. von L i p p e r h e i d e begonnen, alles Spruchgut zu sammeln, das „einen selbständigen Gedanken trägt, der, möglichst knapp und sinnvoll, gebunden oder ungebunden, allgemeine Wahrheiten irgendwelcher Art aus den verschiedensten Gebieten menschlicher Lebensweisheit verkündet und so in anregender Weise - mit Ernst, Gemütstiefe, humorvoll oder satirisch - belehrt oder warnt, tröstet oder ermahnt" (S. V.). Er nahm neben Bekanntem auch Unbekanntes auf, wenn es ihm „ethisch-sinnvoll" und in Fassung und Form „originell" erschien. Diese ca. 30.000 Nummern umfassende Sammlung Das Spruchwörterbucb wurde dann in Lieferungen zwischen 1905 und 1907 vorgelegt. h) Das 20. J a h r h u n d e r t hat der S.forschung neue Impulse gegeben und die Sammeltätigkeit nicht abreißen lassen. An erster Stelle zu nennen ist die unentbehrliche Sprichwörterbibliographie O. E. Molls (1958), die in mehr als 9000 Nummern die Arbeiten über das S. aus allen Kontinenten und Sprachen

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zusammenstellt. Daneben stehen einige wenige Editionen älterer Sammlungen, wie Auswahlausgaben aus solchen. Auch neue Sammlungen wurden veranstaltet, enger wie weiter gefaßte, wissenschaftlich erarbeitete, wie wahllos und ohne Quellenangaben zusammengestellte. Sander L. Gilman legte Johannes Agrícolas Die Sprichwörtersammlungen vor (6 Bde 1971). Theresia Payr übersetzte die Adagia Selecta des Erasmus von Rotterdam (mit Einl. und Anm. 1972, in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften. Ausg. in acht Bänden. Lat. u. Deutsch. Hg. von Werner Welzig). Dem lat. S. des MA.s gilt die Arbeit von Jakob W e r n e r , Lateinische Sprichwörter u. Sinnsprüche d. MA.s aus Handschriften gesammelt (2. Überarb. Aufl. hg. v. Peter Flury, 1966) und die Sammlung Hans W a l t h e r s , Proverbia sententiaeque Latinitatis medii aevi. (4 Tie, 1963-1966). Dem Spruchgut der Dichter wandte sich Hans Eckart, Führende Worte. Lebensweisheit und Weltanschauung deutscher Dichter und Denker. (6. verb. u. bis in die Gegenw. fortgef. Aufl. bearb. von Alfred Grünow, 1961) zu. Eine Auswahl aus Johann Michael Sailer, Die Weisheit auf der Gasse (1810) bietet Dieter Narr (1959; Insel-Bücherei 685), eine Auswahl aus dem 1836 in Nürnberg erschienenen Bilderbuch für die Jugend die Sammlung Das Glück ist kugelrund. E. Auswahl erprobter Denk- und Weisheitssprüche zur Veredlung des Geistes und Herzen (1972). Vergleichende S.-Ausgaben sind: Deutsche Sprichwörter und Redensarten mit ihren engl, und franz. Gegenstücken, ges. von Adi Andersen (1968) und Proverbs — Proverbes — Sprichwörter — Proverbi — Proverbios — Poslovicy. A comparative book of English, French, German, Italian, Spanish and Russian proverbs with a Latin appendix von Jerzy Gluski (Amsterdam, New York 1971). Eng faßt Julius Krämer seine Sammlung Sprichwort, Wahrwort. Ausgew. Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten der Pfälzer im Ausland (1961); eine Sammlung bayr. Spruchgutes legte Alois Johannes Lippl (Ein Sprichwort im Mund wiegt hundert Pfund. Weisheit des gemeinen Mannes in Sprüchen und Reimen, 1958) vor. Sprichwörter von engumgrenzter Thematik sammelte Hubert Ries, Leben und Tod. Ärztliche Sprichwörter (1964). Breit angelegt ist die Sammlung Sprichwörter der Völker (1963) von Karl Rauch (ca. 4000 S.er ohne Quellenangabe). 1963 erschien Kernige Volksweisheiten von Josef Buchinger und 1970 Das große Buch der Sprichwörter von Hans-Josef M e i e r - P f a l l e r . Sodann kamen einige Zitatensammlungen heraus, die auch Sprichwörter enthalten, wie Das goldene Buch der Zitate, ausgew. von Karl-Heinz U l l rich (1968) und Zitate und Sprichwörter von

Sprichwort

148

A-2. Mit 15.000 Angaben, von Gerhard H e l l w i g (1974). Die Intention, tradiertes Spruchgut breiten Schichten neu zu vermitteln, ist in einem Grundgedanken greifbar: Der Benutzer soll nicht nur in die Lage versetzt werden, den Geist früherer Zeiten zu erfassen; er soll dabei vielmehr erkennen und erfahren, daß „manche Ideen und Gedanken der Vergangenheit bis in unsere Zeit fortwirken, daß viele Sätze und Aussprüche auch für uns noch Gültigkeit haben" (Zitate und S.er von A-2., S. 5). Etwa seit 1960 werden ältere S.Sammlungen und -ausgaben sowie grundlegende Darstellungen fotomechanisch nachgedruckt: 1962 E. B e z z e n -

§ 8. Mit Friedrich Seiler, Deutsche

Sprich-

wörterkunde (1922) beginnt in Deutschland die eigentliche w i s s e n s c h a f t l i c h e B e h a n d l u n g des S.s. Mit seiner 1924 erschie-

nenen Arbeit Das deutsche

Lehnsprichwort

trägt er dem internationalen Charakter des S.s Rechnung. Die Problematik des gemeinmittelalterlichen S.s zeigte Samuel Singer in seinem dreibändigen Werk über Sprichwörter des Mittelalters (1944-47) auf. Archer T a y l o r und seine Schule (University of California) begründen die internationale Orientierung der S.forschung, die sich der vergleichenden Erbergers Fridankes Bescheidenheit (von 1872); forschung des S.s, der sprichwörtlichen Re1964 W a n d e r s Sprichwortlexikon und A. O t t o s densart, der sprichwörtlichen Vergleiche und Die Sprichwörter der Römer (von 1890) [hierzu Formeln und des Wellerismus widmet. Quelerschienen 1968 Nachträge, hg. v. Reinhard lenkunde, geographische Verbreitung, FunkHäussler]; 1965 Franz Frh. von L i p p e r h e i d e s Spruchwörterbuch-, 1967 Friedrich Seilers Deut- tion, psychologische Deutung des S.s sind sche Sprichwörterkunde (1922); 1970 Johannes Schwerpunkte der internationalen Forschung, Agricolas Syhenhundert und f ü n f f t z i g teutscher an der neben Philologen und Volkskundlern Sprichwörter, verneuert und gebessert (nach der u. a. auch Anthropologen, Historiker, GeoAusg. Hagenau 1534); 1972 I. v. Z i n g e r l e s Die graphen, Psychologen beteiligt sind. Seit 1965 deutschen Sprichwörter im Mittelalter (von 1864) gibt es mit Proverbium (Bulletin d'informaund Sebastian Francks Sprichwörter, schöne, tions sur les recherches paremiologiques. Helweise Klügreden (von 1548); 1973 Ida von sinki) eine ausschließlich der SprichwortDüringsfelds

und

Otto von

Reinsberg-

Düringsfelds Sprichwörter der german. und roman. Sprachen (von 1872/75); 1974 W. Körtes Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen (von 1837).

§ 7. Das Thema S p r i c h w o r t und bild e n d e K u n s t gehört für Mathilde Hain

(Sprichwort und Rätset) mit Recht „zu den

noch unerledigten Problemen des Sprichwortforschers". Auch von kunsthistorischer Seite wurde das Thema bisher nicht erarbeitet. Es sei darauf verwiesen, daß seit dem Ende des 15. Jh.s in der Malerei wie Grafik der Niederlande das S.-Thema eine bedeutsame Rolle spielte: man denke dabei besonders an Pieter Brueghels d. Ä., großes Sprichwörtergemälde von 1559. Das S., das oft abstrakte Gedanken in sprachlichen Bildern ausdrückt, bietet sich zu bildhafter Gestaltung in besonderer Weise an. Auf unsere Gegenwart bezogen, müßte das Thema ,abgewandeltes S. in der Gebrauchsgrafik' heißen. In der Werbung, in humoristischen wie satirischen Sparten der Presse, aber auch in den Bereichen Wirtschaft und Politik wird die Verbindung von Bild und (meist abgewandeltem) Spruchgut gezielt und bewußt eingesetzt; ein lohnendes wie aktuelles Thema.

kunde gewidmete Zeitschrift (die von der Gesellschaft für Finnnische Literatur verschickt wird). Die ,Paroemiological Society', 1959 bei den Vereinten Nationen gegründet, pflegt das S. als Mittel der Völkerverständigung; sie besteht aus Mitgliedern und Mitarbeitern des UNO-Sekretariats und der UNO-Delegationen. Im Rahmen der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit sucht die S.forschung vorrangig nach M o d e l l e n e i n h e i t l i c h e r S y s t e m a t i s i e r u n g , die die vergleichende Forschung überhaupt erst ermöglicht. Matti Kuusi (Proverbium 5/1966) nennt drei Aspekte, unter denen sich S.er zu Gruppen zusammenfassen lassen: nach ihrer Idee, ihrer Struktur, ihrem Baukern. Für ideengleiche S.er schlägt er die Bezeichnung .synonyme S.er' vor, für nach dem gleichen Schema gebildete ,strukturgleiche S.er'; baukerngleiche S.er sind solche, die sich um gleiche, bzw. sinngleiche Bilder oder Wortfiguren gruppieren. Haben S.er gleiche Idee und gleichen Baukern, handelt es sich um Varianten desselben S.s. Sind Idee und innere Architektur gleich, der Baukern aber verschieden, handelt es sich um strukturgleiche Synonym-S.er; sind, bei verschiedener Idee, Struktur und Baukern gleich, liegen ,kongru-

Sprichwort ente S.er' vor. Jedes - einfache - Einzelsprichwort ist aus drei Elementen: Kern-, Füll- und Formelement zusammengesetzt; bei zusammengesetzten S.ern kommen noch Fortsetzungs- oder Parallelelemente hinzu. In internationaler Zusammenarbeit sollen E i n z e l a s p e k t e , z. B. Fragen nach der Funktion, umfassend erarbeitet werden; angeregt wurde auch, das Thema ,Volksglaube im S.' auf breiter Basis zu untersuchen; für die Erforschung des Wellerismus wird weltweite Zusammenarbeit gefordert. Es gilt hier, Fragen nach Alter, Stoff, Gehalt, Struktur, Beziehung zu anderen volkstümlichen Gattungen zu beantworten und die Trägerschicht wie die Funktion zu ermitteln. Die Schwierigkeiten, vor denen die international orientierte Forschung generell steht, zeigen sich gerade hier exemplarisch: kein Land hat bisher eine Edition seiner Wellerismen bereitgestellt, auf der exakte Forschung aufbauen könnte. Voraussetzung ist hier eine verstärkte Forschung auf nationalsprachlicher Ebene: die S.forschung lebt auch weiterhin von Einzelarbeiten. Die dt. S.künde bedarf, wie bereits betont, vorrangig einer Bestimmung der F u n k t i o n des S.s in alter wie neuer Zeit, wobei die jeweiligen Sammlungen wie die Werke der Dichter und Schriftsteller zuerst einzeln untersucht werden müßten. Diesem Zwecke dient auch das von mir im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft erarbeitete, demnächst fertiggestellte Archiv der Luthersprache. Es erfaßt neben dem Kernwortschatz der Lutherschriften auch alle sprichwörtlichen Formulierungen im weitesten Sinne, denn Luther hat weit mehr Spruchgut verwendet, als er in seiner Sammlung zum eigenen Gebrauch zusammengestellt hat. Eine darauf aufbauende Untersuchung wird die Funktion des S.s bei Luther darstellen.

Das Sagwort müßte, da besonders an einzelne Regionen gebunden, zunächst für den Bereich der Mundarten erarbeitet werden; daraus könnte sich dann eine Zusammenschau auf überregionaler Basis ergeben. Auch Rechtssprichwort wie Bauernregel bedürfen eingehender Darstellung. Erhellende Untersuchungen zur Wechselbeziehung zwischen S. und anderen volkstümlichen Gattungen, sowie zwischen S. und bildender Kunst sind ebenfalls dringende Forschungsdesiderate. Das variierte S. der Gegenwart muß umfassend unter mehreren Aspekten (s. o.) be-

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schrieben und seine weitere Entwicklung aufmerksam beobachtet werden. Wichtig wäre hierzu eine statistische Erhebung, die Aufschluß darüber gibt, in welchem Maße das traditionelle Spruchgut noch bekannt ist, wie aktiv es im Alltagsgespräch noch genutzt, was in Frage gestellt wird, und was noch Gültigkeit hat. Denn das heute gängige, stets neu variierte S. lebt davon, daß das tradierte S. noch in gewissem Umfang bekannt und dadurch ,verfügbar' ist. Umfragen wie eine vom Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965-1967 (hg. vom Inst, für Demoskopie Allensbach 1968) veröffentlichte, sind dafür denkbar ungeeignet. Es wurden 24 S.er vorgelegt mit der Frage: „Sind da Sprichwörter dabei, denen Sie voll und ganz zustimmen, die Sie aus eigener Erfahrung unterschreiben können?". ,Es ist nicht alles Gold, was glänzt' erhielt dabei z. B. eine Zustimmquote von 69% (die höchste), und das S. ,mit dem Hute in der Hand kommt man durch das ganze Land' mit 23 % die niedrigste. Die Kriterien, die zur Auswahl gerade dieser 24 S.er führten, werden nicht genannt. Zweck der Umfrage war wohl, die Mentalität breiter Schichten durch Sprichworttest zu erfassen. Hier führte eine völlig unzulängliche Methode zu Ergebnissen mit höchst zweifelhaftem Aussagewert.

Zur Erfassung des heute noch mündlich tradierten S.s sind auch Archive wie das 1951 in Münster gegründete, von wesentlicher Bedeutung, das S.er und Redensarten des ndd. Raumes sammelt. - Der Sprichwortforschung bietet sich insgesamt eine breite Palette ungelöster Fragestellungen. Die Sprichwortliteratur weist eine nahezu unüberschaubare Fülle von Einzelarbeiten auf, die hier anzuführen sich erübrigt, da seit 1958 die Sprichwörterbibliographie von Otto E. Moll vorliegt; heranzuziehen sind Nachträge von J. W e r n e r (Sprichwortliteratur. ZfVk 57/58, 1960/61, S. 118-132) und die kritische Zusammenschau bedeutender Untersuchungen innerhalb der nordischen, russischen, deutschen Forschung der Gegenwart von Matti Kuusi (Paroemiologische Betrachtungen, 1957). In Proverbium 15/1970, S. 4-8 sind alle Schriften Archer T a y l o r s zu diesem Thema genannt. Wolfgang M i e d e r verzeichnet in der seinem Aufsatz Das Sprichwort und die deutsche Literatur (Fabula 13, 1972, S. 135-149) beigegebenen Bibliographie alle ihm zu diesem Themenkreis bekannt gewordenen Einzelarbeiten (112 Nummern, davon 50 bei Moll nicht verzeichnete Titel). Im folgenden werden nur Arbeiten angeführt, die nach 1957/58 erschienen sind und in den vorgenannten Bibliographien fehlen. Ver-

150

Sprichwort

ziehtet wurde auf den Nachweis von S.-Artikeln in Nachschlagewerken. Auf das S. bezogene Passagen und Kapitel in Darstellungen volkstümlicher Erzählgattungen werden nur dann angegeben, wenn sie neue Erkenntnisse und weiterführende Gedankengänge wie Anregungen enthalten. Allgemeine und überblickhafte Aspekte: Matti Kuusi, Parömiologische Betrachtungen (Helsinki 1957; FFC. 172). Max Lüthi, Volkskunde u. Literaturwissenschaft. Rhein. Jb. f. Volkskunde 9 (1958) S. 257-258. Mathilde Hain, Sprichwort u. Rätsel, in: Stammler Aufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1962), Sp. 2727-2742. Dies., Das Sprichwort. Dtschunt. (Stuttg.) 15 (1963) S. 36-50. Lutz Röhrich, Gebärde, Metapher, Parodie. Studien zur Sprache u. Volksdichtung (1967; Wirkendes Wort 4). Wolfgang Mieder, Das Sprichwort in unserer Zeit (1975). Herbert Ihering, Die kleinen Redensarten. Die Zeit Nr. 10 vom 28 . 2. 1975. Zu Terminologie, Klassifizierung, Typisierung: Matti Kuusi, Ein Vorschlag für die Terminologie d. parömiologischen Strukturanalyse. Proverbium 5 (1966) S. 97-104. Ders., How can a Type-Index of international proverbs be outlinedt An Experiment and five Questions. Proverbium 15 (1970) S. 57-60. Ders., Towards an International Type System of Proverbs (Helsinki 1972; FFC. 211). Archer T a y l o r , The Proverb and an Index to the Proverb (Copenhagen 1962). Bengt H o l b e k , Computer Classification of Proverbs. Proverbium 14 (1969) S. 372-376. Pentii Leino, A Computer for the Paremiologist? Proverbium 14 (1969) S. 377-379. Sonderformen: Winfried Hof mann, Das rhein. Sagwort. E. Beitr. z. Sprichwörterkunde (1959; Quell, u. Stud. z. Volkskunde 2). Siegfried Neumann, Aspekte der Wellerismus-Forschung. Proverbium 6 (1966) S. 131-137. Ders., Sagwort u. Schwank. Letopis, Reihe C, Nr. 11/12 (1968/69). Ferdinand Elsener, Regula iuris, Brocardum, Rechtssprichwort nach der Lehre von P. Franz Schmier OSB. u. im Blick auf d. Stand d. heutigen Forschung, in: Ottobeuren 764-1964 (1964; Studien u. Mittlgn. z. Gesch. d. Benediktinerordens 73, Sonderbd.) S. 177-218. Ders., „Keine Regel ohne Ausnahme". Gedanken zur Geschichte der dt. Rechtssprichwörter. Festschr. für d. 45. Dt. Juristentag (1964) S. 23-40. Das Sprichwort und sein Verhältnis zu anderen volkstümlichen Gattungen: B. E. P e r r y , Fable. Studium Generale 12 (1959). Karl August Ott, Lessing u. Lafontaine. GRM. 9 (1959) S.235-266. Helmut von Thiel, Sprichwörter in Fabeln. Antike u. Abendland 17 (1971) S. 105-118. Herbert Wolf, Predigterzählgut, Dtschunt. (Stuttg.) 14 (1962) S. 76-99. Volker Meid, Sprichwort u. Predigt im Barock: zu e. Erbauungsbuch Valerius Herbergers. ZfVk. 62 (1966) S. 209-234. Wolf-

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Spruch § 1. Die Schwierigkeiten, den B e g r i f f Spr. eindeutig zu definieren, liegen in der bisherigen Praxis der Verwendung des W o r t e s Spr. und seiner differenzierenden Komposita (wie Sinn-, Sitten-, D e n k - , M a h n - , Lehr- und Wahrheitsspr.). So wird das W o r t mit spezifisch literar. Phänomenen, mit dem A p o phthegma, dem Epigramm (s. d.), der Maxime (s. § 3) u n d dem Sprichwort (s. d.) in Verbindung gebracht; es umschreibt daneben verkürzt auch die unterschiedlichsten Erscheinungsformen der Spr.dichtung in ihren gattungstypischen Ausprägungen u n d ihrer eigenen Geschichtlichkeit (s. Spruchdichtung, mittelhochdeutsche). Auf G r u n d ihres Inhalts werden solche Texte meist primär einer „ L e h r e " , d. h. philosophischen, religiösen oder ethischen Systemen zugerechnet u n d auf eine Sozialisierungsfunktion festgelegt. U m diese Vielfalt der Bezüge auf einen N e n n e r zu bringen, ist es zweckmäßig, Spr. als O b e r begriff f ü r alle spr.haften Texte anzusetzen, so daß „ S p r u c h " zu einem P h ä n o m e n d e r T i e f e n s t r u k t u r dieser Texte wird, deren O b e r flächenstruktur die Bestimmung typischer Eigenheiten des Diskurses erlaubt. In diesem Sinne erklärte schon A n d r é Jolles, „ d a ß ein Sprichwort selbst kein Grundbegriff ist, sondern auf einen Grundbegriff zurückgeführt werden m u ß " . Er konstituierte Spr. als „ E i n fache F o r m " , die sich u. a. im Sprichwort „vergegenwärtigt", zunächst aber aus einer „Geistesbeschäftigung" hervorgeht, deren Fixp u n k t e „ E m p i r i e " u n d „ E r f a h r u n g " sind. Ein Spr. schließt nach Jolles eine E r f a h r u n g ab, „ o h n e daß diese damit a u f h ö r t , Einzelheit in der Welt des Gesonderten zu sein. Sie bindet diese Welt in sich, ohne sie durch ihre Bündigkeit der Empirie zu entheben" (S. 129). T y pisch f ü r diese Geistesbeschäftigung ist die

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Fähigkeit, „abzusondern und zu vereinzeln"; dadurch kann der Spr. „das Kunstwerk verlassen" und „für sich" stehen (S. 139). Spr. bezeichnet danach weder eine Gattung noch eine Einzelheit, sondern eine an bestimmten Merkmalen zu erkennende S i t u a t i o n s f u n k t i o n der Rede, wobei zunächst unerheblich ist, ob diese Rede sich prosaisch oder lyrisch gestaltet. Bereits vor Jolles hatte Robert Petsch in seiner Rezension des Spruchwörterbuches von Franz Frh. von Lipperheide (ArchfNSprLit. 116, 1906, S. 386) Untertitel und Inhalt dieser Sammlung kommentiert: „'Deutsche und fremde Sinnsprüche, Wahlsprüche, Inschriften an Haus und Gerät, Grabsprüche, Sprichwörter, Aphorismen, Epigramme, Bibelstellen, Liederanfänge, Zitate aus älteren und neueren Klassikern sowie aus den Werken moderner Schriftsteller, Schnadehüpfln, Wetter- und Bauernregeln, Redensarten' usw. haben doch gemeinsam, daß sie eine auf allgemeine Anerkennung rechnende Wahrheit auf eine eindringliche, durch ihre inhaltliche, logische oder formale Eigenart frappierende Weise aussprechen — eine Ausdrucksweise, die zweifellos einen ästhetischen Reiz ausüben soll und ausübt." Er führte die Fülle der Erscheinungen auf „eine bestimmte Form der ästhetischen Apperzeption der Außenwelt" zurück und schlug dafür die Bezeichnung . g n o m i s c h e A p p e r z e p t i o n ' vor. Wolfgang Preisendanz griff diesen Gedanken auf und erklärte: „ E s bleibt im Spr. immer die Einheit der gnomischen Apperzeption, das Auffassen einer Bedeutungsenergie, einer Gültigkeit und Wahrheit und entsprechend die Darstellung eines resultathaft schon zu Beginn Gewissen, von vornherein Gegebenen" (S. 20); er sprach in diesem Zusammenhang von „Setzung" als einer „von Anfang a n " gemachten Erfahrung und einem „Vollzug des Sprechens", in dem sich nichts ergibt, was „nicht schon zu Beginn angelegt" wäre. Petsch und Preisendanz ging es vor allem um die Rechtfertigung der Spr.dichtung gegenüber der im 19. J h . geläufigen Abwertung als bloße Didaktik oder Gedankenlyrik (s. d.). In seiner Spruchdichtung des Volkes glaubte Petsch im „ R u f " die Urform aller Spr.e und in der Differenzierung zwischen „sehnsuchtsvollem R u f " und „erstauntem R u f " Sonderentwicklungen zum Zauberspruch und Gebet, bzw. zum Weisheits- und Offenbarungsspr. zu erkennen. Preisendanz dagegen konnte am Beispiel der Spr.lyrik Goethes so-

wohl den geschichtlichen Wandel vom Formprinzip der argutia, repräsentiert im Epigramm, zum Spr.gedicht, als auch ein breites Spektrum spr.hafter Formrede aufzeigen. Diese stark diskursorientierte Analyse bedarf der Ergänzung durch die Kennzeichnung der tiefenstrukturellen Merkmale der untersuchten Texte. Dabei sind anthropologische und sprachliche Aspekte zu unterscheiden. Man mag dann mit Kurt Ranke die Einfachen Formen (s. d.) über Jolles hinaus als „psychische und funktionale Notwendigkeiten" und „ U r formen menschlicher Aussage" begreifen, „die aus Träumen und Affekten, aus magischen und rationalen Denkprozessen, aus Spiel und Kult erwachsen sind" (Fischer-Lexikon. Literatur II 1, S. 185); die in der Einfachen Form beschlossene „absolut verbindliche, spontane Aussage über die besonders situierte Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt in ihm und um ihn" ist primär sprachlicher Ausdruck. DWb. 10, II 1 (1919) Sp. 165-177 (Spruch und Komposita). Andréjolles, Einfache Formen (1930; Sachs. Fschgsinstitute. Fschgsinst. f. neuere Philologie 2, 2); 2. Aufl. durchges. v. A. Schossig, (Halle 1956). Wolfgang Mohr, Einfache Formen, in: Reallex. Bd. 1, S. 321-328. Kurt Ranke, Einfache Formen, in: Fischer-Lexikon. Literatur. Hg. v. Wolf-Hartmut Friedrich u. Walther Killy Bd. 2, 1 (1965) S. 184-200, wiederholt in: Ranke, Die Welt der Einfachen Formen (1978) S. 3 2 - 4 6 . Robert Petsch, Spruchdichtung d. Volkes. Vor- ». Frühformen d. Volksdichtung. Ruf: Zauber- u. Weisheitsspruch. Rätsel: Volks- ». Kinderreim (1938; Volk 4). Wolfgang Preisendanz, Die Spruchform in d. Lyrik des alten Goethe u. ihre Vorgeschichte seit Opitz (1952; Heidelberger Fschgn. 1). § 2. Die Zugehörigkeit eines Textes zur Klasse spr.hafter Gebilde ergibt sich zunächst aus dem Sachverhalt als sprachlich vermittelte A u s s a g e . Soweit diese Aussage als U r t e i l einer I n s t a n z in Erscheinung tritt, ist damit ein Subjekt erkennbar, auf dessen Kompetenz Entwurf und Rezeption der spr.haften Äußerung gleichermaßen beruhen. In der Gerichtssprache versteht man unter 'Instanz', abgeleitet von lat. instare (auf oder über etwas stehen, eine Sache verfolgen), das durch einen Antrag veranlaßte Verfahren und die zuständige Stelle mit Entscheidungsgewalt. In der Geisteswissenschaft wird der Begriff unmittelbar auf die Urteilsfähigkeit des Urteilssubjektes und zugleich auf dessen begrenzte Zuständigkeit be-

Spruch zogen. So sah auch Wilhelm Sauer in seiner geisteswissenschaftlich orientierten Juristischen Methodenlehre das Urteil im Rahmen einer „ganzheitlichen" Methode: „Subjekt des Urteils ist der geeignete (befähigte) Träger und Gestalter der Wesensmerkmale eines konkreten Urteils. Dieses ist der wahre Beurteiler, der logische (ideale, transzendentale) Richter. Subjekt ist ein solcher Mensch, der in sich die wesentlichen Urteilsbestandteile verkörpert und sie nach außen verwirklicht, d. h. der die Gestaltung eines Lebenstatbestandes durch begriffliches Denken zwecks Bewertung (kritischer Stellungnahme) oder Wertsteigerung (in Richtung auf Gemeinwohl und Gerechtigkeit) ausführt oder durch einen anderen (der nicht selbständig urteilt) als sein Werkzeug ausführen läßt. Urteilssubjekt ist also ein Kulturschöpfer, ein Kulturträger und Kulturförderer; er ist ein Schöpfer von Werten. Es ist der denkende, gestaltende und wirkende (wollende und wertstrebende) Mensch" (S. 131). In der Literatur manifestiert sich eine solche Instanz am deutlichsten in Erzählungen. Als ,Erzählinstanz' ist hier die an den übergeordneten oder textinternen Erzähler gebundene und vom Rezipienten im Text gesuchte (und anerkannte), stets auf Normen-Autorität beruhende M ä c h t i g k e i t des Urteils und der Handlungsentscheidungen zu verstehen, die vom Autor durch unterschiedliche Grade der ,Anwesenheit des Erzählers' zum Ausdruck gebracht und daher nicht überall in gleicher Weise wahrgenommen wird. Im Gegensatz zum jurist. Urteil ist im Urteil der Erzählinstanz nicht die konkrete Verwirklichung der Gerechtigkeit intendiert, obgleich in einer Erzählung die Konfliktlösung im Sinne ,ausgleichender Gerechtigkeit* erfolgen kann. Parallelen zur Rechtsanwendung bestehen jedoch hinsichtlich der „Kennzeichnung menschlichen Verhaltens als einer bestimmten Handlung" (Karl Larenz) sowie der Aussagelogik. In beiden Bereichen beruhen die Urteile teils auf Wahrnehmung, teils auf Deutung des menschlichen Verhaltens; dabei wird entweder dem Sachverhalt eine Norm gegenübergestellt (Subsumptionslehre und Gleichsetzungslehre) oder die Normen fungieren „nicht mehr im Sinne einer bindenden Anleitung, wie man den Fall zu entscheiden hat, sondern eher als Anregung, Richtlinien oder Leitsätze" (Wolfgang Fikentscher). In der S i t u a t i o n s f u n k t i o n Spr. wird die Aussage auf die Mächtigkeit des Ur-

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teils sowie auf Normen, Anleitungen, Richtlinien und Leitsätze reduziert. Dazu gehört, daß sich die Instanz an einen A d r e s s a t e n wendet; dieser kann persönlich angesprochen oder durch allgemeine Appelle als gegenwärtig erkannt werden, aber er kann ebenso nur in der Form enthalten sein, die die Aussage spr.hafter Rede sanktioniert und damit einen Adressaten zwangsläufig voraussetzt. Der Sinnspr. will Normreflexion bewirken, der Denkspr. legt die Übernahme der Norm nahe, der Lehrspr. hat Anweisungscharakter, der Mahnspr. impliziert mögliche Folgen. Für die R e z e p t i o n spr.hafter Texte ist neben dieser strukturellen Eigentümlichkeit das Suchbild des Rezipienten von entscheidender Bedeutung. Die Geistesbeschäftigung „Empirie" und „Erfahrung" und die Suche nach NormAutoritäten führt hier nicht selten auch zum Herauslösen spr.hafter Elemente aus Kontexten, so daß sich über Sentenzen Z i t a t e (s. d.) und daraus leicht „Sprüche" (als Legitimationsbasis für den eigenen Standpunkt) oder , Geflügelte Worte* (als gruppenspezifische Signale innerhalb eines Bildungskanons) und sogar Sprichworte (unter Verlust des Quellenbezuges) ergeben. Wilh. Sauer, Juristische Methodenlehre. Zugleich e. Einl. in d. Methodik d. Geisteswissenschaften (1940) S. 125-189, bes. S. 131-139. Ulrich Klug, Juristische Logik (3. erw. u. veränd. Aufl. 1966). Karl L a r e n z , Methodenlehre d. Rechtswissenschaft (3., völlig neu bearb. Aufl. 1975) S. 268ff. Wolfgang F i k e n t s c h e r , Methoden d. Rechts in vergleichender Darstellung Bd. 1 (1975) S. 386-387, Bd. 3 (1976) S. 736-760. - Klaus K a n z o g , Erzählstrategie. E. Einf. in d. Normeinübung d. Erzählens (1976; UTB 495). § 3. Typische S p r a c h g e b ä r d e spr.hafter Texte ist das 'Kurz und Bündige' der Rede, konzentriert auf einen Gedanken, der in der Regel in einen Satz oder in eine Strophe eingeht. Diese Begrenzung des Textumfangs und der daraus folgende Zwang zur Prägnanz des Ausdrucks ist nicht nur eine formale Eigenschaft dieser Texte, sondern ein unverzichtbares Merkmal der tiefenstrukturellen Spr.konzeption. Soweit spr.hafte Texte nach Jolles als „Vergegenwärtigung" der Einfachen Form Spr. oder linguistisch als Ergebnis einer spr.spezifischen Textgenerierung verstanden werden, ist damit die S e l e k t i o n sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten bereits determiniert. In der Jurisprudenz ist z. B. die Spr.formel

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(actio, legis actiones) durch das Recht selbst vorgegeben: „Die Spruchformel muß genau an das Wort des Gesetzes sich anschließen, sonst ist der Anspruch nicht begründet" (Paul Posener, Rechtslexikon. Handwörterbuch d. Rechtsu. Staatswiss. Bd. 2, 1909, S. 27f.). Im Bereich religiöser und ethischer Normen wie der Lebenserfahrung kann man trotz der Variationsbreite in der Ausdrucksweise von der A f f i n i t ä t bestimmter s y n t a k t i s c h e r F ü gungen und Stilformen zum ,Kurz und Bündigen' ausgehen. Auffällig sind z. B. Parataxe, Antithetik und Parallelismus. In der Spr.dichtung führten praktikable rhythmische Schemata zur Konventionalisierung des Paroemiacus in der frühgriech. Gnomik, des anord. Gnomenstils, des Distichons und der dt. Spr.strophe aus vier vierhebigen Versen. Formelhaftes begegnet auch hier, vor allem in ältester Zeit. Auch Alliteration und Endreim, betonte Anfangsstellungen und Zahlenschemata, Bilder und Vergleiche kommen der Intention spr.hafter Rede sehr entgegen. Da aber die Situationsfunktion Spr. unterhalb der Differenzierung zwischen prosaischer und poetischer Ausdrucksform liegt, scheitern alle Versuche, das Spr.hafte allein auf der Diskursebene der einzelnen Texte zu bestimmen. Epigramm und Sentenz können im Einzelfall durchaus Spr.qualität haben, doch bewahren sie, phänomenologisch gesehen, ihre Eigenart. Gemeinsam ist den prosaischen wie poetischen Spr.prägungen ein spezifischer F o r m s i n n , der auf das ursprünglich Formelhafte der Instanzenrede, der magischen wie der juristischen, zurückgeht. Das gilt schon für die Maxime. Kant definiert sie als „das subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will)" (Metaphysik der Sitten, 1. Teil, Einl. IV) und schränkt damit den absoluten Geltungsanspruch der Maxime im jurist. Sinne ein (nach Du Cange, Glossarium ad scriptores mediae et infimae Latinitatis. Bd. 4, Paris 1733, Sp. 615 sind „maxima sententia" allgemeine Rechtsgrundsätze, „quae Semper habita et tenta sunt pro lege"); gleichwohl folgt die Fomulierung einer Regel stets dem Ordnungsprinzip der Normzentrierung und der nicht zuletzt aus mnemotechnischen Gründen leichten Überschaubarkeit der Aussage. Auch in der Tradition der literar. Maxime gelten Verkürzung und Verdichtung der Aussage als Formprinzipien; durch die hierin angelegte Möglichkeit

der Zuspitzung auf eine Pointe ergab sich die Nähe zum Aphorismus (s. d.). Diese Formprinzipien blieben vom Funktionswechsel unberührt, den die Réflexions ou sentences et maximes morales (1665, anonym) von La Rochefoucauld bewirkten. La Rochefoucauld erschien die Maxime wegen ihrer moralisierenden Tendenz wenig geeignet, die im Motto („Nos vertus ne sont, le plus souvent que des vices déguisés") angedeutete Tendenz der Desillusionierung zum Ausdruck zu bringen. Dennoch bediente er sich der Maxime, relativierte jedoch das Verhältnis zwischen Instanz und Adressat, um die Besinnung des Menschen auf sich selbst zu erreichen. So wird z. B. die 1. Pers. pl. „ein Mittel, um den Leser als Ebenbürtigen anzusprechen und eben dadurch zu bewegen, daß er die Haltung der sincérité auch wirklich übernehme" (L. Ansmann, S. 228). Auch die G n o m e (griech. YV(i)|ir) mit der Grundbedeutung: nota, Kennzeichen, Merkmal und der daraus abgeleiteten Bedeutung: Erkenntnis, Meinung, Sinn) verlangt „einprägsame Kürze". Im Anschluß an Aristoteles (Rhetorik II 21) gelten als ihre Hauptmerkmale: „Die Allgemeingültigkeit des Inhaltes, der sich nicht auf eine bestimmte Person bezieht, und ihr Zweck, das sittliche oder lebenskluge Verhalten des Menschen zu regeln"; rhetorisch klassifiziert, ist sie ein „durch Hinweglassung des Syllogismo auf die knappste Form verkürztes Enthymen" (K. Horna, S. 75). Die durch das Lat. gebräuchliche synonyme Verwendung des Wortes Sentenz für Gnome verwischt den Unterschied zwischen der ,Bauernweisheit' der JtaQOi|xCai, der Spruchdichtung und der Sentenz als Exzerptionsphänomen in den Gnomensammlungen des Altertums. Im engeren Sinne ist die Sentenz immer Teil eines größeren Textzusammenhanges, jedoch in dem Maße isolierbar, in dem die Aussage inhaltlich und formal die Grundbedingungen spr.hafter Rede erfüllt. Arthur Hermann F i n k , Maxime u. Fragment. Grenzmöglichkeiten e. Kunstform. Zur Morphologie d. Aphorismus (1934; Wortkunst. NF. 9) Corrado R o s s o , La 'Maxime'. Saggi per una tipologica critica (Napoli 1968; Testi e saggi di letteratura francese I, 2). Louis H i p p eau, Essai sur la morale de la Rochefoucauld (Paris 1967). Mary Francine Z e l l e r , New Aspects of Style in the 'Maxims' of La Rochefoucauld (Washington 1954; Studies in Romance Lang, and Lit. 48). Margot K r u s e , Das Fragment in d. franz Lit. Studien zum Werk La Rochefoucaulds u. s. Nach-

Spruch folger (1960; Hamburger romanist. Studien A, 44). Amelia B r u z z i , La formazione della 'Máximes' di La Rochefoucauld attraverso le ediziom originali (Bologna 1968; Testi e saggi di letterature moderne II, 12). Liane Ansmann, Die 'Maximen' von La Rochefoucauld (1972; Münchner romanist. Arb. 39). — Konstantin Horna mit Erg. v. K. v. F r i t z , Gnome, Gnomendichtung, Gnomologien, in: Pauly-Wissowa. Suppl.-Bd. 6 (1935) Sp. 74-89. Ernst Ahrens, Gnomen in griech. Dichtung: Homer, Hesiod, Aeschylos, Diss. Halle 1937. Fritz Hofinger, Eurípides u. s. Sentenzen. Diss. Erlangen 1896. Claus Meister, Die Gnomik im Geschichtswerk d. Thukydides (Winterthur 1955) T. 3. Pierre Huart, Tv&m chez Thukydide et ses contemporains: Sophocle, Euripide, Antiphon, Andocide, Aristophanes (Paris 1973; Études et commentaires 81). — Paul Niemeyer, Die Sentenz als poetische Ausdrucksform vorzüglich im dramat. Stil. Untersuchungen an Hand d. Sentenzen in Schillers Drama (1934; GermSt. 146). § 4. Auch das S p r u c h g e d i c h t ist Ausdruck einer konventionalisierten, auf das ,Kurz und Bündige* bedachten Sprachgebärde. Es wird daneben vor allem auf Grund seiner Formelemente und der Klang- und Rhythmuswerte zu den lyrischen Kurzformen gerechnet. Versuche, die Spr.dichtung als einen eigenen Bereich neben der Lyrik, dem Drama und der Epik aufzufassen, sind fehlgeschlagen. Im Spektrum der lyrischen Kurzformen muß das Spr.gedieht vielmehr zunächst von jenen Gedichten abgegrenzt werden, die allein auf Wahrnehmungen und den Zwang, sich ganz in das Bild hineinzuversetzen, ausgerichtet sind. Als Beispiel für ein solches sich selbst begrenzendes Gedicht kann das folgende Haiku gelten: Der alte Teich huru-ike ja Ein Frosch springt hinein - kawazu tobikomu das Geräusch des Wassers, mizu no oto Charakteristisch für diese Bild- und Silbenkonstellation ist die bloße Sukzession der Phänomene, das Fehlen narrativer Elemente und Reflexionen sowie die Abwesenheit einer Instanz. Im Spr.gedicht dagegen erfolgt die Bindung der Phänomene an einen Sprecher und die von ihm vorgenommenen Bewertungen, bzw. vorgestellten Normen; dabei gehen Bild- und Sachteil unterschiedliche Beziehungen ein, durch die ein Text einerseits in die Nähe des Gleichnisses und der Parabel (s. d.), andererseits in die Nähe der formulierten Erfahrung und des Lehrsatzes rücken kann. Diese Spannweite auf der Diskursebene des Spr.gedichtes kommt besonders klar in der Textgenese und Textkonstitution des 5. Spruches

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in Goethes West-östlichem Divan (Buch der Sprüche) zum Ausdruck: Das Meer fluthet immer, Das Land behält es nimmer. Die Vorlage für dieses Spr.gedicht fand Goethe im Buch des Oghuz in den Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten und Wissenschaften, gesammelt von Heinrich Friedrich von Diez (Th. 1. Berlin 1811); dort ist das Bild des .flutenden Meeres' Teil einer .Lehre' mit deutlichem Anweisungscharakter: Tritt nicht über wie das Meer und umfasse keine Sache, welche du nicht ausrichten kannst. Goethe verzichtet auf die Handlungsanweisung, den personalen Bezug und die Gleichnisformel („wie") des Spr.es. Er setzt das Bild des ,flutenden Meeres' und den Aspekt der .Vergeblichkeit' in ein dreigliedriges Oppositionsverhältnis um (Meer vs Land, fluten vs behalten, immer vs nimmer), das eine überindividuelle Gesetzmäßigkeit antithetisch bildhaft werden läßt. Die Instanz der spr.haften Rede äußert sich nunmehr im Hinweis auf die Gesetzmäßigkeit eines Naturablaufes, sie gibt eine Orientierungshilfe und schränkt die Handlungsfreiheit des Adressaten nicht ein. Der Leser kann den personalen Bezug für sich selbst herstellen, indem er entweder die .Gesetzmäßigkeit' oder die .Widerstandsfähigkeit' zum Bezugspunkt einer Identifizierung seines Verhaltens wählt. Die „Bündigkeit und Unausweichlichkeit der Spr.form" (Preisendanz, S. 126) ergibt sich aus dem Gültigkeitsanspruch der Aussage, d. h. aus der Situationsfunktion der Rede. § 5. Die S p r u c h t r a d i t i o n kann bis zu den Texten der altorientalischen Weisheitsdichtung zurückverfolgt werden, wie sie uns in den

sumerischen

Spr. Sammlungen

in den ara-

mäisch-assyrisch, arabisch und armenisch überlieferten Achikarsprüchen und in ägyptischen Texten entgegentritt. Schon hier begegnet man unterschiedlichen Aussageweisen: der Maxime, Mahn- und Denksprüchen, Sprichworten, Parabeln und Streitgesprächen (mit dem Urteilsspruch der göttlichen Instanz), auch Rätseln (als , umgebogene* Sprüche) und Fabeln. Dieser Vielfalt entspricht die Bedeutungsweise des Ausdrucks masal. Doch ist nicht jeder Ausspruch ein masal, „sondern nur ein solcher, d e r m a c h t w i r k e n d eine neue Wirklichkeit schafft oder einer Lebenserfahrung des Volkes bzw. der Weisen machtvoll Anerkennung verschafft und sie als gültige Weisheit durchsetzt" (Sellin-Fohrer, S. 339). Das Spr.prinzip, Lehre und Rat auf die Ordnung der Welt zu beziehen, führt zwangsläufig zu Spr.Sammlungen (nach dem Vorbild der alt-

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Spruch

orientalischen Listenwissenschaft), die von Anfang an Überlieferungsträger der gesamten Spr.Weisheit sind. Von besonderem Interesse für die Herausbildung des Spr.typus sind die ägypt. .Lehren* (Instruktionen), weil sie die ursprüngliche Kommunikationssituation am deutlichsten erkennen lassen. Unter ,Lehren' werden Werke verstanden, die eine „Unterweisung des Lehrers an einen oder mehrere Schüler (oft in der Form einer Lehre des Vaters an seinen Sohn oder seine Kinder) oder die Fiktion einer solchen Belehrung enthalten" ( H . Brunner, S. 113). Damit ist die Beziehung zwischen Instanz und Adressat und die Normmächtigkeit der Instanz im System patriarchalischer Herrschaft festgelegt. Die Pflege und Uberlieferung der , Lehren' durch Schreiberschulen und der Praxisbezug (Erziehung von Beamten) stehen in engem Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung. Aus dieser diesseitsorientierten Einstellung ergibt sich der didaktische und vielfach utilitaristische Charakter der .Lehren': „Auf Grund tradierter Erkenntnisse, die durch eigene Lebenserfahrung ausgewählt und korrigiert sind, leitet in ihnen der Lehrer seinen Schüler zur Erkenntnis der Grundverhältnisse im Leben und zu entsprechender Lebensführung a n " ( H . Brunner, S. 113/114). Garant der kosmisch-menschlichen Ordnung und damit oberste Instanz ist der König. Im Falle der alttestamentl. Sprüche Salomos (Proverbia) hat die jüdische und christl. Tradition König Salomo (um 970-930 v. Chr.) als Verfasser kanonisiert, obgleich das Buch (abgeschlossen nicht vor dem Ende des 4. Jh.s) isrealit. und nicht-israelit. Weisheitslehren aus verschiedenen Jh.en kompiliert und die Uberschriften einzelner Abschnitte auf die ursprüngliche Selbständigkeit von 8 oder 9 Sammlungen deutet, die ihrerseits z. T . bereits kompilatorisch-redaktionelle Züge aufweisen. Das unterschiedliche Alter dieser Sammlungen macht sich auch in gegenläufigen Tendenzen des Instanzenbezuges - zwischen der göttlichen Autorität der Weisheit (mit der Herleitung der menschlichen Ordnung aus dem mosaischen Gesetz) und der menschlichen Erfahrung - bemerkbar. Das hebr. Autoritätsideal des Weisen entspricht dem ägypt. Ideal. Von den ägypt. ,Lehren' her ergeben sich auch viele sachliche Berührungspunkte (mit nachweisbaren Exzerpten), die schichtenspezifische

Ausrichtung auf Staatsinteressen (Schreiber, Beamte, Offiziere als Bürgen für die Einhaltung der Normen) und der Utilitarismus der Lebensregeln (Vorteil vs Nachteil, Erfolg und "Wohlstand vs Armut). Die Jahwereligion tritt am stärksten im Gedanken der .gerechten Vergeltung' hervor. Dennoch wird kein unbedingter Gehorsam gefordert; die von der Spr.instanz nahegelegte Orientierung setzt Einsicht in die Nützlichkeit der , Lehren' und die Kraft zum moralischen Handeln voraus. Die abendländische Spr.tradition beruht auf dem Vorbild der Bibel und der antiken Gnomologien. Sie richtet sich nach praktischen Bedürfnissen und wird durch die Unterweisung im Schulunterricht (mit starkem rhetor. Akzent), das Verlangen nach Erbauung (z. B . in den epikuräischen Spr.Sammlungen) und das Legitimationsverfahren innerhalb der theologischen, philosophischen und polit. Argumentationssysteme aktualisiert. Die immer wieder als notwendig angesehene Orientierung an Lebenswerten führt hier zugleich zu Katechismen. So überrascht es nicht, daß Luther seinem Kleinen Katechismus 1531 die Haustafel etlicher Sprüche für allerlei heilige Orden und Stände (Weim. Ausg. 30, 1, 1910, S. 397-402 u. 641-647) beifügte, um den Christen an sein „Amt in der W e l t " zu erinnern. Im Zuge der biblizistischen Tendenzen des Pietismus (s. d.) schuf N . L . von Zinzendorf mit den Losungen für die Herrnhuter Brüdergemeinde (erstes gedr. Losungsbuch 1731) einen neuen Typus innerhalb der Spr.tradition. Neben diesen „Losungen" ( = „ T a gesparolen"), in jedem Jahr aus Bibeltexten teils gezogen, teils frei gewählt und durch erbauliche Texte christl. Autoren angereichert, steht die Spr.Weisheit vieler Kalender, die dem Leser gleichfalls Sprüche als ,Tagesration' verabfolgen. H. Gese, Weisheitsdichtung. RGG. 6 (1962) Sp. 1577-1581. Helmer Ringgren, Word and Wisdom. Studies in the Hypostatization of Divine Qualities and Functions in the Ancient Near East (Lund 1947). Johannes Jac. Adrianus van Dijk, La Sagesse suméro-accadienne. Recherches sur les genres littéraires des textes sapientiaux. Proefschr. Leiden 1953. Wilfred G. Lambert, Babylonian Wisdom Literature (Oxford 1960). Hellmut Brunner, Die Lehren. Handbuch d. Orientalistik I, 2 (2. Aufl. 1970) S. 113-139. — W. Rott, Spruchbuch. RGG. 6 (1962) Sp. 284285. V. Hamp, Sprüche Salomons. Lexikon f. Theologie u. Kirche 9 (1964) Sp. 989-990. A. van

Spruch den B o r n , Sprüche. Bibel-Lexikon. Hg. v. Herbert Haag (1968) Sp. 1625-1627. Johannes F i c h t ner, Die altoriental. Weisheit in ihrer israelitischjüdischen Ausprägung. E. Studie z. Nationalisierung d. Weisheit in Israel (1933; Zs. f. alttestamentl. Wiss. 62). Ders., Die Weisheit Salomos (1938; Handb. z. AT. 2, 6). John Coert Rylaarsdam, Revelation in Jewish Wisdom Literature (Chicago 1946). Udo Skladny, Die ältesten Spr.sammlungen in Israel (1962). W. Zimmerli, Zur Struktur d. alttestamentl. Weisheit. Zs. f. alttestamentl. Wiss. 51 (1933) S. 177-204. Hans-Joachim Kraus, Die Verkündigung d. Weisheit. E. Auslegung d. Kapitels Sprüche 8 (1951; Bibl. Studien 2). Helmer Ringgren u. Walther Zimmerli, Sprüche, Prediger. Übers, u. erkl. (1962; AT., deutsch. Neues Göttinger Bibelwerk 16, 1). Walther E i c h r o d t , Theologie d. AT. T. 2/3 (4. Aufl. 1961) S. 48-56. Gerhard von Rad, Theologie d. AT. Bd. 1 (4. Aufl. 1962; Einf. in d. evangel. Theologie 1) S. 454-461. Ders., Weisheit in Israel (1970). Otto Eissfeld, Einleitung in d. AT. (3. Aufl. 1964). Ernst Sellin, Einleitung in d. AT. Völlig neu bearb. von Georg Fohrer (10. Aufl. 1965) S. 331-373 (dort auch die wichtigsten Kommentare). — H. R e n k e w i t z , Losungen. RGG. 4 (1960) Sp. 451-452. § 6. In der g e r m a n . L i t . ist die Spr.tradition am eindruckvollsten in der Spr.dichtung der Hävamäl (Anfang d. 10. JH.s) der Sitmundar Edda überliefert. Sie vermittelt einen Eindruck vom normgeregelten Leben der isländ. Gesellschaft in vorchristlicher Zeit, obgleich sie nur mit großem Vorbehalt als ein unmittelbares Zeugnis heidnischer Sitte und Sittlichkeit angesehen werden kann. Unter dem Titel ,Die Rede des Hohen' (mit der Fiktion, Odin habe die Sprüche in der Halle gesprochen) sind überlieferungsbedingt verschiedene Strophenkomplexe unterschiedlichen Charakters zusammengefaßt: Str. 1-80 (nach der Zählung G. Neckeis): das sogen. ,Alte Sittengedicht, Str. 81-94: Bruchstücke verschiedener Art, Str. 95-110: zwei .Odinsbeispiele*, Str. 111-137: das sogen. ,Loddfafnirlied', Str. 138-145: ,Odins Runenlied' und Str. 146-164: das ,Zauberlied'. Gleichwohl läßt sich ein gemeinsamer Nenner für die Redaktion der Sammlung und eine in sich stimmige Spr.konzeption finden. Schon im ,Alten Sittengedicht' ist die N o r m Instanz über das redaktionelle Verfahren der Strophen- und Themenverknüpfung hinaus überall gegenwärtig. Sie zeigt sich am stärksten in den Handlungsanweisungen der ,Soll'-Strophen (1, 2, 6, 15, 30, 33, 35, 38, 40-46, 52, 54-56, 58-59, 63-64),

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aber auch in den Bewertungen von Handlungen als ,klug' (28, 31, 54-56) oder .unklug' (16, 17, 20-27, 48, 80) mit typisch formelhaften Wendungen wie: osniallr madr, osvidr madr, vesall madr und ösnotr madr. An einigen Stellen begegnet die Ich-Form, verbunden mit narrativen Elementen (14, 39, 47, 49, 52, 66, 67, 70, 78). Als Beispiel für die legitimierende Ableitung eines Spruches soll hier Str. 47 angeführt werden: Ungr var ek foröom, för ek einn saman; pi varö ek villr vega; auöigr Jjöttomz, er ek annan fann: madr er mannz gaman. (Jung war ich einst und einsam zog ich; da verirrte ich mich auf dem Weg; reich aber dünkte ich mich, als ich einen anderen [einen Begleiter] fand: Der Mann ist des Mannes Nutzen [Genzmer: Den Mensch freut der Mensch]) So lehren die einzelnen Sprüche nicht nur Verhalten (im Hause, in der Fremde, anderen Menschen gegenüber), sondern schaffen zugleich einen Kanon von Werten, der durch das Setzen einer höchsten Norm hierarchisch ausgerichtet ist. Diese Norm wird in Str. 77 formuliert: Deyr fe, deyia fraendr, deyr siälfr it sama; ek veit einn, at aldri deyr: domr um daudan hvern. (Das Vieh [der Besitz] stirbt, die Freunde [Verwandte] sterben, schließlich stirbt man selbst; ich weiß, was niemals stirbt: das Urteil über die Toten [der Ruhm der Toten]) Im ,Loddfafnirlied* ist die Unterweisungssituation durch die jeweils wiederholte Rat-Formel (Raöomk t>er, Loddfäfnir, en {)ü räö nemir) und den namentlich genannten Adressaten Formprinzip; die Lehren sind betont utilitaristisch (niöta mundo, ef J>ü nemr, \>er muno goö, ef JJÜ getr). Die anderen Teile sind mit der Götterdichtung verbunden: So geht die ,Lehre' in den beiden Odinbeispielen aus , Beispielerzählungen' hervor, in denen Odin sowohl Held (Gewinnung des Dichtermets) als auch Anti-Held (mißglücktes Liebesabenteuer) ist und auf Grund persönlicher Erfahrungen allgemeine Verhaltensregeln formuliert. ,Runenlied' und ,Zaubergedicht' machen deutlich, daß die Spr.kompetenz im religiösen Bereich ursprünglich auf dem durch Zauberkraft erlangten Wissen beruhte. Neben ,nordischen' Kernelementen, deren überzeugende Zurückführung auf eine sogen. ,Uredda* bisher nicht gelang, zeigt die Hävamäl — wie K. v. See am Beispiel der Disticha Catonis nachweisen konnte — auch Spuren der europäischen Spr.tradition. Jan de Vries, Altnord. Literaturgesch. (2. Aufl. 1964: PGrundr. 15) S. 48-56. Ders., Om Eddaens Visdomsdigtning. ArkfNordFil. 50 (1934) S. 1-59. Hans Kuhn, Die Rangordnung d. Daseinswerte im ,Alten Sittengedicht' d. ,Edda'. ZfdB. 15

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Spruch

(1939) S. 62-71, wiederh. in: Kuhn, Kleine Schriften. Bd. 2 (1971) S. 266-276. Herrn. Schneider, E. Uredda. Untersuchungen u. Texte z. Frühgesch. d. eddischen Götterdichtung (1948). Ivar Lindquist, Die Urgesta.lt d. ,Hävamäl'. E. Versuch zur Bestimmung auf synthet. Wege (Lund 1956; Acta Univ. Lundensis. NS. I, 52, 1). E. Vesper, Das Menschenbild d. älteren ,Hävamaf. PBB 79, Sonderbd. (Halle 1957) S. 13-31. Elias Wessen, ,Hävamdl'. Nägra stilfragor (Stockholm 1959; Filolog. arkiv 8). Ders., Ordsprak och lärodikt. Nägra Stilformer i ,Hävamäl', in: Septentrionalia et Orientalin. Studia Bemhardo Karlgren dedicata (Stockholm 1959) S. 455-473. Ommo Wilts, Formprobleme german. Spr.dichtung. Diss. Kiel 1968. Klaus von See, Die Gestalt d. ,Havamal'. E. Studie z. eddischen Spr.dichtung (1972). Ders., ,Disticha Catonis' und ,Hävamäl'. PBB (Tüb). 94 (1972) S. 1-18. S. Bey schlag, Zur Gestalt d. ,Hävamäl'. Zu e. Studie Klaus von Sees. ZfdA. 103 (1974) S. 1-19. H. Klingenberg, ,Hävamäl'. Bedeutungs- u. Gestaltenwandel e. Motivs, in: Festschr. f. Siegfried Gutenbrunner (1972) S. 117-144.

§ 7. In der Geschichte der neueren dt. Spr.dichtung kommt der Spr.lyrik G o e t h e s exemplarische Bedeutung zu. Sie schließt sich eng an dt., antike und orientalische Quellen an, wächst aus der zeitgemäßen Praxis des Epigrammatisierens heraus und ist gerade in der Fülle der unterschiedlichsten Spr.phänomene (einschl. der Prosaformen) Ausdruck einer einheitlichen, aus geschichtlichen wie aus persönlichen Verhältnissen abzuleitenden dichterischen Konzeption. Im Mittelpunkt stehen die beiden Spr.sammlungen Sprichwörtlich und Buch der Sprüche (im Westöstlichen Divan), deren Entstehungsgeschichte sich zeidich überschneidet. Schon das Tagebuch vom 21. Mai 1797 enthält als Lektüre-Vermerk den Hinweis auf „Merkwürdige griechische Sprichwörter. Schotti Adagia Graeca. Antverpia 1612". In den Jahren 1807/09 entlieh Goethe aus der Weimarer Bibliothek die Sprichwörtersammlungen von Agricola, Janus Gruter, J. W. Zincgref und Joh. Lassenius. Aber erst am 1. Jan. 1814 holte er jene „Sinnsprüche und Reime" hervor, die als Gelegenheitsarbeiten entstanden waren; er bezeichnete sie als „Gnomen", reicherte die Sammlung durch neue Sprüche an und schloß das Manuskript (209 Gedichte) am 26. Jan. 1815 ab. Neben dieser Sammlung Sprichwörtlich (Werke, Ausg. B. Cotta. Bd. 2, 1815) entstanden weitere Spr.gedichte, die im Wiesbadener Register (vom 30. Mai 1815) zum geplanten West-östlichen Divan (hier noch als Deutscher Divan gedacht) „Talismane" genannt werden. Goethe wollte sie ur-

sprünglich in dem Werk „zerstreuen"; der Gedanke, sie zu einem eigenen Buch zusammenzufassen und ihnen damit zyklischen Charakter zu geben, folgte konsequent der von den Suleika-Gedichten des Divan ausgehenden Konzeptionsänderung für das Gesamtwerk. Als chronologisch früheste Schicht sind dabei - nach Momme Mommsen - die 36 Gedichte der Reinschrift von F. Th. D. Kräuter (nach dem 26. Okt. 1815, spätestens Dez. 1815) anzusehen (5 davon wurden später nicht in das Buch der Sprüche aufgenommen). Hinzukamen 13 Gedichte (entstanden im Frühjahr 1816) für den Erstdruck des Divan (1819) und 12 weitere (entstanden um 1818) für die zweite Ausgabe des Divan (1827). Mit der Kräuterschen Reinschrift war die zyklische Struktur des Buches der Sprüche bereits festgelegt. Bei der Redaktion „schaltete Goethe das später Entstandene in der Weise ein, daß dadurch die Gedichte der Kräuterschen Reinschrift unterbrochen, die Reihenfolge auf den einzelnen Blättern derselben jedoch möglichst nicht geändert wurde" (Mommsen, S. 110). Diese rege spr.hafte Produktion hat eine Vorgeschichte, die bis ins Jahr 1796, d. h. in die Zeit des gemeinsamen Xenien-Kampfes Goethes und Schillers (gegen die Kritiker der Hören wie gegen philisterhafte literar. Zeiterscheinungen überhaupt) zurückreicht. Goethe setzte diesen Kampf im Walpurgisnachtstraum des Faust I allein fort und schrieb seit 1815 Zahme Xenien (kumulierend publiziert Buch 1: 1820, Buch 2:1824, Buch 3:1824, Buch 4-6: 1826, Buch 7-9: aus dem Nachlaß), die sich nicht nur vereinzelt thematisch mit Divan-Sprüchen berühren, sondern im ganzen gesehen von der polemischen Satire der Xenien abrücken und sich spr.hafter Rede nähern. Eine erste Sammlung von Prosasprüchen veröffentlichte Goethe an 6 Stellen des 2. Teils der Wahlverwandtschaften (1809) unter der Fiktion, sie stammten aus Ottilies Tagebuch. Erst ein Jh. später trug Max Hecker das übrige, vielfach verstreute Spr.material zusammen, das seitdem zur Fundgrube für Spr.breviere aller Art wurde. Eine weitere Entwicklungslinie läßt sich gleichfalls bis in die programmatischen Anfänge der Weimarer Klassik zurückverfolgen. Sie wird in der zunehmenden Neigung zum sentenzhaften Sprechen, d. h. in jenem Bereich der Werke sichtbar, aus dem sich im Kanonisierungsprozeß dieser Werke schließlich .Geflügelte Worte' durchsetzten. Sentenzen sind hier niemals an eine Gattung gebunden, sondern allein an die Rede einer handelnden Person, die über den Handlungszusammenhang hinaus eine allgemeine .Botschaft' impliziert. Ihren spr.haften Charakter erkennt man am deutlichsten in der Funktion des jeweiligen Sprechers. So ist Iphigenie eindeutig als Instanz (zunächst im Hinblick auf die Beeinflussung der Handlung) anzusehen (V. 213/214: „Ein edler Mann wird durch ein gutes Wort / Der Frauen weit geführt"). Überlegene Figur im Märchen der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

Spruch ist der Alte; auch ihm sind .Botschaften' in spr.hafter Rede in den Mund gelegt (z. B.: „Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr"). Im Zauberlehrling enthält die Zauberformel des „alten Hexenmeisters" zugleich die Lehre: „Denn als Geister / Ruft euch nur, zu seinem Zwecke, / Erst hervor der alte Meister". Im Faust wird Mephistopheles zum Hauptträger der Sentenzen; er ist Instanz als Kommentator des Geschehens (am deutlichsten in den ,ad spectatores'-Reden (z. B. V. 7003/04: „Am Ende hängen wir doch ab / Von Kreaturen, die wir machten") und als überlegene Figur Faust gegenüber (z. B. V. 3295/96: „Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen, / Was keusche Herzen nicht entbehren können"); Mephistopheles zugeschriebene Rede in den Paralipomena zum Faust ist vereinzelt in die Zahmen Xenien eingegangen, und dort (Buch 7) heißt es: „Mephisto scheint ganz nah zu sein!" Die Interpretation der spr.haften Äußerungen Goethes ist in hohem Maße vom Wiedererkennen der Kommunikationssituation abhängig, in der sie auf konkrete Ereignisse, Sachverhalte und Personen (signalisiert durch zahlreiche Repliken) Bezug nehmen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Realität, dem Gelesenen wie dem Erfahrenen, und dem im Urteil erkennbaren eigenen Standpunkt bestimmt die sprachliche Energie der Texte. Seinen Quellen gegenüber verhält sich Goethe zugleich rezeptiv und produktiv; dies zeigt vor allem der Vergleich der Sprüche des Divan mit den orientalischen Vorlagen und sein Standpunkt im Streit zwischen den Orientalisten Joseph von Hammer und Heinrich Friedrich von Diez. Allen Zeiterscheinungen gegenüber nimmt er eine Haltung ein, die von einem starken Persönlichkeitsbewußtsein zeugt. Goethe empfindet sich als Instanz, nicht nur in konkreten Streitfällen, sondern auch in grundsätzlichen Fragen des Lebens. Schillers Tod, der unersetzliche Verlust des ebenbürtigen Kommunikationspartners, hat an diesem ,Sich - allein - als - Maß - und - Instanz - begreifen' wesentlichen Anteil. Auch die polit. und kulturelle Entwicklung Deutschlands, besonders nach den Befreiungskriegen, machte ihm seine neue Rolle in der Gesellschaft bewußt. Zudem hatte er durch Alter und Erfahrung aus seiner Sicht wie im Bewußtsein seiner Zeitgenossen an Urteilskompetenz gewonnen; er verhielt sich so, wie man es von ihm erwartete, gewann aber auch ironischen Abstand gegenüber dieser Rolle, ohne den Anspruch, Instanz zu sein, aufzugeben. Dennoch bleiben die meisten Sprüche auch ohne Kenntnis der zeitgenössi-

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schen Kommunikationsverhältnisse rezipierbar. Der Unterschied zwischen dem unverzichtbaren Rückgriff auf die dem Text zugrundeliegende Kommunikationssituation und der allein aus dem Text abzuleitenden Bedeutung kann am Beispiel der Behandlung des gleichen Falles in den Zahmen Xenien und im Buch der Sprüche verdeutlicht werden. Goethe kritisiert die Kontroverse zwischen Hammer und Diez als der Sache nicht angemessen und verurteilt zudem die persönliche Rivalität der beiden Gelehrten: 1. West-östlicher Divan (Ausg. H. A. Maier I, 116): Getretner Quark Wird breit, nicht stark. 2. Zahme Xenien V. 1382: Das ist doch nur der alte Dreck, Werdet doch gescheiter! Tretet nicht immer denselben Fleck, So geht doch weiter. Herausgelöst aus seinem Kontext, könnte das Spr.gedieht auch als Sprichwort empfunden werden. Während Goethe in der Fassung der Zahmen Xenien als reale Instanz in einer konkreten Polemik gegenwärtig ist, läßt sich der Sprecher in der Fassung des Buchs der Sprüche nur über Behauptung und Formrede als Instanz ausmachen. G o e t h e , Xenien von 1796. Hg. v. Erich Schmidt u. Bernhard Suphan (1893; SchrGoeGes. 8). Eduard Boas, Schiller u. Goethe im Xenien-Kampf. 2 Bde (1851). R. Alder, Schiller u. Goethe im Xenienkampf. Schweiz. GutenbergMuseum 41 (1955) S. 121-136. R. Samuel, Der kulturelle Hintergrund d. Xenienkampf es. Publ. of the Engl. Goethe-Soc. NS. 12 (1937) S. 19-47, wiederh. in: Samuel, Selected Writings (Melbourne 1965) S. 1-23. — W. D i e t z e , Der 'Walpurgisnachtstraum' in Goethes 'Faust'. PMLA 84 (1969) S. 476-491, wiederh. in: D i e t z e , Erbe u. Gegenwart. Aufsätze z. vgl. Lit.wiss. (1972) S. 501-519. — Wolfgang Preisendanz, Die Spr.form in d. Lyrik d. alten Goethe (1952; Heidelberger Fschgn. 1). Katharina Mommsen, Goethe u. Diez. Quellenuntersuchungen zu Gedichten d. 'Divan'-Epoche (1961; SBAkBln. 1961, 4). Momme Mommsen, Studien zum 'West-östlichen Divan' (1962; SbAkBln. 1962, 1), bes. S. 109-138: Zur Entstehungsgesch. d. 'Buchs d. Sprüche'. H. J. W e i t z , „Prüft das Geschick dich". E. Spr. im 'West-östlichen Divan'. Arcadia 5 (1970) S. 197-198. — G o e t h e , Maximen u. Reflexionen. Hg. v. Max Hecker (1907; SchrGoeGes. 21). Nachtr. in: GJb 29 (1908) S. 178184 (O. Francke) u. 30 (1909) S. 222-230 (M. Hecker). Gerhart Baumann, Maxime u.

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Spruch — Spruchdichtung, mittelhochdeutsche

Reflexion als Stilform bei Goethe (1948). R. B u c h w a l d , Versteckte u. nachgetragene 'Maximen u. Reflexionen'. Mit e. Nackiv. über d. Spr.weisheit Goethes. Goethe 19 (1957) S. 233-239. Wolfgang S c h a d e w a l d t , Goethe, Plutarch u. Sophokles. [Zu Maximen u. Reflexionen, Nr. 1207.] D V L G . 35 (1961) S. 64-68, wiederh. in: Schadewaldt, Goethestudien. Natur u. Altertum (Zürich 1963) S. 159-163.

§ 8. Die große Autorität Goethes läßt im 19. Jh. keine Spr.dichtung von vergleichbarem Rang aufkommen. Die Kanonisierung der Weimarer Klassik verfestigte den von Goethe geprägten literar. Spr.typus, der noch heute in Anthologien und in Kalendern wie Mit Goethe durch das Jahr (seit 1949) kultiviert wird, während die Dichter der Moderne (s. d.) im bewußten Gegensatz dazu journalistischen Kommunikationsformen den Vorzug gaben oder mehr den Aphorismus pflegten. Nach Goethes Tod fehlte in Deutschland eine in gleicher Weise anerkannte literar. Instanz. Von den zahlreichen Autoren, die sich in der Spr.form versuchten (wie Grillparzer, Möricke, Storm, Heyse und C. Flaischlen) gewann nur Fontane unter dem Vorzeichen des Menschlichen' und der ,Altersweisheit' allmählich Autorität. Unter den ,Geflügelten Worten' aus den schnell populär gewordenen und bald zum bürgerlichen ,Hausschatz' gehörenden Bildgeschichten von Wilhelm Busch findet sich mancher .Spruch', der auf Grund seiner vereinfachenden , Moral' und leichten Zitierbarkeit über Generationen lebendig geblieben ist (z. B. aus Die fromme Helene, 1872: „Das Gute — dieser Satz steht fest — / Ist stets das Böse, was man läßt"). In den Poetiken der 70er Jahre (R. v. Gottschall, W. Wackernagel) führte die Abwertung der Altersdichtung Goethes zu einer Geringschätzung der literar. Spr.form. Aber die Spr.tradition blieb ungebrochen wirksam. ,Spruch* und ,Sprichwort' wurden von Bert Brecht neu bewertet, der die Funktion spr.hafter Rede durch Kontrafakturen aufdeckte und ihren Material- wie Gebrauchswert demonstrierte, so schon in der Hauspostille (1927) mit Gedichten wie Lied der verderbten Unschuld beim 'Wäschefalten und Ballade von den Selbsthelfern und noch im Lied von der Großen Kapitulation in Mutter Courage (1939). Doch ebenso früh zeigen sich Ansätze, ,Botschaften' in spr.hafte Rede zu fassen, wie im Gedicht Gegen Verführung in der Haus-

postille (hier in Umkehrung der Sentenz aus Schillers Braut von Messina: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht"). In der Emigration und verstärkt nach seiner Rückkehr nach Deutschland (Herbst 1947) wird Brecht zur Instanz in polit., gesellschaftlichen und künstlerischen Fragen. Neben den sich argumentativ breit entfaltenden Lehrgedichten entstehen — in der Tradition der bayer. Marterl, des Epigramms sowie chines. und japanischer Vorbilder — zahlreiche Kurzgedichte, von denen viele spr.haften Charakter haben (am bekanntesten Auf einen chinesischen Thewurzellöwen und Die Maske des Bösen). Die Buckower Elegien (1953) wie auch andere späte Gedichte (vgl. Gedichte. Bd. 7, 1964) formulieren Lebenserfahrungen und Einsichten, für die allein die spr.hafte Rede der angemessene Ausdruck ist. Thomas O . B r a n d t , Brechts Verhältnis zur Bibel. PMLA 79 (1964) S. 171-176, wiederh. in: Brandt, Die Vieldeutigkeit B. Brechts (1968; Poesie u. Wiss. 10.) Joachim M ü l l e r , Zu einigen späten Spr.gedichten Brechts. Orbis litt. 20 (1965) S. 66-81. A. H i l d e b r a n d t , B. Brechts Alterslyrik. Merkur 20 (1966) S. 952-962. K. S c h u h m a n n , Themen u. Formenwandel in d. späten Lyrik Brechts. Weim. Beitr., Brecht-Sonderh. 1968, S. 39-60. G. P. K n a p p , Welt u. Wirklichkeit. Zur späten Lyrik B. Brechts. Text u. Kritik, Sonderh. Brecht. Bd. 2 (1973) S. 41-53. Peter Paul S c h w a r z , Lyrik u. Zeitgeschichte. Brecht: Gedichte über das Exil u. späte Lyrik (1978; Lit. u. Gesch. 12.)

Klaus Kanzog

Spruchdichtung, mittelhochdeutsche § 1. Vorklärung. H. Schneider unterschied in seinem Artikel für die 1. Auflage des Reallexikons zwischen dem „lyrischen oder Sangspruch", der als Teil der mhd. Lyrik zu gelten habe, und dem „Sprechspruch", der der mhd. didaktischen Poesie zuzuordnen sei. Diese bisher allgemein akzeptierte Unterscheidung hat sich zwar durch ihre klare Abgrenzung für die gattungstheoretische Diskussion des Sangspruchs als sehr fruchtbar erwiesen, nicht aber für den (offenbar in Analogie zum Sangspruch geprägten) Sprechspruch. Denn jener besitzt neben einer histor. Kontinuität über einen längeren Zeitraum ihm eigentümliche inhaltliche und formale Merkmale, dieser

Spruchdichtung, mittelhochdeutsche dagegen nicht. Versteht man nämlich wie Schneider unter Sprechspruch „sprichwörtliche Prägungen, ausgeführte Erörterungen, Fabeln, Novellen lehrhaften Einschlages und pointierter Abrundung" (Reallex. 1. Aufl. Bd. 3, 1928/29, S. 288) in vierhebigen Reimpaaren, dann handelt es sich um eine amorphe Großgattung, deren Texte nur drei gemeinsame Kennzeichen aufweisen: sie sind in Reimpaaren abgefaßt, werden gesprochen und verfolgen eine lehrhafte Absicht. Für eine differenzierte literaturwiss. Betrachtung der mhd. und spätmhd. didaktischen Dichtung ist solche terminologische Zusammenfassung mehrstrophiger lyrischer, epischer und halbepischer Kleinformen wenig hilfreich. Reduziert man andererseits das Textcorpus auf Dichtungen, welche in Ethos und Themenwahl, aber auch von den Sozialdaten der Dichter her deutliche Verwandtschaft zur Sangspruchdichtung zeigen, die gesprochen und nicht gesungen wurden, dann bleiben nur Texte weniger Autoren übrig: im 13. Jh. sind es eigentlich nur die Sinnspruchreihen Freidanks, die aber — wie die Überlieferungsgeschichte zeigt — schon die unmittelbar folgenden Generationen als einen spezifischen Typus betrachteten, und im 14. Jh. die Reimreden des Teichners, für die ähnliches wie für Freidanks Oeuvre gilt, und Suchenwirts. Aus diesen Gründen ist es geboten, hier nur den Sangspruch zu behandeln, da er eine entschiedene gattungsmäßige Ausprägung erfahren hat, für die anderen Texte dagegen, die Schneider ebenfalls unter „Spruchdichtung" subsumierte, auf didaktische Formen wie Sprichwort (s. d.), Bispel (s. d.), Maere (s. d.), rede, mhd. (s. d.), Herolddichtung (s. d.) u. a. zu verweisen oder, sofern es sich um Dichtercorpora sui generis handelt, auf die Dichter selbst. § 2 . Begriff. Herkömmlicherweise teilt man die mhd. Lyrik in drei Gattungen: Liebesbzw. Minnelied, Spruch und Leich. Der Leich, aber auch das Lied, lassen sich ohne größere Schwierigkeiten begrifflich bestimmen; dagegen ist die Definition des Sangspruchs problematisch, denn er besitzt nicht die thematische Geschlossenheit des Liedes oder die klaren formalen Merkmale des Leichs. Vielmehr verbergen sich hinter dieser Bezeichnung thematisch heterogene Texte, die zudem in ihrer überstrophischen Organisation mehrdeutig sind.

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Den Begriff (und seine Bezeichnung) „Spruch" führte K. Simrock in die Literaturwissenschaft ein. Als konstituierendes Merkmal betrachtete er die Vortragsart („mehr recitativ oder parlando vorgetragen"), die Einstrophigkeit und den politischen oder geistlichen Inhalt. Simrocks Begriffsbestimmung besitzt heute nur noch eingeschränkte Geltung. Er beeinflußte aber die weitere Forschung insofern, als er den „Spruch" als Problem der Walther-Philologie betrachtete und ihm damit einen bestimmten historischen Zeitraum zuwies, Fragen der Entstehung und Weiterentwicklung des „Spruchs" hingegen unberücksichtigt ließ. Überblickt man die ganze gattungbildende Textreihe, wie sie sich vor allem in der Manessischen Handschrift (C) und in der Jenaer Liederhandschrift (J) darstellt, und beschränkt man sich auf philologisch unzweideutig ermittelbare Kriterien, ergeben sich für den Sangspruch folgende invariante Elemente, die auch vor und nach Walther konstitutive Geltung haben: a) Der „Spruch" ist gesungene, phische Dichtung.

stro-

b) Seine Strophen besitzen eine relative Geschlossenheit, sind aber auf mehrstrophige Verbände angelegt. c) Er ist in seinem thematischen Kern Weisheitsliteratur, die zum richtigen Verhalten in der Welt anleiten soll. Seine Intention ist Belehrung. Diese Merkmale legen zwar einen weiten (formalen und wirkungsbestimmten) Rahmen fest, gestatten aber (zumal wenn man Gattungen als prozeßhafte Erscheinungen versteht) individuelle oder zeittypische Ausformungen, die über die Reproduktion des Grundmusters hinausgehen. Auf der systematischen Ebene ermöglichen sie eine klare Abgrenzung gegenüber dem Leich und didaktischen, nicht gesungenen Dichtungen in Reimpaaren. Fließend bleibt dagegen die Grenze zum (Minne)lied, das ja ebenfalls einen wesentlichen Teil der höfischen Tugendlehre darstellt. Hier kann man nur zwei brauchbare Unterscheidungsmerkmale registrieren, die aber auch nur spezielle Ausprägungen der Merkmale a-b darstellen und damit als Kriterien für eine Scheidung Lied — Spruch kaum taugen.

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Spruchdichtung, mittelhochdeutsche

1. Das Lied hat jeweils seinen eigenen Ton, im Sangspruch dagegen wird der Ton über die einmalige lyrische Aussage hinaus wiederverwendet. 2. Im Lied schließen sich die Strophen unter dem Generalthema Minne zu größeren Gesätzen (von allerdings unfester Strophenzahl und -folge) zusammen, während der Sangspruch thematisch disparate Strophen zu größeren (manchmal sicher problematischen) Einheiten verbindet. Weitere von der Forschung aufgezeigte Unterscheidungsmerkmale sind weniger überzeugend oder noch nicht genügend durchleuchtet. Das gilt für formale Merkmale wie die metrische Gestaltung des Verses und der Strophe, den Modus der Strophenbindung und die Vortragsart ebenso wie für die überlieferungs- und rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkte. Hier eröffnen sich Bereiche wechselseitiger Abhängigkeit und Beeinflussung, möglicherweise in Verbindung mit Veränderungen der kommunikativen Intentionen. Manche, besonders spätere Autoren, verfassen Töne, in denen sich Lied- und Spruchhaftes völlig durchdringen (Neidhart, der Tannhäuser, besonders aber Konrad v. Würzburg). Ansätze dazu zeigt aber auch schon Walther in seinem Preislied (56, 14). Einzig die noch spärlichen Ergebnisse der Musikwissenschaft versprechen zumindest relative Unterscheidungsmerkmale, denn der Sangspruch folgt offensichtlich rezitativischen Grundprinzipien, während das Minnelied melodiöser gestaltet ist. Dennoch scheint es nicht sinnvoll, Lied und Sangspruch als autonome Gattungen zu verstehen. Man trifft den Kern der Sache wohl am ehesten, wenn man sie als v e r s c h i e d e n e A u s f o r m u n g e n der s a n g baren mhd. s t r o p h i s c h e n L y r i k betrachtet. Zieht man aber über rein philologische Kriterien hinaus auch die soziale Stellung ihrer Träger zur Unterscheidung mit heran, dann zeigt es sich, daß der Minnesang Domäne adeliger Dilettanten ist, der Sangspruch dagegen vor allem von Berufssängern unbestimmter Herkunft gepflegt wurde (vgl. unten § 6). Allerdings gründet eine solche Unterscheidung stärker auf sicherem Wissen um die Herkunft einiger (sicher nicht aller) Minnesänger aus Adel und Ministerialität als auf irgendwelchen verläßlichen Nachrichten über die Standesverhältnisse der Sangspruchdichter.

Daß aber im Laufe des 13. Jh.s auch Sänger, die ursprünglich niht minnesanges wert waren, sich dieses Genres annehmen, bekunden immanente Zeugnisse wie die Polemik des Buwenberges gegen die, die getragene kleider gern (HMS II, 263,3), oder Friedrich von Sonnenburgs Begründung, warum er nicht von Minne singe (HMS II, 355, 13). Uberblicke über die Forschungsdiskussion: H . T e r v o o r e n , „Spruch" u. „Lied", in: Mhd. Spruchdichtung, hg. v. H . Moser (1972; WegedFschg. 154) S. 1-25. Ulrich M ü l l e r , Untersuchungen z. polit. Lyrik d. dt. MA.s (1974; GöppArbGerm. 55/56) S. 11-22. Horst B r u n n e r , Die alten Meister. Studien zu Überlieferung u. Rezeption d. mhd. Sangspruchdichter im späten MA. u. in d. frühen Neuzeit (1975; MTU. 54) S. 1 ff. Nicht nur die Forschung zur mhd. Lyrik hat Schwierigkeiten bei der Klärung gattungssystematischer und gattungsterminologischer Fragen, auch die mlat. und rom. Philologie bemühten sich um diese Probleme; vgl. dazu die problematischen, aber materialreichen Bemerkungen zum Lyrikbegriff in der mlat. Lit. bei Josef S z ö v e r f f y {Weltliche Dichtungen d. lat. MA.s. E. Handbuch. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Karolingerzeit, 1970, S. 27-95) und zum trobadoresken Gattungssystem Dietmar R i e g e r (Gattungen u. Gattungsbezeichnungen d. Trobadorlyrik, 1976; ZfromPh., Beih. 148).

§ 3. T e r m i n o l o g i e . Simrocks Benennung dieser Lyrik ist seit langem als eine „der ärgsten Unzulänglichkeiten unserer literarhistor. Terminologie" empfunden worden (H. Schneider, Reallex. 1. Aufl. Bd. 3, S. 287), da sich mit der Benennung „Spruch" Konnotationen an gesprochene, knappe, pointierte Dichtung gnomischer Art verbinden. Die neuere Forschung versuchte, diese Assoziationen abzuschwächen, indem sie weitere Definitionsmerkmale der Gattung in ihre Bezeichnung einbezog (Liedspruch, Spruchgedicht, lyrischer Spruch, Sangspruch) oder funktionale Bezeichnungen wählte (wie polit. Lied, Gebrauchslyrik). Ein weiterer Mangel der Bezeichnung „Spruch" besteht darin, daß er nicht dem hoch-mal. Gebrauch entspricht. Die mal. Autoren (auch Walther, dessen Sprachgebrauch Simrock zu folgen glaubte), nennen ihre lyrischen Produkte liet, sanc, aber auch rede und später getiht, gleichgültig, ob sie Minnelyrik oder Sangspruchlyrik meinen. Schärfer umrissene Gattungsbezeichnungen klageliet, trügeliet, lügeliet, twincliet, schimpfliet, lobeliet, rüeg- oder scheltliet,

Spruchdichtung, mittelhochdeutsche zügeliet, tanzliet u. a. überliefert eine Spottstrophe Reinmars des Fiedlers ( = Kl.D. I, 355) und eine lat. Predigt des 13. Jh.s (ZfdA. 34 [1890] S. 213-218 und 46 [1902] S. 93-101); da sie nur hier belegt sind, möglicherweise also nur fakultative Gattungsbezeichnungen sind, kann man über ihren Gebrauch in Theorie und Praxis der mhd. Sänger wenig sagen. Erst für die Dichtungen späterer Autoren (etwa für die des Teichners) gebrauchen auch die Hss den Terminus Spruch. Man sollte aber die terminologischen Fragen nicht überbewerten. Da „Spruch" sich traditionell als Bezeichnung für einen Teil der mhd. strophischen Lyrik durchgesetzt hat, empfiehlt es sich nicht, ohne N o t von ihm abzugehen. Nimmt man ihm noch durch den Zusatz „Sang" die Konnotation an gesprochene Dichtung (wie es H . Schneider, Reallex. 1. Aufl. Bd. 3, S. 288 vorschlug und wie es sich in neueren Arbeiten durchzusetzen scheint), dann ist mit „Sangspruch" ein Terminus gefunden, der an die herkömmliche Fachterminologie anschließt und zugleich systematische Belange berücksichtigt. Zu mhd. Gattungsbezeichnungen: Hugo Kuhn, Gattungsprobleme d. mhd. Lit. SBAkMünchen 1956, 4; wiederabgedr. in: Kuhn, Dichtung und Welt im MA. (2. Aufl. 1969) S. 41-61. H. Tervooren, Einzelstrophe oder Strophenbindung? Untersuchungen z. Lyrik d. Jenaer Hs. Diss. Bonn 1966, S. 102-109. Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien z. Erkenntnis s. Individualität (1958; Probleme d. Dichtung 3) S. 63-66. Johannes Kibelka, der wäre meister. Denkstile u. Bauformen in d. Dichtung Heinrichs v. Mügeln (1963; PhilStQuell. 13) S. 219-237. Hugo Moser, Einleitung zu: Mhd. Spruchdichtung, hg. v. H. Moser (1972; WegedFschg. 154) S. IX-XIII. § 4. T h e m e n und D a r b i e t u n g s f o r m e n . Die Themen der Sangspruchdichtung sind zunächst wenigstens schichtenspezifisch und sprechen ein adliges Publikum an. Sie erwachsen aus der Diskussion sozialer Tugenden (wie staete, triuwe, zuht, milte, vriuntschaft, minne), christlicher Glaubenslehre und allgemeiner Weisheitslehre. Eine Gliederung der stofflichen Vielfalt ist nicht einfach und läßt sich noch am ehesten aus der Art ableiten, in der die Themen erörtert werden. Man kann unterscheiden: I . Subjektiv engagierte Strophen und Lieder mit persönlicher, politisch-sozialer, religiöser Problematik (Lob und Tadel für Gönner,

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Kollegen und anderes fahrendes Volk; Kritik an politischen, kirchlichen und sozialen Zuständen; Preis Gottes und Marias). 2. Objektiv gehaltene, lehrhafte Strophen und Lieder mit gleicher Grundthematik (allgemeine Lebensweisheit, spezielles Wissen naturwissenschaftlicher Art, Kunsttheorie, Beleuchtung politischer Zustände, gereimte (Laien)theologie, Erzählungen von biblischen, legendären und sonstigen religiösen Geschehnissen). Da kollektive und persönliche Erfahrung nicht immer zu trennen sind, wird es im individuellen Sangspruch öfter zu Überschneidungen kommen (besonders bei der Gebetslyrik, die zwar formal das persönliche Gebet in der 2. Person kennt, von ihrem „Sitz im Leben" her aber gemeinschaftsbezogen ist). Diese Einteilung spiegelt auch die Einstellung des Autors zu seinem Publikum und seine Wirkungsintention: Im ersten Falle sucht der Autor (bzw. das lyrische Ich) unmittelbaren Kontakt und direkte Umsetzung der Lehre in Handlung. Der Appell und stärker emotional bestimmtes Sprechen sind für den Stil dieser Strophen charakteristisch. Im anderen Fall tritt der Autor nicht persönlich hervor. E r kleidet sein Anliegen in Formen, die aus sich selbst wirken, wie bispel, Fabel, Exempel und Rätsel. Hermann Schneider, in: Reallex. 1. Aufl. Bd. 3 (1928/29), S. 289. Gustav R o e t h e , Reinmars von Zweier Gedichte (1887) S. 186-257. Karl Stackmann (s. o.) S. 47-50 u. ö. Hugo Moser, Minnesang u. Spruchdichtungt Uber die Arten hochmal. dt. Lyrik. Euph. 50 (1956) S. 370-387. Ders., Die hochmal. dt. ,Spruchdichtung' als übernationale u. nationale Erscheinung. ZfdPh 76 (1957) S. 241-268; beide wiederabgedr. in: Mhd. Spruchdichtung, hg. v. H. Moser (1972; WegedFschg. 154). Helmut de B o o r , Die dt. Lit. im späten MA. (3. Aufl. 1967; de Boor-Newald. 3, 1) S. 422-460. J. Kibelka, Linguistische Überlegungen zu Typen d. Spruchdichtung, in: Studien z. dt. Lit. u. Sprache d. MA.s Festschr. f. Hugo Moser z. 65. Geb. (1974) S. 216-227. Im Zusammenwirken von Stoff, der Art seiner Darbietung und seiner sprachlich-stilistischen Gestaltung entwickeln sich gattungsähnliche Spielformen, denen man auch eine gewisse historische Kontinuität nicht absprechen kann. H . Moser nennt (in Anlehnung an mhd. Terminologien) folgende Formen: g n o m i s c h - d i d a k t i s c h e L y r i k , L o b - und T a d e l d i c h t u n g (Preisdichtung, Totenklage, Rügelyrik, Spottlyrik, zeitpolitische Dichtung), G e b e t s l y r i k , S c h e r z l y r i k , w e s e n t -

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Spruchdichtung, mittelhochdeutsche

l i e h s u b j e k t i v g e s t i m m t e L y r i k (Bittlyrik, persönliche Erfahrungslyrik). Ob es sich bei diesen Spielformen um „lyrische Arten" handelt, wie Moser meint, bedarf noch weiterer Untersuchungen. Es ist nicht sicher, ob eine vergleichende (diachrone und synchrone) Formanalyse genügend dominante bzw. distinktive Merkmale erbringt, die es gestatten, auf diesem Wege die gesamte mhd. Sangspruchdichtung in Untergattungen zu gliedern, selbst wenn man von der Ebene des realen Gebrauchs ausgeht. Zumal in der praktischen Analyse dieser Arten werden sich Schwierigkeiten ergeben, da 1. die Untergattungen — wie Moser sie bringt — sich selten auf überstrophische Einheiten beziehen lassen, die Existenzform der mhd. Sangspruchdichtung aber sicherlich in mehrstrophigen (gelegentlich variablen) Gesätzen besteht, 2. da man die einzelnen Sangsprüche oft unter verschiedenen gattungsmäßigen Aspekten fassen kann und manche Arten des obigen Systems andere, die in Mosers Systematik gleichwertig sind, in sich einschließen, also keine selbständige Funktion haben. Neben den oben genannten Arbeiten Mosers vgl. Peter Nowak, Studien zu Gehalten u. Formen mhd. Gebetslyrik d. 13.Jh.s. Diss. Bonn 1975. Rainer Illgner, Scheltstrophen in d. mhd. „Spruchdichtung" nach Walther. Diss. Bonn 1976. § 5. F o r m . Man nimmt an, daß sich Minnelied und Sangspruch zunächst formal recht nahe standen (wenige einfache, meist vierhebige Verse mit Paarreim und Waisen), sich aber im Laufe der Zeit in verschiedene Richtungen entwickelten: Das Lied zur leichten filigranhaften Form, der Sangspruch zu ausladenden schweren Prachtstrophen. Diese Entwicklung muß aber gemeinsam mit einer gegenläufigen betrachtet werden: Zumindest seit Walther gilt für den Sangspruch ebenso wie für das Minnelied die Kanzonenform, welche anstelle der zweiteiligen Form eine dreiteilige (zwei Stollen, ein Abgesang) setzt, d. h. auch der Sangspruch fühlt sich h ö f i s c h e n Traditionen verpflichtet. Es sind eben n i c h t die Sangspruchdichter, die nach 1220 auf volkstümliche Traditionen zurückgreifen, wie sie in den Tanz- und Gesprächsliedern des spätstaufischen Dichterkreises faßbar werden, sondern adelige Dilettanten. Im einzelnen treten als formale Kennzeichen des Sangspruchs auf: Mehr und längere Zeilen ohne starke Differenzen in der Hebigkeit, weniger kunstvolle und variationsreiche Reimbindungen, größere Freiheiten in der Versfügung. Auch tritt die Musik für die Gestal-

tung des Verses zurück. Diese Merkmale bedürfen jedoch noch einer genauen Uberprüfung, lediglich zur Verseingangsgestaltung liegen bisher detaillierte Ergebnisse vor. Sie bestätigen, daß der Sangspruch im Gegensatz zum Lied meist einen (durchgehenden) Auftakt hat. Ein Vergleich der Strophenformen aus Des Minnesangs Frühling und der Jenaer Liederhandschrift (wie er jetzt durch Toubers Kompendium mhd. Strophenformen möglich ist) bestätigt weiter, daß in der Regel die Zahl und Länge der Zeilen von Sangsprüchen aus J die der Minnelieder übertrifft (er bestätigt aber zugleich, daß auch der Sangspruch einfache und leichte Formen kennt und das Minnelied schwere und prächtige). Im Hinblick auf die Reimbindungen haben erste Untersuchungen keine größeren Unterschiede aufgedeckt, jedoch könnten umfangreichere Untersuchungen bestätigen, daß bestimmte Reimschemata dem Sangspruch bzw. dem Lied vorbehalten sind. Das Kriterium der größeren Füllungsfreiheit geht jedoch von metrischen Voraussetzungen aus, die heute (auch für die Minnedichtung) nicht mehr allgemein anerkannt werden. Es kann allerdings nicht geleugnet werden, daß die Strophe der Sangspruchlyrik stärker als die des Minneliedes inhaklich einen pointierten Schluß anstrebt. Dieses Bauprinzip, das man sicherlich nicht losgelöst von der Vortragssituation und Wirkungsabsicht sehen darf, ist in den polit. Strophen Walthers am stärksten ausgeprägt; später wird es (außer in der Priamel, wo es zur innern Form gehört) immer weniger angewandt. Daß auch der Sangspruch in der Regel mehrstrophig ist, dürfte seit Maurers Buch zu Walthers politischen Liedern (1954) trotz erwägenswerter Einwände seiner Rezensenten sicher sein, zumindest dann, wenn die Gattung insgesamt und nicht nur die (möglicherweise zufällige) Überlieferung e i n e s Dichters zur Diskussion steht. Der Klärung bedürfen allerdings noch die Art und der Umfang der Mehrstrophigkeit. Dabei gilt es zu beachten, daß zum einen die Einheit eines mal. Liedes — und dies trifft für die mhd. Lyrik ebenso zu wie für die mlat., provenzalische und altfranzösische — weniger durch logische gedankliche Abfolge erreicht wird, als vielmehr durch eine heute fremd anmutende formale Tektonik, zum anderen mal. ästhetisches Empfinden vom Lied keine strenge Geschlossenheit verlangt. Im Minnesang wie in der Sangspruchdichtung

Spruchdichtung, mittelhochdeutsche ist die Strophe anfangs relativ selbständig (daß mehrere Strophen in einem Vortrag zusammengestellt waren, dürfte aber wohl der Fall gewesen sein). Die Strophe des Minneliedes verlor aber, begünstigt durch die Einheit des Themas, schneller ihre inhaltliche Eigenständigkeit als die Strophe der Sangspruchlyrik, so daß an die Stelle der additiven Folge (im Vortrag) eine sukzessive (und damit stärker festgelegte) trat und die Strophe so nicht nur metrisch-musikalisch, sondern auch inhaltlich im Lied integriert wurde. (Daß aber auch im Minnesang die Strophe einen gewissen Eigenwert nicht verloren hat, zeigen allein schon die seit ihren Anfängen umstrittenen philologischen Interpretationsversuche mhd. Minnelyrik.) In der Sangspruchdichtung wirkt die ursprüngliche Selbständigkeit länger und in größerem Maße nach, da die Voraussetzung der inhaltlichen Liedeinheit durch die Disparatheit der Themen, aber auch durch die Bindung der Strophe an aktuelle Ereignisse erschwert war. Aber schon bei Herger und vollends bei Walther beobachtet man Strophen, die sich um ein übergeordnetes Thema gruppieren; sie bekommen durch die Integration im Ton eine neue Wirkungsmöglichkeit. Ob es sich bei diesen Strophen um grundsätzlich andere Einheiten handelt als im Minnelied oder ob dieser Eindruck nur entsteht, weil moderne Interpreten die vorausgesetzte Situation, die spezifischen Absichten des Vortragenden und die Erwartungen bzw. Prädispositionen der Hörer nicht mehr zu rekonstruieren vermögen, muß zunächst offenbleiben. Ein auch für heutiges ästhetisches Empfinden nachvollziehbares Erklärungsmodell bieten Vortragsformen des Couplets oder volkstümliche Formen wie das Gstanzel. Jedenfalls sind es — nicht nur auf Grund der Tonidentität — wesentlich andere Einheiten als Vortragszyklen oder gar Halbachs Zyklen aus Strophen verschiedener Töne. Die Unsicherheit, die sich aus dem uns unbekannten Ablauf der Kommunikation zwischen Vortragenden und Publikum ergibt, belastet auch die Diskussion um die variablen (okkasionellen) Strophenverbände in der Sangspruchlyrik. Da die Uberlieferung der mhd. Sangspruchdichtung sehr schmal ist, kann in vielen Fällen nur eine zureichende Situationsbeschreibung weiterführen, die freilich (auch wegen des Mangels an histor. Quellenmaterial) nur selten geleistet werden kann. Daß aber

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mhd. Sänger ihre Strophen zu verschiedenen Gelegenheiten umgruppierten und zu neuen wirkungsträchtigen Einheiten zusammenstellten, sollte nicht mehr bezweifelt werden. Daniel Roch er, Critères formels et différence spirituelle du ,Spruch' et du ,Lied' chez Walther v. d. Vogelweide, in: Mélange pour Jean Fourquet (1969) S. 305-322. Christa u. Gerd-Dieter Peschel, Zur Reimbindung in drei- und mehrzelligen Stollen in Lied und Sangspruchdichtung d. 12. u. 13. Jh.s. Formen mal. Lit. Siegfried Beyschlag z. 65. Geb. (1970; GöppArbGerm. 25) S. 131-147. Gerhard A. Vogt, Studien zur Verseingangsgestaltung in der dt. Lyrik d. Hochmittelalters (1974; GöppArbGerm. 118). Anthonius H. To über, Dt. Strophenformen d. MA. s (1974; Repertorien z. dt. Lit.gesch. 6). Erdmute Pickerodt-Uthleb, Die Jenaer Liederhandschrift. Metr. u. mus. Untersuchungen (1975; GöppArbGerm. 99). E. Jammers, Grundheg r i f f e d. altdt. Versordnung. ZfdA. 92 (1963) S. 241-248. Ders., Ausgew. Melodien d. Minnesangs (1963; AdtTextbibl., Erg.-R. 1) S. 80-84. Ders., Anmerkungen zur Musik Wizlaws v. Rügen. Quellenstudien zur Musik. Wolfgang Schmieder z. 70. Geb. (1972) S. 103-114. H. Brunner (s. o.) S. 224ff. — Zum Problem der variablen Einheiten: K. H. Halbach, Waltherstudien II. Festschr. für Wolfg. Stammler (1953) S. 45-65. Friedr. Maurer, Die polit. Lieder Walthers von der Vogelweide (1954; 3. Aufl. 1972). H. Moser, 'spräche' oder 'polit. Lieder' Walthers. Euph. 52 (1958) S. 229-246. Ders., 'Lied' u. 'Spruch' in d. hochmal. dt. Dichtung. WirkWort 3, Sonderh. (1961) S. 82-97. K. Ruh, Mhd. Spruchdichtung als gattungsgeschichtliches Problem. DVLG. 42 (1968) S. 309-324; wiederabgedr. in: Mhd. Spruchdichtung, hg. v. H. Moser (1972; WegedFschg. 154) S. 205-226. H. Tervooren, Einzelstrophe (s. o.). Ders., Doppelfassungen bei Spervogel, zugleich e. Beitr. zur Kenntnis der Hs.J. ZfdA. 99 (1970) S. 163-177. Eberhard L ä m m e r t, Reimsprecherkunst im Spätma. (1970) S. 14-108. § 6. Die D i c h t e r . Abgesehen von Walther entziehen sich die meisten Sangspruchdichter mangels verfügbarer biographischer Daten einer Beschreibung als histor. Individuen. Die (wenigen) Informationen zur Sozialstruktur der höfischen Gesellschaft und der frühen Stadtkultur aber ergeben zumindest Hinweise auf den T y p des Spruchdichters und seine soziale Stellung. Obwohl die Sangspruchdichtung ihr Publikum an weltlichen und geistlichen Höfen sowie im städtischen Patriziat findet, stellt der Adel nur einen kleinen Teil der Dichter (dazu

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gehören möglicherweise Ulrich von Singenberg, Hermann der Dame und Reinmar von Zweter. Sicherheit ist aber auf diesem Gebiet nicht zu erlangen: selbst die adlige Herkunft des Dichters Wizlaws von Rügen ist bestritten worden). Die meisten Sänger, die den Sangspruch pflegten, waren lohnabhängige Berufsdichter unbestimmter Herkunft, die mit wenigen Ausnahmen (z. B. Gottfried von Straßburg, Konrad von Würzburg, vielleicht auch der Kanzler) die meiste Zeit ihres Wirkens die Lebensweise der varende diet (spilliute, vagi, histriones, ioculatores) führten. Ihre soziale Stellung ist labil: Sie stehen außerhalb der Rechtsordnung (vgl. etwa den Sachsenspiegel, hg. v. K. A. Eckhardt I, 38, § 1; III, 45, § 9; 46). Auch die Kirche (oder zumindest Gruppen in der Kirche) begegnet ihnen — nicht immer ganz uneigennützig — mit Mißtrauen und jahrhundertealten Vorurteilen (vgl. etwa die bekannte Stelle bei Berthold von Regensburg, hg. v. F. Pfeiffer, Bd. I, S. 155f. und als Beispiel für die Reaktion eines fahrenden Sängers Friedrich von Sonnenburg HMS II, 353f, 7-11). Der Status des Fahrenden schlägt sich in der Namensgebung nieder (vgl. etwa Helleviur, Singüf, Rümslant, der Unverzagte, Frauenlob u. a. im Gegensatz zum Namenstyp Heinrich von Morungen, Dietmar von Aist), er prägt aber vor allem das Selbstverständnis dieser Dichter. Sie bekennen sich zwar zu dieser Lebensform, verstehen sich jedoch zugleich als eine eigene herausgehobene Gruppe, die sich von der großen Menge der vagierenden Unterhaltungskünstler durch ihre kunst absetzt: es sind durchaus „gelehrte" Leute, und manche von ihnen, wie etwa der Marner, haben sicherlich eine geistliche Ausbildung genossen. Ihre kunst stammt von Gott und gründet in der wisheit. Dies verbürgt äußerste Könnerschaft und befähigt, das Publikum in anspruchsvoller Weise zu unterhalten und zur Wahrheit zu führen. Dieses Vermögen (in ihrer Terminologie: die meisterschaft) ersetzt aber auch (zumindest deutet ihr Verhalten darauf hin) die fehlende ständische Legitimation. Vorstellungen von der Emanzipation der Kunst klingen hier ebenso an wie der Begriff des Tugendadels, den auch die Antike kannte und den die Vaganten, Troubadours und Trouveres schon 100 Jahre früher propagierten. Mangelnde Kunst ist für diese Literaten darum nicht nur künstlerisches, sondern auch

moralisches Versagen und nimmt ihnen die Rechtfertigung, als lerer aller guoten dinge und rätgebe aller tugent (HMS III, 103 b, 4) vor ein höfisches Publikum zu treten. Die Sänger mußten daher sowohl um moralische wie um künstlerische Reputation bemüht sein, wollten sie im Konkurrenzkampf bestehen. Bruno B o e s c h , Die Kunstanschauung in d. mhd. Dichtung von d. Blütezeit bis zum Meistergesang (Bern 1936). Karl S t a c k m a n n (s. o.) S. 78-108 u. ö. Walter S a l m e n , Der fahrende Musiker im europ. MA. (1960; Die Musik im alten u. neuen Europa 4). H . de B o o r (s. o.) S. 409ff. E. L ä m m e r t (s. o.) S. 109-182. Kurt F r a n z , Studien zur Soziologie d. Spruchdichters in Deutschland im späten 13. Jh. (1974; GöppArbGerm. 111). Joachim B u m k e , Ministerialität H. Ritterdichtung. Umrisse d. Forschung (1976).

§ 7. Entwicklungsgeschichte. Vor Walther von der Vogelweide ist kaum Sangspruchdichtung überliefert: Außer den 28 Strophen Hergers, die aber bereits (mit Ausnahme der polit. Strophe) das ganze Spektrum dieses literar. Genres zeigen, gibt es nur vereinzelte anonyme Strophen gnomisch-didaktischen Inhalts. Möglicherweise kann man hier die .Idsteiner Sprüche der Väter' hinstellen. Die namenlosen Strophen aus Des Minnesangs Frühling (MF Namenlos I-V) darf man aber mit einiger Sicherheit zum Sangspruch zählen. Darauf weisen die bisher nicht beachteten Neumen in der Handschrift cgm. 5249/42 a. Hinzu kommen einige Strophen, die sich im lyrischen Werk einiger Minnedichter aus Des Minnesangs Frühling finden: Veldeke (X und etwas Minnedidaktik), Hausen (XVI), Rugge (V), die Reinmar zugeschriebene, aber doch wohl jüngere Priamel (Reinmar LXIII) und das „Lügenlied" Berngers von Horheim (Horheim II); dann etwas Minnereflexion und schließlich Reinmars und Hartmanns Totenklagen (Reinmar XVI, Hartmann XVI). Auch Spervogel, ein begabter Priameldichter, der ebenfalls in Des Minnesangs Frühling Aufnahme fand, gehört möglicherweise noch ins 12. Jh. Etwas rätselhaft ist eine unter Bliggers Namen überlieferte ausladende Strophe (Bligger III), da sie in Stolles ,Alment', einer der beliebtesten Strophenformen der späten Sangspruchdichtung, abgefaßt ist. All diese Strophen bringen Lebenslehre, religiöse Didaxe, Klage über das (persönliche) harte Leben des Fahrenden und Gönnerlob, oft reduziert auf Sprichwort oder Lehrsatz, gelegentlich schon pointiert, in epi-

Spruchdichtung, mittelhochdeutsche grammatischer Zuspitzung. Fabel und Priamel als Einkleidung werden schon benutzt. Formal sind sie (bis auf Reinmars und Hartmanns Totenklagen, die Strophen Bliggers und Berngers) recht einfach gebaut. Mit Walther von der Vogelweide erfährt die Gattung ihre exemplarische Ausprägung: Er führt zwar Traditionen fort, gibt aber dem Sangspruch neue Themen und Impulse, indem er — wie die Lyriker in mittellat., altfranz. und provenzal. Sprache vor ihm — die polit. Umwälzungen der Zeit in seine Dichtung hereinnimmt und den Sangspruch (nicht ganz uneigennützig und wohl auch mit Überschätzung seiner polit. Möglichkeiten) zu einem polit. Kampfmittel umformt. Dieser Walther hat immer im Blickpunkt des wissenschaftlichen Interesses gestanden. Man sollte jedoch nicht vergessen, daß er darüber hinaus das übliche Repertoire der Sangspruchdichtung pflegte und auch solche Strophen verfaßte, die späteren Dichtern dieses Genres als „nackte Bettelpoesie" angekreidet wurden. Er hat es sicherlich geschickter und kunstfertiger „gemacht", aber er muß deshalb nicht auch notwendig aus einem anderen Ethos heraus seine Lieder geschrieben haben. Die nachfolgenden Generationen schätzen ihren polit. Einfluß zwar geringer ein, gehen aber Bahnen, die Walther vorgezeichnet hat. Dabei verschieben sich einige Akzente. Die polit. Kritik bleibt im Repertoire, erschöpft sich jedoch oft in Klagen über schlechte Regierung. Entsprechend den sich wandelnden polit. Umständen verlagert sich aber das Interesse von der Reichspolitik auf territoriale oder lokale Ereignisse. Die Hauptmasse der Sangsprüche in der nachwaltherschen Zeit konzentriert sich jedoch auf die gattungstypische Tugendlehre. Aus individueller Sicht polit. und sozialer Zustände, die sich in der pointierten Strophe Walthers neue Ausdrucksformen erschlossen hatte, werden standardisierte, meist konservative Wertungen, persönliches Engagement wandelt sich zu allgemeiner Lehre, sentimentaler laudatio temporis acti und eifernder Betrachtung. Auch gewinnen die geistlich-religiösen Themen an Raum. Von Verödung sollte man dennoch nicht sprechen. Zwar sind es nur wenige und allgemein bekannte Themen, aber die wechselnde Einkleidung und die gekonnte Handhabung der gattungsähnlichen Spielformen bewirken durchaus den Eindruck von Abwechslung und

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Vielfalt. Ähnlich doppelgesichtig sind die Verhältnisse auf formalem Gebiet. An Walthers Strophik gemessen breitet sich größere Eintönigkeit aus: die meisten Dichter pflegen nur noch wenige Strophenformen; diese sind aber oft bis ins Kleinste durchgeformt und zeugen von hohem artistisch-handwerklichem Können (vgl. etwa Marners „langen Ton", den „Prunkton" Hermanns der Dame oder den goldenen Ton Frauenlobs). Eine wertende Überschau, die den Sangspruchdichtern nach Walther ihren Platz in der Geschichte des Sangspruchs anweist, ist beim Stand der heutigen Forschung noch nicht möglich. Denn nur wenige Sänger haben bisher ihren Biographen gefunden (und werden deswegen möglicherweise überschätzt; so Bruder Wernher und Reinmar von Zweter und neuerdings der Meissner), andere sind noch zu wenig bekannt (Rumslant von Sachsen, Friedrich von Sonnenburg, aber auch Frauenlob und vollends die kleineren Dichter, deren Wert man nur in einem Gesamtüberblick ermessen könnte). Auch erschwert die thematische und stilistische Gleichmäßigkeit ein Urtheil, so daß die meisten Dichter weniger durch die ausgesparten als durch die benutzten Textelemente Profil gewinnen. Geographisch gesehen sind es zunächst die Höfe und Städte des dt. Südwestens, die den Sangspruch pflegen. Hier wirken Walthers Lieder auch am intensivsten nach (Bruder Wernher, Ulrich von Singenberg und Leuthold von Seven gelten als seine unmittelbaren Schüler). Sein Vorbild ist auch darin greifbar, daß fast alle oberdt. „Spruchdichter" neben dem Sangspruch Minnelieder verfaßten. In diesem Zusammenhang sind zu nennen: Marner, Friedrich von Sonnenburg, der Schulmeister von Esslingen, der wilde Alexander und nicht zuletzt Konrad von Würzburg. Um die Mitte des 13 Jh.s verlagern sich die Zentren des Sangspruchs in den böhmischen Raum und an die Höfe des Ostens und des Nordens (zumindest zeichnet die Uberlieferung dieses Bild). Schärfer umrissene Individualitäten sind Reinmar von Zweter, der Meissner, Rumslant von Sachsen und vor allem der gelehrte Heinrich von Meissen, genannt Frauenlob. Seine dunklen und preziösen Strophen gelten als Krönung und Abschluß des Sangspruchs. Er ist, wiewohl kein Neuerer, einer der fruchtbarsten und bewundertsten Meister dieses Genres geworden. Das Bild ist

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schon seit Herger eines der wichtigsten Stilmittel des Sangspruchs (nicht nur als Mittel poetischer Veranschaulichung, sondern auch als Träger der significatio, der bezeichnunge Verweis auf die eigentliche Wirklichkeit), aber erst Frauenlob mit seiner überquellenden Fülle von Bildern zeigt die ganzen Möglichkeiten dieser ausdrucksvollen Figur uneigentlichen Sprechens. Er gilt als Meister des geblümten Stils, einer Stilform, die schon Konrad von Würzburg und andere vor ihm pflegten, die aber durch sein Vorbild zu einer der bedeutendsten künstlerischen Ausdrucksformen der Lyrik des späten MA.s wurde. In neuerer Zeit möchte man auch die meister des 14. und 15 Jh.s zur Sangspruchdichtung zählen - und das mit gewissem Recht. Denn die Lieder dieser Meister bilden durchaus eine historische Reihe mit denen Reinmars und Frauenlobs, wenn man - wie oben - den Sangspruch als literar. Erscheinung mit Mitteln des Literaturhistorikers beschreibt. Allerdings wird man bei diesen Überlegungen folgendes beachten müssen: 1. Von der Sangspruchdichtung des 14. Jh.s ist nicht sehr viel überliefert (neben Heinrich von Mügeln eigentlich nur die Strophen aus den Liederhandschriften H und R [ = cod. pal. germ 350]), und dies wenige ist, abgesehen von den Arbeiten zu Mügeln, noch nicht gründlich untersucht. 2. Die Themenvielfalt reduziert sich, geistliche Stoffe dominieren; die Strophenformen schwellen auf, die Verse werden gleichförmiger (die Kolmarer Liederhandschrift etwa kennt nur noch auftaktige alternierende Verse). 3. Die Produktion und Rezeption steht unter anderen Bedingungen: Im literar. Schaffen ist das Lied nur noch eines der gepflegten Genres (vgl. etwa Heinrich von Mügeln oder Michael Beheim), und der (fahrende) Berufssänger wird von seßhaften Handwerkern, die in Singschulen nach festen Regeln dichten, abgelöst. Alle diese Fragen, besonders die Frage nach den Gründen für die entscheidenden Veränderungen der Gattung im 14. und 15. Jh., bedürfen aber noch eingehender Untersuchungen und werden letztlich wohl nur in einer noch zu schreibenden umfassenden Geschichte des Sangspruchs zu entscheiden sein. Literatur (in Auswahl): Die Lit. zur Sangspruchdichtung ist, sofern sie nicht unmittelbar Walther von der Vogelweide betrifft, dürftig und zum Teil veraltet. Dies gilt jedoch nicht für Roethes Reinmar-Ausgabe, deren Studium auch

heute noch für jeden, der sich mit Sangspruchdichtung beschäftigt, unerläßliche Voraussetzung ist. Erst in neuerer Zeit wächst das Interesse. Zeugnis dafür sind neben der oben dokumentierten Diskussion um Maurers These über Walthers „politische Lieder" die Monographien bzw. Editionen von Blank, Brunner, Kibelka, Lämmert, U. Müller, Objartel, Stackmann, Tervooren und Wachinger, die z. T. schon oben zu Teilaspekten zitiert wurden, die aber darüber hinaus zu vielen anderen Fragestellungen herangezogen werden müssen. Im folgenden ist Lit. aufgenommen, soweit sie oben noch nicht erwähnt und für die Gattung als Ganzes bzw. für formale, stoffliche, motivische und gattungsmäßige Teilaspekte von Bedeutung ist. Lit. zu den einzelnen Dichtern ist in der Regel ausgespart. Ausgenommen sind nur einige Ausgaben, die durch ihren Kommentar wesentlich zur Kenntnis der Spruchdichtung beigetragen haben. Die wichtigsten Quellen: Die Jenaer Liederhs. (In Lichtdr.) hg. v. Karl Konrad Müller (1896). In Abb. hg. v. Helmut T e r v o o r e n u. Ulrich Müller (1972; Litterae 10). In diplomat. Abdr. hg. v. Georg H o l z , Franz Saran u. Eduard B e r n o u l l i . 2 Bde (1901; Nachdr. 1966). FaksAusg. ihrer Melodien hg. v. Friedr. G e n n r i c h (1963; Summa musicae medii aevi 11). [J überliefert vor allem die mittel- u. niederdt. Dichter] - Die Manessische Liederhs. hg. v. Rudolf Sillib, Friedr. Panzer u. Arthur H a s e l o f f . Einl. u. Tafelbd. (1925-1929). In Abb. hg. v. Ulrich Müller (1971; Litterae 1). In getreuem Textabdr. hg. v. Friedr. Pfaff (1909). [C enthält vor allem Spervogel, Herger, Walther, Marner u. a. obd. Sangspruchdichter.] Mhd. Spruchdichtung, früher Meistersang. Der Codex Palatinus Germanicus 350 d. Univ. Bibl. Heidelberg (1974; Facsimilia Heidelbergensia 3) Bd. 1: Faks.; Bd. 2: Einf. u. Komm. v. Walter B l a n k ; Bd. 3: Beschreibung d. Hs u. Transkription v. Günter u. Gisela K o c h e n d ö r f e r (vgl. dazu B. W a c h i n ger, AnzfdA. 87, 1976, S. 186-198). — Die Kolmarer Liederhs. d. Bayer. Staatsbihl. München (cgm. 4997). In Abb. hg. v. Ulrich M ü l l e r , Franz Viktor Spechtler u. Horst B r u n n e r (1976; Litterae 35). Faks.-Ausg. ihrer Melodien hg. v. Friedr. G e n n r i c h (1967; Summa musicae medii aevi 18). Ausgaben: Eine zuverlässige moderne Sammelausgabe der Sangspruchdichtung gibt es nicht. Man arbeitet heute noch (sofern für Dichter keine Einzelausgaben wie für Waither, Bruder Wernher, Reinmar, den Meissner, Frauenlob und einige kleinere Autoren vorliegen) mit folgenden Sammelausgaben: Minnesinger. Dt. Liederdichter d. 12., 13. «. 14. Jh.s, hg. v. Friedr. Heinr. von der Hagen. 4 Bde (1838; Nachdr. 1963), wegen ihrer Vollständigkeit noch unersetzlich. Die religiösen Dichtungen d. 11. u. 12. Jh.s. Nach ihren Formen

Spruchdichtung, mittelhochdeutsche — Staatsroman besprochen u. hg. v. Friedr. Maurer, Bd. 1, 1964 (für die 'Idsteiner Sprüche'). Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung d. Ausgaben v. Karl Lachmann, Moritz Haupt, Friedr. Vogt u. Carl von Kraus neu bearb. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren (1977), für den Sangspruch vor Walther. Die Schweizer Minnesänger, hg. v. Karl Bartsch (1886; Nachdr. 1964). Dt. Liederdichter d. 12.-14. Jh.s, hg v. Karl B a r t s c h , 4. Aufl. v. Wolfgang Golther (1906; Nachdr. 1966). Dt. Liederdichter d. 13. Jh.s, hg. v. Carl v. Kraus, bearb. v. Hugo Kuhn. 2 Bde (1952-1958). Mittelalter. Texte u. Zeugnisse, hg. v. Helmut de Boor. 2 Bde (1965; Die dt. Lit. 1,1 u. 1,2). Meisterlieder d. Kolmarer Hs., hg. v. Karl Bartsch (1862; BiblLitV. 68; Nachdr. 1962). Polit. Lyrik d. dt. MA.s. Texte, 2 Bde, hg. v. Ulrich Müller (1972/74; GöppArbGerm. 68 u. 84). Ausgaben von Melodien: Ausgewählte Melodien d. Minnesangs. Erl. u. Ubertr. v. Ewald Jammers (1963; AdtTextbibl., Erg.-R.l). Dt. Lieder d. MA.s von Walther v. d. Vogelweide bis zum Lochamer Liederbuch. Texte u. Melodien, hg. v. Hugo Moser u. Joseph Müller-Blattau (1968). The Art of the Minnesinger, Songs of the 13th Century, ed. by Ronald J. T a y l o r 2 Bde (Cardiff 1968). Einzeluntersuchungen: Gustav Roethe (Hg.), Die Gedichte Reinmars von Zweier (1887). Philipp Strauch (Hg.), Der Mamer (1876; QF. 14; Nachdr. 1965). Anton E. Schönbach, Beiträge zur Erklärung altdt. Dichterwerke. Bd. 3 u. 4: Die Sprüche des Bruder Wernher (1904; SBAkWien 148 u. 150). Georg Ob jartel, Der Meissner d. Jenaer Liederhs. Untersuchungen, Ausg., Kommentar (1977; PhilStQuell. 85). Burghart Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung d. 13. Jh.s (1973; MTU 42). Udo Gerdes, Bruder Wernher. Beiträge zur Deutung s. Sprüche (1973; GöppArbGerm. 97). Martin Behrendt, Zeitklage u. laudatio temporis acti in d. mhd. Lyrik (1935; GermSt. 166). Herta G e n t , Die mhd. polit. Lyrik (1938; Deutschkundl. Arb. 13). A. Schmidt, Die polit. Spruchdichtung. E. soziale Erscheinung d. 13. Jh.s. Wolfram-Jb. 3 (1954) S. 43-109. Manfred S c h o l z , Der Wandel d. Reichsidee in d. nachwaltherischen Spruchdichtung. (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1951. Fritz Loewenthal, Studien z. german. Rätsel (1914; Germanist. Arb. 1). Burghart Wachinger, Rätsel, Frage u. Allegorie im MA., in: Werk Typ - Situation. Hugo Kuhn zum 60. Geb., hg. v. I. Glier u. a. (1969) S. 137-160. Karl Euling, Das Priamel bis Hans Rosenplüt. Studien zur Volkspoesie (1905; Germanist. Abh. 25). Paul Sparmberg, Zur Gesch. d. Fabelin d. mhd. Spruchdichtung (1918). Helmut de B o o r , Über Fabel u. Bispel. SBAkMünchen 1966, 1. Joachim T e s c h ner, Das bispel in d. mhd. Spruchdichtung d. 12. u. 13. Jh.s. Diss. Bonn 1965. Heidlinde Ritters-

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Helmut Tervooren

Staatsroman § 1. D e r G e g e n s t a n d . a. E p i s c h e F o r m u n d u t o p i s c h e r A u f t r a g . Die aus der Antike überlieferten Texte, die dem Begriff St. gemeinhin untergeordnet werden (vgl. Wilpert, Sachwörterbuch d. Lit., seit 1955, Rehm in: Reallexikon 1. Aufl. Bd. 3, 1828/29, S. 293-296), zeigen bereits deutlich all jene Züge, welche die Literaturgeschichtsschreibung bisher behinderten, das stimmige Bild einer ganzen Gattung samt klar umrissenen Entwicklungsfeldern zu entwerfen. Von X e n o p h o n s Kyrupädie sagte schon C i c e r o , das ganze Buch sei „non ad historiae fidem scriptus, sed ad effigiem iusti imperii" (Ep. ad Quint. 1/1,8). Das Werk wird damit von den, Anliegen der Geschichtsschreibung abgegrenzt und dem Bereich des Fiktionalen zugeordnet, der sich als Konstruktion vergangener muster-

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hafter polit. Zustände (iustum Imperium) vor dem leicht einsehbaren Hintergrund bekannter histor. Tatsachen erhebt. Damit soll ein Beispiel gegeben werden ( e f f i g i e s ) , das die empirischen gegenwärtigen polit. Verhältnisse in ihrer ganzen Mangelhaftigkeit unter dem Licht des Idealtyps der Vergangenheit erscheinen läßt. Die belehrende Absicht der Kyrupädie wird durch den Bezug zu V e r g a n g e n e m verwirklicht. In eine andere Richtung zielt P i a t o n s Politeia. Hier ist das Bild des Staates, in dem die Philosophen Könige sein sollen, nicht als etwas entworfen, das es schon einmal gegeben hat. Es erscheint vielmehr als eine im Gespräch geborene Alternative zu vorhandenen Staatsformen, als Produkt freien dialektischen Spiels, das es erst zu verwirklichen gilt. Der Beginn zu dieser Verwirklichung wäre eine tiefgreifende Änderung des sozialen Wertverhaltens der Menschen: denn der Ausgangspunkt des von Sokrates in Form der Ich-Erinnerung berichteten Gesprächs ist eine Erörterung über die wahre Gerechtigkeit, und das Ende weist den Zweck des ganzen Entwurfes aus, als „der Kenntnis nachzuspüren, gute und schlechte Lebensweise zu unterscheiden" (618c). Die Politeia — und im fachspezifischeren und daher abgeschwächteren Sinn wohl auch die Nomoi — weisen auf das gedankliche Konstrukt hin, das durch bewußt angestrebte ethische Veränderung des Menschen Z u k u n f t werden kann.

Wird ein solches Denkmodell auf dem Gebiete der Staatstheorie und der Gesellschaftsorganisation entworfen, wobei als eigentlich Utopisches etwa die ideologischen Forderungen nach Freiheit oder Gerechtigkeit etc. in Verwirklichung gezeigt werden sollen, und wird es in eine Romanfabel gekleidet, dann kann von einem S t a a t s r o m a n gesprochen werden. Die reichen Strukturierungsmöglichkeiten der Romanform in Fabelführung und Zeitgerüst scheinen für die Gestaltung von Staats- und Gesellschaftsutopien besonders geeignet zu sein. Diese Eignung ist seit der Ausbildung der modernen Romantheorie in zweifacher Hinsicht beschrieben und als Krise der Wirklichkeitsrezeption erlebt worden.

Einerseits enthält der Begriff des Fiktionalen im Roman seit der Poetik der Aufklärung eine durchaus utopische Komponente. Sie äußert sich in der Aufsprengung des tradierten Mimesisbegriffes durch die Dialektik von Wahrscheinlichem und Wunderbarem. Dieses letztere wird durch Einbeziehung in den Bereich des Möglichen rational zugänglich gemacht. So wird die Geschichte in die Romanfabel mit einbezogen, da der Begriff des Wahrscheinlichen die möglichen anderen Welten der poetischen Fiktion mit einschloß. L e i b n i z hatte schon in seiner ontologischen Qualitätsunterscheidung zwischen der wirklich existierenden und daher besten Welt und den nur möglichen, d. h. schlechteren Welten das Verhältnis der Romanfabel zur Realität vergleichend herangezogen: Das besondere Verhältnis zur Zeit, das beide „Cependant on ne sauroit nier que romans, Werke in ganz verschiedener Richtung aufcomme ce de Mlle. de Scudery, ou comme weisen, entspringt einer existentiellen menschlichen Grundhaltung, die sich als die u t o p i s ch e l'Octavia, ne soyent possibles" (Essais de Theodicee II. § 173). In Leibnizens Nachfolge bezeichnen läßt. Sie beruht auf der Frage nach hat W o l f f den Wertunterschied zwischen den der Art geschichtlicher Realität und ihrer überwirklichen und den möglichen Welten verprüfbaren Veränderbarkeit durch das Denken, das sie überschreitet. Utopie läßt sich als dunkelt, indem er die potentiell möglichen Denkmodell beschreiben, das aus geschichts- Welten in ihrer Bedeutung aufwertete, je philosophischen und sozialethischen Anstößen weniger sich die wirkliche als die tatsächlich entsteht und einer dem menschlichen Glücks- beste herausstellte. Die epische Fabel als Ausdruck von Wahrscheinlichkeit erhält daund Sicherheitsverlangen nicht genügenden durch als gleichwertiges Gegenstück zur empirischen Gegenwart entgegengesetzt wird. empirischen Realität die Funktion einer noch Wesentlich dabei ist das Uberschreiten eben nicht verwirklichten Möglichkeit. Wolff zieht dieser Gegenwart durch ein völlig anderes Arrangement ihrer Erfahrungselemente und in diesem utopischen Sinn wieder die Frage die Entscheidung, an die Verwirklichung des nach dem Roman in seine Metaphysik hinein Modells zu glauben — wodurch die Hoffnung und sagt von ihm ausdrücklich, „daß dasjenige als Richtungsgeber des Handelns zum vor- was noch fehlet, ehe es würcklich werden kann, wärtstreibenden Prinzip menschlicher Ge- außer dieser Welt zu suchen" sei, „nehmlich in einem anderen Zusammenhange der Dinge" schichte wird (E. Bloch).

Staatsroman {Metaphysik, § 571). Diesen „anderen Zusammenhang" herzustellen, ist nun Aufgabe des Romanciers, dessen künstlerische Leistung darin besteht, das Staunen Erregende, nie Dagewesene dieses anderen Zusammenhangs als das eigentlich Wunderbare mit dem Wahrscheinlichen einer möglichen Welt zu koordinieren. Auch B o d m e r hat barocke Staatsromane „vor Exempel von einer Geschichte aus irgendeiner möglichen Welt angeführt, welches [. . .] zu sagen scheint, daß in diesen Wercken alle erforderliche Wahrscheinlichkeit enthalten sey" (Critische Betrachtungen über die poetischen Gemähide der Dichter, 1751, S. 551). Damit wird dem Dichter eine gottähnliche Fähigkeit zugesprochen, das in der realen Welt noch nicht Verwirklichte auszusagen (vgl. den Gedanken des second maker bei S h a f t e s b u r y ) und diese reale Welt so einer noch nicht vorhandenen Vollkommenheit zuzuführen. Seither ist die utopische Intention grundsätzlich aus der Romantheorie nicht auszuschließen gewesen. Anderseits äußerte sich im Utopischen auch die Emanzipation des Individuums von heteronomen Wertvorstellungen, wodurch Reflexion auf Geschichtliches überhaupt erst möglich gemacht wurde. Schon ab dem 18. Jh. führt ein schmerzlich empfundener Abstand zwischen der Individualität und ihren tatsächlichen Verwirklichungsmöglichkeiten in der Gesellschaft zu einem Verlust des Identitätsbewußtseins und zum Versuch, dieses durch die programmatische Erzählfabel wiederzugewinnen. Diese kann nun den Weg beschreiben, den das Individuum zur Harmonie mit der Gesellschaft zurückzulegen hat. Doch erfolgt diese Rückgewinnung der Identität entweder nur in der Beschneidung der Verwirklichungsansprüche und der Resignation oder durch die Projektion polit. und ökonomischer Gruppenbereiche, in denen solche Verwirklichungsansprüche erfüllt werden können (z. B. die Turm-Gesellschaft in G o e t h e s Wilhelm Meister). Insofern hat auch der Entwurf des Bildungsund Entwicklungsromans utopische Ausrichtung, ohne deswegen notwendig Staatsroman zu sein. Daß unter den oben skizzierten philosophischen und soziologischen Voraussetzungen die Gattung St. besondere Verbindungen mit Geschichts- und Naturwissenschaft einging, nimmt nicht Wunder. Aus beiden Wissenschaften wurden die Elemente gewonnen,

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welche die jeweilige Romanfabel unter dem wirkungsästhetischen Eindruck des Möglichen und als Werkzeug polit. Überredung erscheinen ließen. Freilich drängte die Entwicklung der Naturwissenschaften den St. bald in andere Funktionen als die der Gestaltung einer Idealstruktur menschlicher Sozietät. Als eine solche tritt der h i s t o r i s c h e St. hervor, der an der historisch belegten, stets vergangenen Staatsform oder Fürstenpersönlichkeit die verbesserungswürdigen Seiten gegenwärtigen Staatswesens zeigt. Der didaktische Anspruch verwirklicht sich hier durch die Stilisierung der Vergangenheit, die stets mit dem Wertsystem der Gegenwart ausgestattet wird. Diese erscheint auf diese Weise als Degenerationsprodukt einer großen Vergangenheit. Diese feststehende Idealstruktur einer Staats- und Gesellschaftsordnung wird aber zersprengt und zu einem Leitbild des menschlichen Handelns im u t o p i s c h e n St. Seine Realitätsbegegnung ist nicht retrospektiv-episch, sondern der Versuch, die Gegenwart nach ihren sozialen und naturwissenschaftlichen Möglichkeiten auszuloten. Aus einer solchen „exercise mental sur les possibles latéraux" (R. Ruyer) erheben sich prognostisch ausgerichtete Entwürfe von Gemeinwesen, die auf Grund technischen und moralischen Fortschritts säkularisierte Paradiese verkörpern. Hält die moralisch-soziale Prognose mit der technisch-naturwissenschaftlichen nicht Schritt, so wird ein Schreckensbild entworfen. Wird der negativ empfundene Zwiespalt zwischen staatsrechtlichem Ideal und der unvollkommenen Gegenwart durch ein groteskes, negatives Gegenbild aufgehoben, etwa in der Karikatur durch Tier-, Monster- oder Sternwelten, so ist die satirische A b a r t des Sts. gegeben. Schließlich kann noch beim epischen Entwurf einer solchen erhofften Welt die staatsund sozialwissenschaftliche Thematik wegfallen und einfach einem Wunschbild der Lebensbewältigung durch Technik weichen. Dessen Inhalt reicht dann von Alltagsveränderung, Ersatz alter Gruselwirkungen durch technische und fiktive biologische Monstrosität bis zum bloßen Abenteuer in unerschlossenen Räumen. Diese Atom-, Flug- und Weltraumgeschichten, die rein unterhaltenden Charakter tragen, reichen über das Gebiet des Sts. hinaus und werden gemeinhin unter dem Begriff Science F i c t i o n (s. d.) zusammengefaßt.

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b. F o r s c h u n g s l a g e . Der Begriff St. entstammt der bürgerlich-liberalen Staatswissenschaft des 19. Jh.s. R. v. M o h l führte den Begriff erstmals in seiner Abhandlung Die Staats-Romane, ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Staats-Wissenschaften (in: Zs. für die ges. Staatswissenschaft Jg. 1845/Bd. 2) ein, wobei es ihm in erster Linie um die Inhalte ging: Er wollte die bis dahin unter dem deutlich pejorativen Vorzeichen des Romans geführte Gattung für die Staatswissenschaft nutzbar machen. Mit Berichtigungen von E. G. G u r a u e r nahm M o h l seinen Beitrag in die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften auf. Schon dabei gab es methodologische Schwierigkeiten mit der utopischen Komponente bei der kategorialen Einordnung. M o h l unterschied zwischen „freigeschaffenen staatlichen [. . .] Zuständen" und den „Idealisierungen bestehender Einrichtungen", seine Nachfolger differenzierten bloß dieses grundsätzliche Einteilungsprinzip (Friedr. K l e i n w ä c h t e r , Der Staatsroman, Wien 1891; Andreas V o i g t , Die sozialen Utopien, 5 Vorträge, 1911). Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes von 1890 wurde die Diskussion über Utopien und Staatsromane besonders aktuell, wozu die Darstellung von F. E n g e l s , Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1891) und von K. K a u t s k y , Thomas Morus und seine Utopie (1887) und Vorläufer des neueren Sozialismus (1895) beitrugen. Diesen älteren Darstellungen sind zwei Aspekte gemeinsam: einmal die Abwertung des St.s als einer bloß halbliterar. Gattung, die man vom Standpunkt eines bürgerlich-repräsentativen Dichtungsbegriffs her als didaktische Zweckform nicht mit dem autonomen Werkbegriff zur Deckung bringen konnte; ein andermal die deutlich pejorative Sinngebung des Utopiebegriffs, die sich vor dem ideengeschichtlichen Hintergrund des zweiten Kaiserreichs mit seinen Begriffen der Realpolitik und der exakten Naturwissenschaften erklären läßt. In diesem Rahmen bewegt sich auch der Argumentationsgang der Arbeiten von J . P. Prys und W.-D. M ü l l e r : Sie verharren in der traditionellen Terminologie, welche Utopie und St. grundsätzlich synonym setzt, und kommen über den Stand einer Materialsammlung nicht hinaus. Auch diejenigen älteren Dissertationen, die sich mit dem Utopischen beschäftigen, wie die Arbeit von W. V o l k über die

Entdeckung Tahitis und das Wunschbild der seligen Insel in der deutschen Literatur (1934), vollbrachten dies ausschließlich im Sinne inhaltlicher Kriterien. Die Darstellung W. R e h m s in der ersten Auflage des Reallexikons schloß sich den älteren Arbeiten an: für Rehm sind St. und Utopie noch synonyme Begriffe. Allerdings hat gerade er in einer späteren Arbeit das Utopische als ein den inhaltlichen Bereich des St.s überschreitendes menschliches Denkgesetz erkannt, das sich grundsätzlich im Epischen ausdrücken könne (für Stifters Nachsommer, in: Rehm, Nachsommer. Zur Deutung von Stifters Dichtung, 1951). Im Gegensatz zu G. L u k ä c s, der in seiner Romantheorie die Möglichkeit utopischer Epik bestritten hatte, betonte H. Althaus immer wieder die Bedeutung, die der Utopie „namentlich im Bildungsroman der Klassik und Romantik zukommt" (G. Lukäcs oder Bürgerlichkeit als Vorschule einer Marxistischen Ästhetik, 1962). Dahinter steht die Rezeption philosophischer Ansätze, die im utopischen Denken ein spezifisches Kennzeichen menschlicher Schöpferkraft und Geschichtsbewältigung erblickten; E. B l o c h ging davon aus, den Begriff des Sollens aus der Kantischen Ethik ins Geschichtliche zu projizieren. Im Gegensatz zu H e g e l , der Begriff und Realität in der Idee vereinigte, steht für Bloch das Utopische als immerwährender Anreiz zur Veränderung der empirischen Realität gegenüber. Er bezeichnet jede Art von kultureller Antizipation als Trägerin des Traums vom besseren Leben: „Geist der Utopie ist im letzten Prädikat jeder großen Aussage, im Straßburger Münster und in der Göttlichen Komödie [. . .]" (Das Prinzip Hoffnung, Frankf./M„ 1959, S. 180). Auch P. T i l l i c h baute auf Kantischen Prinzipien auf: seine Antinomie von Essenz und Existenz mache es dem Menschen möglich, sein Sein ständig zu transzendieren. Das Wesen der Utopie spricht T i l l i c h als die Vorstellung eines Zustandes an, in dem das Negative menschlicher Existenz negiert werde (Die politische Bedeutung der Utopie im Lehen der Völker, 1951). Die bedeutendsten Beiträge zum Wesen des Utopischen kamen freilich aus der S o z i o l o gie: K. M a n n h e i m s — auch umstrittener — Utopiebegriff ist im Grundsätzlichen politisch. Durch das Kriterium der Verwirkli-

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chung trennt er Ideologie von Utopie und bezeichnet die erstere als „verdeckende Vorstellungen [. . .] über einer gewesenen oder aufstrebenden Lebensordnung", der zweiteren dagegen gelinge es, „die bestehende historische Seinswirklichkeit durch Gegenwirkung in der Richtung der eigenen Vorstellung zu transformieren" (Ideologie und Utopie, 1929, S. 177f.). Für Mannheim ist das Utopische, als seinstranszendierendes Element im Denken menschlicher politischer Kollektive, immer durch bestimmte histor. Entwicklungsstufen definiert. Gerade auf Grund dieser zeitlichen und anthropologischen Gebundenheit kann es verwirklicht werden. Dadurch konstituiert Mannheim das Utopische als eine geschichtsmächtige Eigenschaft des Menschen schlechthin. Auch F. L. P o l a k sah in der menschlichen Fähigkeit, Wunschbilder zu entwerfen, die geistige Entwicklungsbasis jeder wie immer gearteten Zivilisation. Menschliches Dasein ist nach Polak definiert durch das Uberschreiten der jeweiligen geschichtlichen Stufe im Bewußtsein. Damit ist eine neue Prognose des Handelns gegeben. Polak sagt vom Menschen daher bündig: „He has no choice but to dream or to die". (The Image of the Future, vol. I, 1961 S. 453).

stand der Entwicklung sind in allen berühmten Staatsentwürfen der Weltliteratur zu sehen, welche diese Paradoxe vom utopischen Denken selbst empfingen (Die politische Insel, 1936). R. R u y e r unterschied zwischen einem genre utopique in der Romanliteratur, das von einem mode utopique, einem Veränderungsdenken, umschlossen werde. M. S c h w o n k e sah in der Säkularisation des utopischen Denkens den Grund für die allmähliche Wandlung des älteren St.s zur technischen Utopie und zur Science fiction (s. d.) A. J . K r y s m a n s k i dagegen analysierte in deutlichem Abstand zu S c h w o n k e s geistesgeschichtlicher Methode acht deutsche utopische Romane, um an ihnen eine .utopische Methode' zu zeigen, welche „spielerische Möglichkeiten einer Kultur analysiert [. . .] und dieser [. . .] Richtungsimpulse geben kann" (Die utopische Methode, 1963. S. 141). Schließlich hat K. R e i c h e r t in seinem Forschungsbericht über Utopie und Staatsroman (DVLG. 39, 1965) die beiden Begriffe als kongruent gefaßt, den Schwerpunkt aber auf die philosophisch-geistesgeschichdiche Deduktion des Utopischen aus der vorhandenen Forschungsliteratur gelegt.

A. D ö r e n dagegen versuchte mitreligionsg e s c h i c h t l i c h e n Perspektiven den Zusammenhang zwischen dem Deismus der Aufklärung und dem Fortschrittsgedanken herzustellen. Er sah im Säkularisationsprozeß des 18. und 19. Jh.s den Grund, daß die Projektion menschlicher Heilssehnsüchte in weit entfernte Räume einer größeren Erfüllungsgewißheit in der Zeit gewichen war. Damit stehen der menschlichen Entwicklungsmöglichkeit in der fortschreitenden Zeit alle Chancen offen und die Gedankenentwürfe des utopischen Romans enthalten seither die Bedeutung des Künftigen.

a. E s c h a t o l o g i e und F o r t s c h r i t t . Da der St. in allen seinen Arten durchaus Äußerung utopischer Haltung ist, scheint es angemessen, seine Geschichte durch die geistigen und sozialen Entwicklungsfelder der europäischen Kulturepochen hindurch zu verfolgen. Dabei wird keine systematische Unterteilung in Arten durchgeführt, da gerade das unmittelbar gegebene politisch-didaktische Engagement der Gattung seine ästhetischen Ausdrucksmittel aus der Verflochtenheit in die jeweilige soziale Lage bezog. Im M i t t e l a l t e r fehlt zwar der St., doch keineswegs Ansätze zu utopischer Haltung. Sie sind schon im Geschichtsdenken Augustins zu spüren, in dem die Weltgeschichte im Widerspiel zwischen der auf Kain und seine Sünde zurückgehenden civitas terrena und der von Abel und seinem Gottesopfer begründeten civitas Dei repräsentiert wird. Den eigentlichen Ubergang von Eschatologie zur Utopie kann man aus der Geschichtsdeutung J o a c h i m s von F i o r e ablesen. Sein Epochenbild durchbricht die katholische Eschatologie mit ihrer Endzeiterwartung, da er von der Zukunft nicht nur das Weltende erwartet, sondern vorher ein

Seit diesen Forschungen konnte die von der älteren Lit. vorgenommene Gleichsetzung von St. und Utopie nicht mehr stimmig scheinen. Utopie ist nun immer der geschichtsphilosophische Oberbegriff einer menschlichen Grundhaltung, als deren eine Realisation unter anderen der St. erscheint. H. F r e y e r sah dem utopischen dichterischen Staatsentwurf die Widersprüche utopischer Haltung deutlich anhaften: die Inselhaftigkeit, die fast stets fehlende Schilderung der Realisation und der in der erreichten Utopie stattgefundene Still-

§ 2. D i e G e s c h i c h t e des S t a a t s r o m a n s .

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abschließendes reales Entwicklungsstadium, nämlich das Zeitalter des Mönchstums und des Hl. Geistes, in welchem die Kontemplativen herrschen und die Erfüllung der Bergpredigt bringen werden. Die Bruderschaft des Geistes, die mehr einem Wunschbild als einem politischtheologischen Plan gleicht, hat Joachim im Liber figurarum als Dispositio novi ordinis pertinens ad tertium statum beschrieben. E. Benz hat überzeugend dargelegt, daß dieses Erfüllungsbewußtsein des franziskanischen Spiritualismus zum Begründer des Geschichtsdenkens der Renaissance geworden ist (vgl. E. Benz, Ecclesia spiritualis, 1934). Die ganze humanistische Bewegung zeigt als eine ihrer Zielsetzungen den Drang zu gesellschaftlicher Erneuerung durch Restituierung eines erstarkten „römischen" Herrschertums (Cola di Rienzo und Petrarca vor Karl IV. in Prag). In dieselbe Richtung gehen auch die Versuche, Nationalgeschichte als einen Weg zu deuten, der aus den Kulturdenkmälern und Taten der Vergangenheit in die Erneuerung der Gegenwart führen sollte (Italia illustrata des Flavio Biondo und der gleiche Plan des C. Celtis einer Germania illustrata). Als Träger dieser Bestrebungen, die als utopisch-politisch angesehen werden müssen, waren die humanistischen Akademien gedacht, in denen sich das platonische Vorbild mit einer Art säkularisierten Mönchstums zur Idee einer pädagogisch und politisch wirkenden Elite zusammenschloß. Die Humanistensodalität, gedacht als eine den Kampf der Menschheit um Wissen und Erleuchtung ausfechtende Turba phüosophorum, findet sich andeutungsweise als inhaltliches und formal bestimmendes Element in den bekanntesten utopischen St.en der Renaissance, nämlich in der für die philosophische Problematik der ganzen Gattung konstitutiven Utopia (1516) des Th. Morus und der Civitas solis (1620) des T. Campanella. Ihnen steht als restaurativer Entwurf eines Idealtyps Macchiavellis II Principe (1513) gegenüber, der als eine Art Handbuch der polit. Ethik die Hauptprobleme der meisten Fürstenspiegel des 17. und 18. Jh.s vorwegnahm. Wie sehr der Akademiengedanke des Humanismus Produkt utopischen Denkens war, zeigt die New Atlantis (1628) des Francis B a c o n , die auf die Gründung der Royal Society eingewirkt hat (vgl. H. Minkowski, Die Neu-Atlantis des Francis Bacon, 1936). Ein Zeugnis für den Säkularisationsprozeß, den die

christliche Eschatologie in Richtung auf sozialutopische Ideen durchmachte, kann in der Reipublicae Christianopolitanae descriptio (1619) des J . V. Andreae erblickt werden. Andreae kannte das Werk Campanellas im Manuskript und stellte ihm ein nach protestantischem Ethos geordnetes Gemeinwesen gegenüber. Grimmelshausen hat wohl bei seiner Schilderung eines christlich sozialen Idealstaates, die er im 19. Kapitel des 5. Buches des Simplizissimus gibt, auf Andreaes Entwurf oder auf einen ähnlichen zurückgegriffen. Im selben Überlieferungsstrang stehen Antonio Francesco Doni I mondi celesti, terrestri e infernali degli academici Pellegrini (1552/53, 2 Bde) und die satirisch gemeinte deutschsprachige Schilderung Ophirischer Staat [. . .] (1699, anonym). b. Im Zeichen der Aufklärung. Die Diskussion um das naturwissenschaftliche Weltbild, das durch Kepler, Kopernikus und Galilei begründet und ausgebaut worden war, sowie die großen Entdeckungsreisen der seefahrenden Nationen gaben dem satirischen St. neue Motive und Landschaftskulissen. Seereisen und Kenntnis ferner Inselreiche lieferten die Schauplätze, um die als unvollkommen erfahrene Gesellschaft des höfischen Barockabsolutismus und die Welt der religiösen Gegensätze durch Verzerrung ins Negative aufzuheben oder ihr einen unverdorbenen Naturzustand entgegenzusetzen. Dies geschah in La terre australe connue par Jaques Sadeur (1676) des G. de Foigny und in der Histoire des Sevarambes (1677) von D. VairasseAllais. Besonders geeignet für satirische Staatsdarstellungen war das Motiv der Mondfahrt, das durch die Fortschritte der Astronomie und der klassischen Physik bis zum Ende des 18. Jh.s immer neuen Auftrieb bekam: der Mondmensch ließ sich sowohl im Rahmen eines technisch vervollkommneten Leitbildes der Zukunft als auch in der Perspektive der Karikatur der herrschenden Zustände zeigen. Doch weisen die Romane dieser Richtung neben sehr ernst gemeinten staatstheoretischen und naturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen ebenso auf Unterhaltung gerichtete Züge auf. Ihr wirkungsästhetisches Moment lag für die Zeitgenossen sicher im Anreiz, den die Verbindung beider Haltungen bot. Vielgelesene Werke dieser Richtung waren F. Godwins The Man in the

Staatsroman Moon (1638) und die von ihm beeinflußten Mondreiseschilderungen Cyrano de Bergeracs : L'autre monde ou les états et empires de la lune (1656) und die Histoire comique des états et empires du soleil (1662). Vor allem wurden derlei Romane immer wieder dazu benützt, um das von der kath. Kirche verteufelte kopernikanische Weltbild unter dem Deckmantel der Unterhaltung zu verteidigen, wie es z. B. bei J. Wilkins The Discovery of a New World (1640) geschieht. Unter dem Einfluß der Spekulation über das Vorhandensein anderer von vernünftigen Wesen bewohnten Welten (z. B. F o n t e n e l l e , Entretiens sur la pluralité des mondes, 1686; E. Chr. K i n d e r m a n n , Die geschwinde Reise auf dem Luftschiff nach der oberen Mondswelt, 1744; E. S w e d e n b o r g , Von den Erdkörpern der Planeten und des gestirnten Himmels Einwohnern; aus dem lat. Original 1771 übersetzt) entwickelte sich durch das Überhandnehmen reiner Unterhaltungselemente schon im 18. Jh. eine Art der ScienceF i c t i o n - L i t e r a t u r , die durch den Verzicht auf die Darstellung oder Kritik sozialer und staatstheoretischer Ideen — vielleicht mit Ausnahme von Voltaires Micromegas (1752) — nicht mehr zum St. gezählt werden kann (besonders die unter dem Eindruck der Ballonflugversuche der Brüder Montgolfier entstandenen Romane wie z. B. Rétif de la Bret o n n e : La découverte australe par un homme volant [. . .], 1781 und vorher schon M. A. de R o u m i e r : Voyages de Milord Céton dans les sept planètes, 1765). .Doch eröffnete gerade das Reisemotiv wieder den Weg in Räume, in denen Staatsmodelle angesiedelt werden konnten: die Robinsonade wurde unter einem merklich geänderten, vom Pietismus und vom Naturrecht geprägten Sozialgefühl zum Schlüssel für die Zuflucht vor einer unvernünftigen und aus den Fugen gehenden Welt. Den Rahmen des bloß unterhaltenden Reiseabenteuers durchbrach schon Das Land der Zufriedenheit von Ph. B. L i n o l d - S c h ü t z . Auf der Basis der Robinsonaden entwarf auch J. G. Schnabel seinen idealen Staat auf der Insel Felsenburg (eigentl. Wunderliche Fata einiger Seefahrer, 1742). Das Buch ist St. insofern, als es das Werden eines Gemeinwesens auf einer abgeschlossenen Insel zum Idealtyp einer auf Toleranz und sozialem Mitgefühl gegründeten Gesellschaftsordnung erzählt. Utopisch ist es,

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da es gerade den Faktor als Anstoß zu dieser Schöpfung herausarbeitet, der im RobinsonAbenteuer als eine das soziale Wertverhalten des Menschen ändernde Möglichkeit verborgen lag. Nicht Bewährung und der Lohn der Tugend sollen gezeigt werden, sondern der Bau und die Verteidigung eines Asyls in einer Welt der Intrige und brutalen Nachstellung (F. Brüggemann). Die Entwicklung des Naturrechts und die Frage nach der Stellung des Fürsten zur Kirche ließ nach dem Vorbilde X e n o p h o n s und Macchiavellis den histor. St. wieder aufleben. Die Historisierung des Verhältnisses zwischen Fürsten und Volk, das nicht mehr gottgegeben schien, sondern unter den Klauseln eines Rechtsvertrags zwischen ursprünglich gleichartigen und daher auch gleichberechtigten Partnern rational erfaßt werden konnte, machte die Frage nach Erziehung und Beschaffenheit des „besten Monarchen" zum Mittelpunkt und zur Voraussetzung für den besten Staat. Beantwortet wurde diese Frage von biographischen Fürstenspiegeln, die sich einer quellenmäßig belegbaren konkreten histor. Zeit und einer realen geographischen Umwelt bedienten. Beides wurde geradezu als Verkleidung unmittelbarer Gegenwartsprobleme benützt. Sehr oft wurden diese histor. St.e der Aufklärung strukturell, in Fabelablauf und Zeitgerüst, durch die Stationen einer Reiseschilderung gegliedert. Diese stellte sich meist als Kavalierstour dar: der junge Fürst bereist fremde Reiche oder besucht befreundete Nachbarkönige, um die Gestaltungsmöglichkeiten menschlicher Gesellschaftsordnung kennenzulernen und durch die gemachten Beobachtungen und Erfahrungen reif für die eigene Regierung zu werden. Galt der geographisch historische Schlüssel schon für J. Barclays Argenis (1621; ins Dt. übersetzt von M. Opitz 1626), so gaben sich die berühmtesten und auch beim dt. Publikum meist-gelesenen franz. histor. St.e als pädagogisch-didaktische Reiseschilderungen (voyages extraordinaires), die neben Staatszuständen dem Leser auch pittoreske Darstellungen vergangener Kulturen vor Augen führten. Angeführt wurde dieser Reigen von Fénélons Télémaque (1698), der den idealen Staat im 10. und 12. Buch beschreibt. Dann folgten Reisen ins alte Persien, nach Ägypten und Byzanz in Les voyages de Cyrus (1727) von Ramsay, im Sethos (1732) von T e r r a s s o n und in Mar-

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m o n t e l s Bélisaire (1767). Unter ihrem Vorbild stand J . G. W. v. J u s t i mit seinem dt. Psammitichius (1759). Die bedeutendsten Vertreter des histor. St.s in Deutschland waren aber Chr. M. Wieland und A. v. H a l l e r . In Hallers drei histor. St.en zeigt sich die Gattung in geradezu idealtypischer Erscheinungsform. Von der Forschung vernachlässigt (noch immer gültig die älteren Arbeiten von M. Widmann und A. Frey), zeigten sie bereits den Zeitgenossen stilistische Dürre und einen Aufbau, in dem alles unter den Zweck ethischer Lehrhaftigkeit gestellt ist und in dem der polit. Traktat die eigendich epischen Teile regiert und überwuchert. Das Epische erscheint als exemplifizierende Illustration der Thesen des Verfassers. Diese umschreiben die drei einzigen Möglichkeiten staatlicher Organisation mit den Beispielen der Tyrannis im Usong (1771), der konstitutionellen Monarchie in Alfred (1773) und der Republik in Fabius und Cato (1774). Besonders im letzten Buch setzte sich Haller mit dem Utopismus Rousseaus auseinander und stellt dessen Gleichheitsideal polemisch einen konservativen Staat gegenüber, „in welchem die Gesetze eines jeden Bürgers Haab und Blut versichern, wo keine Gewalt ungeahndet bleibt. Die Herrschaft des Volkes ist wesentlich der Sitz der Aufruhren [. . . ] " (S. 220). Haller stützte sich bei dieser Darstellung auf die klimatische Milieutheorie Montesquieus, daß nämlich tropische Länder die Despotie, Gebiete der gemäßigten Zone Monarchie und Republik und die kalten Länder die Anarchie hervorbrächten. Hallers St.e zeigen mit ihrem gänzlichen Mangel an Psychologie und dem Überwiegen von theoretischer Diskussion und Allegorie deutlich die schwankende Zwischenstellung der ganzen Gattung. Der aktuelle Bezug wird dadurch gewahrt, daß sich der Usong mit Joseph II. und Friedrich II. auseinandersetzt, der Alfred mit Montesquieus Verherrlichung der englischen Verfassung und Fabius und Cato mit dem contrat social. Im Gegensatz zum konservativ-aristokratischen Standpunkt Hallers hing W i e l a n d dem Ideal des despotisme éclairé an. Er gab in seinem St. Der goldene Spiegel oder die Geschichte der Könige von Scheschian (1772) ein Idealbild des Wohlfahrtsstaates unter einer aufgeklärten absoluten Monarchie. Hier steht die Gestalt Josephs II. wieder im Mittelpunkt, an die sich viele Hoffnungen knüpften. Auch

Wieland bietet im Goldenen Spiegel polit. Didaktik in großer Breite, doch bewahrte ihn sein technisches Können und die Eleganz seines Stils vor zu großer Trockenheit und polemischer Ausrichtung. Im Sinn der negativlächerlichen Darstellung negativer Zustände in Gesellschaft und Administration der dt. Kleinstaaten ist wohl auch Wielands Geschichte der Abderiten (1774) dem Genre des St.s zuzuzählen. Der skeptische und tolerante Relativismus des weisen Demokrit entzieht hier einer sinnentleerten konservativen Gesellschaft den Boden ihrer ideologischen Rechtfertigung. Der im Formalen erstarrte geschäftige Pseudowissenschaftsbetrieb der dt. Universität wird ebenso aufs Korn genommen wie die verrottete Jurisprudenz der im Aktenstaub erstickten Kanzleien (Streit um des Esels Schatten, Akademie-Gutachten über die Frösche der Latona). Die politisch-didaktische Absicht der Satire hat Wieland selbst in dem der Buchausgabe von 1781 beigegebenen Schlüssel zur Abderiten-Geschichte zugegeben und sie ausdrücklich in die Reihe der Staatsromane (Argenis, New Atlantis u. a.) gestellt. Die unmittelbare gesellschaftsändernde Absicht des utopischen und satirischen St.s mußte vor allem dort eine aktuelle Funktion bekommen, wo tatsächlich im Sinne der humanitären und rationalistischen Ideen der Zeit eine Staats- und Gesellschaftsumformung unternommen wurde. Die Öffnung des Buchmarktes und die Lockerung der Zensur unter der Regierung Josephs II. rief in den habsburgischen E r b l a n d e n eine kurzlebige Blüte polit. Tagesliteratur hervor, welche die Reformen des Kaisers diskutierte, verteidigte und angriff. Die mit der Liberalisierung und Förderung der Buchproduktion verbundene Aufnahme französischer, englischer und dt. Autoren (Wieland) führte zur Abfassung von St.en, in denen auf utopischer Basis die „wahre" aufgeklärte Gesellschaft reflektiert wurde. Auf die österreichischen Ste. wirkten vor allem neben Wieland die Lettres persanes (1721) von Montesquieu, Voltaire, ältere franz. und engl. Vorbilder sowie die Gedankenwelt Rousseaus. Meist wurde ein der zu verändernden Realität entgegengestellter Gesellschaftsentwurf in Reisebriefen entfaltet, die ein „naiver Wilder", meist ein Abkömmling von Montesquieus Usbek, an seine Angehörigen über Europa und speziell über das Wien Josephs II. schreibt. Johann Pezzls Marok-

Staatsroman kanische Briefe (1784) und Abdul Erzerums neue persische Briefe (1787) verbinden herbe Gesellschaftskritik mit beginnendem Zweifel an den Staatsgrundsätzen der Aufklärung. J o hann F r i e d e l entwarf in seinen Briefen aus dem Monde (2 Teile, 1785) und in den Briefen aus der Hölle (1785), nach den Vorbildern Cyrano de Bergeracs, Swifts und der franz. Mondflugliteratur ein Bild vom Reich der Lunianer, das die Organisationsmängel der kaiserlichen Regierung und die Unsitten der Adels- und Bürgergesellschaft des damaligen Wien zu einem Pandämonium von Karikaturen zusammenfaßt. Ideales Gegenbild ist eine am Rousseauschen Naturmenschen und an manueller Güterproduktion orientierte Gesellschaft. Die zunehmende Enttäuschung über die Machtzentralisierung im Staate und die eigenwillige Autokratie Josephs II. verursachte ein spürbares Anwachsen skeptischer Haltung gegenüber den Träumen vom besten Herrscher und dem von Natur aus guten Menschen. Dazu kam noch die Enttäuschung über die zunehmende Härte des Kaisers in Zensurfragen, der auch hier an die Literatur rigoros den Maßstab des Staatsnutzens legte. Diese Desillusionierung ist im Roman Der 42-jährige Affe (1784) des Ritters von S t e i n s b e r g deutlich zu spüren. Das Buch ist — wie in der Vorrede gesagt und im Aufbau spürbar wird — durch S. Merciers L'an deux mille quartre centquarante. Rêve s'il en fut jamais (1772) angeregt und kehrt aber dessen Reich der Gleichheit und Gerechtigkeit um zu einem Land des Aberglaubens und Verfalls, das der Affenprinz Brida auf seiner Bildungsreise durchwandert. Die herbste Absage an den despotisme éclairé birgt sich im Eroberer (1786) des Wiener Theaterdichters P. W e i d m a n n . Der aus Theaterszenen, lyrischen Einlagen, Prosakapiteln und Lehrgedichtabschnitten gemischte Text, der sich im Untertitel „eine poetische Phantasie in fünf Kaprizzen" nennt, stellt nach dem Muster der histor. St.e einen in einem Traumreich sich entfaltenden Lebenslauf eines Herrschers dar, der sich vom aufgeklärten Menschenfreund zum ruhmgierigen, kriegslüsternen Despoten entwickelt und im Wahnsinn stirbt. Der Bezug auf Friedrich II. und die warnende Absicht an die Adresse Josephs II. sind nicht zu übersehen. In diesem Zusammenhang soll noch ein lat. Lehrgedicht genannt werden, das ein Mitglied der österr. Jakobinerverschwörung verfaßte, nämlich Homo hominibus (geschr.

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1792)vonF. H e b e n s t r e i t , dasvonA. Körner herausgegeben wurde (Die Wiener Jakobiner, 1972) und das im Privateigentum und der Zivilisationsmoral die Ursachen für die ethische Entartung des Menschen erblickt. Das auch in anderen Romangattungen der Zeit wichtige Reisemotiv bekam hier deudich freimaurerische Züge. Dies lag an den franz. Vorbildern (z. B. Terrasson), in denen Initiationsriten und Zugehörigkeit zu Geheimbünden mit der Staatsutopie unlösbar verbunden waren, und an der Tatsache, daß die Maurerlogen eine nicht oder wenig zensurierte „private" Öffentlichkeit darstellten, von der besonders Gedanken über staatliche Neuordnung geäußert und diskutiert werden konnten. Freilich lag hierin ein Ansatzpunkt zur Trivialisierung, die sich unter der beginnenden Restaurationszeit des Maurermotivs auch rasch bemächtigte und eine eigene Abart des Schauerund Verbrecherromans zeitigte: den Geheimbundroman, der auf utopische Staatskonzepte gänzlich verzichtete. Solche Züge weisen die ernst zu nehmenden utopischen Ste. gegen Ende des Jh.s fast alle auf. Sie stehen durchwegs unter dem Einfluß des Rousseauschen Menschenkonzepts, so auch das jambische Lehrgedicht Tayti oder die glückliche Insel (1777) von F. W. Zachariae und die in lyrisch-sentimentalen Prosadialogen geschilderte Insel (1788) von Fr. L. v. S t o l b e r g . Mit einem glückseligen Inselstaat, in dem die Menschen renaissancehafte Individualität mit Rousseauscher Naturschwärmerei verbinden und voll ausleben, schließt W. H e i n s e s Ardinghello (1787), und die Darstellung eines von einem freimaurerischen Bund verwirklichten Idealstaates der Humanität hat F. W. v. M e y e r n s Dya-Na-Sore oder die Wanderer (1787) zum Ziel. Obwohl die R o m a n t i k keinen ausgesprochenen St. aufweist, steht doch besonders das politische Zukunftsdenken von N o v a l i s ganz unter dem Einfluß der oben angedeuteten Motive. Sein Aufsatz Die Christenheit oder Europa deutet auf das Heranwachsen eines bündisch-monarchischen Idealstaates mit verbindlicher kultureller Tendenz hin. c. T o t a l i t a r i s m u s und Science F i c t i o n . Während im dt.sprachigen Raum des 19. Jh.s der St. bis 1890 fast völlig verschwand, gelangte er in England und Frankreich zu neuen Inhalten, die sich aus der Weiterem-

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wicklung der aufklärerischen Anthropologie und Wirtschaftslehre ergaben. Kennzeichnend dafür ist die Verarbeitung frühsozialistischer Ideen, wie sie die Arbeiten F o u r i e r s , Saint S i m o n s , O w e n s u n d Proudhonsentwickelten und darlegten, zu utopischen St.en. In Th. E r s k i n e s Armata (1817) findet ebenso wie in E. C a b e t s Voyage en Icarie (1842) eine entscheidende Änderung des Geschichtsdenkens ihren Ausdruck: Weder Staats- und Kriegskunst noch moralisches Beispiel ändern den Ablauf der Geschichte, sondern nur die Erfindung neuer technischer Möglichkeiten und gesteigerter ökonomischer Nutzbarkeit der Natur. Die Begabung des Menschen, Mittel zum Beherrschen der Natur zu entwickeln, wird ab nun zum Kriterium seines Wertes als schöpferisches Wesen: „[. . .] fashioned after the image of Heaven, he should be onabled to scan its most distant worlds and to augment his own strength in mitigation of his appointed labour [. .]" (Armata, II. Bd., S. 176/177). Damit wurde die Technik zur Grundlage der Ethik, und nicht mehr der Herrscher steht im Zentrum verändernder Entschlüsse, sondern der Wissenschaftler. Moralische Fragen des Zukunftsstaates werden nun in erster Linie nach der Nutzbarkeit der techn. Erfindungen und nach der gerechten Aufteilung ihres Macht- und Ertragspotentials gestellt. Der utopische Sozialismus, der den St.n des 19. Jh.s zugrunde liegt, sieht in Ordnung und Organisation der Besitzverhältnisse und der zu erwartenden industriellen Produktion die Hauptanliegen des Zukunftsstaates, der nur durch zentrale Organisation ein Maximum an Rentabilität für alle Menschen erbringen kann: Jeder dieser technisch ausgerichteten sozialutopischen St.e tendiert zum Entwurf eines Weltstaats, der die Nationalgrenzen ebenso umfassen wird wie die Entwicklung der Naturwissenschaft, wie z. B. in E. B e l l a m y s , Looking Backward 2000-1887 (1888) und Th. H e r t z k a , Freiland (2. Aufl. 1890). In diese Entwicklung fällt auch der erste Vertreter der Science Fiction, nämlich Jules V e r n e (erster Roman: Cinq semaines en ballon, voyage de découvertes, 1863). Er verknüpfte mit seinen Reiseberichten, die sich an die Uberlieferung der voyages extraordinaires der Aufklärung anschlössen, fast nie die Schilderung einer politisch-sozialen Utopie, sondern ging über die Gesellschaftsstruktur seiner Zeit nie hinaus. Auch überschreiten die technischen Möglich-

keiten der erzählten Abenteuer nie den Stand seiner Zeit, z. B. verfügt er in seinem Roman über den Weltraumflug De la terre ä la lune — Autour de la lune (1863/64) nur über eine Kanonenkugel als Flugmittel. Was J . Verne seinem Publikum vorsetzte, war daher eigentlich eine Enzyklopädie des Wissens seiner Zeit in Romanform. Die eigentlich verändernde Komponente fehlt seinen Büchern, sie sind unpolitisch. Früh regte sich allerdings der Widerspruch gegen den Entwurf des techn. Weltstaates mit seiner absoluten Gleichheit und die gesamte Tradition der Innerlichkeit einebnenden Zivilisation. Vom Standpunkt des extremen Individualismus aus revoltierten S. B u t l e r mit Erewhon ( = Nowhere, 1872) und H. G. Wells mit/l modern Utopia (1905) gegen diese Perspektive der Entwicklung. Nach dem Ersten Weltkrieg und noch stärker nach dem Zweiten erschien eine Fülle von utopischen St.en, welche die Entwicklung der Naturwissenschaften und die von diesen gestützten totalitären Gesellschaftssysteme als bittere Realisierung der optimistischen Vorausblicke des 19. Jh.s ansahen. Unter dieser Verzweiflung an der Möglichkeit einer annehmbaren menschlichen Gesellschaftsordnung und unter dem Eindruck des unkontrollierbaren unermeßlichen Machtzuwachses in den Händen Weniger durch die Technik verlor der utopische St. seine Richtlinie zum Handeln und wurde als Satire oder A n t i u t o p i e (auch Mätopie) oft aufrüttelnde Prognose des Untergangs, von konservativen Restaurationsversuchen wie der Politeia (1926) des Fürsten W r e d e abgesehen. Zivilisationsekel, Individualismus und Ratlosigkeit prägen den St. M. B r o d s (Das große Wagnis, 1919), der das Scheitern eines sozialistischen Staates am Egoismus und am Machthunger der Menschen zeigt. Europa wird zum Haßobjekt der expressionistischen Generation, deren utopische St.e von einem nach Asien gerichteten Eskapismus geprägt sind, so C. S t e r n h e i m s Europa (1919). Oder es wird der Untergang einer durch die Technik die tellurischen Kräfte herausfordernden Menschheit geschildert, so in A. D ö b l i n s Berge, Meere und Giganten (1924). Allerdings bietet Döblin nach der die europäische techn. Zivilisation vernichtenden Katastrophe die Vision von einem neuen Menschen, der durch das Bekenntnis zur mütterlich zeugenden Gewalt der Erde die Einheit mit der Natur

Staatsroman wieder gewinnt. Mythische Vorstellungen stehen auch hinter G. H a u p t m a n n s Die Insel der großen Mutter oder Das Wunder von Ile de Dames (1924), der im Wunschland des Matriarchats einen Ausweg aus der drohenden Verflachung Europas zeigen will. Zusammengefaßt werden die Ängste, Hoffnungen und Diagnosen des 20. Jh.s durch drei große utopische St.e, die auch die Formtraditionen der alten über zweitausendjährigen Gattung überschreiten und reflektieren. H. Hesses Roman Das Glasperlenspiel (1943) entwirft unter Aufnahme des alten AkademieGedankens eine Art pädagogischer Provinz, ein Spielfeld der Bezüge zwischen Elementen kultureller Überlieferung. Die Ambivalenz dieses Geistesreichs zeigt sich sowohl in der Unfruchtbarkeit des Spiels als auch im Tod des Protagonisten nach dem Verlassen der Spielwelt. Das alte Motiv der Reise braucht dagegen F. Werfel für seinen utopischen St. Der Stern der Ungeborenen (1946), in welchem der totalitäre Staat unter dem Zeichen der Biologie erscheint. Im „Wintergarten" bezahlt der Mensch für die endlich erreichte Unsterblichkeit mit der Reduktion auf das Pflanzendasein. Freilich wird auch diese Welt durch die alten Werte und Ängste gesprengt und an ihrem Ende wird die eschatologische Bedeutung der Zeit, des Grunderlebnisses der utopischen Haltung, betont, „indem wir uns vom Anfang aller Dinge weg und dem Ende aller Dinge zu bewegen" (S. 708). E. J ü n g e r s Heliopolis (1949) nimmt trotz des auf Campanellas Werk anspielenden Titels und trotz des technisierten Zukunftsschauplatzes die Struktur und Zielsetzung des alten historischen St.s wieder auf. Der Roman, der mit seinen den Leser überraschenden technischen Effekten auch Elemente der Science-Fiction aufweist, löst aus histor. Ereignissen (Machtergreifung Hitlers, Röhmputsch) das Symbolische heraus und erhebt es zum Ausgangspunkt einer exemplarischen menschlichen Haltung: des Scheiterns am Zwiespalt zwischen privater und polit. Ethik. Damit wird aber Heliopolis zum symbolischen Ort der bisherigen polit. Geschichte, und der Kampf zwischen dem Landvogt und dem Prokonsul wird zur Hauptauseinandersetzung, die quer durch alle Parteien verläuft. Utopisch an dem Roman, in dem über das Wesen der Utopie selbst reflektiert wird, ist die keineswegs eskapistisch gedachte Aufnahme des Protagonisten nach seinem

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Scheitern in die Gefolgschaft des Weltregenten, in dem Ethik mit hoher geistiger und technischer Macht vereint ist. Versucht E. Jünger mit seinem Rückblick auf eine Stadt nicht ohne Pathos eine Zeitdiagnose zu bieten, so baut A. Schmidt mit seiner Gelehrtenrepublik (1957) aus dem Sprachvollzug der Gegenwart selbst das Vehikel, das zu einer im 3. Jahrtausend sich auf dem Stand totaler Organisation befindenden Welt führt, die sich in Vokabular und Geschehen als Satire darstellt. Das utopische Element wird zur Ursache des Sprachzweifels und so auf der Ebene des Ausdrucks noch einmal thematisiert: Der Roman, dessen von Klopstock entlehnter Titel ein Notbehelf ist, gibt vor, eine Übersetzung aus dem Englischen zu sein, da das Deutsche zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits eine tote Sprache ist. Es konnte mit der technischen und sozialen Entwicklung nicht Schritt halten, so daß der fiktive Übersetzer gezwungen ist, viele technische und wissenschaftliche Neuerungen unter Zuhilfenahme der älteren mit der ganzen europäischen Kulturtradition belasteten Sprache zu umschreiben. Diese bewußt aufgedeckte Unangemessenheit zwischen neuem Ding und alter Wortbedeutung eröffnet dem satir. Wirkungsmoment einen neuen Bereich, welcher innerhalb der dem Epischen zugrunde liegenden utopischen Gesamthaltung zur Realisation gelangt. § 3. Werkgestalt. Die bedeutenden neueren Arbeiten über den St. stammen von Soziologen. Die inhaltliche Komponente scheint für die Werkbetrachtung den Hauptanstoß zu geben. W. Rehm meinte noch, der St. sei nur durch seinen soziologischen Aussagecharakter wichtig, dichterisch-ästhetischen Wert habe er selten. Dieses Urteil besagt nichts anderes, als daß die didaktisch — polit. Zielsetzung des St.s einen als autonom gesetzten ästhetischen Bereich von Dichtung teilweise außer Kraft setzt. Sieht man von dieser Dichtungsauffassung ab, so ergibt sich ein schon in den ältesten Vertretern der Gattung beobachtbares Ineinander von epischer Fiktion und philosophisch-histor. Lehrmeinung, das zu allen Zeiten publikumswirksam gewesen ist, weil es die Vorstellungskraft und das polit. Gruppenbewußtsein der Leser provozierte. Als wichtiges wirkungsästhetisches Mittel darf gerade bei Betrachtung der älteren St.e die Rolle der

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Rhetorik nicht übersehen werden, die bis ins 18. Jh. herauf die histor. und erzählende Schreibart bedingte: die Illustration von soziologischen und ethischen Sätzen durch Exempel aus Mythos und Geschichte. Dieses Grundmuster, das den Sprachgestus des Uberredens trägt, liegt auch manchen modernen utopischen St.en zugrunde. Es ergibt sich aus dem ideologischen, ja geradezu polit. Engagement, das hinter allen St.en, aber nicht hinter der Science Fiction steht. Dieser Ausrichtung analog zeigen die epischen Fabeln der St.e eine stereotype Strukturierung. Allen Mustern voran geht das der Reise, die den Berichterstatter in Vergangenheit oder Zukunft in das beispielhafte oder erträumte Gemeinwesen führt. In vielen St.en ist das Reiseabenteuer geradezu das Tor in die Utopie und der Reiseberichterstatter die verbindliche Erzählinstanz (z. B. in Schnabels Insel Felsenburg oder in Werfeis Stern der Ungeborenen). Anhand der Lebensgeschichte eines Herrschers oder einer sozial repräsentativen Person ist dann die Möglichkeit gegeben, Idealstrukturen im Kleid bekannter geschichtlicher Zustände als verwirklicht zu zeigen. Dieser Übertragung des histor. Berichts in den Bereich der epischen Fiktion bedient sich vor allem der „klassische" histor. Staatsroman, wie er uns bei Haller entgegentritt. Wird eine erotische Fabel eingeflochten, dann bezweckt sie meistens die Unterstreichung einer Personenkonstellation, welche für die auslösenden Konflikte des entworfenen Staatswesens repräsentativ ist (z. B. Lucius de Geer und Budur Peri in Jüngers Heliopolis oder das Liebespaar in G. Orwells 1984). Die relativ einfache Struktur der Fabelführung weist immer darauf hin, daß es um das Exemplarische der Vorgänge geht, die auf das Erhellen polit. Strukturen angelegt sind. Die Erzählperspektive wird in erster Linie durch den Blickwinkel des dokumentierenden Reiseberichterstatters umgrenzt, der durch seine relative Unbeteiligtheit oder sein Kopfschütteln über die neu entdeckte Realität des vorgefundenen Ideal- oder Schreckensstaates den Eindruck der Glaubwürdigkeit erhöhen soll. Doch wird er meistens in die Vorgänge des bereisten Staatswesens hineingezogen, verändert dieses oder fällt ihm gar zum Opfer (Insel Felsenburg, Stern der Ungeborenen, Gelehrtenrepublik). Dem Anschein

glaubwürdiger Dokumentation fällt dabei eine wichtige Rolle zu. Oft sind es hinterlassene Papiere, auf denen die Schilderung des Abenteuers niedergelegt ist und deren Lektüre den Erzähler zur Suche nach dem dargestellten Gemeinwesen verführt. Hier ist das Spiel mit der Doppeldokumentation, die sich über drei Generationen erstreckt, und die bei Schnabel geboten wird, ein Musterbeispiel der Gattung. Diejenigen St.e, die sich der Science Fiction nähern, bevorzugen oft die Tagebuchaufzeichnung und ihre lineare Zeitabfolge: der Leser soll hier unmittelbar an den aufregenden Geschehnissen teilnehmen und durch den starken Identifikationsanreiz zu einer Parteinahme bewogen werden. Neben der Reisefiktion ist auch die des Traums und des Schlafens eine häufig geübte Technik, welche das Heraustreten aus dem Fluß der Zeit und das Errichten eines der Vergänglichkeit nicht unterworfenen Raums garantiert, in dem dann der utopische Staat errichtet wird. Dies hat den Vorteil, daß chronikalische Schilderungen des Werdens der Utopie vermieden werden können. Außerdem ist das gebotene Bild in den Augen des Lesers von vornherein ein Spiel im Irrealen, an Betonung des Kausalen ist der Erzähler nicht gebunden, und der Effekt der Traumreise liegt daher im Moment des Erwachens. Hier treten der Schläfer und der ihn begleitende Leser in Kontrast zur wiedergewonnenen empirischen Realität und empfangen Anreize, ihr Verhalten zu verändern, so daß es zur Annäherung oder Vermeidung der im Traum geschauten Sozietätsstruktur kommt. Die durch Schlaf gewonnene Zeitraffung, die den Eintritt in den Zukunftsraum ermöglicht, ist auch das hervorstechendste Moment von L. S. Merciers L'an 2440 und seiner Nachahmer gewesen. Der Zug zum Dokumentarischen beherrscht den histor. St. in gleicher Weise. Hier tritt der Erzähler in vielen Fällen als Historiker auf, der dem Leser fingierte Quellen nennt und die Glaubwürdigkeit seines Entwurfs dadurch festigt, daß er sein Staatskonzept mit tatsächlichen histor. Quellen in Verbindung bringt, die auch dem Leser als unbezweifelbar bekannt sind (Wielands Goldener Spiegel, Hallers Alfred und Fabius und Cato). Der essayistisch-didaktische Zug war es vor allem, der die Gattung des St.s nur als halbdichterisch erscheinen ließ. Im konkreten Sinn der Erzähltechnik heißt dies die Verwendung

Staatsroman der M o n t a g e . Der eigentliche Inhalt des St.s sind die soziologischen und staatsrechtlichen Theorien des Verfassers. Sie werden meist interpretativ in die epische Fabel eingebaut oder laufen unverbunden als Begleitessays nebenher. Dieser Bezug zu außerfiktionalen Aussage- und Darstellungselementen, die das eigentlich Gemeinte verkörpern, war es, der das ästhetisch-literaturkrit. Urteil einer dem klassischen Dichtungsideal verknüpften Philologie verwirrte. Dabei wurde aber grundsätzlich vergessen, daß der moderne St. durchaus als Kind einer Zeit gesehen werden kann, in der zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Darstellung kein Gegensatz bestand. In allen Epochen rhetorischer Gemeinschaftskultur - also bis zu Beginn der Aufklärung war die zierliche Schreibart eines Philosophen oder Staatswissenschafders genauso Ursache seiner Aufnahme beim Publikum wie die Originalität seiner Gedankenwelt. Ja die letztere an einen guten Stil zu binden, der in gemeinverständlicher Sprache und spannender Einkleidung die Leserschaft bilden und erziehen half, kann gerade als Ziel aufklärerischer Lit.kritik verstanden werden, also als Ziel einer Epoche, in der alle Arten des St.s bedeutende Vertreter in den europäischen Kultursprachen hatten. Freilich kam es auf die Geschicklichkeit des Autors an, die theoretischen Auseinandersetzungen plausibel in seine Erzählung zu integrieren. Wieland benützt im Goldenen Spiegel in erster Linie dazu das G e s p r ä c h . Auch in den voyages extraordinaires wird der Erzähler meistens durch das Gespräch mit den Einwohnern der besuchten Utopie über den Zusammenhang der ihn verblüffenden Erscheinungen aufgeklärt. Die szenische Darstellung liefert ebenso ein indirektes Mittel, ethische Verhaltensweisen der Utopiebewohner dem Leser vor Augen zu führen: man denke an das Begräbnis des Dorfschulzen bei Mercier. Tagebuchblatt und mehr noch Übersetzungsfiktion (A. Schmidt) eröffnen durch den bewußt offen gehaltenen Abstand zum erzählten Abenteuer einen Raum, in dem der Berichterstatter seinen Reflexionen über das Gesehene nachgeben und den Leser an ihnen teilnehmen lassen kann. Eine weitere Möglichkeit, das gemeinte Theorem zu integrieren, liegt in der Einschaltung von p a r a b o l i s c h e n S e i t e n e r z ä h l u n gen in das epische Geschehen. Diese Technik

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wendet der moderne St. an, um der allzu großen theoretischen Belastung auszuweichen. Ortners Erzählung in Jüngers Heliopolis und Der Regenmacher in Hesses Glasperlenspiel mögen dies verdeutlichen. Schließlich wird auch die zur Information des Lesers zwischen die epischen Kapitel gesetzte rein theoretische A b h a n d l u n g zum eigentlichen Träger der polit. Ideen des Verfassers. Sie kann allein zum Ausdruck des utopischen oder idealisierenden Charakters werden, wenn sie als noch nicht bedachte Interpretationsmöglichkeit einem bereits bekannten histor. Geschehen einen neuen Sinn abgewinnt (Hallers Fabius und Cato). Wenn heute - in den 70er Jahren des 20. J h . s - nach einer Fülle von utopischen und mätopischen St.en in der ersten Hälfte des J h . s die Produktion des eigendichen St.s zurückgeht und der trivialisierten S c i e n c e - F i c t i o n Literatur Platz macht, so zeugt dies von einer gewissen Ratlosigkeit gegenüber den sich rasch ändernden Gesellschaftsstrukturen und von einer Absage an eine totale Wert- und Ordnungsverbindlichkeit. Die technischen Paradiese entpuppten sich als chemisch-mechanische Höllen und die großen Utopien wurden als staatliche Totalitarismen realisiert. Doch liegt dies nicht an der Utopie, sondern an der Unfähigkeit der Menschen, sie zu erreichen. Damit bleibt aber das Utopische, das im St. einen möglichen Ausdruck gefunden hat, als andauernder Anreiz zu geschichtlichem Handeln bestehen. Bibliographien und Forschungsberichte: J. Minor, Die Luftfahrten in d. Literatur, e. bibliograph. Versuch. ZfBüchfr. N. F. 1 (1909/10) S. 64-73; ferner wertvollste ältere Bibliographie in: Joseph Prys, Der Staatsroman d. 16. u. 17. Jh.s. ». s. Erziehungsideal. Diss. Würzburg 1913, S. 1-44; R. Falke, Versuch e. Bibliographie d. Utopien. Roman. Jb. 6 (1953/54) S. 92-109. Dies., Utopie -logische Konstruktion u. chimère. GRM N. F. 6 (1956) S. 76-88. Heinz Bingenheimer, Katalog d. dt.sprachigen utopisch-phantastischen Literatur (1959/60). I. F. Clark, The Tale of the Future from the Beginning to the Present Day. A Checklist of those Satires and Forecasts, Interplanetary Voyages and Scientific Romances - All Located in an Imaginary Future Period - That Have Been Published in the United Kingdom Between 1644 und 1960 (London 1961). Regis Messac, Esquisse d'une chronobibliographie des ,Utopies' (Lausanne 1962). Jacob Bleymehl, Beiträge zur Geschichte u. Bibliographie d. utopischen ». phantastischen Literatur (1965). K.

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Werner M. Bauer

Stabreimvers § 1 . H e r k u n f t : Der St., Vorgänger des Endreimverses, war primär das Versmaß der mündlichen Dichtung im germ. Sprachbereich. Damit war er Träger der vielfältigen Funktionen, die die Verssprache als wich-

Stabreimvers

184

tigstes Medium gehobener öffentlicher Kommunikation in der vorliterar. Gedächtniskultur zu erfüllen hatte (darunter nicht nur die allein durch stetig wiederholten Vortrag mögliche Bewahrung alter Geschichts- und Sagentradition [s. Heldendichtung], sondern z. B. auch die Vermittlung und Kommentierung aktueller Nachrichten in Versform). Stabreim oder Alliteration, die gezielte Verwendung von zwei oder mehr Wörtern mit gleichem Anlaut, macht allein noch keinen St. Als konstitutives Element spielt der Stabreim in der Verskunst ohnehin nur selten eine Rolle - unter anderen Bedingungen z. B. in der ältesten air. Dichtung. Als zusätzlicher Schmuck findet er sich gelegentlich in Endreimversen der ahd. Zeit und später, z. T. vielleicht als Nachwirkung des St.s (ebenso wie andererseits zusätzlicher Binnen- oder Endreim vereinzelt in alten St.n vorkommt, Endreim häufiger nur im christlich-lat. Einflußbereich). Alt ist aber wohl auch die nicht genauer geregelte Verwendung von stabenden Wortverbindungen in der Prosa. Man sollte deshalb eigentlich nur dann von St.n sprechen, wenn außer der geregelten Stabsetzung auch andere metrische Kriterien (oder u. U. stilistische Kriterien der Dichtersprache) die Absicht, solche Verse zu bilden, erkennen lassen.

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Entstehungszeit und Entwicklung des mündlichen St.s liegen im Dunkeln. Das älteste indirekte Zeugnis ergibt sich möglicherweise aus den Namen der drei germ. Kult-

§ 2 . U b e r l i e f e r u n g : Der agerm. St. ist literarisch geworden in der ahd., as., ae. und aisl./anorw. handschriftlichen Uberlieferung, teils durch Aufzeichnung mündlicher Gedichte, teils durch Verwendung - und gegebenenfalls Weiterentwicklung - der in der Mündlichkeit üblichen Verssprache für literar. Werke. Hinzu kommen einzelne St.e in Runeninschriften aus Schweden, Dänemark und Norwegen, die zumeist aus dem 9.11. Jh. stammen. Frühere Runenzeugnisse sind unsicher, so die Inschrift von Gallehus (um 400), deren dreifacher Stabreim sich aus den in ihr erwähnten Fakten ergeben mußte, so daß der Text nicht unbedingt einen regulär gebauten St. darstellt.

verbände Ingaevones,

(H)erminones

und

Istaevones (Plinius, Tacitus), denn die Auswahl gerade dieser Namen könnte durch ihren Stabreim und ihre Verwendung in einem Gedicht mitbedingt gewesen sein. St.e des 1. Jh.s können allerdings in ihrer Struktur den später überlieferten noch nicht völlig entsprochen haben, weil die silbenreichen urgerm. Wortformen andere Maße setzten. Im übrigen läßt sich zur Entstehungsfrage nur sagen, seit wann germ. St.e überhaupt möglich waren, nämlich seit der freilich nicht genauer datierbaren Festlegung des germ. Wortakzents auf die Stammsilbe, die die Voraussetzung für die volle Wirkungsmöglichkeit des Stabreims war. Alles weitere bleibt ungewiß ( z . B . die Herleitung des St.s aus dem Losorakel). Gesamtdarstellungen: Eduard Sievers, Altgerm. Metrik (1893; Samml. Kurzer Grammatiken Erg.reihe 2). Franz Saran, Dt. Verslehre

U m die Verwendung des St.s in den beiden adt. Uberlieferungszweigen voll beurteilen zu können, muß man sie von der Gesamtüberlieferung her sehen, zumal es sich um die beiden zahlenmäßig am schwächsten vertretenen Gruppen handelt: Überliefert sind kaum mehr als 190 ahd. (darunter einige unvollständige) und etwa 6320 as. Langzeilen, dage-

Stabreimvers gen über 30000 ae. Langzeilen und nicht viel weniger anord. Verse, wenn man die im Norden differenzierter entwickelten Formen zusammenfaßt. Für den adt. St. ist der Vergleich mit dem nahe verwandten ae. St. am wichtigsten. In der ahd. Lit. erscheint der St. vor und neben dem spätestens seit Otfrids Evangelienbuch zur Herrschaft gekommenen Endreimvers nur in wenigen Denkmälern ( H i l d e -

brandslied, Wessobrunner Gebet, Muspilli, Merseburger Zaubersprüche I und II). Auch die mündliche Dichtung dürfte in Oberdeutschland schon im Laufe des 9. Jh.s weitgehend zum Endreim übergegangen sein. In Niederdeutschland, w o der St. in der ersten Hälfte des 9. Jh.s mit der as. Bibeldichtung

(Heiland und Genesis) in größerem Ausmaß

literarisch wurde, könnte er mündlich noch längere Zeit weitergelebt haben, doch läßt sich darüber mangels Quellen nichts Sicheres sagen. Die adt. Denkmäler sind am leichtesten zugänglich in: Braune Leseb. 15. Aufl. (1968) S. 8489 - Heliand und Genesis, hg. v. O. Behaghel, 8. Aufl. bearb. v. W. Mitzka (1965; Adt. Textbibl. 4). § 3. D i e V e r b i n d u n g v o n S p r a c h - u n d V e r s s t r u k t u r : Anders als spätere Versmaße, die auf einem vorgegebenen Versschema mit festen Positionen für Hebungen und Senkungen beruhen und Diskrepanzen zwischen Sprachakzent und metrischer Hebung in gewissem Umfang zulassen oder sogar for-

dern (s. Hebung und Senkung), wurde der St.

ohne ein solches Bezugssystem unmittelbar aus den verwendeten Wörtern und Sätzen gebildet, deren normale Akzentstrukturen unverändert blieben. Dabei können die Hebungen an verschiedenen Stellen stehen, auch direkt nebeneinander („Hebungsprall"). Man glaubte lange Zeit, daß das in der sprachlichen Realisierung fehlende gleichbleibende Schema wenigstens dadurch gegeben gewesen sei, daß der St. in regelmäßiger Taktgliederung vorgetragen worden sei, entweder in vier Kurztakten (K. Lachmann, K. Müllenhoff u. a.) oder, wie man später annahm, in zwei Langtakten (A. Amelung, H . Möller, A . Heusler u. a., für den ae. St. zuletzt J. C. Pope). Da jedoch alle Taktierungsversuche zu keinen befriedigenden Ergebnissen führten, scheint sich die Ansicht durchzusetzen,

185

daß der St. nicht taktgebunden war (früher u. a. schon vertreten von E. Sievers, der aber später zum Taktieren überging, dann gegen Heusler zuerst wieder von W. H. Vogt und erfolgreicher von U . Pretzel, gegen Pope von A . J . Bliss). Abgesehen von der Vortragsweise (§ 8.1) und von den Besonderheiten der dichterischen Verssprache in Wortwahl und Stil, unterschieden sich St.e von der Prosa 1. durch die beschränktere Auswahl wort- und satzrhythmischer Gruppierungen und die regelmäßige Verbindung von normalerweise zwei Akzentgruppen zum Einzelvers und 2. durch die streng geregelte Verwendung des Stabreims, der zwei Einzelverse als An- und Abvers zu einer Langzeile verbindet. Für die Auswahl und Anordnung des Sprachmaterials hatten sich in der mündlichen Praxis der Versbildung Regeln entwickelt, von denen zumindest einige dank der engen Beziehung zwischen Sprach- und Versstruktur durch sprachlich-metrische Analysen der überlieferten St.e nachgewiesen werden konnten, wobei der Stabreim ein wichtiges, wenn auch nicht das einzige, Kriterium ist (§ 5.4). Das Wortgewicht hatte für den Versbau offenbar entscheidende Bedeutung, d . h . die mehr oder weniger starke Akzentuierung der betonten Stammsilben, die abhängig war von der Wortart, von der Quantität der betonten Silbe, u. U . von der Zahl der Wortsilben und z. T. auch von der syntaktischen Funktion und der Stellung des Wortes im Satz. Besondere Bedeutung auch für den Satz- und Versbau hat die Stellung der sogenannten Satzpartikeln, das sind schwach betonte, aber syntaktisch selbständige Wörter (darunter außer Konjunktionen, bestimmten Pronomina und Adverbia oft auch finite Verbformen). Nach dem „Satzpartikelgesetz" (Hans Kuhn) stehen sie am Satzanfang in der ersten Senkung in Proklise entweder zum ersten oder zum zweiten Wort des Satzes. Das Gesetz liegt auch der adt. St.kunst zugrunde, doch gibt es hier Abweichungen, im Ahd. mehr als im As. Die auf sprachlicher Grundlage ausgebildeten Regeln konnten sich in der stark traditionsgebundenen Stabreimdichtung auch dann noch halten, wenn die Weiterentwicklung der Sprache ihnen diese Grundlage entzogen hatte, jedoch mußten sprachliche Veränderungen früher oder später zunehmende Verstöße gegen die alten Regeln oder die Einführung

186

Stabreimvers

neuer Regeln zur Folge haben. Grundlegende Veränderungen vor allem in der Satzbetonung haben schließlich - nicht allein, aber sicher zu einem nicht unwesentlichen Teil - zu der anscheinend von Süden nach Norden fortschreitenden Aufgabe des St.s geführt. Hans Kuhn, Zur Wortstellung u. -betonung im Agerm. PBB. 57 (1933) S. 1-109 = Kl. Sehr. I (1969) S. 18-102 (u. 103). Jerzy Kurylowicz, D. sprachlichen Grundlagen der agerm. Metrik (1970; Innsbrucker Beitr. z. Sprachwiss., Vorträge 1), dazu: J. Fourquet, Sur la métrique germanique. Étud. Germ. 26 (1971) S. 103-106. M. Stiibiger, Zum Verbum im Stabreimvers des Heliand. Nddjb. 76 (1953) S. 1-15.

§ 4. V e r s t y p e n : 1. Von seiner Struktur her gesehen ist jeder Einzelvers, ob An- oder Ab vers, eine selbständige Einheit, auch wenn sich statistisch feststellen läßt, daß bestimmte Versstrukturen vorzugsweise im Anvers oder im Abvers verwendet wurden, daß also eine Tendenz zur rhythmischen Durchgestaltung der ganzen Langzeile bestand, die vor allem mit der Stabsetzung zusammenhing. Der Einzelvers hat in der Regel zwei von starktonigen Silben getragene Haupthebungen, denen die schwach- oder nebentonigen Silben als Senkungen oder Nebenhebungen zugeordnet sind, so daß sich zwei Akzentgruppen ergeben. Er besteht aus mindestens vier Silben = Versgliedern, doch kann sich die Silbenzahl ohne Veränderung der metrischen Struktur dadurch nicht unwesentlich erhöhen, daß mehrere unbetonte Silben gemeinsam eine Senkung bilden; auch solche Verse bestehen aus vier Versgliedern. Kurze betonte Silbe und unbetonte Folgesilbe desselben Wortes haben zusammen den gleichen metrischen Wert wie lange betonte Silbe, z. B. bugi und möd in den Heliand-Wersen thurh hluttran hugi (422 a) und thurh mildean möd (1958 a). Von der Länge als Norm ausgehend, nennt man die zweisilbig-kurze Entsprechung - nicht sonderlich glücklich - „Auflösung". Merkwürdigerweise werden die zweisilbig-kurzen Formen doch als zwei Versglieder gewertet, wenn eine haupt- oder nebentonige lange Silbe - im Heliand statt ihrer auch eine „Auflösung" - unmittelbar vorausgeht: an ntdhugi, an godes namon (Hei. 5704a, 1456a). 2. Nach E. Sievers, dessen Beschreibungssystem - mit gewissen von Bliss eingeführten

Modifikationen - den sprachlichen und metrischen Gegebenheiten am besten gerecht wird, lassen sich je nach der Stellung der beiden Haupthebungen fünf Grundtypen unterscheiden. Sie sind weiter aufzuteilen, wenn man die u. U. unterschiedliche Stellung der Nebenhebungen und die - im folgenden zunächst vernachlässigte - Verszäsur zwischen den Akzentgruppen mitberücksichtigt. Zeichen: ' und " = Haupt- und Nebenhebung, - und = lange und kurze (betonte) Silbe, x = unbetonte Silbe (deren Quantität meist keine Rolle spielt) oder allgemeiner = Senkung (auch mehrsilbig). Typ A: - x - x (föhem uuortum Hild. 9a), B: x - x - (untar heriun tuem Hild. 3 b, mit zweisilbiger Vorsenkung), C : x - - x oder oft mit kurzer zweiter Hebungssilbe x — x (an buok sriban, uuas blust mikil Hei. 14a, 3910b), D ( l ) : - - - x oder - x (barn unwahsan Hild. 21b, uuis uuärsago Hei. 3044a), D (2): - - x - (liof landes uuard Hei. 626a), E: — — x — (maneunneas men Hei. 1133a). Nicht selten ist außerdem eine D ( l ) nahestehende Form, die aber im Hinblick auf die umgekehrte Reihenfolge von Nebenhebung und zweiter Haupthebung bei A einzuordnen ist: — — x (wewurt skihit Hild. 49b). Seltener sind andere A-Varianten mit Nebenhebung, wie - - - x (sinlif sökean Hei. 2083 a) und - x - - (sälig sinlif Hei. 1024 a) und erst recht - - - - (unreht enfald Hei. 3747a). Bei genaueren Versuntersuchungen ist bei den Typen A, B und E die unterschiedliche Abgrenzung der Akzentgruppen durch die Verszäsur zu berücksichtigen, z. B. bei den AVersen föhem uuortum und prüt in büre (Hild. 9a, 21a) = - x | - x und - | x - x. 3. Einige um ein Versglied (eine Senkung) erweiterte Formen, die auch im Ae. nicht ungewöhnlich sind, können den einfachen Typen zugeordnet werden, vor allem die D * x sowie - x | Verse - x | - - x oder - x | - x - (manno mendädi, riki rädgebo, märi mahtig Crist Hei. 1007a, 627a, 2576a). Erweitert sind auch Verse mit zwei durch Zäsur getrennten und deshalb getrennt zu wertenden Senkungssilben, nämlich A~": - x | x - x (darba gistuontun Hild. 23b), B * : x - x | x (an lando gihuem Hei. 59 a) und E::": - - x | x - (berehtlico an buok Hei. 8 a). 4. „Leichte Verse" (light verses, Bliss) enthalten nur ein starktoniges Wort und haben daher nur eine Haupthebung (und keine echte

Stabreimvers Zäsur). Für die andere metrische Hebung steht nur eine sprachlich nebentonige Silbe zur Verfügung, oder nicht einmal sie ist vorhanden, so daß die Hebung nicht, oder höchstens andeutungsweise realisiert worden sein kann. Wichtig ist vor allem die für den Abvers wegen der Stabsetzung ungeeignete, im Anvers aber nicht seltene Form x x (x . . .) — x (hue tbat uuäri Hei. 3714a, unti im iro lintun Hild. 67 a). Sie läßt sich als Typ A mit unterdrückter erster Hebung verstehen (Bliss: Typ a) und dient der angemessenen Verifizierung von Sätzen, die mit Satzpartikeln (§ 3) und anderen schwachtonigen Silben beginnen. In leichten Versen anderer Struktur ist nicht die erste, sondern die zweite Hebung auf Neben- oder Schwachton reduziert, doch bleibt die Zuordnung zu den Normaltypen möglich, z. B. (zur Unterscheidung kursiv) A: östarliuto (Hild. 58b), D: sünufätarungo (Hild. 4 a, mit zweifacher „Auflösung"). Entgegen Bliss, der auch D-Verse mit Ausfall der ersten Hebung annimmt (Typ d mit entsprechenden Varianten, ihm folgt für das Hildebrandslied McLintock), können Verse wie an mörgantid Hei. 5059a) und dat sih ürhettun (Hild. 2 a) besser als B und C bezeichnet werden, als C auch sö gömode (Hei. 5021 a), da hier die Mittelsilbe der Verbform etwas weniger schwach als die Endsilbe betont worden sein dürfte, so daß die zweite Vershebung immerhin angedeutet war. 5. Die adt. Dichtung verwendet zwar St.e der behandelten Typen mit der Mindestsilbenzahl, neigt aber sehr zu silbenreicheren Versen, ganz besonders der Heliand. Durch die Häufung schwachtoniger Silben in den Senkungen kann hier die Silbenzahl sonst normal gebauter Verse vereinzelt bis auf 14, ja 15 ansteigen (z. B. 14 in dem C-Vers 2411b, 15 in dem B-Vers 1494b). Außerdem finden sich Erweiterungen anderer Art, als sie im Ae. üblich waren. Häufiger als dort ist einoder mehrsilbige Vorsenkung bei den Typen A, D und E, wofür z. T. eine sprachliche Erscheinung verantwortlich zu sein scheint, nämlich der im Vergleich zur ae. Dichtung häufigere Gebrauch des bestimmten Artikels (z. B. bei A: thia mödar uuiopun Hei. 744b). Speziell dt. sind Versstrukturen wie in mäncünnie mildie Hei. 2492 a) oder uuisas marines uuörd (Hei. 503 a). Einzelne Verse gehen mit zusätzlichen Nebenhebungen oder Sen-

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kungen vollends über die normalen Verstypen hinaus, z. B. Hiltibrant gimdhalta (Hild. 7a, 45a) oder belandi Crist an band (Hei. 2206a). Dann ist es unsicher, ob die Grenze zum Schwellvers (§ 6) nur erreicht oder schon überschritten ist. Als anderes Extrem gibt es gelegentlich wiederum im adt. eher als im ae. St. - Verse, die trotz nicht geringer Silbenzahl nur als dreigliedrig gewertet werden können, z. B. sö imo se der cbüning gdp (Hild. 34 b) oder endi bet tbene gödes man (Hei. 2780b), wo beide Haupthebungen - die erste mit „Auflösung" - ohne ausreichende Zwischensenkung am Versende stehen. Karl L a c h m a n n , Uber abd. Betonung u. Verskunst (1831/32, 1834), wiederabgedr. in: Kleinere Sehr. I (1876) S. 358-406. Ders. Über das Hildebrandslied (1833), wiederabgedr. in: Sehr. I S. 407-448. J . A. S c h m e l l e r , Über d. Versbau in d. alliterierenden Poesie, bes. d. Altsachsen. AbhBairAk.Phil.-hist.Kl. 4 (1839) S.207227. Karl M ü l l e n h o f f , De carmine Wessofontano et de versu ac stropharum usu apud Germanos antiquissimo (1861). M . R i e g e r , Bemerkungen zum Hildebrandsliede. GermaniaPf. 9 (1864) S. 295-320. E. J e s s e n , Grundzüge der agerm. Metrik. ZfdPh. 2 (1870) S. 114-147. A. A m e l u n g , Beiträge zur dt. Metrik II. ZfdPh. 3 (1871) S. 253 (bes. 280)-305. Ferdinand V e t t e r , Zum Muspilli u. zur germ. Alliterationspoesie. (1872) S. 1-68. E. S i e v e r s , Zum Heliand. ZfdA. 19 (1876) S. 1-76. C. R. H o r n , Zur Metrik des Heliand. P B B . 5 (1878) S. 164-192. E. W i l k e n , Metrische Bemerkungen, I. Zur Alliterationspoesie, GermaniaPf. 24 (1879) S. 257292. F. K a u f f m a n n , Die Rhythmik des Heliand. P B B . 12 (1887) S. 283-355 (wichtige, wenn auch nicht voll befriedigende, Sammlung der Verstypen). Hermann M ö l l e r , Zur ahd. Alliterationspoesie (1888), bes. S. 146-179. Hermann H i r t , Untersuchungen zur westgerm. Verskunst (1889). Ders., Zur Metrik des as. u. ahd. Alliterationsverses. GermaniaPf. 36 (1891) S. 139-179 u. 279-307. Karl F u h r , D. Metrik des westgerm. Allitterationsverses. Sein Verhältnis zu Otfrid, den Nibelungen, der Gudrun usw. (1892). Andreas H e u s l e r , Uber germ. Versbau (1894; Sehr, zur germ. Philologie 7). J . F r a n c k , Beiträge zur Rhythmik d. Allitterationsverses. ZfdA. 38 (1894) S. 225-250. E. S o k o l l , Zur Technik d. agerm. Alliterationsverses, in: Beiträge zur neueren Philologie J. Schipper . . . dargebracht (1902) S. 351-365. Ernst M a r t i n , Der Versbau des Heliand u. d. as. Genesis (1907). M . T r a u t m a n n , Zum Versbau des Heliand. Bonner Beitr. zur Anglistik 23 (1907) S. 147-

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Stabreimvers

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schwachtoniger Wörter und Präfixe nimmt nicht am Stabreim teil. Es gibt also drei Möglichkeiten der Stabsetzung: aa ax, ax ax und xa ax (a und x = stabende und stablose Hebung). Unregelmäßig ist die Stellung des Hauptstabs auf der letzten Hebung (Hild. 60b, Musp. 15b u.ö.). 3. Vereinzelt bildet die von der Stabsetzung in der Regel ausgeschlossene zweite Hebung des Abverses zusammen mit einer Anvershebung einen zweiten Stabreim, so daß sich Kreuzreim oder umschließender Reim ergibt (ab ab oder ba ab, z. B. Hild. 40, Hei. 2573). Auch kann der Anlaut der letzten Hebung der Langzeile zum Stabreim der nächsten Langzeile werden, so daß es zu Anreimung oder Hakenreim kommt, wie mehrfach im Hildebrandslied (z. B. 63-66, 67-68). 4. Die Regelung der Stabsetzung zeigt den Zusammenhang zwischen Sprach- und Versstruktur besonders augenfällig. Da der Stab§ 5. V e r w e n d u n g d e s S t a b r e i m s : 1. reim von den Stammsilben der im Satz und im Stabreim ergibt sich bei gleichem konsonan- Vers jeweils am stärksten betonten Wörter tischen Anlaut von zwei oder drei Haupt- getragen wird, konnte M. Rieger 1876 für die tonsilben in der Langzeile, dagegen auch bei einzelnen Wortklassen auf Grund ihrer Beteiungleichem vokalischen Anlaut, da alle Vo- ligung am Stabreim eine Rangordnung festkale miteinander staben können und ungleiche stellen, die ihrer unterschiedlichen AkzentVokale eher sogar bevorzugt worden zu sein stärke entspricht. So ist das am stärksten bescheinen. Hier war offenbar der vokalische tonte Nomen am häufigsten Stabträger, wähEinsatz das Gemeinsame und Verbindende, rend z. B. das finite Verb, wenn überhaupt ohne daß sich mit Sicherheit sagen läßt, ob neben einem Nomen in Hebung stehend, oft dabei ein dem heutigen Deutsch entsprechen- stablos bleibt oder nur mitstabt. Trägt es der Kehlkopflaut als eigentlich konsonanti- neben stablosem Nomen allein den Stab, dann sches Element beteiligt war oder nicht. Das ist das meist als Unregelmäßigkeit einer späim As. wie im Ae. spirantische g - stabt auch ten Entwicklungsstufe zu verstehen, vor mit j- ( z . B . iugud : god in Hei. 3471). Von allem dann, wenn das Nomen vorausgeht (wie anlautenden Konsonantengruppen braucht nur Musp. 53 a); doch gibt es eine früh (schon im der erste Konsonant als Stab zu fungieren, aus- Beowulf) und allgemein bezeugte Gruppe von genommen die Verbindungen sp, st, sk, die nur Ausnahmen vor allem im Abvers, w o das jede für sich Stabreim bilden. Verb sogar den Hauptstab übernimmt. Auch 2. Der Stab des Abverses ist auf dessen für die Sprachgeschichte wichtig ist die Taterste Hebung festgelegt und tritt deshalb be- sache, daß von zwei Nomina im Anvers auf sonders hervor. Nach dem Vorbild des Is- jeden Fall das erste staben muß, also stärker länders Snorri Sturluson ("f" 1241) wird er als das zweite betont wurde, im Gegensatz Heliand„Hauptstab" genannt (aisl. h g f u d s t a f r ) . Seine zur heutigen Betonung, vgl. die Verse himiles endi erdun ,des Himmels und Partner im Anvers - entweder zwei Stäbe auf himiles beiden Hebungen, oder ein Stab auf der er- der Erde' (4349 a), aber erdun endi (408a, " = stabende Hebung). sten oder zweiten Hebung - werden seit J. Grimm als „Stollen" bezeichnet, in AnlehM. Rieger, Die alt- u. angelsächs. Verskunst. nung an Snorris studlar (Sing, studill m. ZfdPh. 7 (1876) S. 1-64. O. Brenner, Zur Ver,Stütze'). Mehr als drei Stäbe in der Langzeile teilung d. Reimstäbe in d. alliterierenden Langsind nicht üblich, abgesehen von einzelnen zeile. PBB. 19 (1894) S. 462-466. R. M. Meyer, Fällen eines zusätzlichen Stabes in einer NeAlliterierende Doppelkonsonanz im Heliand. benhebung des Anverses. Der Anlaut ZfdPh. 26 (1894) S. 149-167 {dazu O. Behaghel,

Stabreimvers ebd. 27, 1895, S. 563, Meyer, ebd. 28, 1896, S. 142). R. H i l d e b r a n d , Zum Wesen des Reims, auch des Stabreims. ZfdU. 5 (1891) S. 577-585. H. O e r t e l , Hildebrand's Theory of Alliteration. MLN. 7 (1892) Sp. 287-291. F. K a u f f m a n n , Metrische Studien. 1. Zur Reimtechnik d. Alliterationsverses. ZfdPh. 29 (1897) S. 1-17. E. Schröder, Steigerung u. Häufung d. Alliteration in d. westgerm. Dichtung I. ZfdA. 43 (1899) S. 361-385. O. F. Emerson, Transverse Alliteration in Teutonic Poetry. JGPh. 3 (1900) S. 127-137. C. A. M a y e r , Die vocalische Alliteration im Heliand. ZfdA. 47 (1904) S. 413420. P. Q. M o r g a n , Zur Lehre von der Alliteration in d. westgerm. Dichtung. PBB. 33 (1908) S. 95-181 (Kreuzall.). O. Gjerdman, Om Vokalalliterationen och dess förklaring. Spräk och Stil 12 (1912) S. 57-84. E. Classen, Vowel Alliteration in the Old Germanic Languages (Manchester 1913). W. Perrett, On the Hildebrandslied. MLR. 31 (1936) S. 532-538 (Hakenreim). H. M. F l a s d i e c k , The Phonetical Aspect of Old Germanic Alliteration. Anglia 69 (1950) S. 266-287. W. P. Lehmann, The Alliteration of Old Saxon Poetry (1953; Norsk Tidskr. f. Sprogvidensk., Suppl. Bd. 3), hieraus S. 7-38 wiederabgedr. in: Der Heliand (1973; WegedFschg 321) S. 144-176. W. Krogmann, Angebl. Anomalien in d. Alliteration des Heliand. Nddjb. 80 (1957) S. 33-38. P. Salmon, Anomalous Alliteration in Germanic Verse. Neophil. 42 (1958) S. 223-241. Gemma M a n g a n e l l a , Nota sull'alliterazione nell'antica poesia sassone. AION 2 (1959) S. 83-92. Willy Krogmann, Das Hildebrandslied. In der langobard. Urfassung hergestellt (1966; PhilStQuell. 6; fragwürdiger Versuch, dabei den Hakenreim als durchgehendes Bauprinzip zu verwenden). J. K u r y i o w i c z , A Problem of Germanic Alliteration, in: Studies in Language and Literature in Honour of M. Schlauch (1966) S. 195-201 (sp, st, sk).

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lagerungszone" nicht immer deutlich voneinander abheben. In einigen geschwellten Anversen scheinen zwei Normalverse einfach aneinandergereiht zu sein, so daß sie vier Akzentgruppen enthalten (Hei. 3062 a, 3990 a, vielleicht auch 2822 a). Ist allerdings auch der Abvers ein Normalvers, dann könnte es sich um eine von den Schwellversen zu trennende Kombination von drei normalen Einzelversen handeln (Hei. 1144, 3344, 4374, 5975). 2. Als Anverse bei weitem am häufigsten sind „alternierende" Schwellverse mit dreifachem Wechsel von Hebung und - u. U. mehrsilbiger - Senkung. „Hebungsprall" im Versinnern und Hebung am Ende sind selten. Abverse beginnen meist mit vielsilbiger Senkung, der zweimal Hebung und Senkung folgen, z. B. in Hei. 559 b stdor

ik mösta

thesas

(Hei.

erlo : fölkes. Obwohl nur zweihebig, sind solche Verse dennoch den aus drei Akzentgruppen bestehenden gleichzustellen. Ihre erste Senkung, in der fast immer neue Sätze mit schwachtonigen Satzpartikeln beginnen, entspricht deutlich dem proklitischen ersten Teil der Normalverse vom leichten Typ a (§4.4.). 3. Mit der Stabsetzung hängt es offenbar zusammen, daß Typ a in Normalversen nur als Anvers vorkommt, seine erweiterte Entsprechung in Schwellversen dagegen fast nur als Abvers: Im normalen Abvers war er nicht verwendbar, weil hier der Hauptstab auf der ersten Hebung stehen mußte, im geschwellten Abvers aber gerade deshalb, weil er es ermöglichte, den Hauptstab nach hinten auf die eigentlich - zweite Hebung zu verlegen, ohne daß diesem eine stärkere Hebung vorausging, was offenbar sprach- und verswidrig war. Geduldet wurde an erster Stelle höchstens ein stabloses Prädikatsnomen, das als solches schwächer betont war und unter die Satzpartikeln eingeordnet werden konnte (so in dem dreimaligen Sälige sind . . . der Seligpreisungen, Hei. 1308b, 1312b, 1314b). Voll ausgedrückte erste Hebung mit Hauptstab ist selten, weil dieser vom Versanfang her schwer über zwei weitere volle Hebungen hinweg wirken und den Abvers zusammenhalten konnte (am ehesten dann, wenn die Folgehebungen verhältnismäßig schwach realisiert sind, wie in Hei. 1685b).

1314a), oder B und C in mlnon gest\an gödes : uuillion (Hei. 5655a). Allerdings lassen sich die Verstypen innerhalb der „Uber-

Im Anvers finden sich fast immer zwei Stäbe, vorzugsweise auf der ersten und zweiten Hebung, deren schwächerer, weil stab-

§ 6. S c h w e l l v e r s e : 1. In besonderer Weise erweiterte St.e, die in der as. ebenso wie in der ae. Dichtung (kaum aber im Hildebrandslied) vorkommen, werden Schwellverse genannt. Sie lassen sich mit Bliss am besten beschreiben - nicht unbedingt erklären - als Normalverse, die um eine Akzentgruppe erweitert sind, oder, anders ausgedrückt, deren zweite Akzentgruppe durch einen zweiten vollständigen Vers ersetzt ist, so daß zwei Verse sich sozusagen überlagern, z. B. zwei A-Verse in mildi

| mähtig

:

selBo

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Stabreimvers

loser Partner dann die dritte Hebung ist. Diese ist jedoch nicht schwächer betont als die stablose zweite Hebung normaler A-Verse und deshalb nicht als bloße Nebenhebung zu bezeichnen, wie man es vor allem unter dem Einfluß der auch auf die Schwellverse angewandten Zweitaktlehre getan hat. Vereinzelt staben die erste und die dritte Hebung, und wenn die erste Hebung auch einmal im Anvers unterdrückt ist, sind die zweite und dritte oder nur die zweite Hebung am Stabreim beteiligt. 4. Schwellverse erscheinen als einzelne Langzeilen oder Halbzeilen (nicht immer von erweiterten Normalversen sicher zu unterscheiden), entfalten ihre Wirkung aber besonders dann, wenn sie in kleineren oder größeren Gruppen auftreten (bis zu 18 Langzeilen; Hei. 5916-33). Die Gruppe kann mitten in einer Langzeile anfangen und enden, und der Übergang vom Normal- zum Schwellvers und umgekehrt kann mitten in der Aussage, ja mitten im Satz erfolgen. Die feierlich-bewegt klingenden Schwellverse scheinen Ausdruck eines besonderen emotionalen Engagements des Dichters und gegebenenfalls der Personen zu sein, die er in solchen Versen sprechen läßt. 5. Lange galten die as. Schwellverse als literar. Entlehnung des Helianddichters aus der ae. geistlichen Epik. Deren Einfluß ist jedoch in diesem Punkt wie in anderen überschätzt worden, weil man zu wenig mit der mündlichen Dichtung rechnete. Es ist unwahrscheinlich, daß erst schreibende Geistliche in ihren gegenüber der mündlichen Dichtung sekundären Buchwerken eine so bedeutsame Neuerung entwickelt und auf literar. Weg verbreitet hätten. Schwellverse dürften den as. und ae. Dichtern und ihrem Publikum schon vor der literar. Verwendung aus der mündlichen Vortragspraxis geläufig gewesen sein und zu den Gemeinsamkeiten der as. und ae. Verssprache gehört haben, wo immer sie zuerst ausgebildet worden waren. F . K a u f f m a n n , Die sogenannten Schwellverse d. alt- u. angelsächs. Dichtung. PBB. 15 (1891) S. 360-376, dazu K. L u i c k , Zurae. u. as. Metrik (Schwellv. u. Normalv., Alliteration u. Versrhythmus), ebd. S. 441-454. Hermann S a f t i e n , D. Schwellformen des Verstypus A in d. as. Bibeldichtung. Diss. Bonn 1898. D . H o f m a n n , Die as. Bibelepik e. Ableger d. ags. geistlichen Epik} ZfdA. 89 (1959, S. 173-190) S. 187-189,

wiederabgedr. in: Der Heliand (1973; WegedFschg 321, S. 315-337) S. 333-335.

§ 7. G r u p p e n b i l d u n g : 1. Formale Mittel scheinen kaum zur Bildung größerer Verseinheiten verwendet worden zu sein. Gleicher Stabreim in zwei Langzeilen ist selten und eher zufällig, und erst recht fehlen Versverschränkungen mit Hilfe geordnet wiederkehrender Stabreime. Bei der Stabsetzung und bei der Verwendung der Verstypen suchte man eher die Abwechslung als den gruppenbildenden Gleichlauf. Hakenreim (§ 5.3), wenn nicht zufällig, läßt keine über die Einzelstelle hinausgehende Planung erkennen. Nur die Schwellverse heben sich als Gruppen aus ihrer Umgebung heraus (§ 6.4); jedoch ist ihr Auftreten ebenso wenig wie ihr Umfang nach erkennbaren Gesichtspunkten geregelt. 2. Somit ergibt sich die Gruppierung der adt. (und ae.) St.e im wesentlichen allein aus ihrem Verhältnis zur syntaktischen Gliederung. Nur im strengen Zeilenstil endet mit jeder Langzeile ein Satz, doch gibt es das nur in einfacher Dichtung wie den Zaubersprüchen. Im freien Zeilenstil etwa des Hildebrandsliedes finden sich neben syntaktisch selbständigen Langzeilen Gruppen von zwei selten mehr - Langzeilen, die durch Weiterführung des Satzes bis zum nächsten Langzeilenende miteinander verbunden sind. Aus dem freien Zeilenstil konnten sich mit oder ohne Absicht Strophen unregelmäßigen Umfangs ergeben, wie man sie - unter Zuhilfenahme inhaltlicher Kriterien - für die Zuordnung der Einzelzeilen manchmal für Hildebrandslied und Muspilli vermutet hat. Zu einer regelmäßigen Strophengliederung mit Hilfe syntaktischer und inhaltlicher Bindungen ist es nur in der anord. Dichtung gekommen, während die adt. wie die ae. Dichtung im wesentlichen stichisch bleibt. 3. Eine andere Art Bindung entsteht, wenn die Satzgrenzen nicht nur vereinzelt (wie auch im Hildebrandslied), sondern fortlaufend in die Mitte der Langzeilen verlegt sind. Solche Kettenbrechung (s. Brechung) ist in der ae. Dichtung und ganz besonders im Heliand beliebt und wird Hakenstil (Sievers) oder weniger deutlich - Bogenstil (Heusler) genannt. Metrische und syntaktische Gliederung sind ineinander verschränkt: „wo der Satz endet, da warten die Stollen noch auf ihren Hauptstab; wo die metrische Zeile verklingt,

Stabreimvers da treibt uns der Satz weiter" (Heusler I, § 3 6 1 ) . Der Hakenstil wird häufig mit Hilfe der Stilfigur der Variation erreicht, denn diese, die Wiederholung eines Begriffes mit anderen Worten, wird gern verwendet, um einen Satz, der am Ende der Langzeile eigentlich fertig ist, bis in den nächsten Anvers fortzusetzen. So ist es möglich, in stetigem Fortgang über beliebig viele Langzeilen hinweg zu erzählen, bis durch den Zusammenfall von Satz- und Langzeilenende ein Einschnitt entsteht. Die Möglichkeit, solche Einschnitte gezielt als Gliederungsmittel einzusetzen, scheint wiederum nicht genutzt worden zu sein (s. u.). 4. Die Hss. des Heliand, vor allem C, weniger deutlich M, kennzeichnen durch Initialen die Anfänge größerer Abschnitte, die in C auch numeriert sind. Die lat. Praefatio bezeugt als Wort dafür vittea (pmne opus per vitteas distinxit) = as. fittea f. .Fitte'. Es sind 71 Fitten im Umfang von durchschnittlich 85 Langzeilen (mit Schwankungen zwischen 48 und 121) erhalten; einige weitere fehlen mit dem verlorenen Schluß. Diese Einteilung, die ähnlich auch für viele ae. Gedichte bezeugt ist, ist nicht mit sprachlich-metrischen Mitteln markiert. Im Gegenteil liegt die Fittengrenze im Heliand 18 mal sogar mitten in der Langzeile, jedenfalls syntaktisch-inhaltlich gesehen. Bemerkenswerterweise ist der Fittenanfang trotzdem auch in diesen Fällen durch die Initiale an den Langzeilenanfang, also die metrische Grenze gelegt, nicht nur in C, sondern relikthaft auch in M und wahrscheinlich schon nach dem Willen des Dichters selbst (J. Rathofer). Die Gliederung in Fitten war sicher keine Erfindung der Buchepiker, sondern gehörte zur Kompositions- und Vortragstechnik der mündlichen Dichter. Die Fittengrenzen dürften beim freien Vortrag und beim Vorlesen des Buchepos mit anderen als sprachlichen Mitteln hörbar gemacht worden sein (§8.1). W . P a e t z e l , D. Variation in d. agerm. Alliterationspoesie ( 1 9 1 3 ; Pal. 48), bes. S. 175-182 (Stellung d. V. im Vers). Andreas H e u s l e r , Heliand, Liedstil u. Epenstil (1920, s. o. zu § 4) = Kl. Sehr. I. S. 5 2 1 - 5 3 2 . J . R a t h o f e r , Zum Aufbau des Heliand. ZfdA. 93 (1964, S. 2392 7 2 ) S. 2 3 9 - 2 5 0 , wiederabgedr. in: Der Heliand ( 1 9 7 3 ; WegedFschg 3 2 1 , S. 3 4 4 - 3 9 9 , bes. S. 344360. E . W e h r l i c h , Der westgerm. Skop. Der Aufbau seiner Dichtung u. sein Vortrag. Diss. 1964,

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S. 8 9 - 1 8 5 . Cola M i n i s , Hs., Form u. Sprache des 'Muspilli' ( 1 9 6 6 ; Philol. Studien u. Quellen 3 5 ) . F . W . S c h u l z e , Bindungen v. Versfolgen im Ae. u. Ahd., in: Kritische Bewahrung. Beitr. zur dt. Philologie. Festschr. f . W. Schröder ( 1 9 7 4 ) S. 185-212.

§ 8 . V o r t r a g : 1. Musikalischer Vortrag, wie er für den ae. St. deutlich bezeugt ist, konnte für den adt. St. lange Zeit nur vermutet werden. Er ist von vornherein wahrscheinlich für ursprünglich in der Mündlichkeit lebende Gedichte wie das Hildebrandslied, doch ist das Wort fittea (§ 7.4) ein Hinweis darauf, daß auch Buchwerke wie der Heliand, die zum Vorlesen bestimmt waren, gesungen vorgetragen wurden, denn für die ae. Entsprechung fit f. ist die Bedeutung ,gesungen vorgetragenes Gedicht(stück)' bezeugt. Den Beweis für den gesungenen Vortrag des Heliand liefert eine Reihe von Neumen, die erst B. T a e g e r in ihrer Bedeutung erkannte und bekanntmachte. Sie sind in der Münchener Heliand-Hs. auf f. 5r (drei vereinzelte vielleicht auch auf f. 6 r ) über den V.en 310b-313a eingetragen, kaum später als der Text selbst (um 850). Es ist ungewiß, ob sich aus ihnen eine vollständige Melodie rekonstruieren läßt, wie E. Jammers es auf Grund der Neumen in der Heidelberger Otfrid-Hs. für zwei V.e des Evangelienbuchs versucht hat (s. Reimvers, Altd. § 3), denn die Neumen des Monacensis sind weniger differenziert und vollständig als die des Palatinus. Sie lassen anscheinend keine Beziehung zur metrischen und/oder syntaktischen Struktur der Heliand-V.e erkennen, so daß man für die genaueren Einzelheiten des Vortrags wohl auf Vermutungen angewiesen bleibt. Vor allem bei der Buchepik könnte man an einen dem gregorianischen Rezitativgesang angenäherten Vortrag denken. Es ist jedoch auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß St.e hier und erst recht in der mündlichen Dichtung in einer schlichten, nicht taktgebundenen Langzeilenmelodie gesungen wurden, die sich den wechselnden Versstrukturen anpaßte und unauffällig genug war, um bei ständiger Wiederholung nicht störend zu wirken. Sie könnte bis zu einem gewissen Grad das gleichbleibende Element dargestellt haben, das dem St. in der sprachlich-metrischen Realisierung fehlt. Es ist auch möglich, daß die Melodie bei längerem Versvortrag abschnittsweise verändert und die Fittengrenze dadurch hörbar gemacht wurde. Dann läßt sich erklären, warum im Heliand

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Stabreimvers

manche Fitten mitten in der Langzeile beginnen und schon an deren Anfang durch Ini-' tiale markiert sind. Beim Vortrag des Werkes konnte die andere Möglichkeit der Grenzmarkierung, die durch Pause, schlecht verwendet werden, denn diese hätte v o r der Langzeile die vorausgehende Satzverbindung und i n ihr die Stabreimverbindung zerrissen. Ein Wechsel der Langzeilenmelodie konnte dagegen eine im Abvers beginnende neue Fitte ohne Störung schon in dem noch zur alten Fitte gehörenden Anvers ankündigen. 2. Ebenso wie die Verskunst in anderen mündlichen Gedächtniskulturen lebte wahrscheinlich auch die Kunst des St.s beim mündlichen Vortrag in nicht geringem U m fang aus der Improvisation. Längere Erzählgedichte brauchten nicht wirklich auswendig gelernt zu werden. Geübte Vortragsdichter konnten die in erster Linie inhaltlich tradierten Gedichte aus älterer Zeit ebenso wie aktuelle Stoffe erst während des Vortrags in St.e bringen - was nicht ausschließt, daß sie einprägsamere Stellen in relativ fester Text- und Versform tradierten. D a es auch beim Hildebrandslied nicht sicher ist, ob es mündlich einen völlig festen Text gehabt hatte, könnten seine Verse zumindest teilweise erst bei der Niederschrift ihre überlieferte Form erhalten haben. Die St.technik der as. Buchepik dürfte ihre Grundlage ebenfalls in der mündlichen Improvisationskunst gehabt haben, das Komponieren in Fitten ebenso wie der im Heliand besonders stark hervortretende Hakenstil. (§ 7.3). Dieser, der „entwickelte Bogenstil", in dem Heusler „den Redefluß des Vorlesers, auch des Predigers" zu hören meinte (I, § 362), muß auch für das mündliche Erzählen in improvisierten St.n denkbar gut geeignet gewesen sein, zumal in Verbindung mit der Variation, die, im Anvers stehend, dem Rhapsoden die Aufgabe erleichterte, eine zur Fortsetzung der Aussage im Abvers passende Kombination stabender Wörter zu finden. K. M ü l l e n h o f f , Vittea. ZfdA. 16 (1873) S. 141-143. J. M ü l l e r - B l a t t a u , Musikalische Studien zur agerm. Dichtung. Ein Versuch, DVLG. 3 (1925) S. 536-565. D. Hofmann, Die Frage d. musikalischen Vortrags d. agerm. Stabreimdichtung in philol. Sicht. ZfdA. 92 (1963) S. 83-121, 240. E. Wehrlich (1964, s.o. zu § 7 ) S. 202-212 (Belege für ae., me. fit). 213-222 (Belege f. d. Improvisationstechnik),

223ff. (Vortrag der Fitte; im einzelnen manches zweifelhaft, ganz bes. d. Herleitung aus getanztem Kultgesang). D. H o f m a n n u. E. Jammers, Zur Frage d. Vortrags d. agerm. Stabreimdichtung. ZfdA. 94 (1965) S. 185-195. D. H o f mann, Vers u. Prosa in d. mündl. gepflegten mal. Erzählkunst d. germ. Länder. Friihmal. Studien 5 (1971, S. 135-175) S. 140f. (Improvisationstechnik), 147 f. (Text d. Hildebrandsliedes). B. Taeger, Ein vergessener handschriftlicher Befund: Die Neumen im Münchener 'Heliand'. ZfdA. 107 (1978) S. 184-193. § 9. D i e U n r e g e l m ä ß i g k e i t e n im V e r s b a u : Mehr als in der ae. und der autochthonen anord. Dichtung sind in der adt. Dichtung Abweichungen von den als normal zu bezeichnenden Formen des St.s festzustellen, ganz besonders in den ahd. Denkmälern: Verse mit unregelmäßiger Stabsetzung, Akzentstruktur und Wortstellung. Man hat das gern als Bewahrung alter metrischer Freiheit deuten wollen. Das mag insbesondere für die Zaubersprüche insofern gelten, als man bei ihnen wohl von jeher mehr Wert auf praktische Wirkung als auf gute Verse legte. Im übrigen hatte die ahd. St.tradition sicher, wie jede andere, gewisse alttradierte Besonderheiten. Die meisten Unregelmäßigkeiten der überlieferten ahd. St.e sind jedoch eher Zeichen der nachlassenden Lebenskraft der alten Tradition, am deutlichsten dann, wenn sie ein gestörtes Verhältnis zu der alten sprachlichen Grundlage der St.kunst erkennen lassen. Sie finden sich im Wessobrunner Gebet - vollends dann, wenn auch im zweiten Teil St.e gemeint sein sollten - und besonders im Muspilli, das seine Nähe zum neuen Endreimvers außerdem durch die deutliche Bevorzugung der „alternierenden" Verstypen A und B , durch das mehrfache Auftauchen zusätzlicher endreimender Assonanzen und durch die Aufnahme zweier echter Endreim-Langzeilen (61 f.) verrät. Selbst die Unregelmäßigkeiten des aus alter mündlicher Tradition stammenden Hildebrandsliedes erklären sich zumeist aus dem späten Entwicklungszustand der ahd. St.tradition zur Zeit der Aufzeichnung (§ 8.2), z. B . die falsche Stabsetzung in beiden Hälften von V . 60. Außerdem lassen sich die unregelmäßigen Verse nicht trennen von den unvollständigen oder nicht stabenden Versen, hinter oder vor denen man Textlücken anzunehmen pflegt. D a aber keine inhaltlichen Lücken er-

Stabreimvers kennbar sind, ist das unwahrscheinlich (E. R . Friesse, E . A . Ebbinghaus). Das alte Lied scheint schon bei der Niederschrift stellenweise unvollkommen versifiziert worden zu sein. A . Campbell u. a. wollten in den unregelmäßigen Versen des Hildebrandsliedes und des ae. Finnsburhliedes Zeugen dafür sehen, daß der Versbau im mündlichen Heldenlied seit alters freier gewesen sei als im schriftlichen Epos. Eine solche Differenzierung ist wenig wahrscheinlich. Die Ähnlichkeit gewisser Verse in beiden Liedern wird eher darauf zurückzuführen sein, daß der fragmentarisch überlieferte Text des ae. Liedes, der einige schwere Verstöße gegen die alten Regeln zeigt, ebenfalls erst auf später Entwicklungsstufe des St.s schriftlich geworden ist, vermutlich lange nach dem Beowulf-Epos, in dem ein Finnsburhlied verwendet ist, aber sicher nicht der überlieferte Text, sondern ein alter mündlicher Vorgänger. Im übrigen müssen unregelmäßige Verse nicht unbedingt schlecht sein: Die Befreiung von alten Regeln konnte dem St. neue Wirkungsmöglichkeiten erschließen. Lebenskräftiger als die ahd. zeigt sich die as. St.tradition in Heliand und Genesis mit ihrem sorgfältig sprachbezogenen Stabreimgebrauch. Auch im Versbau ist manchmal Altes bewahrt (in einem C-Verstyp nach Kuhn sogar Älteres als im Beowulf). Andererseits sind jedoch manche Verse als jüngere Bildungen zu betrachten, die z. T . erkennbar durch sprachliche Neuentwicklungen bedingt oder gefördert worden waren. Solche Anpassung an Veränderungen der Sprache war hier aber offenbar noch möglich, ohne daß es damit schon zur wirklichen Auflösung der alten St.kunst kam. Zusammen mit alten Heldenliedern, die wohl seit der zweiten Hälfte des 9. Jh.s aus Deutschland bis nach Norwegen und dann nach Island wanderten, kamen St.e der im Süden üblichen Art in den Norden, wo sie als metrische Besonderheiten in den „Fremdstoffliedern" der Edda (Kuhn) beibehalten und vereinzelt in eigener Dichtung nachgebildet wurden. Hans Kuhn, Das Füllwort of-um im Awestnord. Beiträge zur agerm. Metrik (1929; Zs. f. vgl. Sprachfschg. auf d. Gebiete d. indogerm. Spr. Erg.-H. 8) S. 50-53 (C-Verse mit Präfix u. „Auflösung" im Hei.). Ders., Westgermanisches in d. anord. Verskunst. PBB. 63 (1939) S. 178-

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236 = Kl. Sehr. I (1969) S. 485-527. E. R. F r i e s s e , Gaps in the 'Hildebrandslied'. MLR.49 (1954) S. 214f. Ders., The Form of the 'Wessobrunn Prayer IV, ebd. 50 (1955) S. 317-319. A. C a m p b e l l , The Old English Epic Style, in: English and Medieval Studies Presented to J. R. Tolkien (1962) S. 13-26, bes. S. 16-18. W. P. Lehmann, Das 'Hildebrandslied': ein Spätwerk. ZfdPh. 81 (1962) S. 24-29. E. A. Ebbinghaus, Some Heretical Remarks on the Lay of Hiltibrant and Hadubrant, in: Taylor Starck Festschr. (1964) S. 140-147. St. Sonderegger, Frühe Erscheinungsformen dichterischer Sprache im Ahd., in: Typologia litterarum. Festschr. f. M. Wehrli (1968, S. 53-81) S. 57-69 (Nachleben u. Zerfall germ. Dichtungsformen). P. F. Ganz, Die Zeilenaufteilung im 'Wessobrunner Gebet', in: Festschr. f. Ingeborg Schröbler (1973; PBB. Tüb. 95, Sonderbd.) S. 39-51. N. Voorwinden, Das Wessobrunner Gebet. Bemerkungen zu Entstehung u. Form. Neophil. 59 (1975) S. 390-404. Hans Kuhn, Dies und das zum 'Hildebrandslied'. ZfdA. 104 (1975) S. 21-31, bes. 21-25, wiederh. in: Kuhn, Kl. Sehr. Bd. 4 (1978) S. 155-157. § 10. D e r n h d . S t . : D e r seit dem 19. J h . von einigen Schriftstellern und Gelehrten wiederbelebte St. hat mit dem agerm. St. nur noch den mehr oder weniger regelmäßig verwendeten Stabreim gemeinsam. Unter ganz anderen sprachlichen und literar. Verhältnissen hat er nur begrenzte Wirkungsmöglichkeiten. In literar. Werken wie denen von Fr. de la Motte Fouque (1808) und W . Jordan (1867/ 1868, 1874) ohnehin schon wieder historisch geworden, in R . Wagners Ring des Nibelungen (1848-53) wohl nur noch durch die Musik getragen und erträglich, dürften St.e heute nur in Ubersetzungen alter Stabreimgedichte aus allen agerm. Uberlieferungszweigen ihren Platz haben, obwohl sie auch hier den Originalversen nicht voll entsprechen können. Der seit langem veränderten Verstradition entsprechend, sind sie heute taktgebunden und bevorzugen daher den ziemlich regelmäßigen Wechsel von Hebungen und Senkungen - wie schon das ahd. Muspilli. Paul H e r r m a n n , Richard Wagner u. d. Stabreim (1883). Hermann Wiessner, Der Stabreimvers in Richard Wagners 'Ring des Nibelungen' (1924; GermSt. 30; Neudr. 1967). W. Stapel, Stabreim u. Endreim. WirkWort 4 (1953/54) S. 140-151, bes. S. 146-148. Wolfgang Kayser, Geschichte d. dt. Verses (1960) S. 131-134.

Dietrich Hofmann

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Stegreifspiel

Stegreifspiel § 1. Aus der Eingebung des Augenblicks gespielte Szene, auch E x t e m p o r e genannt, oder improvisiertes Theaterstück o h n e literarisch festgelegten T e x t , abgeleitet von Stegreif (Steigbügel), heißt also wörtlich Theaterspielen, ohne v o m Pferd zu steigen. I m p r o v i s a t i o n kennzeichnet das profane mimische Spiel von Naturvölkern und das Rollenspiel unverbildeter Kinder, die Auftritte von N a r r e n und Fastnachtsfiguren gestern und heute, aber auch das unliterar. Theaterstück der Berufsschauspieler von den griech. und r ö m . M i m e n über die mal. Histrionen bis zu den W a n d e r komödianten der N e u z e i t . Jacob Grimm u. Wilhelm G r i m m , Dt. Wörterbuch, Bd. 10 (1919) Sp. 1386-1394. Oskar E b e r l e , Cenalora. Leben, Glaube, Tanz u. Theater d. Urvölker (1955) S. 43, 68f., 256, 485ff., 496f., 501 ff., 509f„ 526. Elisabeth G o r ding, Dramatisches Spiel. Von kindlicher Improvisation zum Jugendtheater (1971). Siegfried M e l c h i n g e r , Versuch einer Grundlegung, in: Das Atlantisbuch des Theaters. Hg. v. Martin Hürlimann (1966) S. 22ff. E. W ü s t , Mimos. Pauly-Wissowa Bd. 15 (1932) Sp. 1727-1764. Heinz K i n d e r m a n n , Theatergeschichte Europas. Bd. 1 (1957) S. 89-92, 136ff., 393-397, 414. Edmund Stadler, Das Theater der Antike und des MA.s, in: Das Atlantisbuch des Theaters (1966) S. 459ff., 500ff. Karl V r e t s k a , Mimos. Der kleine Pauly. Bd. 3 (1969) Sp. 1309-1313.

§ 2 . D i e um die Mitte des 16. J h . s von italien. K o m ö d i a n t e n ausgebildete C o m m e d i a d e 1 1 ' a r t e legt nur das Szenarium (Canevas) fest, so daß alles andere von den Schauspielern improvisiert werden m u ß , und heißt deswegen auch C o m m e d i a a soggetto (Sujet) oder C o m m e d i a a l l ' i m p r o w i s o (Stegreifkomödie). Zwar sind die Rollen typisiert und ergeben sich mit der Zeit stehende Redensarten und bestimmte körperliche A k t i o n e n (lazzi), aber schöpferische K o m ö d i a n t e n erfinden immer wieder N e u e s . Italien. Truppen machen die C o m m e d i a dell'arte auf ihren Wanderfahrten seit der zweiten Hälfte des 16. J h . s auch in Österreich und Deutschland bekannt. W e s e n t liche Einflüsse auf das Berufstheater im dt. Sprachgebiet gehen jedoch erst im 18. J h . von ihrer franz. U m f o r m u n g mit Arlequin als erster komischer Figur aus, der „ C o m é d i e italienne", die der 1716 nach Paris berufene italien. Lelio-Darsteller und T h e o r e t i k e r Luigi R i c c o b o n i reformiert hat.

Herbert H o h e n e m s e r , Pulcinella, Harlekin, Hanswurst (1940; Die Schaubühne 33). Heinz B ö h l e n , Der Einfluß d. Commedia dell'arte auf d. europäische Komödie d. 17. u. 18. Jh.s. (Masch.) Diss. Marburg 1944. Richard A l e w y n , Schauspieler u. Stegreifkomödie d. Barock. Mimos und Logos. E. Festg. für Carl Niessen (1952) S. 1-18. Artur K u t s c h e r , Die Comedia dell'arte u. Deutschland (1955; Die Schaubühne 43). Pierre-Louis D u c h a r t r e , La Commedia dell'arte et ses enfants (Paris 1955). Gino Tani, Commedia dell'arte. In: Enciclopedia dello spettacolo Bd. 3 (1956) Sp. 11851226. Vito P a n d o l f i , La Commedia dell'arte. Bd. 1-6. (Florenz 1957-1961). Heinz K i n d e r mann a . a . O . Bd. 3 (1959) S. 268ff. Xavier de C o u r v i l l e , Lélio. Premier historien de la Comédie italienne et premier animateur du Théâtre de Marivaux (Paris 1958). Walter H i n c k , Das dt. Lustspiel d. 17. u. 18. Jh.s u. d. ital. Komödie (1967; Germanist. Abhdlgn. 8). § 3 . Improvisation pflegen auch die seit der Mitte des 16. J h . s in England in Erscheinung tretenden Berufsschauspieler. Shakespeare rügt im Hamlet die ehrgeizigen N a r r e n , die m e h r sagen, als in ihrer Rolle steht. B e r ü h m t e I m provisatoren seiner Zeit sind William K e m p e , der auch in D r a m e n Shakespeares extemporiert, T h o m a s Wilson und Richard T a r l e t o n . A u f ihren Wanderfahrten, die sie, darunter William K e m p e , seit dem späten 16. J h . auch nach Deutschland führen, legen die E n g l i s c h e n K o m ö d i a n t e n ( s . d . ) in ihre oft blutrünstigen Theaterstücke m e h r oder weniger improvisierte Zwischenspiele des C l o w n ein und beschließen sie mit burlesken Nachspielen ( s . d . ) . D e r besonders beliebte Pickelhering beeinflußt in seiner dt. Abwandlung noch Stranitzky (s. u . ) , den ersten W i e n e r Hanswurst (s. Hanswurstspiel). Szenische Bemerkungen in der ersten Textsammlung Englische Comedien und Trage dien ( 1 6 2 0 ) erweisen, wie beliebt das Stegreifspiel bei den Gastspielen der „ E n g l i schen K o m ö d i a n t e n " ist. D i e aus ihnen entstehenden deutschen Wandertruppen improvisieren in den komischen Szenen der barocken H a u p t - und Staatsaktionen ( s . d . ) und vor allem in den burlesken Nachspielen. E x t e m porieren ist noch im frühen 18. J h . so verbreitet, daß gelegentlich auch das Jesuitentheater dazu greift wie 1706 in Aachen. Franz. Wandertruppen tragen bei ihren Gastspielen in Deutschland seit dem frühen 18. J h . mit ihren nicht m e h r vom D r a m e n t e x t abweichenden Darstellungsstil zum K a m p f e gegen das Extemporieren bei. J o h a n n G o t t -

Stegreifspiel fried Gottsched wendet sich in seiner seit 1725 nach franz. Vorbild angestrebten Theaterreform auch gegen das Stegreifspiel des Harlekin und findet seit 1727 bei dem in Leipzig wirkenden Schauspielerehepaar Neuber Schützenhilfe. Karoline Neuber verbannt 1737 in einem Nachspiel Harlekin von der Bühne, der allerdings meist als Hänschen in ihren Nachspielen bald wieder auftaucht. Johann Friedrich Schönemann, seit 1740 Gefolgsmann Gottscheds, verzichtet erst als Direktor des Hoftheaters in Schwerin (1750-1756) auf burleske Nachspiele. Bestärkt wird er durch den Schauspieler Konrad Ekhof, der in der von ihm aus Mitgliedern des Ensembles in Schwerin gebildeten Akademie (1753-1754) Haupt- und Staatsaktionen und Harlekinaden aus dem Repertoire ausschließt und die Improvisation verwirft. Aber Schönemanns Nachfolger Heinrich Gottfried Koch fügt sogar improvisierte Zwischenspiele in Dramen von Johann Elias Schlegel und Lessing ein. Friedrich Ludwig Schröder, der sich 1767, nach der Errichtung des ersten deutschen Nationaltheaters (s.d.), vorübergehend der in Deutschland herumziehenden Truppe des Wieners Kurz-Bernardon (s.u.) anschließt, erkennt hier die schulische Bedeutung der Improvisation. Lessing, der die Improvisation des Wiener Hanswurst Franz Schuch bewundert, zieht eine „gesunde rasche Posse" einem „lahmen oder kranken Lust- oder Trauerspiele" vor. Er übersetzt als nachzuahmende Vorbilder die bürgerlichen Trauerspiele Der natürliche Sohn und Der Hausvater und ihre Nachworte (1760), in denen der franz. Autor und Theateraesthetiker Denis Diderot verlangt, daß der Dramatiker gewisse Stellen fast ganz dem Schauspieler überlassen soll bzw. die natürliche Entwicklung der ital. Schauspielkunst dank der Improvation hervorhebt. Justus Moser veröffentlicht seine Schrift Harlekin oder Verteidigung des Grotesk-Komischen (1761). Goethe tritt im dritten Buch (1782) seines Romanfragmentes Meister Wilhelms theatralische Sendung für das Extemporieren als „Schule und Probierstein des Akteurs" ein und den Dichter, der die besonderen Gaben des Schauspielers, „die lebhafte Einbildung, die Gewandtheit, die Kenntnis des Theaters, die Gegenwart des Geistes", einsetzt. Auf seiner italienischen Reise bewundert er in Venedig eine Stegreifkomödie mit Masken. Im zweiten Band (1795) seines Romans Wilhelm

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Meisters Lehrjahre hält er Improvisationsübungen unter Schauspielern für sehr nützlich und vertritt die Ansicht, daß diese in jedem Monat einmal ein extemporiertes Stück aufführen sollen. Als Direktor des Hoftheaters in Weimar verbietet er allerdings jegliche Improvisation. Schiller setzt in seiner 1802 in Weimar uraufgeführten Übertragung von Gozzis Turandot, die von Gozzi, der mit seinem „Fiabe" (Märchendramen) die Commedia dell'arte erneuerte, vorgesehenen Extempores in literarisch festgelegte Dialoge um. Um die Wende des 18. zum 19. Jh. hebt der Schauspieler Johann Christian Brandes den Wert der Improvisationsschule hervor und wünscht improvisierte Burlesken zurück, bedauert der Leipziger Buchdrucker und Schriftsteller Johann Gottfried Dyk das Ende der Improvisation und empfiehlt im sechsten Bande seines Nebentheaters (1786-1788) den jungen Schauspielern Improvisationsübungen, hält der Burgschauspieler J . H. F. Müller in seinem Abschied von der k. k. Hof- und Nationalbühne (1802) fest, daß das Extemporieren zumal in Liebhaberfächern nicht so leicht sei wie es scheine, und betont den Wert der Improvisation für das richtige Gebärdenspiel, die Schulung der Geistesgegenwart und die Erziehung zu einem aus der Natur gehobenen Vortrag, und improvisiert der dt. Schauspieler und Theaterdirektor Wilhelm August Iffland selbst in ernsten Dramen. Carl N i e s s e n , Uber die Ehe von Theater

und

Dichtung. In: Niessen, Handbuch der Theater-

wissenschaft. Bd. 1, 1 (1949) S. 332-336. Hans Knud s en, Deutsche Theatergeschichte (1959; Kröners Taschenausg. 270) S. 135, 175, 181, 201. Heinz K i n d e r m a n n a . a . O . Bd. 3 (1959) S. 101 ff., 107, Bd. 4 (1961) S. 65, 79f., 333ff„ 342, 474f., 487, 502, 506, 510, 538. Johann Wolfgang v. G o e t h e , Gedenkausgabe der

Werke, Briefe u. Gespräche (1949) Bd. 7, S. 127f.,

Bd. 8, S. 668f. Diedrich D i e d e r i c h s e n ,

Goethe

u. d. komödiantische Theater. Maske u. Kothurn 15 (1969) S. 29-38.

§ 4. Eine Hochburg des Stegreifspiels bleibt trotz vorübergehender Verbote und Zensur bis ins 19. Jh. hinein das W i e n e r V o l k s t h e a t e r , das 1712—1769 im Kärntnertortheater und seit den folgenden 80er Jahren in den Wiener Vorstadttheatern stehende Bühnen bekommt. Joseph Anton Stranitzky, der 17121726 das Kärntnertortheater leitet, wird im ganzen dt. Sprachgebiet als Schöpfer des ersten

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Stegreifspiel

Wiener Hanswurst in Salzburger Bauerntracht und als Autor von Stegreifspielen bekannt. Zu noch größerer Vollendung bringen seit 1737 das Wiener Stegreifspiel die Komiker-Autoren Gottfried Prehauser, der als „neuer Wiener Hanswurst" Furore macht, und Joseph Felix von Kurz, nach der von ihm 1741 geschaffenen Figur eines einfältigen Jungen Bernardon genannt. Für Kurz-Bernardon bedeutet das genau nach dem Text spielen keine Kunst im Gegensatz zur Improvisation, die Witz und Geist erfordere. Seine Stegreifspiele werden bald Bernardoniaden genannt. Seine immer extemporierten Monologe führen wegen persönlicher Angriffe zum Verbot des Stegreifspiels durch Kaiserin Maria Theresia (1752) und treiben ihn vorübergehend ins Exil. Aber schon 1754 darf er dank der Protektion von Kaiser Franz I. ans Kärntnertortheater zurückkehren, 1752-1757 sind im Repertoire des Kärntnertortheaters noch gut zwei Drittel Stegreifspiele. Johann Georg Heubel, seit 1752 Direktionssekretär der Bühne, tritt selber mit 22 Stegreifspielen hervor. Der aus Sachsen stammende Komiker-Autor Friedrich Wilhelm Weiskern, der seit 1734 am Kärntnertortheater als komischer Alter Odoardo auftritt, sucht nach einem gerechten Ausgleich zwischen literar. Drama und Stegreifspiel, für das er über hundert Szenarien verfaßt. Seine Wiener Kollegen Josef Karl Huber, der 1747 den Leopoldl kreiert, der Harlekindarsteller Johann Wilhelm Mayburg u. a. treten ebenfalls als Autoren von Stegreifspielen hervor. Der Schauspieler-Autor Philipp Hafner, der zur Ausmerzung allzuderber und platter Zwischenspiele rät (1755), trägt anfang der 60er Jahre mit seinen Wiener Lokalstücken zur Rettung des Stegreifspiels bei, das die 1761 in Wien gegründete „Deutsche Gesellschaft" bekämpft. Deren Mitglied, der Staatsrechtslehrer Joseph von Sonnenfels, veröffentlicht in diesem Sinne seine Briefe über die wienerische Schaubühne (1767/68). Als er 1770 zum „Censor des deutschen Theaters in Wien" ernannt wird, sieht er in seinen Richtlinien für Schauspieler weitgehende Sanktionen, von Arrest bis Auftrittsverbot, für jegliches Extemporieren in Wort und Gebärde vor. Das Stegreifspiel lebt jedoch bei den gelegentlich auch in Wien gastierenden österreichischen Wandertruppen weiter und findet dank der Aufgeschlossenheit von Kaiser Joseph II. in den seit den 80er Jahren entstehenden Volksbühnen in den Wiener Vor-

städten, (Leopoldstadt, Auf der Wieden, Josefstadt) eine neue Heimstatt. Johann Laroche, der den heute noch als Improvisator im Puppentheater (s. d.) weiterlebenden Kasperl kreiert, und Anton Hasenhuth (Thaddädl) werden bald, nicht zuletzt wegen ihrer Extempores in stetem Kontakt mit dem Publikum, über Wien hinaus berühmt. Der Burgschauspieler Heinrich Anschütz hält in seinen Erinnerungen (1866) bewundernd fest, wie die Volksschauspieler des Leopoldstädter-Theaters für den durch die Zensur gefesselten Dichter mit Extempores einsprangen. Nicht nur Friedrich Joseph Korntheuer, einer der größten Wiener Komiker der 20er Jahre des 19. Jh.s, sondern auch die Schauspieler-Autoren Ferdinand Raimund und Johann Nestroy sind hervorragende Stegreifspieler. Nestroy, der auf Proben meist nur unfertige Texte mitbringt und durch Improvisation zur endgültigen Fixierung kommt, erregt mit seinen beißendspöttischen Monologen heftige Kritik des dt. Aesthetikers Friedrich Theodor Vischer, der das Stegreifspiel als niedriges Possenspiel ablehnt. In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s führt der Komiker Carl Blasel, 1885-1889 Direktor des Josefstädter-, 1889-1895 des Carltheaters, 1899-1901 des Kolosseums, wo er mit der Aufführung einaktiker Possen und Burlesken großen Zulauf hat, die Tradition der großen Stegreifspieler fort. In den 40er Jahren des 20. Jh.s bestehen in Wien noch mehrere Stegreiftheater, heute noch in Wien-Ottakring die bald siebzigjährige „Tschauner'sche Bühne", die sich als das „letzte Stegreiftheater Europas" bezeichnet, erst kurz vor der Aufführung die Szenarien festlegt und die Rollen verteilt. Artur T u l l a , Wiener Stegreif-Komödien aus den Jahren 1752-1757. ZfBuchfr. N . F. 10, 2 (1919) S. 169-172. Ders., Johann Georg Heubel (1721-1762). E. typograph. Beitr. z. Gesch. d. Wiener Stegreifspiels. Ebda, S. 295-298. Otto R o m m e l , Die Alt-Wiener Volkskomödie. Geschichte vom barocken Welttheater bis zum Tode Nestroys (1952). Peter M ü l l e r , Carl Blasel, der letzte Wiener Komiker Prehauser'schen Geistes. (Masch.) Diss. Wien 1948. Agnes B r o d y , Die Elemente des Stegreiftheaters bei Raimund. (Masch.) Diss. Wien 1953. Heinz K i n d e r m a n n a.a. O . Bd. 4 (1961) S. 25-129, 535, 617ff., 624f., 630, 654, 675, 677, 693, 703.

§ 5. Im frühen 20. Jh. wird die Bedeutung der Improvisation von der Theateravantgarde

Stegreifspiel neu entdeckt. Maxim Gorki, der in Neapel Stegreifkomödien erlebt, regt eine Renaissance der Commedia dell'arte in Rußland an, die getragen von den hervorragenden Regisseuren Wsewolod Meyerhold (seit 1906), Alexander Taïroff (seit 1913) und Jewgeni Wachtangow (seit 1916) auf ganz Europa ausstrahlt. Der Engländer Edward Gordon Craig, für den nur die Kunst der Improvisation eine Regeneration des Theaters ermöglicht, gliedert als erster Schauspiellehrer in sein Theaterlaboratorium in Florenz (1913-1914) die Improvisation als wichtiges Fach für die Erziehung des Schauspielers ein und weist auf die Improvisationskunst eines Luigi Riccoboni (s. § 2) hin. Auch bei dem Franzosen Jacques Copeau spielt die Improvisation in seiner 1919 gegründeten „Ecole du Vieux Colombier" und bei den Versuchen mit den „ C o p i a u x " im Burgund (seit 1924), eine Renaissance der Commedia dell'arte herbeizuführen, eine große Rolle. Der Österreicher Max Reinhardt versucht schon um 1914, vor allem aber in den zwanziger Jahren, Darsteller stegreifspielmäßig in von der Commedia dell'arte angeregte Inszenierungen einzusetzen und findet in Max Pallenberg, der auch an anderen Bühnen als hervorragender Improvisator von sich reden macht, Hermann Thimig, Richard Romanowsky, Hans Moser u. a. eigenschöpferische Kräfte. 1924 veröffentlicht Jacob L . Moreno (s. u.) anonym ein Regiebuch für Stegreifspiele. Alexander T a ï r o f f , Das entfesselte Theater (1923; 2. Auflage. 1927). Wsewolod E. M e y e r h o l d , Le théâtre théâtral (Paris 1963). Jürgen R ü h l e , Das russische Theater. In: Das Atlantisbuch d. Theaters (1966) S. 787-790. Denis B a b l e t , Edward Gordon Craig (dt. Ubers. 1965) S. 191-195. Anton H e g n e r , Jacques Copeau u. d. Théâtre du Vieux Colombier. (Masch.) Diss. Wien 1953. Edda L e i s l e r u. Gisela P r o s s n i t z , Max Reinhardt u. d. Welt d. Commedia dell'arte (Salzburg 1970; Publ. d. Max-Reinhardt-Forschungsstätte 1). Das Stegreiftheater. E. Regiebuch für Stegreifspiele (1924). Heinz K i n d e r m a n n , a . a . O . Bd. 8 (1968) S. 481-496, 530ff., Bd. 9 (1970) S. 194ff., 204, 331 ff., 335f., 337ff., 353f., 358. Ursula A h r e n s , Max Pallenberg (1877-1934). Untersuchungen zu s. Bühnenstil. Diss. Berlin (FU) 1972, S. 191-195.

§ 6. Der Russe Konstantin Stanislawsky läßt seit den 20er Jahren seine Schauspieler auf Proben „physische Handlungen", körperliche und mimische Aktionen, erfinden, was

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in den 30er Jahren von amerikanischen, in den 50er Jahren von dt.sprachigen Schauspielschulen übernommen wird. In Deutschland bedauert Hermann Schultze nach dem Zweiten Weltkrieg, daß das schöpferische Wechselverhältnis von Spiel und Sprache verschoben sei und schlägt Improvisation als Korrektur vor, die er allerdings auf alle theatralischen Künste und Kunstmittel ausdehnt. Von der improvisatorischen Kraft erhofft er sich eine entscheidende und einschneidende Neuerung für den gesamten Kulturorganismus der Theaterkunst und gründet zu diesem Zweck 1947 in Nettelstedt in Westfalen eine Landhochschule für Bühnenkunst. Seit den 50er Jahren ist die Improvisation wichtiges Fach aller dt.sprachigen Schauspielschulen. Der dritte Kongreß des Internationalen Theaterinstitutes in Essen (1966) ist dem Thema „Von der Improvisation zur Darstellung in allen Stilen" gewidmet. Auswirkungen auch auf die dt. Dramatik werden nicht ausbleiben, nachdem schon das Kabarett und die Pantomime z. T . auf Improvisation ausgerichtet sind und das moderne Straßentheater sich ihrer bedient. Amerikanische und englische Truppen haben auf diesem Gebiete schon Außerordentliches erreicht. Konstantin S t a n i s l a w s k y , Das Geheimnis d. schauspielerischen Erfolges (1938). Ders., Die Arbeit d. Schauspielers an seiner Rolle (1949). Ders., Die Arbeit d. Schauspielers an sich selbst (1952). Fred H a i t i n e r , Gibt es eine Methode? Ein Bericht über das Actor's Studio in New York. Theater heute 11 (1970), H. 9, S. 29ff. Hermann S c h u l t z e , Theater aus d. Improvisation. Gedanken zu e. schöpferischen Wiedergeburt d. Bühnenkunst (1952; Die Schaubühne 44). Henning R i s c h b i e t e r , Schauspielerausbildung. Theater heute 1964, H. 2, S. 26ff. Agnes S c h o c h , Improvisation, Beobachtung, Phantasie. Notizen zum Kongress d. Schauspielschulen in Essen. Theater heute 1966, H. 6, S. 38ff. Dies., Schauspielpädagogik. Theater heute 1970, H. 12, S. 1 ff. Siegfried M e l c h i n g e r , Die Schauspieler von morgen. Theater heute 1970, Sonderh. S. 48ff. John H o d g s o n u. Ernest R i c h a r d s , Improvisation. Discovery and Creativity in Drama (Scranton/Pennsylvania 1966). Arno P a u l , San Francisco Mime Troupe. Theater heute 18 (1977) H. 5, S. 25ff.

§ 7. Der aus Rumänien stammende, 19101927 in Wien (seit 1917 als Psychiater) wirkende Jacob L . M o r e n o erkennt unmittelbar vor und während des Ersten Weltkrieges die Spontaneität und Kreativität des Rollenspiels

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Stegreifspiel

von Kindern und ihre psychotherapeutische Wirkung. Er wendet seine Erfahrungen auch in psychisch gefährdeten Familien und in Flüchtlingslagern an. 1921-1925 leitet er in Wien ein Stegreiftheater und kritisiert den literar. Charakter des westlichen Theaters. Bereits 1923 prägt er den Begriff P s y c h o d r a m a , das er zur Grundlage seiner Gruppentherapie macht und 1924 in Wien erstmals öffentlich vorführt. Seine aus maximal 8 Spielern und Zuschauern bestehenden Gruppen legen im Stegreifspiel ihre seelischen Konflikte frei. Nach seiner Emigration in die U S A (1925), wo er sich auch als Sozialwissenschaftler betätigt, setzt er neben das Psychodrama das Soziodrama, in dem gesellschaftliche Konflikte aufgedeckt werden. Er verbreitet seine psycho- und soziodramatische Methode nicht nur an psychiatrischen Kliniken, sondern auch an Schulen und Bühnen: 1936 wird in Beacon/ New Y o r k das erste psychodramatische Theater eröffnet. 1942 gründet er das „Psychodramatic Institute" in New York. Von Amerika strahlt seine aus dem Stegreifspiel entwickelte Gruppenpsychotherapie, nicht zuletzt durch vier internationale Kongresse für Psychodrama, auf Europa zurück, wo sie zum Teil analytisch abgewandelt wird. Jacob L. Moreno, Einladung zu einer Begegnung (1914). Ders., Das Stegreiftheater (1924). Ders., Wbo shall survive? A new approach to the Problems of interrelations (Washington 1934, mit e. autobiographischen Einl., die in der dt. Ubers, von 1954 fehlt). Ders., Psychodrama 2 Bde (New York 1946 u. 1959). Ders., Das Psychodrama. Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie Bd. 4 (1959) S. 312-319. Ders., Gruppenpsychotherapie u. Psychodrama (1959; 2. Aufl. 1973). Enzyklopädisches Handbuch der Sonderpädagogik und ihrer Grenzgebiete. Bd. 2 (1969) Sp. 2624 ff. Das neue Lexikon der Pädagogik. Bd. 2 (1971) S. 174. Lexikon der Psychologie. Bd. 3 (1972) Sp. 25f. Hilarion Petzold (Hg.), Angewandtes Psychodrama in Therapie, Pädagogik, Theater u. Wirtschaft. Festgabe f. J. L. Moreno z. 50jähr. Jubiläum d. Gründung d. Stegreiftheaters in Wien (1972). Kurt von Sury, Wörterbuch d. Psychologie (1974) S. 388. Hilarion Petzold, Das Psychodrama als Methode d. klinischen Therapie, in: Handbuch d. Psychologie. Bd. 8, 2 (1978) S. 2751-2795. § 8. Die Improvisationsübungen amerikan. Theater- und Filmschulen und das Psychodrama auf der einen, das Improvisieren der Jazzschulen und das „actions painting" (Ak-

tionsmalerei) auf der anderen Seite führen in den 50er Jahren in den U S A zum H a p p e n i n g (Ereignis, Geschehnis), das meist nur ein einziges Mal vor sich geht. Das Happening verwischt die Grenzen zwischen Kunst und Leben. Es kann, muß aber nicht das Theaterspiel einbeziehen. Es gibt Happenings, die bis ins letzte Detail von einem Autor festgelegt sind, andere, in denen die Improvisation sowohl bei den Darstellern wie bei den Zuschauern die Hauptrolle spielt, sowie aus diesen beiden Formen gemischte. Nach Anfängen in privaten, meist esoterischen Zirkeln in New Y o r k und San Francisco kommt es bald zu öffentlichen Happenings, geleitet von dem Musiker John Cage, dem Maler Allan Kaprow u. a., die, mit angeregt vom Dadaismus und Surrealismus, vom absurden Theater und vom Theater der Grausamkeit (Antonin Artaud), den Zuschauer durch das Banale, das Ungewohnte, das Exzessive, das Absurde und das Grausame schockieren, damit aus seiner Passivität herausreißen und zu einer objektivierten Erfahrung von Situationen und Umwelt bringen wollen. Bereits anfang der 60er Jahre hält das Happening seinen Einzug in Europa, wo es in Paris unter der Leitung von Ben Vautier, Jean-Jacques Lebel u. a. einen neuen Ausstrahlungspunkt findet. Im dt. Sprachgebiet sind es vor allem Joseph Beuys, Plastiker und Zeichner, Bazon Brock, Kunstpädagoge, und Wolf Vostell, Maler, die mit auch die Politik einbeziehenden Happenings hervortreten, letzterer u. a. 1964 mit dem achtstündigen Happening In Ulm, um Ulm und um Ulm herum im Auftrag des Stadttheaters Ulm, sowie die österreichischen Maler O t t o Mühl und Hermann Nitsch, die blutrünstige, ekelerregende und orgiastische Happenings vorziehen. Improvisation kann auch bei der von den U S A nach Europa vordringenden T h e a t e r A k t i o n , die Darsteller und Publikum, Texter und Musiker, bildende Künstler und Techniker einbezieht, vorkommen, sowie bei der P e r f o r m a n c e , ebenfalls amerikanischen Ursprungs, die bei Kunstausstellungen den lebenden menschlichen Körper in den Vordergrund stellt und dabei Foto, Film, Video und gelegentlich auch Theaterspiel einsetzt. Michael Kirby (Hg.), Happenings. An illustr. Anthology (London 1965). Jürgen Becker u. Wolf Vostell, Happenings, Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. E. Dokumentation (1965;

Stegreifspiel — Stil Rowohlt Paperback 45). Piero S a n v i o , Happening. Enciclopedia dello Spettacolo. Aggiornamento 1955-1965 (Rom 1966). Sp. 473-474. JeanJacques L e b e l , Le happening (Paris 1966). Allan K a p r o w , Assemblage, Environments & Happenings (New York 1966). Gilbert T a r r a b , Le happening. Analyse psycho-sociologique. Revue de la Société d'Histoire du Théâtre 20 (1968) S. 7-102. Wolf V o s t e l l (Hg.), Aktionen, Happenings u. Demonstrationen seit 1965. E. Dokumentation. (1970). Paul G i n i s t i e r , happening. La grande encyclopédie Larousse N o . 28 (Paris 1974) S. 5810ff. Richard S c h e c h n e r , Neue Formen 1: Theater-Aktion oder Environment. Postulate und Erfahrungen. Theater heute 9 (1968), H . 10, S. 31 ff. Joachim D i e d e r i c h s , Zum Begriff 'Performance'. In: documenta 6. maierei, plastik, performance (Kassel 1977) Bd. 1. S. 281 ff. (Vgl. auch die in dieser Publikation S. 285-323 angeführten Beispiele). Edmund

Stadler

Stil Vorbemerkung: In der 1. Aufl. des Reallex. waren S t i l und S t i l i s t i k getrennt. Hier sind sie vereinigt, da sich Stilistik sowohl als Stilforschung wie auch als Stilkunde in die hier gebotene St.Betrachtung leicht einfügen läßt. Auch die Frage von S p r a c h k u n s t und S p r a c h k u n s t f o r s c h u n g sei hier wegen der engen Verflechtung eingeordnet. St. wird ausschließlich als Sprachstil verstanden. Trotz der nötigen entsprechenden Hinweise auf außerdeutsche, bes. franz., engl, und amerik. Forschung wird das Schwergewicht auf die in nicht-dt. Arbeiten oft vernachlässigte dt. Bemühungen gelegt, zumal in den meisten einschlägigen Arbeiten die außerdt. Forschung ohnehin ausreichend herangezogen wird. § 1. G r i e c h . c r r i ^ o ç = P f e i l e r , Säule, lat. stilus = S c h r e i b g r i f f e l , s c h o n bald auch S c h r e i b a r t ; z u n ä c h s t ist diese V e r w e n d u n g auf d i e R h e t o r i k b e s c h r ä n k t ; bis M i t t e 18. J h . f e h l t n o c h die ästhetische Sicht. A b e r s c h o n d a m a l s b e g i n n t d e r I n h a l t des W o r t e s d e n B e r e i c h d e r S p r a c h e z u ü b e r s c h r e i t e n ; es find e t E i n g a n g in d i e B e t r a c h t u n g d e r b i l d e n d e n K ü n s t e (vgl. G o e t h e , Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil. W e i m . A u s g . I 47, S. 77-83), u n d e n d l i c h s p r i c h t m a n v o m St. einer P a r l a m e n t s d e b a t t e , eines Fußballspiels u s w . D a s alles bleibt hier a u ß e r B e t r a c h t . J e a n P a u l s Vorschule der Ästhetik u n d die P h i l o s o p h i e d e s d t . I d e a l i s m u s (bes. Schelling) f ü h r e n d a z u , d e n St.-Begriff im Bereich d e r Sprachkunst anzusiedeln. D e r Positivismus d a g e g e n s c h a l t e t i h n aus s e i n e r S p r a c h b e t r a c h -

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t u n g a u s ; s o w o h l in b e z u g auf das z u e r f o r s c h e n d e M a t e r i a l (Sprachgesetze) wie a u c h auf d e s s e n m e t h o d i s c h e V e r a r b e i t u n g s c h r ä n k t er d e n S p r a c h b e g r i f f ein. A b e r d a n e b e n setzt sich, aus d e r R h e t o r i k t r a d i t i o n u n u n t e r b r o c h e n w e i t e r g e f ü h r t , St. als Begriff d e r Stilkund e als d e r L e h r e v o n d e r g u t e n Sprachverw e n d u n g , b e s o n d e r s in d e r A u f s a t z u n t e r w e i s u n g , fest ( R . M . M e y e r , Dt. Stilistik). Zum Begriff und zur Wortgeschichte: R. A. S a y c e , The Definition of the Term 'Style'. Actes du Ule Congr. de l'Ass. Intern, de litt. comp. (1962) S. 156-166. Nils Eric E n k v i s t , On Defining Style, in: Linguistics and Style. Ed. by John Spencer (London 1964) S. 1-56. Ders., On the Place of Style in Some Linguistic Theories, in: Literary Style. Ed. by Seymour Chatman (London, N e w York 1971) S. 47-64. H . S e i d l e r , Der Begriff d. Sprachstils in d. Literaturwissenschaft. Sprachkunst 1 (1970) S. 1-19. E. C a s t l e , Zur Entwicklungsgesch. d. Wortbegriffes Stil. G R M . 6 (1914) S. 143-160. Bibliographien: Helmut H a t z f e l d , Bibliografía crítica de la nueva estilística. Aplicada a las litteraturas románicas (Madrid 1955; vollständiger als die engl. Ausg. 1953). Louis T. M i l i c , Style and Stylistics. An Analytical Bibliography (New York, London 1967). Richard W. B a i l e y u. Dolores M. B u r t o n , English Stylistics. A Bibliography (Cambridge, Mass., London 1968). T. T o d o r o v , Les études du style, bibliographie sélective. Poétique 2 (1970) S. 224-232. Bernd S p i l l n e r , Linguistik u. Literaturwissenschaft. Stilforschung, Rhetorik, Textlinguistik (1974) S. 120-144. Einführende Werke, Standardwerke: Seymour C h a t m a n (Hg.), Literary Style. A Symposium (London, New York 1971). Giacomo D e v o t o , Studi di stilistica (Firenze 1950). Ders., Nuovi studi di stilistica (Firenze 1962). Nils Eric E n k v i s t , Linguistic Stylistics (The Hague, Paris 1973; Ianua linguarum, Ser. critica 5). Jens I h w e (Hg.), Literaturwissenschaft u. Linguistik. Ergebnisse u. Perspektiven. 4 Bde (1971/72); vgl. hierzu H . S e i d l e r , Um d. Problemkreis von Literaturwiss. u. Linguistik. Sprachkunst 5 (1974) S. 123138. Wolfgang K a y s e r , Das sprachliche Kunstwerk (1948; 16. Aufl. 1973). Helmut K r e u z e r u. Rul G u n z e n h ä u s e r (Hg.), Mathematik u. Dichtung (1965; 3. Aufl. 1969; Samml. Dialog 3). Heinrich L a u s b e r g , Handbuch d. literar. Rhetorik. 2 Bde (1960). Ders., Elemente d. literar. Rhetorik (5. Aufl. 1976). R. M. M e y e r , Dt. Stilistik (1913). Ludwig R e i n e r s , Stilkunst. E. Lehrbuch dt. Prosa (3. Aufl. 1969). Elise R i e s e l , Stilistik d. dt. Sprache (Moskau 1959). Dies., Der Stil d. dt. Alltagssprache (1970; Reclams UB. 376). Dies., Theorie u. Praxis d. linguostilist.

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Stil

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§ 2. In der e r s t e n H ä l f t e des 20. Jh.s wird diese Tradition mannigfach fortgesetzt: St. wird als Schreibart, als lembare Technik des guten Schreibens in Lehrbüchern dargestellt (so Ludwig Reiners, Stilkunst; auch Wilhelm Schneider, Die Ausdruckswerte der dt. Sprache [vgl. § 7] gehört teilweise hierher). Daneben aber setzt sich St. als Kennzeichen der Literatur, der Dichtung, also im künstlerischen Bereich, immer mehr durch; offenkundig wird das, wenn Ernst Elster den zweiten Bd. seiner Prinzipien der Literaturwissenschaft (1911) Stilistik betitelt. Dabei bilden sich damals etwa vier Fassungen des St.-Begriffes aus: St. als A u s d r u c k d e r Gem ü t s k r ä f t e (Emil Winkler, Grundlegung der Stilistik, Marcel Cressot, Le style et ses techniques, Jules Marouzeau, Langage affectif et langage intellectuel, Pierre Guiraud, La stylistique); St. als A u s d r u c k s e e l i s c h e r Err e g u n g e n , der Affekte (Charles Bally, Le langage et la vie); St. als bestimmte A r t z w e c k g e b u n d e n e r D a r s t e l l u n g (R. M.

Meyer, Dt. Stilistik); Stil als P h ä n o m e n d e r K u n s t , etwa als Ideengeprägtheit, Formgeprägtheit, Dynamik, Ausdruck. Hiermit setzt eine ausgebreitete Forschungsbewegung ein, die mit dieser St.-Auffassung die Stilistik in den Bereich der Literaturwissenschaft als Kunstwissenschaft fügt. In dieser geschichtlichen Linie sind mehrere Forschungsgruppen unterscheidbar. 1. D i e d e u t s c h e n R o m a n i s t e n . Den Ausgangspunkt bildet Karl V o ß l e r ; er gründet in den Anschauungen seines Freundes Benedetto C r o c e , für den Sprache wie alle Ausdrucksformen ästhetischer Art ist; so auch für Voßler; Sprachgeschichte ist ihm also als Geschichte geistiger Ausdrucksformen ein Teil der Kunstgeschichte, Stilistik als Lehre vom Ausdruckshaften ist Wurzel aller Sprachwissenschaft, die ästhetische Kritik ist ihr Anfang und ihre Vollendung. Neben, mit und nach Voßler werden andere dt. Romanisten durch vertiefte Sprachauffassung zur St.-Forschung geführt, z. B. Eugen Lerch und Helmut Hatzfeld. Deutlich aber entfalten sich die Voßlerschen Ansätze bei Leo S p i t z e r und Emil W i n k l e r weiter. Auch Spitzer sieht in der Sprache Ausdruck, dessen Ausgestaltung der St. ist. Gebrauchssprache ist ohne St., Verärmlichung der Sprache überhaupt. St.Analyse ist ihm der einzige Weg, in den Kern eines Literaturwerkes einzudringen. Aber er bleibt bei der St.-Analyse konkreter Einzelwerke. Winkler dagegen zielt ein System der stilhaften Möglichkeiten der Sprache an; denn in ihr werden nicht nur Gedanken, sondern auch Außerbegriffliches dargestellt; diese Unterscheidung erinnert an die Unterscheidung von Primär- und Sekundärfunktionen der Sprache bei Friedrich Kainz (Psychologie der Sprache) und nimmt die von Denotation und Konnotation moderner Linguistik voraus. In diesem Außerbegrifflichen gründet nach Winkler der St. der Sprache. Stilistik hat diese Bestände der Sprache systematisch zu erfassen und darzustellen. Dies ein erstes Mal wissenschaftlich versucht zu haben, ist die Leistung Winklers; aber er hat die Verbindung zur damaligen Sprachphilosophie nicht gefunden. 2. Ab Ende des Ersten Weltkriegs zeichnet sich eine Richtung ab, St.forschung im Zus a m m e n h a n g mit der P s y c h o l o g i e , bes. mit der Tiefenpsychologie und der Psychoanalyse zu betreiben. Dabei sind zwei Tendenzen möglich: eine, die die Erkenntnisse der

Stil Psychoanalyse im weitesten Sinn in den Dienst der St.Untersuchung stellt, also verfolgt, wie sich tiefenseelische Vorgänge in den St. hinein auswirken, eine zweite, die die immer mehr verfeinerte St.analyse für psychologische Erkenntnisse fruchtbar machen will. Trotz der Einzelergebnisse bleibt diese Richtung in dem hier skizzierten geschichtlichen Ablauf nicht deutlich profiliert. 3. Gleichzeitig mit diesen Bemühungen entfaltet sich in der Erforschung der dt. Literatur die geisteswissenschaftliche Richtung, der die Dichtung vor allem Dokumentation geistiger Entwicklung war. Aber geradezu als Gegenhalt zeichnen sich in diesen Jahren auch hier Bestrebungen ab, D i c h t u n g e n als K u n s t w e r k e zu erfassen und wissenschaftliche Methoden dafür zu erarbeiten. Auf zwei sei hingewiesen: Emil E r m a t i n g e r widmet die Hälfte seines Buches Das dichterische Kunstwerk Formfragen, wobei besonders die künstlerische Seite der Sprache beachtet wird. Oskar W a l z e l ging von der geisteswissenschaftlichen Methode aus, widmete sich aber bald der Betrachtung des Künstlerischen. Auch in seinem Versuch, auf Grund von Heinrich W ö l f f l i n s Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen (1915) in wechselseitiger Erhellung den einzelnen Künsten nahe zu kommen, gelangt er zu vertiefter Sprachkunstforschung (Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters; Das 'Wortkunstwerk). 4. Neben diesen Bemühungen konkreter Sprach- und Literaturwissenschaft gehen in der ersten Hälfte des 20. Jh.s s p r a c h p h i l o s o p h i s c h e Ü b e r l e g u n g e n einher. Sie suchen zum Unterschied von der Sprachtheorie der Brentano-Schule (Anton Marty, Otto Funke) wieder an das Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, damit auch an Hamann und Herder anzuknüpfen. Ihnen ist Sprache nicht bloß Mittel, sie erforschen sie in ihrer ganzen Weite und Tiefe, Bedeutung und Wirkung: Hermann A m m a n n , Ernst C a s s i r e r , Arnold Gehlen, Bruno Snell, Bruno L i e b r u c k s , Erich H e i n t e l u. Leo W e i s g e r b e r . Auf die letzten zwei sei besonders hingewiesen. Heintel führt die große Tradition des Sprachdenkens im dt. Idealismus fort. Weisgerbers Grundgedanke läßt sich so zusammenfassen: nur in der Sprache erringt sich der Mensch geistig die Welt und baut sie auf. Ähnliche Gedankengänge finden sich bei E. S a p i r und B. L. W h o r f . Ohne diese Auf-

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fassungen abzulehnen, bringt Mario W a n druszka zu beachtende Einschränkungen. Alle diese Bemühungen und Einsichten sind für die Erkenntnis der stilistischen Möglichkeiten in der Sprache und für den Neubau einer entsprechenden Terminologie von entscheidender Bedeutung. 5. Die angedeuteten Richtungen wirken für die Erfassung des Stils und der Sprachkunst (was zunächst weitgehend gleichbedeutend ist) weiter. Zwei Tendenzen sind etwa zwischen 1940 und 1955 erkennbar. Die eine geht davon aus, daß nur der I n d i v i d u a l - S t i l eines Werkes oder Dichters wissenschaftlich erfaßbar sei, die andre versucht, zur s y s t e m a t i s c h e n Ü b e r s i c h t über die in der Sprache gegründeten stilistischen und künstlerischen Möglichkeiten vorzudringen. Dafür sind die Arbeiten Emil Staigers (bes. Grundhegriffe der Poetik, Meisterwerke der dt. Sprache), Wolfgang Kaysers (Das sprachliche Kunstwerk) und Herbert Seidlers (Allgemeine Stilistik) bezeichnend. S t a i g e r ist bekannt geworden durch seine Meisterschaft im Erspüren stilist. Züge im konkreten Kunstwerk bei bewußtem Verzicht auf begriffliche Konstatierung und Systematisierung. St. besteht für ihn in der Stimmigkeit aller Züge eines Sprachkunstwerks. K a y s e r geht es in seinem für lange Zeit Lehrbuch gewesenen Werk um den Weg, ein Sprachkunstwerk wissenschaftlich allseitig zu erfassen. Im Gegensatz zu Staiger vermittelt er auch methodische Grundlagen und Kategorien für solche wissenschaftliche Erfassung. Dem St. widmet er dabei ein eigenes Kapitel, wobei er über den Bereich der Sprachkunst sogar hinausgeht; St. ist ihm die durch eine bestimmte Haltung geprägte Einheit und Individualität der sprachlichen Gestaltung. S e i d l e r hat im Lauf seiner Bemühungen eine Entwicklung durchgemacht, die für den Weg der St.-Forschung bezeichnend ist. 1953 bestimmt er St. als die durch die Sprache erwirkte Gemüthaftigkeit eines Sprachwerks. Dabei faßt er Gemüt als die über und unter die rationalen Bestände der seelischen Erscheinungen hinausgehenden Bereiche bis zu den tiefsten Schichten. 1963 definiert er St. als die durch den Einsatz aller Sprachkräfte erwirkte Gestaltung des Menschlichen in seiner Weite und Tiefe. Ist also hier schon die bestimmte Gestaltetheit das Maßgebende, so sagt er 1970: „St. ist die Gesamtheit der Züge an einem Sprachwerk, die ihm

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Stil

ästhetischen Charakter verleihen". Immer aber sieht er bisher St. als wesentlich für künstlerische Sprachgestaltung. Im vorliegenden Artikel dagegen wird versucht, St. von Sprachkunst zu trennen und ihm eine weitere Fassung zu geben (siehe § 3). 6. Es ist zu betonen, daß diese Ansätze und Überlegungen zum St. in der ersten Hälfte des 20. Jh.s nicht aus der i n t e r n a t i o n a l e n F o r s c h u n g herausgebrochen werden können. Es gibt in dieser Zeit drei wichtige wissenschaftliche Richtungen, denen mit den dt. Arbeiten bei aller Verschiedenheit der Ansätze und Durchführung eines gemeinsam ist: die Ausrichtung des St.-Begriffs auf die Sprachkunst, bes. auf die Dichtung. Die f r a n z . M e t h o d e der explication des textes', sie betont eine besondere Textnähe, damit aber schafft sie weitere Möglichkeiten, den Eigenarten des Stils als der individuellen künstlerischen Sprachgestaltung nahe zu kommen: in der genauen Anlehnung an die Textabfolge werden diese Eigenarten herausgearbeitet. Der russ. F o r m a l i s m u s , dessen Geschichte (bes. zwischen 1910 u. 1930) einer eigenen Darstellung bedarf, geht von avantgardistischen Literaturbewegungen in Rußland aus und hat zur Grundlage aller seiner Untersuchungen die Frage, wie der Dichter in seinem Werk gestalte. Der N e w C r i t i c i s m in den USA wendet sich im Angriff gegen positivistisch-historische Methoden an den Universitäten dem Kunstwerk als solchem zu. Hermann A m m a n n , Die menschliche Rede. 2 Bde (1925-1928). Charles B a l l y , Traité de stylistique française. 2 Bde (Paris 1921; 3. Aufl. 1951). Ders., Le langage et la vie (Zürich 1935; Romanica Helvetica I, 1). Franz B r e n t a n o , Psychologie vom empirischen Standpunkt. 3 Bde. Hg. v. Oskar Kraus (1924/28; Philos. Bibl. 192. 193. 207). Ernst C a s s i r e r , Philosophie d. symbolischen Formen. Bd. 1 (1923). William C h i s h o l m . An Exercice in Syntactic Stylistics. Linguistics 33 (1967) S. 24-36. Hans Helmut C h r i s t m a n n , Idealistische Philologie u. moderne Sprachwissenschaft (1974; Intern. Bibl. f. allgem. Linguistik 19). Marcel C r e s s o t , Le style et ses techniques (Paris 1947). Benedetto Croce, Estetica come scienza dell'espressione (3. Aufl. Milano 1909). Gérard D e l a i s e m a n t , Les techniques de l'explication de textes (Paris, Bruxelles, Montreal 1968). Ernst E l s t e r , Prinzipien d. Literaturwissenschaft. Bd. 1 (1897), Bd. 2 (Stilistik; 1911). Victor E r l i c h , Russian Formalism. History, Doctrine ('s-Gravenhage

1955; dt. Ubers, u. d. T.: Russischer Formalismus, 1964). Emil E r m a t i n g e r , Das dichterische Kunstwerk (1921; 3., neubearb. Aufl. 1939). Otto F u n k e , Die innere Sprachform (1924; PrgDtSt. 32). Ernst G a m i l l s c h e g , Karl Voßler. Nachruf. Almanach d. österr. Akad. d. Wiss. (1949) S. 263-277. Arnold G e h l e n , Der Mensch (6. Aufl. 1958). Pierre G u i r a u d , La stylistique (Paris 1954, 6. Aufl. 1970; Que sais-je 646). Helmut H a t z f e l d , Initiation à l'explication de textes français (1957; 4. éd. augm. 1975). Erich H e i n t e l , Sprachphilosophie. Stammler Aufr. Bd. 1 (1952 ; 2. Aufl. 1957 stark geändert), jetzt: Einführung in d. Sprachphilosophie (1972). Friedrich K a i n z , Zur Entwicklung d. sprachstilist. Ordnungshegriffe im Dt. ZfdPh. 61 (1936) S. 4-48 (Neudruck 1965; Libelli 215). Ders., Psychologie d. Sprache. Bd. 1 (1941; bes. 3. Hauptstück S. 172-266). Josef K ö r n e r , Psychoanalyse d. Stils. LE. 21 (1919) Sp. 1089-1095. Bruno L i e b r u c k s , Sprache u. Bewußtsein. 5 Bde (1964/72). J. M a r o u z e a u , Langage a f f e c tif et langage intellectuel. Journal de psychologie (1923) S. 560-578. Anton M a r t y , Untersuchungen z. Grundlegung d. allgem. Grammatik ». Sprachphilosophie (1908). Walter M ü s c h g, Psychoanalyse u. Lit.wiss. (1930). Herrn. P o n g s , Tiefenpsychologie u. Dichtung. Euph. 34 (1933) Criticism S. 38-72. J. C. R a n s o n , The New (1938). Mario R o u s t a n , Précis d'explication française (Paris 1924). Edward Sapir, Selected Writings, Ed. by David G. Mandelbaum (Berkeley, Los Angeles, London 1949, 1951). Marcel S a r t h o u , L'explication française (1924). Herbert S e i d l e r , Der Literaturbegriff im geschichtlichen Wandel d. Sprachauffassung. Strukturen u. Interpretationen. Studien zur dt. Philologie gewidmet Blanka Horacek zum 60. Geb., hg. v. A. Ebenbauer, Fr. P. Knapp, P. Krämer (1974; Philologica Germanica 1) S. 297-320. Bruno S n e l l , Der Aufbau der Sprache (1952). Hans S p e r b e r u. Leo S p i t z e r , Motiv u. Wort. Studien zur Literatur- u. Sprachpsychologie (1918). Emil S t a i g e r , Die Zeit als Einbildungskraft d. Dichters (Zürich 1939; 2. Aufl. 1953). Ders., Grundbegriffe d. Poetik (Zürich 1946; 8. Aufl. 1968). Ders., Meisterwerke d. dt. Sprache (Zürich 1943; 4. Aufl. 1961). Ders., Stilwandel (Zürich 1963). Josephe V i a n e y , L'explication française (Paris 1914). Karl V o ß l e r , Positivismus u. Idealismus in d. Sprachwissenschaft (1904). Ders., Sprache als Schöpfung u. Entwicklung (1905). Oskar W a l z e l , Gehalt u. Gestalt im Kunstwerk d. Dichters (1923; HdbLitwiss.). Ders., Das Wortkunstwerk (1926). Mario W a n d r u s z k a , Sprachen, vergleichbar und unvergleichlich (1969). Robert W e i m a n n , New Criticism u. d. Entwicklung bürgerl. Literaturwiss. (1962; 2., durchges. u. erg. Aufl. 1974). Leo W e i s g e r b e r , Muttersprache ». Geistesbildung

Stil (1929; die spätem Werke wiederholen, vertiefen und erweitern die hier gegebenen Grundgedanken). Benjamin Lee W h o r f , Collected Papers in Metalinguistics (Washington 1952).

§ 3. Mit dem A u s b a u der m o d e r n e n L i n g u i s t i k beginnt eine neue Periode für die Erforschung des Stils. Dafür sind drei Ansätze der Linguistik besonders wichtig: 1. Es vollzieht sich eine E r w e i t e r u n g der Bereiche sprachwissenschaftlicher Forschung. Während noch bis in die Anfänge des 20. Jh.s beinahe ausschließlich die literar. Sprache Gegenstand auch der sprachwissenschaftlichen Forschung war, wird jetzt die ganze Weite der sprachlichen Erscheinungen einbezogen: alle Möglichkeiten mündlicher und schriftlicher Äußerungen, alle Aspekte der Grammatik (phonologische, morphologische, syntaktische und die über den Satz hinausgehenden Zusammenhänge und Strukturen, für die der neue Zweig der Textlinguistik zuständig ist) und vor allem die Sprache in den mannigfaltigsten Zusammenhängen des menschlichen Gemeinschaftslebens (Sprachpsychologie, Sprachpathologie, Sprachsoziologie, Sprachpädagogik und -didaktik usw.); da ohne Sprache keine Kontakte in der menschlichen Gesellschaft möglich sind, werden nun linguistische Fragestellungen in die Kommunikations- und Informationswissenschaft integriert: hier spielt Sprachliches die entscheidende Rolle, umgekehrt aber empfängt die Sprachwissenschaft Anregungen zur Erfassung der Sprache, wenigstens bestimmter, sehr wichtiger Züge, aus diesen Wissenschaftszweigen. Die Einsicht, daß menschliches Leben von den untersten Bereichen bis in die höchsten und abstraktesten Geistesleistungen ohne Sprache — mit geringen, ableitbaren Ausnahmen — nicht denkbar ist, hat die Sprachwissenschaft vor bisher nie so intensiv und deutlich gesehene Aufgaben gestellt. Daraus ergibt sich schon rein theoretisch die große Wahrscheinlichkeit, daß auch der Umfang des St.-Begriffs neu überlegt werden muß, daß die gerade in den früher aufgezeigten Richtungen des frühen 20. Jh.s anzutreffende Einschränkung des Stils auf die literarische, also bes. künstlerische Seite nicht mehr haltbar sein wird. 2. Dabei haben zwei Begriffsbereiche auch im methodischen Ausbau der Sprachwissen-

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schaft Bedeutung gewonnen. Einmal das Verhältnis von D i a c h r o n i e und S y n c h r o n i e in der Sprachwissenschaft. Die Betrachtung der geschichtlichen Wandlungen im Sprachbereich ist eher zurückgetreten; d. h. die neuen Blickrichtungen auf das Sprachganze haben die Fülle der sprachlichen Erscheinungen und ihre mannigfachen Zusammenhänge in gegebenen geschichtlichen Augenblicken ins Blickfeld gerückt; aber zu gegebener Zeit wird auch die Erforschung der geschichtlichen Vorgänge im Sprachbereich durch die eben angedeutete Erweiterung des Blickfeldes neue Antriebe und Aufgaben erhalten. Zum zweiten der S t r u k t u r b e g r i f f . Diesem Begriff drohen heute zwei Gefahren: erstens ist er ein Modewort geworden und könnte durch den unüberlegten und hypertrophen Gebrauch jede wissenschaftliche Greifbarkeit verlieren; zweitens aber versucht gerade die moderne Linguistik manchmal, ihn auf die formalisierenden und quantifizierenden Methoden einzuschränken. Es ist daher zu empfehlen, ihn auf Gebilde festzulegen, die durch Fügung ihrer Glieder derart bestimmt sind, daß diese selbst sinnvoll nur durch ihre Funktion im Ganzen sind, das Ganze selbst wieder nur in diesem Zusammenwirken der Glieder gegeben ist. „Das Wort 'Struktur' wird gegenwärtig in vielen Bereichen unserer Erfahrung verwendet, um relativ komplexe und unübersichtliche Erscheinungen als dennoch gegliedert und zusammenhängend zu charakterisieren" (Dieter W u n d e r l i c h , Terminologie des Strukturbegriffs). Gerade für die Sprachwissenschaft ist er wichtig geworden, da er treffend eine solche Sicht auf die sprachlichen Erscheinungen bezeichnet, die sie als jeweilige Gefügezusammenhänge, nicht als Addition von Elementen (einzelnen Lauten und Formen ohne Blick auf ein sinnvolles sprachliches Gebilde) faßt. 3. Der Erweiterung steht allerdings eine Einengung auf der methodischen Ebene gegenüber. Es entwickelten sich Tendenzen bis zu einer betonten Einseitigkeit und Radikalität, nur mathematische Methoden gelten zu lassen; dabei stehen Mathematiker solchen Forderungen und Versuchen durchaus nicht immer positiv gegenüber. In einer begreiflichen und vielfach begrüßenswerten Reaktion auf subjektive Intuitionen wird auch in der St.-Forschung Erkenntniswert nur solchen Aussagen zugesprochen, die sich formalisie-

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Stil

ren lassen und quantitativ festlegbar sind. Auf der einen Seite gehen von solchen Ansätzen Antriebe zu erhöhter Genauigkeit und Oberprüfbarkeit der Aussagen auch zum St. aus, auf der andern Seite werden aber doch manche St.-Phänomene ausgeklammert. Jedenfalls waren die letzten Jahrzehnte durch solch verschärftes Methodenbewußtsein sehr ergiebig an Versuchen, den St.-Erscheinungen von immer neuen Seiten näher zu kommen. So entwickeln sich verschiedene Umschreibungen und Begriffsbestimmungen von St., die besonders auch in Sammelwerken vereinigt sind (z. B. die von Ihwe, Sebeok und Chatman herausgegebenen). Auf einige besonders wichtige Fassungen des St.-Phänomens sei hingewiesen. Gerade von einer formalisierenden Methode wird St. vielfach als A b w e i c h u n g von einer sprachlichen Norm gefaßt. So vieles am St. auch als Abweichung gesehen werden kann, so erheben sich doch zwei Bedenken: Was ist jeweils sprachliche Norm? Und: es gibt stilhafte Erscheinungen, die nicht als Abweichung betrachtet werden können. Eine Abwandlung und Präzision dieser Auffassung bietet Michael Riffaterre {Strukturale Stilistik). Er nimmt an, daß St. sich nicht als Kontinuum erweise, sondern daß ein Text mit St. durch besondere Hervorhebungen, durch sogenannte markierte Stellen gekennzeichnet sei. St. wird weiterhin vielfach durch A u s w a h l bestimmter sprachlicher Möglichkeiten charakterisiert, eine Feststellung, die auf alle Fälle sehr wichtig ist, nur tritt dann sofort die Art hinzu, wie die ausgewählten Sprachmöglichkeiten verbunden und ineinander gefügt werden (Selektion und Kombination). Besonders Roman Jakobson und Giacomo Devoto sind hier zu erwähnen. Für die genauere Bestimmung von St. ist der Begriff der K o n n o t a t i o n wichtig; er wird dem der Denotation gegenübergestellt; darunter versteht man entweder genau die Bedeutung eines Wortes als Begriffszeichen oder die übliche Bedeutung oder was an einer bestimmten Textstelle genau gemeint ist; Denotation ist also selbst nicht scharf umrissen. Konnotation meint alles das, was an bestimmten Stellen jeweils zur üblichen oder hier exakt gemeinten Wortbedeutung hinzukommt; also die sekundäre Bedeutung, die Sphäre, das Emotionale usw. Jedenfalls erscheint der Begriff der Konnotation für all das, was im konkreten Kontext in einem

Wort noch mitklingen kann, als grobschlächtige Zusammenfassung. Deutlich wird aber damit, daß der ganze Problemkreis der Semantik, der Lehre von den Wortbedeutungen, für die Erfassung des St.s wichtig ist. Stephen U l i m a n n (Language and style) hat in seinen Arbeiten vor allem diesen Bereich studiert. Dagegen scheint es, jedenfalls in der St.Frage, nicht nötig, neben die Linguistik noch die Semiotik als allgemeine Zeichenlehre zu bemühen (Lubomir D o l e z e l ) . Denn hier geht es eindeutig um den Bereich, in dem sich die Aufgaben der Zeichenlehre und der Sprachwissenschaft überdecken. Die von der generativen Transformationsgrammatik betonte Gegenüberstellung von T i e f e n s t r u k tur und O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r kann auch für die Erfassung der stilistischen Möglichkeiten ausgewertet werden. Denn die Rückführung von gegebenen Textstellen auf Kernsätze und die Ableitung (Generierung) verschiedener Formulierungen daraus an der „Oberfläche" sind für St.-Fragen durchaus von Belang. Nur darf nicht die Tiefenstruktur als das 'Eigentliche' von den „bloßen" Äußerlichkeiten der Oberfläche abgehoben werden, denn die sprachlichen und damit auch stilistischen Möglichkeiten setzen ja erst an der sog. „Oberfläche" ein. Einen andern und wichtigen Ansatz bietet die Betrachtung der F u n k t i o n a l i t ä t des St.s, die vor allem Elise Riesel in ihren Arbeiten fordert, nachdem schon R. M. Meyer, Wilhelm Schneider und Ludwig Reiners darauf geachtet haben. Für jede Art des Sprachgebrauchs, also für alle Funktionen, entwickeln sich bestimmte Normen, innerhalb derer aber immer noch verschiedene Möglichkeiten sprachlichen Darstellens bestehen; Riesel spricht von Funktionsstilen. Werner A b r a h a m , Stil, Pragmatik u. Abweichungsgrammatik, in: Beiträge zur generativen Grammatik. Referate d. 3. Linguist. Kolloquiums, Regensburg (1971; Schriften z. Linguistik 3) S. 1-13. Manfred B i e r w i s c h , Strukturalismus. Geschichte, Probleme u. Methoden, zuerst 1966, jetzt verbessert in: Literaturwissenschaft und Linguistik, hg. v. Jens Ihwe. Bd. 1 (1971) S. 17-90. B. C a r s t e n s e n , Stil u. Norm. Zeitschr. f. Dialektologie u. Linguistik 37 (1970) S. 257-279. Lubomir D o l e z e l , Towards a Structural Theory of Content in Prose Fiction, in: Literary Style, hg. v. S. Chatman (London, New York 1971) S. 92-110. Roman J a k o b s o n , Der Doppelcharakter d. Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik u. Metonymik, in: Lite-

Stil raturwissenschaft u. Linguistik, hg. v. J. Ihwe Bd. 1 (1971) S. 323-333 (Erstdruck auf S. 323 ausgewiesen). Zoltan Kanyo, Stil u. Konnotation. Lili 6 (1976) H. 22, S. 63-77 (m. Lit.) Hans Naumann (Hg.) Der moderne Strukturbegriff. Materialien zu seiner Entwicklung (1973; WegedFschg. 155). Michael Riffaterre, Strukturale Stilistik (1973; List-Taschenb. 1422; franz. Original: Essais de stylistique structurale, Paris 1971; in diese Arbeit sind die verschiedenen Einzelabhandlungen Riffaterres eingegangen). Barbara Sandig, Probleme einer linguistischen Stilistik. Linguistik u. Didaktik 1 (1970) S. 177194. Werner Winter, Stil als linguistisches Problem, Satz u. Wort im heutigen Dt. (1967; Sprache d. Gegenwart. Jb. ,d. Inst. f. Dt. Sprache 1) S. 219-235. Dieter Wunderlich, Terminologie d. Strukturbegriffs, in: Literaturwissenschaft u. Linguistik, hg. v. Jens Ihwe. Bd. 1 (1971) S. 91-140.

§ 4. In der intensiven Beschäftigung der modernen Linguistik gerade auch mit Fragen des St.s zeichnet sich eine brauchbare F a s s u n g d e s S t . - B e g r i f f s ab. Jedenfalls ist der Blick ausschließlich auf den literar. Stil (und damit auf die Sprachkunst) angesichts der Weite des Bereichs, in dem Sprache sich vollzieht, zu eng. Wie sich in solchen erweiterten Rahmen die Sprachkunst und ihre Erforschung fügt, soll am Schluß (§ 9) angedeutet werden. In ersten Umrissen greifbar ist der erweiterte St.-Begriff etwa mit der Feststellung Richard Ohmanns: „Stil ist der charakteristische Gebrauch der Sprache". D e r Gebrauch der Sprache in der Kommunikation setzt N o r m e n voraus und bindet die Stilforschung an die Grammatik, die diese Normen für bestimmte Sprachen, Situationen und Zeiten festlegt, ordnet und konventionalisiert. Damit wird ein Normrahmen gesetzt, den niemand ohne Kommunikationsverlust sprengen kann; daher wird niemand im Deutschen schreibte oder die Walde oder mit kleines Gepäck oder weil statt obwohl gebrauchen. Gleichwohl gibt es verschiedene Normrahmen: ein Telegramm durchbricht die N o r men einer gewöhnlichen Schilderung', bleibt aber an telegrammspezifische Normen gebunden; auch H . Heißenbüttels und Gerhard Rühms Texte stehen (wie alle Texte der konkreten Poesie) in einem, nur wieder anders gearteten Normrahmen. N o r m d u r c h b r e c h u n g kann für die Sprache in der Kommunikation immer nur heißen: Normweitung,

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Normvariation. Denn ohne Normen verliert sie ihre Funktion in der Gesellschaft; es gibt Normen man kann von Subnormen sprechen - für den ausgeführten Bericht, für mathematische Formulierungen, für Werbetexte, Telegramme, kaufmännische Briefe, sogar für Liebesbriefe; noch Celans Lyrik befolgt Normen und setzt gerade durch die Normdurchbrechung und ihren hohen Innovationsgrad neue Normen. Entscheidend ist hier das Spannungsverhältnis zwischen der Konventionalität der Rede und dem sprachlichen Ausdruck. Innerhalb fallweise gegebener Normrahmen bleiben viele Möglichkeiten sprachlicher Äußerungen, und die A r t der F ü l l u n g solcher Rahmen macht den Stil. Auch innerhalb von Subnormen, etwa für den Geschäftsbrief, die Predigt, die Schilderung, gibt es immer noch Möglichkeiten verschiedener Füllungen. Von Null.-St. wird man also nicht sprechen können, denn eine konkrete Sprachäußerung ist ja schon eine von möglichen Füllungen eines Normrahmens. Erst aus solchem Ansatz werden die Fragen der Abweichung, der Auswahl, der Konnotationen, der Synchronie, des Verhältnisses von Tiefen- und Oberflächenstruktur usw. für die Erfassung des St.s fruchtbar. Dabei sind auch die drei Sichtrichtungen moderner Sprachbetrachtung sinnvoll und ergiebig einzusetzen: die P a r a d i g m a t i k , die den Ersatz von Worten und Wortgruppen in einem Kontext zum Ziel hat (Äquivalenz), die S y n t a g m a t i k , die die möglichen Fügungen innerhalb der gegliederten Anlage eines Textes beachtet, und die P r a g m a t i k , die das Wirken und zugleich Bewirktsein solcher Strukturen innerhalb der Kommunikation, also die Sprachakte untersucht. Eine solche Fassung von St. läßt sich leicht und klar vom Formbegriff abheben: dieser umfaßt mehr, z. B . in Texten auch den Aufbau, aber auch weniger, weil er mehr die äußere Anlage als die strukturelle Gliederung im Auge hat. Diese strukturelle Gliederung eines Textes durch die Möglichkeiten, einen Normrahmen auszufüllen, hängt zugleich von der Intensität und dem Reichtum dieser Füllung ab: es gibt Grade der Stilhaftigkeit je nach Zahl, Art und Stärkegrad der eingesetzten Stilmittel. Richard Oh mann, Generative Grammatiken u. d. Begriff: Literarischer St. (1964), jetzt in: Literaturwissenschaft u. Linguistik, hg. v. J. Ihwe Bd. 1 (1971) S. 213-233.

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Stil

§ 5. Den St. zu erfassen, einen Text stilistisch zu analysieren und zu beschreiben, setzt B e s i n n u n g auf die Methoden voraus. Von vornherein ist einsichtig: die Möglichkeiten der sprachlichen Füllung von Normrahmen ergeben eine Vielzahl von Fragen, da diese Füllung auf alle Bereiche der Sprache anwendbar ist; z. B. ob es heißt: des Instituts oder: des Institutes, zweimal zwei gibt (ist, sind, macht, machen) vier, ob Koordination oder Subordination von Sätzen, ob, welche und wie viele Metaphern, ob lautliche Stützen beansprucht werden (Dentallaute bei Aggression: dumm, Depp, Trottet) usw. Daraus wird bereits deutlich, daß eine Methode allein nicht genügt; denn die Methoden in der Sprachwissenschaft haben sich differenziert, weil immer eine bestimmte Sicht im Brennpunkt stand und die dafür adäquateste Methode ausbildete. Das bedeutet keinen Methodenpluralismus im Sinn der Gleichgültigkeit, wann welche Methode angewandt wird; sondern die Methodenvielfalt gründet in der Aufgabenbezogenheit. Diese M e t h o d e n v i e l f a l t soll durch Hinweis auf wesentliche Methoden angedeutet werden. Am wenigsten erlernbar ist die Intuition, d. h. unmittelbares Einsehen eines Stilzugs oder der stilistischen Eigenart eines Textes. Sie ist Begabungssache, kann nur bis zu gewissem Grad erlernt werden, bedarf gewissenhafter Kontrolle durch andere Methoden. — Die Hermeneutik gibt die Grundlagen, wie St. in einem bestimmten Zusammenhang zu verstehen und zu deuten ist. Dabei ist auch die St.-Analyse nur im Bereich des 'hermeneutischen Zirkels' möglich: jede St.-Analyse geht von (allgemeineren) Gegebenheiten und Voraussetzungen aus, diese selbst werden durch die konkrete Analyse wieder präzisiert und differenziert, so daß neue Analysen dann auf genaueren Grundlagen aufbauen können. Leo Spitzer (Stilstudien) spricht von 'philologischem Zirkel'. Riffaterre (Strukturale Stilistik) geht von der Feststellung von markierten Stellen im Text aus, d. h. von Stellen, die der Leser (Riffaterre konstruiert einen Archi- oder Durchschnittsleser) stilistisch auffällig findet (sog. style markers); er will von jeder Deutung durch den Leser absehen und selbst die markierten Stellen analysieren, d. h. er setzt sich selbst als deutenden Leser. — Die moderne Linguistik versucht, auf der Basis der computergelenkten Daten-

verarbeitung Methoden auch der Stilanalyse auszubilden, die überprüfbar sind, also subjektiver Intuition entzogen werden können. Das erscheint möglich durch statistische Untersuchungen, durch Quantifizierung, d. h. durch Überführung von Qualitäten in mengenmäßig faßbare Größen, endlich durch Formalisierung, d. h. Konzentration der Aussagen in Formeln oder durch Visualisierung, d. h. Umsetzung von Sprachstrukturen in visuelle Schemata. Es gibt Gebiete in der St.Forschung, wo solche Methoden zu greifbaren Ergebnissen (und dadurch zu neuen Erkenntnissen) führen und anders gewonnene bestätigen und sichern (Lautstatistik, Metrisches, Verteilung von Wortarten oder Satzbauplänen, Feststellung von Entropien im Hinblick auf die Sicherung von Individualstilen). Doch darf der durch diese Methode selbst begrenzte Aussagewert nicht überschätzt werden, was auch Wilhelm Fucks und Lubomir Dolezel betonen. Dazu nur einige Hinweise: Die Statistik der Wortarten in einem Text muß die Gewichtigkeit der einzelnen Worte notwendig vernachlässigen (Artikel und Präpositionen zahlenmäßig stark vertreten, aber an Gewichtigkeit zurücktretend, ebenso die Formen von sein gegenüber etwa von donnern, schleifen, ersterben); sog. frequencies (N. E. Enkvist) sind nicht an sich entscheidend, sondern immer nur im Kontext; gerade Seltenes (man denke an Riffaterres 'markierte Stellen') kann kennzeichnend sein; Metaphernarmut oder -reichtum ist kaum mengenmäßig festzustellen; kann man Metaphern zählen? (Gilt begreifen als Metapher? Wie viele Metaphern enthält der Satz: Er unterstützte seine Angaben mit erhellenden Hinweisen.}) — Wichtig für St.-Analysen sind dann die verschiedenen Arten der Textmanipulation, desgleichen Umänderungen am Text, um dadurch stilistische Unterschiede und damit Eigenarten erfassen zu können; solche Umänderungen gelten besonders für sog. 'markierte Stellen'. Umändern kann Verändern, Vertauschen und Ausschalten bedeuten. Oft versucht man einen Stilzug durch Befragung von Informanten zu erkennen. Freilich sind da besondere Vorsichtsmaßnahmen nötig; es ist vor allem darauf zu achten, wie verschieden die Voraussetzungen sind: ob der Informant um den Sinn der Befragung weiß oder nicht, ob er „ungebildet" oder „gebildet" ist, ob er sprachbegabt ist, ob er mehrere

Stil Sprachen kennt, ob er gar selbst sprachwissenschaftlich geschult ist. Aus allen Methoden ergibt sich die Konsequenz: man darf nie bei bloßen Feststellungen bleiben. Hier ist vor allem die methodische Bedeutung des V e r g l e i c h e n s hervorzuheben. Gerade bei Textveränderungen, die vorgenommen werden, führt erst der Vergleich zu einem Ergebnis. Besonders wichtig ist auch der H i n t e r g r u n d , vor dem Stilbeobachtungen gemacht werden; es geht um eine vorauszusetzende Systematisierung der sprachlichen Gegebenheiten, von denen sich Stilzüge erst abheben (die sog. Parameter). Enkvist hat Andeutungen solcher Systematisierungen gegeben: die weitesten betreffen den geschichtlichen, geographischen und gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem der Text steht, es folgt seine phonologische, morphologische, lexikalische und syntaktische Struktur. So ist dann die D e u t u n g eines bestimmten Stilzugs im Text möglich; es muß erfaßt werden, welches Gepräge ein solcher Stilzug dem Text gibt, wie sie alle zusammenwirken, ob mehr konvergierend oder divergierend. Diese Deutungen müssen dabei grundsätzlich auf alle sprachlichen Aspekte bezogen werden, die im folgenden entfaltet werden sollen. Lubomir D o l e z e l , Z«r statist. Theorie d. Dichtersprache, in: Mathematik u. Dichtung, hg. v. H. Kreuzer u. R. Gunzenhäuser (1965) S. 275-293. Ders., Ein Begriffsrahmen für Statist. Stilanalyse, in: Literaturwissenschaft u. Linguistik, hg. Jens Ihwe. Bd. 1 (1971) S. 253-273. Wilhelm Fucks u. Josef Lauter, Mathematische Analyse d. literar. St.s, in: Mathematik u. Dichtung, hg. v. H. Kreuzer u. R. Gunzenhäuser (1965) S. 107-122. Georg Michel: Einführung in d. Methodik d. Stiluntersuchung (2. Aufl. 1972). Wilhelm Fucks, Nach allen Regeln der Kunst. Diagnosen über Literatur, Musik, bildende Kunst - die 'Werke, ihre Autoren und Schöpfer (1968). Ders., Analyse formaler Eigenschaften von Texten mit mathematischen Hilfsmitteln, in: Der Berliner Germanistentag. Vorträge und Berichte. Hg. v. Karl Heinz Borck u. Rudolf Henß (1970) S. 42-52. Ders., Über den Gesetzesbegriff einer exakten Literaturwissenschaft, erl. an Sätzen u. Satzfolgen. Lili 1 (1970/ 71) H. 1, S. 113-137. W. Fischer, Mathematik u. Literaturtheorie. Versuch e. Gliederung. Sprache im techn. Zeitalter 1970, S. 106-120. Literatur u. Datenverarbeitung. Bericht. Hg. v. Helmut Schanze (1972). Dieter Wickmann, Eine mathematisch-statistische Methode zur Unter-

207 suchung d. Verfasserfrage literar. Texte. Durchgeführt am Beispiel der ,Nachtwachen von Bonaventura' mit Hilfe der Wortübergänge (1969; Forschungsber. d. Landes NordrheinWestf. 2019). H. Schanze, Computer-unterstützte Literaturwiss. Probleme u. Perspektiven im Zusammenhang mit dem maschinell hergestellten Kleist-Index. Muttersprache 1979 (1969) S. 315-321. Ders., Datenverarbeitung in d. Literaturwiss, in: Beiträge zu den Fortbildungskursen d. Goethe-Inst. f . Deutschlehrer u. Hochschulgermanisten aus d. Ausland (1971) S. 120-129. B. Spillner, Empirische Verfahren in d. Stilforschung. Lili 6 (1976) H. 22, S. 16-34. Udo Münnich, Untersuchungen zu Lautwiederholungen in jambischen Pentameterzeilen. Ebda, S. 35-62. Nils Erik Enkvist, Die Funktion literar. Kontexte für die linguist. Stilistik. Ebda, S. 78-85. - Zum Variantenproblem: Jan M u k a r o v s k y , Varianty a stylistica (1930), dt. Übers, in: Poética 2 (1968) S. 399-403 und die erg. Diskussion von Wolf u. Herta Schmidt u. Karl Maurer, Eine strukturalistische Theorie der Variante? Poética 2 (1968) S. 404-415. Manfred B i e r w i s c h , Struktur und Funktion von Varianten im Sprachsystem. Linguist. Studien, Reihe A, Arbeitsberichte 19 (1975) S. 65-137.

§ 6. Die Überlegung über die möglichen S t u f e n d e r S t i l a n a l y s e gibt nicht nur einen Rahmen und eine erste Systematisierung für alle stilistischen Möglichkeiten, die an Sprachgebilden vom kleinsten zum größten erfaßt werden können, sondern vermag zugleich anzudeuten, in welchen Sprachbereichen sich St. zeigt, d. h. wo und wie sprachliche Füllungen gegebener Normrahmen möglich sind. Systeme solcher Art sind von Seidler und Sowinsky entworfen worden. Zunächst sind die e l e m e n t a r e n Ers c h e i n u n g e n herauszuarbeiten. Theoretisch vorteilhaft ist dabei eine vorläufige Aufteilung auf zwei Sichten, wenn auch immer beachtet bleiben muß, daß diese Zweiteilung des Blicks abstrahiert und das, was eines ist, künstlich teilt. Einmal ist der Blick zu richten auf Sprache, insofern sie B e d e u t u n g hat, d . h . insofern sie das vom Menschen Erfahrene (das Wahrgenommene, Gedachte, Erlebte, Gewollte usw.) gestaltet. Das beginnt schon beim Wortschatz; hier fallen also Fragen des semantischen Bereichs hinein: die Aspekte des Wortgehalts, die Frage der Synonymie, die Unterschiede und Möglichkeiten der Wortarten. Das setzt sich fort bei der Art, wie aus diesen Bausteinen nun Sinn in der Sprache

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dargestellt wird: in den Formen (etwa die Stilwerte der Kasus und Präpositionalausdrücke, der Tempora und Modi, der Steigerungsstufen usw.) und in den Möglichkeiten der Wortfügung: die Gruppenbildung, die Gliedfunktion der Worte und Gruppen, ihre Stellung oder Reihung. Und endlich alle Fragen nach den Stilmöglichkeiten des Satzes: insofern er ein Redeablauf ist, welche Stilzüge die Satzarten aufweisen können, schließlich die Verbindungen und Fügungen von Sätzen. Der zweite Blick richtet sich auf die Sprache, insofern sie immer auch L a u t u n g ist. Hier gehen die Fragen nach einer allfälligen rhythmischen Durchgestaltung, nach Sprachmelodie (Tonhöhenfolge), Sprechart, vor allem nach bestimmten sinnbezogenen Formen, etwa sog. Klangmalereien oder auch Assonanzen, Alliterationen und Reimen. Immer ist aber dabei zu beachten, wie in der tatsächlichen Stilgebung die theoretisch getrennten Gebiete der Erfahrungsgestaltung und der Lautung stets eine Ganzheit bilden. Nach der Ordnung und Erfassung der stilhaften Möglichkeiten innerhalb der angedeuteten Bereiche, also nach einem systematischen Uberblick über die Elemente des St.s beginnt die Analyse des St.s in seinen größeren sprachlichen Zusammenhängen. Hier fehlen noch vielfach neue Untersuchungen, vor allem auch deshalb, weil die Linguistik selbst, besonders in der formalisierenden und quantifizierenden Ausrichtung, noch weitgehend bei den Elementen verharrt. Aber es seien Andeutungen versucht. Zunächst sind die komplexeren Sprachgebilde auf Stilhaftes zu prüfen. Zwei Gruppen lassen sich unterscheiden: im Rahmen eines Textes verhältnismäßig geschlossene Gebilde, natürlich gestuft von einfachsten (der blaue Himmel) zu immer umfassenderen; dann die Art, wie die Satzbewegung abläuft: man vergleiche einen knappen Polizeibericht, einen Werbetext und einen Gerichtsentscheid; oder einen Geschäftsbrief mit einem Liebesbrief. Überall spielt hier die stilhafte Füllung die entscheidende Rolle, die man kurz zu charakterisieren versuchen muß. Zwischen zwei Extremen sind die Möglichkeiten einzufangen: a u g e n b l i c k l i c h e E i n f ä l l e des Schreibers oder Sprechers (wie weit diese auch wieder nach bestimmten Modellen ablaufen, ist auch zu beachten) und Verwendung von tradierten Modellen: die S t i l f i g u r e n . Ihr System hat

Heinrich Lausberg (Handbuch der literarischen Rhetorik) entfaltet. Die Stilanalyse wird untersuchen, welche, wie viele, an welchen Stellen und zu welchem Zweck solche Figuren eingesetzt sind; es sei auch auf entstehende oder vergehende, daher beinahe modische Ausdrucksweisen hingewiesen, etwa Überhandnehmen reflexiver Ausdrucksweisen (ein Buch versteht sich als), Ausbildung neuer metaphorischer Wendungen: Thesen werden in Aussagen eingebunden, Informations«i>erhang, in einem Buch sind Aufsätze versammelt, Hypothesen werden aufl>ereitet und abgeklopft usw. Eine höhere Ebene in der Betrachtung des St.s von Sprachgebilden erreichen wir mit folgenden Aspekten: man kann etwa I n d i v i d u a l s t i l , in dem vor allem ein ganz bestimmtes sprechendes oder schreibendes Individuum faßbar wird, von F u n k t i o n a l s t i l abheben, in dem die deutliche Zweckgebundenheit der sprachlichen Aussage stilbestimmend ist. Wichtig ist dann die Frage nach den S t i l e b e n e n . Hier treffen sich die von der Antike überkommenen genera dicendi (genus sublime, medium, humile usw.) mit neueren Unterscheidungen, etwa gehoben, gemäßigt, derb. Sie alle sind Typologieversuche, St."Eigenarten in bestimmten Sprachsituationen zu abstrahieren und zusammenzufassen, also Hilfen und Raster, den St. in bestimmten Texten zu beschreiben. Man erkennt heute, daß hier weitere Differenzierungen nötig sind. Besonders Friedrich Sengle hat tragfähige Ansätze zu einer neuen Tönelehre entworfen. Sehr schwierig ist es, S t i l a r t e n in ein System zu bringen, da sehr viele, mehr oder weniger ergiebige Ansatzpunkte dazu gefunden werden können. Es geht da im allgemeinen um Fragen der Textgestaltung; verwiesen sei hier nur auf Typen wie 'anschaulicher St'., 'dynamischer St.', 'dichter' oder 'flacher St.', 'Nominalstil'. Überall geht es darum, von bestimmten Fragen an den Text zu Typen von stilhafter Füllung zu kommen, die sich verhältnismäßig genau analysieren lassen. Die letzte Ebene der St.-Betrachtung erreicht man, wenn man die stets vorhandene g e s c h i c h t l i c h e und g e s e l l s c h a f t l i c h e G e b u n d e n h e i t des St.s ins Auge faßt. Hier stoßen wir auf eine Fülle von Sichten und Aufgaben, aber zugleich auf die Kluft zwischen der noch nicht so weit getriebenen Ana-

Stil lyse von Elementen und der gleichsam vorzeitig versuchten Synthese. Hinweise auf besonders wichtige Fragen müssen genügen. Von der konkretesten und individuellsten Prägung des St.s in einem bestimmten Text schreitet man verallgemeinernd und abstrahierend fort zum St. eines Werkes, endlich eines A u t o r s . Ist der Stil Schillers von dem Goethes, der Schellings von dem Hegels, der Rankes von dem des Gervinus abhebbar und als solcher greifbar? — Die nächste Stufe stellen die verschiedenen G r u p p e n s t i l e dar, in denen das Soziale nun wesentlich mitbestimmt. Hier treten die mannigfachsten Verquickungen auf, wodurch dann Antriebskräfte und Bedingungen für St. überhaupt faßbar werden. Man kann nach dem St. der Stände fragen (etwa im Spätmittelalter: Ritter, Bürger, Bauern), der Gesellschaftsklassen überhaupt, bestimmter Eliten (z. B. auch wissenschaftlicher Gruppen; kein Zweifel, daß etwa moderne dt. Linguisten ihren spezifischen St. haben); damit tritt das Problem der Sprachbarrieren ins Blickfeld, die ja weniger im grammatischen Normrahmen, als in den Stilzügen gründen. Endlich entstehen St."Prägungen durch bestimmte Weltanschauungen, bes. Ideologien i. e. S. verraten sich im St.; daraus entsteht die stilistische Ideologiekritik: die Ideologie „verrät" sich in der Metaphorik, im Satzbau, im Wortschatz usw.; besonders reizvoll und verwickelt wird es, wenn sich stilistische Ideologiekritik selbst durch bestimmte Stilzüge als ideologiegebunden entpuppt. — Die verschiedenen T e x t a r t e n (Textsorten: dieses Wort selbst in bestimmter Weise stilhaft geprägt) bilden bestimmte Subnormen aus, so daß man vom St. des Briefs, des Berichts, der Schilderung, der Predigt, der politischen Rede, der Wissenschaft usw. sprechen kann. Hier liegen überall erst wissenschaftlich in Angriff zu nehmende Aufgaben vor uns. — In den Bereich der geschichtlichen Bedingtheit des St.s tritt man mit dem zunächst sehr weiten und vagen Begriff des E p o c h e n s t i l s : lassen sich etwa die sprachlichen Darstellungen des Barockzeitalters von denen der Aufklärungszeit abheben, oder kommt es hier nicht zu mannigfachen Verflechtungen, die den Begriff des Epochenstils sogar fragwürdig erscheinen lassen? Man denke an den St. der Biedermeierjournalistik neben den der Junghegelianer in derselben Epoche. Und doch: vielleicht kann man wirklich

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den Geschäftsstil und den Predigtstil des Barock von dem der Aufklärung unterscheiden, damit aber zu noch allgemeineren Bestimmungen, eben denen des Barock- und des Aufklärungsstils, des Stils um die Mitte des 19. Jh.s und um die Mitte des 20. Jh.s kommen. Noch schwieriger zu erfassen, aber durch Vergleiche greifbar zu machen, ist der St. einer bestimmten S p r a c h e ; man denke an Eugen Lerch ( H a u p t p r o b l e m e der franz. Sprache), Fritz Strohmeyer (Der St. der franz. Sprache), Alfred Malblanc (Stylistique comparée du français et de l'allemand), J . - P . Vinay und J . Darbelnet (Stylistique comparée du français et de l'anglais), Wilhelm Schneider (Ausdruckswerte der dt. Sprache). Diese Versuche, die immer stärker in den Gefahrenraum von Abstraktionen und von Ideologiegebundenheit geraten, stoßen zugleich in die Fragen des S t i l w a n d e l s vor. Kein Zweifel, daß die dt. Satzführung des 19. Jh.s von der des 20. Jh.s schon in bezug auf Rolle und Menge der Gliedsätze deutlich verschieden ist. Ist dasselbe auch in der franz. Sprache zu erkennen? Wenn ja, ergeben sich neue Fragen. Schwer wird es erst recht, wenn man solchen, an sich leicht greifbaren Stilwandel in weitere, sogar schon ursächliche Zusammenhänge bringen will. Wieder ist hier mit der geschichtlichen und weltanschaulichen Gebundenheit des St.-Forschers selbst zu rechnen. Miroslav C e r v e n k a u. Milan J a n k o v i c , Zwei Beiträge d. Individualstilistik in d. Literatur. Lili 6 (1976), H . 22, S. 86-116. Ansgar H i l l a c h , Sprache u. Theater, Überlegungen zu e. Stilistik d. Theaterstücks. Sprachkunst 1 (1970) S. 256-269, 2 (1971) S. 299-328. Eugen L e r c h , Hauptprobleme d. franz. Sprache (1930/31). Alfred M a l b l a n c , Stylistique comparée du français et de l'allemand (Paris 1968; Bibl. de stylistique comparée 2), mit Bibliographie. Jules Mar o u z e a u , Précis de stylistique française (Paris 1941; 5. Aufl. 1965). Friedrich S e n g l e , Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform (1967; 2. Aufl. 1969 u . d . T . Vorschläge zur Reform d. literar. Formenlehre). Ders., Biedermeierzeit. Dt. Lit. im Spannungsfeld zwischen Restauration u. Revolution 1815-1848. Bd. 1 (1971) S. 594-647. Jean-Paul V i n a y u. Jean Louis D a r b e l n e t , Stylistique comparée du français et de l'anglais (Paris 1958; Bibl. de stylistique comparée 1).

§ 7. Aus der Tatsache, daß sich bes. im Hinblick auf sogenannte Funktionsstile vom

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jeweiligen Zweck der sprachlichen Darstellung her innerhalb des durch die Grammatik gesteckten Normrahmens engere Normen für die einzelnen Zwecke ergeben (Subnormen), entsteht dann die Möglichkeit, Anleitungen für die zweckgebundene sprachliche Darstellung zu geben; das ist die Aufgabe der praktischen S t i l k u n d e . Sie gibt etwa Anweisungen für die wissenschaftliche Darstellungsweise, die Rede, den Geschäftsbrief, die Werbung usw. Aber auch innerhalb solcher Subnormen besteht noch immer eine gewisse Wahlfreiheit in der Verwendung von sprachlichen Mitteln. Vielfach sind solche Anleitungen in allgemeine Darstellungen der Stilistik eingefügt, so bei R. M. Meyer (Dt. Stilistik), W. Schneider (Ausdruckswerte der dt. Sprache), L. Reiners (Stilkunst), B. Sowinski (Dt. Stilistik) u. a. (siehe Lit. zu § 1). Die Stilkunde ist besonders wichtig für den Unterricht, vor allem für die AufSatzlehre. Broder C h r i s t i a n s e n , Eine Prosaschule (Kunst des Schreibens) (1966). Günther D r o s d o w s k i , Stilwörterbuch d. dt. Sprache. Die Verwendung d. Wörter im Satz (1971; Der große Duden 2). Eduard E n g e l , Dt. Stilkunst (1. Aufl. 1911; 30. Aufl. 1922). E. K ö l w e l , Wegweiser zu einem guten dt. St. (1954). Lutz M a c k e n s e n , Gutes Dt. in Schrift u. Rede (1970). Georg M ö l l e r , Praktische Stillehre (1968). Ludwig R e i n e r s , Stilfibel. Der sichere Weg zum guten Dt. (7. Aufl. 1968). Walter R o s t , Dt. Stilschule (2. Aufl. 1960). Wilhelm S c h n e i d e r , Stilistische dt. Grammatik. Die Stilwerte der Wortarten, der Wortstellung u. des Satzes (4. Aufl. 1967). Wolfgang S p i e w o k , Aufgaben und Probleme der Stilkunde. Dtschunt (Stuttg.) 22 (1969) S. 581593. Fritz T s c h i r c h , Dt. Stillehre. Der Weg vom schlechten Aufsatz zum guten St. (1954).

§ 8. Zum Schluß seien noch zwei besondere Fragenbereiche berührt. Zunächst der Zusammenhang von Stil und R h e t o r i k . Von dem hier angelegten Ausgangspunkt, den St. als den weitern Begriff zu setzen, gilt: stilhaftes Gestalten dient bestimmten Zwecken, auch dem persönlichen Ausdruck und ebenso ästhetischer Gestaltung (§ 9). Unter den Zwecken aber ist immer auch die Wirkung auf Hörer und Leser mitgemeint. Diese Wirkung wird mit dem Begriff des Rhetorischen gefaßt. Streng genommen geht Rhetorik auf die sprachlichen Möglichkeiten, also den St., in der mündlichen Rede. Das Wort Rhetorik umfaßt Lehre und Praxis zugleich. Schon im

Altertum und seither hat sich ein System von Regeln ausgebildet und sind Beispielsammlungen danach geordnet worden, die wirkungsvolles Sprechen ermöglichen sollen. Bis ins 18. Jh. ist Rhetorik sogar im gesamten Bildungswesen (protestantische Gelehrtenschulen, Jesuitenschulen, Universitäten) eine Grundlage gewesen. Das aus der Antike überkommene System der Rhetorik beruht auf konsequenter Sprachreflexion unter dem Gesichtspunkt der Wirkung der Rede; diese Reflexion erfand nichts, sondern richtete sich an den vorgefundenen Redegewohnheiten aus. Mit der Zeit bildete sich ein umfassendes, vor allem terminologisch bestimmtes System für gutes und wirkungsvolles Sprechen überhaupt aus, wobei man mit der Zeit von der jeweiligen tatsächlichen Wirkungsintention absah. In dieser Sicht hat heute die Rhetorik in Forschung (z. B. Wilfried Bárner, Klaus Dockhorn, Joachim Dyck) und Lehre (H. Lausberg) wieder beachtliche Bedeutung erlangt und durch eine gesellschaftsausgerichtete Perspektive (siehe: W. Jens, Reallex. 2. Aufl. Bd. 3, S. 432-456) neue Forschungsbereiche erschlossen. In bezug auf Rhetorik und Stilistik ergeben sich einsichtigerweise vielfache Überschneidungen, sogar Prioritätsfragen werden aufgeworfen. Rein systematisch, unter Absehen von historischen Entwicklungen, die wieder ein neues Forschungsfeld öffnen, hängt die Priorität der Rhetorik als Lehre vom wirkungsvollen Sprechen oder der Stilistik als Lehre vom St. vom Ansatzpunkt ab, von dem in der Begriffs- und Systembildung ausgegangen wird. Geht es um die sprachliche Füllung bestimmter Normrahmen, sprechen wir von St.; mit ihm beschäftigt sich die Stilistik. Richtet man sich auf die Möglichkeiten wirkungsvollen Sprechens, ist man im Aufgabenbereich der Rhetorik und ihrer Systembildungen. Es leuchtet ein, daß viele Bereiche des Sprachlichen beiden gemeinsam sind. Wilfried B a r n e r , Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen (1970; mit ausführlicher Bibliographie). Klaus D o c k h o r n , Macht und Wirkung der Rhetorik (1968; Respublica literaria 2). Joachim D y c k , Ticht-Kunst. Dt. Barockpoetik u. rhetorische Tradition (1966; Ars poética 1). Gerhard S t o r z , Unsere Begriffe von Rhetorik und vom Rhetorischen. Dtschunt. (Stuttg.) 18/6 (1966) S. 5-15.

Stil § 9. Die Ausweitung des St.-Begriffs, wie sie sich durch die Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft als nötig erwiesen hat, gibt der Frage nach dem Verhältnis von Stil und S p r a c h k u n s t erneut große Bedeutung und erfordert methodische Besinnung. Denn die augenblickliche Forschungslage ist in dieser Hinsicht verwickelt. Für die Auffassung des Verhältnisses von Stil und Sprachkunst, Stilistik und Sprachkunstforschung zeichnen sich etwa drei Einstellungen ab. 1. St. wird zwar weit gefaßt, etwa im Sinn der hier erarbeiteten Bestimmung, aber unbesehen werden vielfach die Beispiele aus eindeutig literar. Texten, ja vielfach aus Dichtungen genommen; St. und S p r a c h k u n s t w e r d e n also n i c h t u n t e r s c h i e d e n . Das ist vor allem als durchgehender Grundzug in Sammelwerken wie Style in Language, Mathematik und Dichtung, Literaturwissenschaft und Linguistik, Grundzüge der Literaturund Sprachwissenschaft der Fall. Nur einige Beiträge beziehen eine eindeutige Stellung. Auch in Einzelwerken trifft man diese Verquickung. So schon bei Wilhelm Schneider, Ausdruckswerte der dt. Sprache, der Lehren für den Stil gibt und vor allem aus Dichtern belegt; Erwin Leibfried, Kritische Wissenschaft vom Text, faßt grundsätzlich Text sehr weit, konzentriert sich aber in der Durchführung auf künstlerische Texte ; dasselbe gilt für die Arbeiten von Nils Eric Enkvist, aber auch Bernd Spillner, Linguistik und Literaturwissenschaft, kommt zu keiner Klärung: bald faßt er St. als Wahl innerhalb von Normen, bald als Kennzeichen von Dichtung. 2. Klarer ist es, wenn deutlich innerhalb des weiten Bereichs von St. ein bestimmter als die E i g e n a r t des l i t e r a r i s c h e n St.s abgegrenzt wird. Das ist schon erkennbar im Titel des von Seymour Chatman herausgegebenen Sammelwerks Literary Style. René Wellek betont in seinem Closing Statement des Sammelwerks Style in Language, daß St. mehr als bloß literar. St. umfasse, daß dieser aber, also die ausgesprochen künstlerische Seite, besonders wichtige Teilaspekte aufweise, die eine eigene Forschungsaufgabe seien. Graham H o u g h geht es in Style and Stylistics um das „organizing aesthetic principle". 3. Damit nähert man sich einer Auffassung, St. als das K e n n z e i c h e n der S p r a c h k u n s t anzusehen und zu versuchen, den Terminus St. nur dafür zu verwenden. Diese Auffassung

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entwickelte sich vor allem in den 20er Jahren: Voßler, Spitzer, Winkler, Walzel (vgl. § 2). Sie ist systematisch ausgebaut worden von Wolfgang Kays er (Das sprachliche Kunstwerk) und Herbert Seidler. In dessen Allgemeiner Stilistik und in späteren Arbeiten ist eine deutliche Entwicklung zu erkennen. Der nächste Schritt stellt vor eine Entscheidung: wenn St. nur mehr ästhetischer Sprachgestaltung zugesprochen würde, müßte für die sprachlichen Füllungsmöglichkeiten innerhalb eines Normrahmens ein neuer Terminus gefunden werden. Seidler schlug Darstellungsweise vor. Das hat sich nicht durchgesetzt. Im Gegenteil: gerade die Ausweitung des wissenschaftlichen Beobachtungsfeldes auf alle nur möglichen sprachlichen Erscheinungen, wie wir sie in der modernen Linguistik beobachten, führt zugleich zu einer Ausweitung des Bereichs, in dem auch von St. gesprochen werden kann. Das zwingt aber dazu, das Verhältnis von St. und Sprachkunst neu zu überdenken. Eine Klärung scheint zu sein, wenn man k ü n s t l e r i s c h e , noch enger: d i c h t e r i s c h e S p r a c h g e s t a l t u n g als einen der möglic h e n F u n k t i o n s s t i l e bezeichnet; so unterscheidet Elise Riesel in ihrer mit E. Schendels herausgegebenen Dt. Stilistik folgende Funktionsstile: der öffentlichen Rede, der Wissenschaft, der Presse und Publizistik, der Alltagsrede, der schönen Literatur. Aber ohne Zweifel können Eigenarten, die die Sprache der schönen Literatur kennzeichnen, auch in der öffentlichen Rede, in der Wissenschaft (man denke an Tukydides, Mommsen, Descartes) und in der Presse (man denke an Heine und Börne) vorkommen; d. h. hier versagt der Begriff des Funktionalstils insofern, als der St. der schönen Lit. nicht von einem klar umschreibbaren gesellschaftlichen Zweck bestimmt erscheint; er kann in verschiedenen Funktionsstilen anzutreffen sein, auch Funktionsstile in einem literarischen Werk (etwa Roman). Die Lösung der Schwierigkeit liegt wohl darin, daß das einemal nach dem Zweck sprachlicher Darstellung, das andere Mal nach künstlerischer (ästhetischer) Sprachgestaltung gefragt wird. Vom heute erreichten geschichtlichen Stand der Kultur- und Sprachentwicklung können drei Schichten sprachlichen Darstellens unterschieden werden: die fundam e n t a l e , die als Voraussetzung sprachlichen Darstellens immer da ist, wenn Sprache Kom-

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Stil

munikation leisten soll, ist die grammatische Normbestimmtheit im weitesten Sinn, die nächste, die in der sprachlichen Wirklichkeit auch immer zu finden ist, ist die jeweilige Füllung dieses Normrahmens durch die verschiedenen Möglichkeiten, die die Sprache paradigmatisch und syntagmatisch in jedem Sprachakt bietet: eben der St. Eine dritte Schicht, die diese beiden voraussetzt und einsetzt, die aber nicht notwendig jedem Sprachakt eignet, ist die ästhetische Gestaltung. Damit öffnet sich ein neuer Fragenkreis im Rahmen der Sprachwissenschaft: die Erforschung der ästhetischen Möglichkeiten der Sprache; geht man davon aus, daß die Realisierung solcher ästhetischer Möglichkeiten das Sprachkunstwerk ist, kann man diesen Zweig der Sprachwissenschaft als Sprachkunstforschung bezeichnen. Nach dem Ästhetischen in der Sprache zu fragen und seine Verwirklichungen in der Sprachkunst zu erforschen, ist eine durchaus legitime Aufgabe der Sprachwissenschaft. Mengenmäßig spielen die Sprachkunstwerke im Rahmen der Gesamtheit aller sprachlichen Erscheinungen und Äußerungen eine geringe Rolle, durchaus aber nicht im Hinblick auf ihre menschliche, gesellschaftliche und geschichtliche Bedeutung. Die Möglichkeiten ästhetischer Sprachgestaltung zu bestimmen, zu systematisieren und zu entfalten, ist nicht Aufgabe dieses Artikels. Es sei vor allem auf die Arbeiten von Jan Mukarovsky aus dem Prager Kreis und auf H. Seidlers Grundfragen einer Wissenschaft von der Sprachkunst hingewiesen. Aber festzuhalten ist gegen Willy Sanders (Linguistische Stiltheorie)., daß die ästhetischen Züge an der Sprache nicht außersprachlich sind, sondern eben Züge an der Sprache; daher gehören sie grundsätzlich in den Fragenbereich der Sprachwissenschaft. Weiter ist zu beachten: diese ästhetischen Möglichkeiten der Sprache sind nicht adäquat mit den Kategorien einer Ästhetik zu erfassen, die ausschließlich aus den bildenden Künsten gewonnen werden, obgleich der informationstheoretische Aspekt im Bereich ästhetischer Wahrnehmungen dabei nicht ganz außer acht gelassen werden darf. Das Verhältnis ästhetischer Sprachgestaltung zu Sprachgebrauch und St. kann so bestimmt werden. Schon der durch die Grammatik geregelte Sprachgebrauch, erst recht aber Sprachgebilde, die innerhalb der Normen

die verschiedenen sprachlichen Möglichkeiten einsetzen, also der St., können auf ästhetische Gestaltung und Wirkung hin geprüft werden: ob eine solche da ist, in welchem Umfang und Grad. D. h. ästhetische Gestaltung kann durch alle Schichten und Bereiche des Sprachlichen hindurchgehen. Sie zu erfassen, setzt eine andre Blickrichtung und Fragestellung voraus als die grammatische oder stilistische Analyse. Selbstverständlich liegt es nahe, daß bei ausgesprochen stilhafter Durchgestaltung eines Sprachgebildes erwartet werden kann, daß auch die ästhetische Frage sinnvoll und ergiebig ist. Der Weg von der grammatischen über die stilistische zur ästhetischen Analyse, wobei die folgende die vorangehenden notwendig voraussetzt, erklärt auch die Auffassung, daß erst in Gebilden, wo auch die ästhetischen Sprachmöglichkeiten eingesetzt sind, die Sprache die volle Entfaltung des in ihr Angelegten zeigt; man könnte da von Vollsprache reden (H. Seidler, E. Coseriu). Dreierlei muß in diesem Forschungsbereich beachtet werden, damit man sich nicht von Gegebenheiten weg in Abstraktionen verliert. 1. Ästhetische Gestaltung ist immer verbunden mit ästhetischer E r f a s s u n g : Potentielles wird erst in der Konkretisation durch einen ästhetisch Erfassenden aktuell (Roman Ingarden). 2. Deshalb gibt es auch in der als Kontinuum gedachten Reihe aller möglichen Sprachgebilde keinen fixen Punkt, von wo an ästhetische Sprachgestaltung vorliegt: das Ä s t h e t i s c h e setzt in Ansätzen ein und steigert sich allmählich bis zur vollen ästhetischen Struktur. Wo also ästhetische Gestalt das Bestimmende ist, hängt auch vom Erfassenden ab, ebenso natürlich auch (aber nicht nur) von der Absicht des Gestaltenden. 3. Ä s t h e t i s c h e Sprachgestaltung ist noch n i c h t D i c h t u n g ; diese setzt jene allerdings notwendig voraus. Es vereinfacht und vergröbert die sprachlichen Gegebenheiten, wenn dichterisch und künstlerisch gleichgesetzt werden. Die Reden des Demosthenes und das Geschichtswerk des Herodot sind auch Sprachkunstwerke, aber keine Dichtungen. Z. B. haben der russische Formalismus und dessen Erforschung diese Unterscheidung vielfach verwischt. Sicher auch, daß diese Grenzen geschichtlich und gesellschaftlich mitbedingt sind. Hier setzt aber die Dichtungstheorie ein. Die Sprachkunstforschung ist ein nicht zu vernachlässigender Bereich der

Stil - Stoff- und Motivgeschichte Sprachwissenschaft, der zur Literaturwissenschaft hinführt. Heinz Ludwig A r n o l d u. Volker S i n e m u s (Hg.), Grundzüge d. Literatur- u. Sprachwissenschaft. Bd. 1: Literaturwissenschaft (1973). Eugen C o s e r i u , Thesen zum Thema 'Sprache u. Dichtung', in: Beiträge zur Textlinguistik, hg. v. Wolf-Dieter Stempel (1971; Intern. Bibl. f. allgem. Linguistik 1). Donald F r e e m a n (Hg.), Linguistics and Literary Style (New York 1970). Bennison G r a y , Style. The Problem and Its Solution (The Hague, Paris 1969; De proprietatibus Litterarum. Ser. maj. 3). Graham G. H o u g h , Style and Stylistics (London, New York 1969). Roman I n g a r d e n , Das ¡iterar. Kunstwerk (1930; 2. Aufl. 1960). Ders., Vom Erkennen d. literarischen Kunstwerks (1968). Erwin Leibf r i e d , Kritische Wissenschaft vom Text. Manipulation, Reflexion, transparente Poetologie (1970). Rez.: Herbert Seidler, in: Sprachkunst 2 (1971) S. 272-276. Jan M u k a r o v s k y , Kapitel aus der Poetik (tschechisch 1948, dt. 1967; EdSuhrk. 230). Ders., Kapitel aus d. Ästhetik (tschechisch 1966, dt. 1970; EdSuhrk. 428). Ders., Studien zur strukturalistischen Ästhetik u. Poetik (tschechisch 1973, dt. 1974). Willy S a n d e r s , Linguistische Stiltheorie (1973). Wolf-Dieter S t e m p e l , Zur formalistischen Theorie d. poetischen Sprache, Einl. zum 2. Bd. der Texte der russischen Formalisten, hg. v. W.-D. Stempel (1972) S. IX-LIII. René W e l l e k , Closing Statement, in: Style in Language, hg. v. Thomas A. Sebeok (Cambridge, Mass. 1960) S. 408-419. Abraham A. M o l e s , Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung (1971). Johannes A n d e r e g g , Literaturwiss. St.theorie (1977; Kl. VandenhoeckR. 1429). Herbert S e i d l e r , Grundfragen e. Wissenschaft von d. Sprachkunst (1978; Intern. Bibl. f. allgem. Linguistik 42).

Herbert

Seidler

Stoff- und Motivgeschichte § 1. Der Begriff S t o f f entstammt dem außerliterarischen Bereich (afranz. estoffe, nd. Stoffe = Material, Gewebe), wird jedoch seit langem auch auf Literatur bezogen und steht in Verbindung mit den Begriffen Inhalt, Handlung, Plot, Fabel, Sujet, die häufig als Synonyme gebraucht werden. Der außerliterar. Herkunft des Begriffs entspricht der zunächst außerkünstlerische Charakter der Substanz: Stoffliches kann vom Autor in allen Wirklichkeitselementen aus dem Bereich der Umwelt, der mythologischen oder geschichtlichen Überlieferung und auch in seiner eigenen Imagination gefunden werden.

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Von diesen oft unverknüpft existierenden Elementen, die eine Art Vorform oder Rohstoff bilden, hebt sich der durch eine Zwischeninstanz oder den Autor selbst destillierte und in eine zusammenhängende Folge gebrachte Stoff ab, der vom Künstler als Strukturelement der Dichtung eingesetzt, dem intendierten Gehalt und seinen Formprinzipien angepaßt wird und im Kunstwerk sublimiert erscheint. Stoffliche Elemente, die diesem durch einen Kausalnexus erzielten Umschmelzungsprozeß nicht unterliegen, z. B. Einzeldinge, die als stoffliches Detail mit verbaut werden, ohne bezeichnend und funktionell zu werden, oder allzu umfangreiche Handlungskomplexe, die allenfalls Hintergrundsfarbe für den Plot abgeben können, sind nicht als eigentlich literarischer Stoff anzusprechen, und ihre wissenschaftliche Untersuchung befriedigt möglicherweise den Kulturhistoriker und Soziologen, aber nicht den Literaturhistoriker. § 2. Die Tatsache, daß ein Stoff von mehreren Autoren zu verschiedenen Zeiten, aber auch gleichzeitig, und in verschiedenen N a tionalliteraturen verarbeitet werden kann, läßt erkennen, daß der K e r n e i n e s S t o f f e s zwar i n v a r i a b e l ist, weil er an bestimmte Personen und Ereignisse, an ein gewisses Maß von Merkmalhaltigkeit geknüpft ist, daß aber gewisse Faktoren an ihm modifizierbar sind. In dem invariablen Kern des Stoffes liegt seine geistige, ideelle Qualität, die variablen Faktoren bilden die Ansätze zu seinen verschiedenen poetischen Entfaltungsmöglichkeiten. § 3. Eine zum Zwecke der wissenschaftlichen Analyse durchzuführende saubere T r e n n u n g der s t o f f l i c h e n Vorlage v o n d e r D i c h t u n g wird bei älteren historischen Stoffen erschwert durch den für die chronikalischen Quellen charakteristischen Mangel an historischer ,Treue', so daß der Zeitpunkt, an dem der Begriff Stoff erstmalig anzusetzen ist, unklar bleibt. Doch auch die Berichte aus späterer Zeit sind häufig gerade dann ,dichterisch' ausgeschmückt, wenn sie einem Autor Anreiz zu bieten vermögen. J . K ö r n e r erklärte daher, objektiven Stoff gebe es nicht; er suchte den Stoff nicht in der außerhalb des Dichters liegenden, sich ihm anbietenden Welt, sondern in den Empfindungen des Dichters. R. P e t s c h andererseits

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Stoff- und Motivgeschichte

verstand unter Stoff das aus der Rohform der Vorlage bereits destillierte und zum Eigentum des Dichters gewordene stoffliche Element und unterschied von diesem den ,Rohstoff' oder die ,Formel', eine Kette von inhaltlichen Einheiten, die der Dichter seiner Vorlage entnehme und von allem Zusätzlichen, personell und zeitlich Gebundenen reinige, um für seine Zwecke eine neue, eigene Fassung des ursprünglich Vorgefundenen zu schaffen. § 4. Auch die A b g r e n z u n g des S t o f fes zum benachbarten Strukturelement des Gehalts, der Idee, ist schon von der Semantik her schwierig. Der durch die franz.- und englischsprachige Forschung neben dem als Fremdwort gebrauchten ,Stoff' als dessen Äquivalent verwendete Terminus thème bzw. theme bedeutet je nach dem Kontext ,Stoff' oder ,Idee' und sollte im Deutschen, das ein so treffendes und durch die deutsche Forschung international eingeführtes Wort wie 'Stoff' besitzt, nicht im Austausch dafür verwendet werden. § 5. A r t e n v o n S t o f f e n nach ihrem Inhalt festzulegen, liefert nur geringe Erhellung, dagegen verspricht eine Einteilung nach strukturellen Gesichtspunkten einen fruchtbaren Ansatz. Bei einem Situationsstoff ist die Konfliktsituation die invariable Größe, während die Charaktere leichte Variation erlauben: Antigone ist ohne den Konflikt zwischen zwei Pflichten keine Antigone, wie auch sonst ihr und Kreons Charakter nüanciert sein mögen. Bei einem personalen Stoff (nach T r o u s s o n : thème de héros) wie dem Prometheus-Stoff und dem Don-QuijoteStoff dagegen ist der Charakter festgelegt, während die Situationen und Abenteuer, in die diese Helden gestellt werden, nach dem Muster der ihnen ursprünglich zugeordneten vielfach abgewandelt werden können. Daß diese beiden Gruppen von Stoffen auch eine gewisse Gattungsaffinität besitzen, der Situationsstoff primär der dramatischen und der personale Stoff vor allem der epischen Gattung zugeordnet werden kann, bestätigt die Angemessenheit dieser Einteilung. Josef Körner, Erlebnis - Motiv - Stoff, in: Vom Geiste neuer Literaturforschung. Festschr. f. O. Walzel, hg. v. J. Wahle u. V. Klemperer (1924) S. 80-90. Eberhard Sauer, Die Verwertung stoffgeschichtlicher Methoden in der Litera-

turforschung. Euph. 29 (1928) S. 222-229. Paul M e r k e r , Stoff, Stoffgeschichte, in: Reallex. Bd. 3 (1928/29) S. 305-310. Robert Petsch, Dt. Literaturwissenschaft. Aufsätze zur Begründung der Methode (1940) S. 130-150. Julius Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung (2. Aufl. 1944) S. 112-120. Elisabeth F r e n z e l , Stoffe der Weltliteratur (4. Aufl. 1976; Kröners Taschenausg. 300). Raymond T r o u s s o n , Plaidoyer pour la Stoffgeschichte, RLC. 38 (1963) S. 101-114. Ders., Un Problème de littérature comparée: les études de thèmes (Paris 1965; Situation 7). § 6. Die schon erwähnte Tatsache, daß bedeutende Stoffe mehrfach in literarische Gestalt umgesetzt wurden, hat dazu geführt, die Geschichte solcher Stoffe vergleichend zu beschreiben, und die Erkenntnis, daß nicht nur ganze Stoffe eine Tradition haben, sondern auch kleinere stoffliche Einheiten immer wieder virulent werden, ließ auch sie in diesen Forschungszweig einbezogen werden, der daher als S t o f f - und M o t i v g e s c h i c h t e bezeichnet wird. § 7. Die unter dem Stichwort ,Motiv' (Reallex. Bd. 2, 2. Aufl. Sp. 427-433) stehenden Ausführungen geben nur einen Teilaspekt des Forschungsgegenstandes. Zwar stimmen sie in bezug auf die Erstreckung des Motivs und seine Abhebung vom Begriff des Stoffes mit den Definitionen Paul M e r k e r s in der ersten Auflage des R L und mit der gegenwärtig gängigen Interpretation überein, indem im Motiv eine vom jeweiligen Plot abstrahierbare und allgemein formulierbare stoffliche Einheit gesehen wird, die als Oberbegriff über ganze Stoffe gesetzt werden kann, aber in ihrer Aktionslänge jeweils kleiner ist als ein Stoff, der aus mehreren Motiven besteht. Der durch den Verfasser des Artikels von H . S p e r b e r / L . S p i t z e r und J . K ö r n e r übernommene p s y c h o a n a l y t i s c h e A s p e k t , für den das ,Movierende' des Motivs nicht in der Funktion liegt, Handlung, Personen und Idee des Kunstwerks in Bewegung zu setzen, sondern der es in der Seele des schaffenden Autors sucht und Motivforschung im wesentlichen als Weg zur Erkenntnis der dichterischen Psyche versteht, ist jedoch zu eng, kann zu Fehlschlüssen führen und versagt gegenüber der Dichtung der Frühzeit und gegenüber der Volksdichtung, über deren Verfasserpersönlichkeiten wir wenig oder nichts wissen, vollkommen. K ö r n e r selbst konnte seine ein-

Stoff- und Motivgeschichte seitige und wiederholt angegriffene Motivdefinition nicht aufrechterhalten und korrigierte sie 1949 dahingehend, daß er zwei Aspekte konzidierte: einen subjektiv-aktivistischen und einen objektiv-formalen; sämtliche Motivbegriffe der Ästhetik seien in die Zweiheit eines psychologischen und eines morphologischen Sinnes geschieden. P. M e r k e r , Stoff, Stoffgeschichte (vgl. § 5) S. 306-307. Hans Sperber u. Leo Spitzer, Motiv und Wort. Studien zur Literatur- und Sprachpsychologie (1918). J. K ö r n e r , Erlebnis Motiv - Stoff (vgl. § 5). Ders., Motiv, in: Reallex. Bd. 2 (1926/28) S. 412-415. Ders., Besprechung von Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. DLZ. 70 (1949) Sp. 535-550. § 8. U m den m o r p h o l o g i s c h e n A s p e k t des in der Forschung noch immer Schwankungen unterliegenden Motivbegriffes nachzutragen, sei vermerkt, daß diese die Handlung oder einen Teil von ihr ,movierende' und sie konstituierende stoffliche Einheit nach der geistigen wie nach der formalen Seite hin festgelegt ist: Das Motiv ist nicht rein-geistig, denn es hat einen bildhaften Charakter, aber es ist auch nicht nur-bildhaft, denn es besitzt seelisch-geistige Spannung. Schon in den Formulierungen ,Die verfeindeten Brüder', ,Der Doppelgänger' oder ,Der edle Wilde' wird dieser Charakter deutlich. Ein Motiv gibt nicht nur einen linear verlaufenden Handlungsteil her, sondern greift auch nach seitwärts und rückwärts in das H a n d lungsgefüge des Stoffes ein und verknüpft weit voneinander entfernt liegende Teile des Plots. Motive besitzen zudem die Fähigkeit, Kontakte und Bindungen zu anderen Motiven einzugehen und auch wieder zu lösen, was ihr V o r k o m m e n in vielen - ähnlichen und unterschiedlichen - Stoffen erklärt. Mit den verschiedenen Koppelungen ändert sich auch ihre Funktion: Das Motiv der Freierprobe führt im Turandot-Stoff zu anderen Konflikten und Lösungen als im Nibelungen-Stoff oder in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig. Daher konstatiert F. J o s t : „Stoffe, themes, could be defined as individualized Motive, motifs, and capable of being individualized in an indefinite number of ways. Motiv means potential Stoffe. It is a soul susceptible to be reincarnated in many Stoffe, and the themes, therefore, are the bodies of a literary metempsychosis." Während die Zahl der Stoffe un-

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begrenzt ist, ist die der Motive zwar nicht gering, hat jedoch Grenzen. § 9. Wie der Begriff Stoff m u ß auch der Begriff Motiv g e g e n b e n a c h b a r t e i n h a l t l i c h e K a t e g o r i e n a b g e g r e n z t werden, und zwar wiederum gegen den im Deutschen besonders unklaren des .Themas', der eher die gehaltlichen Tendenzen eines Werkes oder H a n d lungsteils formuliert. Das ,Symbol' kann zwar von einem Motiv ebenso wie von einem kleineren Handlungsteil gebildet werden, verleiht aber diesen Elementen höhere Bedeutung und besitzt daher eine Schlüsselstellung zwischen der inhaltlichen Substanz des Werkes und der gehaltlichen. Dagegen gehört eindeutig zum stofflichen Bereich der ,Zug', eine noch kleinere Einheit als das Motiv, der aber die entscheidende Eigenschaft des ,Movierenden' fehlt und die der Charakterisierung und Ausschmückung dient. Doch ist der Unterschied zwischen Motiv und Zug kein absoluter, sondern einer des Stellenwerts und der Funktion; ein stoffliches Element, das in dem einen Plot lediglich als Zug erscheint, kann in einem anderen das Gewicht eines Motivs haben. Diese Wachstumsfähigkeit eignet auch den von E. R . C u r t i u s ins Blickfeld der Forschung gebrachten ,Topoi', aus der antiken Rhetorik stammenden gedanklichen Themen, die zu Klischees u n d literarisch allgemein einsetzbar wurden (s. Topos). Sie vermögen aus dem Bereich des Stilistischen herauszutreten u n d sich zu Motiven zu entwickeln. Dagegen hat die Forschung die mit dem aus der Musik übernommenen Terminus ,Leitmotiv' bezeichneten, an verschiedenen Stellen eines Werkes absichtsvoll wiederholten W o r t folgen insofern aus dem Begriffsfeld des literarischen Motivs ausgeschieden, als das Leitmotiv nicht eindeutig dem inhaltlichen Bereich zugehört, sondern eine gliedernde, rhythmisierende, verbindende und unterstreichend-deutende Aufgabe hat. Es kann symbolische Funktion annehmen, dient gerade in atektonischer Dichtung als bindendes Kompositionsprinzip und ist Ausdrucksmittel, nicht, wie das echte Motiv, Gestaltungsmittel. § 10. Z u der im Artikel Motiv angeführten E i n t e i l u n g d e r M o t i v e nach ihrer Position im Kunstwerk als Kern-, Rahmen- oder

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Füllmotive sei ihre von G o e t h e und S c h i l l e r in dem Versuch Über epische und dramatische Dichtung gegebene, nach ihrer Funktion in vorwärtsschreitende, retardierende, zurückgreifende und vorgreifende nachgetragen. Außerdem kann man die Motive parallel zur Einteilung der Stoffe nach ihrer Struktur scheiden: Dem Situationsstoff vom Grafen von Gleichen entspricht das diesen bestimmende Situationsmotiv des Mannes zwischen zwei Frauen, einem personalen Stoff wie dem Don-Quijote-Stoff das Typenmotiv des Sonderlings. Oskar K a t a n n , Besprechung von A. E. Mahr, Dramatische Situationsbilder und -bildtypen. Eine Studie zur Kunstgeschichte des Dramas, in: Euph. 32 (1931) S. 97-101. J . P e t e r s e n , Die Wissenschaft von der Dichtung (vgl. § 5) S. 169-180. Ernst Robert C u r t i u s , Europäische Literatur u. lat. MA. (2. Aufl. Bern 1954). Z. C z e r n y , Contribution à une théorie comparée du motif dans les arts, in: Stil- und Formprobleme der Literatur. Vorträge des 7. Kongresses der internationalen Vereinigung f. moderne Sprachen und Literaturen in Heidelberg, hg. v. Paul Böckmann (1959) S. 38-50. Sophie-Irène K a l i n o w s k a , À propos d'une théorie du motif littéraire: les formantes. Beiträge zur roman. Philologie 1 (1961) S. 78-82. Adolf B e i s s , Nexus ». Motive. E. Beitr. z. Theorie d. Dramas. D V L G 36 (1962) S. 248-267. Elisabeth F r e n z e l , Stoff-, Motiv- u. Symbolforschung (4. Aufl. 1978; Slg. Metzler 28). Dies., Stoff- und Motivgeschichte (2. Aufl. 1974; GrundlGerm. 3). Dies., Motive der Weltliteratur (1976; Kröners Taschenausg. 301). Ulrich W e i s s t e i n , Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft (1968) S. 163-183. Gerhard P. K n a p p , Stoff, Motiv, Idee, in: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 1 (1973) S. 200-207. Harry L e v i n , Motif, in: Dictionary of the History of Ideas, hg. v. Philip P. Wiener. Bd. 3 (New York 1973) S. 235-244. François J o s t , Introduction to Comparative Literature (Indianapolis u. New York 1974) S. 181.

§ 1 1 . Ein analytisches Verfahren, das weniger der diachronischen Stoffgeschichte als der synchronischen Durchleuchtung des Werkes eines einzelnen Dichters gilt, muß notwendig neben den weltliterarischen, Zeiten und Räume übergreifenden Motiven auch weniger allgemein bedeutende berücksichtigen, die im Werk dieses Dichters - meist auf Grund von dessen besonderem psychologischen Fundus ein Gewicht haben, etwa das Motiv der Hütte

bei G o e t h e , das der Fermate bei E. T. A. H o f f m a n n , das des Erstickens bei M e y rink. Auf Einbeziehung werkspezifischer Stoffteile sieht sich auch die V o l k s l i t e r a t u r - , besonders die M ä r c h e n f o r s c h u n g , verwiesen, die es mit einer Fülle zunächst nicht datierbarer Ausprägungen verwandter Erzähltypen zu tun hat, bei deren Diagnose selbst geringe Abweichungen zum Indiz werden können. Bei der Registrierung des zu vergleichenden Materials zum Zwecke der Erschließung der Heimat und Entstehungszeit sowie des Archetypus eines Plots ist die sog. finnische Märchenschule daher zur lexikographischen Erfassung kleinster Stoffteilchen geschritten, wie sie in Stith T h o m p s o n s verdienstvollem Motif-Index in Folk-Literature und verwandten Unternehmungen verzeichnet sind (s. Märchen). Die durch die besonderen Ziele dieser Forschungsrichtung gerechtfertigte Einbeziehung von Handlungspartikeln, denen jede movierende und konstituierende Fähigkeit fehlt, dürfte sich im Bereich einer poetologisch orientierten Literaturwissenschaft als nicht sonderlich erhellend erweisen. § 12. Das Ungenügen dieses lediglich einen Handlungsabschnitt bezeichnenden Motivbegriffes ist seit der Morphologie des Märchens des sowjetischen Forschers V. J . P r o p p offenkundig, da dieser neben das ,Motiv' den auf den inneren Bau einer Erzählung zielenden Begriff der ,Funktion' gesetzt wissen wollte. Von Propp führen Verbindungslinien zur strukturalistischen R i c h t u n g der Literaturwissenschaft, die aus der .Funktion' Propps den (aus zwei Sprachen kombinierten) Begriff des .Motifems* entwickelte. Während die Motiv-Kette die Handlung in der Reihenfolge repräsentiert, wie sie - frei von Chronologie und Kausalität als der Plot des spezifischen Kunstwerkes erscheint, weist die Motifem-Kette die Bestandteile der Handlung so auf, wie sie entsprechend ihrer natürlichen, durch Kausalität und Chronologie bestimmten Logik aufeinander folgen. Den durch die verbale Materialisation als ästhetischen Elementen fungierenden Motiven liegen anders geordnete Motifeme zugrunde, die gleichsam die Struktur der Handlung auf logischer, nichtkünstlerischer Ebene darstellen. Zu dem Märchenmotiv „Der Held erhält ein Zaubermittel und

Stoff- und Motivgeschichte muß eine Aufgabe lösen" würde das von den spezifischen Gegebenheiten des Plots abstrahierte Motifem „ D e r Geber prüft den H e l d e n " gehören. L . Dolezel möchte seine Theorie der Textstruktur nicht nur für die Volksliteratur angewendet wissen. Im Bereich der Mythenforschung sind entsprechend ,Mytheme' und in der Epenforschung ,Nárreme* in Vorschlag gebracht worden. Motifeme dienen ausdrücklich nur dem Vergleich mit synchronischem Aspekt und ermangeln, wie kritisch angemerkt worden ist, der historischen Perspektive: Die diachronische Folge von Tatsachen werde hier durch ein Bündel synchronischer Beziehungen ersetzt. Antti Aarne, Verzeichnis d. Märchentypen (Helsinki 1910; FFC. 3). Arthur Christensen, Motif et thème: plan d'un dictionnaire des motifs, des contes populaires, des légendes et des fables (Helsinki 1925; FFC. 59). Vladimir Jakovlevic Propp, Morfología skazki (Leningrad 1928), dt. Ausg. u. d. T. Morphologie d. Märchens. Hg. v. Karl Eimermacher. Dt. Ubers.: Christel Wendt (1972). Stith T h o m p s o n , MotifIndex in Folk-Liter ature. 6 Bde. 2. Aufl. (Kopenhagen 1955-1958). Alan Dundes, From Etic to Emic Units in the Structural Study of Folktales. Journal of American Folklore 75 (1962) S. 95-105. Eugene D o r f man, The Nárreme in the Medieval Romance Epie. An Introduction to Narrative Structures (Toronto 1970). Lubomir D o l e z e l , From Motifemes to Motifs. Poetics 4 (1972) S. 55-90.

§ 13. Die Methode der Stoff- und Motivgeschichte ist die des Vergleichs, ohne daß dieser Forschungszweig damit notwendig der vergleichenden Literaturwissens c h a f t angehörte, wenn man diese, wie in der französischen und der z. Zt. tonangebenden deutschen Komparatistik, ausschließlich als Vergleich von Werken verschiedener N a tionalliteraturen versteht - die Komparatistik Osteuropas unterscheidet dagegen zwischen innerliterarischem und interliterarischem Vergleich. Stoff- und motivgeschichtliche Vergleiche von Werken, die der gleichen Nationalliteratur angehören, sind, wenn ihre Begrenzung im Gegenstand ausreichend begründet ist, sehr wohl zu rechtfertigen. Mit dem gleichen sachbedingten Recht überschreitet jedoch die Stoff- und Motivgeschichte die Sprachgrenzen der Nationalliteratur. Bibliographisch wird der Forschungszweig daher in

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Grundrissen und B i b l i o g r a p h i e n sowohl der deutschen Literaturwissenschaft wie der vergleichenden Literaturwissenschaft berücksichtigt. Fernand Baldensperger/Paul Hazard, Revue de littérature comparée (Paris 1921 ff.), Bibliographische Anhänge unter: Thèmes et Types. Kurt B a u e r h o r s t , Bibliographie d. Stoff- u. Motivgeschichte der dt. Literatur (1932). Arthur L u t h e r , Dt. Land in dt. Erzählung. Ein literar. Ortslexikon 2. Aufl. (1937). Ders., Dt. Geschichte in dt. Erzählung. E. literar. Lexikon (2. Aufl. 1943). Beide Arbeiten gemeinsam als „3. gänzlich veränd. u. erg. Aufl.": A. Luther/Heinz Friesenhahn, Land und Leute in dt. Erzählung. Ein hibliogr. Lexikon (1954). Josef K ö r n e r , Bibliographisches Handbuch d. dt. Schrifttums (3. Aufl. 1949) unter: Thematische Querschnitte durch die Geschichte der dt. Literatur. Hanns Wilhelm Eppelsheimer/Clemens K ö t t e l w e s c h , Bibliographie d. dt. Literaturwissenschaft (1957ff.) für die Berichtszeit seit 1945 unter: Stoff- und Motivgeschichte/Themen. Franz Anselm S c h m i t t , Beruf u. Arbeit in dt. Erzählung. E. literar. Lexikon (1952). Ders., Stoff- u. Motivgeschichte der dt. Literatur (3. Aufl. 1977). Fernand Baldensperger/ Werner Paul F r i e d e r i c h , Bibliography of Comparative Literature (Chapel Hill 1950), unter: Literary Themes; als Fortsetzung dazu die Bibliographie in Yearbook of Comparative and General Literature (1952ff.). Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen (1960 ff.), unter: Poetik. Stoffe und Motive. Vgl. auch die bibliographischen Angaben unter den einzelnen Artikeln in E. F r e n z e l , Stoffe der Weltliteratur und Motive der Weltliteratur (vgl. § 5 u. 10). § 14. D e r E i g e n e x i s t e n z von Stoffen und Motiven, ihrer Dynamik und ihrer Logik treten im Zuge der künstlerischen Verkörperung Antikräfte gegenüber, die ihnen einen mehr oder weniger großen A s s i m i l a t i o n s p r o z e ß auferlegen. Das ist zunächst an Varianten abzulesen, die infolge der Rezeption eines Stoffes oder Motivs d u r c h u n t e r s c h i e d l i c h e S p r a c h u n d S o z i e t ä t s e i n h e i t e n entstehen. Die Existenz gleicher oder verwandter Stoffe bei verschiedenen, weit voneinander getrennt lebenden Völkern, die von den Brüdern G r i m m mit der romantischen These von einem den indogermanischen Völkern gemeinsamen Urmythos, mechanistischer von T h . B e n f e y mit Wanderung oder Diffusion, dann wieder von der Psychoanalyse als Poly-

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genese auf Grund archetypischer Grundvorstellungen der menschlichen Seele und schließlich, vor allem von der osteuropäischen Komparatistik, mit .spontaner Entstehung' bei verschiedenen, unter den gleichen klimatischen und soziologischen Bedingungen stehenden Sozietätseinheiten erklärt wurde, bleibt ein erregendes Phänomen, bei dem der Forscher für die Grundmotive mit der Möglichkeit spontaner Entstehung rechnen darf, bei Ubereinstimmung größerer Motivkomplexe jedoch Entlehnung und Einfluß, also M o n o g e n e s e , annehmen muß. Sekundäre Merkmale einer Umprägung und Akklimatisation werden spürbar etwa an dem den isländischen Verhältnissen angepaßten Heldenlied vom Burgundenuntergang, das am Rhein entstanden war, oder an der Behandlung des Adam-Mythos durch die sich selbst als neuen Adam auffassende junge amerikanische Nation. Durch die Auswahl, die ein Volk aus dem umlaufenden Stoffreservoir trifft, in der Zufügung und im Weglassen von Motiven hebt sich seine Literatur von der anderer Völker ab, so z. B. die französische Literatur durch Einführung zusätzlicher Liebeskonflikte in überkommene Stoffe oder das klassische spanische Drama durch die naive Verwandlung von ernsten Fabeln in Verkleidungs- und Verwechslungsaffären. Viktor Z i r m u n s k i j , Vergleichende Epenforschung. Bd. 1 (1961; Veröff. d. Inst. f. dt. Volkskunde 24). Maurice B o w r a , Heroic Poetry (2. Aufl. London 1961). Richard Warrington Baldwin Lewis, The American Adam. Innocence, tragedy and tradition in the 19th Century (Chicago 1955).

§ 15. Noch deutlicher wird das Phänomen der P r ä v a l e n z bei z e i t t y p i s c h e n S t o f fen und M o t i v e n . Soziologische und weltanschauliche Tendenzen einer Epoche begünstigen das häufige Auftauchen von bestimmten Motiven, so in der Lyrik des Barock das Vanitas-Motiv, im Sturm und Drang das Rebell-Motiv und das Kindsmörderin-Motiv, im Expressionismus den Vater-Sohn-Konflikt. Auch ganze Stoffe können innerhalb' des gleichen Zeitraums durch verschiedene Autoren aufgegriffen werden, etwa der Pygmalion-Stoff in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s oder der Thomas-ä-Becket-Stoff nach dem Zweiten Weltkrieg durch E l i o t , Anouilh und F r y . Auch für die zeittypischen Gleich-

heiten oder Ähnlichkeiten spielt die Frage nach der typologischen oder genetischen Begründung eine Rolle, interliterar. Wechselwirkungen werden durch ähnliche gesellschaftliche Situationen begünstigt. Daneben ist jedoch mit Tradition und Resistenz der Stoffe und Motive zu rechnen, die ihre eigene Logik haben, so daß literar. Werke durchaus nicht immer die Zeitwirklichkeit spiegeln, sondern ihr häufig widersprechen. Erich A u e r b a c h , Typologische Motive in d. mal. Literatur (1953; Schriften und Vorträge des Petrarca Instituts Köln 2). Karl Ludwig Schneider, Themen u. Tendenzen d. expressionistischen Lyrik, in: Formkräfte der dt. Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart. Vorträge, gehalten im Dt. Haus Paris 1961/62 (1963) S. 250-270. Vgl. die Stoffe Pygmalion und Thomas ä Becket in E. F r e n z e l , Stoffe der Weltliteratur (vgl. § 5) sowie die Motive Rehell, Vater-SohnKonflikt und Verführer und Verführte in E. Frenzel, Motive der Weltliteratur (vgl. § 10).

§ 16. Die in jeder Geschichte eines Stoffes oder Motivs latent vorhandene Spannung zwischen Identität und Mutation wird am deutlichsten in der B e g e g n u n g von S t o f f und A u t o r . Friedrich H ö l d e r l i n , der in seinem Aufsatz Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes (Sämtliche Werke. Bd. 4, 1962, S. 251-276) Stoff betont als eigenständige Kraft auffaßt, hat die Polarität der Energien Stoff-Autor so stark empfunden, daß er konstatierte, ein Stoff müsse vom Autor erst auf die Möglichkeit der Rezeptivität durch den Geist geprüft werden, da er „aus dem Zusammenhang der lebendigen Welt genommen der poetischen Beschränkung widerstrebt, indem er dem Geiste nicht bloß als Vehikel dienen will". Langjähriges ,Ringen' eines Autors mit einem Stoff und dessen Erprobung in verschiedenen Gattungen und Formen belegen die Eigenkraft stofflicher Substanzen, deren Bewältigung nicht nur die überlegene Fähigkeit eines Autors, sondern auch dessen adäquate Gefühls- und Erlebnislage erfordert. Ob der Autor seinen Stoff findet oder erfindet, ist für Größe und Einmaligkeit eines Werkes nicht entscheidend, die Leistung liegt im Wie, nicht im Was. Während frühere Epochen sich in diesem Bewußtsein immer erneut an überkommenen Stoffen erprobten und formbewußte Autoren auch heute noch die neue Behandlung eines gefundenen alten Stoffes nicht verschmähen, tritt in Epochen

Stoff- und Motivgeschichte und bei Verfassern mit betont pädagogischen, moralischen und politischen Zielsetzungen der erfundene, zeitgemäße Stoff in den Vordergrund. Zumal die realistischen Kunsttheorien seit dem Sturm und Drang begünstigten den erfundenen Stoff und sahen in der Verwendung gefundener Plots ein Indiz für mangelnde Phantasie und Originalität. Abhängigkeit' sollte jedoch nicht zur Frage der Wertung gemacht und der Begriff des ,Einflusses' nicht aus Reaktion gegen die fehlgeleitete Einflußforschung des Positivismus ängstlich gemieden werden. Die Tatsache literarischer Ubernahmen bleibt bestehen und ist in vielen Fällen nicht Zeichen minderer Fähigkeiten des Autors, sondern seiner Aufgeschlossenheit, seines Urteilsvermögens und seiner Kommunikationsgabe. S t o f f - und M o t i v k o n s t a n z hat auch publikumspsychologische Ursachen. Die Volks- und die Trivialliteratur machen deutlich, wie stark der Beharrungswille des Publikums, seine Freude am schon Bekannten und sein Wunsch nach Wiederbegegnung mit einmal Erprobtem ist. Darauf beruhen die Jahrhunderte währende Lebendigkeit der Heldenepen, das Überdauern der schäferlichen Motive, das Fortexistieren des Schreckens- und Schauerapparats der Vulgärromantik. Topoi, typologische Vorstellungen und Symbolmotive werden unbemerkt weitergegeben und können in literarischen Kontexten auftauchen, die eine ihnen ganz fremde und entgegengesetzte Wirklichkeit widerspiegeln: Der Ölbaum des antiken Locus amoenus grünt bei G o t t f r i e d von S t r a ß b u r g im Baumgarten König Markes von Cornwall, und das Motiv des Einsiedlers und das des edlen Wilden behaupteten lange Zeit entgegen der Realität ihr literarisches Leben. Die der Stofftradition und Motivkonstanz in Gestalt des Autors entgegentretende Kraft ist gespeist von dessen individuellen und sozialen Erlebnissen. Das aus ihnen erwachsende Motiv kleidet sich ihm in einen von ihm erfundenen oder gefundenen Stoff. L e s sing fand in der Ringparabel aus B o c c a c c i o s Dekameron die künstlerische Formel für die ihn bewegende Toleranzidee, S c h i l l e r in Elementen aus Schubarts Zur Geschichte des menschlichen Herzens, Diderots Les deux amis de Bourbonne und der Robin-HoodSage die stoffliche Substanz für das sich ihm aufdrängende Motiv des gerechten Räubers.

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Stoffe, zwischen deren Behandlung ein Autor in einem Zeitpunkt seiner Entwicklung schwankt, sind fast immer motivgleich oder motiwerwandt: Die Beschäftigung des jungen G o e t h e mit dem Faust-, dem Prometheusund dem Mahomet-Stoff entsprang seinem titanischen Lebensgefühl und dem sich daraus formulierenden Rebell-Motiv. Dieser Zusammenhang zwischen der Gefühlslage eines Dichters und einer M o t i v p r ä v a l e n z in seinem Werk läßt p s y c h o a n a l y t i s c h e A u s d e u t u n g zu, darf jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Identifizierung beider führen, weil dadurch die Tatsache ausgeklammert würde, daß das Motiv nicht völlig des Dichters Schöpfung ist, sondern ihm als etwas Selbständiges entgegentritt, dem er nur eine spezifische Ausprägung verleiht. Auch wird der reife Künstler eine Distanz zu dem seiner Dichtung zugrunde liegenden Erlebnis herzustellen suchen, so daß die Kunstwirklichkeit nicht mehr Spiegel der psychologischen Wirklichkeit ist. Das allmähliche Sichablösen des Kunstwerks vom Erlebnis ist an der Entstehungsgeschichte von Goethes Faust und seiner Novelle oder auch an der Verarbeitung stofflicher Substanzen in F o n tanes Briefen und Reiseberichten und später in seinen Romanen abzulesen. Daher ist psychologische Ausdeutung eines Motivs nur angängig, wo reiche biographische Zeugnisse über den Autor vorhanden sind und der Erlebnisstoff infolge der Jugend des Autors oder einer ans Neurotische grenzenden Sensibilität kaum verkleidet in das Werk eingegangen ist; in solchen Fällen läuft die literaturwiss. Zielsetzung Gefahr, von einer biographischpsychologischen verdrängt zu werden. Es ist von einem Mutter-Komplex Brentanos und Hesses, von einem Vater-Komplex Kafkas gesprochen worden. Auch im Werk E. T. A. Hoffmanns stehen neben überkommenem, vielfach aus der Vulgärliteratur entlehntem Motivgut prävalente Motive wie das des Doppelgängers, das auf ein gestörtes seelisches Gleichgewicht schließen läßt. Die von R. M ü h l h e r für Georg B ü c h n e r in Anspruch genommenen, seinen negativen Bildern zugrunde liegenden krankhaften Symptome werden in Frage gestellt durch Büchners bei genauer Textanalyse zutage tretende Übernahme motivischen Materials von französischen Historikern und Dichtern, vor allem von M u s s e t .

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Stoff- und Motivgeschichte

F o r m u n d A u s m a ß literarischer Einflüsse sind verschieden. Sie reichen von der A n regung bis zur motivlichen Diktatur und können sich in kaum bemerkbaren Reminiszenzen oder auch Entlehnung ganzer Komplexe sowie in assimilierender Imitation äußern. Ein Stoffteilchen kann eingepaßt werden, ohne daß ihm Gewalt geschieht, es kann aber auch durch Aneignung so transformiert werden, daß es fast als etwas Neues erscheint. So entstand als ,Korrektur' der Odysseussage oder besser der Telegonossage, in der ein dem Vater unbekannter Sohn Odysseus tötet, die zeitlich davorgeschaltete, auf der umgekehrten Lösung des Motivs der Vatersuche beruhende Euryalossage, in der Odysseus einen anderen außerehelichen Sohn, Euryalos, erschlägt, wodurch das Ende des Odysseus nun wie ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit wirkt. Dagegen beruht die ,Modernität', d. h. für das Humanitätszeitalter gewonnene Aktualität von G o e t h e s Bearbeitung des Iphigenie-Stoffes auf der Neuinterpretation des Humanitätsbegriffes und der daraus folgenden Heilung Orests und der H e i m f ü h r u n g der ,Schwester'. Besitzt der Autor nicht die anverwandelnde Kraft, so behaupten sich Stofftradition und Motivkonstanz, wie es an den stehengebliebenen Passagen älterer Fassungen im Nibelungenlied und in noch höherem Maß an der aus der Hildesage entsprossenen Kudrun deutlich wird. Else B u d d e b e r g , Hölderlins Begriff d. ,Receptivität d. Stoffs'. GRM. NF. 12 (1962) S. 170-193. Vgl. die Motive Arkadien, Der edle Wilde, Der Einsiedler, Der gerechte Räuber, Doppelgänger in E. F r e n z e l , Motive der Weltliteratur (vgl. § 10). Rolf N ä g e l e , Die Muttersymbolik bei Clemens Brentano (Winterthur 1959). Heinz Werner Puppe, Die soziologische u. psychologische Symbolik im Prosawerk Hermann Hesses (Masch.) Diss. Innsbruck 1959. Urs R u f , Franz Kafka. Das Dilemma der Söhne (1974). Robert M ü h l h e r , Georg Büchner u. d. Mythologie d. Nihilismus, in: Mühlher, Dichtung der Krise (1951) S. 97-145. Elisabeth F r e n z e l , Mussets 'Lorenzaccio' - ein mögliches Vorbild für 'Dantons Tod', Euph. 58 (1964) S. 59-68. § 17. Mit der Annahme einer gewissen G e s e t z m ä ß i g k e i t der S t r u k t u r i e r u n g e i n e s S t o f f e s im Zusammenwirken mit den anderen Strukturelementen Gehalt und Form und einer Begrenztheit seiner Entfaltungsmöglichkeiten wird weniger einer mechanistischen als einer morphologischen Betrach-

tungsweise das W o r t geredet. Sie glaubt bei der Betrachtung stofflicher Einheiten und ihres Wirkens im Kunstwerk eine ihnen mitgegebene Entwicklungstendenz und Logik zu entdecken, durch die der Auffassung einer ganz nach eigenem Ermessen verfahrenden Schöpferkraft Grenzen gesetzt sind. Diese Eigenschaft der Stoffe und Motive wird z. B. in ihrer G a t t u n g s a f f i n i t ä t deutlich, die einen Stoff oft so stark einer bestimmten Dichtungsgattung zuordnet, daß er eine abgeschlossene Sonderentwicklung innerhalb dieser Gattung ohne Berührung mit anderen Gattungen erfährt. Allerdings ist diese Gattungsaffinität infolge des Mangels an wissenschaftlichen Untersuchungen nicht immer eindeutig feststellbar, läßt sich aber mitunter aus der Frequenz einer stofflichen Einheit innerhalb einer Gattung erschließen. Der M o t i v k o m p l e x , der die L y r i k an Stelle des in den pragmatischen Dichtungsgattungen bestimmenden Stoffes strukturiert, umschreibt das, was als emotionale G r u n dierung oder ,Stimmung' (im nicht-romantischen, nicht-umgangssprachlichen Sinn) die Elemente des Gedichts - die Faktoren einer Landschaft sowohl wie gedankliche Substanzen oder Gefühlsregungen, aber auch die assoziativ gereihten Dinge und Begriffe in der modernen Lyrik — zueinander in Beziehung setzt und den Zugang für den eingestimmten Leser bildet. Das lyrische Motiv löst nicht eine logische oder chronologische, sondern eine intuitive Entwicklung aus und ist vorwiegend statisch, weil Lyrik einen Ausschnitt aus Zeit u n d Raum als Momentaufnahme einfängt. In G o e t h e s Wanderers Nachtlied verbinden sich Baumwipfel, Lufthauch, Schweigen der Vögel, H o f f n u n g auf Seelenfrieden ebenso zu einer optisch-akustisch-psychologischen Einheit wie in C . F. M e y e r s Der römische Brunnen die drei Brunnenschalen und das steigende und fallende Wasser. Die mythologische Szene der sich über den schlafenden Jüngling Endymion beugenden M o n d göttin widersetzt sich der D e h n u n g zum Stoff und erweist ihren vorwiegend lyrischen C h a rakter in der Mondscheinlyrik von der Renaissance bis zur Gegenwart. Für die Wesensart d r a m a t i s c h e r M o t i v e ist eine dialektische oder dissonante Struktur entscheidend, die sich schon in der Formulierung der Situationsmotive - Die ver-

Stoff- und Motivgeschichte feindeten Brüder, Der herkunftsbedingte Liebeskonflikt, Tyrannenmord - , aber auch der zu komischer Gestaltung auffordernden Typenmotive - Der verliebte Alte, Der Hahnrei - kundtut. Der dramatische Charakter eines Stoffes kann jedoch nicht nur durch das Zentralmotiv, sondern auch durch ein mit diesem verknüpftes zweites, dialektisches Motiv herbeigeführt werden: Die undramatische, weil passive und unbeirrbare Heldin des AgnesBernauer-Stoffes löst durch ihre Existenz einen Vater-Sohn-Konflikt aus und läßt so ein dissonantes Motiv in Funktion treten. Nicht nur die Struktur der im Gefüge eines Dramas wirksamen Motive, sondern auch die Konstellation der Motive zueinander, nämlich die starke Unterordnung der Neben- und Randmotive unter das Kernmotiv bei enger Zuordnung zu ihm, ist für den inneren Aufbau entscheidend. Lessings Minna von Barnhelm, Goethes Iphigenie auf Tauris, Schillers Maria. Stuart, Kleists Der zerbrochene Krug sind Muster für ein solches Motivgefüge. Stärkere Nebenordnung der Motive führt zu jener Annäherung an die reihende Ordnung der Epik, die man als ,offene Form' des Dramas zu bezeichnen pflegt, wie sie das mittelalterliche Drama, die meisten Königsdramen Shakespeares und das moderne Bilderbogen- und Stationenstück vertreten. Die Dramatik beruht hier mehr auf der Dialektik der Einzelszene als der des gesamten Werkes. Bei gewissen statischen Stoffen, die im Grunde um eine große Szene kreisen, macht sich dagegen ein lyrischer Faktor geltend, wie ihn S. Beckets En attendant Godot aufweist. Solche Grundstruktur kommt den Ansprüchen der musikdramatischen Gattungen entgegen, deren Akzent auf der „Ausarbeitung der Affekte" (J. C. Scaliger), also der Darstellung bedeutender Seelenzustände, liegt. Der Mangel an dramatisch-dialektischer Motivik wird hier durch ein Zusammenwirken akustisch-stimmungshafter und optisch-statischer Motive aufgewogen, wodurch sich ein dem dramatischen verwandter theatralischer Effekt ergibt. Das epische Motiv drückt vor allem Bewegung aus und repräsentiert die Erfahrung der Zeit als Dauer. Es übernimmt oft eine Klammerfunktion, die den Beginn solcher Bewegung mit weit später liegenden Ereignis-

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sen verbindet. S c h i l l e r stellte bei seinen Überlegungen über epische und dramatische Kunst fest, daß der Zweck des epischen Dichters schon in jedem Punkt der Bewegung, also nicht erst am Ziel, liege, und G o e t h e betonte die Notwendigkeit retardierender Motive im epischen Stoff. Das bedeutet Nebenordnung der Motive, eine addierende Technik, die das Einblenden zeitlich zurückliegender und die Vorausnahme zukünftiger Handlungsteile einschließt. Homers Odyssee, Sternes Tristram Shandy, Goethes Wilhelm Meister machen solche Struktur deutlich. Die Struktur der Novelle dagegen nähert sich etwas der des Dramas: Das Kernmotiv bewegt sich zwar episch einem Zielpunkt zu, aber ohne die spezifisch epischen Umwege. Daher verlieren die Nebenmotive an Gewicht und sind dem Hauptmotiv stärker untergeordnet. Als Musterbeispiel gelte Kleists Die Marquise von O. . . ., aber auch Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl besitzt trotz der Verteilung der Handlung auf zwei gekoppelte Kernmotive diese drängende, Nebenmotive eng einbindende Zielstrebigkeit. Die Anforderungen einer Gattung an Stoffe und Motive werden am sinnfälligsten, wenn sich der Ü b e r t r i t t eines S t o f f e s o d e r M o t i v s in eine andere G a t t u n g vollzieht; jede Gattung schleift die Stoffkerne zurecht, bis sie der gattungseigenen Funktion angepaßt sind. Diese Vorgänge sind besonders an den Spezies der Volksliteratur untersucht worden: am Ubergang von der noch mit historischen Realitäten und individuellen Zügen arbeitenden Sage zum Märchen, das die Personen in Figuren verwandelt, die Motive isoliert, sie leicht, transparent macht und in dem die Nebenmotive selbständig und austauschbar werden. Ähnliche Charakteristika lassen sich an aller mündlich tradierten Literatur, aber auch an anderen Spätgattungen und Spätarten aufzeigen: am späten Ritterroman, der petrarkistischen Lyrik, der Ritterund-Räuber-Literatur des späten 18. und frühen 19. Jh.s, der Detektivgeschichte. Zu noch einschneidenderen Strukturveränderungen kommt es, wenn sich der Ubergang zwischen zwei Gattungen vollzieht, die sich unterschiedlicher Darbietungsmittel bedienen. Das Problem der Dramatisierung eines Erzählstoffes bedingt Zurückschneidung und

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Stoff- und Motivgeschichte

Unterordnung der Nebenmotive. Wo jedoch die epische Grundstruktur wie im Nibelungen-Stoff mit seiner Fülle starker, gleichwertig nebeneinander agierender Charaktere dieser Zurückschneidung widerstrebt, muß dem Stoff durch einseitige Akzentuierung Gewalt angetan werden und das Ergebnis eine Siegfried-, Brunhild- oder Kriemhildtragödie sein. Auch die epische Grundstruktur der Bewegung widersetzt sich der Einspannung in das dramatische Joch: Odysseusdramen ergeben immer nur einen Ausschnitt aus der Vita des Helden. Die Überführung eines Novellenstoffes in ein Drama dagegen kann oft durch Anreicherung und Stärkung der Nebenmotive erreicht werden. Wo dies schwer möglich ist, wie bei dem Memorabile von den Mordeltern oder dem Mord am Sohn, ergab die situationsmäßig-personale wie ethische Enge des Sujets statt der angestrebten Tragödie immer nur einen melodramatischen Einakter (Z. Werner) oder allenfalls Dreiakter (A. Camus). Bestimmte stereotype Motivkomplexe, die zu modischer Beliebtheit gelangten, haben für längere Zeit eine s t r u k t u r - und a r t e n prägende K r a f t besessen. Der späthöfische Roman z. B. häuft die Motive der unbekannten Herkunft, der Vatersuche, des Verwandtenkampfes und der Einsiedlerbegegnung, die Plots der Ritter-, Räuber- und Gespensterliteratur strotzen von geheimen Gesellschaften, verräterischen Mönchen, Fememord, Bruderzwist und Geistererscheinungen, der pikarische Roman zeichnet sich durch die Motive der niederen Herkunft, des verbrecherischen Mentors, des Spielers und des betrügerischen Bettlers aus. Die Genres tragen das jeweilige Kernmotiv schon in ihrer Bezeichnung: Schäferdichtung, Haupt- und Staatsaktion, Dorfgeschichte. Genrebildung ist wiederholt durch die erfolgreiche Schöpfung eines Einzelnen hervorgerufen worden. Sannazaros Arcadia, Defoes Robinson Crusoe, Goethes Leiden des jungen Werthers stehen am Anfang einer solchen Spezies, während in anderen Fällen ein spät Kommender die Ansätze seiner Vorgänger geschickt zusammenfaßte und populär machte, wie S c h i l l e r die Motive des bürgerlichen Trauerspiels in Kabale und Liebe oder Zacharias Werner die der Schicksalstragödie in Der vierundzwanzigste Februar.

Helmut de B o o r , Märchenforschung. ZfDtk 42 (1928) S. 561-581. Ruth D i e f f e n b a c h e r , Dramatisierungen epischer Stoffe (vom MA bis zur Neuzeit) in der dt. Lit. seit 1890. Diss. Heidelberg 1935. Mary B e a r e , The German Popular Play 'Atis' and the Venetian Opera. A Study of the Conversión of Operas into Popular Plays, 1675-1722, with Special Reference to the Play 'Atis' (Cambridge 1938). Max Lüthi, Gattungsstile. Sage und Märchen. WirkWort 4 (1953/54) S. 321-327. Wolfgang N o w a c k , Versuch e. motivischen Analyse des Schäferhabits bei Friedrich von Spee. Diss. Berlin (FU) 1954. Günther H a a s c h , Das Wunderbare im höfischen Artusroman. E. Beitr. zur Motivgeschichte mal. Epik und zur Klärung d. Verhältnisses von Artusroman und Märchen. Diss. Berlin (FU) 1955. Hans P y r i t z , Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Gesch. d. Petrarkismus (1963; Pal. 234). Maria K o s k o , Le fils assassiné (Helsinki 1966, Academia Scientiarum Fennica, F. F. Communications Bd. 83, 198). Mireille F r a u e n r a t h , Le fils assassiné. Vinfluence d'un sujet donné sur la structure dramatique (1974; Poética, Beih. 9). Adolf H a s l i n g e r , Dies Bildnisz ist bezaubernd schön. Zum Thema 'Motiv und epische Struktur' im höfischen Roman d. Barock. Literaturwiss. Jb. NF. 9 (1968) S. 83-140. Für die erwähnten Stoffe und Motive vgl. auch E. F r e n z e l , Stoffe der Weltliteratur u. Motive der Weltliteratur (vgl. § 5 u. 10).

§ 19. Entfaltung eines Stoffes und Entwicklung eines Motivs, also W a c h s t u m s e r s c h e i n u n g e n , ergeben sich durch Verknüpfung eines Motivs mit anderen, dem Stoff bisher fremden Motiven, durch Funktionsänderung des Motivs oder auch durch Sprossung und Schrumpfung. Die Stoffgeschichte lehrt, daß einige Motive eine Wahlverwandtschaft mit bestimmten anderen besitzen und meist in Symbiose mit ihnen auftreten. Das Motiv der heimlichen Liebesbeziehung besitzt eine aus der ,Logik des Sujets' geborene Verbindung mit dem Motiv der Nebenbuhlerschaft, z. B. im Tristan-Stoff und im Fair-Rosamond-Stoff, das Heimkehrer-Motiv eine durch seine Realitätsebene nahegelegte Beziehung zu dem Motiv des Mannes zwischen zwei Frauen, die am prägnantesten durch die Graf-von-Gleichen-Sage vertreten ist, sich aber auch noch in Bertolt B r e c h t s Trommeln in der Nacht geltend macht. Ein Stoff erhält eine andere Stoßrichtung, wenn sich ein Autor eine neue M o t i v v e r k n ü p f u n g einfallen läßt. So reicherte Richard W a g n e r den Nibelungen-Stoff

Stoff- und Motivgeschichte durch Verknüpfung mit dem Götteruntergang an und verschmolz in seinem Tannhäuser mit gutem stofferweiterndem Griff den aus der Volksballade bekannten Helden des Venusberg-Abenteuers mit dem gleichfalls teufelsbündnerischen Ofterdingen aus dem mal. Epos vom Singerkriec üf Wartburc. Solche Neukombinationen können fehlschlagen: Das beliebte Motiv des Vater-Sohn-Kampfes ist im Ortnit deutlich als unangepaßter Einschub zu erkennen, Goethes Einschleusung des Motivs von der dämonischen Verführerin in die Geschichte des Götz von Berlichingen hat trotz aller erzielten Reize zu einer inneren Gleichgewichtsstörung des Götz-Dramas geführt. Aus einer Motiwerknüpfung kann jedoch auch ein völlig neuer Stoff hervorgehen. Der Parzival-Stoff entstand aus einer Koppelung der legendären Gralsgeschichte mit der höfischen Artussage und einem Dümmlingsmärchen, der Don-Juan-Stoff aus der Zusammenschweißung des VerführerMotivs mit einer moralischen Erzählung von der Bestrafung eines Frevlers durch den .steinernen Gast', S a n n a z a r o schuf mit seiner Kombination von Motiven aus dem Mythos vom Goldenen Zeitalter mit dem gedanklichen Movens der Liebesfreiheit jene pastorale Idealsphäre, die für mehrere Jahrhunderte in allen literar. Gattungen wirksam wurde. Die schon angeführte movierende Kraft des Motivs kann durch dessen Neu- und Uminterpretation eine andere Funktion erhalten. Kriemhilds Rachetat, die im Nibelungenlied nicht mehr, wie in der Edda, Sippenrache ist, vielmehr in den Mördern des Gatten gerade die nächsten Verwandten trifft, wird hier auch nicht von der Rächerin an sich selbst gesühnt, sondern verlangt das richtend abschließende Eingreifen eines Außenstehenden. Das idg. Wandermotiv von der Vatersuche erhält in der französischen Chanson de geste Galiens Ii restores die Funktion eines rührenden Zwischenspiels der Karlssage, das zugleich ein episches Bindeglied zwischen Karls Orientfahrt und seinem Spanienfeldzug ist: Der von Olivier während des Orientzuges mit einer morgenländischen Frau gezeugte Sohn sucht den ihm unbekannten Vater, findet ihn aber nur noch als Sterbenden auf dem Schlachtfeld von Roncesvalles. Die wohl interessanteste Wachstums erscheinung an Stoffen und Motiven ist der sich aus der ,Eigenbewegung' des Stoffes ohne

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Heranziehung stofffremder Elemente vollziehende Vorgang, der mit S p r o s s u n g am besten charakterisiert ist. Die sproßfähigen Wachstumszellen sind meist nicht Wirklichkeitselementen nachgebildet, sondern sind im Goetheschen Sinne „Phänomene des Menschengeistes", aus Wunschtraum oder Angst geboren und sich stets und überall erneuernd. Menschliche Vorstellungen vermögen sich nach Art der Topoi durch Anreicherung des Vorstellungsfeldes zu umfangreichen Motivkomplexen auszudehnen, welche wiederum in einer Fülle von Stoffen Individualität gewinnen können. Die motivische Vorstellung von der verleumdeten Gattin war Nährboden für die Plots um Crescentia, Hildegardis, Königin Sibylle und Genovefa, das halb Wunsch-, halb Angstgefühlen entstammende Amazonen-Motiv kristallisierte sich in der Geschichte der biblischen Judith, den Sagen von Penthesilea und Talestris, Vergils Camilla, den Virago-Gestalten der Renaissance und der Legendenbildung um Jeanne d'Arc aus. Deutlich in Angstvorstellungen wurzeln alle sich mit dem Reich des Bösen befassenden Motive und Stoffe: die Gestaltungen des Motivs vom Unterweltsbesuch, vom Teufelsbündner, von der dämonischen Verführerin, deren Urbilder Eva, Pandora und Helena sind und zu der später alle Derivate von vorund außerchristl. Elementargeistern und vor allem Dämonisierungen der Göttin Venus, aber auch Empusen und Vampire zu rechnen sind. Bestimmte .verwunschene' Lokalitäten, an denen sich das Böse zu inkarnieren schien, erhielten gleichfalls die Rolle einer literarischen Konstante. Demgegenüber stehen als Wunschträume der Goldene-Zeitalter- und der Paradies-Mythos, das schäferliche Arkadien, das utopische Inseldasein, der edle Wilde, dessen exotischer Lebensraum als neue Idylle die ältere pastorale ablöste. Das mit diesem Szeneriewechsel angeschnittene Problem des Schrumpfungsprozesses von Stoffen und Motiven steht dem Wachstumsprozeß als ergänzender Vorgang gegenüber. Ihm geht häufig ein Rationalisierungs- oder auch Abnutzungsprozeß voraus, indem überstrapazierte stoffliche Substanzen verbraucht und überholt erscheinen und der Satire, Parodie und Travestie als Vehikel dienen. Hendricus Sparnaay, Verschmelzung legendarischer und weltlicher Motive in der Poesie des MA.s. Diss. Amsterdam 1922. Hellmuth P e t r i -

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Stoff- und Motivgeschichte

coni, Über die Idee d. Goldenen Zeitalters als Ursprung der Schäferdichtungen Sannazaros und Tassos. NSpr 18 (1930) S. 265-283. Heinz S toi te, Eilhart u. Gottfried. Studie über Motivreim und Außaustil (1941). Walter Pabst, Venus u. d. mißverstandene Dido. Literar. Ursprünge d. Sibyllen- u. d. Venusberges (1955; Hamburger Romanistische Studien A 40). Ders., Satan u. d. alten Götter in Venedig. Euph. 49 (1955) S. 335-395. Anthony van der Lee, Zum literarischen Motiv d. Vatersuche (Amsterdam 1957). Norbert T h o m a s , Handlungsstruktur u. dominante Motivik im dt. Prosa-Roman d. frühen Ii. u. 16. Jh.s (1971; Erlanger Beiträge zur Sprach- u. Kunstwiss. 37). Für die erwähnten Stoffe und Motive vgl. auch E. F r e n z e l , Stoffe der Weltliteratur u. Motive der Weltliteratur (vgl. § 5 u. 10). § 20. Die A n f ä n g e d e r S t o f f - u n d motivgeschichtlichen Betrachtungsw e i s e von Literatur liegen bei der v e r g l e i c h e n d e n L i t e r a t u r k r i t i k des 18. und frühen 19. Jh.s und haben bei L e s s i n g (Hamburgische Dramaturgie), Wieland (Fünf Briefe an einen Freund über das deutsche Singspiel Alceste 1773), S c h i l l e r (Uber die Iphigenie auf Tauris 1789) und A. W . S c h l e g e l (Comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d'Euripide 1807) apologetischen Charakter. D i e hier geübte, allgemein literarische, um die Grenzen der Nationalliteratur unbekümmerte Vergleichsmethode wurde von der durch die Romantik geschaffenen V o l k s l i t e r a t u r f o r s c h u n g übernommen und seit den Brüdern G r i m m zu einer wissenschaftlichen Disziplin ausgebildet. Die der Auffassung der G r i m m s und ihrer Nachfolger ( U h l a n d , M ü l l e n h o f f , Friedrich V o g t ) entgegengesetzte bzw. sie ergänzende, vor allem an den Erzählungen des Pancatantra erprobte Wanderungstheorie Th. B e n f e y s hat die Volksliteratur- und vor allem die Märchenforschung bis hin zur finnischen Märchenschule (vgl. § 12 u. 14) bestimmt. Für die entsprechende Erforschung mal. Sagenstoffe leistete vor allem Gaston P a r i s einen großen Teil Grundlagenarbeit. Die Bedeutung der Dichterpersönlichkeit, die als ein Signum literaturwissenschaftliche Methoden von denen der Volksliteraturforschung trennt, trat mit der Verselbständigung der Literaturwissenschaft unter Wilhelm S c h e r e r als bestimmender Faktor neben das historisch-geographische Prinzip. Scherers

Zeitgenosse, der Kulturphilosoph Wilhelm D i l t h e y , wies die Stoff- und Motivgeschichte der in Frankreich beheimateten, am Vorbild der naturwissenschaftlichen vergleichenden Disziplinen orientierten und zu diesem Zeitpunkt im Vordergrund des Interesses stehenden v e r g l e i c h e n d e n L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t als Aufgabengebiet zu, und sie w u r d e seither von deren schwankender Bedeutung mitbestimmt. Zunächst führte eine Uberbewertung des stofflichen Faktors, der nach S c h e r e r in der Poesie „im ganzen dasselbe wie das Stoffgebiet der Wissenschaft" sei, zu einem Wetteifern mit den kausalgenetisch deduzierenden Naturwissenschaften und einer Unterwerfung unter die Thesen H . T a i n e s , wobei sich eine mechanistische Auffassung des dichterischen Schaffensaktes als eines Ergebnisses seiner Abhängigkeit von Erlebnis, Einfluß und Bildung ergab und die Stoff- u n d Motivgeschichte sich primär mit dem Nachweis von Verwandtschaften und Abhängigkeiten befaßte. Auch Diltheys „Motivenlehre", die eine „Analyse der Einbildungskraft des Dichters" erstrebte, zeigt das Primat naturwissenschaftlich kausalgenetischen Argumentierens. Die Stoff- und M o tivgeschichte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. w u r d e innerhalb der von französischen Gelehrten beherrschten Komparatistik geradezu eine deutsche Spezialität, nicht n u r mit einer Fülle von Einzeluntersuchungen, sondern vor allem mit den von dem Breslauer Literarhistoriker Max K o c h herausgegebenen Zeitschriften und Publikationsreihen. Auch die ersten Bibliographen, die der Stoff- und Motivgeschichte den gebührenden Platz einräumten, waren von der deutschen Forschung geprägt: L. P. B e t z war Elsässer und publizierte in zwei Sprachen, A . L. J e l l i n e k war Österreicher. D a ß die zweite vermehrte Auflage von B e t z ' Bibliographie in den Händen des Bannerträgers der französischen Komparatistik, Fernand B a l d e n s p e r g e r , lag und schließlich zur Grundlage f ü r die 1950 in Chapel Hill erschienene Bibliography of Comparative Literature von F. B a l d e n s p e r g e r / W . P. F r i e d e r i c h (vgl. § 13) wurde, zeigt etwas über die geographische Verlagerung des Schwergewichts auf diesem Forschungssektor an.

Jacob G r i m m , Gedanken über Mythos, Epos u. Geschichte. Deutsches Museum 3 (1813) S. 53-

Stoff- und Motivgeschichte 75. Jacob u. Wilhelm G r i m m , Vorrede zu Kinder- und Hausmärchen, Bd. 2 (1815) u. Vorrede zu Kinder- und Hausmärchen 2. Aufl. (1819). Theodor B e n f e y , Pantschatantra (1859). Wilhelm D i l t h e y , Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik. Philosophische Aufsätze, Eduard Zeller z. s. 50. Doktorjubiläum (1887), wiederabgedr. in: D i l t h e y , Ges. Schriften Bd. 6 (1924) S. 103-241. Wilhelm S c h e r e r , Poetik (1888) S. 208-211. - Zs. f . ver gl. Literaturgeschichte hg. v. Max K o c h (1887-1901), v. W. W e t z u. C o l l i n (1904-1910). Studien z. vergl. Literaturgeschichte, hg. v. Max Koch(1901-1909). Breslauer Beiträge z. neueren Literaturgeschichte hg. v. Max K o c h (1904-1919 u. 1922). Louis Paul Betz, Littérature comparée. Essai bibliographique (1900) 2e éd. augmentée, publiée par Fernand B a l d e n s p e r g e r (1904). — Arthur L. J e l l i n e k , Bibliographie der vergleichenden Literaturgeschichte (1903).

§ 21. Mit dem kurz nach dem Ersten Weltkrieg erfolgenden Durchbruch der g e i s t e s geschichtlichen Richtung in der Literaturwissenschaft trat die Stoff- und Motivgeschichte nicht nur gegenüber der nun vorrangigen Erforschung des Strukturelements Gehalt zurück, sondern galt geradezu als Prototyp einer überholten mechanistisch-positivistischen Sehweise, wobei man sich auf die frühe Kritik C r o c e s an der Unergiebigkeit der als Selbstzweck auftretenden Stofforschung stützen konnte. Seitdem ist die für das Fundament der Stoff- und Motivgeschichte wichtige „Einfluß"-Diskussion nicht wieder verstummt (vgl. § 16). Die Kritik an der positivistischen Richtung knüpft sich in Deutschland an die Namen W a l z e l , G u n d o l f , U n g e r , W i e g a n d , in Frankreich vor allem an die der drei Vertreter der Komparatistik an der Sorbonne, B a l d e n s p e r g e r , Paul H a z a r d und Paul van T i e g h e m , von denen B a l d e n s p e r g e r in seinem programmatischen Einleitungsaufsatz zu der von ihm und H a z a r d herausgegebenen Revue de littérature comparée die „kleinliche Suche nach Quellen . . . um ,Plünderungen' aufzuzeigen" und eine Forschungsrichtung, die sich mehr für den Stoff als für die Kunst zu interessieren scheine und zwangsläufig nur zu unvollständigen Ergebnissen kommen könne, scharf verurteilte und sich und seine Schule auf die Rezeptionsforschung ausrichtete, die sich meist um franz. literarische Erscheinungen bemühte. Auch in Deutschland war eine Fortführung oder Wiederbelebung stoff-

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geschichtlicher Arbeiten, wie sie Paul M e r k e r mit einer Publikationsreihe in Gang setzte, der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise unterstellt, da Merker die Bearbeiter eines Stoffes als die jeweils typischen Vertreter allgemeiner Geschmacks- und Stiltendenzen aufgefaßt wissen wollte. Ebenso sah P e t e r s e n in seinem rück- und vorausblickenden Aufsatz Nationale oder vergleichende Literaturgeschichte? die Stoff- und Motivgeschichte, der er die Aufgabe einer lexikographischen Erfassung der für jeden Stoff und jedes Motiv vorliegenden Bearbeitungen stellte, unter geistesgeschichtlichem Aspekt und setzte dem Mechanismus der Einfluß-Theorie die These von der „Gesetzmäßigkeit des schicksalsverbundenen parallelen Entwicklungsganges" entgegen: „Die Beeinflussungen werden überhaupt erst möglich durch eine in diesen Gesetzmäßigkeiten bedingte gleichartige Einstellung." Benedetto C r o c e , La letteratura comparata. La Critica 1 (1903) S. 77-81 u. 2 (1904) S. 483-486. René B a l d e n s p e r g e r , Littérature comparée. Le mot et la chose. R L C . 1 (1921) S. 5-29. Paul M e r k e r [Hg.], Stoff- und Motivgeschichte der dt. Literatur (1929-1937). Julius P e t e r s e n , Nationale oder vergleichende Literaturgeschichte?, D V L G . 6 (1928) S. 36-61.

§22. Eine erneute Wende erfolgte erst, als der amerikanische formalistische N e w C r i t icism auch die vergleichende Literaturwissenschaft in sein Konzept einbezog und R. Wellek, durch die Vorrede von J.-M. C a r r é , dem Nachfolger B a l d e n s p e r g e r s an der Sorbonne, zu M.-F. G u y a r d s kurzem Leitfaden La Littérature comparée angeregt, in seinem Aufsatz The Theory of Comparative Literature (1953) die franz. Schule scharf angriff und ihr vorwarf, sie behandele die Literatur, als sei sie eine Fundgrube für die Geschichte der Philosophie, und gehe im wesentlichen nicht über die alte stoffgeschichtliche Methode hinaus. W e l l e k bezeichnete soziale, psychologische und philosophische Aspekte der Literatur als „extrinsic" und daher überflüssig oder doch zweitrangig und sah die Stoff- und Motivgeschichte als „the least literary of historiés" an. Marius-François G u y a r d , La Littérature comparée (Paris 1951) [darin das Vorwort von Jean-Marie C a r r é , das in der 5. Aufl. (1969) fortfiel]. René W e l l e k , The Theory of Com-

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Stoff- und Motivgeschichte

parative Literature. Yearbook of Comparative and General Literature 2 (1953) S. 1-5.

§ 23. Die o s t e u r o p ä i s c h e K o m p a r a t i s t i k , die sich seit dem Moskauer Slawistenkongreß von 1958 und dem Kongreß über „Wechselbeziehungen und Wechselwirkung zwischen Nationalliteraturen" im Moskauer Maxim-Gorki-Institut 1960 in die internationale Debatte eingeschaltet hat, bezieht Stellung sowohl gegen die als positivistischhistorisch bezeichnete franz. Schule wie gegen die als formalistisch beurteilte amerikan. Richtung. Ihr geht es erstens um die von dem Begründer der russ. Komparatistik, A. N. V e s e l o v s k i j , vertretene These, daß Einfluß nur möglich sei durch „entgegenkommende Strömungen" (ein Gedanke, der, wie oben zitiert, auch bei Petersen auftaucht), und zweitens darum, daß der Blick weniger auf literarische Traditionen und Konstanten als auf die sog. literarische Evolution, den von den Nationen und Individuen geleisteten schöpferischen Beitrag an Neuem, gelenkt wird. Veselovskijs These wurde in der neueren Forschung, besonders von V. 2 i r m u n s k i j , zu dem Prinzip der auf typologischen, d. h. im wesentlichen auf sozialen und psychologischen Gleichheiten bzw. Ähnlichkeiten beruhenden Ubereinstimmung literar. Phänomene ausgebaut, die bedeutsamer sei als die durch Einfluß und Übernahme entstandene, ja diese eigentlich erst ermögliche. Infolgedessen rangiert die typologische Forschung vor der genetischen. Beide Grundsätze schaffen - obwohl für die Komparatistik im allgemeinen und nicht ausdrücklich für die Stoff- und Motivgeschichte formuliert - gerade für diese gewisse Vorzeichen. Aleksander N. V e s e l o v s k i j , Poetika sujetov [= Poetik des Sujets] (1906). Viktor ¿ i r m u n skij, Die literarischen Strömungen als internationale Phänomene. Actes du V. Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée Belgrad 1967 (Amsterdam 1969) S. 3-21. Dionyz Ö u r i s i n , Problemy literärnej komparatistiky (Bratislava 1967), dt. vertiefte und erweiterte Fassung als Vergleichende Literaturforschung (Berlin 1972). ,

§24. Der deutschen Forschung in der Zeit nach 1945 galt Wolfgang Kaysers, die Kritik in Wellek/Warrens Theory of Literature (1949) nahezu vorausnehmender, aber nicht so scharf formulierter Vorwurf

gegenüber der Stoffgeschichte, daß sie nur Bestandteile des Kunstwerks ins Blickfeld fasse und es nicht als Ganzes vor Augen rücke, als maßgebend. Auch H. Rüdigers Bemerkungen von 1962, die der Stoff- und Motivgeschichte zwar einen Rang als „unentbehrliches Hilfsmittel der Forschung" einräumen, aber ihre mangelnde geistige Durchdringung des Stoffes und ihre EinflußBezogenheit tadeln, stellen sich W e l l e k an die Seite. Dennoch ging von Deutschland Anfang der 60er Jahre ein Wandel in der Auffassung des Forschungszweiges und ein Bemühen um eine poetologisch orientierte Betrachtung stofflicher Einheiten aus. Es erschienen das oben zitierte Handbuch über die wichtigsten Stoffe der Weltliteratur sowie mehrere hauptsächlich für den Studierenden gedachte Leitfäden und Forschungsberichte und die Neubearbeitung der Bauerhorstschen Bibliographie durch F. A. S c h m i t t (vgl. § 13). Diesem Bemühen trat seit 1964 der Belgier T r o u s s o n mit einem Plaidoyer pour la Stoffgeschichte und einer weiteren theoretischen Schrift sowie einer beispielgebenden Arbeit über den Prometheus-Stoff zur Seite. Als internationaler Durchbruch kann der Einsatz Harry Levins, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Harvard University, bezeichnet werden, der 1968 vor allem mit dem Aufsatz Thematics and Criticism in der Festschrift für Wellek dem geschmähten Forschungszweig wieder seinen Platz in der Literaturwissenschaft zuwies und den Streit um die Anteile des Historischen und des Ästhetischen am literar. Dokument aufzuheben suchte. Außerdem haben sich seit dem Beginn der 60er Jahre auch jene schon erwähnten (vgl. § 12), von der Volksliteraturforschung herkommenden Bemühungen der strukturalistischen Richtung fortentwickelt, die sich um Konstituierung und Formulierung weiterer stofflicher Einheiten bewegen. 1976 folgten in der Bundesrepublik die Motive der Weltliteratur von E. F r e n z e l , die zusammen mit dem voraufgegangenen Parallelband Stoffe der 'Weltliteratur Petersens Forderung Genüge tun möchten. Die im gleichen Jahr erschienene span. Ausg. der Stoffe der Weltliteratur sowie die Planung einer span. Ubers, auch des Motiv-Bandes deuten auf Impulse, die von der dt. Stoff- und Motivforschung erneut ausgehen. Sie dürften sich ferner in der Gründung einer Kommission für literaturwiss.

Stoff- und Motivgeschichte Motiv- und Themenforschung durch die Akademie der Wissenschaften in Göttingen im Jahre 1977 dokumentieren. Vergleicht man die wenigen Seiten und die etwas sehr äußerliche Einteilung nach Inhalten, die M . - F . G u y a r d s Leitfaden dem Abschnitt „Les T h è m e s " noch in der 5., revidierten Auflage widmet, mit den neueren Bänden zum gleichen Thema seiner Landsleute C . P i c h o i s / A . R o u s s e a u und S. J e u n e , so fällt sogleich die ungleich umfänglichere Behandlung und tiefer gehende W ü r digung auf, die hier „Thématologie" bzw. „Types et thèmes" erfahren haben. N o c h immer sind zwar bei P i c h o i s / R o u s s e a u trotz der Bezugnahme auf T r o u s s o n die stofflichen Einheiten nach inhaltsmäßigen und herkunftsmäßigen Kategorien eingeteilt, jedoch die Unterordnung der Thématologie unter „Structuralisme" läßt erkennen, daß eine moderne, s t r u k t u r b e z o g e n e und p o e t o l o g i s c h e F o r s c h u n g gemeint ist (auch wenn bei der Festgelegtheit des Begriffs Strukturalismus auf eine ganz bestimmte F o r schungsrichtung diese Zuordnung mißverständlich sein könnte!). Die Unterordnung von „Types et thèmes" unter „Histoire des idées" bei J e u n e erinnert noch an die geistesgeschichtliche Orientierung des Forschungszweiges, und die mangelnde semantische Ubereinstimmung von „types" und „thèmes" mit den gebräuchlichen dt. Termini bringt eine gewisse Verwirrung mit sich. Dagegen kommt die um internationalen Ausgleich der Definitionsdifferenzen bemühte Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft des Professors an der Indiana University Ulrich W e i s s t e i n der dt. Forschungsmethode und Terminologie sehr nahe, und auch die einführenden Comparative Literary Studies seines englischen Kollegen S. S. P r a w e r halten sich im Abschnitt „Themes and Préfigurations" im wesentlichen an die alte Zweiteilung stofflicher Untersuchungsobjekte in „themes and m o t i f s " , ohne von der anfänglich postulierten Unterscheidung von fünf Kategorien solcher Objekte konsequenten Gebrauch zu machen. Schon 1968 hatte sich H . L e v i n ironisch gegen die Einführung des französischen Terminus Thanatologie gewehrt, der noch in keinem [englischen] Lexikon stehe, und hatte den deutschen Begriff Stoffgeschichte, den englisch- und französischsprachige Forscher

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als Fremdwort benutzen, „more solid and less pretentious" genannt. Dem inzwischen von M . B e l l e r gemachten Vorschlag, diesen Terminus sogar in die. dt. Forschung einzuführen, da er umfassender sei als Stoffgeschichte, trat dann wenig später A. J . B i s a n z entgegen, indem er die dt. Forschung davor warnte, den eigenen sprachlichen Vorteil zugunsten eines offenbar weniger glücklich geratenen Imports aufzugeben. Schließlich ging der an der Universität von Illinois lehrende F . J o s t zur allgemeinen Einführung des „thematological system mainly developed by the Germans and widely agreed on in international criticism" über und gab eine T a belle, in der er neben die dt. Termini die entsprechenden englischen und französischen setzte. Seine ausführliche, in Beispielen stoffund motivgeschichtlicher Darstellung mündende Behandlung des Forschungszweigs betont dessen poetologische Möglichkeiten und Aufgaben: „Thematology is not an a priori science. It is a study in functional variations." Wolfgang Kay ser, Das sprachliche Kunstwerk (1948) S. 59. René Wellek/Austin Warren, Theory of Literature (New York 1949) S. 272. Horst Rüdiger, Nationalliteraturen u. europäische Literatur. Methoden u, Ziele d. vergleichenden Literaturwissenschaft. Schweizer Monatshefte 42 (1962) S. 195-211. Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur (1961; 4. Aufl. 1976; Kröners Taschenausg. 300), span. Ausg. u. d. T. Diccionario de argumentos de la literatura universal (Madrid 1976). Dies., Stoff-, Motiv- u. Symbolforschung (1963; 4. Aufl. 1978; Slg. Metzler 28). Dies., Stoff- u. Motivgeschichte (1966; 2. Aufl. 1974; GrundlGerm. 5). Dies., Motive der Weltliteratur (1976; Kröners Taschenausg. 301). Raimond Trousson, Plaidoyer pour la Stoff geschickte. RLC. 38 (1963) S. 101-114. Ders., Un Problème de littérature comparée: les études de thèmes (Paris 1965). Ders., Le Thème de Prométhée dans la littérature européene 2 Bde. (Genf 1964). Harry Levin, Comparing the Literature. Yearbook of Comparative and General Literature 17 (1968) S. 5-16. Ders., Thematics and Criticism, in: The Disciplines of Criticism, ed. by P. Demetz, Th. Greene, L. Nelson (New Haven u. London 1968) S. 125-145. Marius-François Guyard, La Littérature comparée (5. Aufl. Paris 1967) S. 44-57. Claude Pichois u. André-M. Rousseau, La Littérature comparée (Paris 1967), dt. Ubers, v. Peter André Bloch u. d. T. Vergleichende Literaturwissenschaft. E. Einführung in d. Gesch., die Methoden u. d. Probleme d. Komparatistik (1971) S. 143-152. Simon Jeune, Littérature

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Stoff- und Motivgeschichte - Streitgedicht/ Streitgespräch

générale et littérature comparée (Paris 1968) S. 6 1 - 7 1 . Ulrich W e i s s t e i n , Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft (1968) S. 163-183. Manfred B e l l e r , Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. Arcadia 5 (1970) S. 1-38. L e o P o l l m a n n , Literaturwissenschaft und Methode (1971; 2. Aufl. 1973) S. 180-197. Adam John B i s a n z , Zwischen Stoffgeschichte und Thematologie. Betrachtungen zu einem literarhistorischen Dilemma. D V L G . 4 7 (1973) S. 148-166. Siegbert S. P r a w e r , Comparative Literary Studies (London 1973). François J o s t , Introduction to Comparative Literature (Indianapolis u. N e w Y o r k 1974) S. 175-247.

, , , Elisabeth

r

Frenzel

Streitgedicht/Streitgespräch 1. Begriffsbestimmung, strukturelle Grundzüge und Funktion des S.s. 2. Antike und mlat. Dichtung. 3. Romanische, altnordische und altenglische Poesie. 4. Streitlieder um den Vorzug. 5. Sängerkrieg. 6. Rätselspiele und Weisheitsproben. 7. Streitgedicht im Zeitalter des Barock. 8. S. im 18. J h . 9. S. in der Romantik. 10. Außerliterarische F o r m des S.s. 11. Bildende Kunst.

§ 1. Der B e g r i f f ,Streitgedicht', „philologischer term. techn. für eine ältere dichtgattung, in der ein meinungsstreit durch wechselrede ausgetragen wird" (DWb 10,3; Sp. 1376), ist unumstritten. .Streitgespräch' wird — in gleicher Bedeutung — ohne Abgrenzung und Begründung nahezu ebenso oft verwendet. Obwohl die Gattung durch Jh.e sehr lebendig war, ist sie im ganzen — nach jeder Sicht — wenig untersucht und erforscht. Einige Teilbereiche sind, oft nicht erschöpfend, erarbeitet, eine Gesamtschau fehlt völlig; sie wird durch das vielgestaltige, stets sich wandelnde Erscheinungsbild des S.s erschwert. Diese Variationsbreite läßt unter den Sammelbegriffen Streitgedicht/Streitgespräch eine Benennungsvielfalt entstehen, die, teils zeitgebunden, Wesen, charakteristische Einzelmerkmale, formale Aspekte hervorhebt, oder Situation wie Funktion des Wettkampfes umreißt. In mal. Handschriften herrschen die Bezeichnungen altercatio, conflictus, dialogus, disputatio vor; seltener sind: causa, certamen, colloquium, comparatio, conflictatio, contentio, contradictio, iudicium, Iis, pugna, rixa. Für die Nationalliteraturen gelten eigene Begriffspaletten. Benennungen für das dt. S. sind im wesentlichen: Dialog, Dichterwettkampf, .Krieg, Rätsellied, Rätselwettstreit, Rangstreitliteratur, Rangstreitpoesie, Redekampf, Redestreit, Sängerwettstreit, geteiltes Spiel, Streitgesang, Streit-

lied, Vorzugsstreit, Wettlied, Wunschlied, Zankgespräch. Der angelsächs. Raum kennt die Termini combat, comparison, controversy, debate, desputisoun, dialogue, discours, estrif; das S. der romanischen Länder wird vornehmlich contrasto, débat, disputation, joc partit (jeu parti), Partimen, Tenzone benannt. S.lit. ist nicht nur „Allgemeingut des Abendlandes" (Jantzen), ist vielmehr weltweit verbreitet, literarisch wie außerlit., fiktiv wie realer Wettkampfsituation erwachsen. Beliebtheit wie weite Verbreitung resultieren aus der Zugehörigkeit des S.s. zur Dialogliteratur, die, Polarität wie Dualismus ausdrückend und gestaltend, im weitesten Sinne Strukturelement der Dichtung überhaupt ist, ja Ausdruck menschlicher Lebensäußerung schlechthin, die weitgehend auf realen oder fiktiven Partner bezogen und ausgerichtet ist. Dem S. zuzurechnen sind alle Gedichte, die einen Streit zwischen verpersönlichten Gegenständen oder Begriffen (meist zwei) um ihren eigenen Vorzug oder über die Richtigkeit einer Behauptung zum Austrag bringen. Poetische Urformen der Weltliteratur: Sängerwettkämpfe (fiktive wie reale), Rätselspiele und Weisheitsproben gehören in diesen Bereich. S.e, vor Publikum vorgetragen oder ausschließlich schriftlich fixiert, dienen gepflegter geselliger Unterhaltung, ohne den Anspruch zu erheben, aufgeworfene Fragen und Probleme wirklich lösen zu wollen. Bei der Sonderform der Dichter- und Sängerwettkämpfe verbirgt sich hinter dem spielerischen Rangstreit ernsthafte kämpferische Auseinandersetzung, geht es in Wahrheit um eigene Rangverbesserung hinsichtlich literar. Stellung wie - davon abhängig - materieller Situation. Ein kräftiger Strang der umfassenden Rangstreitdichtung (vornehmlich in Form von Wettliedern sich äußernd), gehört der sog. Volksdichtung an; wechselseitige Beeinflussung ist nachhaltig wie vielfältig, doch kaum erforscht. Thematik des S.s ist einmal breite, sich stets verändernde Variation des Rangstreitmotivs im weitesten Sinne. Werden Alternativfragen gestellt, sind sie zeitgebunden wie wandelbar, widerspiegeln sie Anliegen, Modeströmungen, Vorstellungen der jeweiligen Gemeinschaft und Epoche, kennzeichnen und bestätigen sie deren Auffassungen, sind sie Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Spielregeln schlechthin. Einige Themen sind gesellschafts-wie zeitübergreifend: so vermag sich z. B., so weit die mal.

Streitgedicht/Streitgespräch Latinitas reicht, der Winter/Sommer-, Wein/ Wasser-, Leib/Seele-Streit über Jh.e zu behaupten in lat. S.en wie in nationalsprachlichen. Typische zeitgebundene Themen sind beispielsweise die vielschichtigen um die Minne kreisenden Fragen des MA.s. Fragestellungen, die an einen bestimmten Sprachraum gebunden sind, sind oft Ausdruck jeweiliger kulturspezifischer Besonderheiten. Eingehende Untersuchungen hierzu liegen nicht vor, doch fällt auf, daß die arabischen Länder das Wein/Wasser-Motiv nicht kennen, während der Kaffee/Tabak-Streit außerarabisch nicht vorzukommen scheint; ortsgebunden ist auch die religiöse Variante des Städte-Wettstreits, wie er beim Mekka-Medina-Vergleich auftritt. Weitgehend an den pers. Raum gebunden ist der Opium/Tabak-Streit; S.e in hebräischer Sprache (seit Abraham ibn Esra t 1168) kennen die Besonderheiten einer Auseinandersetzung zwischen Bibel und Tradition, Talmud und Philosophie. Bei S.n, die einen Rangstreit austragen, wie bei solchen, die Alternativfragen behandeln, muß die Frage nach Wesen und Art der Lösung gestellt werden. Forschungsergebnisse auf breiter Materialgrundlage liegen auch hier nicht vor. Man könnte vermuten, daß diese Gedichte völlig auf eine Pointe hin angelegt und ausgerichtet sind, auf den dramat. Höhepunkt sich hinentwickeln und zulaufen, eine Lösung geradezu zwingend fordern. Tatsächlich aber kommt ihr im ganzen keine große Bedeutung zu. Der zweckfreie, der Unterhaltung dienende Charakter des fiktiven S.s schließt grundsätzliche, allseitig verbindliche Lösungen von vornherein aus: jedes Ergebnis hätte auch anders ausfallen können. Aber auch die Sängerwettstreite, die nicht zweckfrei sind, die realen, die besonders ausgeprägt der eigenen Rangverbesserung dienen, hüten sich schon aus Gründen des Selbstschutzes - vor endgültigen, unkorrigierbaren Lösungen, halten deshalb die Fortsetzbarkeit des Kampfes bewußt offen; bei den meisten provenzalischen Sängerwettstreiten ist gar keine Entscheidung belegt (obgleich zumeist Schiedsrichter benannt werden). Beim volkstümlichen Wettstreitaustrag siegt zumeist der, der den Gegner zum Schweigen bringt, eine Lösung, die auch die gelehrte Dialektik kennzeichnet. Beim Großteil der S.e wird ein (selten mehrere) Schiedsrichter benannt. Als solche treten zum einen fingierte Personifizierungen

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auf: in der Antike z. B. Herakles, Vulcanus u. a.; später Cupido (De Phyllide et Flora), die blumengeschmückte Gestalt des jungen Frühlings (Blumenstreit), Frau Venus, Frau Minne und viele andere. Die Entscheidung kann aber auch einem fingierten Konzil überantwortet werden (,Liebeskonzil'); sogar der Fall kommt vor, daß um den Sieg (zwischen Tugend und Laster) gewürfelt wird (Von ainer statten und von ainer fürwitzen - Liederbuch der Klara Hätzlerin). Auch können sich die Schiedsrichter beraten lassen (z. B. berät sich der obengenannte Cupido mit Usus und Natura). Sodann kann der Dichter sich selbst die Funktion des Schiedsrichters zuerkennen; im prov. Sängerstreit werden reale hochgestellte Persönlichkeiten angerufen. In fabelähnlichen S.n wird das Urteil zumeist als Sentenz angehängt; aber auch personifizierte Tiere oder der Mensch können zur Entscheidung aufgerufen sein; (sie wird dann in zwei oder mehr gereimten Achtsilblern ausgesprochen). Generell kann die Schiedsrichter-Entscheidung zugunsten einer Partei ausfallen. Der Vergleich motivgleicher S.e ergibt, daß die Lösung nicht stereotyp festgelegt ist: so kann z. B. im Winter/Sommer-Streit jeder der beiden Kontrahenten alleiniger Sieger sein, es kann auch beiden gemeinsam der Preis zuerkannt werden; die dominierende Entscheidung fällt jedoch zugunsten der schönen Jahreszeit. Im beliebten Clericus-Miles-Streit wird der Sieg überwiegend dem Clericus zuerkannt. Schiedsrichter können sich aber ebensogut für volle Gleichwertigkeit der streitenden Parteien aussprechen: so entscheidet beispielsweise im Streit zwischen Liebe und Schönheit bei Reinmar von Brennenberg der Dichter, daß nur beide gemeinsam vollkommen sind. Diese Art der Lösung kennt auch das Element der Versöhnung (z. B. im Jahreszeiten-Streit, beim Blumenstreit), wobei auch Strafandrohung für den Fall der Verweigerung einer Aussöhnung ausgesprochen werden kann. So lobt z. B. Vulcanus (im römischen S.Judicium coci et pistoris) beide Kontrahenten und droht ihnen - bei Nichteinigung - mit dem Entzug des Feuers, das Voraussetzung für die Berufsausübung beider ist. Das fabelartige S. kennt darüber hinaus eine Art der Entscheidung, die in der Vernichtung beider Parteien gipfelt: so erklärt z . B . der Delphin (in einer Fabel des dialogus creaturarum) sich unzuständig, im Streit zwischen Fluß- und Seefisch die Schieds-

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Streitgedicht/Streitgespräch

richterrolle zu übernehmen, und setzt der Auseinandersetzung der beiden dadurch ein Ende, daß er sie verschlingt. - Beim Streit lebloser Gegenstände ist oft ihr Nutzen für den Menschen Maßstab wie Bezugsgröße. Wie beim Sprichwort (s. d.), wo sich zu fast jedem ein Gegensprichwort finden läßt, kann jeder Vorteil beliebig in einen Nachteil verkehrt werden. Bei motivgleichen S.n bildet sich in diesem Bereich ein fast stereotypes Grundrepertoire spezifischer Vorzüge wie Nachteile heraus. Im Wein/Wasser-Streit wird z. B. dem Wein oft zugute gehalten, daß er den Menschen erfreue, ganz besondere Kräfte freimache (z. B. die Augen doppelt sehen lasse!), Sorgen vertreibe und Kunst und Wissenschaft fördere. Häufig wiederkehrende Anwürfe sind, daß er den Beutel leere und Ursache jeglichen Lasters sei. Als typischer Vorteil des Bieres findet sich seine Verbreitung in allen Ländern, unter allen Ständen; angekreidet wird ihm gern, daß es die Beine schwanken lasse, das Gehirn verwirre, Gallensteine verursache. Die Farbe der Rose im Blumenstreit ist einmal Symbol für die Königswürde in aller Welt; umgekehrt wird sie - als Schamröte zum Sinnbild für schlechtes Gewissen. S.e bilden keine in sich fest geschlossene formale Einheit, übernehmen vielmehr Formen, Elemente, Strukturen fast aller anderen Gattungen und können ebenso als Bestandteile in diese integriert werden. Eine besondere Affinität hat das S. zum Drama. Wackernagel (Lit. Gesch. S. 302ff.) sieht gar den Ursprung des lat. (und damit zugleich des dt.) Dramas in den dialogischen S.en. Auch Weber kommt — von der bildenden Kunst her - zur selben Auffassung. Andere (z. B. Walther) gehen davon aus, daß S.e zunächst nur als kleine Dramen existiert haben könnten. Richtig ist, daß dramat. Züge das S. kennzeichnen, daß diese weithin als Grundlage seiner Beliebtheit gelten können, wie andererseits Dialog und Konfrontation unentbehrliche Elemente des Dramas sind. Weitgehende Ubereinstimmung in der Forschung besteht darüber, daß S.e zu Lektüre und Rezitation geschrieben sind; doch können generell die Grenzen zwischen Lyrik und dramat. Spiel fließend sein. Streitgesprächsszenen finden sich in den großen kirchlichen Dramen; einen bevorzugten Rang nehmen sie insbesondere in den Passionsspielen ein. Die sog. Frankfurter Dirigier-Rolle enthält z. T. lat. Bühnenanweisungen, die den

Ecclesia/Synagoge-Streit betreffen, und ein entsprechendes Streitgespräch. Sie diente als Muster für mehrere Passionsspiele, das Ahlsfelder P. z. B. von 1501, in dem dieser Disput längste Einzelepisode des Spieles ist. Erstmalig erschienen E. und S. im Ludus de Antichristo (Mitte des 12. Jh.s) auf der Bühne. Hier streiten vor der ganzen versammelten Welt drei allegorische Frauengestalten: Gentilitas, S., E., wobei die E. außer von Kaiser, Papst, Rittern auch von den allegorischen Gestalten der Misericordia und Justitia begleitet wird. Aber auch z. B. im Herkulesspiel des Nürnberger Humanisten Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter ist ein Streitgespräch eingebaut, das von der Voluptas begonnen wird. (Als Vorlage für den Kern der Histori Herculis gilt das Herkulesdrama, das zuerst 1512 in Straßburg aufgeführt wurde — unter der Regie Seb. Brants.) Dramat. Aufführungen selbständiger Sg.e sind vereinzelt bekannt: so z. B. aus England Aufführungen des Sommer/Winter-Streits (Mitte 13. Jh.). Eine Schulaufführung des Streites zwischen Virtus und Voluptas von Johannes Pinicianus (zum Celtiskreis gehörend) ist für das Jahr 1509 belegt (Druck Augsburg 1511). Im volkstümlichen Bereich sind Darstellungen — vornehmlich des Jahreszeiten-Streits — bis in die Neuzeit häufig verbürgt (s. d.). Ein literar. Beispiel für derartige volkstümliche Darstellungen findet sich im Wilhelm Meister (III. Buch, I. Kap.), wo W. M. einen Streit zwischen Bauer und Bergmann sieht. Der unterhaltende Charakter derartiger Szenen wird hier durch die Situation anschaulich hervorgehoben; das Fiktive des Streits wird dadurch besonders unterstrichen, daß der streitende Bauer in Wahrheit auch ein Bergmann ist, der die Bauern-Rolle nur spielt. § 2. Die uralte Gattung des S.s ist auch im klassischen Altertum häufig bezeugt (früheste Belege sollen gar in sumerische Zeit — 3./2. Jt. v. Chr. — reichen); im MA. wird sie dann in der lat. wie in der nationalen Poesie der roman. und german. Völker eifrig gepflegt. Grundlage ihrer Beliebtheit in der Antike ist einmal griech. Vorliebe für die Allegorie — insbesondere die allegoriefreundliche Stoa nimmt sich dieser Gattung an —, zum andern ist Wettkampf schlechthin eigentlicher Lebensnerv hellenischer Sinnesart. Mit dem Streit zwischen Kakia und Arete vor dem jungen Herakles in den Hören des Prodikos wird der

Streitgedicht/Streitgespräch Typus der allegorischen Streitrede: der Synkrisis ( = Vergleichung) in die griech. Lit. eingeführt. Hauptverwendungsbereiche der S.e sind das Enkomion, die Lit.kritik, die Geschichtsschreibung, die Rede und das Drama (wobei sich in der Zeit des Absterbens hellenistischen Wesens aus dem alten Dialog die Diatribe entwickelt — s. SchmäbschrJStreitschrift). Eine Äsopische Fabel (F. 414) überliefert als eines der ältesten Beispiele eines ausgebildeten S.s den beliebten Streit zwischen Frühling und Winter. Beim fabelartigen S. treten überwiegend Tiere als Dialoggegner im Streit um den Vorrang auf, aber auch z. B. Magen und Glieder in der Fabel des Menenius Agrippa, Vorbild für ein lat. S. des MA.s, den Dialogus Membrorum. Der Fabel verwandt ist die bukolische Dichtung. Theokrit, Schöpfer und Meister dieser Poesie würzt seine Idyllen gern mit bukolischen Wettgesängen. Diese werden zum Vorbild für Vergils Eklogen. Bei ihm tragen, wie bei Theokrit einzelne E.n vollkommen den Charakter von S.en. Sie beeinflussen die mal. lat. wie nationalsprachliche Dichtung. S.e treten auch in der alten wie neuen Komödie auf: so läßt Aristophanes in den Wolken die gerechte und ungerechte Rede als Vertreter der alten und neuen Zeit miteinander streiten. Ähnlich gelagert sind z. B. der Streit zwischen Euripides und Aischylos in den Fröschen des Aristophanes und der Streit zwischen Elegie und Tragödie zu Beginn des 3. Buches von Ovids Amores. Weitere antike Themen sind z. B.: Wert der musischen Künste gegenüber dem praktischen Leben; Tyrannis gegen Freistaat; Bildhauerei/Redekunst; körperliche gegen geistige Schönheit. Die Römer, die S. mit comparatio übersetzen, sind von den Griechen abhängig. N u r wenige ausgeführte röm. S.e sind bekannt, wie z. B . das schon genannte Judicium coci et pistoris iudice Vulcano des Vespa, ein Thema, das im M A . öfter wiederkehrt. Hinweise und Berichte legen nahe, daß das S. auch bei den Römern verbreitet war.

Da poetischen und musischen Wettkämpfen aller Art eine hervorragende Stellung zukommt, bildet auch das S. der Griechen eine Sonderform aus, in der zwei Dichter oder berühmte Männer ihre Kunst und ihren Witz erproben, wobei im Wechsel eine Äußerung des einen der des Kontrahenten gegenüber- und entgegengestellt wird, auch in der Form des Rätselwettstreits. Wie bei den Sängerwettstreiten

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späterer Zeiten ist auch hier die Frage zu stellen, was wirklicher Kampf, was Fiktion ist. Die Streitrede spielte in den Progymnasmata der Rhetorik (seit Aelius Theon) als Schulübung eine große Rolle. Hier liegen zugleich die Fäden, die das gesamte lat. MA. mit dem Altertum verknüpfen: Organisationsformen des Unterrichts gingen — über röm. Rhetorenschulen, die später christianisiert wurden — zum großen Teil auf die Klosterschulen des MA.s über, deren Bedeutung für die Entwicklung der Gattung denn auch groß ist. Wie bedeutsam der Einfluß dieser dem wissenschaftlichen Unterricht im MA. dienenden Dialoge auf die mal. S.e ist, läßt sich deutlich an der gleichen Benennung ablesen (disputatio, altercatio). Deutliche Verbindungslinien zu den Rätselwettstreiten scheinen in der dialogisierten Schulbuchlit. auf: kann doch die Person des Lehrers (die auch durch personifizierte Sapientia, Philosophia, Sophia ersetzt wird), Rätselfragen stellen. Auch der fingierte Prozeß der röm. Schulen im rhetorischen wie juristischen Unterricht findet Niederschlag im S. des MA.s. Hier ist die besondere Wertschätzung Lukians, des griechisch schreibenden Sophisten aus Samosata (ca. 120-180) im byzantinischen Zeitalter von Belang; eine besondere Bedeutung kommt seinem sog. Gericht der Vokale zu, wo der Buchstabe S das T vor dem Gericht der Vokale verklagt. Spürbare Wirkungen Lukians finden sich z. B. bei Hans Sachs. Bei den mlat. Fabeln und Eklogen mit S.charakter wird der Einfluß der Antike am sichtbarsten. An die beiden genannten antiken Eklogendichter knüpfen die Dichter der karolingischen Renaissance an. Gleich das erste und älteste der erhaltenen mlat. S.e, Conflictus Veris et Hiemis, ist der dritten Ekloge Vergils deutlich nachgemustert. In ebendiese Zeit fällt auch die E. des Theodul. E.form hat ferner der Dichterwettkampf des Naso (gleichzeitig ältestes Beispiel für die Sängerkriege), der sich stark an Calpurnius und Nemesianus anlehnt. Im Gedicht des Ermoldus Nigellus auf König Pippin bildet ein Streit zwischen Wasgau und Rhein den Kern. — Die beiden ältesten Fabelbücher des lat. MA.s, Speculum Sapientiae Beati Cirilli Episcopi und Nicolai Pergameni Dialogus Creaturarum enthalten eine ganze Reihe Vorzugs-Wettkämpfe zwischen bekannten und beliebten Gegensatzpaaren wie Sonne und Mond; Luft und Wind; Berg und Tal; Schloß und Schlüssel; aber auch

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Streitgedicht/Streitgespräch

Land- und Wasservögel; Bachstelze/Fasan; Frosch/Krebs; Pferd/Esel; Hund/Schaf und viele andere Paarungen streiten hier um den Vorrang. Die Gattung wird fast ausschließlich von scholastisch Geschulten getragen: besonders die Vaganten greifen sie gerne auf, bieten sie doch eine bequeme Form für Streitlieder. Weit verbreitet sind im lat. MA. der schon erwähnte Conflictus Verls et Hiemis (mit Varianten wie Jugend/Alter), der Dialogus inter Aquam et Vitium (in der Einkleidung der für das MA. typischen Traumschilderung), mit der Variante eines Wein/Bier-Streites, der Dialogus inter Corpus et Animam (der dann auch in zahlreichen nationalsprachlichen Bearbeitungen vorliegt), die Disputatio inter Cor et Oculum (wo das Auge an die Stelle des Körpers tritt). Beliebt ist auch der sog. Blumenstreit, z. B. Certamen Rosae Liliique des Sedulius Scotus (mit zu den ältesten mal. S.en zählend, zu denen auch Certamen Ovis et Lini gehört). Nicht zu vergessen das Minnethema: zuerst im sog. Liebeskonzil behandelt, den beliebten Streit aufgreifend, ob ein Clericus oder Miles besser zur Liebe geeignet sei. Ähnliche Thematik hat eines der anmutigsten und liebenswürdigsten Gedichte der mlat. Poesie: De Phyllide et Flora. Es seien hier noch Gedichte erwähnt, die zumeist dem S. zugerechnet werden: einmal solche, die polit. Thematik aufgreifen, sich z. B. um den Investiturstreit ranken, zum andern solche, die kirchliche Themen behandeln, wobei der Altercatio

Ecclesiae

et Synagogae

besondere Bedeutung zu-

kommt. In der Rolle des Staatsanwaltes bringt hier der unbekannte Verfasser den Streit der beiden Frauen E. und S., deren Eigenansprüche geklärt werden müssen, vor Gericht. Das Ende des Streites kommt unerwartet; die Richter fällen kein Urteil, der Ausgang aber ist von vornherein festgelegt und von Anfang an klar erkennbar. Bei einem Großteil der Beispiele dieser Art aber handelt es sich um sehr wirklichkeitsnahe Auseinandersetzungen, auf aktuelle Zeitfragen bezogen, ungelöste kirchliche wie polit. Fragen diskutierend, mit z. T . heftigen Angriffen, insbesondere gegen Tun und Treiben der Geistlichkeit. Anliegen dieser S.e ist überwiegend nicht Unterhaltung; erstrebt wird vielmehr Veränderung, Behebung bestehender Mißstände. Die meisten von ihnen sind somit der Schmäh-/Streitschrift zuzuordnen, der Schm. besonders dann, wenn kleinliche Zänkereien - z. B . zwischen den einzelnen Mönchsorden - ausgetragen werden. Als ältestes S. dieser Art gilt der Streit zweier Päpste über ihre Ansprüche, wobei bei diesem Thema besonders

deutlich wird, wie sehr kirchliche und polit. Thematik sich durchdringen und wechselseitig bedingen. Aber auch beim Ecclesia/Synagoge-Streit wird diese untrennbare Verflechtung besonders deutlich (s. § 11).

§ 3. In den r o m a n i s c h e n Ländern tritt das mlat. S. besonders in Frankreich weit verbreitet auf, mit der ganzen Palette tradierter Thematik. In der nationalsprachlichen Lyrik erwächst der hochentwickelten prov. Kunstsprache eine eigene, unverwechselbare Form des Sängerwettkampfes, getragen von Trobadors und Jogiars unterschiedlicher Herkunft, die von Hof zu Hof reisten. Mit zusammen ca. 200 Exemplaren bildet das provenz. S. (mit seinen Sonderformen Tenzone, Partimen, joc partit) neben Kanzone, Sirventes und Cobla esparsa eine der vier großen Gattungen der altprov. Lyrik. Tenzone und Partimen, die beiden Haupttypen, gleichen sich formal völlig (sie entliehen die Form der häufigeren Kanzone); auch die Art der Dialogisierung ist identisch: zwei Sänger gestalten ein Lied, wobei jedem wechselweise eine Strophe zukommt. (Meist sind es coblas unisonans: gleicher Endreim aller Verse, seltener coblas doblas: gleiche Endreimfolge in zwei aufeinander folgenden Strophen. Die Gesamtstrophenzahl des Liedes ist überwiegend gerade). In neuerer Forschung gilt als gesichert, daß es sich hierbei um gesungenen Wettstreit in realer Begegnung bei höfischer Geselligkeit handelt: Ausdruck des gesellschaftlichen Charakters dieser Standeslyrik. Allegorie und Personifizierung, charakteristisch für das fiktive S., fehlen: hier steht dem Publikum die Konfrontation direkt vor Augen. Das nicht-fiktive S. ist es also, das Wesen und Art des prov. S.s prägt. Ausdrücklich aber sei darauf verwiesen, daß auch hier das fiktive S. nicht fehlt: bei Lanfranc Cigala z. B. streiten im Traum des Dichters Ich, sein Herz und sein vernünftiges Erkenntnisvermögen über die Ursachen des Liebesleids. Auch der Herz/Auge- und der Herz/ZungeStreit um den Vorrang für die Liebe sind belegt, gleichfalls der Wein/Wasser-Streit u. a. der lat. S.lit. entnommene Themen.

In der Art des Vortrags — als Unterhaltungskunst in geselligem Kreis — liegen Berührungspunkte mit dem volkstümlichen S. Hier wie da ist eine in soziologischer Sicht in sich geschlossene Gemeinschaft Voraussetzung: mit ihr blüht oder schwindet an sie gebundener Brauch. Beiden ermöglicht die vorgegebene

Streitgedicht/Streitgespräch Form mühelose Improvisation. Die Fragen können zwar durchaus ad hoc formuliert werden, doch kann man sicher davon ausgehen, daß jeder Sänger (der höfische wie der im volkstümlichen Bereiche) auf ein gewisses Repertoire rückgreifen konnte. Aufzeichnungen solcher Art eines Trouvère sind erhalten: ein Komplex von 30 Fragen mit stichwortartigen Antworten. Die überlieferten schriftlichen Versionen dieser S.e haben wir uns als Überarbeitung vorzustellen. — Das prov. S. wurzelt im Kulturkreis, dem die Trobadors entstammen: der aus german. und röm. Erbe erwachsenen Romanía. Aus Scholastik und Rechtsleben schöpft die im 12. Jh. entstehende Liebeskasuistik. Wenn für M. Grabmann (Die Geschichte der scholastischen Methode) die scholastische Disputation „eine Art Turnier, ein Wett- und Zweikampf mit den Waffen des Geistes" ist (Bd. 2/1911, S. 20), trifft er damit zugleich die Geisteshaltung des S.s; wenn sich auch schol. Disputation und S. in ihrer Zielsetzung klar unterscheiden: das S. ist im Gegensatz zu ihr poetischer Selbstzweck. Beim S. werden Gespräch, Rechtsstreit, philosophische Disputation in den poetischen Bereich übertragen, wobei auf eine solutio verzichtet wird. Ausgewogenheit und Unentscheidbarkeit der Argumente stehen im Vordergrund, der Anrufung von Schiedsrichtern kommt keine echte Bedeutung zu. Die Richter, etwa in der Hälfte aller S.e angerufen, stehen völlig außerhalb des Liedes; nur vier Urteile sind bekannt. Eine mögliche Urteilsinstanz, spielerischen Charakters, ausschließlich von Damen besetzt, in ihrer historischen Realität weitgehend unbestritten, bilden die Cours d'amour.

Verbindung mit dem Rechtsleben zeigen Fachausdrücke juristischen Charakters, die in die S.e übernommen sind, insbes. Komposita wie Liebesrecht, Liebesbegründung u. ä. — Weite Teile des prov. S.s zeigen exemplarisch die Prägung des gesamten Systems höfischer Liebe durch antithetische und dialektische Strukturen: es geht hier um die antithetische Erhellung der diese Gesellschaft angehenden Werte. — Die Entwicklung der Sonderformen: Tenzone-Partimen-/oc partit wird am deutlichsten, wenn man die Tenzone als Vorstufe des Partimen sieht; es zeichnet sich gleichsam der Prozeß einer stetig wachsenden Komplizierung ab: vom ungeregelten Streit bei freier Themenwahl zum auch diese festlegenden geregelten Streit. Dabei aber muß betont werden,

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daß die T. (von der ca. 90 Exemplare überliefert sind, gegenüber ca. 120 als P. anzusprechenden S.en) durchaus nicht nur an die frühe höfische Gesellschaft gebunden ist, sie vielmehr auch später noch gelungene Formen aufweist. Älteste T . ist das Für und Wider, das U c Catola und Marcabru zum Thema der Liebe vorbringen; als etwa gleichzeitig (auf 1137 datiert) gilt das S. zwischen Maistre (Cercamon) und Guilhalmi.

Zenker (Die prov. Tenzone) versucht, die Beziehung der einzelnen Sonderformen zueinander auf die Formel: „jocpartit plus Tenzone gleich Partimen" (S. 92) zu bringen. Das entscheidende Merkmal, das Tenzone und Partimen (dessen erste reine Vertreter aus den beiden letzten Jahrzehnten des 12. Jh.s stammen) trennt, wird durch die Charakterisierung der T . als discussion libre gegenüber dem P. als débat concerte hervorgehoben. Vertritt in der T. jeder Partner seinen eigenen Standpunkt in argumentierendem sachlichem Verlauf, aber auch mit Beschimpfung, Verteidigung und persönlichen Anspielungen (hier können die Grenzen zu den Sirventes fließend werden), wird beim P. in der ersten Strophe von einem der beiden das Thema in Form eines Dilemmas (weshalb das P. auch ,dilemmatisches S.' genannt wird) mit zwei Alternativen festgelegt. Am Partner ist es dann, zu entscheiden, welche der beiden angebotenen Lösungsmöglichkeiten er über die nun folgenden Strophen hinweg vertreten will. Verschieden ist auch der Themenkreis: gibt es bei der T. keinerlei Themenbeschränkung, wobei auffällt, daß dem Liebesthema keine Bedeutung zukommt, kreisen beim P. fast alle Themen um den höfischen Frauendienst. So kommt dem P. gerade durch seine engumgrenzte Thematik eine wichtige Stellung im höfischen Wertesystem zu: es leistet gleichsam eine strukturell adäquate Darstellung der höfischen Liebe. T. und P. unterscheiden sich auch in der Art, wie sie ihr Publikum ansprechen, und in ihrer Wirksamkeit auf ihre Hörer. Stehen bei der T. Thema und persönliches Engagement im Vordergrund, lenkt das P. den Blick mehr auf Kunst und Kunstfertigkeit; tendiert die T. mehr zu ernsthafter, problembewußterer Diskussion, dominiert beim P. ausgeprägter Spielmechanismus. Reiz wie Beliebtheit des P. liegt in der Mischung von wirklichem Spiel und poesie formelle. Die 2. Strophe von Wilhelms IX Lied Ben vuelh que Sapchon Ii pluzor wird als der

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Streitgedicht/Streitgespräch

früheste Beleg für die Existenz eines nichtliterar. Gesellschaftsspieles, joc d'amor oder jocpartit genannt, angesehen. Elemente davon flössen, wie schon erwähnt, in das S., wo sich eine Reihe von Begriffen findet, die dem Gesellschaftsspiel entstammt. Beliebt war diese Unterhaltung ganz besonders in einem Jh. wie dem 12., das an jeglicher Form von Spielen des Geistes Freude hatte, an philosophischen, rechtlichen, rein unterhaltenden. — Da joc partit .geteiltes Spiel' heißt, und deshalb auch für den Ablauf des Wettgesangs: für das A u f teilen' in Alternativen in der 1. Strophe des Partimen stehen kann, entsteht Begriffsunklarheit. Für das gesamte prov. S. gilt, daß einzelne Termini sehr großzügig untereinander austauschbar verwendet werden. Die hsl. Überlieferung trägt zur Unsicherheit bei: Tenzone und Partimen werden zunächst gleichermaßen unter der Bezeichnung tenso tradiert; erst in Hss. des 14. Jh.s steht für das dilemmatische S. überwiegend Partimen, seltener auch joc partit. Typisch für das P. ist — wie schon erwähnt — sein zentrales Thema: höfische Liebe und andere höfische Werte in ihrem Gegenund Miteinander wie in ihrer Beziehung zur Liebe. Grundlage der Dominanz dieses einen Themenkreises ist, daß gerade er durch seine gesellschaftliche Bedeutsamkeit das starke Bedürfnis nach Steigerung der eigenen Lebensform, das den Sänger bewegt, zu erfüllen vermag. In der Treue zur höfischen Form des Liebesdienstes erweist sich Standeszugehörigkeit; Dienst an der Frau ist somit ständiger Dienst am eigenen Lebensgesetz. Der höfischen Frau erwächst dabei die Pflicht, den Wert des Mannes zu steigern. Spannungen, die sich naturgemäß in der Thematik niederschlagen, ergeben sich daraus, daß die Frau in Erfüllung ihrer höfischen Pflicht nahe an die Grenzen ernsthafter Gefährdung ihres Rufes gehen muß, den zu schützen wiederum dem ritterlichen Liebhaber oberstes Gebot sein muß, da sein Ansehen mit dem seiner Dame eng verknüpft ist, mit ihm steht oder fällt. Einige Beispiele mögen Wesen und Art der Fragestellungen im P. erhellen. 'Ist es besser, eine Dame durch Geist oder durch Kühnheit zu gewinnen?' 'Wem soll eine Dame ihre Gunst schenken, dem, der beim Minnedienst sein Vermögen mehrt, oder dem, der sich dabei ruiniert?' 'Wer handelt richtig, der, der seine Liebe bekennt, oder der, der dies nicht wagt?' 'Soll man lieber seiner Dame gefallen und der

Gesellschaft nicht — oder umgekehrt?' 'Wer ist vorzuziehen, die edle Dame in höfischer Liebe oder ihr Fräulein, das alles gewährt?' 'Wer ist vorzuziehen, eine wohlerzogene Lügnerin, oder eine unhöfische Ehrliche?' 'Ist es besser, eine reiche Dame zusammen mit einem andern Liebhaber zu verehren, oder eine arme allein?' 'Soll der höfische Liebhaber lieber Geliebter oder Ehemann seiner Dame sein?' 'Soll die Ehefrau eines Edelmannes den Todfeind oder den besten Freund ihres Mannes zum Geliebten wählen?' 'Wen soll eine Dame mehr lieben, einen Edlen ohne höfisches Verhalten oder einen Niedriggeborenen mit höfischem Verhalten?' 'Ist ein vornehmer Ritter, der unter Edlen aufgewachsen ist, einem ebenso vornehmen vorzuziehen, der unter niedrigem Gesindel großgeworden ist?' 'Ist der vorzuziehen, der Tapferkeit ohne sonstige Qualitäten besitzt, oder der, der sonst vortrefflich, aber feige ist?' 'Soll man lieber reich oder gelehrt nach den sieben freien Künsten sein?' 'Welcher von zwei gleichermaßen freigebigen Rittern verdient mehr Anerkennung, der, der gern gibt, oder der, der ungern und nur der Ehre wegen gibt?' 'Soll man lieber durch Reichtum oder demütige Armut gefallen?' 'Ist es besser, Spielmann oder Räuber zu sein?' Aber auch Fragen wie: 'Sind die Katalanen mehr wert als die Franzosen?' tauchen auf, oder: 'Erhalten Augen oder Herz die Liebe besser?' 'Was ist schlimmer, Herz oder Zunge?' Deutliche Hinweise gibt es dafür, daß die Form des P. gelegentlich auch parodistisch und satirisch genutzt wurde. Naheliegend dann, wenn man sieht, daß die Fragestellung schon im 'Regelfall' zur Überspitzung neigt.

Die nordfranz. Trouvères pflegen das jeu-parti, das thematisch wie strukturell mit dem prov. Partimen völlig übereinstimmt. Im weiteren Verlauf wird diese S.form, von der 180 Exemplare — alle ohne Urteil — erhalten sind, zur charakteristischen Form für die spätmal. franz. Dichtung. Daneben aber tritt das S. hier auch als débat auf, in dem, nach mlat. Muster ein Streit zwischen Personifikationen oder Standesvertretern ausgetragen wird. — Die Tenzonentradition der Provenzalen ist auf die dialektisch gewandten Florentiner übergegangen; aber auch die sizilianische Tenzone ist provenzalisch beeinflußt. Auch eine Variante des joc partit — contrasto genannt — blüht auf italienischem Boden. Von völlig anderer Art ist das S. in der a l t n o r d i s c h e n L i t e r a t u r . Hier dominiert nicht Vorrang- oder Sängerstreit, sondern die Form des Kampfgesprächs zwischen zwei oder mehr Personen, die wie die homerischen Helden dem Zweikampf mit Waffen ein Wettschimpfen vorausschicken (auch im Hildebrands-, Walther- und Nibelungenlied reizen

Streitgedicht/Streitgespräch sich ähnlich die kämpfenden Recken mit scharfen Worten vor dem Waffengang). Die Dichtung spiegelt hier nur einen Grundzug im Wesen der germ. Völker: jenen übermächtigen Trieb zu Kampf und Streit, der immer durchbricht in Religion und Sitte, Volksbrauch und Dichtung. So haben die großen Scheltgedichte der Edda (in der der Dialog eine bedeutende Rolle spielt), einen eigenen Typus in der eddischen Reihe bildend, Vorbilder aus dem wirklichen Leben. Einmal sind es zwei Heldengedichte: das Zankgespräch zwischen Atli und Hrimgerd und Örvar-Odds Männervergleich, vor allem aber zwei Göttergedichte: Thor und Odin im Kampfgespräch und der große Schimpfwettstreit Lokis (Lokasenna [ = Wortstreit des Loki]) mit den anderen Göttern, der einer Urform der Volksdichtung entspricht. Diese Redekämpfe sind aus der übrigen Epik herausgehoben dadurch, daß sie keine Geschichte abwickeln, daß sie vielmehr ihre lebensnahen Figuren in einer Situation festhalten, die die Voraussetzung für den Wortstreit schafft. So wird auch hier, wie so oft beim S. die Wechselrede zum Selbstzweck. Auch im Erzähllied treten Zankgespräche und Redekämpfe auf: alles der reinen Unterhaltung dienend, frei aller Lehrhaftigkeit. Die anord. Dichtung kennt auch Rätselwettstreite und Weisheitsproben — zur Unterhaltung, aber auch solche didaktischer Natur. So zieht z . B . Odin aus, die Weisheit des Weisesten der Riesen zu prüfen (Vaf/rrüdnismdl); Beispiel für einen Rätselstreit ist der zwischen König Heiörek und Odin. Auch Saxo Grammaticus berichtet von Redewettkämpfen, bei denen der Gegner an Scharfsinn wie Redefertigkeit übertroffen werden soll. Die altenglische D i c h t u n g hat der anord. ähnliche Streitgespräche, z. B. zwischen Unferd und Beowulf. Auch hier ist, abgesehen von Beispielen wie dem Dispute between Owl and Nightingale (bereits an der Grenze zur frühmittelengl. Epoche), der Vorrangstreit selten belegt. Sängerwettstreite werden wie im Altnordischen nicht gepflegt, Rätselkämpfe hingegen stehen in hoher Blüte: bedeutende Denkmäler behandeln die Geschichte von den Wortgefechten Salomos (die zugleich die älteste erhaltene abendländische Version des Weisheitskampfes Salomos darstellen). Die Rolle des Markolf wird hier von einem Dämon, Saturn, eingenommen. In der mittelengl. Lit. ist dann die mlat. beeinflußte Form

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des S.s unter den Namen estrif, debate, despMtisoun verbreitet; erstmals tritt sie hier in den Bearbeitungen des in der ganzen Lit. des MA.s beliebten Stoffes vom Streit zwischen Leib und Seele auf. Aber auch alle andern aus der mlat. S.lit. bekannten Themen werden aufgegriffen, nachgestaltet und variiert. Ins 14. Jh. fällt ein S., Death and Liffe, in dem Leben und Tod als Frauen im Redestreit um die größere Macht kämpfen. Eine spätere Variante dieses Themas ist The Ressoning betuix Deth and Man (15. Jh.), eine Fragestellung, die in diesem Zeitraum auch im S. anderer Nationalsprachen eine Rolle spielt und deshalb Vergleiche auf breiterer Basis zuläßt, ein Thema, das die Forschung bisher nicht aufgegriffen hat. Ein gleichzeitiges hebräisches Gebet enthält dieses Streitthema, ebenso ein hd. Dialog Tod/Mensch eines unbekannten Verfassers, auch ein mnd. Zwiegespräch zwischen Leben und Tod ist belegt. Diese Thematik wird ebenfalls in der Ackermanndichtung gestaltet, und auch Hans Sachs greift sie in drei Gedichten (1533; 1542; 1543) auf. (Auch er wählt die im MA. beliebte Traumeinkleidung und bekennt sich damit zu der Tradition, in der er steht).

§ 4. In der deutschen D i c h t u n g ist das S. seit dem 13. Jh. heimisch. Es unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom mlat., bei dem schon darauf verwiesen wurde, daß seine Gestaltung und Thematik in den verschiedenen Nationalsprachen aufgegriffen, nachgeformt und variiert wird. Den Hauptzweig bilden die Streitlieder um den Vorzug in ihren verschiedenen Spielarten, wobei sie, über längere Zeiträume betrachtet, zunehmend umfangreicher werden (Höhepunkt bei Hans Folz). Während der dt. Minnesang im Gegensatz zur franz. und prov. Lyrik dem S. keine bevorzugte Stellung einräumt, nimmt der Meistersang mit seiner Neigung zu gelehrt-scholastischen und rätselnden Spielereien die Gattung in eifrige Pflege; auch das Volkslied greift die ältesten und beliebtesten Gegenstände wie Kampf zwischen Sommer und Winter auf. Da dem S. wesenhaft ein dramatischer Zug eignet, liegt nahe, daß es, in Form von Streitszenen, auch Eingang in das volkstümliche Fastnachtsspiel findet. Meist wird der Wettstreit zwischen zwei oder mehreren Personifikationen oder gedachten Personen ausgefochten: wie in den mlat. Gedichten sprechen die Gegner selbst und verteidigen ihre Vorzüge. Beliebt ist der Streit der Jahreszeiten. Ihn behandelt z. B. ein niederrhein. Lied aus der 2. Hälfte des 14. Jh.s (van den zotner und van den winter); ins

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Streitgedicht/Streitgespräch

15. Jh. fällt ein dreistrophiges Meisterlied dieses Themas; auch Hans Sachs greift es auf (1538 u. 1565), wobei beide Male der Winter siegt. Dieses Motiv ist außerliterarisch stark verbreitet, im Brauchtum fest verankert. Eine Variante, bei der die Jahreszeiten auf Monate fixiert werden, stellt das Streitlied ain Krieg von dem Mayen und von dem Augustmon dar (Liederbuch der Klara Hätzlerin). — Der Wein/Wasser-Streit tritt erst spät auf, z. B. bei Hans Sachs in 15 Vagantenstrophen. Ein Meistersang der Kolmarer Hs. kennt die Variante Milch/Wein-Streit. (Auch Krankheit und Gesundheit Wettstreiten bei Hans Sachs: ein kampff gesprech zwischen Gesundheit und Krankheit). Häufig treten Themen aus dem Liebesleben auf (meist um Wert und Art der Liebe kreisend). Ältestes Beispiel ist hier ein Jugendwerk Hartmanns von Aue, sein erstes Büchlein, wo er in einem Gespräch zwischen Herz und Leib dem Liebesschmerz Ausdruck verleiht. Ähnlichkeit damit hat ein späteres Gedicht ain mynn red von hertzen und von leih (Liederbuch der Klara Hätzlerin). Zahlreiche Beispiele dieser Thematik sind in diesem Liederbuch zusammengetragen, wobei auffallend oft die Form der Einkleidung gewählt wird, die den Dichter die Streitenden (meist zwei Frauen) belauschen läßt, die Spazierengehen oder sich an einem Brunnen aufhalten. In einem Lied des 13. oder 14. Jh.s wird die Frage gestellt, ob Frauen oder Männer innigere Liebe empfinden könnten; andere streiten darüber, ob die Liebe mehr Freuden bereite oder mehr Leiden, ob man lieben oder ohne Liebe bleiben solle; treue, wahre Liebe wird gegen ungetreue und falsche gehalten. Auch Hans Folz greift diese Thematik auf (z. B. 'von zweyer frawen krieg'). Eine beliebte Variante dieses Themenkreises läßt die personifizierte Minne/Liebe mit einem anderen personifizierten Begriff um den Vorzug streiten, so Liebe/Schönheit z. B. bei Reinmar von Brennenberg (wobei der Dichter nur beide vereint für vollkommen erklärt). Bei Peter Suchen wirt wird die themengleiche Auseinandersetzung auf der Grundlage der Vorrang-Frage, wer als erste aus dem Brunnen trinken dürfe, ausgetragen; derselbe Dichter gestaltet auch einen Streit zwischen 'Staete* und der als 'Unstaete' verkleideten Minne (der Widertail). 'Minne' und 'Werlt' Wettstreiten z. B. bei Frauenlob. Der Streit, welcher Stand sich am besten zur Minne

eigne, wird gern und oft aufgegriffen, z. B. von Heinzelein von Konstanz ( f 1298 — Von dem ritter und von dem pfaffen), eine Thematik, die an De Phyllide et Flora anklingt. Standesgebundene Liebe verficht das Lied von zwain swestern, wie aine die andern straffet, das von der Frage ausgeht, ob ein Edelfräulein nur einem Adligen oder auch einem Bürger ihre Liebe schenken dürfe. Behandelt wird auch der Standesgegensatz zwischen Ritter und Bauer (auch Bürger/Hofmann, z. B. bei Oswald von Wolkenstein). Beliebte Vorwürfe bieten auch die Gegensätze zwischen Minner, Spieler und Trinker ( z . B . Minner/Kriegsmann: Lassberg, Liedersaal II, Nr. 90; Minner/Trinker, Nr. 329; ndt. 'van deme drenker', wo der trinkende Knecht dem maßvollen Herrn gegenübersteht). Nicht minder zugkräftig sind Themen mit geistlicher und e t h i s c h e r Tendenz; hier aber gibt es Formen, die nahe an die wirklichen Disputationen des MA.s rücken, wobei die Ubergänge fließend sind. S.e, die den Leib/ Seele-Kampf behandeln, sind mehr oder minder geschickte Übersetzungen jenes Dialogus inter Corpus et Animam. Weitere Themen gestalten das Ringen von Barmherzigkeit, Frieden, Gerechtigkeit und Wahrheit um des Menschen Seelenheil (ein ebenso ausführliches wie charakteristisches Denkmal ist von den zwain sanct Johansen des Heinzelein von Konstanz, das die Frage behandelt, ob Johannes der Täufer oder Johannes der Evangelist heiliger sei). Im Umkreis dieser Thematik kann es auch darum gehen, welchem Stand in geistlicher Sicht höhere Würde zukommt. Der alte Ecclesia/Synagoge-Streit lebt auch hier (z. B. bei Regenbogen) und wird auch parodiert, so von Hans Folz (ein disputatz eins freiheits mit eim Juden)-, dieses Thema bewegt auch Hans Sachs. Das bedeutende „volkstümliche Streitgedicht" (W. Stammler) Der Ackermann aus Böhmen des Joh. von Saaz, das den Leben/Tod-Streit behandelt, zeichnet sich durch ernsthaftes Ringen um eine Lösung aus. Hier wird die Argumentation durch ein volkstümliches Element unterstützt: Sprichwörter werden eingeflochten, wobei der Sprichwort-Antithetik die Konfrontierung der Personen entspricht. Gott selbst ist Schiedsrichter. Sein Urteil erkennt dem Menschen, der für das Leben ficht, das innere Recht zum Kampf zu, wenn er auch dem Tod den Sieg zuspricht.

Streitgedicht/Streitgespräch Varianten dieses Themas lassen den Tod u. a. mit einem reichen König streiten. Ein Zwiegespräch zwischen Leben und Tod ist auch das ndt. Fastnachtsspiel Ein Vastelavend.es Spil/ van dem Dode unde van dem Levende des Nicolaus Mercatoris (Wolfenbütteler Hs. v. 1494). — Ehre und Schande Wettstreiten z. B . in der Form, daß Frau E. und Frau Sch. einen Ritter zu beeinflussen suchen (Lassberg, Liedersaal I, Nr. 72); das Thema wird auch in kurzen Sprüchen abgehandelt, so bei Meister Kelin, auch bei Frauenlob, der drei Parteien, Natur, geisdich Orden, Ehre kämpfen läßt. Der Tugend/Laster-Streit ist meist in Dramen eingebettet (wobei beide auch um die Gunst des Herkules oder anderer heroisierter Gestalten der Mythe oder Geschichte ringen können). Auch solche Sprüche sind belegt, in denen es um den Kampf einer Tugend mit einem Laster geht (wobei die Tugend oft unterliegt). Andere oft wiederkehrende Gegensatzpaare sind Wahrheit/Lüge (Wahrheit/Unwahrheit bei Meister Stolle); Treue/Untreue; Zucht/Unzucht; Weisheit/Torheit; Armut/ Reichtum (sehr ausführlich bei Hans Folz im kargen Spiegel, 1474); aber auch Frau/Priester (z. B. bei Meister Suchenwirt, Meisterlieder aus der Kolmarer Hs.); Frau/Jungfrau (z. B . Lassberg, Liedersaal II, Nr. 131). Spielarten dieser Hauptgruppe entstehen einmal, wenn der Dichter selbst die Rolle eines Streitgegners übernimmt. Hierher gehören z. B. mehrere S.gespräche Dichter/Welt, deren ältestes Walthers Abschied von der Welt ist; diesem ähnlich ist ein Gedicht der Kolmarer Hs.: Wie der meister der weit urloup git; die fttnff entlied von der weit des Meisters Heinrich von Mügeln gehören ebenso in diesen Rahmen wie ein ndt. Gespräch zwischen der ,Welt' und einem Jongherlingh' (um 1500). Zum anderen gibt es S.e, die — wie der Wortwechsel Gawans mit Keie über das Leben bei Hofe (Hagen, Minnes. II, 152) — den Streit zwei wohlbekannten Helden der höfischen Epik in den Mund legen. — Satirisch-parodistisch variiert wird der Kampf um den Vorzug, wenn er zu einer Verherrlichung sonst verachteter Gegenstände führt, auf Kosten gemeinhin gepriesener. Grundmotiv ist hier Kritik an der herrschenden Poesie, wie sie z. B. bei einem fahrenden Sänger, dem sog. Könige vom Odenwald deutlich zutage tritt, bei dem z. B. Stroh über seidene Borten gestellt wird, Huhn und Gans den Vorrang vor

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Lerchen, Drosseln, Nachtigallen erhalten. Ein Jh. später knüpft Hans Rosenplüt hier an und zieht das Gackern der Hühner dem Gesang der Lerchen und Nachtigallen vor und stellt den Gesang der Bauern hinter dem Pflug über den geistlicher Chöre. Eine Gruppe von Wettgedichten läßt eine ganze Anzahl ungenannter beliebiger Personen der Reihe nach eine bestimmte Behauptung verteidigen. Eines der frühesten ist: daz sint die niun ritter, worin alle nacheinander sich im Lob ihrer Frauen überbieten; in der Hs. folgt unmittelbar darauf das Gegenstück: diz sint die niun frawen. Eines der ausgedehntesten Wettlieder dieser Art ist von siben den grössten früden (Liederbuch der Klara Hätzlerin), wo auf Aufforderung des Dichters sieben Männer vor einem Feuer sich in der Schilderung ihrer jeweils größten Freude überbieten; zu diesem Themenkreis gehört auch die öfter behandelte Geschichte von den zwölf faulen Pfaffenknechten, in der ein Wettstreit um das größte Maß an Trägheit ausgetragen wird. § 5. Der dramat. Charakter des S.s kam besonders einem Zweig der Gattung zugute, dem Sängerkrieg. Anhand der Quellen ein klares Bild über Gestalt und Aufbau zu gewinnen, ist schwer, denn nur wenige ausgeführte Beispiele sind überliefert. Gelegentlich angesprochene Ähnlichkeiten mit prov. Formen des Sängerwettkampfes sind nur oberflächlich. (Dem widerspricht nicht, daß z. B . Hartmann von Aue wie Walther den charakteristischen Kunstausdruck der prov. Lyrik 'ein spil teilen' verwenden). Einmal sind die thematischen Schwerpunkte anders gelagert, zum andern sind die dt. Sängerkriege (abgesehen von den realen Fehden der Spruchdichter) fiktiven Charakters, auch steht bei ihnen das spielerische Element im Hintergrund. Die dt. Sängerwettkämpfe: die realen Spruchdichter-Fehden wie die fiktiven sog. Sängerkriege treffen sich in thematischer Verwandtschaft. Sie kreisen um das zentrale Problem der Meisterschaft, die Lebens- und Existenzfrage der Berufsdichter des 13. Jh.s. Zwei Stränge des S.krieges heben sich vor diesem Hintergrund ab: der vielschichtige Wartburgkrieg-Komplex und die Frauenlob/ Regenbogen-S.e. Diese erwachsen der großen Sangspruch-Dichtung, die Walther zu voller Blüte geführt hat und die nach ihm von Spruchdichtern verschiedener Art getragen wurde.

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Wir sind über solche liter. Fehden unterrichtet, wie sie z. B. zwischen Reinmar und Walther am Wiener Hof oder zwischen Reinmar von Zweter und dem Marner zeitweise herrschten.

Kernpunkt dieser echten SpruchdichterFehden ist l i t e r a r i s c h e r R a n g s t r e i t der einzelnen Meister, der der Grundsituation des mal. Dichters entspringt, nämlich auf die Gunst hoher Herren angewiesen zu sein: Verhältnisse, die einen unerbittlichen Konkurrenzkampf zur Folge haben. Die Frauenlob/ Regenbogen-S.e, die den Sängerkriegen zugerechnet werden, bewegen sich in dieser Tradition. Sie sind fiktiv, gehen aber von der realen Polemik um Frauenlob aus. — Der Wartburgkrieg, ein Konglomerat fiktiver Wettstreitgedichte, ist ein Thema, das mehr als zwei Jh.e lang lebendig blieb; zusammengehalten wird der vielschichtige Komplex durch den Rahmen der Verknüpfung mit dem Hofe des Landgrafen von Thüringen. Daß dieser S.krieg lange in der Forschung als histor. Ereignis galt, geht nicht zuletzt auf das Zeugnis mal. Chroniken zurück, die ihn als reale Begebenheit tradieren. Streit um den Vorrang der Meisterschaft (z. B. Fürstenlob, wo es im Wettstreit zwischen Heinrich von Ofterdingen und fünf anderen Meistern um ein Wettloben der Fürsten geht), Wissens- und Geisteskampf fließen hier ineinander; durch die Gestalt Klingsors wird auch Zauberei und Glaubenskampf eingebracht (im Wolfram- KlingsorStreit); den Zug erbitterter Fehde steuern die Teufelserscheinungen bei. In einzelnen Teilen des umfangreichen Gesamtwerkes klingen Sängerstreit- und Wissenskampf-Motive nur an (Totenfeier, Wolfram-Klingsor-Streit im Thüringer Fürstenton). Von zentraler Bedeutung ist der Rätselspielkomplex (um 1230), sicher der Kern des Wartburgkrieges, den starke Elemente typischen Ständestreits wie scholastischer Disputation formen.

Zeit eine erstaunliche Faszination aus. Der Quell der Prosaüberlieferung der W.sage fließt reich: thüringische Biografen und Annalisten griffen den Stoff immer wieder mit Vorliebe auf. Die Sagenbildung reicht bis ins 18. Jh., wobei Mißverständnisse zu allmählicher Vergröberung führen. Der W.sagenkomplex wird auch mit der Meistersingersage verwoben: so erscheinen die Namen der Wartburgsänger in den meisten Quellen auch unter den 12 Meistern. Im 19. Jh. ist auch der Tannhäuser in Beziehung zur Wartburgkrieg-Sage gesetzt worden.

In der späteren Entwicklung wird der Sängerkrieg eine Angelegenheit der Schule, wo er - im Einklang mit dem Wesen des S.s - zum Vergnügen aufgeführt wird; dem Sieger winkt ein Preis. In diesen Rahmen gehört z. B. der Krieg von Würzburg aus dem Anfang des 14. Jh.s, für den wiederum Frauenlob und Regenbogen den Namen hergeben müssen. Natürlich ließen sich auch die Meistersingerschulen den Anreiz solcher Wettkämpfe nicht entgehen. Tauchte ein fremder Sänger auf, wurde er zum Wettsingen gefordert (fürwurf), seine Kunst mit dem Können der heimischen Sänger zu messen. Preisrichter war die Schar der Merker (selbst Meister); der Sieger wurde in der Regel durch feierliche Krönung mit einem Kranz geehrt. Dieses Münden in Meistersinger-Tradition bahnte sich früh an: die nachklassische Spruchdichtung war von einer vorher nicht gekannten Ausrichtung auf den Zeitvertreib geprägt; meistersingerhafte Züge sind in der Kolmarer Fassung des Kreuzbaumrätsels vorgeprägt, wo Fürsten wie Merker als anwesend erwähnt werden; auch im Fürstenlob deutet sich ähnlicher Rahmen an.

§ 6. R ä t s e l s t r e i t e sind sehr alt. Sie durchziehen und tragen die Märchen und Sagen fast aller Völker, wobei es oft die größten Entscheidungen sind, die in einen Rätselkampf verlegt werden. Dem Redestreit kommt in der Sage gleiche Gewichtung zu wie dem Wettkampf in körperlicher Kraft. Bei den mal. Ein Preis für den Sieger ist im Wartburgkrieg Rätselspielen, R.wettkämpfen und Weisheitsnicht ausgesetzt. Es bleibt Raum für mögliche proben in dt. Fassung mündet der Doppellauf weitere Vergleichskämpfe. Im Fürstenlob soll der Unterlegene mit dem Tode bestraft werden, einer einer alten Entwicklung, einer ,gelehrten' und Strafe, die dann nicht vollzogen wird. Dieses einer .volkhaften' in gemeinsame Bahn: lat. Merkmal: der hohe Einsatz, weicht deutlich vom gelehrte Gespräche und volksläufige Weisüblichen Brauch in S.en ab, steht geradezu im heitsproben verwachsen wie beim Sprichwort Gegensatz zu sonst geübter Praxis. Es ist aber zur Einheit. So z. B. in der Salomo- und MarGrundgestaltungsprinzip der alten Rätselwettkolf-Sa.ge, deren Verbreitung schon Notker kämpfe (vgl. anord. Vafprüdnismal oder Heidrekund Freidank bezeugen, von der aber erst das saga, wo es um den Kopf des Verlierers geht; auch 14. Jh. eine dichterische Fassung überliefert: das altengl. Salomo/Saturn-S. kennt hohen Einsatz). — Vom Wartburgkrieg-Thema geht über lange der bäurisch-ungeschlachte, aber witzig-

Streitgedicht/Streitgespräch schlaue und schlagfertige Markolf sucht darin die gelehrt-ernsten Aussprüche des weisen Salomo zu überbieten. Ebenso listig-lustig und unwiderlegbar beantwortet der Pfaffe Amis in Strickers gleichnamiger Schwankdichtung die verfänglichen Fragen des Bischofs. Das umfangreichste Beispiel aber eines Rätselkampfes bietet wiederum der Wartburgkrieg, bei dem das Rätsel geradezu Strukturprinzip ist. Klingsor von Ungerland und Wolfram von Eschenbach stehen sich im Wettkampf gegenüber. Diese Rätsel haben allegorisch-geistlichen Zuschnitt und bezeugen, wie beliebt jene Kinder gelehrten Witzes und volkhafter Weisheit damals waren. Auch der Lohengrin beginnt mit einer Partie aus dem ,Rätselspiel* des Wartburgkrieges. (Sie hat die Funktion einer programmatischen Einleitung zu erfüllen). Unter Regenbogens und Frauenlobs Namen gehen ebenfalls Herausforderungen zu Rätselkämpfen aus. D e r berühmte Kampf zwischen F . , R . und Rumesland über das wip/frouwe-Thema schließt mit einem Rätselstreit, der wohl als Rest eines andern Wettkampfes zu gelten hat. Auch die Rätselkämpfe dieser Epoche sind vor zeittypischem Hintergrund zu sehen, widerspiegeln die aktuelle Situation des damaligen Berufsdichters, erwachsen also dem Kampf um sozialen Aufstieg in ständiger konkurrierender Auseinandersetzung mit Mitbewerbern um die Gunst eines Herrn. Aufeinander bezogene Rätsel zweier Dichter stellen gleichsam kleine Sängerkriege dar; so z. B . bei typischen Namensträgern fahrender Dichter der Zeit: Singuf und Rumeland (2. Hälfte 13. J h . ) . Auch das Trougemundlied (im 14. J h . aufgezeichnet, aber älter), den skandinavischen Rätselgedichten nahestehend, erhellt die Situation des Fahrenden: vor seiner gastlichen Aufnahme steht die Lösung von Rätseln. Als späte Variante zum Trougemundlied erscheint unter den Fastnachtsspielen des 15. J h . s ein spil von der Freiheit. Wie die andern Gattungen des S.s erfuhren schließlich auch Rätselstreit (der sich im Verlauf als erweiterungsfähig erweist, Tendenz zu Zyklisierung hat) und Weisheitsprobe eine Fortentwicklung im Fastnachtsspiel, z. B . im Spiel von König Salomo und Markolf des Hans Folz, oder dem von einem Kaiser und einem Abt, das den aus dem Pfaffen Amis bekannten Stoff dramatisiert. Viele Fastnachtsaufzüge und Szenen aus F.spielen sind überhaupt nur zugestutzte und erweiterte S.e.

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Das obengenannte ndt. F.spiel van dem Dode unde van dem Levende ist nichts anderes als ein mit Einleitung und Schluß versehenes S. zwischen Leben und Tod. Das F.spiel Der Waldbruder ist die Darstellung eines Streits zwischen einem heuchlerischen Geistlichen und einem ungehobelten Laien. Auch die Streitlieder der Meistersinger kennen die Rätselform, wobei sich auch hier volkstümliche und gelehrte Rätseltradition treffen. So tragen z. B. in der Kolmarer Hs. die Lieder 11, 37, 53, 84/85 Züge gelehrt-allegorischen Rätselkampfes, während volkstümlicher Rätselstrang die Nummern 17, 81, 93, 99, 136 und 184 prägt. § 7. Ausgeprägte Kommunikationsfreudigkeit und besonders große Freude an Spiel und Geselligkeit kennzeichnen die Gesellschaft des B a r o c k - Z e i t a l t e r s . Weitere charakteristische Merkmale sind: die Neigung zur Antithese und die Tendenz zur Vermischung poetischer Gattungen. Diese Strömungen lassen auf der Grundlage der literar. Tradition aus Antike und Renaissance beim S. eine Sonderform des Sängerwettstreits entstehen: in der Schäferund Hirtendichtung, einer bevorzugten Gattung der Epoche, kämpfen zwei oder mehr Hirten um den Preis des besten Liedes, ein andrer, zum Schiedsrichter ernannt, entscheidet den Wettkampf. Vorbilder dieser wie der gesamteuropäischen Schäferdichtung sind Theokrit und Vergil. Als charakteristischer Wettkampf dieser Art kann das Pegnesische Schäfergedicht (1644) von Johannes Klaj und Georg Philipp Harsdörffer gelten, eine Gelegenheitsdichtung zu einer Nürnberger Doppelhochzeit, worin - ein altes Motiv aufgreifend - die Göttin Fama die beiden Freunde auffordert, die Jungvermählten im Wettgesang zu feiern. - Daneben ist die im M A . bekannte Form des S.gesprächs, in dem Vor- und Nachteile bestimmter Dinge gegeneinander abgewogen werden, auch im 17. J h . bezeugt, wobei auch lehrhafte Tendenz Motivation für Förderung und Pflege dieser Form ist. Im Wolfenbütteler Freudenspiel Schottels z. B . streiten zwei Paare (A B und C D ) in alternierendem Gesang über den Vorrang von Glück oder Tugend, wobei die Verteidiger der Tugend ihre Gegner überzeugen und man sich zu gemeinsamem Lob vereint. Als beispielhaft für die Gestaltung von Themen aus dem erotischen Bereich kann Hofmannswaldaus Streit der schwarzen Augen, roten Lippen und weißen Brüste gelten. Auch werden zu dieser

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Zeit fremdsprachige S.e ins Deutsche übertragen: so übersetzt z. B. Andreas Adersbach den Streit zwischen der grünen und blawen Farbe aus dem Französischen. - In der umfangreichen neulat. Dichtung der Epoche hat das S. ebenfalls seinen Platz, getragen von antiker (Vergil, Horaz) wie mlat. S.tradition. In den Epoden des bekanntesten Repräsentanten der geistlichen lat. Lyrik, Jakob Balde, tritt z. B. der lehrhaft-allegorische Dialogus voluptatis et continentiae auf; auch einen Sängerkrieg, Theokrit und Vergil nachgemustert, kennen wir von ihm: Tityrus. Certamen pastoritium Parthenii Amoris, erga puerum Jesum et Virg. Matrem, mit Herausforderung zum Kampf und Schiedsrichter; Corydon kündet das Lob des göttlichen Kindes, Alexis das der Mutter, der Preis geht an beide Sänger. - Auch mit dem Drama der Zeit ist das S. verknüpft. Im 4. Akt der Catharina von Georgien des Andreas Gryphius führen z. B. Tod und Liebe - umrahmt vom Gesang der Tugenden - ein Streitgespräch über ihren Vorzug; in den Chören der Sophonisbe von Daniel Casper von Lohenstein bekämpfen sich am Ende des 1. Aktes Zwietracht, Liebe, Rache, Haß, Freude, Begierde, Schrecken, Neid und Furcht in Sophonisbens Seele; am Ende des 3. Aufzugs Wettstreiten Neid, Vernunft, Eifersucht, Narrheit und Verzweiflung; aber auch ein Tugend/Wollust-Streit ist in das Stück eingebaut. § 8. Die dialogische Dichtung des 18. J h . s ist durch mangelnde Einheitlichkeit gekennzeichnet. Die Ekloge lebt nach; für die Anakreontik (s. d.) ist das Thema des scherzhaften Streites zwischen Liebes- und Heiratsgott typisch; die Lyrik der späten Aufklärung nimmt die für das 17. Jh. so typische Form des Hirtenwechselgesangs wieder auf. Nach dem Muster Theokrits und Vergils sind z. B. Karl Wilhelm Ramlers (1725-1798) Der Mai ein Wettgesang und Das Fest des Dapbnis und der Daphne, ein Wettgesang. Auch Salomon Geßner (1730-1788) beruft sich auf Theokrit und nimmt Tradierung griech. Bukolik für sich in Anspruch. Er übernimmt aus ihr das gängige Motiv des Wettgesangs der Hirten: seine Idylle Dapbnis enthält den Wettstreit mehrerer Schäfer; dem Titelhelden fällt der Preis zu; in der späteren Idylle Lycas und Milon erhalten beide Kontrahenten den Preis. Eine Abwandlung dieses Motivs kennt der aus

Gespräch und Lyrik zusammengesetzte Roman Friedrich Leopold Stolbergs (1750-1819) Die Insel. Hier treffen sich zwei Freunde zum Sängerwettstreit; ein von beiden geliebtes Mädchen ist Schiedsrichter, ein Pferd der Preis. Im Grunde aber geht es um die Gunst des Mädchens, ein Moment, das im volkhaften Strang des Sängerwettstreits mit im Vordergrund steht. - Der alte Typus des Vorrangstreites taucht in den Lob- und Strafschriften des bedeutendsten Lyrikers zwischen Barock und Sturm und Drang Johann Christian Günthers (1695-1723) auf. Im Gelegenheitsgedicht Musicalisches Abendopfer (1721) streiten Phoebus, Mercurius und Mars um den „Danck vor Schlesiens noch sichre Zeiten". Die Klugheit spricht den Schiedsspruch: „Ein allgemeines Heil/Bekommt ja von euch allen Dreyn/ Von jedem sein gemeßnes Theil". In einem Gedicht zu einer Kaufmannshochzeit (1722) erzählt er eingangs einen Rangstreit vor Themis zwischen Wahrheit, Glück und Liebe „um Vorzug, Stärcke, Rang und Ruhm". Kampf um den Vorrang ist auch Kernbestandteil von Wielands psychologischem Frühroman Araspes und Panthea (1760). Im Wechselgesang besingen hier drei Sklavinnen spröde Abwehr, Glück und Klage der Liebe. Einen anderen Vorzugsstreit enthält die Geschichte des Agathon (1766), wo Danae einen Wettstreit der Sirenen und der Musen veranstaltet, in dem es um den Vorrang der Liebe geht, die auf Empfindung beruht oder der, die sich auf bloße Begierde gründet. Klopstock vergleicht messend und wertend die Gaben des englischen und dt. Volkes miteinander: Wir und Sie (1766); im Kranz (1782) geht es um Wettstreit mit den Griechen. Grundmotiv der Ode Der Hügel und der Hain (1767), in der Poet, Barde und Dichter der Gegenwart ein Wechselgespräch führen, ist ebenfalls diese Konfrontation. In der Ode Der Geschmack (1795) wetteifern die Sinne; das Streitgedicht Die Bildhauerkunst, die Malerey und die Dichtkunst (1804) sucht die am höchsten zu bewertende Kunst zu ermitteln. - Auf S.e kann auch hier - wie in früheren Zeitepochen so oft - erwähnend hingewiesen werden. In Wilhelm Meisters theatralischer Sendung (Weimarer Ausg. Abt. I Bd. 51, S. 126) wird z. B. von einem Gedicht gesprochen, „das irgendwo stecken muß", in dem tragische Dichtkunst und Gewerbe personifiziert um den Titelhelden streiten. Auf den Bekanntheitsgrad derartiger

Streitgedicht/ Streitgespräch S.e spielt die Bemerkung an: „Diese Erfindung ist gemein". § 9. In der R o m a n t i k , der Zeit der Freundschaftskulte, steht das Thema des Wechselgesangs im weitesten Sinne im Vordergrund. Dem S. kommt keine große Bedeutung zu. Weithin werden in der Lyrik der Zeit die lyrischen Formen der roman. Länder, die dem Wechselprinzip erwachsen sind, nachgeahmt. Im Bereich des S.s gelangt so auch die prov. Tenzone über Italien nach Deutschland. Als freundschaftlich-geselliges Spiel war sie zeitweilig z. B. in der von Hitzig 1824 gegründeten Berliner Mittwochsgesellschaft Mode, der u. a. Chamisso, Fouque, Varnhagen, Neumann angehörten. Die in solchen Zirkeln ,erspielten' Tenzonen wurden oft nicht gedruckt. Unter den veröffentlichten ist z. B. ein Wettstreit zwischen Simrock und Wilhelm Wackernagel über Kunst und Amt, wobei Gustav Schwab als Schiedsrichter fungierte und ein zweiter, bei dem Chamisso als Unparteiischer wirkte, über das Thema Schwert und Feder (Cottasches Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 1831). Auch Uhland und Rückert haben gemeinsam Tenzonen verfaßt: die erste (1816), in Fouques Frauentaschenbuch 1817 gedruckt, wirft die Frage auf, ob Treuebruch der Geliebten oder ihr Tod schlimmer sei; die zweite, Romanzen-Tenzon (1816) parodiert die Gattung. Die romant. Beschäftigung mit der Dichtung des MA.s führt auch zu Gestaltungen des WartburgkriegThemas. Fouque greift den Stoff auf und gestaltet ihn 1828 zum vierteiligen Dichterspiel Der Sängerkrieg auf der Wartburg. E. T. A. Hoffmanns Erzählung vom Kampf der Sänger (1817) beruht auf Wagenseils Meistersingerchronik und wirkte auf Richard Wagners Tannhäuser. Auch Otto Heinrich Graf von Loebens Roman Guido (1808) greift das Motiv des Sängerwettstreits auf (hier zwischen Kaiser Friedrich, Wolfram, Walther, Scharffenberg, Frauenlob). Vereinzelt nutzen die Romantiker das S. zu satirischen Zwecken. So gilt z. B. der Wettgesang am Schluß von A. W. Schlegels Aufsatz Matthison, VoßundF. W. A. Schmidt (1800 im Athenäum erschienen) als ein Meisterstück romant. Stilparodie. Die Romantik ist die letzte Stilepoche, die Formen des Wechselgesangs reich ausbildet; danach finden sich nur wenige, nicht zeittypische Beispiele (etwa dialogische Gedichte

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Georges). Das S., nach den Prinzipien des Wechselgesangs gestaltet, wird seitdem literarisch in keiner Form mehr gepflegt. Ein Sonderfall ist auch Bert Brechts Der Wettkampf des Homer und Hesiod (nach der Legende von Homer in den Übungsstücken für Schauspieler). Dieses Übungsstück gibt Schauspielern „die Gelegenheit, das Sprechen von Versen zu studieren und zugleich den Charakter zweier ehrgeiziger Greise zu zeichnen, die einen gestenreichen Kampf vorführen" {Versuche, H. 11, 1951, S. 125f.). § 10. Der v o l k s t ü m l i c h e Strang des S.s hat den literar. überdauert: er reicht in Ausläufern noch in unsere Zeit. So sind z. B. die Schnaderhüpfel (auch Gstanzl, Gsetzl) im bayer.-österr. Raum da noch lebendig, wo die traditionellen Dorfgemeinschaften noch intakt sind. Dieser Wett-Streit-Spottgesang (oft um Vorrang oder Liebe kreisend) wird aus dem Stegreif von Einzelsängern oder Gruppen (mit Vorsänger) vor- und ausgetragen. Uber den, der ,verspielt' hat (d. h. dem keine schlagfertige Entgegnung mehr einfällt), wird meist eine Strafe verhängt. Diese volkstümlichen Sängerwettstreite', Ausdruck eines gesellschaftlichen Urphänomens gleichsam, in uralter Tradition stehend, sind heute generell im Niedergang begriffen. Ihr Absterben läuft der Auflösung festgefügter, geschlossener Gemeinschaften, von denen sie abhängig sind, die sie bedingen, parallel. Diese Stegreif-Wettkämpfe, Kinder des Augenblicks, treten seit alters in der Volksdichtung aller Völker auf. Ein solches Wettsingen ist im alten Griechenland bezeugt; möglicherweise entwickelten sich dabei die der Unterhaltung dienenden Formen mündlicher Gesangswettkämpfe aus sozialgebundenen rituellen, etwa den iambischen Wechselreden beim Kult. In den roman. Ländern ist dieses Wettsingen, zumeist bei Festen und der Landarbeit vorgetragen, ebenfalls sehr weit verbreitet. Besonders häufig treten diese Wettkämpfe in Italien auf, zumeist in Strophen von 3, 4, 8 Zeilen, deren Bezeichnungen landschafts- wie formgebunden stark variieren. Auch hier siegt der, der den andern zum Verstummen bringt. Besonders bekannt sind die Lieder der Hirten der Toskana, aber auch Sizilien, Sardinien und Korsika gelten als brauchtümliche Zentren dieser Unterhaltungsform, ebenso Portugal. Das franz. Lothringen kannte bis an die Schwelle unseres Jh.s eine

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Variante, die das Wettsingen in die Spinnstube verlegt (daillement). Für die Bretagne sind Sängerwettspiele überwiegend bei mehrtägigen religiösen Feiern bezeugt. Auch im german. Bereich wird volkstümlicher Wettgesang überall gepflegt - in Skandinavien besonders bei Hochzeitsfeiern. Sogar mit dem Adventsbrauchtum können diese Wettkampf-Formen verflochten werden: so maßen sich die von Haus zu Haus ziehenden ,Klöckler' in Kärnten mit den jeweiligen Hausbewohnern im Wettreimen. Die Wechselbeziehungen zwischen volkstümlichem und literar. Strang des S.s sind in ihrer Gesamtheit nicht erforscht. Mit Sicherheit kann man von stetigem wechselseitigem Durchdringen ausgehen. Themen begegnen und überschneiden sich, Elemente werden ausgetauscht, literar. S.e können volkstümlich werden, wie volkstümliche Gestaltung Vorbild für Teile des literar. S.s werden kann. In seiner Gesamtheit ist das nichtliterar. S. noch weniger erforscht, dargestellt, vergleichend bearbeitet als das literarische, nicht zuletzt der Geringschätzung volkstüml. Lit. wegen, wie sie für die Germanistik bis in die letzten Jahrzehnte hinein kennzeichnend war. Folglich geht auch die Beschäftigung mit der Verknüpfung beider Stränge nicht über spärliche Ansätze hinaus. Sie rankt im wesentlichen um Theokrit und wird von der Frage ausgelöst, ob seine Hirtengesänge literar. Fiktion sind, oder den realen Gesang der Hirten nachgestalten. Eigenartigerweise fehlen für Griechenland Zeugnisse volkstümlichen Hirtenwettsingens. Zieht man Berichte über Wettgesänge der Hirten aus vielen Teilen der Welt vergleichend heran, zeigt sich, daß nahezu überall die Hirten Stegreifwettkämpfe pflegten. Bockel und Neumeister haben u. a. solche Hinweise unsystematisch zusammengetragen. Daneben existieren einige Einzelberichte, so von Wilhelm Radioff, der diese Formen spontaner geselliger Unterhaltung beim Hirtenvolk der Kasakkirgisen in Sibirien beschreibt (1893). Die Folgerung, die u. a. Merkelbach zieht, daß dann wohl auch für griech. Hirten dieser Stegreifgesang vorausgesetzt werden darf, liegt nahe. Im 5. Gedicht Theokrits, in dem zwei Hirten um die Wette singen, ein Holzhauer Schiedsrichter ist, läßt sich ein Hinweis auf volkstümliche Form finden: die einleitenden Worte ,Ich will fortwährend gegen dich singen, bis du aufgibst' formulieren gleichsam

die Grundhaltung, die Motivation wie Ablauf volkstümlicher Gesänge charakterisiert. So läßt sich vermuten, daß Theokrit die uralte Hirtenpoesie in die Sphäre der geschriebenen Lit. gehoben haben könnte, indem er den volkstümlichen Wettkampf nachbildete. Für die weitere Entwicklung aber muß deutlich hervorgehoben werden, daß die Gattung die Verbindung zur mündlichen Poesie völlig gelöst hat: die Bukolik folgt schon bald eigenen Gesetzen. Daß die Meistersinger auch aus der volkstümlichen Tradition, aus den dem geselligen Verkehr erwachsenen Wett-, Wunsch- u. Rätselliedern schöpften, ist gesichert; ebenso daß sich volkstümliche Formen ihrerseits am Meistersang orientierten. Bei Uhland finden sich beispielsweise Berichte über altes „volksmäßiges Kranzsingen", an MeistersängerTradition erinnernd; auch'Seb. Franck belegt in seinem Weltbuch (1542) diesen Brauch, der sogar verboten werden konnte (so z. B. durch Verordnungen des Rats von Freiburg von 1556, 1559, 1568). Für die Struktur des Fastnachtsspiels ist das literar. S. wie das volkstümliche Wettlied von besonderer Bedeutung: hier fließen also Elemente beider Stränge des S.s ein. Auch bekannte mal. S.e leben noch lange in volkhafter Tradition weiter: literarisches S. wird volkstümlich, insbesondere in der Form des V o l k s l i e d e s ; so sind eine ganze Anzahl von S.en in die Sammlung des Wunderborn aufgenommen. Und wieder ist es Uhland, der eingehend von noch „in neuerer Zeit" zu beiden Seiten des Ober- und Mittelrheins üblichen ländlichen Kampfspielen berichtet, die den Sommer/Winter-Streit darstellen; er weist für die Brauchtumslage seiner Zeit auf die noch lebendigen Gesprächslieder, Singund Kampfgespräche hin, die das Jahreszeitmotiv umranken. Rudolf Schenda (Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910, 1970) macht auf die Wirkkraft des dualistischen Prinzips aufmerksam, worauf auch die Beliebtheit von Streitgesprächen auf der Jahrmarktsbühne (wie im gedruckten Heftchen) basiert. Knapp umrissen, skizzenhaft, sind seine Beispiele, nur den italien. Sprachraum betreffend, wo im Contrasto z. B. Lebender und Toter; Mann und Frau; die Schöne und die Häßliche; Fuchs und Hahn; Leib und Seele; Sommer und Winter Wettstreiten. Er sieht in diesem Zusammen-

Streitgedicht/Streitgespräch hang Einflüsse derartiger Lit. bis in unsere Tage wirksam, ohne diese These durch Beispiele zu untermauern. Der Gesamtkomplex des S.s, des literar. wie außerliterar. bedarf eingehender, intensiver Erforschung. Erforderlich ist eine breit angelegte Gesamtschau, untergliedert und untermauert durch Einzelaspekte, die Fragen nach den Sonderformen, nach dem Charakter ihrer Variierung in einzelnen Epochen beantworten, und die Bedingung ihrer Entstehung klären: den literarischen, gesellschaftlichen, sozialen wie soziologischen Hinter- wie Untergrund, der sie bedingt, erhellen. Vergleichende Darstellung dominierender Motivgruppen und Formen der Gestaltung auf nationalsprachlicher wie gesamteuropäischer Ebene sind dabei ebenso erforderlich wie die Erarbeitung wechselseitiger Beeinflussung des literar. wie des außerliterar. Stranges durch die Jahrhunderte. Besonders vordringliche Aufgabe ist, aus der immens hohen Zahl von S.en aller Art, aller Epochen nach jeder Sicht beispielhafte Muster in Form einer Anthologie einem größeren Kreise vorzustellen und auch so auf diese interessante Gattung, die viel zu wenig bekannt ist, aufmerksam zu machen. § 1 1 . Verwiesen sei noch auf die mal. B i l d k u n s t , die gern und über längere Zeiträume hinweg Streitszenen symbolisiert. Die dargestellten Personifikationen treten dabei in zahllosen orts- wie mediengebundenen Varianten auf: eine Vielzahl von Interpretationsformen bildet sich heraus. Das Ecclesia/SynagogeStreitgespräch ist hier eines der zentralen Themen. Die Gestaltung dieser beiden allegorischen Figuren in ihrem Mit- und Gegeneinander, spiegelt zeit- wie gesellschaftsgebundene Auffassung vom Verhältnis zwischen Altem und Neuem Bund. - Die bildende Kunst sieht E. und S. meist als Frauen, oft als Königinnen, ausgestattet mit sprechenden, charakteristischen Attributen. Lange werden sie in Kreuzigungsszenen eingefügt. Später, durch liturgische Szenen und Mysterienspiele beeinflußt, wird das Thema gern mit dem der klugen und törichten Jungfrauen verbunden, wobei E. als Führerin der klugen fungiert. Das E.-S.-Thema tritt in der kirchlichen Kunst in nahezu allen traditionellen Ausdrucksformen auf; so ist es z. B. Hauptmotiv auf Elfenbeintafeln, Glasfenstern, kirchlichen Geräten aller Art; die Miniaturmalerei kennt das Motiv

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ebenso wie später die Monumentalplastik und die Bilderbibeln des 13.-15. Jh.s. - Als ältester Beleg einer E.-S.-Darstellung gelten eine geschnitzte Elfenbeintafel des frühen 9. Jh.s und das gleichzeitige Drogo-Sakramentarium. Das Thema erreichte durch mehrere in Metz gearbeitete Elfenbein-Buchdeckel des 9. und 10. Jh.s eine weite Verbreitung. Betrachtet man die Gesamtheit der Gestaltungsformen dieser Streitszenen streiflichtartig über die Jh.e hinweg hinsichtlich Aussage und Motivation, fallen zwei große gegeneinander gerichtete Grundtendenzen auf, die jeweils tragendes Prinzip der Gestaltung sind. Unter den frühen Elfenbeintafeln führt z. B. eine Gruppe die beiden Allegorien gleichrangig vor; unterscheidbar nur durch Bewegung und Embleme: hier hat die S. den Rang der Vorläuferin, E. den der Erfüllung; ihr Gegensatz versöhnt sich im Zeichen der Concordia, der Concordia Veteris et Novi Testamenti. Beide gelten hier als Glieder einer höheren Einheit, in die sie fest eingebunden sind. Hört man ihr Streitgespräch zwar förmlich, bleibt ihr Wortwechsel doch nur ein Einzelaspekt und - entscheidend - kein polemischer. Dieser Concordia-Gedanke wird später bei dem berühmten Fenster der Abteikirche von Saint Denis in besonders eindringlicher Form gestaltet. Unter dem Einfluß Bernhards von Clairvaux wird die Concordia bestimmend und grundlegend für die inhaltliche Konzeption, die die Monumentalplastik prägt und trägt; als bekannte, meisterhafte Werke sind hier die Gestalten an der Westfront der Kirche von Notre Dame zu Paris zu nennen, an der Kathedrale in Reims, am Nordportal des Bamberger Domes, am Südportal des Straßburger Münsters, in der Vorhalle des Münsters zu Freiburg. - Das der Concordia entgegengerichtete Gestaltungsprinzip ist in echter Polarisierung gleichzeitig mit ihr in der bildenden Kunst wirksam. Hier zeichnet sich im Verlaufe eine Entwicklung ab, die von einer Entfremdung der beiden Gestalten bis hin zu gehässiger Feindseligkeit führt: der Antagonismus wächst stetig, die Symmetrie der beiden Gestalten wird in zunehmendem Maße gestört, ihre höhere Einheit zunächst angefochten, dann negiert. Diese Haltung ist identisch der scharf antagonistischen Dialogform, die das literar. Streitgedicht Altercatio Ecclesiae et Synagogae kennzeichnet, das Werk eines unbekannten Verfassers, das wir in spätkarolingischer Form kennen (das aber älter sein

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Streitgedicht/Streitgespräch

kann). Hohe Wirksamkeit verlieh diesem Dokument die autoritative Stellung, in die es im 9. J h . durch den Einbau in den Gottesdienst der Osterwoche (im Bereich einiger Diözesen des fränk. Reiches) erhoben wurde, eine Position, die durch das ganze M A . hindurch unangetastet blieb. Durch diese Altercatio wurde die künftig dominierende Richtung der Grundhaltung früh festgelegt. Zwei historisch-politische Ereignisse fördern diese vorgeprägte Entwicklung entscheidend: die Wahl des Mönches Hildebrand zum Papst (1073) und die Kreuzzugsbewegung. Ein interessanter Aspekt ist, daß die concordiafeindliche Gestaltung ihren Schwerpunkt in der kirchlichen Kleinkunst hat, der ConcordiaGedanke am reinsten in der Monumentalplastik zum Ausdruck kommt. - Die Wirksamkeit der literar. Altercatio wird im weiteren Verlaufe durch die daran anknüpfende Ecclesia-Lit. gesteigert; seit dem 13. J h . gelangte das Thema dann völlig unter den Einfluß der Passionsspiele. Diese beliebten wie wirkungsvollen Aufführungen verschleppen E . und S. in einen Bereich, in dem Gehässigkeit ihr Verhältnis diktiert, in dem Concordia keinen Raum mehr hat. Nun aber verliert die religiöse Kunst zusehends ihr Interesse an diesen beiden Gestalten. Noch einmal wird das Thema in der gegenreformatorischen Bewegung aufgenommen, wo die polemische Interpretation S. zur überwundenen Haeresie macht, eine NeuInterpretierung, die in die barocken Darstellungen übergeht, wo E. oft die Gestalt eines Papstes oder des Paulus annimmt, die S. auch durch Moses oder den Hohepriester verkörpert wird. (Die beiden Allegorien konnten schon früher - selten zwar - als Männergestalten auftreten.) Auch die Karikatur des reformatorischen Glaubensstreites hat neue Formulierungen dieses alten Themas hervorgebracht: Darstellungen der S. als kath. oder protest. Kirche. Vielfach gestaltet wird daneben der Streit der Tugenden und Laster, der auch mit dem E.-S.-Thema verflochten werden konnte; dabei wird die Idee von Gut und Böse in der Gestalt personifizierter Tugenden und Laster auf physische Ebene gestellt. Auch hier-begegnet die weitverbreitete Neigung, ethische Abstrakta zu personifizieren. Die Psychomachia des Prudentius ist Ausgangs- und Kristallisationspunkt dieses Kampfes von Natur aus feindlicher Mächte, der in der bildenden Kunst auf

vielgestaltige Weise bis in die Renaissance lebendig ist. Ikonographische Aspekte variieren sehr breit; verschiedene Motivgruppen werden wechselnd miteinander verbunden: so kann das Herkules-Motiv mit einbezogen werden, wobei H . dann zum Symbol für die Virtus wird, oder die personifizierte Frau Welt, die alle irdischen Verlockungen symbolisiert. Zuletzt sei noch auf die Anziehungskraft verwiesen, die der Ackermann aus Böhmen auf die bildende Kunst ausübte. Zahlreiche Illustrationen interpretieren sein Thema, versuchen es nachzuempfinden, nachzugestalten. Auch für den Teilbereich der Wechselbeziehungen zwischen Dicht- und Bildkunst, den unser Thema deckt, gilt, daß es keine Konzeption einer umfassenden Gesamtdarstellung gibt, daß nur wenige Einzelaspekte streiflichtartig vorgestellt sind. Eine Darstellung dieser stetigen Wechselwirkung müßte auch die dramatische Gestaltung mit einbeziehen. K. G o e d e k e , Grundriß I, S. 267; II, S. 247. Ludw. U h l a n d , Über Wett- u. Wunschlieder, in: Uhland, Schriften zur Geschichte d. Dichtung u. Sage, hg. v. Franz Pfeiffer, Bd. 3 (1866) S. 181382. Gustav K l e i n e n , Über d. Streit von Leib u. Seele. Diss. Halle 1880. Heinrich K n o b l o c h , Die Streitgedichte im Provenzalischen u. Altfranzösischen. Diss. Breslau 1886. Ludwig Selbach, Das Streitgedicht in d. altprov. Lyrik u. s. Verhältnis zu ähnlichen Dichtungen anderer Litteraturen (1886). Rudolf Z e n k e r , Die prov. Tenzone. Diss. Erlangen 1888. A. J e a n r o y , La Tensonprovençale. Annales du midi. Bd. 2 (1890) S. 281-304; 441-462. Paul W e b e r , Geistliches Schauspiel u. kirchl. Kunst in ihrem Verhältnis erl. an e. Ikonographie d. Kirche u. Synagoge. E. kunsthistor. Studie (1894). Rudolf H i r z e l , Der Dialog. E. literarhistor. Versuch. 2 Teile (1895). Hermann J a n t z e n , Geschichte d. dt. Streitgedichtes im MA. (1896; GermAbh. 13). Otto B o c k e l , Psychologie d. Volksdichtung (1906). F. Fiset, Das altfranz. Jeu Parti. RomFschgn. 19 (1906) S. 407-544. Moritz S t e i n s c h n e i d e r , Rangstreit-Literatur (1908; SBAkWien 155,4). Hans W a l t h e r , Das Streitgedicht in d. lat. Lit. d. MA.s (1914; Quell, u. Unters, z. lat. Philol. d. MA.s 5,2). Ernst Blau, ,Death and Liffe'. E. Beitr. z. Streitgedichtforschung. (Masch.)Diss. Kiel 1922. Arthur L â n g f o r s , A. J e a n r o y u. L. B r a n d i n , Recueil général des jeux-partis français (Paris 1926; Soc. des anciens textes français 111). Joachim S t o r o s t , Ursprung u. Entwicklung d. altprov. Sirventes bis auf Bertran de Bom. (1931; Romanist. Arb. 17). Alfred J e a n r o y , La Poésie lyrique des troubadours, 2 Teile (Toulouse 1934).

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Bebermeyer

Strophe § 1. B e d e u t u n g s g e s c h i c h t e des W o r t e s S t r o p h e . — Str., aus dem griech. Real- analyse enthaltenen Normativität wegen komdefinition) und den deskriptiven Typ (Nomi- men diese auf Empirizität gerichteten Benaldefinition) kennzeichneten, zu verschie- trachtungen zu keinem methodischen Abdenen Arten von Argumentationsstrukturen. schluß. Von vornherein von Normen durchMan kann zusätzlich Makrostruktur und setzt, enden sie rasch wieder in einer Norm. Mikrostruktur von Argumenten unterscheiden: Daraus entsteht der normativ-deskriptive die M a k r o s t r u k t u r bezieht sich auf den Bau Mischcharakter der von den zentralen Prädi-

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katen dieser Theorien ausgehenden Makround Mikroargumentation. Die Makrostruktur der Argumentation einer normativen Lit.theorie geht vom zentralen normativen Prädikat und den dieses definierenden zentralen Bestimmungen (Strukturkern) aus. Das normative Prädikat erfährt durch zusätzliche spezielle definitorische Bestimmungen Verschärfungen in verschiedene Richtungen, z . B . die Verschärfungen des Prädikats „Literatur des Realismus" bei Lukäcs in „bürgerlich-realistische Literatur" und „sozialistisch-realistische Literatur": wir sprechen dann von verschiedenen Kernerweiterungen. Nun ist die Begrifflichkeit im Strukturkern und in den Kernerweiterungen nicht aus sich selbst verständlich, deshalb werden fortlaufend Bedeutungspostulate eingeschoben, welche die Terminologie erläutern. Z . B . erläutert Lukäcs seine definitorische Bestimmung: „Literatur des Realismus spiegelt die objektiven Gesetze der Wirklichkeit" durch die Bedeutungspostulate: „Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit heißt Widerspiegelung der Totalität der Wirklichkeit", „Widerspiegelung der Totalität der Wirklichkeit heißt Widerspiegelung der Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit". Diese Bedeutungspostulate verweisen auf der Lit.theorie übergeordnete Theorien, aus denen sie stammen, so aus einer in erster Ebene übergeordneten Ästhetik (L-theoretische Ebene) und aus einer in zweiter Ebene übergeordneten philosophischen Theorie (L*-theoretische Ebene). Im Fall der Lit.theorie von Lukäcs sind dies die Marx-Engels-Ästhetik und die marxistische Theorie des dialektischen Materialismus. Über die Bedeutungspostulate gelangen die Normen dieser allgemeineren Theorien in die Lit.theorie, und zwar stellt diese mit ihrem Strukturkern eine Spezialtheorie zur allgemeineren Ästhetik dar. Typisch für normative Lit.theorien ist ferner, daß, abgesehen von sporadischen intuitiven Verfahren zur Prüfung der deskriptiven Aussagen, jeder methodische Apparat fehlt. Nun darf man von normativen Lit.theorien nicht ohne weiteres Methodik erwarten, dafür aber etwas anderes. Das methodologische Postulat, das an sie gestellt werden muß, fordert, daß die vorkommenden Normen explizit angegeben und rational begründet werden. Rationale Begründung verlangt keine endgültige Rechtfertigung, was philosophisch

unmöglich ist, sondern eine Motivation der Ziele der Theorie. Eine solche Motivation ist rational, wenn sie von mehreren Personen für einen bestimmten Zeitraum bezüglich bestimmter Zwecke anerkannt und konventionalisiert werden kann. Die genannten normativen Lit.theorien erfüllen dieses Postulat nicht, da sie Normen entweder nicht angeben oder angegebene Normen nicht begründen oder irrationale, weil absolut gültige Begründungen zu liefern versuchen. § 15. Bei der A r g u m e n t a t i o n normativer Literaturtheorien auf M i k r o e b e n e treten statt abstrakter definitorischer Bestimmungen konkrete Satzgebilde auf. Sie stellen die pragmatische Verwendung normativer Lit.theorien dar und zeigen drei typische Ausprägungen: den literaturkritischen, den literaturdidaktischen und den literaturgeschichtlichen Argumentationstyp. Der interpretative Argumentationstyp ist hierbei nur eine Spielart des literaturkritischen, da er ebenso von normativen Annahmen durchzogen ist. Jeder Typ ist, gemäß dem Doppelcharakter der Realdefinition, ein komplexer, jeweils andersartiger Zusammenhang von normativen und deskriptiven Sätzen. Bei der literaturkritischen Argumentation werden deskriptive Behauptungen als Voraussetzungen für die literaturkritischen benutzt, d.h. erst wird untersucht, ob ein einzelnes Lit.werk alle Merkmale besitzt, welche die Theorie angibt, und ist das der Fall, wird es positiv bewertet. Treffen nur einige oder keine der deskriptiven Behauptungen zu, wird die negative Wertung eingeführt. Man kann dieses Vorgehen an Lukäcs' „Interpretationen" verfolgen, die darin bestehen, einzelne Werke von Balzac, Gorki, Goethe u.a. unter die Merkmalsbestimmung seiner Theorie zu subsumieren und dann positiv als „Literatur des Realismus" zu bewerten. Der literaturdidaktische Argumentationstyp hat dagegen programmatischen Zweck. Seine Eigentümlichkeit besteht darin, daß er entweder auf der Grundlage einer literaturkrit. Argumentation eine Metanorm einführt, die besagt, daß nun gemäß den positiven Beispielen der Lit.kritik gedichtet werden soll (regressiver Typ), oder daß er unabhängig von Lit.kritik, sozusagen ab ovo, Normen aufstellt, verbunden mit der Metanorm, daß nun gemäß diesen ganz neuartigen Normen gedichtet werden soll (progressiver

Terminologie Typ). Die l i t e r a t u r g e s c h i c h t l i c h e Argumentation ist dagegen ein komplexes Gefüge aus den bisher genannten Arten von Argumentation: Sie pflegt in der Regel sowohl deskriptive wie literaturkrit. Behauptungen in subtiler literaturdidakt. Absicht zu verwenden. Der Anteil an deskriptiven Behauptungen ist relativ groß, weil eine Reihe von literar. Gesamtwerken in chronologischer Abfolge dargestellt wird. Die unvermeidliche Selektion bei dieser Darstellung wird von literaturkrit. Behauptungen geleitet. Am Ende kommen in sog. „Ausblicken" oder „Perspektiven" oder „Schlußfolgerungen" die literaturdidakt. Behauptungen zum Vorschein. § 16. Die A r g u m e n t a t i o n s s t r u k t u r , die vom deskriptiven T y p der Begriffsbildung ausgeht, liefert in der M a k r o s t r u k t u r den Aufbau des deskriptiven Theorietyps. Dieser besitzt im Strukturkern nur deskriptive definitorische Bestimmungen. In dieser allgemeinen Form, wie die Begrifflichkeit im Strukturkern auftritt, ist sie jedoch noch nicht prüfbar. Prüfbarkeit aller Behauptungen ist das methodologische Postulat, dem sich deskriptive Lit.theorien unterwerfen; es müssen daher besondere Maßnahmen getroffen werden, um die Prüfbarkeit zu garantieren. Eine solche ist der Analyseapparat, der nun eingeschoben wird, um die allgemeinen Bestimmungen des Strukturkerns mittels bestimmter Präzisierungsverfahren in detaillierte Bestimmungen zu überführen. Ein Beispiel für ein solches Vorgehen zeigt die Lit.theorie von Levin, wo der allgemeine intuitive Begriff „Komprimiertheit" mit Hilfe des Apparats der Generativen Transformationsgrammatik in den präzisen Begriff der nicht-rekonstruierbaren Tilgung überführt wird. Auch dieser Begriff kann dann wieder aufgegliedert und dabei präzisiert werden. Wie die Bedeutungspostulate bei normativen Lit.theorien auf die der Theorie T übergeordneten theoret. Ebenen L und L* verweisen, so verweist der Analyseapparat bei den skriptiven Lit.theorien ebenfalls auf übergeordnete L- oder L*-Theorien: L-Theorie im Fall von Levins Lit.theorie ist z.B. die Theorie der Generativen Transformationsgrammatik, aus der einige Teile als Analyseapparat dienen. Der entscheidende Unterschied gegenüber dem Bau normativer Lit.theorien ist dann die Einführung der Prüfungsmethoden. Diese müssen so angegliedert

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werden, daß sie jede konkrete Bestimmung erfassen; andernfalls bleiben unüberprüfte Behauptungen übrig, was den wissenschaftl. Wert einer solchen Lit.theorie erheblich reduziert. Prüfungsmethoden, die eine Lit.theorie mit linguist. Analyseapparat benutzt, sind naturgemäß selbst technische linguist. Verfahren, die auf dem Boden linguist. Theorien entwickelt wurden, aber unabhängig von ihr sind. Die Unabhängigkeit der Methoden von den Theorien ist der entscheidende Punkt, um Bestätigungszirkel bei der Prüfung theoret. Behauptungen zu vermeiden. Es läßt sich leicht feststellen, ob eine Methode von der Theorie, die sie prüft, unabhängig ist: Da Methoden ihrerseits eigene, voll entwickelte Theorien sind (gegenüber den intuitiven Verfahren der traditionellen Lit.wiss.), besitzen sie eigene Strukturkerne, in denen keine definitorische Bestimmung mit einer definitorischen Bestimmung der zu prüfenden Theorie identisch ist. Ihr Unterschied gegenüber der T-Theorie besteht darin, daß sie direkt über den Objektbereich arbeiten. Die Methoden leisten die Prüfung und garantieren damit, daß die deskriptiven Behauptungen der Theorie empirischen Gehalt bekommen. Diese haben den Charakter von Strukturanalysen, nicht mehr von „Interpretationen" im herkömmlichen Sinn. „Strukturanalyse" beschränkt sich hierbei nicht nur auf die Analyse linguist. Strukturen, sondern bezieht auch, etwa bei einer auf einer Kommunikationstheorie aufbauenden Lit.theorie, psycho-soziale Strukturen wie z.B. „literar. Produktion", „literar. Rezeption", „literar. Vermarktung", usw. ein. Literaturkrit., literaturdidakt. und literaturgeschichtl. Argumentationen fehlen naturgemäß wegen der Abwesenheit eines Normensystems. § 17. Die M i k r o s t r u k t u r der A r g u m e n t a t i o n einer d e s k r i p t i v e n L i t . t h e o r i e liegt bereits im Feld der pragmatischen Verwendung und besteht im Prinzip aus der Gewinnung von Hypothesen mit Hilfe der Begrifflichkeit der definitorischen Bestimmungen des Strukturkerns. Die allgemeinste Hypothese ist die, daß alle von der Lit.theorie genannten Merkmale für „Literatur" auf alle existierenden Lit.werke zutreffen. Das ist eine Allaussage von Gesetzescharakter. Sämtliche angeschlossenen Einzeluntersuchungen dienen nur dazu, die Richtigkeit dieser Allaussage zu

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Terminologie

erweisen und damit die Adäquatheit der Definition des zentralen Prädikats zu zeigen. Jede Einzeluntersuchung geht dabei von einer Arbeits- oder Haupthypothese aus, die besagt, daß a l l e von der Literaturtheorie genannten Merkmale auf e i n bestimmtes, als Objekt ins Auge gefaßtes Lit.werk x zutreffen. Diese Haupthypothesen sind immer Sätze mit gemischten Quantoren, d . h . weder reine Allsätze, noch reine singuläre Sätze. Von der Haupthypothese einer Untersuchung hängen dann logisch die verschiedenen Einzelhypothesen ab, welche das Zutreffen der je einzelnen Merkmale der Lit.theorie auf das Werk x behaupten. Diese sind singuläre Sätze wie alle weiter untergeordneten Hypothesen. Der Aufgliederungsprozeß der Hypothesen einer konkreten Untersuchung heißt H y p o t h e s e n s y s t e m a t i s i e r u n g ; er macht die deduktiven Abhängigkeiten der einzelnen Hypothesen untereinander sichtbar. Von der Gewinnung der Einzelhypothesen aus führt dieser Prozeß zu immer spezielleren Unterhypothesen, bis als Endpunkte detaillierte Basissätze erreicht sind. Basissätze sind die speziellsten Sätze einer deskriptiven lit.wiss. Untersuchung, sie stellen konkrete Behauptungen über ein ganz bestimmtes Faktum am Werk x auf. Deshalb sind sie leicht nachprüfbar, und der Anschluß der Methoden zur Prüfung kann erfolgen. Nach der H y p o t h e s e n p r ü f u n g wird den einzelnen Basissätzen Bestätigung zugeschrieben, die sich auf die übergeordneten Hypothesen nach bestimmten logischen Gesetzen überträgt. Hypothesensystematisierung ist prinzipiell auch bei normativen Lit.theorien durchführbar. Allerdings zeigt sie wegen des Fehlens des Analyseapparats, der bei der Aufgliederung hilft, nur wenige Schritte. Statt der methodischen Prüfung folgt dann die Einführung der Werturteile. Bei deskriptiven Lit.theorien ist dagegen zusätzlich zu beachten, daß sie, wie am Beispiel Levin gezeigt, Nominaldefinitionen auf der Grundlage intuitiver Definitionen festlegen. Die Adäquatheitsbetrachtungen verlaufen deshalb nicht nur zwischen dem Objektbereich und dem Begriff der „nicht rekonstruierbaren Tilgung", sondern sie berücksichtigen zugleich, ob der Begriff „nicht rekonstruierbare Tilgung" den Umfang des Begriffs „Komprimiertheit" bezüglich des von der Theorie intendierten Objektbereichs wiedergibt.

Wilh. K. Essler, Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Definition u. Reduktion (1970). Wolfgang Stegmüller, Probleme u. Resultate d. Wissenschaftstheorie u. Analytischen Philosophie. Bd. 2 (19701973), Kap. 1. Rudolf C a r n a p , The Methodological Character of Theoretical Concepts, in: The Foundation of Science and the Concepts of Psycholo g y and Psychoanalysis. Ed. by Herbert Feigl and Michael Scriven (Minneapolis 1956; Minnesota Studies in the Philosophy of Science 1) S. 38-76 u. d. Darstellung in W. S t e g m ü l l e r Bd. 2, Kap. 5. Joseph D. Sneed, The Logical Structure of Mathematical Physics (Dordrecht 1971) u. d. Darstellung in W. S t e g m ü l l e r Bd. 2, Teil D u. E. - W i l h . D i l t h e y , Studien zur Grundlegung d. Geisteswissenschaften, in: Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. 7 (1927) S. 3-75. Ders., Der Aufhau d. geschichtl. Welt in d. Geisteswissenschaften, ebda Bd. 7 (1927) S. 79-188. Ders., Die Typen d. Weltanschauung u. ihre Ausbildung in d. metaphys. Systemen, ebda Bd. 8 (1931) S. 75-118. Roman Ingarden, Das literar. Kunstwerk (1931; 2. Aufl. I960). Georg Lukâcs, Schriften z. Literatursoziologie. Hg. v. Peter Ludz (5. Aufl. 1972; Soziolog. Texte 9). Ders., Die Grablegung d. alten Deutschland. Essays z. dt. Lit. d. 19. Jh.s. Hg. v. Ernesto Grassi (1967; 3. Aufl. 1972; rde 276). Theodor W. A d o r n o , Ästhetische Theorie (1970; 2. Aufl. 1972; Adorno: Ges. Schriften 7). Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: Freud, Ges. Werke. Bd. 2/3 (1942; 3. Aufl. 1961). Reinhold W o l f f , Versuch e. Systematik, in: Psychoanalyt. Literaturkritik. Hg. v. R. Wolff (1975; Krit. Information 27) S. 414-452. Marianne W ü n s c h , Zur Kritik d. psychoanalyt. Textanalyse, in: Methoden d. Textanalyse. Hg. v. Wolfgang Klein (1977; medium literatur 3) S. 45-60. Northrop Frye, Analyse d. Literaturkritik (1964; Sprache u. Lit. 15). Roman J a k o b s o n , Linguistik u. Poetik, in: Literaturwiss. u. Linguistik. Hg. v. Jens Ihwe. Bd. 1 (1972) S. 99-135. Ders., Der grammatische Bau d. Gedichtes von B. Brecht ,Wir sind sie', in: Strukturalismus als interprétatives Verfahren. Hg. v. Helga Gallas (1972; Slg. Luchterhand 35) S. 35-56. Samuel R. Levin, Die Analyse d. ,komprimierten' Stils in d. Poesie. LiLi 1 (1971), H. 3, S. 59-80. Ders., Statistische u. determinierte Abweichung in poet. Sprache, in: Mathematik u. Dichtung. Hg. v. Helmut Kreuzer u. Rul Gunzenhäuser (2. Aufl. 1967) S. 33-47. — Heide G ö t t n e r , Logik d. Interpretation (1973; Münchner Univ.Schriften, Phil.Fak. 11). Dies. u. Joachim Jacobs, Der logische Bau von Literaturtheorien (1978; Krit. Information 54). Vgl. zur Verschränkung von Analytizität und Empirizität bei wiss. Begriffsbildung W. S t e g m ü l l e r Bd. 2, Kap. 2.

Heide

Göttner

Teufelliteratur Teufelliteratur § 1. Gattungsbegriff, Definition. I. Grundlagen, Bedingungen, Voraussetzungen: § 2. Das literar. Teufelmotiv: Herkunft, Bedeutung, Stellung. Aspekte der Forschungsgeschichte. Forschungslage und -notwendigkeiten. § 3. Das außerliterar. Teufelmotiv als Grundlage des literar. Motivs. Strukturen des Teufelglaubens in zeitlicher Schichtung. § 4. Funktionen d. literar. Teufels in zeitbedingten wie gattungstypischen Äußerungen und daraus resultierenden Manifestationsformen. II. Literar. Gestaltungsformen des Teufelmotivs in histor. Schichtung: § 5. MA. und Spätma. (Antichristspiel, Spiegel, Narrenlit.) § 6. 16. Jh. (Teufelbücher, Erzähllit., Antichristdrama). § 7. 17. Jh. (Teufelbücher u. Protestant. Erzähllit.; neue Akzente, Ansatzpunkte, Konzeptionen: Suche nach einer Teufelpersönlichkeit; der Satan Miltons und seine Tradierung; der Satan in der Barocklit. d. roman. Länder; Jesuitendrama, Wanderbühnen). § 8. Die Entwicklung seit dem 18. Jh. bis zur Gegenwart (Aufklärung, Romantik, Goethes Mephisto, Fauststoff und -tradition, neue Teufeltypen, franz. Tradition des Satanismus, Renouveau catholique). § 9. Das Teufelmotiv in den sog. volkstümlichen Gattungen. § 1. Der von Karl Goedeke (1859) formulierte und seitdem gültige G a t t u n g s b e g r i f f T . ist per definitionem streng auf die LasterteufelBücher der 2. H . des 16. J h . s begrenzt, die damit deutlich von den zeitgenöss. auf einen Einzelfall zugeschnittenen .Tatsachenberichten', die in Form flugblattartiger Drucke umgingen, abgehoben werden (s. Flugschrift). Diese Gattung ist keine retrospektive Schöpfung literargeschichtl. Betrachtensweise des 19. J h . s ; sie umfaßte bereits zu ihrer Blütezeit .Teufelbuch' und .Teufel', wobei unerheblich war, daß seit dem M A . gelegentlich auch Bücher der weißen und schwarzen Magie, geheime Schriften der höllischen Kunst als .teuflische Bücher' oder .Teufelbücher' bezeichnet wurden. Als gattungsbildendes Agens fungierte bei diesem Lit.zweig nicht die Form, deren Variationsbreite von gedruckten Predigten, Sendbriefen, Lehrgedichten über Moraltraktate bis zu Kompendien reicht, sondern der Inhalt. Man kann dabei von der „Arbeitshypothese" Bernhard O h s e s (Die Teufelliteratur zwischen Brant und Luther, Diss. Berlin F U 1961) ausgehen: „1. Zur T . gehören solche Schriften, denen die Vorstellung zugrundeliegt, daß jedes Laster, jeder

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Mißstand von einem Spezialteufel herrührt oder durch ihn verkörpert wird. 2. Diese Schriften haben jeweils einen Spezialteufel oder das dazugehörige Laster zum Thema. (Gelegentlich sind in einer Schrift mehrere Unterteufel zusammengefaßt.) 3. Die Schriften sind jeweils nach einem Spezialteufel benannt. 4. Der Spezialteufel und sein Laster werden gewöhnlich als Hauptgrund für die allgemeine Verkehrtheit der Welt angesehen. 5. Der Spezialteufel wird dabei im weitesten Sinne religiös verstanden, d. h. als Widersacher einer Gottesordnung aufgefaßt" (S. 13). Nach Ohse berechtigt uns „erst die besondere Teufelvorstellung, dargeboten im Gewand des Spezialteufels, von der T . als von einer eigenen Gattung zu sprechen" (S. 13). Der terminologische Gebrauch des Wortes T . und die gattungsspezifischen Zuordnungen sind jedoch in der Forschung nicht einheitlich; vielfach wird der Begriff mit anderen Inhalten gefüllt, mitunter auch gedankenlos tradiert. Gero von W i lp e rt (Sachwörterbuch der Literatur, seit 1955) lehnt sich eng an Goedeke an und definiert T. als Abteilung der Rügedichtung in der speziellen Protestant. Ausprägung der 2. H. des 16. Jh.s. Heinrich Grimm (Die dt. 'Teufelbücher' d. 16. Jh.s, in: Arch. f. Gesch. d. Buchwesens, Bd. 2, 1959/60, 5. 513-570) nennt die .Lasterteufel' variierend .Teufelbücher', .eigentliches Teufelbuch', ,Teufelschriften', ,Teufelliteratur' und betont ihre Gattungsmäßigkeit durch rigorose Abgrenzung gegenüber „vorwiegend homiletischen" Schriften. Im Kleinen literar. Lexikon (3. Aufl. hg. v. Horst Rüdiger und Erwin Koppen, 1951, T. 1: Sachbegriffe) tritt T. als weitgefaßter, Undefinierter Sammelbegriff auf, während die Lasterteufel-Bücher unter den Begriff .Teufelbücher' gestellt werden (mit einem Hinweis auf Goedeke, der dafür ,Teufelliteratur' prägte). Auch Ria Stambaugh (Teufelbücher in Auswahl, seit 1970) verwendet in ihrem Nachwort den Begriff ,Teufelbuch' für diesen auch in ihrer Sicht in sich geschlossenen Lit.zweig, ohne Kriterien anzugeben. Das Handbuch Volkserzählung und Reformation (hg. v. Wolfgang Brückner, 1974) faßt die Exempel, Legenden, Sagen und Schwanke der Zeit, in denen der Teufel eine tragende Rolle spielt, als .Teufelerzählungen' zusammen; die ,Lasterteufel-Bücher' werden .Teufelschriften' genannt und definitorisch als „die Gattung der Protestant. Teufelliteratur in der 2. H. des 16. Jh.s" umschrieben, womit sie zutreffend als Teil einem größeren Ganzen untergeordnet werden. Sinnvoll wie zweckmäßig wäre es, die ,Lasterteufel-Bücher' des 16. Jh.s — an die terminologisch fixierte Auffassung der Blüte-

Teufelliteratur

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zeit anknüpfend — einheitlich mit dem histor. Begriff , T e u f e l b u c h ' zu belegen. Die TeufelGeschichten im weitgespannten Rahmen volkstümlicher und volksnaher Erzähllit. ließen sich unter dem Begriff , T e u f e l e r z ä h lung' umgreifend fassen, mit differenzierenden Untergliederungen wie .Teufellegende', ,Teufelsage', ,Teufelmärchen' etc., Begriffe, die vielfach bereits ohne festgelegte Definitionsbasis benutzt werden. Die Szenen der mal. Spiele, die vom Teufel und seinen Mitund Unterteufeln beherrscht werden, werden in der Lit. einheitlich mit dem Terminus ,Teuf e l s p i e l e ' belegt. T . sollte, der gattungsbegrifflichen Klarheit wegen, nur als summar i s c h e ! R a h m e n b e g r i f f für das Spektrum vielfältiger und vielschichtiger allgemein-literar. Teufelgestaltungen verwendet werden. Die Auseinandersetzungen mit der Gestalt des Teufels wie ihre Nutzung sind im Rahmen dichterischer Formungen so differenziert, so uneinheitlich, auch unterschiedlichen, stets variablen zeit- wie gattungsspezifischen Motivationen verhaftet sowie in hohem Maße individueller formerischer Gestaltung unterworfen, daß sie in keinen engen Gattungsbegriff gepreßt werden können. Hier empfiehlt es sich, den divergierenden Komplex unter motivspezifische Aspekte zu stellen, und vom , T e u f e l m o t i v ' in der Dichtung zu sprechen.

I.

Grundlagen, setzungen.

Bedingungen,

Voraus-

§ 2. Das literarisch bedeutsame Teufelmotiv ist kein lit.spezifisches, sondern ein außerliterarisches, eng mit existenziellen Grundfragen verknüpftes Motiv, das, vorgeformt aufgegriffen, literarisch weitergeführt und zahllos abgewandelt wird. Das Interesse der Menschen an der literar. Bearbeitung und Bewältigung dieses Themas ist durch die Jh.e lebendig geblieben; kein anderes literar. Motiv hat die Emotionen mehr bewegt und erregt, und es gibt kein anderes, bei dem sich jeder zu einem Urteil kompetent fühlt. Der Einfluß teuflischer Vorstellungswelten auf die Gemüter spiegelt sich in ihrer literar. Ausprägung, wobei sich zeitspezifische Gewichtungen ergeben: es gibt ausgesprochene — und nicht selten auch so apostrophierte — ,SatansZeiten', wie etwa das ausgehende MA. und das Jh. der Reformation. Zeiten, die sich vermehrt diesem Themenkomplex zuwenden, sind

Krisenzeiten, Zeitabschnitte, in denen sich die Menschen subjektiv wie objektiv in tiefer Bedrängnis fühlen, sich existenzieller Gefährdung ausgesetzt sehen. Daneben stehen — in polarer Gegensätzlichkeit — Zeitabschnitte, in denen, getragen von optimistischen Grundstimmungen, alles Teuflische überdeckt erscheint. In der literar. Ausprägung rücken zeit- wie situationsbedingt einzelne Gattungen als Träger spezifischer Ausformungen in den Vordergrund. So kommt es, daß nicht nur allgemein die Zahl der Teufel, die antreten, den Menschen Gott zu entfremden, unvorstellbar groß ist, daß vielmehr auch die Schar typisierter literatur. Teufelsgestalten in einem IV2 Jahrtausende umfassenden Zeitraum, in dem der Satan und seine Helferscharen Themen der Lit. sind, stetig angewachsen ist. Der Teufel hat Geschichte und Weltgeschichte gemacht, auch in literar. Sicht: so vermochte André Gide gar provozierend die These aufzustellen, daß kein Kunstwerk ohne Mitwirkung des Teufels entstehe. Jedenfalls hat das Teufelmotiv eine solche Affinität zur Lit., daß die Frage, ob etwa ein geheimer Pakt zwischen dem Teufel und der Lit. bestehe, durchaus ihre ironischsatir. Berechtigung hat. Der kath. Philosoph Giovanni Papini mochte es geradezu als Verdienst der Dichtung sehen, die diabolische Strategie des Teufels, seine Existenz in Vergessenheit zu bringen, durch stetiges erneutes Aufgreifen zunichte gemacht zu haben. Umso verwunderlicher muß es daher erscheinen, daß die Lit.gesch. sich nie ernsthaft um eine umfassende Darstellung dieses Motivs bemüht hat, das in europäischen wie außereuropäischen Dimensionen zu sehen ist. Auch eine Bibliographie als grundlegende Voraussetzung zur deskriptiven Erfassung des Motivs besteht nur in Ansätzen: Günther M a h a l stellt (1972) im Rahmen seiner dem Mephisto-Thema gewidmeten Dissertation ca. 600 literar. Titel zusammen, die Werke umfassen, in denen ein oder mehrere Teufel auftreten, sowie solche, die den Teufel nur im Titel führen; für die Zeit von 1050-1250 hat Helene Z i e r e n eine entsprechende Zusammenstellung versucht. Es fehlen geschlossene Darstellungen der Motivbehandlung im Verlauf einzelner Epochen sowie im Bereich der verschiedenen Gattungen unter Herausarbeitung wechselseitiger Abhängigkeitsstrukturen und Erarbeitung des historisch-soziologischen wie weltanschauli-

Teufelliteratur chen Hintergrundes. Nur kleinere und kleinste Einzelthemen wurden bisher behandelt: so sind wesentliche Aspekte des Sagen- und Märchen-Teufels erhellt, Erscheinungsformen des Schwank-Teufels erkannt, Aspekte der Erzähllit. unter diesem Gesichtspunkt überblickartig gestreift und Teilkomplexe der ,Hexenliteratur' beschrieben, wobei die vielfältige Behandlung dieser stoff- und geistesgeschichtl. Themen zu wenig interdisziplinär, nicht selten sogar in offener Frontstellung der Fachdisziplinen gegeneinander erfolgte. Eingehender wurden nur die Teufelbücher behandelt, doch gerade hier werden die ideologisch bedingten Fixierungen und Differenzen der einzelnen Fachdisziplinen besonders augenfällig. Ist das wechselnde theologische Weltbild, dem das Teufel-Thema erwächst, wenigstens in Grundzügen im Rahmen vieler Einzelarbeiten umrissen, fehlt die Erfassung der jeweiligen zeitimmanenten soziologischen Basis völlig. Auch eine eng damit verknüpfte, literarisch, soziologisch, theologisch wie historisch bedeutsame wie aufschlußreiche Geschichte der Verteufelungen fehlt, die einen Überblick zu geben vermöchte über die endlose Zahl von Menschen-Teufeln, von tierischen Teufelshelfern, sowie den dem Bereiche des Unbelebten entstammenden, zu Personifikationen erhobenen Dienern Satans in ihrer ganzen zeitbedingten wie -abhängigen Ausprägungsvielfalt. Der umfassenden wissenschaftl. Behandlung des gesamten Teufelthemen-Komplexes standen bis in unser Jh. theologisch wie soziologisch-politisch motivierte Rücksichtnahmen entgegen. Zum einen konnte dem Bearbeiter — auch bei sachlich-objektiver Behandlung eines literar. Motivaspekts — Identifikation mit dieser Sicht unterstellt werden, ein Vorgehen, das manches Risiko barg, besonders dann, wenn es die Existenz des Teufels infragestellte; zum andern beanspruchte die Theologie weithin Kompetenz und Vorrang auch bei der Wertung literar. Teufelgestalten. Die allgemein-wissenschaftliche wie speziell-literar. Behandlung des Hexenkomplexes, dieser Teufelshelfer par excellence, zeigt besonders exemplarisch und kraß die Verflechtung mit sozialpolit. Geschehen wie theolog. Dogmen und Doktrinen und ist bis heute ein brisantes Thema geblieben, das unkontrollierbare Emotionen von einzelnen wie Institutionen

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freizusetzen vermag. Aber auch die tiefe existenzielle Abhängigkeit einer Vielzahl von Menschen vom theologisch fixierten Teufel hat eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema behindert, auch wenn diese menschlichen Grundängste nicht immer direkt bewußt, sondern vielfach nur unterschwellig wirksam waren. Wie wichtig die umgreifende Abhandlung dieses Themas ist, kommt schon darin zum Ausdruck, daß der Mensch in all seinen Äußerungen zum Teufel zugleich Wesenhaftes und Bedeutsames über sich selbst und seine Bedingtheiten aussagt. Auch vom Geist einer Zeit, einer Epoche, eines Dichters, eines Autors erfahren wir durch die jeweiligen Teufelgestalten mehr als aus vielen anderen Quellen, zumindest aber Wesentlicheres, Grundsätzlicheres. Wie schwierig sich die Geschichte des Teufelmotivs darstellt, mag an einem Teilbereich, der Teufelerzählung, sichtbar werden. Hier müßte erst einmal ein unermeßliches Material gesichtet werden; man denke dabei nur an die Fülle der Volkserzählungen, die das 19. Jh. zusammengetragen hat, wobei vor allem die histor. Schichten des Erzählguts auszuweisen wären. Auch der verhältnismäßig guten Erarbeitung der Teufelbücher gingen langwierige Erfassungen und Aufbereitungen mittel- und nachmal. Quellen voraus, wie sie (nach Ansätzen H. B. Schindlers) besonders vom Basler Historiker Carl M e y e r durch sein 1884 erschienenes Buch Der Aberglaube des MA.s und der nächstfolgenden Jahrzehnte (Nachdr. 1971), einem von antimythologischer Reaktion getragenen Werk, erbracht wurde. Speziell den Quellen des 16. Jh.s gewidmet war erst ein anonymer Artikel in den Historisch-politischen Blättern 1861 (u.d.T. Luther und das Zauberwesen) sowie das Werk des protestant. Theologieprofessors Gustav R o s k o f f , das inhaltlich-methodisch Gustav Freytag (s. Lit. zu § 6) verpflichtet ist und kulturhistorische Aspekte aufzeigt. Die tiefgreifende Polemik im gesamten Umfeld des Kulturkampfes beendete viele Ansätze, die zum großen Teil nicht wieder aufgegriffen wurden. Das Schrifttum über die Lasterteufel, die protestant. Teufelbücher der 2. H. des 16. Jh.s, hat Karl G o e d e k e mit seiner Bibliographie entscheidend angeregt (Grundriß, Bd. 2, 1. Aufl. 1859, S. 380ff.; 2. Aufl. 1886, II, 479-483). Diese Bibliographie beruht auf Vorarbeiten anderer Autoren, doch ist es Goedekes Verdienst, richtungweisende Grund- und Leitsätze aufgestellt, Akzente gesetzt und dem Thema zum Durchbruch verholfen zu haben. Um einen möglichst vollständigen Nachweis der Teufelbücher hatte sich bereits F. A. Ebert bemüht (Allgemeines Bibliographisches Lexikon, Bd. 2, 1830, Sp. 929-932), ebenso J. G. Th. G r ä s s e

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Teufelliteratur

(Bibliotheca Magica et Pneumatica, 1843, Kap. III, IV, VII, XVII). 1960 legte Heinrich G r i m m eine dem heutigen Wissensstand adäquate Bibliographie der Teufelbücher (Die dt. Teufelbücher d. 16. Jh.s) vor. Einen literarhistor. Bearbeiter hatte Goedekes Bibliographie 1893 in Max O s b o r n gefunden, dessen Ergebnisse die Sicht der Germanistik weithin bestimmten, obgleich er die Gattung einseitig als direkt aus Luther hergeleitete moralisierende Pastorenlit. verstand. Die Arbeit von Bernhard O h s e (1961) stellt bei der Frage nach den geistigen Wurzeln der Teufelbücher den Aspekt ihrer Ansichten über das Böse in den Vordergrund. Der Reallexikon-Artikel Reformationsliteratur (Bd. 3, 1977, S. 401-403) von Hans-Gert R o l o f f erwähnt im gesamtreformatorischen Rahmen die Lasterteufel-Bücher ebenso wie die Lyrik, das Drama, die Flugschriftenlit. und legt dabei besonderen Nachdruck auf die Frage ihrer Abhängigkeit von Luther, wobei dieser Aspekt durch spezielle Arbeiten zur Luthertheologie ( z . B . H. Obendiek, 1931; Paul Althaus, 1962; Hans-Martin Barth, 1965 und 1967) ergänzt wird. Seit 1970 werden einige Teufelbücher als germanist. Sprachdenkmäler ediert (Teufelbücher in Auswahl, hg. von Ria Stambaugh; bisher liegen 3 Bände vor). Auch mit dem Komplex der Erzähllit., soweit sie unser Thema berührt, hat man sich — im Vergleich zur Gesamtbehandlung des Teufelthemas — relativ intensiv beschäftigt, wobei ihrer sich im 16. Jh. manifestierenden Ausformung besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, zeigte doch das ausgehende 19. Jh. ein außergewöhnliches Interesse für das als typisch deutsch empfundene Reformationsjh. (so publizierte der Stuttgarter Literarische Verein alles, was irgend aus dieser Zeit den Namen Literatur verdiente). Nach Hermann O e s t e r l e y hat sich um die Jh.wende vor allem Joh. B o l t e dem Schwank und den Schwanksammlungen der 50er Jahre des 16. Jh.s zugewandt und damit eine Materialbasis geschaffen, auf der eine Erfassung der Grundzüge des ,Schwank-Teufels' möglich wurde, ohne daß sich auch hier die Einzelstudien zu einem geschlossenen umfassenden Erscheinungs- und Ausformungsbild fügen ließen. Das bereits erwähnte Handbuch Volkserzählung u. Reformation (1974) bietet einen Katalog protestantischer Teufelerzählungen des 16. Jh.s sowie einen Katalog der Lutherund Reformationssagen d. 19. Jh.s und umreißt ,das Wirken des Teufels in Theologie und Sage im 16. Jh.'; im Rahmen der Einzeldarstellungen werden immer wieder „Exempel von bösen und noch böseren Teufeln" und Teufelgeschichten jeder Art vorgestellt und in den Volkserzählrahmen der Reformationszeit eingeordnet. Material und Hinweise, die wichtige Ergänzungen, insbesondere zum mehrfach aufgegriffenen ,Sagen-Teufel', liefern, schaffen die Voraussetzung für eine Gesamterfassung des Teufels im Bereich der Volkserzählung. Das Teufelmotiv in Lit. und Dichtung wird in den zahlreichen theo-

logischen Teufeldarstellungen wie in den mehr kulturhistorisch orientierten Darlegungen vielfach, meist recht summarisch und auf unterschiedlichen Ebenen der Bedeutsamkeit angeschnitten. Zu einzelnen Teilaspekten, wie u. a. den mal. Teufelspielen, oder der Behandlung des Motivs im modernen Roman liegen verschiedenartige Äußerungen, oft nur in Gestalt essayhafter Aufsätze vor. Selten hingegen sind Arbeiten, die die Behandlung des Motivs bei einer einzelnen Dichterpersönlichkeit zu erfassen suchen, wie etwa die Dissertation Rolf C o n r a d s (zu Hans Sachs), noch seltener Versuche, wie der Günther M ah als, der aus dem weiten Felde des Teufels in der Lit. eine literaturtypische Teufelgestalt, den traditionstragenden Mephistopheles, exemplarisch herausgreift. Die Forschung hat hier noch ein ebenso interessantes und wichtiges wie umfangreiches und äußerst arbeitsintensives Thema zu bewältigen. Dabei sind Theologie, Germanistik und Volkskunde, aber auch die Sozialwissenschaften sowie die Kunst- und Musikwissenschaft aufeinander angewiesen. § 3. Das Teufelmotiv, das die Lit. von ihren Anfängen bis heute in wechselnder Intensität und vielfältig variierender Ausprägung durchzieht, ist, wie schon erwähnt, kein dem Felde der Lit. erwachsenes, vielmehr ein von uralten Menschheitsvorstellungen getragenes außerliterar. Motiv von großer existenzieller Bedeutsamkeit. Die Lit. nimmt dieses von K i r c h e n - u n d V o l k s g l a u b e n ausgestaltete M o tiv auf, das im literar. Bereich Eigenständigkeit gewinnt und seinerseits eine spezifische Wirksamkeit entfaltet. Bereits im Bereich der frühen N a t u r r e l i g i o n e n ist das Böse, Unheimliche, Angsterregende wesenhafter Bestandteil des in sich prinzipiell ambivalenten Numinosen, das zur Erklärung des Unerklärbaren herangezogen wird. Die Ausformung des Vorstellungsgehaltes des Bösen, Existenzbedrohenden ist eine A n t w o r t auf die Angst, die dem Erlebnis vielfältiger Gefährdetheit des Menschen entspringt, d . h . deren mythische Interpretation. Zugleich erfüllt das fixierte Böse eine wichtige Selbstschutz- und Alibifunktion: der .Sündenbock' erspart es dem Menschen, das Böse auch in sich selbst sehen zu müssen. Den Teufel als personifizierten Repräsentanten allen U n heils kennen jene Religionen, die einen festumrissenen Sündenbegriff voraussetzen. So entwickelte sich die T e u f e l l e h r e , ein bedeutsamer Bestandteil abendländischer Tradition, aus den Schriften der Kirchenväter. In der Auseinandersetzung mit Gnostizismus und

Teufelliteratur Manichäismus vertiefte die P a t r i s t i k die dort bestehende Vorstellung vom Weltgeschehen als permanentem Kampf zwischen dem Reich Gottes und dem gegen die göttliche Weltordnung gerichteten Reich des Teufels, formte sie weiter aus und machte sie allgemeinverbindlich. Sie schuf damit die von der Bibel nicht bereitgestellte, aber in den Pseudoepigraphen vorgezeichnete literaturfähige Grundsituation. Der christl. Teufel trat ein reiches Erbe an: er zog vor- und außerchristliche Strömungen auf sich, vereinigte Reste der griech.-hellenistischen, der iran. und spätjüdischen Religion und gewann dabei zunehmend an Eigengewicht. Durch die Bekehrung der german. Stämme wurde das christl. Teufelbild zusätzlich erweitert und durch die Attribute der zu Geschöpfen der Hölle erklärten heidnischen Götter und Unholde ergänzt und bereichert. Der besonders von A u g u s t i n u s gelehrte Gegensatz von Gottes und Teufels Reich prägte seitdem die Weltanschauung und wurde von der Kirche kanonisiert. Mit zunehmender Intensität wird nunmehr die vielgestaltige Helferschar des Teufels vermehrt (schon die Götter der Frühzeit pflegten sich in ihren hellen wie dunklen Boten gleichsam zu vervielfältigen). Unter den T e u f e l s h e l f e r n sind es die H e x e n , die nun in den Vordergrund rücken. Innozenz VIII. bestätigte in einer Bulle von 1484 den Hexenglauben ausdrücklich und schuf damit die Grundlagen für Massenhysterie und Massenwahn. Neben der kirchlichen Ausformung des Teufelsbildes in umfassender Konzeption schafft sich der davon abhängige V o 1 k s g 1 a u b e n vereinfachende, eigenständige, kirchlich geduldete Varianten. Die ambivalente Natur der Dämonen hat sich hier — im Gegensatz zum kirchlichen Bereich, in dem Dämonen nur dunkle Gestalten sind — in Grundzügen erhalten. Dies führt zu einem zwiespältigen Teufelsbild, dem gefährlich-bösen Satan, mit dessen Abwehr und Beschwörung sich das gesamte Brauchtum intensiv beschäftigt, und dem vermenschlichten, auch lächerlichen Teufel. So schwankt der mal. Mensch zwischen Furcht vor dem Teufel und Lachen über ihn, und das hat sich bis heute nur in Nuancen verändert. Das Brauchtum ist weithin von D ä m o n e n f u r c h t gezeichnet. Aus der Vorstellung von einer Einheit der Gesamtschöpfung, in der nichts unbeeinflußt voneinander existiert und die durch die Ursünde gebrochen ist, erwächst eine intensive Segens-

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und Beschwörungstätigkeit, ein ausgebautes Abwehrsystem, das sich in festumrissenen Verhaltensnormen manifestiert und jederzeit, besonders aber an .gefährlichen' Tagen, voll in Aktion tritt. Ein solcher Tag ist z. B . der Aschermittwoch (seit dem 7. J h . Beginn der Fastenzeit) als der Tag, an dem Luzifer aus dem Himmel gestoßen wurde (an ihm soll man u. a. das Dorf auf keinen Fall verlassen); aber auch am Lucia-Tag, sowie an einer ganzen Reihe anderer Tage sind der Teufel und seine Helferschar nach volkstümlicher Vorstellung ganz besonders aktiv. Teufels- und Dämonenfurcht bestimmten solchermaßen Lebensablauf, Lebensgewohnheiten und Verhaltensformen der Menschen durch Jahrhunderte. Hieraus erwächst auch die sog. Volksmedizin, eingebettet in das umfassende Schutzund Abwehrsystem mit seinem ganzen umfangreichen Arsenal an Reliquien, Amuletten und Symbolen.

Im M i t t e l a l t e r bildet sich auch die sog. .Schwarze Messe' aus, um die Vorstellungskomplexe einer Teufelsanbetung, des Teufelspaktes, des fleischlichen Umgangs mit dem Teufel kreisend, die ihre Wurzeln in den orgiastischen Tänzen und Gelagen der Antike hat, ihre Ausprägung aber als Reaktion auf die antisexuelle Haltung der Kirche erfuhr. Im Böses-Tun suchte der Mensch des MA.s ein Stück Freiheit, die ihm allenthalben verwehrt wurde. Das vom Teufelglauben so erregte und bewegte europäische MA. mußte aufgrund des polaren Verhältnisses von Gottes- und Teufelsreich als Gegensatz zur christlichen Messe fast zwangsläufig die Teufelsmesse .finden'. In diese Gegenwelt, in der sich die Werte verkehren, werden alle Riten, gleichsam spiegelbildlich, übernommen, wird die Treue zu Gott zur Treue zum Satan — mit allen Begleitund Folgeerscheinungen. Die starke soziologische Komponente dieses Komplexes der ,Schwarzen Messe' behinderte lange Zeit eine wissenschaftl. Behandlung dieses Themas, obwohl es sich hierbei um eine wesentliche Erscheinungsform des Teufelglaubens handelt, und der Vorwurf, unzüchtige Messen gefeiert zu haben, stereotyper Bestandteil nahezu aller Anklagen gegen Ketzer ist. Eine Bulle Papst Gregors I X . von 1232, die über das Treiben der .Geheimen Gesellschaft der Stedinger' berichtet, kann als erste Schilderung eines ,Sabbats' betrachtet werden; eine erste literar. Behandlung erfuhr das Thema durch Marquis de Sade, der die Schwarze Messe in sein Kompendium der Laster aufnahm. Im 19. J h . wurde es — zugleich mit einer „Poetisierung des

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Satanskultes" (Gerhard Zacharias) — in gewissen Literatenzirkeln (vornehmlich in Paris) Mode, halb scherzhaft, halb ernst, mal. Satansmessen als Fest-Höhepunkt nachzuvollziehen, und noch 1969 wird der Ritualmord an Sharon Täte und vier ihrer Freunde von Psychologen sowie von mit dem Fall befaßten Juristen und Ärzten mit dieser Manifestationsform des Teufelglaubens in enge Beziehung gebracht. Das 16. J h . , Zeitalter der Reformation, Umbruch- und Krisenzeit wie Zeitenwende führte den Teufelglauben zu einem seiner Höhepunkte; zugleich war Verteufelung allenthalben im Schwange. Unter den zahlreichen, vorwiegend polemisch motivierten, aber als wissenschaftl. Diskussionsbeiträge ausgegebenen Traktaten und Schriften, ist Jean B o d i n s De la demonomanie des sorciers (zuerst 1580) von zentraler Bedeutung, stellt es doch gleichsam ein Kompendium des Hexenglaubens und zudem eine Summa aller Erscheinungsformen des Teufels und der Wirkungen des Teufelglaubens — auch in seinen volkstümlichen Komponenten — dar. Bodin (1529—1596) beruft sich auf die hohe Autorität der Universität zu Paris. Wie sein Übersetzer Johann F i s c h Teuffelsheer art ( V o m aussgelasnen wütigen allerhand Zauberern / Hexen unnd Hexenmeistern . . ., 1591) ist er ein unerschütterlicher Vertreter des Glaubens an Teufelbesessenheit. Dennoch gelten sie auf anderen Gebieten bis heute als aufgeklärte, in vielem ihrer Zeit vorauseilende Geister. Scharf wendet sich Bodin gegen die fortschrittliche Sicht des Mediziners Johannes W e y e r (Wier, Wierus, 1515—1588), der in seinem De praestigiis daemonum (1563; dt. Ausg. 1565) darlegt, daß nur krankhafte Einbildungskraft es ist, die Frauen zu Hexen werden läßt. Ebenso wie Bodin lehnte seine Zeit diese These völlig ab, stürzte sich aber zugleich begierig auf Weyers reiches Material über Zauberpraktiken, das er zur Untermauerung seiner Auffassung heranzog, und genoß auch seine 88 Teufelerzählungen ausgiebig. Bodin führt gegen Weyer biblische, antike, patristische und zeitgenöss. Lit. ins Feld und gibt damit zahlreichen Inquisitoren eine theoretische und praktische Grundlage. L u t h e r s Stellung zum Teufelglauben ist ein umstrittenes, von vielen Tabus umranktes, immer wieder aufgegriffenes Thema, das bis heute theologische Aufmerksamkeit findet.

Lange Zeit dominierte eine Auffassung, die nicht einzuräumen bereit war, daß auch Luther, als Kind seiner Zeit, den Teufel überall am Werke sah: im Bauernkrieg, in den unruhigen Zeitläufen, in allem Unheil, in individueller Krankheit, sowohl eigener wie fremder. Seine Abhängigkeit vom Teufelglauben seiner Zeit spiegelt sich in seinen persönlichen Teufelerlebnissen und -begegnungen sowie in seinem Glauben an Teufelsbuhlschaften. Luther hat sich für seine persönlichen Anfechtungen ein breitangelegtes abwehrstrategisches Verhaltensmuster zurechtgelegt, das vom Gebet bis zu drastischen wie derben Maßnahmen reicht und auf das er immer wieder zu sprechen kommt. Ist der Mensch Luther weithin dem volkstümlichen Teufelglauben verhaftet, so ist der Theologe Luther dem reinen Bibelglauben verpflichtet. Persönliche Teufelerlebnisse und theoret. Aussagen stehen So nebeneinander in unterschiedlicher theologischer Wichtigkeit, doch sind sie nicht immer säuberlich voneinander zu trennen. Ohne die der damaligen Zeit vertraute Teufelswelt zu einer besonderen Luthers zu stempeln, bleibt die Frage, wieweit sich der Theologe über den Menschen Luther zu erheben vermochte. Wichtig ist die Betrachtung seiner volksnahen Gesprächs-Aussagen zum Teufel insbesondere deshalb, weil eine Reihe seiner theologischen Nachfolger einseitig allein an diese Aussagen anknüpfte, sie veränderte und weiter ausgestaltete, und Luthers Autorität zur Bekräftigung ihrer eigenen Vorstellungen nutzte, die sie guten Glaubens für die Luthers hielt. Als Theologe wendet sich Luther, der im Christen ein zwiespältiges Doppelwesen sieht — den heiligen Geist im Herzen, den Teufel im Fleisch — besonders gegen den Aspekt volkstümlicher Teufelvorstellung, der verharmlosenden Tendenzen entspringt. Er sieht den Teufel als streng in die Dienste Gottes genommenes Mittel seines Zorns wie seiner Strafe. Insgesamt hat Luther zur Vereinheitlichung der Teufelvorstellung beigetragen, indem er in seiner Bibelübersetzung weithin dämonische Differenzierungen dadurch aufhob, daß er sie durchgängig mit ,Teufel' übersetzte. In seinen Schriften greift er sehr intensiv zum Mittel verbaler Verteufelung. Papst und Papisten, Rotten und Schwärmer und viele andere gelten ihm als Werkzeuge des Teufels, ausersehen, ihn und seine Anhänger vom Evangelium abzuhalten. Er zögert nicht, „Teufel, Papisten, Rotten und

Teufelliteratur alle Welt" pauschal als seine „widerpart" zu bezeichnen (wider Hans Worst, 1541); auch berichtet er wiederholt von einem wichtigen Anklagepunkt, den der mit ihm disputierende Teufel gegen ihn vorbringt, daß er nämlich dem Papst zahllose Klöster geraubt habe: ganz im Stile der Zeit betrachtet er also seinen Hauptgegner als einen Schützling des Satans. Das 17. u n d 18. J h . setzten die Verteufelungen sowie die von Polemik getragenen Auseinandersetzungen um die Existenz des Teufels fort. H . M. G. K ö s t e r s Demüthige Bitte an die Männer, die keinen Teufel glauben (1775) geht davon aus, daß die physische Macht des Teufels derzeit zwar schlecht zu beweisen, dennoch aber realiter vorhanden sei. Die Schrift wurde in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek besprochen und löste eine Reihe von kontroversen Schriften aus, die sich auf den Konflikt zwischen Köster und dem Prediger Christian Wilhelm K i n d l e b e n , für den es keinen persönlichen Teufel gab, mit allen Begleiterscheinungen persönlicher Diffamierungen zuspitzte. Wie sehr die exponierten Träger solcher Diskussionen unter diesen Personifizierungen sachlicher Gegensätze zu leiden hatten, zeigen ihre für notwendig erachteten Praktiken, die sie zu anonymen wie Pseudonymen Veröffentlichungen zwangen. Anonym erschienen z. B. Kindlebens Replik Uber die Non-Existenz des Teufels und Kösters ,Antwort' Sollte der Teufel ein Unding seyn? Eine Frage und Bitte an die Theologen unserer Zeit; für seine Schrift EmanuelSwedenborgs demüthige Danksagungsschreiben an den großen Mann, der die NonExistenz des Teufels demonstriret und erwiesen hat wählte Köster einen bekannten Namen als Pseudonym. Der wiederum anonym erschienene Sammelband Die Teufeleien des 18. Jh.s (1778) faßte - ein breites Interesse voraussetzend — Streitschriften Kösters und deren Rezensionen sowie solcher anderer Schriften zum Thema Teufel und zum Autor Köster zusammen.

Ein Beispiel mehr ist die seit 1775 beginnende Auseinandersetzung zwischen Johann Salomo Semler — wie Kindleben rationaler Bibelinterpret — und Johann Kaspar L a v a t e r , der wie Köster die dogmatisch garantierten Phänomene heftig verteidigte, um den Exorzisten Johann Josef G a ß n e r . Lavater versuchte Semler, der schon 1760 mit mehreren Streitschriften und einer Dissertation in einen Teufelstreit eingegriffen hatte, mit den bei Gaßner erlebten Phänomenen zu widerlegen; Semler antwor-

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tete mit einer Editionskampagne von Büchern gegen die Hexerei. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, daß schon im 15. Jh. einzelne Autoren sich der kollektiven Einstellung zu Hexen- und Zauberglauben zu entziehen wagten und Kritik an den Auswirkungen starrer Glaubensschemata übten, wie dies z. B. Hans von V i n t l e r in seinem Lehrgedicht Die Pluemen der Tugent (1411) und Albrecht von E y b in seinem Ehbüchlein (1472) taten. Im 19. J h . setzte ein historisch motiviertes Aufarbeiten zeitimmanenter Glaubensformen und -äußerungen ein; doch schon bald beherrschte der Kulturkampf die Szene. Der Teufel- und Hexenpolemik werden populärwie pseudowissenschaftliche Broschüren gewidmet; ihr gelten auch zahlreiche Vorträge, selbst Preisschriften. Die Thematik der mehr oder minder sachlichen engagierten Veröffentlichungen ist manchmal sehr breit angelegt, wie in K a r s c h s Naturgeschichte des Teufels (1877) und in J. H . A l b e r s Werk Die Lehre vom Teufel allgemein faßlich dargestellt, aber auch Einzelaspekten oder einer bestimmten Sonderausprägung gewidmet. Manche Schrift gibt schon im meist umfänglichen Titel ihre Motivation und Tendenz an, wie z. B. J. Spitzers Teufelsbiindner. Zauber- und Hexenglaube und dessen kirchliche Ausbeutung zur Schändung der Menschheit (1871). Auffallend viele Arbeiten gelten den Hexenprozessen und ihren Folgeerscheinungen; unter ihnen nimmt W. G. Soldans mehrfach aufgelegte Geschichte der Hexenprozesse (1843; bis 1880 bearb. v. Heinr. Heppe) eine führende Stellung ein. Eine Neuauflage besorgte Max Bauer (1911); er rückte zugleich die Polemik zurecht und ergänzte durch neue Hexenprozeßliteratur. Soldans Werk regte die weitere Sichtung des umfangreichen Hexenmaterials maßgebend an; weitere Quellenwerke zum breitgefächerten Themenkomplex folgten, wie R i e z l e r s Hexenprozesse in Bayern (1896), Joseph H a n s e n s Zauberwahn (1900) und seine Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns (1901). Speziell dem 16. Jh. gelten aus dieser Sicht z. B. Johannes D i e f e n b a c h s Der Hexenwahn vor und nach der Glaubensspaltung in Deutschland (1886), Georg L ä n g i n s Religion und Hexenprozeß (1888), H a r t f e l d e r s Der Aberglaube Philipp Melanchthons (1889). Diese Schriften reichen bis in den Beginn des 20. Jh.s. 1900 erschien — neben anderen — D i e f e n b a c h s Der Zauberglaube d. 16. Jh.s nach dem Katechismus Dr. Martin Luthers und des P. Canisius; von F i s c h e r s angekündigten 9 Teilen seiner Geschichte des Teufels,

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Buhlschaft, Dämonen, Teufelsbündnisse, Satansmesse sind offenbar nur 5 (1906/07) erschienen; 1921 wurde Der Teufel. Sein Mythos und seine Geschichte im Christentum neu aufgelegt. Erst mit J a n s s e n s Geschichte des dt. Volkes seit dem Ausgang d. MA.s (1876-88) beginnt sich auch eine objektive Betrachtung des Teufelglaubens abzuzeichnen, deren Bemühungen bis in die Gegenwart reichen. Im 2 0 . J h . war der Teufel anfangs weder ein theologisches noch ein allgemein interessierendes Thema. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges jedoch (und verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg) kam es zunächst zu einer Aktivierung des Teufelvokabulars. Man sprach wieder von dem Teufel, bedurfte seiner als Sündenbock in hohem Maße; bald entdeckte die Lit. das Teufelmotiv neu. Diese Renaissance veranlaßte Anton B ö h m zu dem Buchtitel Epoche des Teufels (1955). Auch die theologische Lit. schwoll an, wobei die zunehmende Psychologisierung auffällig ist. 1975 zeigte sich ein angesehener Vatikan-Theologe beglückt darüber, daß der Teufel längst wieder in Mode gekommen sei, dessen gefährlichste Haupttaktik eben darin bestehe, die Menschen dahin zu bringen, nicht mehr über ihn zu reden, ihn zu übergehen, zu vergessen; und auch der marxistische Philosoph Leszek K o l a k o w s k i setzt sich in seinen Gesprächen mit dem Teufel (1968) mit dem dialektischen Kniff des Teufels auseinander, sich derer zu bedienen, die seine Existenz leugnen. Diese wieder entfachte Diskussion um Teufel und Teufelglauben zeitigte zahlreiche engagierte und kontroverse Beiträge: den einen ist er M y t h o s , andere beharren auf starren R e a l i t ä t s b e g r i f f e n . Die Darstellungen sind nicht frei von Zügen der ,Verteufelung', wenn diese auch nicht immer so offenliegen wie bei Giovanni P a p i n i ( D ä m o n o l o g i e , dt. Ausg. 1955), der in einem Teilkapitel über die „vom Teufel inspirierten Bücher" behauptet, daß es einige Werke der europäischen Lit. gebe, „die auf Grund ihres sophistischen, gotteslästerlichen und nihilistischen Inhalts vom Geist Satans diktiert" sein könnten; zu den Autoren, „bei denen die Mitarbeit des Teufels mit größter Sicherheit angenommen werden kann", rechnet er vor allem Dichtungen Byrons und Kafkas, dessen Metamorphose (1916) ihm gar als das „fürchterlichste" erscheint. In der sich weltweit polarisierenden polit. und besonders

gesellschaftspolit. Auseinandersetzung gehört der .Teufel' zum r h e t o r i s c h e n R e p e r t o i r e metapherhafter Rede; hier greifen .Verteufelungen' jeder Art mehr und mehr um sich. In t h e o l o g i s c h e n Teufelsfragen sind die Standpunkte heute im ganzen uneinheitlich und widersprüchlich; erfolgen die Stellungnahmen zwar zumeist auf konfessioneller Basis, so sind die Inhalte jedoch keineswegs von konfessionsbedingter Homogenität. Auf evangel. Seite finden sich Theologen wie T h i e l i c k e , denen die Welt nach wie vor Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen Gott und dem Teufel ist, während andere mit B u l t m a n n den personifizierten Satan für überflüssig halten und die Dämonenvorstellungen in den Bereich des Aberglaubens verweisen. Für die katholische Seite setzt der 15. 11. 1972 eine wichtige Orientierung und Markierung. Unerwartet deutlich griff Papst P a u l V I . auf den Teufel als „schreckliche Realität" zurück, während er in der kirchlichen Praxis nahezu übergangen worden war. Drei Jahre später stellte die oberste Glaubensbehörde — die vatikanische Glaubenskongregation — in einem offiziellen Dokument (Osservatore Romano v. 26. 6. 1975) fest, daß die „Existenz einer Welt von Dämonen dogmatische Gegebenheit ist" (auch wenn rätselhaft bleiben muß, warum und wie sich Gott der bösen Geister bedient). Hingegen versucht die umfassendste Arbeit zum Teufelthema, die in der Geschichte der Kirche geschrieben wurde, der Teufelsglaube (1974) von Herbert H a a g , der 1969 der Abschied vom Teufel vorausgegangen war, die Kirche vom tradierten Teufelglauben zu lösen. Haag verneint die Existenz einer ausdrücklichen dogmatischen Teufels-Aussage und greift auf die Bibel als maßgebende Instanz zurück; auch die tradierte Teufelgestalt wird von Haag nicht mehr als die heute noch verbindliche und adäquate Aussageform für das Böse und Dämonische angesehen, das er keineswegs leugnet. Wie tief aber heute eine solche Darstellung die Denk- und Vorstellungswelten vieler noch berührt und aufrührt, beweist die stark emotionale Resonanz auf dieses Buch: Den Teufel — so scheint es — will man sich auch heute nicht nehmen lassen. Wie sehr es den heutigen Menschen reizt, dem Teufel zu ,begegnen', zeigt auch die Resonanz auf Filme wie Der Exorzist und der große Raum, den die Massenmedien dem Exorzismus-Thema einräumen.

Teufelliteratur Gesamtdarstellungen: Jacob G r i m m , Dt. Mythologie (1835), enthält ein umfangreiches Teufelkapitel. August-François L e c a n u , Histoire de Satan (Paris 1861; dt. Ausg. 1863). Gustav R o s k o f f , Gesch. d. Teufels. 2 Bde (1869). Arturo G r a f , Naturgesch. d. Teufels (1890). Wilh. F i s c h e r , Die Gesch. d. Teufels. 5 Bde (1906/07). Hubert C o l l e y e , Histoire du diable (1945). Literatur zum Satanskult: Egon von P e t e r s d o r f f , Dämonologie. 2 Bde (1956-57). Rosell Hope R o b bins, The Encyclopedia of Witchcraft and Demonology (London 1959). Wade B a s k i n , Dictionary of Satanisme (New York 1972). — Jules Bois, Le Satanisme et le Magie. Avec une étude de J.-K. Huysmans (Paris 1895). Stanislaw P r z y b y s z e w s k i , Die Synagoge d. Satans. Ihre Entstehung, Einrichtung ». jetzige Bedeutung. E. Versuch (1897). Roland B r é v a n n e s , L'orgie satanique à travers les siècles (Paris 1904). C a u f e y n o n et J a f , Docteurs (Pseud.), Les Messes Noires. Le culte de Satan-Dieu (1905). Joanny B r i c a u d , La Messe Noire ancienne et moderne (Paris 1924; Bibl. Chacornac). Harmannus O b e n d i e k , Satanismus u. Dämonie in Gesch. u. Gegenw. (1928). Jehan S y l v i u s , Messes Noires. Satanistes et Lucifériens (Paris 1929; Coll. 'choses vues'). Henry T. F. R h o d e s , The Satanic Mass. A Sociological and Criminological Study (London 1954). Francis B a r n e y , Prière à Satan. Messes noires d'hier et d'aujourd'hui (Paris 1957). Roland V i l l e n e u v e , Le Diable. Érotologie de Satan (Paris 1963; Bibl. intern. d'Érotologie 10). Gerhard Z a c h a r i a s , Satanskult u. Schwarze Messe. E. Beitr. z. Phänomenologie d. Religion (1964). Alfons R o s e n b e r g , Praktiken d. Satanismus (1965). Claude S e i g n o l l e (Hg.), Les Evangiles du Diable. Selon la cryance populaire. Documents (Paris 1964). Ulrich K. D r e i k a n d t (Hg.), Schwarze Messen. Dichtungen u. Dokumente (1970). Ausgew. Luther-Lit.: Harmannus O b e n d i e k , Der Teufel bei Martin Luther (1931). Martin R a d e , Zum Teufelglauben Luthers. Marburger Theol. Studien 2 (1931) S. 1-11. Hans Robert G e r s t e n k o r n , Weltlich Regiment zwischen Gottesreich u. Teufelsmacht. Die staatstheoret. Auffassungen Martin Luthers u. ihre polit. Bedeutung (1956). Paul A l t h a u s , Die Theologie Martin Luthers (1962). Hans-Martin B a r t h , Der Teufel u. Jesus Christus in d. Theologie Martin Luthers (1967; Fschg n. z. Kirchen- u. Dogmengesch. 19). Ders., Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben. Kerygma u. Dogma 14 (1968) S. 201-211. — Friedr. D i e h m , Lutherais Kenner dt. Volksbrauchs u. dt. Volksüberlieferung. Diss. Glessen 1931. Erich K l i n g e r , Luther u. d. dt. Volksaberglaube (1912; Pal. 56). Hans P r e u ß , Die Vorstellungen vom Antichrist im späten MA. Diss, theol. Leipzig 1906. Ernst K o h l m e y e r , Zu Luthers Anschauungen vom

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Antichrist u. von weltl. Obrigkeit. Arch. f. Reformationsgesch. 24 (1927) S. 142-150. A. A d a m , Der Teufel als Affe Gottes. Vorgesch. d: LutherWortes. Luther-Jb. 28 (1961) S. 104-109. § 4. Die l i t e r a r . H a u p t f u n k t i o n des Teufels christl. Prägung besteht in der verkörpernden Repräsentation der als Sünde fixierten Unheilsmacht; im nicht dogmatisch verfestigten allgemeinen wie umfassenden Begriffsverständnis fungiert der Teufel als Inkarnation aller den Menschen existenziell bedrohenden Schicksalsmächte. Das solchermaßen schon außerliterarisch klar konzipierte , F e i n d b i l d ' , das immer neu und schärfer konturiert und jeweiligem Interpretationswandel angepaßt wird, eröffnet seiner literar. Bewältigung vielfache und vielschichtige Möglichkeiten. Diese Hauptfunktion fächert sich in zahlreiche, stets sich wandelnde, miteinander verknüpfte, aber auch divergierende Funktionskomponenten und läßt ein System miteinander verflochtener, sich wechselseitig bedingender Teilfunktionen entstehen. Die teuflischen Erscheinungs- und Manifestationsformen sind ebenso differenziert wie sie sich vielfältig überlagern und überschneiden. Funktionsdifferenzierungen und Erscheinungsvarianten sind zum einen zeitbedingt wie zeitimmanent, können andererseits aber auch zeitübergreifend sein; sie treten gattungsübergreifend wie gattungsgebunden auf, erwachsen aber auch mitunter individuellen augenblicksbezogenen Gestaltungsvorstellungen. Ein wesentlicher, in allen Einzelfunktionen enthaltener Aspekt ist der des S ü n d e n b o c k s . Der ,Sündenbock-Teufel' ist Wurzel und U r sache für alles subjektiver wie objektiver Sicht verhaftete Negative. Auch der streng dogmatisch geprägte Teufel trägt die Verantwortung für alles Sündhaft-Böse in seinen jeweiligen zeitbedingten wie auch zeitlosen Äußerungsformen; es gehört zu seinen Aufgaben, Gott zu entlasten, indem er fragende Zweifel im Umfeld der Existenzberechtigung des Bösen zu überdecken vermag, die sonst sehr leicht in die Frage münden könnten, ob Gott dem weitverbreiteten unberechen- und oft auch unerklärbaren Unheil etwa gar nicht Einhalt gebieten kann. Dem Teufel kommt darüber hinaus die Funktion zu, der Erklärung alles Unerklärlichen zu dienen. In ihm kann Gesellschaft wie Individuum die Konkretisierung und Projektion von Schuldkomplexen sehen;

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er vermag alle Gefährdetheiten eines geschlossenen Systems umfassend wie anschaulich zu verkörpern, und damit zugleich allen Pluralismus der Verteufelung auszusetzen. Diabolisierungen unterliegen hinsichtlich ihrer Intensität wie ihrer Ausprägung zeitlichen Strömungen, wobei eine ihrer Hauptwirkzeiten die der Glaubensrichtungskämpfe des 16. J h . s ist; auch eignen sich manche literar. Gattungen mehr als andere dazu, verteufelte Gestalten wirksam vorzuführen: so findet sich z.B. in der Sage eine besonders große Anzahl Verteufelter jeder Art und Artung. Der jeweils dominierende Aspekt der Grundfunktion wie die abhängigen Teilfunktionsbündelungen können zu gewissen Zeiten recht einheitlich und homogen wirken, eine gleichsam geschlossene Funktionskonzeption suggerieren, die auch die Manifestationsformen streng koordiniert, in anderen Epochen hingegen vielfach aufgespalten erscheinen, in zahllose Einzelfaktoren und -tendenzen zersplittert. Die Funktion des streng dogmatischem Geist verpflichteten Teufels, der seine genau konzipierte Wirksamkeit im M A . entfaltete, dort in den geistlichen Spielen seinen adäquaten Erscheinungsrahmen findet, ist die des Gegenspielers Gottes, des Störers des Heilsplans, die des Verführers schlechthin. Das Teufelspiel, in dem sein Stellenwert fest umrissen ist, dient einzig dem Zweck, die gradualistische Wirklichkeit in ihrem gottgewollten Stufenplan zu verdeutlichen. Die Funktion metaphorischer Personifizierung zeittypischer Laster, wie sie theologisch geprägte Epochen fordern, erfüllt der zu didaktischen Zwecken der Volkserziehung volksnah aufbereitete protestantische Lasterteufel der 2. H . des 16 Jh.s. Dabei steht die ganze verzweigte LasterteufelFamilie im Dienste der übergeordneten Funktion, den protestant. Glauben zu fördern; Teilfunktionen sind, Schrecken zu erzeugen, die Sünden konkret und leibhaftig vor Augen zu führen und in ihrer Folge die Menschen bereit zu machen, moralische Ratschläge und Hilfen anzunehmen, mit denen teuflische Tätigkeit und Wirksamkeit bekämpft werden können. Daß die Menschen der Zeit bei dieser Lektüre auch zerstreuende Unterhaltung finden konnten, war gezielt kalkuliert: das solcherart gebundene Interesse ließ sich leichter in theologische Bahnen lenken; daß dabei das Vergnügen an allen Aspekten teuflischer Erscheinungs- und Wirkformen auch zum allei-

nigen Zweck der Lektüre werden konnte, mußten die Verfasser in Kauf nehmen. Das T e u f e l m o t i v in der D i c h t u n g seit dem 16. J h . ist nach Funktion und Gestaltung sehr breit angelegt und entsprechend vielschichtig, oft auch von völlig individueller und werkbezogener, streng an eine Dichterpersönlichkeit gebundener Ausprägung. Fortschreitende E n t d o g m a t i s i e r u n g des Teufels hatte diese vielfältigen Gestaltungs- und Bewältigungsmöglichkeiten freigesetzt. Der Teufel wird in diesem Rahmen in untereinander kontrastierenden Charakterstudien vorgestellt, mit allen Zügen einer g r o ß e n P e r s ö n l i c h k e i t ausgestattet, die, eigenständig und aus dogmatischer Einengung und Schematisierung herausgelöst, eine Vielzahl von Funktionen zu tragen vermag, als deren wichtigste sich aber die erweist, zeitbedingte Ängste und Hoffnungen zu inkarnieren. Wie immer der Satan sich auch hier manifestiert, ob in vorwiegend ironischer, satirischer oder rebellierender Funktionsnuancierung, nie wird er ohne Anteilnahme gezeichnet. Die T e u f e l s g e s t a l t der Jh.e umspannenden V o l k s ü b e r l i e f e r u n g u n d - t r a d i t i o n ist eine diametral entgegengesetzte. Hier ist der Teufel eine plastische, konkrete, sehr materielle Figur ohne tiefschürfende psychologisierende Konzeption. Hier sind christliche und vorchristliche, außerliterar. und literar. Züge zu einem vielgestaltigen und schillernden Erscheinungs- und Funktionsbild verwebt. Die einzelnen Gattungen umfassen dabei ein unterschiedliches, zeitlich variierendes Motiv- und Funktionsrepertoire, setzen auch spezifische gattungscharakteristische Akzente, die aber jeweils nicht starr verfestigt sind, vielmehr variabel bleiben. Uber eine besondere Vielfalt an Möglichkeiten verfügt dabei die Erzähllit. des späten M A . s und des 16. J h . s , die grauenerregende, gefährliche, Angst und Schrecken erzeugende Teufelsgestalten kennt, aber auch — in gleicher Gewichtung — dumme, lustige, listige, vermenschlichte Teufel, die sich in allen menschlichen und allzumenschlichen Situationen wiederfinden. Das Fastnachtsspiel macht den Höllenfürsten weithin zum Popanz, wie er im heutigen Kasperltheater (s. a. Puppenspiel) noch als der Gegenspieler lebt, der zuletzt immer der Geprügelte ist. Hier kommt eine tröstende wie zugleich verharmlosende Funktionskomponente zum Zuge, die von einer optimistischen Sicherheit initiiert wird, die

Teufelliteratur für den wirklich Gläubigen keine Teufels-Gefahr zu sehen vermag. Der ,sagentypische' Teufel vereint auch alle ambivalenten Züge heidnischer Dämonen in sich. Neben der Funktion, alles Bedrohliche wie Normabweichende zu erklären, fällt ihm die Aufgabe zu, in vielfältigen Differenzierungen seine Allgegenwart zu dokumentieren, alle seine zahllosen Verwandlungsmöglichkeiten in reale Erscheinungen der belebten und unbelebten Welt vorzuführen. Umgeben ist er in dieser Gattung von einer besonders großen Zahl Verteufelter. Das Teufelmotiv wird — in dogmatischer Bindung wie entdogmatisiert — in der Dichtung wie in volkstümlicher Uberlieferung, in der bildenden Kunst wie in der Musik zu allen Zeiten einem Gestaltungs- und Bewältigungsprozeß unterzogen, wobei dieses von existenzieller Aussagekraft getragene Motiv stets neue literar. wie außerliterar. Impulse erhält, und bald mehr zur Formung einer Teufel-Persönlichkeit tendiert, bald mehr zur Vorführung von Verteufelungen eingesetzt wird. Maximilian Josef R u d w i n , The Devil in Legend and Literature (London 1931). Wilh. D i l t h e y , Die große Phantasiedichtung u. andere Studien z. vgl. Lit.gesch. (1954). Richard N e w a l d , Die T. in d. Antike. Bayer. Blätter f. d. Gymnasial-Schulwesen 5 (1927) S. 340-347. Alois S c h m ü c k e r , Gestalt u. Wirken d. Teufels in d. russ. Lit. von ihren Anfängen bis ins 17. Jh. Diss. Bonn 1963.

II. L i t e r a r i s c h e G e s t a l t u n g s f o r m e n d e s T e u f e l m o t i v s in h i s t o r i s c h e r S c h i c h tung § 5. Dem gesamten M A . fehlt noch weithin eine selbständige literar. Teufelfigur im Sinne späterer dichter. Gestaltung. Zwar kennt der hinsichtlich seiner Altersschichtung vielförmige Wartburgkomplex eine nächtliche Szene zwischen Wolfram und dem Teufel Nasion (im späten Gedicht vom Stubenkrieg steht Klingsor in zwielichtiger Verbindung mit dem Teufel), und er tritt auch sonst literarisch hie und da in Erscheinung, doch ist er im ganzen fast ausschließlich an das g e i s t l . S p i e l (s. Spiele, mittelalterliche) gebunden, wobei er seinen ersten dramat. Auftritt im ältesten europäischen eschatologischen Spiel, dem Sponsus (1. H . 12. J h . ) hat. Er hat seinen festen Platz in den liturg. Ausformungen; aber auch in den Weltgerichtsspielen, im Antichristdrama und den Legendendramen (z. B. den Spielen von

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Theophilus und Frau Jutten) wird auf ihn nicht verzichtet, so daß er sich zunehmend zu einer der beliebtesten Theaterfiguren entwickelt. Der Schwerpunkt seiner vom Dualismus getragenen dramat. Gestaltung liegt in den der Liturgie erwachsenen Formen: im O s t e r s p i e l , der ältesten Hauptform des geistl. Spiels, im etwas jüngeren W e i h n a c h t s s p i e l und dem aus der Erweiterung des Osterspiels erwachsenden P a s s i o n s s p i e l , das im Spätma. dominierend im Vordergrund steht. Bis zur Mitte des 13. Jh.s dienen Oster- und Weihnachtsspiel dem einzigen Ziel der Veranschaulichung der Glaubenswahrheiten und sind Demonstrationen des universalienbedingenden und -gesicherten Ordo-Gedankens. Mit dem Ende der Romantik tritt neben diese gradualistische Auffassung eine mehr subjektivistische, die ihre adäquaten Ausdrucksformen besser und intensiver im Rahmen der Passionsspiele verwirklichen kann. Der Teufel gewinnt in den geistl. Spielen größeren Spiel-Raum (in mehrfacher Hinsicht) und mehr Freiheiten. Zunächst fest eingegliedert in statische, streng dem Kirchenritus verpflichtete Auftritte, erhält er schließlich einen ungebundenen Aktionsradius im Rahmen dynamischer, vielfach improvisierter Teufelszenen. Diese Entwicklungslinie, die vom lat.-liturg. zum volkstümlichen dt.sprachigen geistl. Spiel verläuft, spiegelt sich auch in der Zahl namentragender Teufel, die von einem typisierten Diabolus z. B im lat. Benediktbeurer Weihnachtsspiel über die 7 des Hessischen Weihnachtsspiels (13. J h . ) bis hin zum Alsfelder Marktplatzspiel mit seinen 22 Teufelsfiguren führt. Die Namen der Unterteufel weisen dabei vielfach auf deren Spezialtätigkeiten hin oder kennzeichnen deren äußere Erscheinungsform. Von seiner Grundkonzeption her ist dieser ,Dramen-Teufel' der große Störer des göttlichen Erlösungswerkes, der Pervertierer der Schöpfungsordnung, eine Funktion, die durch die Stellung der Teufelszenen im Gesamtablauf unterstrichen wird. Im Regelfall — mit Sicherheit seit dem 14. Jh. — knüpfen die T e u f e l s p i e l e im Rahmen von Oster- und Passionsspiel vorwiegend an die Höllenfahrtsszene an; sie können aber auch im Umfeld des Sündenfalls stehen, im Zusammenhang mit Abfall und Sturz Luzifers, mit der Versuchung Christi sowie dem Weltleben Maria Magdalenas. Im Weihnachtsspiel konzentrieren sich die teuflischen Störaktionen vorwiegend um die Geburt

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Jesu, den Hirtenbesuch, den bethlehemitischen Kindermord, den Tod des Herodes. Das Teufelspiel ist inhaltlich durch eine Bündelung mehrerer Motivgruppen gekennzeichnet: die Seelenerlösung durch Christus, die gegen die Sünde gerichtete R i c h t e r f u n k t i o n des Teufels, wobei er in dieser seiner SeelenwägerRolle als Instrument der Heilsordnung auftritt und an den Verdammten das Gericht des Himmels vollzieht, sowie seine Allgegenwart als Urheber und Förderer aller Sünden. Im Laufe der Entwicklung kommt diesem Teufelspiel eine immer bedeutsamere Funktion zu. Beim ndd. Redentiner Osterspiel (beendet 1464) wird die Verschiebung der Maßstäbe besonders augenfällig. Hier folgt der Auferstehung eine ganze Szenenreihe mit in sich geschlossener Teufelshandlung, wodurch dem Auferstehungsspiel ein etwa gleich großes Teufelspiel entgegengesetzt wird, und solchermaßen die kontrastierenden ,bilde': Paradieseshoffnung und Höllenfurcht — didaktisch wirksam zur Geltung kommen. Nach und nach bildet sich ein typischer Gesamtaufbau der Teufelspiele heraus, der einen ersten Höhepunkt in der Szene setzt, in der der Befehl zum Seelenfang ausgegeben wird: eine bunte Teufelschar wird, ihre speziellen und individuellen Fähigkeiten preisend, vorgeführt; der letzte (5.) Auftritt, der zunehmend zum vom Publikum mit Spannung erwarteten Hauptereignis wird, das nun auch oft satir. Elemente aufweist, gipfelt im Teufelreigen mit Herbeiführung, Verhör, Verurteilung oder Freilassung der Seelen. Ständevertreter und Rangrepräsentanten sind es, die die Teufel herbeischleifen, wobei der Kreis auch enger gezogen und die Teufelsangriffe auf die Vertreter nur weniger Stände konzentriert sein können (wie z. B. im Redentiner Osterspiel, wo sich die Missetäter-Auswahl auf einen Bäcker, einen Schuster, einen Schneider, eine Schenkwirtin, einen Weber, einen Fleischer, einen Krämer und einen Räuber beschränkt); aber auch an bestimmten Individuen wird die Vielfalt möglicher Sünden und Laster demonstriert. Die stets zunehmende k o m i s c h e Ausgestaltung der Teufelspiele, ihr Umfang wie ihre Intensität sprengen schließlich den Rahmen der Spiele völlig: die Masse der Besucher füllt letztlich nur noch ihretwegen Dom- und Marktplätze. Eine deutlich in den Vordergrund rückende Betrachtung des Teufels als eines Verdammten, der, von Gott in die Pflicht

genommen, im Grunde eigentlich nichts eigenverantwortlich entscheiden darf, hatte die Grundlage für den komischen, dummen, narren- und harlekinhaften Teufel geliefert, der aber seine komische Wirkung sofort verliert, wenn er einschichtig in seiner Beziehung zum Menschen gesehen wird, eine Situation, die zu einer seltsamen Mischung von Teufelkomik und Teufelgrauen führt. Im ganzen kam diesem spätmal. ,Dramen-Teufel' die Doppelfunktion zu, einmal die dramat. Spannung zu lockern und zu lösen, sowie die Glaubenszuversicht vorzuführen, wonach der Teufel besiegbar ist. Die theozentrisch-universalistische Weltauffassung vom gradualistischen Ordo mit ihrem siegessicheren Heilsziel war zerbrochen und hatte den Weg zu neuen Versuchen der Welt- und Daseinsbewältigung freigemacht. Deutlich sind diese spätmal. Tendenzen am bereits erwähnten Sünder-Katalog des Redentiner Osterspiels abzulesen, wo — mit nur einer Ausnahme — typenhafte Vertreter von Berufen mit tragenden sozialen Komponenten vorgeführt werden, die Vergehen also rein sozialer Natur sind. Nun geht es also nicht mehr primär um theologische Fragen, vielmehr steht auf exemplarische Weise das praktischsoziale Verhalten im Zentrum dramat. Gestaltung. Schließlich begreift die säkularisierte Mentalität des städtischen Publikums die Spiele nur noch als Unterhaltung, und ihre neuen Träger, eine sich aus Gilden und Zünften rekrutierende Elite, trägt dem, auch auf der Basis ihres eigenen praktischen Geschäftssinns, kalkulierend Rechnung. Das A n t i c h r i s t s p i e l , Teil der umfassenden Antichristdichtung, tritt erstmals im 12. Jh. mit einem Spiel, dem Tegernseer Ludus de Antichristo, in Erscheinung, das im Rahmen der Gesamtentwicklung isoliert steht, ist dann im 14. Jh. weit verbreitet (für das 13. Jh. sind keine Antichristspiele belegt), hält sich bis zur Mitte des 17. Jh.s und lebt seitdem nur noch in lokaler Volksspieltradition (besonders in Tirol) fort. Wie das Weltgerichtsspiel ist das Antichristspiel zunächst an die Adventszeit gebunden. Im Rahmen der allgemeinen Entwicklung, die zu einer Schwerpunktbildung der Aufführungen an den kirchlichen Hauptfesten führt, geht diese Bindung verloren. Die Verlegung der Spiele ins Freie und ihre zunehmende Ausdehnung auf mehrere Tage, trugen mit zur zeitlichen Verschiebung bei: die Zeit um Ostern erscheint nunmehr

Teufelliteratur wesentlich geeigneter. Auch an der Zyklenbildung nimmt das Antichristspiel — in eschatologischer Bindung an die Weltgerichtsspiele — teil. Nun kann es gelegentlich auch, wohl vom Bestreben nach stofflicher Variation getragen, an die Stelle von Passionsaufführungen treten. Innerhalb der Lehre von den .Letzten Dingen' bildet die A n t i c h r i s t l e g e n d e einen in sich geschlossenen Motivkreis. Der Antichrist ist Teil eines auch das ,Tausendjährige Reich', das ,Weltende', das ,Letzte Gericht' umfassenden breitangelegten eschatologischen Vorstellungskomplexes. Eine Anschauungsbündelung, die nicht starr fixiert ist, vielmehr durch die sehr enge Verknüpfung der Eschatologie mit theologisch-philosophischer Geschichtsdeutung immer wieder durch bedeutende polit. Veränderungen veranlaßte Umdeutungen erfährt. Die Kirche hat auf die streng verbindliche Fixierung einer Antichristologie verzichtet, den Stoff weithin gemieden oder den Inhalt der apokalyptischen Schriften durch allegorische Interpretation abstrahiert und formalisiert. Dagegen haben die volkstüml. Tradition und die populartheologische Uberlieferung die alte Vorstellung vom Endschicksal der Welt und des Menschen mit einer Vielzahl von Mythen ausgeschmückt und dem Antichristspiel die Motive bereitgestellt. Das große Interesse an diesen Themen erwächst aus dem polit. wie sozialen Umfeld. Vor allem in Krisenzeiten verbreitet sich wiederholt der Glaube, daß man sich augenblicklich in der Zeit schlimmster Verfolgung befinde, die dem Anbruch des ewigen Heils vorausgeht, in der Zeit also, in der Gott letztmals dem Bösen unbegrenzte Macht über die Welt einräumt. Immer wieder führt dieser Glaube auch zur Massenhysterie. Die t h e o l o g i s c h e n W u r z e l n des Antichrist, dessen Auftreten die Funktion erfüllt, die Wiederkunft Christi zu signalisieren wie vorzubereiten, liegen im NT, in der Apokalypse des Johannes. Stehen hier eine Reihe disparater Vorstellungen nebeneinander, so suchen die frühen Christen durch apokryphe und sibyllinische Schriften eine klärende Ausgestaltung der Legende zu schaffen. Die wenig überschaubaren Uberlieferungsstränge kristallisieren sich in der populärtheolog. Lehrschrift des Abtes A d s o v o n M o n t i e r - e n - D e r . In seinem zwischen 949 und 954 verfaßten Brief an die westfränk. Königin Gerberga sammelt er kompilierend die Tradition und liefert damit ein vollständiges A n -

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tichristkonzept von weitreichender und umfassender Wirkbreite und -intensität. Die von ihm erreichte Plastizität der Antichristgestalt sowie seine endgültige Ausformung der Gesamtlegende schuf die Grundlage f ü r das dramat. Aufgreifen des Themas und seine wachsende Beliebtheit. Die Grundvorstellung vom Antichrist ist auf die Idee des großen Kampfes mit dem Bösen zurückzuführen, eines vergangenen, zu Beginn der Zeiten, der mit dem Sturz Luzifers endete, und eines zukünftigen, am Zeitenende, der die endgültige Niederwerfung des Bösen bringen soll. Der Antichrist (der seinen Namen aus den Johannesbriefen herleitet) fungiert in jener letzten Empörung wider Gott als Exponent des Bösen und ist als solcher der große Menschheitsverführer, der mit den Mitteln des Terrors, der Bestechung, aber auch durch Wunder (gelegentlich auch durch Predigt) und besondere Großzügigkeit in moralischen Fragen der Welteroberungspolitik Satans dient. Der Gegenspieler Christi wird dabei so sehr zu dessen Gegenstück, daß daraus ein wesentliches Strukturprinzip der Stoff-Interpretation erwächst: parallelisierend wird jedem Detail der Lebensgeschichte Christi ein antithetisches Detail der Lebensgeschichte des Antichrist entgegengehalten. Eine solcherart fixierte ,Anti-Vita' Christi grenzt zugleich aber den gestalterischen Freiheitsraum der Dramendichter stark ein.

Der Antichrist ist eine Kreatur Satans, oft nur seine Marionette, die ihm in die Hände arbeitet. Daraus ergibt sich die Dominanz des Teufels im Handlungsgefüge der Antichristspiele, und in wohl mehr als der Hälfte dieser Spiele ist er in die Haupttopoi fest einbezogen. Eine besondere Rolle spielt er vor und bei der Geburt des Antichrist und während seiner Jugendzeit (seine Erziehung steht unter der Aufsicht des Satans). Er übernimmt dabei oft dieselbe Aufgabe, die dem hl. Geist vor der Geburt Christi zukam; andere Versionen führen den Antichrist auch als einen Sohn des Teufels per naturam vor. Daneben fallen ihm noch zwei weitere wichtige Funktionen zu: die einer breitangelegten Stützung aller antichristl. Verführungsaktionen und die, den Sohn nach seinem Fall in die Hölle zu schleppen, wobei ihm die anderen Teufel zumeist zynische Reverenz erweisen. Eine Reihe mal. Antichristspiele beginnt mit einer Teufelszene, die sofort die enge Beziehung des Antichrist zum Teufel hervorhebt. Dieser thematischen Einführung liegen im wesentlichen zwei verschiedene Gestaltungsschemata zugrunde: einmal führt diese Eingangsszene eine Konferenz der Teufel vor, in der beratschlagt wird, wie man sich am besten des Menschengeschlechts bemäch-

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tigen könne; sie endet mit dem Beschluß, die Antichrist-Intrige zu inszenieren. Zum anderen zeigt diese Eingangsszene die Reaktionen der Hölle auf die Nachricht von der Geburt des Antichrist: die Teufel brechen in Jubel aus und führen Freudentänze auf; dies ist ein willkommener Anlaß für komische und groteske Einlagen. In einer Reihe von Spielen geht dem ersten öffentlichen Auftreten des Antichrist noch eine Teufelszene voraus, in der die Hölle sich seiner versichert. Die Intensität der Teufelsauftritte und ihr Stellenwert im Rahmen des einzelnen Spiels unterliegt individuellen Ausgestaltungsprinzipien des vorgegebenen Handlungs- bzw. Ablaufsschemas. Weitaus den größten Raum nehmen Teufelszenen im späten Luzerner Antichristspiel von 1549 ein, einem Spiel, das als eine breitangelegte Zusammenschau der gesamten volkstümlichen mal. Überlieferung gelten kann, das ungebrochener mal. Tradition verhaftet ist. Hier bereiten die Teufel sämtliche Wunder des Antichrist vor, deren Blendung dieser nicht zu durchschauen vermag, wodurch er auf besonders drastische Art als Werkzeug des Teufels vorgeführt wird. Das mal. Spiel sieht im Antichrist, dem Sohn und Werkzeug des Teufels, einen Menschen mit satanischer Macht. Auf die Möglichkeit, in bestimmten histor. Personen eine figura Antichristi, gleichsam einen Vorläufer des Antichrist zu sehen, wird dabei verzichtet: die mal. Spiele konzentrieren sich lediglich auf den verus Antichristus und befassen sich nicht mit seinen histor. oder gegenwärtigen Wegbereitern. In dieser apolit. Ausformung des Themas trägt das anhaltende Bemühen der Kirche Früchte, der Dramengestaltung der Antichrist-Legende, die von revolutionären Bewegungen sehr leicht als wirksame Waffe gegen das herrschende System, insbesondere gegen die Kirche, hätte eingesetzt werden können, jede polit. Brisanz zu nehmen. In einer Vorstellungswelt, in der Geschichte stets Heilsgeschichte bedeutet, wäre es anderseits naheliegend gewesen, apokalyptische Vorstellungen — mit verteufelungsstrategischer Komponente — konkret auf eine histor. Situation wie Person zu beziehen. Tatsächlich trugen einzelne Antichristspiele mit zu einer Judenverteufelung bei, indem sie die Juden als Verfolger und Mörder der Propheten einführten und sie so als Diener des Antichrist brandmarkten: eine solche Möglichkeit gibt das

Buch Daniel vor, wo der die Juden bedrängende syrische König Antiochos IV. Epiphanes zur ersten histor. Konkretisierung des A. wird. Das Antichristspiel wäre auch eine Möglichkeit gewesen, antikirchl. wie Sozialrevolutionäre Strömungen aufzufangen und zu gestalten. Der Kirche gelang es jedoch, die Interessenkonzentration der Dichter völlig auf die Legende auszurichten und sie aus allen Bezügen aktueller sozialer wie polit. Wirklichkeit herauszuhalten, obgleich die Päpste selbst gelegentlich eindeutige Identifizierungen einer lebenden Persönlichkeit, insbesondere des dt. Kaisers mit dem Antichrist als Waffe im polit. Vormachtkampf zu nutzen wußten. Wo im Rahmen der mal. Antichristspiele dennoch polit. Tendenzen wirksam werden, kommt ihnen eindeutiger Ausnahmecharakter zu. Dabei war es gerade polit. Initiative, die die Motivation für die das MA. bestimmende grundlegende Legenden-Fassung schuf. So versuchte Adso in einer Zeit, in der es um die Rechtsnachfolge des imperium Romanum ging, die westfränk. Ansprüche mit seiner Schrift theologisch verbindlich zu untermauern. Ein nicht unwesentliches Anliegen Adsos war auch die Entschärfung einer sich anbahnenden gefährlichen Panikstimmung, wie sie durch die allgemeine Krise und das Heraufkommen der Jahrtausendwende sich anbahnte. Der Tegernseer Ludus de Antichristo steht durch seine starke polit. Tendenz, die die Idee vom Rechtsanspruch des dt. Kaisers auf die Weltherrschaft vertritt, abseits der allgemeinen Gattungsentwicklung; aber auch ein weiteres Antichristspiel, das von antikaiserlicher Tendenz getragene, 1353/54 in der Schweiz entstandene Spiel von des Entkrist Vasnacht, fällt aus dem Rahmen des Genormt-Üblichen. Im 15. Jh. erreicht das aus der Liturgie erwachsene geistl. Spiel die E n d s t u f e seiner Entwicklung; die Antichristspiele folgen noch in einheitlicher Gattungsgeschlossenheit mal. Gestaltungsprinzipien; die satirisch-didaktische Reimpaardichtung Des Teufels Netz (von unbekanntem Verfasser zwischen 1414 und 1420 verfaßt) verschmilzt das Gedankengut der Schachzabelbücher sowie der Teufel- und Weltgerichtsszenen: Die Teufelsknechte, die das Seelenfang-Netz ihres Herrn durch die Welt ziehen, stellen sich als personifizierte Sünden dar, die die Menschheit zur Verletzung göttlicher Gebote verleiten. Der abschließende Dialog zwischen Christus und dem Teufel

Teufelliteratur folgt dem Muster der vergleichbaren Gespräche der Weltgerichtsspiele. Die weit verbreitete, aus der Predigt erwachsene , S p i e g e l - L i t e r a t u r ' und die zahlreichen Schriften der Ars moriendi legen die Grundlagen für die literar. Ausgestaltung des Teufelthemas in der 2. H . des 16. Jh.s. Ebenso wesentlich und entscheidend für diese spezifische Ausprägung reformator. Teufellit. ist die mehr humanistischen Wurzeln entstammende N a r r e n l i t e r a t u r , die um 1500 eine dichte Wirkintensität erreichte, in einer Zeit also, in der ein Großteil literar. Bemühens den Zentralgestalten Tod, Narr, Teufel gelten. Die Abhängigkeit der Teufellit. des Reformationszeitalters von der Narrenliteratur (s. d.) ist bei Joachim W e s t p h a l besonders augenfällig, der in seinem H o f f a r t s t e u f e l viele Zitate aus der Narrenlit. ausschreibt. Sebastian B r a n t s Werk ist dabei von entscheidender Bedeutung, von intensiver Wirkkraft und -breite. (So zeigt z. B . der Fluchteufel des Andreas M u s c u l u s Züge direkter Abhängigkeit vom Narrenschiff). Brants Narren, denen damit traditionsbildende Funktion zufällt, haben viel vom schwankhaften Charakter des Teufels der Fastnachtspiele und zugleich direkte Beziehungen zu mal. Lasterpersonifikationen. Im Narrenschiff ist jeder von Lastern geplagte Mensch schlechthin ein Narr, kein ,Spezialnarr' im Sinne des nachbrantschen Narrenschrifttums, wo jeder Narr auf ein spezielles Laster bezogen ist. Werden hier die Laster als menschliche T o r heiten, Fehler, Mängel erklärt und verstanden, sehen die Teufelbücher sie als Sünden an, zu deren Darstellung und Personifizierung die Narren — als zu harmlos — nicht taugen: sie griffen zur Teufelgestalt, und drängen damit den Narren nach und nach in die Rolle der Schwankfigur. Max D r e y e r , Der Teufel in d. dt. Dichtung d. MA.s. Diss. Rostock 1884. Helene Z i e r e n , Studien zum Teufelsbild in d. dt. Dichtung von 1050-1250. Diss. Bonn 1937. — Maximilian Josef R u d w i n , Der Teufel in d. dt. geistl. Spielen d. MA.s u. d. Reformationszeit (1915; Hesperia 6). Ders., Die Teufelszenen im geistl. Drama d. dt. MA.s (1914). Karl Wilh. Christian S c h m i d t , Die Darstellung von Christi Höllenfahrt in d. dt. u. d. ihnen verwandten Spielen d. MA.s. Diss. Marburg 1915. Hans Wilh. R a t h j e n , Die Höllenvorstellungen in d. mhd. Lit. (Masch.) Diss. Freiburg 1956. Gertraud H e i d , Die Darstellung d. Hölle in d. dt. Lit. d. ausgehenden MA.s (Masch.) Diss. Wien 1957. Mo-

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§ 6. Im 16. J h . spielte der Teufel eine ganz besondere Rolle; die Zeit war im wahrsten Sinne des Wortes neu-gierig, alles über den Teufel zu erfahren, alle Stratagemata Satanae kennenzulernen (wie ein oft aufgelegter Titel von Jacob A c o n t i u s formuliert), so daß man diese Epoche zum Jh. des Teufels erklären könnte: die Glanzzeit seiner literar. Bedeutung und Geltung bricht jetzt an. Auf allen literar. Ebenen tritt er, von unterschiedlichen Ausformungsintentionen geprägt, in Erscheinung: in der umfangreichen, vielfältigen und vielgestaltigen Erzähllit. (den Exempeln, Legenden, Mirakeln, Schwänken, Fabeln, Volksbüchern, Märchen und Volksliedern). Als Dramenfigur steht er in reformatorischen Kontext-Bezügen; zur Kristallisationsfigur wird er in den protestant. Teufelbüchern der 2. Jh.hälfte, die zur T. schlechthin avancierten. Die Tradierung mal. Erzählstoffe erfuhr in der im Reformationsjahrhundert weithin im Vordergrund stehenden protestant. Erbauungsliteratur (s. d.) keine Unterbrechung. Grundlage von Rezeption und Neubildung ist dabei das Fort- und Weiterwirken tradierter Teufelvorstellung: Gott gibt dem Bösen Gewalt über Gottlose, sie zu strafen, über Fromme, sie zu versuchen und zu erproben. Ist die im weitesten Sinn gefaßte Erbauungsliteratur der Epoche einmal fest in mal. Traditionswelten verankert und verwurzelt, orientiert sie sich in ihren zeitimmanenten Tendenzen an Luther, der vor allem in seinen ganz persönlichen, privaten Teufelsäußerungen zur autoritativen Bezugsperson wird. Ist dieses in jeder Sicht so bemerkenswerte Jh. einerseits noch stark dem M A . verpflichtet, zeigen sich gerade im literar. Bereich neuzeitliche Tendenzen. So wird u. a. eine bewußte Kalkulierung und Nutzung von Werbefaktoren sichtbar: viele Zugeständnisse werden an die Sensationsgier des Lesers gemacht, und auch der Teufel erscheint mitunter als bloßer verkaufsfördernder Interessen- und Blickfang nur im Titel. Die T e u f e l b ü c h e r oder .Teufel' sind Produkte der protestantisch geprägten 2. H . des 16. Jh.s, die — der theologisch-geistigen Richtung der erstarrenden Orthodoxie verpflichtet — inmitten üppig wucherndem Moralismus auch Züge eines beginnenden Rationalismus zeigen: Eine für den täglichen Gebrauch bestimmte Lehr- und Unterhaltungsliteratur, erbaulich, doch mit viel Erheiterndem, Ergötzlichem, Schriften mit volkstümlichen Elemen-

ten (Mahnungen, Warnungen werden oft in sprichwörtliche Form gekleidet), volksnah, doch keine Volksbücher im heutigen Verständnis des Begriffs, wohl aber in dem des 16. Jh.s, dem jedes dt.sprachige Buch als Volksbuch (s. d.) galt. Träger dieser Gattung sind evangel. Theologen, die L u t h e r s A u t o r i t ä t für sich in Anspruch nehmen, die überzeugt sind, sein Gedankengut in seinem Sinne zu verbreiten und die in der Imitierung seiner Sprache ein wirksames autoritatives Element sehen. Diese Gruppe lutherischer Theologen-Autoren hat jedoch den Theologen Luther weithin übergangen und sich an die vielfach von volkstümlichen Vorstellungswelten geprägten Äußerungen des Menschen Luther, wie sie vorwiegend in den Tischreden schriftlich fixiert sind (aber auch in den .Briefen' und theologischen Schriften mitunter durchscheinen), gehalten und sie zu verbindlichen theologischen Leitsätzen erhoben. In schriftlicher und mündlicher Aussage griff Luther meist zu vereinfachender Charakterisierung bestimmter teuflischer Einzelaspekte, nicht selten zu funktionalen Begriffen, die eine verkürzte, prägnante wie knappe Summierung seiner Erörterung erlaubten, die zugleich als Anspielungsformeln sofort begriffen werden konnten: Saufteufel, Partekenteufel, Land-, Hof-, Kirchen-, Hausteufel u. a. Diese Reihe vermeintlich fester Begriffsfixierungen erweiterten seine Nachfolger beträchtlich und entwickelten sie zu Spezialteufeln. Einen Teil ihrer Autorität ziehen die Verfasser der Teufelbücher auch aus dem Faktum, daß sie ihre theologische Ausbildung im engsten Umkreis lutherischen Wirkens empfangen haben. So haben von den 20 Verfassern, deren Werke bis 1569 gedruckt wurden, 10 mit Sicherheit und einer wahrscheinlich in Wittenberg selbst studiert, die übrigen — mit nur einer Ausnahme — an Universitäten des unmittelbaren lutherischen Bereichs. Die aus eigenwilligem Lutherverständnis entwickelten Teufelschriften vereinen Züge der spätmal. didaktischen Literatur, ziehen Elemente volkstümlicher Erzählliteratur an sich, übernehmen Aufbauprinzipien der Narrenliteratur, greifen gestalterische Züge der analog zu den sog. ,Himmelsbriefen' (s. d.) geschaffenen ,Teufelsbriefe' (seit dem 14. J h . ) auf und beziehen ihr aktualisierendes Rohmaterial aus den zeitgenössischen, auf Flugblättern verbreiteten .Tatsachenberichten' (die

Teufelliteratur als ,warhafftige Historie', ,warhafftige Geschieht', ,ware Historia', .warhafftige Newe zeitung', ,warhafftiger Bericht' angepriesen wurden). Sie wirkten unmittelbar als Interessen-Initiatoren, bereiteten den moralisierenden Schriften den Boden und hatten wesentlichen Anteil an der weiten Verbreitung dieser Schriften. Diese für den Geist der nachreformatorischen Jahrzehnte charakteristischen ,Teufel' sind in ihrem kompilatorischen Charakter dem K o m p o s i t i o n s p r i n z i p spätmal. Schriften verpflichtet. So hat z. B. der Verfasser des Jagteuffel, Spangenberg, alle ihm erreichbare Lit. der Antike und des MA.s sowie zeitgenössische über die Jagd im allgemeinen und ihre Bewertung als Laster im besonderen systematisch gelesen und nach jeder Sicht ausgewertet und verarbeitet. Der moraldidaktische Charakter dieser Traktate wird durch die Äußerungen einzelner Autoren unterstrichen und bestätigt, die von „Unterricht" und „lehre" sprechen, und ihre Schriften als Beiträge zur Förderung von Sitte und Bildung bezeichnen. Die zahlreichen Spezialte ufel im Rahmen dieser Gattung sind papierene, schemenhafte, konturlose Personifizierungen mit allen Attributen des Künstlichen, Konstruierten, die klar erkennen lassen, daß es ihren .Schöpfern' primär auf die Laster und deren Einteilung ankam. Spezialteufel und zugehöriges Laster erweisen sich als austauschbar; ihr Verhältnis läßt sich auf die Formel Laster = Teufel bringen. Die durch die Lasterteufel-Namen zusammengefaßten und geordneten, sich vielfach überschneidenden Themenkomplexe lassen stoffliche Gruppierungen erkennen; einmal sind es die persönlichen, die privaten, individuellen Laster: Faul-, Fluch-, Geiz-, Hoffart-, Hosen-, Kleider-, Lügen-, Neid-, Sauf-, Spiel-, Tanz-, Wucherteufel etc.; zum andern werden Verfehlungen im zwischenmenschlichen Bereich angeprangert: Ehe-, Weiber-, Haus-, Gesinde-, Sorgenteufel; seltener werden Mißstände des öffentlichen Lebens, der Gesellschaft, der Kirche solcherweise gestaltet, so z. B. in der Ausprägung als Schrapteufel, Jag-, Hof-, Gerichts-, Eid-, Gewissens-, Sabbat-, Sakraments-, Schul-, Fastnachts-, Pfarrteufel; in das Umfeld allgemeiner Dämonologie gehören Traktat-Aussagen zum Teufel selbs, gehören Schriften wie die Von des Teufels Tyranney u. ä. und Teilstücke

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einzelner Teufelbücher wie solche aus dem Zauberteufel. In ihren oft langatmigen Titeln geben diese ,Teufel' mitunter beachtliche Aufschlüsse über Inhalt und Anliegen, lassen sie Denkart und Motivation ihrer Autoren erkennen; programmatische funktionale Titel dieser Art sind z. B. der des Tanzteufel (1567): Tanzteufel. Das ist / wider den leichtfertigen / unverschempten Welt Tantz / und sonderlich wider die Gotts zucht und ehrvergessene Nachttenze. ö f t e r geben die pastoralen Verfasser in Vorwort und Einleitung zusätzliche Einblicke in ihr gestalterisches Agens, oder erörtern die situationsbezogenen Voraussetzungen ihrer Abhandlung. So stellt z. B. M i l i c h i u s in seinem ,Schrapteufel' (1567) fest, daß vor 40 Jahren der Teufel durch den ,Bawren auffrhur' alle Obrigkeit aufheben wollte; nachdem ihm dieser Feldzug aber mißlungen, habe er gegenwärtig eine gegensätzliche Taktik eingeschlagen, wobei es ihm nunmehr darum gehe, daß „durch der Oberkeit Tiranney die Unterthanen und alle armen untertrucket / und bis auff das beine verzeret / und auff diese weise zu letzt ein Barbarisch wesen werde". Diese Situation nun, dieses ,Elend' bewegt Milichius dazu, „einen newen kampff" aufzunehmen, den „wider den Bauren feind, den leidigen Schrap Teufel". Florian D a u l sieht in seinem Tanzteufel das Laster der ,Tanzsucht' so sehr um sich greifen, daß er vermutet, es werde wohl noch kein gegen diese Sünde gerichtetes Teufelbuch geben; Buchhändler bestätigen ihm diese Lücke. Auch der Verfasser des Hoffartsteufel, J . W e s t p h a l , behandelt sein Thema, weil er feststellt, daß es noch in keinem „sondern buche" behandelt ist.

In einem Schrifttum, das in breiter Streuung und Nutzungsdichte ein für damalige Begriffe ungewöhnlich großes Publikum erreichen und ansprechen wollte (und auch konnte), wirken vielfach verwendete lat. Sentenzen und Zitate zunächst befremdend. Von den verschiedenen Autoren unterschiedlich intensiv genutzt, sind sie einmal Ausdruck ihrer Gelehrsamkeit; zum andern aber kommt ihnen autoritative Funktion zu: sie sollen den Leser durch die wissenschaftliche Fundierung der Aussagen, Mahnungen und Warnungen beeindrucken. Auch war es für diese Schriftsteller mitunter sehr bequem, ins stets verfügbare SpruchReservoire einer Sprache zu greifen, die ihnen großenteils vertrauter war als die Volkssprache. Eine andere Möglichkeit, die A u t o r i t ä t der T r a k t a t e nachhaltig zu festigen, ist die

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Nennung einer großen Zahl unterschiedlicher Garanten, „aus welchen der mehrer teil dieses Büchleins genomen / und zusammengetragen ist worden", wie u. a. Westphal formuliert. Daß derartige Quellenverzeichnisse auch eine Schutzfunktion zu erfüllen hatten, insbesondere dann, wenn der Autor Machtträger seiner Zeit angriff, stellt z. B. Spangenberg ausdrücklich fest. Sein Skribentenverzeichnis (145 Quellen umfassend), wirkte traditionsbildend auf den sich um ihn scharenden literar. Kreis, dem Westphal, Milichius, Höcker, Obenhin, Porta u. a. angehörten. Eine andere Art der Sicherung ist die, bei „einem Gottseligen Patronen", einer hochgestellten wie einflußreichen Persönlichkeit Schutz zu suchen, der die Schrift dann gewidmet wird (wie dies z. B. Milichius tut). Der Schwerpunkt der erfaßten, vorgeführten und angeprangerten Laster liegt bei den p r i v a t e n Sünden jeder Art; an Verfehlungen und Mißstände des öffentlichen Lebens wagen sich nur wenige Autoren, einmal der persönlichen Gefahr wegen, in die sie sich damit aufgrund der herrschenden autoritären Machtstrukturen brachten, zum andern aber auch aus einem Untertanen-Verständnis heraus, das in Luthers Stellung zur Obrigkeit und seinen Auffassungen zu Staat und Gesellschaft wurzelt. Ludwig Milichius erfaßt in seinem Schrap Teufel besonders intensiv diesen im ganzen eher vernachlässigten öffentlichen Bereich und hält es dabei für geboten, wegen des „Zunder einer Rebellion" alle drei Ausgaben ohne Drucker- und Ortsangabe erscheinen zu lassen. Wie brisant eine solche Darstellung war, geht schon daraus hervor, daß es Indizien dafür gibt, daß ganze Auflagen dieser Schrift vernichtet wurden. — Auch Spangenberg greift in seinem Jagteufel ein ähnlich heikles Thema auf: die zur Manie ausgearteten Jagdgewohnheiten des Adels. Beide genannten Schriften zeichnen ein Gemälde der sozialen Nöte und Mißstände der Zeit. Andere Traktate, wie z. B. der Zauberteufel (ebenfalls von Milichius) beleuchten alle Komponenten des damals herrschenden Aberglaubens in seinen erschreckenden Ausmaßen; andere wiederum haben besonderen kulturhistor. Wert: so ist der ,Kleiderteufel' durch die Dokumentation damaliger Mode eine der wenigen Quellen, die uns für die Kostümgeschichte der Zeit zur Verfügung stehen. ,Hoffartsteufel' und ,Kleiderteufel' geben

Einblicke in alle Einzelheiten zeitgemäßer Sitten und Gebräuche. Eine ausführliche wissenschaftliche Darstellung der ,Teufel', die ihrer Bedeutung für das literarische, religiöse wie kulturell-soziologische Bild der Epoche gerecht zu werden vermag, steht noch aus; es seien deshalb anhand einiger Einzelbeispiele Wesen, Gehalt, Wirkrichtung, Anliegen der Traktate knapp umrissen und die Komponenten hervorgehoben, die uns besondere Aufschlüsse über Denk- und Sozialstrukturen ihrer Blütezeit vermitteln. Der Zauberteufel beschreibt auf eindringliche Weise, wie sehr dieses Laster die gesamte Gesellschaft beherrscht. Die Verpflichtung, gegen all die vielen ,Zauberer', ,Schwarzkünstler', .Beschwerer', ,Hexen', ,Milchdiebinn', ,Wettermachrinn' vorzugehen, tragen, nach dem Verständnis des Autors, nicht nur die Prediger, sondern die gesamte Obrigkeit; in einem Katalog von Strafmaßnahmen sieht er das wirksame Mittel, das Zauber-Unwesen einzudämmen. — Der schon erwähnte Schrapteufel führt den Teufel vor, der die Fürsten und Herren jeder Art, zum leiblichen und seelischen Schaden ihrer Untertanen zu aufwendiger Hofhaltung, übermäßigem Bauen, zur Führung sinnloser Kriege veranlaßt, was wiederum unmäßiges Borgen, Wuchern, Münzverfälschungen, ungerechtfertigte Steuern nach sich zieht. Dieser schlimmen Obrigkeit vermag er nur recht vage die Strafe Gottes anzukündigen, während er den geplagten Untertanen beredt ihr Sündenregister — den gesamten Lasterkatalog der Zeit — vorhält. — Einige ,Teufel' gelten privaten Lastern, die nach Ansicht der Prediger besonders weit verbreitet sind. Der ,Hosenteufel' (1555) des Andreas M u s c u l u s , der den Kern- und Hauptdrucken zuzurechnen ist, scheint die intendierte Wirkung nicht tiefgreifend und anhaltend erreicht zu haben. Jedenfalls sieht sich Johannes S t r a u s s 1580 zu einem ,Kleiderteufef veranlaßt, weil ein ,Hosenteufel' nicht mehr genüge, wie denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt alle Laster wieder im Schwange seien, weil die Prediger „wie die Fleischerhunde an einander gefallen" seien, und deshalb die „angefangene gewonheit wider die Laster zu schreiben" aufgegeben hätten. — Zur ,Teufelswallfahrt' wird der Tanz in den Augen Florian Dauls. Sein Tanzteufel (1567) rechnet mit dem .Tanzkrieg', der die Menschen allenthalben dazu treibe, wie das „unvernünftige viehe" herumzulaufen, zu raufen, Gott zu lästern, zu zanken, schlagen, würgen, morden. — Den ,Hurenteufel' hält Andreas H o p p e n r o d für einen der tätigsten wie erfolgreichsten. Er gibt besonders ausführliche Begründungen dafür, warum diese ganze Lasterhierarchie strikt zu meiden sei. — Einem dieser Grundlaster, in dem die meisten anderen wurzeln,

Teufelliteratur der Hoffart, wendet sich (1565) Joachim W e s t p h a l zu, nachdem er bereits 1563 einen Faulteufel verfaßt hatte. Sein Traktat, ein Muster der Spangenbergschen Richtung der .Teufel', erhebt sich durch seine humorgetragene Grundhaltung weit über den für die Teufelbücher üblichen Durchschnitt. — Ein beliebtes Thema der Zeit gestaltet auch Adam Schubart in seinem Hausteufel (1564); humorwie verständnisvoll nimmt er sich — in Reimen — weibliche Untugenden vor. Ebenfalls gereimt sind die Zehn Teufel (1567) des Nicolaus Schmidt, die demselben Thema gewidmet sind, doch ohne die objektivierende Distanz, die das Werk Schubarts auszeichnet. Ausgehend von der Feststellung, (die auch Luther wiederholt traf), daß der Teufel dem Ehestand, als „Gottes Lustgarten" „von Herzen gram" sei, und deshalb „einer des andern plage Teuffei" werden könne, vermag er nur die Teufel zu sehen, von denen die Frauen besessen sind; aus Gründen der Symmetrie — oder einer Milderung seiner vorgebrachten ,Weiberfeindlichkeiten' - wendet er sich in einem zweiten, wenig engagierten, farblosen Teil den weiblichen Tugenden, den Spiegelbildern ihrer Untugenden zu. Der Teufel selbs gehört in den Kreis der Hauptdrucke; das Werk wurde für die luther. Orthodoxie zu einer Art praktischer Ideologie in literar. Form für das gesamte Repertoire der Teufelsfragen. Jodocus H o c k e r i u s , der bereits 1564 einen Bannteufel erscheinen ließ, gehörte zum Kreise, den Spangenberg in 10 Mansfelder Wirkjahren (ab 1553) um sich scharte und deren Arbeiten er teilweise koordinierte und überwachte. Höcker konnte sein Werk nicht mehr selbst vollenden; unter der bearbeitenden Weiterführung seines Amtsbruders Hamelmann, der es schließlich herausgab, erlitt die Arbeit erhebliche qualitative Einbußen. — Dem 1557 erschienenen Spilteufel Eustachius Schildos wurde großes Interesse entgegengebracht, war doch auch die Spielsucht als Kernlaster der Zeit eingestuft. Bemerkenswert ist die Kompositionsform dieses .Teufels': den Teufelsbriefen in Prinzip und Formung nachgemustert, läßt nicht der Teufel selbst, sondern lassen die Spieler in seinem Namen einen ironisch-satirischen Sendbrief ausgehen.

Die Teufelbücher verbreiteten sich seit 1552 — mit dem Erscheinen des (in Leipzig gedruckten) Sauffteuffel — rasch über alle Landstriche, in denen sie nicht behördlich verboten wurden, wie im Herzogtum Bayern, den Bistümern Würzburg und Bamberg sowie den rhein. Kurfürstentümern. In diesen kath. Gebieten hatten die Behörden die Einstellung der Kirche übernommen, die an diesen Schriften schon deshalb Anstoß nahm, weil sie vorwiegend mit Vergnügen gelesen wurden und ergötzliche Details boten. Die hohe Popularität dieser Schriften spiegelt sich in

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den Verkaufslisten der Buchmessen; ihre Gesamtverbreitung in der 2. H. des 16. Jh.s wird von Heinr. Grimm auf 235 000 Stück geschätzt — eine eher zu niedrig angesetzte Zahl in einer Gesellschaft, die so intensiv und anhaltend an allem Teuflischen interessiert war, daß Abraham a Santa Clara noch ein Jh. später sagen konnte, die .Mahometaner' könnten sehr wohl „schimpfweiß" die Christen „teuflisten" nennen. D r u c k z e n t r e n der Erstausgaben sind Eisleben (mit 8 Erstausgaben), Frankfurt/Oder (mit 5), Ursel (mit 5), drei Orte, die allgemein als Hochburgen starrer Luther-Orthodoxie galten, wobei diese Orte zugleich die Wirkstätten der pastoralen Verfasser sind: in Frankfurt lebte Andreas Musculus, der Hauptinitiator der Teufelbücher, in Eisleben war Spangenberg tätig. Für die Zweit- und Mehrdrucke sind andere Zentren von tragender Bedeutung: weit beherrschend steht nunmehr Frankfurt/ Main im Vordergrund (das neben Erfurt und Magdeburg an den Erstausgaben mit 3 .Teufeln' beteiligt war). Die inneren Auseinandersetzungen der Geistlichkeit hatten zur Folge, daß in den 70er Jahren nur wenige neue Teufelbücher erscheinen konnten; erst Johannes Rhodius sorgte mit seinem Schmeichler- oder Fuchsschwentze-Teufel für einen gewissen Neu-Aufschwung. Die gebildete Welt jener Epoche war auf das Prinzip der Vollständigkeit fixiert, ein Zug, der zu akribischer Sammelleidenschaft führte, wobei die jeweils erreichbaren Schriften individuell zu Sammelbänden zusammengestellt und gebunden wurden. Schon bald verstand der geschäftstüchtige Verleger Sigmund F e y r a b e n d in Frankfurt a. M. diese Usancen der bücherkaufenden Schichten zu nutzen; auf der Fasten- und Herbstmesse 1568 verkaufte er insgesamt 1220 .Teufel', davon 232 ,Eheteufel', 203 .Spielteufel', 180 .Fluchteufel', 151 Jagteufel', 136 ,Hof- und 131 .Geizteufel'. Unter dem Titel Theatrum Diaholorum faßte er 1569 zwanzig Teufelbücher (mit ca. 1000 Seiten) zusammen; der Leittitel, der bereits vom kommenden Geist des Frühbarock mit seinem , Welttheater' kündet, setzte sich schnell durch, bis er, der veränderten Zeitströmung angepaßt, um 1700 durch den Leittitel .Galerie' abgelöst wurde, der seinerseits in der Romantik dem adäquateren .Panorama' weichen mußte. 1575 wurde der erfolgreiche Sammelband — um

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4 Schriften erweitert — neu aufgelegt, 1587/88 zum dritten Mal, nunmehr in zwei Bände geteilt und alles absorbierend, was inzwischen neu auf dem Markt erschienen war. Mitte der 90er Jahre war wohl auch diese Auflage vergriffen, da nun die alten ,Einzelteufel' vermehrt auftauchen, deren Wiederauflage durch die erste Sammelausgabe schlagartig unterbunden worden war; zwischenzeitlich florierten fast ausschließlich nur jene Einzeltitel, die Feyrabend aus uns unbekannten Gründen nicht aufgenommen hat, wie Schubarts Hausteufel und die Zehn Teufel Schmidts, die zugleich die einzigen Teufel in poetischer Form sind. Feyrabend war 1590 verstorben; ein Nachfolger, der eine erneute Auflage besorgt hätte, konnte oder wollte sich nicht finden. Von kathol. Seite wurde der Versuch unternommen, als Gegengattung eine Art ,Anti-Teufel' ins Leben zu rufen. So erschienen im süddt., altkirchlichen Raum, initiiert und getragen vom 1534 geborenen Franziskanermönch Johannes N a s , einem der bedeutendsten volkssprachlichen Polemiker des Jh.s, die sog. ,Engelbücher', die ihrerseits wieder eine Flut von Gegenschriften veranlaßten. Schließlich gingen eine Zeitlang Engel- und Teufelbücher — unter gelegentlicher Verwischung der Fronten — wirr durcheinander. Nach der Revision und Erweiterung der bibliographischen Übersicht Goedekes durch Heinr. Grimm sind für den Zeitraum 1552-1604 achtunddreißig Erstausgaben (von 31 Autoren) und 105 weitere Auflagen bekannt. Der zentralen Bedeutung dieser Gruppe von Teufelschriften gemäß, die im Rahmen der um das Teufelmotiv kreisenden Lit. eine in sich geschlossene thematische Einheit bilden, so daß sie als Gattung angesprochen werden kann, seien diese Teufelbücher in chronologischer Folge mit ihren Kurztiteln angeführt: 1552: Wider den Sauffteufel (Matthaeus Friderich von Görlitz); 1555: Vom Hosen Teuffei (D. Andreas Musculus); 1556: Wider den Fluchteuffel (D. Andreas Musculus); 1556: Wider den Ehteuffel (D. Andreas Musculus); 1557: Von den Zehen Teufeln (Nicolaus Schmidt); 1557: Späteufel (Eustachius Schildo); 1559: Vom Himel und der Hellen ( D . Andreas Musculus);

1560: Der Jagteuf fei (M. Cyriacus Spangenberg); 1561: Von des Teufels Tyranney ( D . Andreas Musculus); 1562: Vom Juncker Geitz und Wucherteufel (Albert von Blanckenberg); 1563: Faul-Teufel (Joachim Westphal); 1563: Der Zauber Teuffei (M. Ludovicus Milichius); 1564: Wider den Bannteufel (Jodocus Hockerius); 1564: Gesind Teuffei (M. Peter Glaser); 1564: Der Sieman, das ist wider den Hausteuffell (Adam Schubart); 1565: Wider den Huren Teufel (Andreas Hoppenrod[t]); 1565: Wider den Hoffartsteufel (Joachim Westphal); 1567: Schrap Teufel (Ludovicus Milichius); 1567: Der Heylige, kluge und Gelerte Teuffei (Andreas Fabricius); 1567: Tantzteuffel (Florian Daul); 1568: Der Teufel selbs (Jodocus Hockerius); 1572: Melancholischer Teufel (Simon Musaeus); 1572: Einfeltige und kurtze Erinnerung vom Sabbathsteuffel (Caspar Faber); 1573: Sorgen Teufel (Andreas Lanng); 1574: Der Eydteuffel (Christopherus Obenhin); 1575: Der Pfarr und Pfründ Beschneiderteuffel (Christopherus Marstaller); 1579: Spiegel Der Hellen (M. Christophorus Ireneus); 1580: Gerichts Teuffei (Georg am Wald); 1580: Serpens Antiquus, Die alte Schlange, Das ist: Der Sacraments Teuffel (Johan Schütz); 1581: Schmeichelteuffel (M. Hermann Heinrich Frey); 1581: Wider den Kleyder, Pluder, Pauß und Krauß Teuffel. (Johann Strauß); 1581: Lügen Und Lesterteufel (M. Conrad Porta); 1581: Schmeichler oder Fuchsschwentze Teufel (Johannes Rhodius); 1582: Neidhard, oder Neidteufel (Joh. Rhodius secundus); 1583: Deß Teuffels Nebelkappen (Paulus Frisius Nagoldanus); 1586: Bettel und Garte-teuffel (Ambrosius Pape); 1594: Notwendige Erinnerung Vonn des Sathans letzten Zornsturm (Andreas Celichius); 1604: Gewissens Teuffel (M. Heinrich Decimator).

Neben den ,Teuf ein' spielt im 16. Jh. die protestantisch geprägte Erzählliteratur eine wesentliche Rolle. Auch sie nutzt mal. Quellen und stützt sich auf die Autorität Luthers. Die Erzählstoffe, die sich um die Figur des Teufels ranken, stammen aus dem Hexenhammer (malleus maleficarum, 13 Drucke zw. 1487 und 1520, danach 16 weitere Drucke), der auf dem Gebiet des Zauber- und Hexenwahns autoritative Geltung hatte, aus den exemplorum libri decem (posthum 1507)

Teufelliteratur des Marcus Antonius Sabellicus (1436-1506) und aus Caesarius von Heisterbachs (1180-1240) Dialogus magnus visionum atque miraculorum (1220), worin die Darstellung des Bösen und Unheimlichen (z. T. aus mündlicher Überlieferung) eine bedeutsame Rolle spielt; ausgeschrieben wurden auch das speculum exemplorum (1266 Exempel, seit etwa 1480 in zahlreichen Auflagen verbreitet) und die legenda aurea (jacobus de Voragine, zw. 1263 und 1273); ebenso wurde die Materialfülle des Predigtgutes des 14. und 15. Jh.s genutzt. Im Rahmen dieser Erzähllit. werden nicht zuletzt die 48 Nummern Teufelgeschichten aus den Tischreden Luthers tradiert. Weitere wichtige Quellen stellen S. Francks Chronica von 1531, sowie die zeitgenöss. Flugblatt- und Flugschriftenfülle dar; die Kompilatoren finden aber ihr Material auch in anderen, kurz vorangegangenen Kompilationen, aus denen sie bedenkenlos ganze Kolonnen übernehmen (zu den bevorzugten Vorlagen wurden die Fincelschen Geschichten). Die aufgegriffenen und ausgestalteten Teufelmotive kreisen immer wieder um die vielfältigen und vielschichtigen Manifestationsformen des Teufels, sein nimmermüdes tätiges Mühen und Wirken. Die thematischen Schwerpunkte erwachsen aus den jeweiligen Motivationen der einzelnen Kompilatoren: so können z. B. Geschichten unter dem Aspekt einer beweisenden Darstellung der permanent wirksamen Versuchungsstrategie ausgewählt sein, auf die Bekämpfung verharmlosender Tendenzen ausgerichtet werden, unter dem Leitmotiv des Endzeitlichen stehen, oder als Exempel für Teufelsabhängigkeit des Papstes und der alten Kirche dienen. Besonders hervorzuheben sind hier die K o m p i l a t o r e n Hieronymus Rauscher (ca. 1515-1564/65), Kaspar Goltwurm (1524-1559), Jobus Fincelius (zw. 1526 und 1530-1589) und Andreas Hondorf(f) (ca. 1530-1572). H . R a u s c h e r entspricht mit seiner Fülle von Erzählungen von bösen und erzbösen Teufeln und seiner Art, latente, unterschwellige Furcht zu erzeugen, ganz den Unterhaltungserwartungen und -bedürfnissen seiner Leser. So war denn auch seiner Sammlung papistischer ,Lügenden' (Hundert außerweite/große, . . . Papistische Lügen . . ., 1562) ein großer Erfolg beschieden. Diese ,Lügenden' sind Teil der breitangelegten

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Legendenpolemik, die aus der Ablehnung der persönlichen Heiligen-Anrufung des Protestantismus erwachsen, aber im Grunde als eine affektiv und ideologisch stark befrachtete Pervertierung der mal. Exempelliteratur anzusehen ist. Zu den erkennbaren Haupttypen Rauscherscher .Lügenden' gehören auch Teufels-Exempel, die er vorwiegend aufnimmt, um zu zeigen, daß der Teufel die Papisten in die Hölle führen werde. K. G o l t w u r m s , des eigentlichen Reformators der Nassauisch-Weilburgischen Kirche Wunderwerck und Wunderzeichen Buch (1557) führt im 6. (und letzten) Teil teuflische Mirakel vor, vorwiegend mit der Absicht, dadurch Einrichtungen des Katholizismus zu diabolisieren und nachzuweisen, daß der Teufel auch unter den Christen in nachapostolischen Zeiten seine Wirksamkeit voll entfalten konnte, daß also nicht nur Heiden besonders teufelsanfällig sind. Er stützt sich bei der Auswahl seiner Mirakel, die sich teilweise mit Poltergeistersagen berühren, besonders auf den Hexenhammer. Aus seinen Ansätzen einer Systematisierung der Teufelgestalten erwächst keine planmäßige, einheitliche Dämonologie. Der Exempel-Fundus Goltwurms stellt eine Kompilation großen Ausmaßes dar, die ohne Vorbild und zugleich ohne Nachfolge ist. Ganz unter endzeitliche Aspekte stellt J. F i n c e l i u s die Teufels-Wunderzeichen in seinen Wunderzeichen (1556), die im Rahmen seiner gesamten Kompilation breiten Raum einnehmen. Einen zweiten Teil ließ der Wunderzeichen-Kompilator 1559 erscheinen, einen dritten 1562, worin er vermerkt, daß er sehr wohl in der Lage sei, noch weit mehr vom Teufel zu berichten, wenn er nicht Sorge hätte, ihn dadurch an die Wand zu malen. Fincel lebte intensiv in den Werken zeitgenöss. und nachfolgender Kompilatoren weiter, die teils mit, teils ohne Urheberangabe ganze Geschichtenkomplexe übernehmen. Auch Andreas H o n d o r f ( f ) ist von Fincel abhängig, den er an bevorzugter Stelle seines Autorenverzeichnisses zum Promptuarium exemplorum (1568), einem Bestseller seiner Zeit, nennt; Hondorfs Exempel-Vorrat, sein Lebenswerk, zu dem er die Materialsammlung schon in seiner Studentenzeit begonnen hatte, enthält zahlreiche beispielhafte Berichte über Macht und Unwesen des Teufels (und seiner Helfer), der ihm als ein „mächtiger

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tausentkünstler" erscheint. Sein Anliegen — wie das so vieler vor und nach ihm — ist, dem Menschen die Grundlagen zu liefern, anhand von Beispielen für das eigene Leben zu lernen, wobei eine gewisse Freude des Autors an der Darstellung menschlicher Unvollkommenheiten und Schwächen unverkennbar ist. Im 17. Jh. wurde das Buch, einer bereits angelegten Tendenz folgend, erfolgreich zu einer Art Hausbuch für die protestant. Familie erhoben, bis sich der 30jähr. Krieg auch auf Buchhandel und Buchmarkt auszuwirken begann. Zacharias Ri van der nahm sich mit seinem Historien und New Exempelhuch (1591/92) vor, eine Fortsetzung des Hondorffschen Promptuarium exemplomm zu schaffen. Er stellt dabei vornehmlich Exempel für die Bußpredigt bereit, in denen auch dem Teufel bedeutsame Funktion zukommt, dessen Macht seine absolut ,wahren' Historien erweisen sollen. Seiner Fest-Chronica (1591), in der er Historien-, Anekdoten-, Legendenstoffe als Exempel für die Predigten der Festtage des Jahres geben will, war kein großer Erfolg beschieden. Sie enthält eine Reihe von Teufelerzählungen, insbesondere zeitgenöss. Teufelserscheinungen. Aber auch in den (Melanchthon angedichteten) Collecteana locorum communium (dt. Ausgabe 1566) des Johannes Manlius, sowie in seinem Festtagskalendarium finden sich nahezu ebenso viele Teufelerzählungen wie in den Werken Fincels und Goltwurms der gleichen Jahre. Die immer wieder tradierten Teufelgeschichten der protestant. Kompilatoren finden Eingang in die Sagen- und Märchentradition und werden in den im 19. Jh. erfolgten Fixierungen mündlicher Überlieferungsstränge erneut faßbar. Einen wesentlichen Teilbereich des Erzählgutes stellen die gattungsmäßig nicht immer klar abgrenzbaren Schwänke dar. Auch in dieser Sparte des umfangreichen Erzählgutkomplexes des 16. Jh.s (s. Schwank, epischer) spielt der Teufel eine Rolle. Schwänke sind nicht nur in Schwanksammlungen verzeichnet, sondern finden sich auch in Predigten und in Erzählsammlungen verschiedenen Charakters, vor allem da, wo Historien jeglicher Art kompiliert werden; so ist einer der fruchtbarsten protestant. Kompilatoren, Wolfgang B ü t ( t ) ner — seine Epitome Historiarum, 1576, (für „Liebhaber der Tugend und Ehre in hohen

Emptern") enthalten 155 Teufelerzählungen — zugleich Autor der Schwanksammlung Claus Narren. Der ,Schwank-Teufel' ist nicht durchweg lustig oder lächerlich und auch keineswegs eine der „beliebtesten Schwankfiguren des 15. und 16. Jh.s" (Lutz Röhrich); in bezug auf den Teufel zeigen die Schwankbücher des 16. Jh.s vielmehr ein uneinheitliches Bild. Bei Frey, Lindner, Schumann, Wickram finden sich keine Teufelgeschichten; die vorreformatorische Sammlung Paulis, Schimpf und Ernst (1522), enthält im Gesamtrahmen von 887 Nummern (einschließlich der von Joh. Boke zusammengetragenen Zusätze) lediglich 31 Erzählungen, die sich um die Gestalt des Teufels ranken; nur 10 Teufelbelege (bei 157 Kapiteln) liefern die Schwankbücher des Martin M o n t a n u s ; in der siebenbändigen Kompilation des Hans Wilh. Kirchhof Wendunmuth (1563) lassen sich bloß 24 Teufelstellen ausmachen, wovon eine zusammenhängende den Luther-Tischreden entstammt. Hinter den vielen unerklärlichen Geschehund Ereignissen der Sagenwelt wird gleichfalls der Teufel gesehen. Auch hier ist es der sündige Mensch, der teuflischem Wirken in reichem Maße Angriffsflächen bietet; bevorzugte Anlässe seines Zupackens sind falsches Schwören, Lästern, Fluchen, Saufen, Prassen, Spielen. Den Verteufelungen wird ein besonders breites Feld eingeräumt: Papst, Mönch, Pfaffe, Bischof, abtrünnige Protestanten fungieren als Teufelshelfer oder -inkarnationen. Die Figur des ,sagentypischen' Teufels erweist sich als austauschbar; sie kann jederzeit an die Stelle einer Reihe anderer Sagengestalten treten, aber ebenso von diesen verdrängt oder abgelöst werden. Die beliebten W e r w o l f e r zählungen sind an teuflisches Umfeld gebunden, wobei zwei Motivstränge sichtbar werden: einmal geht es dabei vornehmlich um Menschen, die sich ihre Verwandlung lediglich einbilden, während ihre Umwelt bezeugen kann, daß sie keine Realität ist, der Teufel also ,nur' das Gehirn und die Sinne des Betroffenen vernebelt hat; andere Geschichten ranken sich um ,wahre' Verwandlungen durch den Satan. Luthers persönlicher Kampf mit dem Teufel, wie er ihn selbst schildert und wie er von seinen Nachfolgern weiter aus- und umgestaltet wird, gewinnt im Laufe der Zeit mehr und mehr ausgeprägt sagenhafte Züge und findet in dem Komplex pro-evangel. Luthersagen,

Teufelliteratur wie sie sich im 19. J h . greifbar darstellen, zu geschlossener Einheitlichkeit. Auch die spiegelbildliche ,Anti-Luthersage', wie sie sich im 19. J h . manifestiert, hat ihre Wurzeln in der gegenreformatorischen Epoche: 1570 nennt J o h . N a s seine Quinta Centuria ,von des Luthers legent'; thematisch geht es hier vornehmlich um eine teuflische Abstammung Luthers, um seinen Umgang und sein Bündnis mit dem Teufel. Im Theatrum de Veneficis, das der Verleger Nicolaus B a s s e durch den Juristen Abraham D a u r , der sich durch einschlägige Arbeiten ( H e x e n t r a k t a t , 1570) als Fachmann ausgewiesen hatte, herausgeben ließ. Diese zeittypische Sammlung greift alle wesentlichen zeitgenöss. Äußerungen aus Tagesbroschüren auf und wird dadurch — im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten — zu einer recht vollständigen Hexenbibliothek, die ihr Anschauungsmaterial in der Fülle von Teufelerzählungen bereitstellt. Basse trat später — 1591/92 - noch einmal mit einer entsprechenden Veröffentlichung hervor, indem er die Vorlesungen des Rostocker Juristen G ö d e l m a n n publizierte, die 35 Teufelerzählungen, vorwiegend dem Hexenhammer und Bodin entnommen, enthalten. Im Rahmen des Handbuchs Volkserzählung und Reformation, hg. v. Wolfgang Brückner (1974) wird (S. 417-519) von Rainer Alsheimer ein Katalog Protestant. Teufelserzählungen des 16. Jh.s vorgelegt, der neben den Sammelwerken Theatrum diabolorum (1575 und 1587/88) und dem Theatrum de Veneficis (1586) die Tischreden Luthers, Fincels Wunderzeichen (1566), Johannes Weyers De praestigiis daemonum (dt. 1586), die Collecteana locorum communium (dt. 1566) des Johannes Manlius, die Wunderzeichen Caspar Goltwurms (1567) und das Promptuarium exemplorum Andreas Hondorffs (1595) auswertet, außerdem die Epitome historiarum Wolfgang Bütners (1576), die Epitome historiarum von 1596 (Wolfgang Bütner und Georg Steinhart), Georg Gödelmanns De magis (dt. 1592), das Historien und New Exempelhuch Zacharias Rivanders (1591/92), sowie dessen Festchronik (1602). Damit werden 849 Nummern Teufelerzählungen zusammengestellt, die die Möglichkeit bieten, ihre Tradierung im Rahmen der Kompilationen zu verfolgen. Das Wirken des Teufels als Gegenstand der c h r o n i k a l i s c h e n Ü b e r l i e f e r u n g ist im Rahmen der Vorstellungswelten jener Zeit eine selbstverständliche Erscheinung; hier harrt ein reiches Feld unbearbeiteter Quellen seiner Er-

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schließung. Für Verbreitung und Tradierung der erzählenden Prosa sind auch die V o l k s b ü c h e r (s. d.) von erheblicher Bedeutung. Zu den umfangreichen wie vielschichtigen Quellen, aus denen diese Gattung gesunkenen Kulturguts ihre Stoffe entnimmt, gehören daneben S a g e n - und L e g e n d e n m o t i v e . So ist es nicht verwunderlich, daß hier manches Teufelmotiv, wie z. B . in der Geschichte von Robert dem Teufel, der breiten Ausgestaltung eines Legenden-Sage-Motivs (franz. Ursprungs) Eingang findet. Der vollständige Titel umreißt Handlung und Geschehen programmatisch: Die Geschichte von Robert dem Teufel, wie er, von Gehurt an verflucht, ein unseliges Lehen führte und dennoch von aller Schuld erlöst wurde. Robert, das verfluchte Teufelsgeschenk, muß ein Leben als wahrer Teufel führen, bis ihm seine Mutter die Vorgänge vor seiner Geburt enthüllt und er sich selbst aktiv um seine Erlösung bemühen kann. Alte, von Magiergeschichten durchsetzte Sagenmotive verwenden auch die Volksbücher von Dr. Faust (s. § 8), die den F a u s t s t o f f und das Teufelmotiv wirkungsvoll verbinden, so daß diese Kombination noch heute gegenwärtig ist. Von breiter Resonanz — in Auswirkungen bis heute (Dracula-Film, DraculaBuchreihe) — ist noch das sich um einen M e n s c h e n t e u f e l rankende Volksbuch Van deme quaden Thyranne Dracole Wyda. Diese Historie, an der Schwelle vom 15. zum 16. J h . besonders in Mittel- und Osteuropa weit verbreitet, knüpft an die histor. Persönlichkeit des Walachischen Fürsten Olad Tepes (Regierungszeiten 1456-1462 und 1476) an, der seiner Grausamkeiten wegen den Beinamen Dracula = Teufel erhielt. In der populären Darstellung wird eine Vielzahl grausamer Handlungen gereiht, die lediglich durch die einheitliche Gestalt des Handlungsträgers locker miteinander verbunden sind, wobei — wie gattungsüblich — manche Episode in anderen Volksbüchern und Erzählungen anderen Helden zugeschrieben wird. Das 16. J h . , das die tradierte Erzähllit. weithin in den Dienst der Reformation stellte und die Gattung der Teufelbücher zur Stützung und Verbreitung der neuen Lehre schuf, bediente sich auch des D r a m a s zu tendenzgerichteten Ausdeutungen. Das humanist. Schuldrama erfährt durch die Anhänger der Reformation eine so starke kämpferische Motivierung und Funktionsausrichtung, daß von einer

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reformator. Kampfdramatik gesprochen werden kann. Der Teufel spielt hier — vorwiegend als ,römischer Luzifer' — eine aktive Rolle als Inkarnation des theologischen Gegners, ist somit tragendes Glied einer Kette großangelegter Verteufelungsstrategie. Dabei sind auch die Antichrist-Vorstellungen von erheblichem Gewicht, parallel zu Teilen der Erzähllit., in denen insbesondere ,Wunderzeichen'-Autoren wie Fincel im päpstlichen Antichristen die untrüglichen Zeichen der angebrochenen Endzeit erfüllt sehen. Im Gesamtrahmen der Antichristspiele bilden die von lutherischem Geist getragenen eine in sich geschlossene Gruppe, bei der die humanistisch-reformatorische-moraldidaktische Komponente eine grundlegende Umformung des tradierten mal. Gestaltungsschemas und eine wesenhafte Veränderung inhaltlicher Strukturen bewirkt hat; auch äußerlich zeigen sie ein anderes Erscheinungsbild und literar. Verhalten: sie sind nun nicht mehr zyklisch mit anderen Motivkomplexen verbunden. Von ausschlaggebender Bedeutung für die neuartige Interpretation der Antichristlegende ist die Luthersche Deutung dieses Themenkreises. L u t h e r rückt bewußt und konsequent vom mal. Antichrist-Verständnis ab, löst sich von der Vorstellung eines persönlichen Antichrist und bezieht den Topos seit 1520 (An den christlichen Adel deutscher Nation) auf Papst und Papsttum; dabei unterscheidet er nicht zwischen figura Antichristi und verus Antichristus, wie sie in polemisch motivierten Äußerungen — auch gegen die Kirche — geläufig waren (Wiclif, Huss), sondern setzt das Papsttum unmittelbar dem verus Antichrist gleich; hierin einbezogen sind der Papst (als personifizierte Institution, nicht als Persönlichkeit), seine Anhänger und die kirchliche Hierarchie, Einrichtungen, Riten. Luthers, erst von einem gewissen Zeitpunkt an klar umrissenes Antichrist-Konzept läßt sich deutlich an der veränderten Rolle ablesen, die das aktuelle Türkenproblem im Rahmen seiner Antichrist-Vorstellungen spielt. Nach einer Phase, in der er Türken und Papsttum auf nahezu dieselbe Stufe stellt, trifft er die unmißverständliche Entscheidung, nur im Papst als Institution den wahren Antichrist zu sehen; diesen Schritt vermochten nicht alle seiner Nachfolger nachzuvollziehen, so daß es bei ihnen zuweilen zu im Grunde zwei veri Antichristi kommt — oder — in anderer Sicht zu

einem, der sich in zwei Hälften spaltet, die ihr ganz verschiedenartiges Eigenleben führen und unterschiedliche strategische Pläne verfolgen, in ihrer letzten Zielsetzung aber harmonieren. Nur vereinzelt, wie in Johann Agricolas Tragedia Johannis Huss (1537) tritt der Papst in der protestant. Antichrist-Konzeption auch als figura Antichristi auf (hier Joh. XXIII.). In strenger Gegensätzlichkeit zur mal. Auffassung rückt das von Luther — in klarer Kenntnis seiner didaktisch-propagandistischen Möglichkeiten — geförderte protestant. Kampfdrama das Antichrist-Motiv in die unmittelbare polit. Aktualität. Das protest. AntichristDrama will ein bestandsaufnehmendes wie krit. Bild gegenwärtiger religiöser, politischer, sozialer Wirklichkeit zeichnen; inhaltlicher Gegenstand kann daher nicht länger die schematisierende Lebensgeschichte des persönlichen Antichrist mal. Prägung sein: nunmehr steht das Papsttum in seiner augenblicklichen Zustandsform als verus Antichristus im Vordergrund. In einem f r ü h e n protest. Fastnachtsspiel, Die Totenfresser oder vom Papst und seiner Priesterschaft des Niklas M a n u e l ( 1 5 2 3 in Bern uraufgeführt), w i r d der Papst mit dem Eigennamen ,Entechristelo' belegt, w o d u r c h diese entscheidenden weltanschaulichen Beziehungen auf besondere A r t markiert w e r den. Das biographische Schema der Antichrist-Legende w i r d im protest. D r a m a durch einen Katalog der Laster und Verbrechen des Papsttums ersetzt, w o r a u s sich eine Darstellung der Gegensätze z w i schen Christus und seinem päpstlichen Statthalter zu entwickeln vermag. Dabei entstehen handlungsarme, konstruiert w i r k e n d e A u f z ü g e . — In strikter A b l e h n u n g der ,papistischen' Mysterien- und Passionsspiele suchten die protest. Dramatiker zunächst bei den weltlichen Fastnachtsspielen gattungsformale A n k n ü p f u n g s p u n k t e f ü r ihre propagandistischen Stücke; später behandelten sie den Stoff v o r w i e gend in historisierenden und allegorisierenden D r a men, die besonders stark mit theologischen und p o lit. Erörterungen befrachtet w u r d e n . — Die Rolle des Teufels innerhalb dieser zeit- wie situationsbezogenen Antichrist-Gestaltung ist — im Vergleich zu mittelalterlichen Antichrist-Spielen eine grundsätzlich andere. J e t z t ist der Teufel zu einem bloßen H e l f e r des Antichrist degradiert: Initiative wie Schuld liegen fast ausschließlich beim Antichrist-Papst. Das bedeutendste der Antichrist-Dramen der R e f o r m a tion, die lat. Tragödie Pammacbius ( 1 5 3 8 ) des T h o mas K i r c h m a i e r (latinisiert Naogeorgus), in der im G r u n d e eine abstrakthistorisierende Fassung des lutherischen A n t i c h r i s t - K o n z e p t s gestaltet w i r d , zeigt den Antichrist in der Rolle dessen, der das entscheidende A n g e b o t macht, während im M A . die Initia-

Teufelliteratur tive allein vom Teufel ausging. Im Fastnachtspiel Von der heidnischen und papstlichen Abgötterei des Hans von R ü t e (1531 in Bern aufgeführt), werden nach einer Teufelversammlung die Teufel ausgesandt, den Papst-Antichrist zu unterstützen; zuletzt holt der Teufel ,Schürdenbrand' die Papisten in die Hölle. Im ältesten reformatorisch geprägten, der Antichrist-Legende verpflichteten Fastnachtsspiel, dem 1521 erschienenen, vielleicht Pamphilus G e n genbach zuzuschreibenden Die Totenfresser, erschöpft sich die Funktion des Teufels darin, zum Lob der Papisten beizutragen und ihnen zu ihrer Höllenfahrt aufzuspielen. I m weiteren Verlauf wird das lutherische Antichristkonzept in seiner dramatischen Spiegelung m e h r und mehr von den starren Zügen der L u t h e r - O r t h o d o x i e überdeckt und bestimmt, die die P a p s t - P o l e m i k auch auf die verschiedenen Richtungen des Protestantismus erweitert, in denen sie ebenfalls W e r k z e u g e des Satans erkennt. Ein Propagandastück dieser Prägung, dem weitreichende W i r k u n g beschieden war, ist N i k o d e m u s F r i s c h l i n s Phasma (1580 aufgeführt, 1592 gedruckt), in dem die Vertreter sämtlicher christl. Konfessionen ins Rampenlicht gerückt und am Schluß in einer A r t Vorspiel z u m Jüngsten G e r i c h t von C h r i stus alle — mit A u s n a h m e von Luther und B r e n z — dem Teufel überantwortet werden. D i e k a t h o l i s c h initiierten A n t i c h r i s t - D r a men der reformatorischen wie gegenreformatorischen E p o c h e knüpfen nahtlos an die Wirklichkeitsferne mal. Tradition an, wobei der Mangel an aktuellen Inhalten durch großen Theateraufwand überdeckt wird. N u r gelegentlich k o m m t es zu einer Aktualisierung, die einmal L u t h e r zu einem der vielen Vorläufer des Antichrist stempelt, z u m andern die O p fer des Antichrist ausdrücklich als Glieder der alten K i r c h e bezeichnen kann, o h n e daß hierbei der Antichrist identifiziert würde. Diese Züge erreichen aber keineswegs symptomatischen C h a r a k t e r , vielmehr wird im ganzen eine aktuelle Politisierung strikt gemieden. Seit der Mitte des 17. J h . s , einer E p o c h e , in der V o l k s - und Kunstdrama sich zu getrennter Entwicklung scheiden, bewahrt nur das V o l k s drama kathol. Prägung den Antichrist-Stoff; hierbei darf aber nicht übersehen werden, daß es nicht i m m e r echte alte Volkstradition ist, die hier — z . T . bis heute — gehütet, gepflegt, weitergegeben wird, daß es sich vielm e h r nicht selten um Bearbeitungen jesuitischer Gestaltungen des 16. J h . s handelt.

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I m 16. J h . setzten sich die spätmal. Verweltlichungstendenzen voll durch: seit der J h . wende ging das V o l k sehr viel lieber zu den Fastnachts- als zu den Passionsspielen, zu denen es die Massen nur noch zur Befriedigung ihrer immens gesteigerten Schaulust z o g . N e ben der R o l l e , die dem Teufel in den reformationspropagandistischen, um das AntichristM o t i v kreisenden F a s t n a c h t s s p i e l e n zuk o m m t , hat er auch im Gesamtrahmen dieser Gattung (s. Spiele, Mittelalterliche, weltliche) seinen festen Platz. Sind die Fastnachtsspiele oft nichts anderes als dramatisierte Schwanke, steht infolgedessen auch der Teufel unter schwankimmanenten A s p e k t e n , so ist es ein Satan, der seine Ausgestaltung volkstümlich geprägten Vorstellungswelten verdankt. Dieser verpflichtende Hintergrund spiegelt sich in den volkstümlichen N a m e n , die er in den Fastnachtsspielen trägt ( „ F l e d e r w i s c h " , „ s c h w a r zer H e i n k e l " , „ J e c k e l " ) . Einmal wird ein betrogener Teufel vorgeführt, um den sich die so beliebten Prügelszenen ranken, z u m andernmal eine Gestalt, die sich vornehmlich durch arroganten H o c h m u t , ungewöhnliches Wissen und Betrügerei auszeichnet. Dabei kann der B ö s e seine Wirksamkeit unter seiner n a t ü r l i c h e n ' Gestalt, einer „ g r e u l i c h e n " (mit Tierkrallen und ähnlichen Attributen) entfalten oder jede beliebige Verwandlung annehmen. A u c h Teufelspaktstoffe werden gestaltet und M o t i v e a u f g e n o m m e n , die den Teufel mit H e x e n zusammenbringen, wobei er sich diesen meist nicht gewachsen zeigt. Diese G e staltungsprinzipien tragen sicherlich auch Züge des individuellen Teufelglaubens ihrer A u toren. H a n s S a c h s ist der luther-theologischen, an der Bibel orientierten Teufelvorstellung verpflichtet, seine W e r k - Ä u ß e r u n g e n zeigen aber eine klarere Frontstellung gegenüber naiven volkstümlichen Teufelanschauungen als bei L u t h e r . Zuweilen weist er im Fastnachtspiel dem Teufel die F u n k t i o n zu, die D u m m heit der M e n s c h e n , die leichtgläubig z u m T e u felbannen und Verwandtem Zuflucht n e h m e n , spöttischer Kritik zu unterziehen. In seinen Tragödien und K o m ö d i e n kennt er auch einen ernsthaften, an die Tradition geistlicher Spiele erinnernden Teufel; im wesentlichen jedoch gehört dem lustigen, Gelächter erregenden Satan seine Sympathie. Karl Goedeke, Grundriß z. Gesch. d. dt. Dichtung. Bd. 2 (2. Aufl. 1886) S. 479-483. Gustav F r e y t a g , Der dt. Teufel im 16. Jh., in:

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§ 7 . Das 17. Jh. führt die Tradition der T e u f e l b ü c h e r nur noch in reduziertem Rahmen weiter; die Teufelpersonifizierung hatte sich durch allzu gleichförmiges und intensives Wiederholen auf relativ geringer Variationsbasis abgenutzt. Auch verlangte das mehr politisch als theologisch geprägte Jh. nach der Auseinandersetzung mit einer lebenskräftigeren, zeitnahen Gestalt des Bösen; hierfür boten die völlig abstrakten Lasterteufel keine Anknüpfungsmöglichkeiten. Zunächst erfuhren die meisten ,Teufel' Nachdrucke (zumeist in den kleineren protestant. Reichsstädten Süddeutschlands); sodann wurden einige auf der Basis zeitimmanenter Wandlung nachgeahmt, so z. B. der Sauff teuffei des Matthaeus Friderich von Görlitz, der dem 1612 in Konstanz

erschienenen Zechbrüder-Spiegel und dem Sauffteuffel Heinrich A m m e r b a c h s (1669; 2. Aufl. u. d. T. Philosophischer Sauff-Mantel) als Vorlage diente. Mit dem Allmodischen kleyder Teuffei Johann Ellingers (1629) wurde schließlich eine neue, in Art und Stil Andreas Musculus nachgemusterte Teufel-Einzelschrift vorgelegt. Thematisch schließen sich daran an: der Alamode-TeuffelJohann Ludwig H a r t m a n n s (1675), ein Teutsch-Frantzösischer Alamode-Teuffel (1679), der von Michael Freud ausgehende Alamode-Teuffel (1682) u. a. Mit der dominierenden Stellung, die die Mode im damaligen gesellschaftlichen Leben gewann, wurden Kreise starrer LutherOrthodoxie zu neuen ,Teufeln' angeregt, die ungeschickt entsprechende ,Teufel' des 16. Jh.s kopierten; auch einige ,Saufteufel' setzen die Reihe fort, bald auch durch ,Freß'- und Gesindeteufel' ergänzt; es konnte nicht ausbleiben, daß bei diesem rückblickenden Aufarbeiten auch die beliebten Themen Ehe, Spiel, Tanz, Müßiggang ,wiedergefunden' und als Anregungen aufgegriffen wurden. Ergebnisse dieser Art sind Tobias W a g n e r s Siebenfältiger Ehehalten-Teuffel (1651), Johannes Feinlers Sauff-Spiel- und Huren-Teuffel (1669), u. a. Für einige neue Themen gab es keine Vorbilder. Es entstanden ,Soldaten'-, ,Geldmacher'-, ,Schatzgräber-Teufel' (z. B. Der Soldaten-Teufel von Arnold M e n g e r i n g , 1633, Elogor und Permalfar, d. i. der Soldaten und Verzweiflungsteufel, 1664, Belfry, d. i. der Goldmacherteufel, 1664 u. a.), doch fehlte im ganzen zu deren urwüchsiger Gestaltung sowohl die zeitimmanente wie die personelle Voraussetzung. Für den teilweise noch vorhandenen Bedarf an Lesestoffen dieser Art wurden ältere Teufelbücher in Überarbeitungen angeboten, andere, wie die Höckersche Dämonologie, wurden neu aufgelegt (z. B. 1627 u. 1686). Als letzter Ausläufer erschien 1693 noch ein Dienstmägdeteufel, ein Nachzügler ist auch der 1711 erschienene PriesterTeufel Joh. Gottfr. Zeidlers mit dem summierenden Titel Neun Priester Teufel, das ist, ein Sendschreiben von Jammer, Elend, Noth und Qual der armen Dorf Pfarrer wie sie von ihren Edelleuten, Küstern, Kochinnen, Kirchvätern, Bauern, Officianten, Bischöfen, Capellanen und Herrn Confratribus jämmerlich Jahr aus Jahr ein geplagt werden . . . Mit guten Anmerkungen bei einem jeden Teufel; den gattungshistorischen Schlußpunkt setzt

Teufelliteratur das Jahr 1731, in dem ein Gesindeteufel letztmals aufgelegt wurde. A u c h die protestant. E r z ä h l l i t e r a t u r erfährt im 17. J h . Neuauflagen und Bearbeitungen: so wurden z . B . zu Beginn des J h . s die ersten drei Sammlungen der Rauscherschen Lügenden neu gedruckt und durch den Gießener Professor C a s p a r Finck u m 100 neue ,Lügenden' erweitert. A m Ende des J h . s aber erfordert das polyhistorisch ausgerichtete Zeitinteresse als Lesestoffe entweder unterhaltsame Kuriositäten oder formalisierte Bildungsinhalte und rückt damit von der protestant. Erbauungslit. ab, deren Stoffe aber in volkstümlicher mündlicher Tradierung lebendig bleiben. Gegenüber der bisher verbindlichen traditionellen A u f f a s s u n g d e s T e u f e l s als objektive Wirklichkeit setzen sich neue Anschauungen durch. D e r Teufel wird zur P e r s ö n l i c h k e i t und erlangt eine Würde und Eigenständigkeit, die sich schon in Guillaume de Salluste D u B a r t a s ' Schöpfungsepos La Sepmaine ou Creation du monde (1578) abzeichnet. Man versucht, seine seelische Beschaffenheit dichterisch zu ergründen, wobei man insbesondere danach strebt, Wesenszüge zu fassen, die ihn fundamental v o m Menschen unterscheiden; so gilt vornehmlich die Willensfreiheit als ein dem Teufel fehlendes Kennzeichen der Menschenseele; dafür ist dem Teufel eine k o m p r o m i ß l o s e K o n s e q u e n z eigen, die dem Menschen in diesem A u s m a ß wesensfremd ist. Eine wesentliche K o m p o n e n t e seines persönlichen Charakters ist sein N e i d auf die Menschen, die nicht, wie er selbst, zwangsläufig und unwiderruflich verdammt sind, woraus seine M o tivation erwächst, alles daranzusetzen, den Menschen z u m Gefährten seiner Verdammnis zu machen. Im Rahmen einer zunehmend aufgesplitterten T y p o l o g i e zeichnen sich bald literar. Teufelsgestalten ab, deren typische Merkmale S c h ö n h e i t , S c h w e r m u t und eine aus der Unfähigkeit zur Reue erwachsene T r a u e r sind, wobei auch innerhalb eines Einzelwerkes verschiedene Teufelgestalten nebeneinander stehen können; dieserart gestaltet später K l o p s t o c k im Messias (1748-1773) den empfindsamen (im 19. Gesang) erlösten Teufel A b b a d o n a , den atheistischen G o g und A d r a melech, einen Teufel, der den Satan an Bosheit noch übertrifft, und setzt sich mit der Erlösung A b b a d o n a s der Kritik von theologischer Seite aus. Im gesamteuropäischen Rah-

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men gewinnt durch M i l t o n s E p o s Paradise Lost (geschrieben 1658-1663) auch die h e r o i s c h e Teufelsgestalt selbständige dichterische Bedeutung und traditionsbildende Wirkkraft. Miltons Wahl der antiken heroischen F o r m ist unmittelbarer A u s d r u c k des heroischen Gehaltes und der Figurenkonstellation, d . h . der Parallelsetzung des K a m p f e s der G e genspieler Satan und Christus mit dem K a m p f im Inneren des Menschen. D e r ,Fall der Engel' ist zugleich der ,Fall des Menschen', aber im Gegensatz zu kathol.-barocken Anschauungen erlaubte die puritanische Religiosität eine stärkere Einbeziehung der Vernunft, so daß Christus der Vernunft, der Satan der Leidenschaft zugeordnet und die innere Freiheit des Menschen als H a r m o n i e von Leidenschaft und Vernunft angesehen werden konnten. Miltons heroische Luzifergestalt wird in der späteren W i r k u n g s g e s c h i c h t e zur stimulierenden Kraft für alle auf Empörung und Zerstörung gerichteten Tendenzen und zu einer faszinierenden Figur, derer man sich völlig frei bedient, die man zum Sprecher eigener revolutionärer Ideen macht, die zum Archetypen des von Tyrannen unterdrückten freien Menschen wird. In seltener Einmütigkeit berufen sich viele Dichter, Künstler, Denker, Politiker und Revolutionäre auf Satan als Vorbild und Inbegriff revolutionärer Gesinnung, revolutionären Handelns, wobei ausdrücklich zu vermerken ist, daß der dt. Anteil an der Ausformung dieser epochenüberdauernden Satansgestalt relativ bescheiden ist; im ganzen ist lediglich Klopstock (Messias) an der Miltonschen Satansgestalt orientiert. William B l a k e (1757-1827) ist der Satan auf besondere Weise der große Befreier schlechthin; Shelley (Defense of Poetry, 1821) interpretiert den Satan Miltons als moralische, seinem Gott überlegene Gestalt, die trotz Mißgeschicks und negativen Erfahrungen und Erlebnissen auf einer Entscheidung beharrt, von deren Wert und Richtigkeit sie überzeugt ist. Dieser auch in seiner Niederlage majestätische Satan als Inkarnation revolutionären Ideenguts, revolutionärer Akte und Ereignisse, behält seine Gültigkeit bis in unser Jh.: Michael B a k u n i n (1876-1914) deutet den Satan Miltons als einen Vorläufer der Weltrevolution. Einer der Initianten des ästhetischen Satanskults des 19. Jh.s wurde Lord B y r o n (17881824), der den Satan-Rebellen Miltonscher Abkunft in Leben und Dichtung zu vollendeter Gestaltung führt, wobei der Teufel (besonders in Cain, 1821) zum eigentlichen Freund des Menschen erhoben wird, dessen Rebellion gegen Gott dem Zweifel an dessen Gerechtigkeit entspringt. Im Fragment Heaven and Eartb (1821) hat sein Satan auch prometheische Züge auf sich gezogen. Diese Umgestaltungen des alten Prometheus-Stoffes mischen Prome-

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theische und Luziferische Züge und sehen in Prometheus den Empörer, den Rebellen, die Inkarnation Luzifers. Wirksames Nachleben der heroischen Empörergestalt Miltons wird auch in der streitbaren Satansverehrung des ital. Freimaurers, Dichters und Literaturhistorikers Giosuè C a r d u c c i sichtbar {Inno a Satana, 1865; Satana e polemiche satanachie, 1879). Selbst die Satanslitanei Charles B a u d e l a i r e s trägt noch Züge dieses Miltonschen Satans; in der Satanshymne (in Les fleurs du mal, 1857) fungiert der Satan auch als Helfer aller Unterdrückten und wird gar zum Schutzherrn aller, die festgelegten, erstarrten Normen widerstreben und dadurch an den Rand der Gesellschaft gedrängt oder aus ihr entfernt werden. Späte Nachklänge des Miltonschen Satans finden sich bei G . B. S h a w ( M a n and Superman, 1905), w o der Satan als Vorkämpfer für die Souveränität des individuellen Geistes gesehen wird, und in S t r i n d b e r g s Luzifer oder Gott (1877); hier hat der Satan mit Gott die Rolle getauscht.

In der Dichtung des B a r o c k wird die Satansgestalt vom zeittypischen Widerstreit heidnisch-antiker Formen und christlicher Inhalte, von der polaren Spannung zwischen Jenseitsblick und Diesseitsfreude, Ordoverhaftetheit und freireligiöser Mystik maßgebend beeinflußt. Die wiederbelebte Antike leiht dem christlichen Satan das Gewand des Unterweltgottes P l u t o ; die Dramen S e n e c a s tragen mit dazu bei, die Luziferdarstellung in die ästhetische Sphäre der Renaissancedichtung zu heben, und initiieren so eine Umgestaltung des Satansbildes, das von Italien aus auf die Barockdichtung wirkte und sie schließlich zu beeinflussen vermochte. Dieser Satan zieht Eigenschaften und verbale Äußerungen Plutos an sich und vermischt sie mit variierenden christl. Gestaltungsformen. Das lat. AdamsDrama Adamus exul läßt diese neue lebendige Satansgestalt erstmals dramatische Wirklichkeit werden. Wie Milton im Epos, so setzte sich C a l d e r o n intensiv mit luziferischem Wesen auseinander und gestaltete in der strengsten dogmatisch bedingten Kunstgattung der Zeit, dem span. ,auto sacramentai' (seit dem 16. Jh. alljährlich zum Fronleichnamsfest aufgeführt) eine vom Diesseits/Jenseits-Dualismus zeugende Luzifergestalt von dunkler Größe. Der dramatischen Wirkung einer solchen Teufelpersönlichkeit voll bewußt, läßt er sie auch lange theologische Erklärungen über die Heilsgeschichte abgeben, die man eher aus dem Munde guter Mächte erwartete. L o p e de V e ga stellt in seinem Spiel von der Erschaffung der Welt einen stolzen, und im Gedenken

einstiger Herrlichkeit maßlosen Luzifer vor. Zur selben Zeit entstand das Luzifer-Drama (Lucifer) des Holländers Joost van den V o n d e l (1654), der den Engelssturz zum zentralen Thema erhebt und ihn als einziger Dichter des Barock zum alleinigen Gegenstand eines Spieles macht; im calvinistischen Amsterdam wurde die Aufführung verboten und der weitere Druck untersagt, nachdem die Auflage in wenigen Tagen abgesetzt worden war. Auf dt. Boden fehlen diese lebendigen barocken Teufelgestalten; der Teufel spielt lediglich im J e s u i t e n d r a m a der Zeit eine Rolle und ist dort ganz in den Dienst vordergründiger Glorifizierung der siegenden und triumphierenden alten Kirche gestellt (s. Jesuiten u. Neulat.

Drama

§ 2 2 ) . I m 16. J h . h a t t e n d i e s e

Stücke, in Anknüpfung an das Volksschauspiel auf öffentlichen Plätzen aufgeführt, durch Prachtentfaltung geschickt die weitverbreitete Schaulust der Massen kanalisiert. Die Absicht, damit zugleich wirksam und augenfällig Macht und Einfluß der alten Kirche vorzuführen, erreichte in der größten ,Teufelschau' der Zeit bei der Einweihung der Michaelskirche in München (1597), einen Höhepunkt. Im 17. Jh. wurden die Prunkvorstellungen, alljährlich unter Mitwirkung der ganzen Schule als Krönung der monatlichen Übungsstücke der einzelnen Klassen veranstaltet, in die Aulen der G y m nasien verlegt. Die vor nunmehr anderem Publikum — vorwiegend Honoratioren — aufgeführten Stücke mit einer begrenzten Anzahl stets wiederkehrender Motive, behielten, trotz der Umschichtung und Verengung des Kreises der solchermaßen Angesprochenen, ihre hohe Bedeutsamkeit, verfügte dieser Orden doch über fast alle Bildungsinstitute der Zeit und hatte auf diese Weise jede Möglichkeit, die maßgebende Elite wirksam zu lenken und zu beeinflussen. Im Schauspiel der W a n d e r b ü h n e n gehört die Teufelgestalt zu den beliebtesten Typen des komischen Personeninventars. Da die Truppen völlig von der Publikumsgunst abhängig waren, den Spielplan also strikt auf das Masseninteresse abzustellen hatten, konnten es, im Rahmen dieser auf drastisch-komödiantische Bühnenwirksamkeit zielenden Darstellungen, keine dichterisch durchgeformten Teufelpersönlichkeiten sein, die hier auftraten. Die dominierende komische Figur, der H a r l e k i n , saugt eine Reihe teuflischer Züge auf; wie nahe man ihn weithin beim Teufel

Teufelliteratur sah und sieht, kommt in den fehldeutenden Versuchen zum Ausdruck, seinen Namen etymologisch von ,Hölle' abzuleiten. Dem teuflischen Vorstellungsumfeld aber gehört der Begriff tatsächlich an; das ital. arlecchino entstammt dem Franz. und war ursprünglich, ehe es die commedia dell'arte aufgriff, Bezeichnung auch des Teufels (afrz. mesnie Hellequin: Hexenjagd, lustige Teufel, wilde lustige Schar). Der Harlekin zeigt zugleich Berührungspunkte mit dem — noch im heutigen Puppenspiel lebendigen — Kasperl (s. Puppentheater). Dieser Lustigmacher ist Träger eines Namens, der im 16. Jh. Kobolden und Teufeln zukam und noch bis in unsere Zeit landschaftsgebundener Deckname für den Teufel sein konnte. Auch in seinem auffälligsten charakteristischen Merkmal, der Nase, tradiert der Kasperl ein traditionelles Kennzeichen des volkstümlich-schalkhaften Teufels vergangener Jh.e. Sein beliebter Gegenspieler — insbesondere in den Prügelszenen — ist ein von seiner Konzeption her böser wie extrem dummer Teufel. Ursula M ü l l e r , Die Gestalt Lucifers in d. Dichtung vom Barock bis z. Romantik (1940; GermSt. 229). H . B e c k e r , The Lucifer Motif in the German Drama of the 16th Century. Mhh. 51 (1959) S. 237-247. Ders., The Lucifer Motif in the German and Dutch Drama of the 16th an 17th Century. (Masch.) Diss. Ann Arbor 1958. Ernst O s t e r k a m p , Lucifer. Stationen e. Motivs (1979); Komparatist. Studien 9). Raphael J . Z. W e r b l o w s k y , Lucifer and Prometheus. A Study of Milton'sSatan (London 1952). Olin H . M o o r e , The Infernal Council. ModPhil. 16 (1918) S. 169193; 19 (1921/22). A. B o g a e r t , Klopstock. La religion dans la 'Messiade' (Paris 1965). Gerda P a l l a s c h , Die Satansgestalt in Byrons Dichtung. (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1952. Pierre B r u n e i , Claudel et le satanism anglo-saxon (Ottawa 1975; Cahier Canadien Claudel 8). S. a. Lit. zu § 8. Otto D r i e s e n , Der Ursprung d. Harlekin. E. kulturgeschichtl. Problem (1904; FschgnNLitg. 25). C . R e u l i n g , Die komische Figur in d. wichtigsten Dramen bis z. Ende d. 17.]h.s{ 1890).

§ 8. Im 18. J h . tritt der ,reale' Teufel mit der Aufklärung, durch die der Mensch zum Bewußtsein seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit gelangt, den unaufhaltsamen Rückzug an. In der dt. Lit. des 18. Jh.s, in der Dichtung der Empfindsamkeit (s. Empfindsame Dichtung), des Sturm und Drang (s. d.) und der beginnenden Klassik (s. d.), spielt der Teufel daher keine tragende,

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dem 16. Jh. vergleichbare Rolle. Doch bedient man sich — im ganzen und im gemeineuropäischen Rahmen gesehen — des Teufelmotivs in differenzierter Weise und auf verschiedenen literar. Aussageebenen. Die Ausprägungen, die das Motiv seit Lesages Le Diahle boiteux (1707 nach dem Vorbild von Velez de Guevaras El Diablo cojuelo, 1641) erfuhr, die Funktionen, denen es untergeordnet wurde, und die dabei wirksamen Intentionen beruhen auf der Möglichkeit, sich dieser Gestalt souverän bedienen zu können, und dies setzt voraus, daß man nicht existenziell von ihr abhängig ist. Dem Optimismus der Aufklärung ist der gefallene Engel' als Antipode Gottes zwangsläufig ein Ärgernis, da er nicht mit dem Leibnizschen Harmoniebegriff in Einklang zu bringen ist. So setzt sich das 18. Jh. in Schrift und Gegenschrift mit seiner Existenz und Nicht-Existenz auseinander (s. § 3). Wie sehr diese theologisch-philosophischen Auseinandersetzungen von den Intellektuellen verfolgt und mitgetragen wurden, zeigen die frühen Satiren Jean Pauls (wie die Auswahl aus des Teufels Papieren, 1789), in denen sich eine Reihe von Teufelwiderlegungen findet (auch in der Form, daß der als Person auftretende Teufel sich selbst widerlegt), und die zugleich die Publikationsform der Kontroversen parodieren. Bereits als 15jähriger exzerpierte Jean Paul Stellen, die sich mit Existenz und Wirken des Teufels befaßten. Die Teufelfrage zieht sich auch durch die Aufzeichnungen des Kandidaten Friedrich Richter, der darin zum jeweils aktuellen Stand der Streitigkeiten (z. B. zugunsten des rationalen Bibelinterpreten Christian Wilhelm Kindleben) Stellung bezog. Jean Pauls Grundeinstellung ist gleichermaßen rationalistisch wie antirationalistisch. In späteren Jahren zeigte er sich vom Teufelthema nur noch wenig berührt, jedoch edierte er 1815 Des dt. Mittelalters Volksglauben und Heroensagen seines Freundes Friedr. Ludw. Ferdinand v. Dobeneck, ein Werk, in dem der Teufel eine wesentliche Rolle spielt (Nachdr. 1974), und in der Beichte des Teufels bei einem Staatsmanne (1809) stellt er einen Teufel mit menschlichem Antlitz vor, der dem hohen Beamten auf fatale Weise ähnlich ist. Jean Pauls Konversationsform hat Teufelsparodien und Teufelssatiren in der Folgezeit nachhaltig beeinflußt.

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In der dt. Romantik führt die Philosophie Fichtes zu einem spezifisch dt. „Satanismus" als Ausdruck romantischen Denkens und Virtuosentums. Friedrich Schlegel, der Verkünder der „Satanisken", erklärt, der Charakter des dt. Satans, den er gegenüber dem Satan ital. und engl. Dichter abgrenzt, bestehe in der „unbedingten Willkürlichkeit und Absichtlichkeit und in der Liebhaberei am Vernichten, Verwirren und Verführen" {Athenäum-Fragmente). Das „Satanische" begegnet aber nicht nur in der „phantastischen ,Findigkeit' der satanischen Intelligenz", die die romantische Ironie als „Sicherheitsventil" benutzt, sondern „auch und gerade" in vielen „Erzeugnissen" der Romantik, „die durchaus unschuldig, kindlich, naiv, idyllisch, edelmütig oder fromm zu sein scheinen" (Eudo C. Mason). Schiller nannte Caroline Schlegel, das Urbild der Amalia in Friedrich Schlegels Gespräche über Poesie {Athenäum III, 1), „Dame Luzifer". Goethe bezog diese Spielart in seine Mephisto-Neukonzeption (April 1800) ein und ist hierin durchaus der Romantik verpflichtet. In der Behandlung des Luzifersymbols setzt sich die dt. Romantik von der engl, und franz. Milton-Tradition ab. Die einzige Dichtung, die die Luzifergestalt selbst darstellt, ist Immermanns Drama Merlin (1832), in dem das Gewicht Satans auf seinen gralsuchenden Sohn Merlin verlagert ist, der sich den Weltherrschaftsplänen des Vaters verweigert. Wesenhaft zur romant. Dichtung gehören die vielfachen Gestaltungen bedeutungsschwerer Träume; da sich in ihnen das Ich uneingeschränkt und spontan äußert, sind auch sie Ausdruck der geistigen Freiheitsbewegung, aber auch der Willkür des Ich. E. T. A. Hoffmann entwickelt, beeinflußt von G. H. Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808), aus dem romant. Dogma des ,Verlustes der ursprünglichen Harmonie des Menschen' eine eigene Dämonie- und Teufelkonzeption, die zu einem Interesse an psychischen Anomalien und am Magnetismus sowie zu spezifischen Personenkonstellationen in seiner Dichtung führt. Im Magnetiseur (1814), in den Abenteuern der Sylvesternacht (1815) und im „Nachtstück" Ignaz Denner (1816) tragen die dämonischen Verführer und Verderber teuflische Züge; in den Elixieren des Teufels (1815/16) weiß Hoffmann das Formmuster des , Kloster-

romans' geschickt zu nutzen, und in der Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes (1819) ist die Erzählung zugleich Konversation über den Aberglauben wie über den platten Rationalismus der Berliner Aufklärung. In Hoffmanns Das Majorat (1817) und in A. v. Arnims Die Majoratsherren (1820) sind Besitz und Erbrecht Gegenstand einer sich der Dämonisierung bedienenden Gesellschaftskritik, die des Interesses der Leser gewiß ist. Auch Hoffmann ironisiert den Teufel; Wilhelm Hauff nutzt die satirischen Möglichkeiten und greift in den Mitteilungen aus den Memoiren des Satan (1826) das gesellschaftliche Leben und die literar. Zustände in Deutschland an, dabei selbst Goethe nicht schonend (Satans Besuch bei Herrn von Goethe). In Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (1822; gedr. 1827) steht der Canonikus Theophil Christian Teufel im Dienste der Literatursatire. Der Übergang vom 18. zum 19. Jh. hat mit Goethes Faust die umfassendste dichterische Gestaltung eines literar. Satans hervorgebracht, der den Zwiespalt des modernen Menschen sichtbar macht und zu bewältigen sucht. Mephisto, der noch bei Friedrich Müller (Fausts Leben dramatisiert, T. 1: 1778, T. 2: 1823) unter dem Einfluß der tragischen Satansgestalt Klopstocks steht, ist bei Goethe die ,treibende Kraft' und die Verkörperung des ,tätigen Prinzips', zugleich die Teufelsgestalt eines Dichters, der nicht willens war, das Radikal-Böse völlig ernst zu nehmen. In seiner Gestalt sind verschiedene Rollenmuster wirksam: der Widersacher der Satansprozesse {Processus Sathanae procuratoris infernalis und Liber Beliat), der betrogene Teufel der Volksüberlieferung (s. § 9), der gefallene Engel', der Dialektiker und der Cicerone (wie schon in Lesages Le Diable boiteux). Mephisto ist Knecht des Herren und Schalk, Narr, überlegene Figur im Teilbereich des Dramas, Sentenzensprecher und Schauspieler; er zieht eine Fülle literar. Assoziationen der Mephistopheles-Tradition an sich und wird selbst zum Traditionsträger. Diese Tradition ist untrennbar mit der Geschichte des Faust-Stoffes verbunden. Kristallisationsfigur des Stoffes ist der histor. Georg (oder Johann) F a u s t (ca. 1480-1540/41), der seinen Zeitgenossen als Scharlatan wie als Schurke erschienen war, auf den allgemeine Zauber- und Teufelsbündnersagen übertragen wurden, wie

Teufelliteratur solche, die sich ursprünglich um andere Persönlichkeiten (wie z. B. Paracelsus, Agrippa von Nettesheim u. a.) rankten. Als „abscheuliches Exempel und treuherzige Warnung" war die Historia D. Johannis Fausti des Zauberers gedacht, die den maßlosen teufelsbündnerischen Faust als negative Gegengestalt zum Gottesmann Luther darstellte und als Mittel zur Bekämpfung der Magie und deren rebellischer Komponente ihren Zweck wohl nur bedingt erfüllte. Die erste Buchausgabe des Werkes, in das neben sagenimmanenten Gestaltungskomponenten auch Züge der Teufelbuchgattung (insbesondere der Sparte .Zauberteufel') eingeflossen sind, erschien 1587 (gedruckt bei Johann Spies in Frankfurt a. M.). Die erste Aufl. war sofort vergriffen. Im gleichen Jahr erschienen innerhalb von drei Monaten noch 5 Drucke, weitere Auflagen folgten; bis 1799 kamen insgesamt 22 Drucke heraus. Bemerkenswert an dieser raschen Verbreitung des Buches ist, daß es nur selten auf der Messe vorlag; es brauchte keine besondere Werbung, sondern verkaufte sich von selbst. Das Werk ist zwar von einem gelehrten oder zumindest gebildeten Verfasser (dem Rektor Andreas Frei aus Speyer?) geschrieben (vielleicht auch von mehreren Verf.), gehört aber eher einer Subkultur an. Faust-Gestalt und Stoff reizten zu Fortsetzungen und Amplifikationen: 1593 erschien von Friedericus Schotus Tolet Ander theil D. Johann Fausti Historien, von seinem Famulo Christoff Wagner, 1599 die dreiteilige und ums Dreifache vermehrte Ausgabe von Georg Rudolf Widmann. Anfang des 17. Jh.s bricht die Tradition des Faust-Buch-Druckes ab. Erst 1674 erscheint eine neue Fassung, hergestellt von Joh. Nikolaus Pfitzer, die aber nicht auf das Faust-Buch selbst, sondern auf die Fassung von Widmann zurückgeht. Pfitzers Fassung wird bis 1726 wiederholt aufgelegt, 1725 kommt die neue Faust-Buch-Fassung des „Christlich-Meynenden" heraus; es gibt Indizien, daß Goethe, wenn er von dem „alten rohen Volksmärchen" spricht, sich auf eine dieser beiden Fassungen bezieht. Die über 70jähr. Pause in der Verbreitung des Faust-Buches ist nicht allein mit der Sättigung des Büchermarktes oder dem veränderten Zeitbewußtsein zu erklären. Vielmehr dürfte die Bühnentradition des Fauststoffes daran keinen geringen Anteil haben. Sie beginnt mit Marlowes Tragicall History of D. Faustus (früheste Auff. vielleicht schon 1590, Drucke seit 1604), die durch engl. Schauspieltruppen nach Deutschland gelangt, auch von dt. Theatergruppen aufgeführt wird, und im Volksspiel wie im Puppentheater mit seinen 30 Puppenspiel-Fassungen (s. Puppentheater § 10) stilbildend wird. Die große Wirkung der Faust-MephistoKonstellation im 16. Jh. läßt sich aus den Tendenzen der Zeit ableiten: aus dem Paradigmawechsel vom mal. zum neuzeit-

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lichen Denken, aus den Reaktionen der kirchlichen Autoritäten, die der beginnenden Naturwissenschaft skeptisch gegenüberstanden, und aus einer Subkultur des trotz aller kirchlicher Warnungen praktizierten Aberglaubens. Faust wird zur „Leitfigur der Grenzüberschreitung" (Ernst Bloch). Fausts Magie und Mephistos Dialektik enthalten utopische Momente, durch die breite Schichten des Volkes angezogen und in ihrem Emanzipationsbedürfnis bestärkt wurden. Die latenten gesellschaftskrit. Möglichkeiten wurden vor allem im Puppenspiel immer wieder genutzt. Unmittelbar nach der Franz. Revolution nahm Friedrich Maximilian K l i n g e r seinen Roman Faust's Leben, Thaten und Höllenfahrt (anonym 1791) in Angriff. Die zweite Aufl. (1794, ebenfalls anonym) enthält — wie Klinger in einem Brief vom 22. Juni 1792 vermerkt — „treffliche Zusätze", durch die er die satirische Tendenz des Werkes verstärkt hat. Die tiefgreifende materialist. Weltsicht des Romans ist in der Gestalt des Leviathan greifbar: Leviathan relativiert die absolut gesetzten Ideale und Normen, enthüllt sie z. T. als Wahngebilde und zeigt, wie leicht sie durch materielle Werte zu erschüttern und zu zerstören sind. In der dritten Fassung (1809, im 3. Band der Gesamtausgabe) hat Klinger „auf Grund seiner Einbürgerung in das feudalistische Rußland des 19. J h . s " manches gemildert, was „ursprünglich als eine Auseinandersetzung mit dem Despotismus und dem übersteigerten Geniekult des 18. Jh.s gedacht w a r " (Sander L. Gilman, in: Klinger,

Werke. Bd. 11, 1978, S. XVI).

In der weiteren Stoffgeschichte des ,Faust' wird nicht nur Faust, sondern auch Mephisto neugestaltet. In Grabbes Don Juan und Faust (1829) ist der „Ritter" Herr des Maschinenzaubers und am Schluß der triumphierende Teufel, aber in seinem inneren Wesen ein komisch Zerrissener. Lenaus Mephistopheles (Faust, 1835) ist Repräsentant des aufkommenden Nihilismus; der sich selbst vernichtende Faust sieht im Teufel „des Gottesbewußtseins Trübung", einen „Traum von Gott". H. Heine schließt sich in seinem „Tanzpoem" Der Doktor Faust (1847, gedr. 1851) an frühe literar. Quellen an; in seinem Hinweis (Erläuterungen), „daß der Teufel die Tanzkunst aus dem Grunde fördert, um den Frommen ein Ärgernis zu geben", bestätigt er die provokatorische Absicht. In Friedrich Theodor Vischers Faust. Der Tragödie 3. Teil (1862) ist auch Mephisto in die Stilparodie einbezogen. — In der Folgezeit wurde

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die „ K r i s e des Faustischen" in dem Maße bewußt, in dem sich der Idealismus abnutzte. Zwei Weltkriege lehrten, die Realität des Bösen neu zu begreifen. Wie Paul V a l é r y s fragmentar. Dramenskizzen Mon Faust (postum 1945) in Mephisto die Gefährdung des Geistes durch das B ö s e sichtbar machen, so demonstriert Thomas M a n n im Doktor Faustus (1947) die Auslieferung des Menschen an das Böse; die „ H ö l l e " ist „ i m Grunde nur eine Fortsetzung des extravaganten D a s e i n s " (Gespräch Ich—Er). Die Parallelführung des Lebensweges Adrian Leverkühns und der polit. Geschichte Deutschlands seit der Reformation sowie des Teufelspaktes des nietzscheanischen Pseudo-Faust Leverkühn und der Bund dt. Bürgertums mit dem Imperialismus wurde unter dem Eindruck dt. Kriegsverbrechen konzipiert, der zu einer einseitigen Beurteilung der Reformation und zur Verzerrung des Luther-Bildes führte. Dagegen leitete Hanns E i s l e r in seiner O p e r Johann Faust (1952) die FaustProblematik — unter Einbeziehung der plebejischbürgerlichen Bewegung Thomas Münzers — aus dem Bauernkrieg ab; seine Mephisto-Konzeption schließt sich eng an das Puppenspiel an, das bereits Ferruccio B u s o n i für das Libretto seiner O p e r Doktor Faust (begonnen 1914, Urauff. 1925) verwertete.

Während die traditionelle Teufelsgestalt, vor allem in der Trivialliteratur, noch lange lebendig ist und Goethes Mephisto-Vorbild einen Rollentypus prägte, der bis in die Oper (Gounod, Faust et Marguérite, 1859; Boito, Mefistofele, 1868) hineinreicht, entwickelt sich schon in der Romantik ein neuer TeufelsTypus: der ,Teufel in Gesellschaftskleidung'. So sind der „Mann im grauen R o c k " in C h a m i s s o s Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) und der Table-d'höte-Gast in H a u f f s Mitteilungen aus den Memoiren des Satan (1826) bürgerliche Gestalten, elegant und höflich, doch enthüllen ihre Überredungskünste schnell ihr teuflisches Wesen. „Mein Ideal ist es, mich zu verkörpern", sagt der Teufel in D o s t o e v s k i j s Die Brüder Karamasow (1881), der „höchst anpassungsfähig und, je nach Umständen, zu jedem liebenswürdigen Ausdruck bereit" ist (XI, 9); dabei kann er sich des geradezu klassischen Tricks bedienen, sich selbst zu bestreiten, wie er dies z. B. gegenüber seinem Gesprächspartner Iwan Karamasow tut. Die alltäglichen Teufel' der Lit. sind Gestalten ohne eigene Identität, die sich dadurch wirksam zur Geltung bringen, daß sie sich dem jeweiligen Partner in situationsgerechter Erscheinungsform flexibel anpassen und virtuos hinter der Maske durchschnittlicher Normalität

verstecken. Sie entwickeln ein besonderes Raffinement der Verstellung und erweisen sich als unermüdliche Kämpfer und äußerst zielstrebige Taktierer. Ihre hohe Intelligenz zwingt dazu, sie ernstzunehmen. Sieg und Niederlage werden bis zur letzten Konsequenz verfolgt. Hier kommt es zu einer Verbindung mit anderen Typen wie dem ,Arzt' und dem Intriganten'. E. T . A. H o f f m a n n s „Wunderdoktor Signor Dapertutto" (in Die Abenteuer der Sylvesternacht) erscheint noch, „wie aus einem alten Bilderbuch herausgestiegen", der Augenarzt Dr. Fancy in Ernst J ü n g e r s Heliopolis (1949) und der Doktor in Rolf H o c h h u t s Der Stellvertreter (1963) sind dagegen technokratische Teufel. Prototypen teuflischer Intriganten sind bereits Marinelli in L e s s i n g s Emilia Galotti (1772) und der Sekretär Wurm in S c h i l l e r s Kabale und Liebe (1784), der Barbier Oliver Necker, unentbehrlicher Ratgeber Ludwig d. X I . v. Frankreich, in Alfred N e u m a n n s Bestseller Der Teufel (1926) wird zum mächtigsten Mann des Reiches und läßt sich zuletzt freiwillig hinrichten. Entscheidende Impulse für die Literarizität des Teufels gingen von F r a n k r e i c h aus, dem die ungebrochene Motiv-Tradition den Titel ,Gelobtes Land des Satans' eintrug. Hier war der Miltonsche Satan, auf den sich noch B a u d e l a i r e in seinen Jorneaux intimes (postum 1909) bezieht, lebendig geblieben; hier reicht die Suche nach Satans verbotenen Früchten von Gilles de Rais über den Marquis de Sade u . a . bis zu André Gide und wohl auch zu Sartre. Die Idee einer Erlösung des Teufels, wie sie zuerst planvoll von Alfred de V i g n y (Satan sauvé, 1824) ausging, wird öfter gestaltet, wobei Satan — durch Vermittlung Christi — wieder unter die Erzengel aufgenommen werden kann (wie in Alexandre S o u m e t s La divine épopée, 1841), bekehrt wird (wie bei J . B o i s in Le Noces de Satan, 1890) oder seine Selbstvernichtung betreibt (Leconte de L i s l e , La Tristesse du Diable, 1866). Die weitestgespannte wie eigenartigste Dichtung im Rahmen der modellhaften Versuche der Satanserlösung ist La Fin de Satan, das unvollendete, als Weltepos konzipierte Werk Victor H u g o s (entst. 1854 u. 1859/60, veröff. postum 1886). Das Erbe der mit dem Satanismus der franz. Lit. verbundenen Dekadenzproblematik (s. Dekadenzdichtung) ist noch im Fin de siècle,

Teufelliteratur a m s t ä r k s t e n in Stanisjaw P r z y b y z e w s k i s R o m a n Satans Kinder (1897) w i r k s a m , dessen Held Gordon Boheme-Existenz und Dandyism u s d u r c h atheistisches S e n d u n g s b e w u ß t s e i n u n d anarchistisches U b e r m e n s c h e n t u m zu ü b e r w i n d e n v e r s u c h t . D e r K a m p f des M e n s c h e n z w i s c h e n G o t t u n d Satan w i r d erst in d e n Romanen von Georges B e r n a n o s wieder z u m z e n t r a l e n T h e m a . In Sons le soleil de Satan (1926) n i m m t d e r Priester D o n i s s a n diesen K a m p f auf sich, d e r d e n , t o t e n ' christlichen G e m e i n d e n die Realität des T e u f e l s v o r A u g e n f ü h r e n soll. I m Z u g e dieser B e w e g u n g des , R e n o u v e a u c a t h o l i q u e ' tritt a u c h in d e n religiösen R o m a n e n d e r d t . L i t . d e r T e u f e l w i e d e r als H a u p t a k t e u r a u f . I n Elisabeth L a n g g ä s s e r s R o m a n Das unauslöschliche Siegel (1946) zeigt er Z ü g e des .gefallenen E n g e l s ' , u n d n u r jene M e n s c h e n , die sich in seinem Kraftfeld bewegen, sind von überzeugender G r ö ß e . D e r schlechthin Böse, d e r A n t i p o d e C h r i s t i , ist d e r T e u f e l in G e r t r u d v o n L e F o r t s E r z ä h l w e r k Das Schweißtuch der Veronika (1928/46), dessen z w e i t e r B a n d {Der Kranz der Enget) ein e r r e g e n d e s Stück Kultur- wie Zeitkritik enthält. In Alfred D ö b l i n s E x i l - W e r k November 1918 (geschr. 1937-1941, p u b l . seit 1939 b z w . 1948) f ü h r t die Konversion Döblins zum Katholizismus zu e i n e m Satansbild v o n v e r s u c h e r i s c h e m G l a n z . Eudo C . M a s o n , Die Gestalt d. Teufels in d. dt. Lit. seit 1748, in: Tradition u. Ursprünglichkeit. Akten d. 3. intern. Germanistenkongr. Hg. v. W. Kohlschmidt u. Herrn. Meyer (1966) S. 113-125. Ders., Dt. u. engl. Romantik. E. Gegenüberstellung (1959; Kl. VandenhoeckReihe 85/85 a) S. 22 ff. — Wilh. S c h m i d t B i g g e m a n n , Maschine u. Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgesch. (1975). — J. C e r n y , J. Cazotte u. E. T. A. Hoffmann. Euph. 15 (1908) S. 140-144. Olga R a y d t , Das Dämonische als Stilform in d. literar. Werken E. T. A. Hoffmanns. Diss. München 1912. Ernst v. S c h e n k , E. T. A. Hoffmann. E. Kampf um d. Bild. d. Menschen (1939) S. 229-264. Werner B e r t h o l d , Das Phänomen d. Entfremdung hei E. T. A. Hoffmann. (Masch.) Diss. Leipzig 1953. — Edwin S o m m e r m e y e r , Hauffs ,Memoiren d. Satan' (1932; GermSt. 129). Robert P e t s c h , Faustsage u. Faustdichtung (1966). Leopold K r e t z e n b a c h e r , Teufeisbündner u. Faustgestalten im Abendland (Klagenfurt 1968; Buchr. d. Landesmuseums f. Kärnten 23). — Hans H e n n i n g , Das Faust-Buch von 1587. Seine Entstehung, s. Quellen, s. Wirkung bis z. Gegenw. Weim. Beitr. 6 (1960)

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§ 9 . Im wesentlichen tragen heute die tradierten v o l k s t ü m l i c h e n S t o f f e der augenblicklichen Aufgeschlossenheit gegenüber dem Teufelmotiv Rechnung. Im Rahmen der sog. v o l k s t ü m l i c h e n G a t t u n g e n bietet zudem die Behandlung des Teufelmotivs trotz großer Detail-Vielfalt im Vergleich zur Dichtung ein Bild geradezu systemhafter Geschlossenheit. Grundlage dieser einheitlichen Konzeption ist ein streng fixiertes Teufelbild, das sich zeitlicher Wandlung kaum geöffnet hat und mit nur geringer Modifizierung, die sich im wesentlichen in der Ergänzung zeitimmanenter Manifestationen erschöpft, mal. Strukturen tradiert. Unberührt von der parallelen Gestaltung des Teufelmotivs in der Dichtung, führt seine Formung in den volkstümlichen

Gattungen ein weithin unbeeinflußtes, dem Denken breiter Schichten nahes Eigenleben. Der Volksglaube trennt sich nur schwer von einmal Angenommenem; so wird z. B. noch bis zum Ersten Weltkrieg für die vorwiegend agrarischen Gebiete Pommerns, Mecklenburgs, Brandenburgs und Schlesiens der verbreitete Glaube an die Tätigkeit einzelner Lasterteufel authentisch bezeugt, den sich die Predigt nach wie vor zunutze machte. Der unmittelbare Teufelglaube, der nicht selten aus gebotener Vorsicht den Teufel nicht beim Namen zu nennen wagt, greift auf Märchen, Sage, Schwank und Volksschauspiele zurück und findet hier konkrete, aktive Teufelsgestalten. Die breiteste Zyklenbildung weisen die bereits für das 16 J h . dargestellten Teufelgeschichten auf. Soweit sie uns heute aufgezeichnet vorliegen, umfassen sie mal. Erzählgut jeder Art: christl. Predigterzählungen, Legenden, Exempel, aber auch das breite Spektrum vorchristlicher Dämonen, so daß gerade hier ein Dämonenspiegel sichtbar wird, der eindrucksvoll die Verwobenheit von Glaube und Aberglaube aufzeigt. In einigen Gattungen, wie in Sage und Schwank, herrscht das P r i n z i p der A u s t a u s c h b a r k e i t , d . h . eine Vielzahl von Erzählfunktionen kann ohne inhaltliche Veränderung auf andere Erzählzusammenhänge übertragen werden. Davon profitiert auch die Figur des Teufels, der z. B. die Stelle des sagentypischen ,geprellten Riesen' offensteht: so sind die sog. ,Baumeistersagen' primär solche vom betrogenen Riesen; ihr Vorbild haben sie in dem Bericht vom Bau der Götterburg Asgard durch die Riesen. Auch Rübezahl und Teufel sind austauschbar. Die weitgehende Motivgleichheit zwischen Riesen- und Teufelsagen läßt auch die Übertragung signifikanter Einzelzüge der Kristallisationsfiguren zu: so hat die sagentypische .Dummheit' des Teufels in der des Riesen ihre unmittelbare Quelle. Innerhalb der einzelnen volkstümlichen Gattungen kann es daneben zu gattungstypischen stofflichen S c h w e r p u n k t b i l d u n g e n auf der Basis des gemeinsamen Stoff- und Motivgruppenreservoires kommen; dabei zeichnen sich Vorlieben für gewisse Einzelmotive ab. Ist ein bestimmtes Motiv in allen Gattungen gleichermaßen beliebt, können die verschiedenartigen Ausformungsergebnisse dennoch sehr ähnlich sein. Das Thema des ,Teufelsrosses' etwa wird im Rahmen von Legende, Sage und Ballade

Teufelliteratur vielfach aufgegriffen, wobei die erzählerischen Akzentsetzungen kaum Verschiebungen aufweisen; es kann aber auch in unterschiedlicher Bewältigung desselben Themas zu unverwechselbaren gattungsspezifischen Fixierungen kommen; das in der Sage dominierende, typenbildende Teufelspaktmotiv wird auch vom Märchen und Schwank aufgegriffen, hier aber ist der Teufelspaktierer nicht der Gottesleugner der Sage, vielmehr der listige Held, der .Teufelskerl', der selbst mit dem Teufel fertig wird. Die Sage bietet das reichhaltigste Spektrum lebendiger Teufelerzählungen. Am deutlichsten manifestiert sich ihr Charakter in den Dämonen- und Totensagen, die den eigentlichen Kern der Volkssagen bilden. Die dämonologischen Sagen kreisen um jenseitige Figuren, um Teufel, Riesen, Zwerge, wobei deren Austauschbarkeit bewirkt, daß die Teufelgestalt das figurale Ergebnis einer unentwirrbaren Mischung vorchristl. Gedankenguts mit christl. Vorstellungen in verschiedener zeitlicher Ausprägung ist. Dabei kommt es immer wieder zu Verschiebungen tragender teuflischer Manifestationszüge. Unter unserem Aspekt sind auch landschaftsgebundene Varianten hinsichtlich des Verhältnisses von dämonologischer zu geschichtlich fundierter Sage interessant; die Ursachen dieser verschiedenartigen Schwerpunktsetzung bedürfen aber noch weithin der Klärung. Zwei große Gruppen sagenhafter Teufelerzählungen zeichnen sich ab: die numinosernsthaften und die märchenhaft-schwankhaften, wobei die Vielfalt möglicher Motivbündelungen nicht selten zu Überschneidungen im Rahmen dieser beiden großen Inhaltsgruppen führt. Hinsichtlich Funktion und Motivation lassen sich Haupttypen ausmachen. 1.) Der Typus der Warnerzählungen, der Sagen von Besessenheit und Austreibung sowie vom Wegbannen des Teufels umgreift, dessen Wurzeln vorwiegend in Exempeln, Legenden, erbaulichen und warnenden Predigterzählungen liegen. Im Rahmen dieser Warnerzählungen spielt der Tanz — wie in der gesamten didaktischen Lit. — eine bevorzugte Rolle; schon Hugo von Trimberg stellt in seinem Renner fest, daß der Teufel besonders gerne beim Tanze sei. 2.) Die Teufelsbündnersagen, zu deren Komplex auch die Faustsage gehört. Der Teufelspakt ist ein negatives Gegenstück zum Gottesbund, doch hat diese Paktsituation

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bereits im Schutzbündnis Wotans mit seinen Günstlingen eine vorchristl. Entsprechung. Der zunächst legendengebundene Stoff erwächst der seit dem 6. Jh. greifbaren Vorstellung von der Möglichkeit einer solchen Bündnissituation auch im Rahmen des Christentums. Die im Bereiche literar. Uberlieferung so bedeutsame Theophiluslegende kann als erste Teufelspakterzählung gelten, nach deren Schema eine Reihe spätmal. Teufelsbündnererzählungen verlaufen. Zunächst hat das Motiv innerhalb der Marienverherrlichung eine klar umrissene Funktion: in der Marienlegende wird der Teufelsbündner durch Maria gerettet. Im Spät-MA. wird der Teufelsbund unwiderruflich, und die Legendentradition mündet in die Sagenerzählung vom verdammten Teufelsbündner, die unter Einbeziehung einer Reihe regionaler Gestalten zunehmend weiter ausgebaut wird, wobei die Motivation zum Bündnis fast ausschließlich materieller Natur ist. Zwei klassische Typisierungen des Teufelsbündners sind Hexe und Freimaurer (s. d.); der Freimaurer, der jüngsten Schicht der Teufelsagen zugehörig, saugt zeitimmanente Verteufelungen auf und schreibt sie solchermaßen fest. In die Freimaurersagen des 18. Jh.s floß auch das gesamte mal. Motivarsenal des Teufelsbündners mit ein: eine Vielzahl tradierter Erzählungen wird spontan auf die neue Kristallisationsfigur übertragen. — Verteufelungsmechanismen initiierten auch den Typus der Venediger-Sagen. In diesen Erzählungen, die um die auch „Walen" genannten Fremden kreisen, die in den Alpen und dt. Mittelgebirgen nach Edelmetallen und Edelsteinen suchten, wird die latente Verteufelungsmentalität breiter Schichten offenbar: nicht nur der normabweichende, überragende Mensch kann als Teufelsbündner gelten, auch der Fremde wird fast automatisch in den Bannkreis des von jenseitigen Kräften Geleiteten gerückt. Die Faustsage, eine spezifisch dt. Teufelbündnervariante, zeigt in verkleinertem, ausschnittartigem Rahmen wesentliche Aspekte dieser Komponente des Teufelsglaubens: auf eine histor. Gestalt werden alte Volkssagen vom Teufelsbündnis übertragen, angereichert und auf- wie ausgefüllt; diese Summierung wurde dadurch erleichtert und vereinfacht, daß der histor. Faust keine Schriften hinterließ, man ihm also unbedenklich Nekromantentum und kriminelle Handlungen unterstellen konnte; die Verdikte humanisti-

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Teufelliteratur

scher wie theologischer Autoritäten (Joh. Trithemius, Luther, Ph. Melanchthon) erschweren bis heute die objektive Beurteilung. In Sage und Schwank manifestieren sich gleichermaßen d u a l i s t i s c h e S c h ö p f u n g s e r z ä h l u n g e n . Sie zeigen Gott und den Teufel in situationsbezogener Konkurrenz, ein in gesamteuropäischem Rahmen vielfältig variiertes Motiv, wobei die Schwankversionen häufig von der Erschaffung ganzer Herden bestimmter Tierarten ausgehen, und Gott sich mitunter die seines Gegners aneignet. In den dabei zutagetretenden realen Anknüpfungspunkten spiegeln sich die Grundzüge gängiger Verteuf elungsstrategie: vor allem auffällige T i e r e , solche mit scheinbar normabweichenden Merkmalen geraten in den Kreis vom Teufel Gezeichneter. Sagentypische Motiwariierungen, die z . T . der geglaubten Ursprungssage zuzurechnen sind, schaffen eine ausgeprägte Konkurrenzsituation. Für den Teufel fallen dabei nur unvollkommene Imitationen ab: schafft Gott die nutzbringende Biene, gelingt dem nachäffenden Gegenspieler nur die Wespe. Andere Gestaltungen lassen Gott die schädlichen Schöpfungen des Teufels neutralisieren: hat der Leibhaftige die Maus geschaffen, erschafft Gott die Katze. Herrscht im Schwank, für den generell die für das 16 J h . bereits getroffenen Feststellungen zutreffen, die heitere Komponente vor, dominieren in der Sage die ernsthaften Züge. Doch können hier wie da ernste und heitere Grundstimmungen und -Situationen unvermittelt wechseln. Aber selbst wenn man über den Teufel lacht, ist es ein im Grunde ohnmächtiges Lachen, das einer hilflosen Angst vor der Gefährlichkeit des noch lange nicht überwundenen Teufels entspringt. Im M ä r c h e n begegnet gelegentlich das Teufelspaktmotiv. Der Teufel wird hier besonders oft listig geprellt: es kann ihm eine Aufgabe gestellt werden, die er nicht zu lösen vermag, oder man geht mit ihm eine auf Täuschung angelegte Wette ein, deren Trugcharakter er nicht durchschaut; dieses Moment ist u. a. auch in Goethes Faust (Prolog im Himmel) wirksam. Bei der Uberlistung des Teufels helfen zuweilen von ihm verzauberte Geschöpfe mit, die dann erlöst werden, aber mitunter auch seine Großmutter. Der ,märchentypische' Teufel ist im ganzen gesehen eine recht vermenschlichte Gestalt, aus deren Regungen, Aktivitäten, Grundsituationen sich

seine spezifischen Handlungen ergeben, die nicht selten ohne jede planerische Übersicht sind. Doch wird die grundlegende Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse im Märchen nicht primär von der Teufelgestalt getragen; sie nimmt vielmehr in dieser Gattung bei weitem nicht die Stellung ein, die ihr die Sage zuweist. Ein Grund dafür mag darin zu suchen sein, daß die Sage generell einen größeren Wahrheitsanspruch erhebt und erhält als das Märchen, und daß der Teufel als reale Gestalt der Volksvorstellung viel selbstverständlicher der ,wirklichen' Welt zugeordnet wird als der märchenhaften. Von anderer Art, doch gleicher Wirkintensität sind d i c h t e r i s c h e G e s t a l t u n g e n neuerer literar. Epochen, die literar. Stoffe und Motive bewußt so formen, daß sie von b r e i ten S c h i c h t e n verstanden und rezipiert werden können. So weit sie unser Thema berühren, stehen sie nicht selten in der Tradition mal. Spiele, wie dies z . B . beim Obermarchtaler Prämonstratenser Sebastian S a i l e r ( 1 7 1 4 1777) der Fall ist, der biblische Stoffe in Komödien in schwäb. Mundart umdichtete, die er selbst rezitativ vortrug. Sein auch von didaktischen Momenten getragenes Anliegen zielt darauf, „in bäurischer Sprache nach Pöbelart einfältig" zu erzählen, wie er im Prolog zu einem seiner besten Stücke, dem Fall Luzifers, selbst sagt. Er nimmt dabei auch eine Transponierung der himmlischen und höllischen Gestalten ins oberschwäbische ,Milieu' vor, was ihn zu seiner Zeit wie auch später gelegentlichen Angriffen von kirchlicher Seite aussetzte. Wie Gottvater in seinen Komödien solcherart zum besitzstolzen Hofbesitzer wird, werden auch seine Teufel zu plastischen lebensnahen Gestalten, so daß sich Luzifer durchaus mit dem schwäbischen Gruß' aus dem Himmel verabschieden kann. Für die ungebrochene Attraktivität des Teufels ist die zugkräftige T i t e l g e b u n g b i s heute ein Indiz. So ist z. B . eine Legenden-Ausgabe unserer Tage Die Jungfrau und der Teufel überschrieben, obgleich der Teufel in den Erzählungen dieses Bandes kaum vorkommt. Der Herder-Verlag betont in seiner Werbung für den von Lutz Röhrich hg. Band Sage und Märchen. Erzählforschung heute (1976) den dämonischen Bereich: „von Hexen, Zauberern und Teufeln des Märchens sowie von Wildgeistern, Wassermännern und anderen übernatürlichen Wesen der Sage ist die Re-

Teufelliteratur — T e x t de . . . " ; außerdem erhielt der B a n d als Titelbild eine ,nachgeahmte Hexenfahrt' mit T e u feldarstellung (eine Wiedergabe eines H o l z schnitts aus dem 18. J h . ) . D a ß heute wieder dem Interesse am D ä m o n i s c h e n R e c h n u n g zu tragen ist, wird manchmal ausdrücklich formuliert, so z. B . von G u n t e r G r o l l , dem H e r ausgeber des Sammelbandes Der Zauberspiegel. Phantastische Erzählungen der Weltliteratur ( 1 9 6 1 ) . G r o l l spricht von einer H i n w e n dung zur D ä m o n i e , an die man zwar nicht mehr glaube, vor der man jedoch Angst habe. Sie kann auf diese Weise neutralisiert, aber auch provoziert werden. Polit. Dämonisierungen sind im Titel des R o m a n e s Mephisto von Klaus M a n n ( 1 9 3 6 ) , des Erfolgsstückes Des Teufels General von Carl Z u c k m a y e r (1946) und des Filmes von R o b e r t Siodmak Nachts, wenn der Teufel kam (1958) greifbar. Abraham W a r k e n t i n , Die Gestalt d. Teufels in d. dt. Volkssage. Diss. Univ. of Chicago 1936. Lutz R ö h r i c h (Hg.), Erzählungen d. späten MA.s «. ihr Weiterleben in Lit. u. Volksdichtung bis z. Gegenw. Bd. 1 (1962), bes. S. 113ff. u. 267ff. Ders., E. Teufelserzählung d. 13. Jh.s u. ihr Weiterleben his z. Gegenw. Exempel u. Sage. Dtschunt. (Stuttg.) 14 (1962), H. 2, 49-68. Ders., Die dämonischen Gestalten d. schwäb. Volksüberlieferung. (Masch.) Diss. Tübingen 1949. Ders., Sage u. Märchen. Erzählforschung heute (1976). — Hannjost L i x f e l d , Gott u. Teufel als Weltschöpfer. E. Untersuchung über d. dualist. Tiererschaffung in d. europäischen u. außereurop. Volksüberlieferung (1971; Motive 2). Ders., Der dualist. Schöpfungsschwank von Gottes u. d. Teufels Herde (Thompson K 483). Funktion u. Gattung, in: Volksüberlieferung. Festschr. f. Kurt Ranke (1968) S. 165-179. Mychajlo Petrovyc D r a h o m a n o v , Notes on the Slavic Religio-Ethical Legends: The Dualistic Creation of the World (Bloomington 1961; Indiana Univ. Publ. Russian and East European Ser. 23). Werner-Harald W a g n e r , Teufel u. Gott in d. dt. Volkssage. Diss. Greifswald 1930. — August W ü n s c h e , Der Sagenkreis vom geprellten Teufel (1905). Rolf Wilh. B r e d n i c h , Der Teufel u. d. Kerze. Zur stoffl. Herkunft und Verbreitung e. Volkserzählung vom geprellten Teufel (AT 1187). Fabula6 (1974) S. 141-161. A. G ö t z e , Teufels Großmutter. ZfdWf. 7 (1905/06) S. 28-35. Barbara Allen W o o d , The Devil in Dog-Form (Berkeley 1959). Viktor v. G e r a m b , Zum Sagenmotiv vom Hufbeschlag, in: Beiträge z. spracht. Volksüberlieferung. Festschr. f. Ad. Spamer z. 70. Geb. (1953) S. 78-88. Joh. B o l t e , Der Teufel in d. Kirche. ZfvglLitg. N . F . 11 (1897) S. 249-266. A. W e s s e l s k i , Das Recht d. Teu-

403

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Bebermeyer

Text § 1. D e r B e g r i f f T e x t ist für den Bereich der L i t . bereits im Spätma. belegt. Abgeleitet aus lat. textus ( = W e b e n , G e w e b e ; verallgemeinert: Zusammenfügung, Zusammenhang und im nlat. dann auch speziell: Zusammenhang einer Schrift), bedeutet T . zunächst „die w o r t eines gesangs, so unter noten geschriben und gleichsam gewebet i s t " und ist als Lied- und O p e r n t e x t in dieser Weise bis heute gebräuchlich. Das D W b unterscheidet von diesem ursprünglichen Bedeutungsumkreis: (1) T . als die „hauptwörter einer schrift im gegensatz zu den erklärungen und anmerkungen, im engeren sinne den grundspruch (bibeltext) einer predigt oder r e d e " ; (2) T . als die zusammenhängenden W ö r t e r einer Schrift oder einer R e d e , wie etwa schon 1624 M . O p i t z moniert, daß „allerlei lateinische, frantzösiche u . s . w . W ö r t e r in den T e x t unserer R e d e geflickt werden". Eine zunehmende Verbreitung hat das W o r t T . nach 1945 erfahren: den wertenden und von der Tradition belasteten Vorstellungen von D i c h t u n g und Lit. wird der (scheinbar) wertfreie T . gegenübergestellt; ,textimmanent' ( = werkimmanent) soll die Beschäftigung mit literar. W e r k e n sein, um einer ideologischen Ü b e r f r a c h t u n g vorzubeugen; Heißenbüttel nennt seine L y r i k provokativ „ T e x t e " (gesammelt in Texte ohne Komma und in den Textbüchern I f f . ) , und ein modernes Schullesebuch trägt den programmatischen Titel Texte und Zeichen.

404

Text

§ 2. In die L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t findet das Wort T . in allen angeführten Bedeutungsschattierungen frühzeitig Eingang, ohne freilich schon den Rang eines theoretisch reflektierten Terminus zu erhalten. Erst nach 1966 leitet die Kritik an der traditionellen Germanistik (Germanistentage in München und Berlin) eine bewußte Wendung zum T.begriff ein, die zugleich Ansätze zu einer Uberwindung des vortheoret. Wortgebrauchs zeigt: „Die Worte T e x t und A u t o r sollten uns lieber sein als vorbelastete Begriffe (wie) Dichtung und Dichter, Literatur und Literat" (K. O . Conrady in: H . Rüdiger 1973). W. Iser (in: J . Kolbe 1969) formuliert das Programm einer ,künftigen Germanistik': „Lit.wiss. ist eine Wissenschaft von T.en und nicht von Nationen". Nicht nur die schöne Lit., sondern auch Unterhaltungslit. und insbesondere nicht-fiktionale Schriften, sog. „expositorische T . e " , sollen Gegenstand des Faches sein. Von einer solchen Erweiterung des Objektbereichs verspricht man sich eine „Revision der klassischen Lit.gattungen und des durch die bürgerliche Lit.wiss. vermittelten Lit.kanons" (K. Riha in: J . Kolbe 1973). Die Forderung einer allgemeinen T e x t w i s s e n s c h a f t , die in einzelnen fortgeschrittenen Positionen nicht auf den sprachlichen Bereich beschränkt bleibt und Medien wie Film und Fernsehen einzubeziehen sucht ( z . B . Breuer 1974), ist die Folge einer Entwicklung, die sich insbesondere in den Gliederungen neukonzipierter Einführungen in das Fach greifen läßt (vgl. insbesondere den Band von H . L. Arnold/V. Sinemus 1973, der in 8 von 9 Gliederungspunkten den Ausdruck T . aufweist). Hier finden sich auch erste Versuche, einen lit.wiss Begriff T. näher einzugrenzen; so umfaßt für H . A. Glaser (in: Arnold/ Sinemus 1973) T . „alle schriftlich fixierte Sprache im Sinne des ,Schwarz auf W e i ß ' " . Freilich dürfte ein Begriff T . , solange er allein von der Opposition zur kritisierten Tradition des Faches getragen wird, kaum ausreichen, um den Ansprüchen einer T.-Wissenschaft zu genügen. Zu fordern ist demgegenüber die Ableitung des T.begriffs aus einem funktionalen T.modell, das eine systematische Gliederung des T.kontinuums ( z . B . im Sinne pragmatisch definierter T.Sorten) erlaubt, in diesem Rahmen gerade auch den Ort ästhetischer und narrativer T.präsentation (Lit.) zu bestimmen vermag und deren Verwendungs-

zusammenhänge mit reflektiert. Zu einem Zeitpunkt, zu dem diese schwierige Aufgabe in keiner Weise als geklärt gelten kann, will die folgende Darstellung bislang vorgestellten Möglichkeiten, den T.begriff systematisch zu fassen, nachgehen, deren Reichweite für eine lit.wiss. Begriffsbildung diskutieren und einzelne Ansätze zu einem für die Lit.wiss. sinnvoll erscheinenden Modellrahmen aufzeigen. Zum histor. Ort der Entwicklung einer T.wissenschaft: Eberhard L ä m m e r t u. a., Germanistik - e. dt. Wissenschaft (1967; EdSuhrk. 204). Karl Heinz B o r c k u. Rudolf H e n s s (Hg.), Der Berliner Germanistentag 1968. Vorträge u. Berichte (1970). Jürgen K o l b e (Hg.), Ansichten e. künftigen Germanistik (1969; RHanser 29). Jürgen K o l b e (Hg.), Neue Ansichten e. künftigen Germanistik (1973; RHanser 122). Helmut K r e u z e r , Veränderungen d. Lit.begriffs (1975; Kl. Vandenhoeck-R. 1398). Horst R ü d i g e r , Lit. u. Dichtung (1973; Sprache u. Lit. 78). Einführungen mit Einbeziehung des T.begriffs: Heinz Ludwig A r n o l d u. Volker Sinemus (Hg.), Grundzüge d. Lit.- und Sprachwissenschaft. Bd. 1: Lit.wiss. (1973; dtv W R 4226). Dieter B r e u e r u.a., Lit.wiss. E. Einf. für Germanisten (1972; Ullstein-Buch 2941). T.wissenschaft als Programm: Max B e n s e , Theorie der T.e (1962). Erwin L e i b f r i e d , Krit. Wiss. vom T. (1970). Dieter B r e u e r , Einf. in d. pragmatische T.theorie (1974; U T B . 106). Ingrid K e r k h o f f , Angewandte T.wissenschaft. Lit. unter sozialwissenschaftl. Aspekt (1973). Heinrich F. P l e t t , T.wiss. u. T.analyse (1975; UTB. 328). Jörg D i t t k r i s t , T.wiss. als Neopositivismus. Disk. Deutsch 21 (1975) S. 48-68.

§ 3. Der T . b e g r i f f der E d i t i o n s p h i l o logie. Eher als in anderen Bereichen der Lit.wiss. bildet sich im Zusammenhang mit den Problemen der T.edition ein Bewußtsein dessen aus, was einen T . definiert. Die Aufgabe der T.kritik (s. Edition) zwingt zur methodologischen Reflexion über den Gegenstand, der in seiner authentischen Gestalt ermittelt werden soll. Schon im Altertum, insbesondere in der alexandrinischen Schule des 3. und 2. Jh.s v. Chr., wurden exakte Verfahren entwickelt, dichterische, philosophische, historische u.a. T.e in einem nachprüfbaren Wortlaut zu konstituieren und zu edieren. In der Renaissance, die gerade auch die philologischen Techniken des Altertums * aufgriff und weiter ausbildete, wurde die Aufgabenstellung der Editionsphilologie, den

Text ursprünglichen T. wiederherzustellen, auch terminologisch näher eingegrenzt: wenn der T.kritiker Giovanni Lamola 1428 seine Aufgabe darin sieht, priorem textum restituere, so ist T. für ihn nicht etwas Vorgegebenes, etwas material Überliefertes, sondern ein Sprachzustand, der durch philologische Arbeit, durch die Verfahren der recensio und der emendatio erst hergestellt werden muß. Der Zusammenhang zwischen Überlieferungsträger (T.zeuge) und Autor wurde grundsätzlich problematisiert; insbesondere durch Karl L a c h m a n n (1793-1851) wurden Methoden ausgebildet, durch Handschriftenvergleich und syntaktisch-semantische Analysen auf eine möglichst frühe einheitliche T.gestalt rückzuschließen; Ulrich von W i l a m o w i t z zeigte Ende des 19. Jh.s mit seinem Begriff der „Textgeschichte", wie Veränderungen in der Uberlieferung eines T.es als historisch bedingt zu begreifen sind. Vermittelt durch seine frühere Tätigkeit als klassischer Philologie, gibt Friedrich N i e t z s c h e dem Begriff T. in seinem philosophischen Werk eine aufschlußreiche Wendung. Ähnlich wie schon bei Kant („,ich denke' ist der alleinige T e x t der nationalen Psychologie, aus welchem sie ihre ganze Weisheit auswickeln soll") ist auch für Nietzsche T. eine Bezeichnung für das Grundlegende, das der Mensch erfassen muß, um sich selbst zu begreifen. In diesem Sinne spricht Nietzsche von der „tollen Aufgabe", „über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr (zu) werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden". Als einen „Mangel an Philologie" sieht er es nun an, in den „geheimnisvollen und ungelesenen T . " moralische Wertgegensätze hineinzudeuten, wie er etwa auch die „Gesetzesmäßigkeit der Natur" als Auslegung ansieht; sie ist „Interpretation, nicht Text". Jedoch „einen T. als T. ablesen zu können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der .inneren Erfahrung' - vielleicht eine kaum mögliche". Denn der T. ist gar nicht anders erfahrbar als in der Form des Ausgelegtseins; „es gibt keine alleinseligmachende Interpretation", sagt er an anderer Stelle, „derselbe T. erlaubt unzählige Auslegungen". Damit kennzeichnet er gegen jeden positivist. Erkenntnisanspruch gerichtet - das grundlegende Dilemma des Philosophen, der seine geschichtlich bedingte Erkenntnisperspektive nicht zu überspringen vermag; damit markiert er aber auch, weit über die philologischen Einsichten des 19. Jh.s hinausgehend, die erkenntnistheoretische Grundposition einer modernen T.philologie: jede editorische Tätigkeit ist eingespannt zwischen dem Anspruch einer authentischen Textkonstitution und der Einsicht, daß die histor.

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Gebundenheit der Deutung, die entscheidend die jeweilige Textgestalt mitbestimmt, nicht zu hintergehen ist - eine Position, die in der T.kritik fast ein Jh. später in den Arbeiten von M. Windfuhr (1957), H. W. Seiffert (1963) und insbesondere in den editionswissenschaftlichen Aufsätzen H. Zellers (1971, 1975) eine angemessene Berücksichtigung fand. Für unseren Zusammenhang deutet sich mit dieser editionstheoretischen Grunderkenntnis bereits an, daß ein sinnvoller lit.wiss. T.begriff sich nicht auf ein materiales Faktum beschränken kann, sondern die Spannung zwischen dem mit einer bestimmten Absichtlichkeit schreibenden Autor und dem Leser, und das heißt zugleich, dem stets auslegenden Wissenschaftler, mit zu reflektieren hat.

Wenn auch die Editionsphilologie in Deutschland in den ersten drei Jahrzehnten dieses Jh.s mit einer Reihe bedeutsamer Arbeiten (Backmann, Kurrelmeyer, Seuffert u.a.) einen weiteren Aufschwung erhielt, so ist in der theoret. Fundierung des editor. Begriffs T. zunächst kaum ein Fortschritt zu verzeichnen. Immerhin werden von G. W i t k o w s k i in seinem „methodologischen Versuch" Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke (1924) zwei wichtige Faktoren der T.konstitution angeführt, wenn er als die zwei unabdingbaren Grundlagen der T.kritik das „Verständnis der Sprache" und ein „restloses Verständnis des Inhalts" ansieht. Damit wird zum erstenmal explizit die Bedeutungsdimension in den editor. T.begriff einbezogen. - Weiter führen die editionswissenschaftl. Arbeiten der 20er Jahre in der Sowjetunion. Vor allem B. V. T o m a s e v s k i j war es, der 1928 mit seinem grundlegenden Werk Pisatel' i kniga den Aufriß einer „ T e x t o l o g i e " konzipierte, die T.kritik und Editionstechnik einen systematisch-wissenschaftl. Rahmen zu geben suchte. Ausgehend von der Auffassung einer ständigen „literarischen Evolution", die der zeitgenöss. Russische Formalismus entwickelt hatte, stellte Tomasevskij fest, daß T.e allein aus ihrem histor. Zusammenhang, aus dem Kontext der literar. und außerliterar. Reihen zu begreifen seien. Erst die Erforschung des literatur- und gesellschaftsgeschicht. Umfeldes gibt nach T. die Voraussetzung, T.e editorisch zu konstituieren. Die Position U. v. Wilamowitz, die Geschichte eines T.es könne erst nach einer vorangegangenen T.kritik geschrieben werden, verkehrt sich damit in ihr Gegenteil: erst die Kenntnis der T.geschichte erlaubt, T.e kritisch zu edieren. Kennzeich-?nd für diesen Ansatz ist es, daß an die Stelle der Autorinten-

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tion die geschichtliche Determination des T . e s tritt: „ W i c h t i g ist nicht, wohin der A u t o r zielt, sondern wohin er f ä l l t " . D e r T . als ein „geschichtliches F a k t u m " trägt sein T e l o s in sich. Entsprechend kann es keine auf ein letztes Ziel gerichtete Werkentwicklung, keinen „besten T . " , geben, sondern alle Entwicklungsstufen, die ein W e r k durchläuft, sind grundsätzlich gleichrangig, „jedes Stadium des poetischen W e r k e s ist für sich selbst ein poetisches F a k t u m " . Zugleich ist jeder T . z u s t a n d nur D u r c h g a n g ; wie er selbst voraufgehende T . e aufgreift und verändert, ist er selbst Anlaß zu ständiger F o r t e n t w i c k l u n g . Beigetragen zu einer solchen d y n a m i s c h e n T . a u f f a s s u n g haben zweifellos die Eigenart der Werküberlieferung Puskins (dem editor. Paradigma für die russ. L i t . ) und nicht zuletzt die Vorliebe der Russischen Formalisten für volkskundliche Gattungen (vor allem M ä r chen). D a s K o n z e p t eines „offenen T e x t e s " , das J . Kühnel jüngst (1976) für die Überlieferungsgeschichte volkssprachlicher T . e des M A . s vorgeschlagen hat, liegt in den Arbeiten Tomasevskijs bereits seit fünfzig Jahren entwickelt vor. - Diese textologische Auffassung wird (mit leichten Veränderungen) nach 1945 in den z . T . auch im Westen rezipierten Arbeiten D . L i c h a c e v s aufgegriffen und besonders für mediävistische T . e - in eine textologisch-editorische Praxis überführt (vgl. W . Alberts 1968 und D . Lichacev 1971). In der theoret. Grundlegung seiner Tekstologija (1962) sucht Lichacev als einer der ersten nun auch den editor. Begriff T . terminologisch zu fassen: „ T . drückt ein W e r k in den F o r m e n der Sprache aus [. . .] Zu den nichttextlichen Erscheinungen gehört alles das, was nicht anerkannt werden kann als sprachlicher Ausdruck einer bestimmten sinngemäßen O r d n u n g " (z. B . „ F o r m e n der G r a p h i k " , zufällige Schreibversehen, z . T . auch die O r t h o g r a p h i e ) . Z u m T . gehören dagegen auch Varianten, solange sie vom A u t o r stammen und ein einheitliches T.verständnis dokumentieren; wenn ihnen allerdings ein verändertes W e r k v e r ständnis zugrunde liegt oder sie von fremder H a n d stammen, konstituieren sie einen neuen T e x t . V o n allgemeiner lit.wiss. Bedeutung ist seine A b g r e n z u n g des Terminus T . vom W e r k b e g r i f f : „ . . . ein literar. W e r k ist ein T e x t , der formal und inhaltlich durch eine bestimmte Idee (Sinn, Gehalt) vereinheitlicht w i r d " , d . h . also: T . ist für L . zunächst ein

neutrales F a k t u m , das erst durch eine Sinngebung (durch seinen A u t o r ) zum W e r k wird. (Ähnlich auch F . W . Wollenberg 1971.) Eigentümlich an diesen B e m ü h u n g e n u m eine terminologische Fassung des editor. T.begriffs - und ähnliches läßt sich auch von den Versuchen K . G o r s k i s ( 1 9 7 1 ) sagen - ist die Diskrepanz zum eigentlichen Theorieansatz der Sowjet. Textologen und zu deren editionsprakt. U m s e t z u n g e n : W e d e r der Bezug z u m histor. U m f e l d , aus dem heraus T . als ein editorisches O b j e k t sich erst fassen läßt, noch die O f f e n h e i t gegenüber vorangehenden und nachfolgenden T . e n werden in die Abgrenzung des Begriffs mit hineingenommen. H i n z u k o m m t ein weiteres D e f i z i t : W e n n auch die n u n m e h r explizit gefaßte Loslösung des T.begriffs von der graphischen Fixierung als ein wichtiges Ergebnis gewertet werden kann, so wird doch nicht scharf genug gesehen, daß an die Stelle des vorgefundenen O b j e k t s ein T . tritt, der erst durch die Arbeit des Textologen hergestellt wird; mit der B e s t i m m u n g dessen, was als „sinngemäße O r d n u n g " zu gelten hat und wann ein „neues Werkverständnis" beginnt, ragt dessen geschichtliche D e u t u n g s position in die T . k o n s t i t u t i o n mit hinein. I m dt. Sprachraum führten die editionswissenschaftl. Arbeiten um die AkademieAusgabe der W e r k e G o e t h e s zu Ergebnissen, die in Exaktheit und T e n d e n z den F o r s c h u n gen der Sowjet. Textologie nahe k o m m e n . D i e Kanonisierung eines ,letzten T e x t e s ' wird aufgebrochen, die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Fassungen festgestellt und vor allem eine Reihe zentraler Editionsbegriffe (Fassung, Varianz, Zeuge usw.) exakt gefaßt (vgl. S. S c h e i b e 1971); eine Definition des T.begriffs ist allerdings an dieser Stelle nicht erfolgt. - Das Bewußtsein für die Schwierigkeiten einer sinnvollen T.definition schärften demgegenüber die theoret. Bestimmungsversuche des C . F . Meyer-Herausgebers H . Z e l l e r . Gerade seine Ausführungen über den T . f e h l e r ( H . Zeller 1971 und 1975) machten überzeugend deutlich, wie die jeweilige T . g e stalt von der editor. D e u t u n g des T . b e f u n d e s abhängt und damit der „Schatten des Herausg e b e r s " notwendig in die T . k o n s t i t u t i o n hineinragt. - F ü r eine Weiterentwicklung des editor. T.begriffs waren entscheidend die B e m ü h u n g e n um eine editorische Darstellung von W e r k e n t w i c k l u n g e n , die seit der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe F . B e i ß n e r s

Text (1943ff.) einen Schwerpunkt der editionstheoret. Auseinandersetzung bildeten. Am Werk B. Brechts zeigte G. Seidel (1970), daß gerade die T.e dieses Autors sich durch die „prinzipielle Unabgeschlossenheit des literar. Prozesses" auszeichnen. Die Gleichwertigkeit aller „Textstufen" dieses Prozesses erfordert eine entsprechende editor. Wiedergabe: Die synoptische Darstellung, die alles zusammengehörige Textmaterial in der genetischen Folge abdruckt, wird nunmehr zum Kern der Edition, während die Heraushebung einzelner T.stadien in der traditionellen Form des edierten T.es nur noch den Rang einer Lesehilfe erhält. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt G. M a r t e n s (1971), der die ,T.dynamik' der Werkentwicklung einerseits als Ausdrucksbewegung des Autors, andererseits als Folge der Entwicklung des Autors wie auch des gesellschaftlichen Umfeldes auffaßt. T. ist in diesem Sinne nicht mehr ein „statisches Gebilde", sondern ein Prozeß, in dem alle Einzelzustände, die ein T. im Zuge seiner Geschichte durchläuft, mit aufgehoben sind. Eine konsequente editor. Umsetzung hat dieses T.modell, das zunächst im Zusammenhang der Bearbeitung des Lyriknachlasses G. Heyms entwickelt worden ist, in der neuen Frankfurter Hölderlin-Ausgabe D. Sattlers gefunden: sie besteht nur noch aus der genetischen Darbietung des gesamten T.materials zu den Dichtungen F. Hölderlins, die als editor. Deutung den in Form von FaksimileWiedergaben und diplomatischen Umschriften dargebotenen Handschriften gegenübergestellt wird. Uberschaut man die hier sehr verkürzt dargestellte Entwicklung der Editionsphilologie, so zeigt sich - gerade auch als Ergebnis der Editionspraxis - in welchen Zusammenhängen T. gesehen werden muß. Dabei zeichnet sich zunehmend ab, daß sich eine Position, die den T. als feststehende Größe zwischen den Variablen Autor und Leser/ Wissenschaftler situieren möchte, kaum mehr rechtfertigen läßt. In dem K o m m u n i k a t i o n s p r o z e ß Autor - Leser wird der T. selbst zur Variablen, einerseits abhängig vom Autor, indem der T. dessen Veränderung in der Form von Varianten und Neufassungen mit aufnimmt, andererseits abhängig vom bearbeitenden Wissenschaftler/Leser, indem der T. sich erst in der Bedeutungsdimension, d.h. aber schon immer: durch die deutende

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Tätigkeit des Editors (Rezipienten) als ein syntaktisch und chronologisch geordnetes Ensemble von Einzelelementen konstituiert (vgl. dazu auch U. Ricklefs 1975). Diese Einsicht in den kommunikativ-dynamischen Charakter von T.en spiegelt sich in den Reflexionen der Editionswissenschaft lange, bevor ähnliche Gedankengänge in übrigen Bereichen der Lit.wiss. verfolgt werden. Lit.angaben s. Artikel Edition. Den neuesten Stand referieren die Bibliographien in: Gunter M a r t e n s u. Hans Z e l l e r (Hg.), Texte u. Varianten (1971) und Gerhard Seidel, Bertolt Brecht. Arbeitsweise u. Edition (1970; 2. Aufl. 1977). — Die folgende Zusammenstellung beschränkt sich auf die im Artikel herangezogenen Arbeiten: Werner A l b e r t s , Bericht über das Buch ,Tekstologija' von D. S. Lichacev. In: Hugo Kuhn u.a. (Hg.), Kolloquium Uber Probleme altgermanist. Editionen (1966) S. 169-180. Friedrich B e i ß n e r (Hg.), Hölderlin. Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe (1943ff.). Herbert H u n g e r u.a., Geschichte d. T.Überlieferung d. antiken u. mal. Lit. 2 Bde (1961/1964). Konrad G ó r s k i , Zwei grundlegende Bedeutungen d. Terminus „Text". In: Texte u. Varianten, S. 337343. Klaus K a n z o g , Prolegomena zu e. histor.krit. Ausgabe d. Werke Heinrich von Kleists (1970). Jürgen K ü h n e l , Der „offene Text". Beitrag z. Überlieferungsgesch. volkssprachlicher Texte d. MA.s. In: Leonard Forster u. Hans-Gert Roloff (Hg.), Akten des V. Intern. GermanistenKongresses Cambridge 1975 (1976) S. 311-321. Dimitrij S. L i c h a c e v , Tekstologija (Moskau, Leningr. 1962). Ders., Grundprinzipien d. textolog. Untersuchungen d. altruss. Lit.denkmäler. In: Texte u. Varianten, S. 301-315. Gunter M a r t e n s , Textdynamik u. Edition. In: Texte u. Varianten, S. 165-201. Ulfert R i c k l e f s , Zur Erkenntnisfunktion d. lit.wiss. Kommentars. In: Wolfgang Frühwald u.a. (Hg.) Probleme der Kommentierung (1975) S. 33-74. Edward W. Said, The Text as Practice and as Idea. M L N . 88 (1973) S. 1071-1101. Dieter E. S a t t l e r (Hg.), Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe (1976ff.). Siegfried S c h e i b e , Zu einigen Grundprinzipien e. histor.-krit. Ausgabe. In: Texte und Varianten, S. 1-44. Hans Werner S e i f f e r t , Untersuchungen z. Methode d. Herausgabe dt. Texte (1963; 2. Aufl. 1969; Veröff. d. Inst. f. dt. Sprache u. Lit. 28). Boris V. T o m a s e v s k i j , Pisatel' ikniga. Ocerk tekstologii. [Der Schriftsteller und das Buch. Abriß der Textologie.] (Moskau 1928; 2. Aufl. 1959). Georg W i t k o w s k i , Textkritik u. Editionstechnik neuerer Schriftwerke (1924). Friedrich Wilh. W o l l e n b e r g , Zur genet. Darstellung innerhandschriftlicher Varianten. In: Texte u. Varianten,

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S. 251-272. Hans Zeller, Befund u. Deutung. In: Texte u. Varianten, S. 45-89. Ders., A new Approach to the Critical Constitution of Literary Texts. Studies in Bibliography 28 (1975) S. 231234. Klaus K a n z o g , Variante u. Textentscheidung. Über d. Rolle d. Textkritik im lit.wiss. Studium. Jb. d. dt. Schillerges. 22 (1978) S. 700-721. § 4. T . aus l i n g u i s t i s c h e r S i c h t . Roman J a k o b s e n (1971) bezeichnet den Literaturwissenschaftler, „ d e m linguist. Fragen gleichgültig sind und der sich in linguist. M e t h o d e n nicht a u s k e n n t " , als kraß anachronistisch (ebenso übrigens wie den Linguisten, „ d e r taub ist für die poetische F u n k t i o n der S p r a c h e " ) . Dieses beherzigenswerte D i k t u m hat seine besondere Bedeutung für einen lit.wiss. Bestimmungsversuch des Begriffs „ T e x t " . Schon 1968 stellte S. J . Schmidt fest: „ D a s sprachliche K u n s t w e r k wird zunächst prinzipiell als T . aufgefaßt, d . h . als O b j e k t aus Sprache, das aufgrund dieser B e s t i m m u n g nicht nur in den Zuständigkeitsbereich der Philologien, sondern vor allem der Linguistik f ä l l t " . D e r Literaturwissenschaftler wird deshalb gut daran tun, die intensiven B e m ü h u n gen der Linguisten um eine terminologische Fassung des T.begriffs zur Kenntnis zu nehmen und für die textanalyt. Arbeit zu nutzen. Zwei A u t o r e n , die gerade auch für den Literaturwissenschaftler aufschlußreiche A n sätze vertreten, machen frühzeitig auf den T . b e g r i f f aufmerksam. F ü r die Sprachtheorie K . B ü h l e r s ( 1 9 3 4 ) ist die Kategorie T . , selbst wenn sie noch nicht terminologisch eingeführt wird, konstitutiv: D i e Redeeinheiten und Satzgefüge, von denen er ausgeht, sind gekennzeichnet einerseits als G a n z h e i t , andererseits als ein kohärenter Sprechzusammenhang, der etwa durch den „anaphorischen G e b r a u c h von Z e i g e w ö r t e r n " entsteht. B e m e r k e n s w e r t ist an diesem frühen Ansatz einer (impliziten) T . t h e o r i e , daß B ü h l e r bei seinen B e o b a c h t u n gen zu den Bedingungen und Merkmalen einer T . k o n s t i t u t i o n von vornherein von der k o m munikativen Situation, in denen solche R e d e einheiten v o r k o m m e n , ausgeht, so etwa in der Feststellung: „ P s y c h o l o g i s c h betrachtet setzt jeder anaphorische G e b r a u c h von Zeigewörtern das eine voraus, daß Sender und Empfänger den Redefluß als ein G a n z e s v o r sich haben, auf dessen Teile man z u r ü c k - und vorgreifen k a n n . "

Sehr viel grundsätzlicher führt L . H j e 1 m s 1 e v ( 1 9 4 3 ) den T . b e g r i f f ein. Leitend ist für ihn die Vorstellung, daß die a m o r p h e G e d a n k e n Masse (purport), die jeder Sprache zugrunde liegt, erst durch T . e strukturiert wird und damit erst eine für den Wissenschaftler greifbare E x i s t e n z f o r m gewinnt: „ A language may be defined as a paradigmatic whose paradigms are manifested b y all purports and a text, correspondingly, as a syntagmatic whose chains, if expanded indefinitely, are manifested by all p u r p o r t s . " Im T . wird das System einer Sprache greifbar, deshalb ist für Hjelmslev der T . das primäre O b j e k t der Linguistik. In ähnlicher Weise argumentiert auch P . H a r t m a n n , der als einer der ersten in Deutschland die Einrichtung einer T.linguistik fordert: „ D e r T . , verstanden als die grundsätzliche Möglichkeit des V o r k o m m e n s von Sprache in manifestierter Erscheinungsform, [. . .] bildet das originäre sprachliche Z e i c h e n " (Hartmann 1968). G e g e n ü b e r dem Ansatz Hjelmslevs besteht jedoch ein gravierender U n t e r s c h i e d : Hartmann sieht als O b j e k t der T.linguistik die aktualisierte Sprache, d . h . die funktionsfähige Sprache, die im einzelnen T . ihre bestimmte Erscheinung findet; damit steht für ihn der Gesichtspunkt der S p r a c h v e r w e n d u n g , des K o m m u n i k a t i v e n , der gelungenen Kommunikation, im Mittelpunkt; Hjelmslevs Interesse ist demgegenüber auf die S p r a c h e a l s S y s t e m , auf die Beschreibung der langue, gerichtet; sein T . b e g r i f f ist entsprechend nicht an der Einzelerscheinung der aktualisierten Sprache orientiert, sondern deckt den unbegrenzten P r o z e ß des Sprachv o r k o m m e n s ab, „ f o r example, the one that is provided b y all that is written and said in D a n i s h " . In diesen beiden Interessenpositionen, die einerseits auf die Sprachverwendung, andererseits auf das Sprachsystem gerichtet sind, zeichnen sich zwei grundsätzliche Richtungen der Linguistik ab, den Begriff T . zu fassen, die in den beiden folgenden Abschnitten gesondert betrachtet werden sollen. Karl Bühler, Sprachtheorie (1934; 2. Aufl. 1965). Peter H a r t m a n n , Texte als linguistisches Objekt. In: W. D. Stempel, Beiträge zur Textlinguistik (1971), S. 9-29 (vgl. auch die Diskussion S. 189-216, mit wichtigen Beiträgen zum lit.wiss. Interesse an der linguist. T.Betrachtung). Louis Hjelmslev, Prolegomena to a Theory of Language. (2. Aufl. Madison 1961; dän. Original

Text 1943). Roman J a k o b s o n , Linguistik u. Poetik. In: J. Ihwe (Hg.), Lit.wiss. u. Linguistik (1971), Bd. 2, 1, S. 178. Siegfried J. Schmidt, Alltagssprache «. Gedichtsprache. Poetica 2 (1968) S. 285-303. § 5. Der T . b e g r i f f in d e r S y s t e m l i n g u i s t i k . Mit der Arbeit Pronomina und Textkonstitution legt R . H a r w e g 1968 - nach vorhergehenden Ansätzen in den U S A (Z. S. Harris 1952 und K . L. Pike 1954ff.) - im dt.sprachigen Raum einen ersten Versuch vor, einen linguist. T.begriff systematisch zu erschließen. T . bedeutet für ihn „ein durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten", wobei „pronominal" ganz allgemein das syntagmatische Substitutionsverhältnis meint, durch das Elemente in verschiedenen Sätzen miteinander verknüpft werden. Damit wird zwar das Phänomen der Kohärenz als ein wichtiges Mittel der T.konstitution, das gerade auch für lit.wiss. T.analysen von Bedeutung ist, hervorgehoben, als hinreichendes Merkmal für den Begriff T . ist es jedoch nicht ausreichend. So lassen sich durch diesen Definitionsversuch Anfang und Ende eines T.es nicht eindeutig bestimmen (vgl. Brinker 1971), vor allem aber werden zahlreiche literar. Texte, in denen die pronominale Verkettung bewußt durchbrochen wird, ausgeschlossen (vgl. G . Martens 1975). - Auch für H . I s e n b e r g ist der T . eine „kohärente Folge von Sätzen" (Isenberg 1970). In einem Entwurf zu einer Texttheorie (1971) geht er von der Existenz von T.regeln aus, die „zusammen mit den übrigen Komponenten der Grammatik den Begriff ,wohlgeformter Text einer Sprache L ' explizieren". Diese T.regeln suchen die Kohärenz des Textes in der Weise zu fassen, daß sie die Beziehbarkeit der einzelnen mit „Referenzmerkmalen" versehenen Satzelemente ( z . B . „bekannt", „identifizierbar") definieren. Gegenüber dem Ansatz R . Harwegs ist hervorzuheben, daß Isenberg sich nicht allein auf die Syntax beschränkt, sondern über die „Referenzbeziehungen" auch semantische und pragmatische Dimensionen in die T.bildung einbezieht. Zudem gewinnt Isenberg durch seinen Rückgriff auf ein generatives Modell eine größere Präzision, wenn sich auch zeigt, daß ein sehr begrenzter Apparat von „T.regeln", wie ihn Isenberg vorschlägt, nicht ausreicht, um die komplexe Struktur von T . e n , insbeson-

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dere literar. T . zu greifen. Das beweisen auch die Arbeiten der Konstanzer Projektgruppe T.linguistik, die durch ein Ensemble von Formations- und Transformationsregeln T . zu formalisieren und damit umfassend zu beschreiben suchen. Der für diesen Zweck notwendige Apparat von T.regeln nimmt solche Ausmaße an, daß er für die prakt. Arbeit des Literaturwissenschaftlers (und erst recht für die Belange einer T.definition) kaum noch einen Beitrag leistet. Das gilt letzten Endes auch für die Arbeiten von v. D i j k , Petöfi, Rieser u.a., die in diesem Umkreis entstanden sind, wenn auch einzelne Aspekte dieser Untersuchungen, wie z . B . die „zweidimensionale" Erfassung des T.gewebes in „Listen" und „ N e t z e n " bei J . S. P e t ö f i oder die handlungstheoretische Erklärung von textl. Makrostrukturen bei T . v. D i j k , wichtige Gesichtspunkte der T.beschreibung in das Blickfeld rücken. Ganz allgemein verweisen gerade auch diese Ansätze auf eine grundlegende Aporie der Bemühungen, den Gegenstand einer T.grammatik näher zu präzisieren: einerseits erweist sich eine innertextlich-syntaktische T.definition als zu eng, andererseits führt die Einbeziehung einer Semantik- und Pragmatik-Komponente zu einer solchen Aufschwellung des Beschreibungsapparates, daß der damit gewonnene Nutzen durch Unüberschaubarkeit und den notwendigen Abstraktionsgrad mehr als aufgehoben wird. Das betrifft insbesondere auch die Versuche, die spezielle Sorte l i t e r a r i s c h e r T . e textgrammatisch zu beschreiben, d . h . ein Maß für die Poetizität (Literarität) eines T.es mit den Mitteln einer generativen Transformationsgrammatik anzugeben ( z . B . v. Dijk 1972a; A. Bernath/K. Csuri u.a. 1975; vgl. auch J . Ihwe 1972); denn gerade die spezifischen Merkmale ästhetischer T.struktur scheinen nicht in den Bereich des Sprachsystems, sondern in den der Sprachverwendung zu fallen (vgl. u.a. K . Baumgärtner 1971, G . Oomen 1973, G . Martens 1975). Dennoch vermittelt die textlinguist. Forschung eine Fülle von Ansätzen, die auch für lit.wiss. Untersuchungen von Interesse sind, bezeichnenderweise oftmals jene Arbeiten, die keine umfassende T.definition intendieren, sondern sich einzelnen Merkmalen der T.bildung zuwenden. Dazu gehören etwa die Beiträge der Prager Schule, die sich der sog. „funktionellen Satzperspektive" zuwenden (E.

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B e n e s 1973, F. D a n e s 1970, 1974 u . a . ) . Sie suchen die thematische Progression (und damit auch V e r k n ü p f u n g ) dadurch zu erfassen, daß sie einem „ T h e m a " (dem im Text Bekannten) eine neue Information, das „ R h e m a " zuordnen. - Die bedeutungsmäßige Konstitution eines T.es steht im Zentrum der „strukturalen Semantik" von A . J . G r e i m a s (1966). Er versteht unter T. „das Ganze der Bedeutungselemente" innerhalb eines Korpus, wobei die Ganzheit durch eine dominante I s o t o p i e gestiftet w i r d . Die Isotopie, als rekurrentes Auftreten gleicher semantischer M e r k m a l e (sog. „ S e m e " ) definiert, erscheint dabei nicht an der Oberfläche des T.es, sondern erst in dessen Transformierung zur „ N o r m a l f o r m " . Auf dieser Grundlage suchen auch Kallmeyer, Klein u . a . (1974), die „semantische Tektonik von T . e n " zu beschreiben und damit dem Kohärenz-Problem eine neue W e n d u n g zu geben. - Von einem vortheoret. T.verständnis geht H . W e i n r i c h (1976) aus, wenn er T. als „eine geordnete Folge von Sprachzeichen zwischen zwei auffälligen Unterbrechungen der K o m m u n i k a t i o n " bezeichnet. Diese defizitäre Begriffsbestimmung versucht Weinrich durch eine Reihe scharfsinniger Beobachtungen zu einzelnen T.aspekten ( z . B . Syntax des Artikels, Phonologie der Sprechpause, Semantik der Metapher, dazu Tempus in: Weinrich 1964) zu präzisieren, die zwar insgesamt noch keinen hinreichenden T . b e griff, dafür aber eine Fülle von Anregungen für die analyt. Praxis ergeben. - Schließlich soll noch auf K. H e g e r s Abhandlung Mortem, Wort, Satz und Text (1976) verwiesen werden, die z w a r den T. ebenfalls der langue zuordnet und damit noch im systemlinguist. Bereich verharrt, aber mit ihrer zeichentheoret. Fundierung schon den Ubergang z u m folgenden Kapitel markiert. Heger geht von zeichentheoret. Einheiten aus, die er „ S i g n e m e " nennt. Jede Klasse von Signemen ordnet er einem „ S i g n e m r a n g " zu, der jeweils durch eine differentia specifica von einem nächstfolgenden Rang geschieden ist. So ergibt sich ein Modell von hierarchisch angeordneten Signemrängen, beginnend bei der kleinsten Zeicheneinheit des „ M o n e m s " und auf höchster Stufe dann einmündend in den Zusammenhang der Sprache oder eines Kulturkreises. T . e finden nun, je nach Komplexitätsgrad, in verschiedenen Signemrängen ihren Platz, in ständiger Kommutation mit den

untergeordneten Einheiten, aus denen sie zusammengesetzt sind, und mit den übergeordneten Zusammenhängen, in denen sie stehen. Dieser Vorstellung liegt entsprechend kein hermetischer T.begriff mehr zugrunde, sondern ein dynamischer, der gerade auch die Kommunikationssituation, die Beziehung z u m Sprecher und Leser (zumindest ansatzweise) mit fassen kann. Bedeutungsvoll w i r d ein solches T . m o d e l l für eine künftige Diskussion des Gattungs- und Textsortenproblems sein; wie sich innerhalb dieses Systems die Fragen einer ästhetischen (literarischen) Textpräsentation situieren lassen, bleibt freilich noch zu untersuchen. Einen instruktiven Uberblick über den hier behandelten Themenkreis geben: Elisabeth G ü l i c h u. Wolfgang Raible, Linguistische Textmodelle (1977; UTB. 130). Werner K a l l meyer, Wolfgang K l e i n u.a., Lektürekolleg zur Textlinguistik. 2 Bde. (1974; Fischer Athenäum TB. 2050/2051). Weiterhin referieren über den Stand der Textlinguistik: Ortwin Beisbart u. Edeltraud D o b n i g - J ü l c h , Textlinguistik u. ihre Didaktik (1976). Klaus B r i n k e r , Aufgaben u. Methoden d. Textlinguistik. Wirk Wort 21 (1971) S. 217-237. Ders., Zum T.begriff in d. heutigen Linguistik. In: H. Sitta u. Brinker (Hg.), Studien z. T.theorie u. z. dt. Grammatik. Festgabe f . H. Glinz (1973) S. 9-41. Jörg D i t t k r i s t , Probleme der T.linguistik. Linguistik u. Didaktik 27 (1976) S. 113-121. Wolfgang D r e s s l e r , Einf. in d. T.linguistik (2. Aufl. 1973; Konzepte d. Sprach- u. Lit.Wiss. 7). Ders. (Hg.), T.linguistik (1978; WegedFschg 427). Ewald Lang, Über einige Schwierigkeiten beim Postulieren e. ,T.grammatik'. In: F. Kiefer u. N. Ruwet, Generative Grammar in Europe (Dordrecht 1973) S. 284-314. Zur Beziehung zwischen T.linguistik und Lit.wiss.: Jens Ihwe (Hg.), Lit.wiss. u. Linguistik. 3 Bde (1971 f.; Ars poetica 8). Ders., Linguistik in d. Lit.wiss. (1972; Grundfragen d. Lit.wiss. 2). Gunter Martens, T.linguistik u. T.ästhetik. Sprache im techn. Zeitalter H. 53 (1975) S. 6-35. Bernd Spillner, Linguistik u. Lit.wiss. (1974). Zum Problem einer linguist. Poetik: Klaus Baumgärtner, Der methodische Stand e. linguist. Poetik. In: J. Ihwe (Hg. 1972f.) s.o., Bd. 2, 2, S. 371-402. Rolf K l o e p f e r , Poetik u. Linguistik (1975; UTB. 366). Christoph K ü p e r , Linguist, poetik (1975; Urban-TB. 243). Ursula O o m e n , Linguist. Grundlagen poet. T.e (1973; Germ. Arbeitshefte 17). Zu Einzelproblemen der T.linguistik: Eduard Benes, Thema-Rhema-Gliederung «. T.lingu-

Text istik. In: H . Sitta u. K. Brinker ( H g . 1973) s . o . , S. 4 2 - 6 2 . Arpad B e r n ä t h u. Karoly C s u r i u.a., Texttheorie u. Interpretation ( 1 9 7 5 ; TheorieKritik-Geschichte 9). Frantisek D a n e s , Zur linguist. Analyse d. T.struktur. Folia linguistica 4 (1970) S. 7 2 - 7 8 . Ders. ( H g . ) , Paperson Functional Sentence Perspective (Prag 1974). Teun A . v. D i j k , Some Aspects of Textgrammars (The Hague - Paris 1972). Ders., Beiträge z. generativen Poetik (1972; Grundfragen d. Lit.wiss. 6). AlgirdasJ. G r e i m a s , Strukturale Semantik (1971; franz. Ausg. Paris 1966). Zellig S. H a r r i s , Discourse Analysis. Language 2 8 (1952) S. 1-30 u. 4 7 4 - 4 9 4 (Rez. v. M . B i e r w i s c h in: J . Ihwe ( H g . 1971 f.) s.o. Bd. 1 , S . 141-150). Roland H a r w e g , Pronomina u. Textkonstitution (1968). Klaus Heger, Monem, Wort, Satz, Text (1976; Konzepte d. Sprach- u. Lit.wiss. 8). H o r s t I s e n b e r g , Der Begriff „Text" in d. Sprachtheorie. ASG-Bericht 8 (1970). Ders., Überlegungen z. T.theorie. In: J . Ihwe ( H g . , 1971 f.) s.o. Bd. 1, S. 150-172. Papiere zur T.linguistik. H g . v . J . I h w e , J . S. P e t ö f i , H . R i e s e r . Bd. l f f . (1972ff.). Jänos S. P e t ö f i , Transformationsgrammatiken u. e. ko-textuelle T.theorie (1971). Kenneth L . P i k e , Language in Relation to a United Theory of the Structure of Human Behavior. 3 Bde. (Glendale 1954-1960). Harald W e i n r i c h , Tempus ( 1 9 6 4 ; 2 . Aufl. 1971; Sprache u. Lit. 16). Ders., Sprache in Texten (1976).

§ 6. Der T . b e g r i f f aus k o m m u n i k a t i o n s t h e o r e t i s c h e r S i c h t . D i e Versuche, den T.begriff aus systemlinguist. Sicht zu fassen, sind in jüngster Zeit zunehmend auf Kritik gestoßen. J . P e t ö f i (1971) stellt fest, daß eine kohärente Folge von Sätzen erst „auf der Grundlage eines beliebigen, meist außerlinguist. Kriteriums als T . ausgewiesen i s t " , und U . F i g g e (1971) kommt zu dem Ergebnis, daß die Kohärenz eines T . e s nicht durch sprachliche Mittel, „sondern durch die kommunikative Konzentration auf einen einheitlichen Gegenstand" entstehe. So mehren sich die Ansätze einer textorientierten Linguistik, die mit nunmehr erweitertem Gegenstandsbereich T . e als sprachliche Kommunikation zu erklären suchen. Dabei geraten auch nichtsprachliche Faktoren des Kommunikationsprozesses ins Blickfeld, die Bedingung und Voraussetzung konkreter T.produktionen und -rezeptionen bilden. Diese kommunikationstheoret. T.forschung knüpft - den schon in den Überlegungen P. Hartmanns (s.o. § 4) vorgezeichneten Weg weiterfolgend - einerseits an das funktionale T.modell

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K . B ü h l e r s , andererseits an die Sprechakttheorie J . H . A u s t i n s (1962) und J . R . S e a r l e s (1969) an. H . G l i n z (1973) grenzt von einem „ T . im weiteren Sinne", dem „sprachlichen Gebilde schlechthin", eine „Subklasse" schriftkonservierter T . e ab, die er als „von seinem Autor von vornherein als geschriebener und den Rezipienten auch in geschriebener Form zuzuleitender T . " definiert. Diese Subklasse zeichnet sich nach Glinz vor allem durch die Form der „EinwegKommunikation" aus, wobei er allerdings den Begriff der Kommunikation bewußt verkürzt, wenn er die „Akte der rezipierenden Perform a n z " aus seiner Betrachtung ausklammert. Ähnlich verfährt auch E. U . G r o ß e (1976), wenn er zwar T . zunächst als „den sprachlich manifesten Teil der Äußerung in einem Kommunikationsakt" definiert, aber bei der weiteren Begriffspräzisierung den Produktions- und Rezeptionsvorgang eliminiert. Das Ergebnis ist ein additiver T.begriff auf der Basis einer Satzsemantik („abgeschlossene Folge von semantischen Sätzen" mit 5 weiteren speziellen „Definitionselementen"), der dem prozessualen Charakter einer textlichen K o m munikation kaum gerecht werden dürfte. Mit D . W u n d e r l i c h (1972) ist demgegenüber ein pragmatischer T.begriff zu fordern, der gerade auch die Rolle der Kommunikationspartner für die T.konstitution ( „ o b für sie etwas die Qualität eines konsistenten T.es hat oder nicht") berücksichtigt. R . L a c h m a n n (1973) stellt in diesem Zusammenhang allerdings die Frage, ob sich denn eine solche „Konzeption des T . e s , der sich erst und immer neu in der Lektüre konstituiert, als folglich nie beendeter T . [. . .] mit den linguist. Beschreibungsintentionen" noch fassen läßt. D e r Rückzug auf eine material orientierte T.definition oder die Reduktion des T . e s auf eine Ansammlung von Instruktionssignalen (so z . B . Kallmeyer, Klein u.a., 1974: „ T . ist die Gesamtmenge der in einer kommunikativen Interaktion auftretenden kommunikativen Signale") bietet für diese Schwierigkeit nur eine Scheinlösung an, da sich Aussagen über die Begrenzungen und den ganzheitlichen Charakter eines solchen T . e s allein mit semantisch-pragmatischen Kategorien treffen lassen. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bilden dynamische T.modelle, die meist in einem Grenzbereich zwischen Linguistik und Lit.wiss. angesiedelt sind und die oftmals - und

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das scheint immerhin bezeichnend für die gegenwärtige Situation z u sein - auf Ergebnisse lit.wiss. Betrachtungen zurückgreifen. So entwickelt etwa A . H ö g e r (1975) eine dialektisch argumentierende Theorie des „Schriftt e x t s " , die in komplexer Weise die Spannung zwischen Autor und Leser in einem prozessualen T.begriff zu fassen sucht und damit Beobachtungen aus der Edition von T.genesen (s.o. § 3) aufgreift. (Ähnlich auch P. Schmidt 1972.) „ T e x t - i n - F u n k t i o n " ist auch der Ausgangspunkt der Texttheorie S. J . S c h m i d t s (1973), die zu den wichtigsten Beiträgen zu einer Grundlegung des T.begriffs zählt. Schmidt geht von der Grundthese aus, daß Sprechen stets als „partnerbezogenes, inten tionales und informatives H a n d e l n " aufzufassen ist, das sich - in Anlehnung an Wittgensteins Begriff des ,Sprachspiels' - in „ K o m munikativen Handlungsspielen" vollzieht. D a m i t ist aber auch das Kommunizieren mit T . e n nicht als innersprachliches Beziehungsgefüge z u beschreiben, sondern seine begriffliche Explikation erfordert die Einbeziehung der „ k o m p l e x e n Voraussetzungssituation", die für Sprecher und L e s e r / H ö r e r das Gelingen eines textlichen K o m m u n i k a tionsaktes bedingt b z w . dessen Inhalt und Wirkung entscheidend bestimmt. T . in diesem Sinne ist „jeder geäußerte sprachliche Bestandteil eines Kommunikationsaktes in einem kommunikativen Handlungsspiel, der thematisch orientiert ist und eine erkennbare k o m munikative Funktion erfüllt". „ T e x t f o r m u l a r " heißt demgegenüber die von einem k o m m . Handlungsspiel abgetrennte „kohärente Sprachzeichenmenge"; sie ist jedoch - was in der Rezeption dieses Ansatzes oftmals übersehen wurde - nicht real existent, sondern allein ein metasprachliches linguist. K o n s t r u k t , ein „defizienter S t a t u s " , der erst im aktuellen Vollzug der K o m m u n i k a t i o n z u einem funktionierenden T . aufgefüllt wird. So konsequent und (gerade in ihren semantischen Perspektiven) überzeugend die theoret. Fundierung dieses T.begriffes auch erscheint, so können diese V o r z ü g e nicht darüber hinwegtäuschen, daß die lit.wiss. U m s e t z u n g dieses Ansatzes durch dessen hohen Abstraktionsgrad große Schwierigkeiten bereitet. So ist es nicht zufällig, daß S. J . Schmidt selbst 2 J a h r e später (in Schmidt 1975) das Wort T . in einem „ v o r theoretischen" Sinn gebraucht und demzufolge auch - im Gegensatz zur eigenen Theorie -

behaupten kann, daß ein Leser dem T . gegenübertrete und ihm eine Bedeutung zuordne. Als „ S e m i o t i k der Literatur" versteht G . W i e n o l d (1972) seinen A n s a t z , die „ B e d i n gungen und Folgen der K o m m u n i k a t i o n von T . e n über Eigenschaften von T . e n zu f o r m u lieren". Er versucht dabei die Wirkung beim Leser, die „ E n g a g e m e n t s t r u k t u r e n " des Rezipienten mit „ T . s t r u k t u r e n " in Zusammenhang zu bringen. T . in diesem Sinne bedeutet für ihn - auch nichtsprachliche Elemente einschließend - „ T r ä g e r von K o m m u n i k a t i o n " . Eine „allgemeine F o r m " von T . konstituiert sich aus „Primitiv-Elementen" und „ F o r m u l i e rungsverfahren"; durch T . e i g e n s c h a f t e n , denen ein bestimmtes Verhalten seitens der Kommunikationsteilnehmer entspricht, wird der T . spezifiziert. „Jegliche Aktivitäten von Teilnehmern bezüglich eines in diesem System gegebenen Trägers von Kommunikation" bezeichnet er als „ T . v e r a r b e i t u n g " . D a m i t trennt er Prozesse wie Rezeption, Interpretation, Ubersetzen als textverarbeitende O p e rationen v o m T.begriff ab (vgl. dazu auch J . Wirrer 1975). Unklar bleibt freilich, wie es bei dieser Trennung noch möglich sein soll, den bei einer T.verarbeitung erzielten „Resultatt e x t " mit dem „ A u s g a n g s t e x t " zu vergleichen (Wienold 1977), wenn doch jede (auch wissenschaftl.) Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext wiederum allein als „t.verarbeit e n d e " Relation zu begreifen ist - eine Schwierigkeit, die auf eine Schwäche des hinter diesem A n s a t z stehenden T . b e g r i f f s verweist. John L. A u s t i n , How to do Things with Words (Oxford 1962; dt.: Theorie d. Sprechakte. 1972). Udo L. F i g g e , Syntagmatik, Distribution u. T. In: W. D . Stempel (1971) s.o. § 4, S. 161-181. Hans G l i n z , T.analyse u. Verstehenstheorie. 2 Bde (1973-1978; Studienbücher z. Linguistik u. Lit.wiss. 5). Ernst Ulrich G r o ß e , T. u. Kommunikation (1976). Alfons H ö g e r , Der Schrifttext. E. Beitr. z. Theorie d. T.wiss. (Kopenhagen 1975; T. u. Kontext. Sonderr. 1). W. K a l l m e y e r u. W. Klein (1974), s.o. § 5. Wolfgang K u m m e r , Grundlagen d. T.theorie (1975; rowohlt Studium 51). Renate L a c h m a n n , Zum Umgang mit T.en — Linguist. Reduktionismus u. modellierende Praxis. In: J . Kolbe (Hg. 1973), s.o. § 2, S. 219-225. Ursula O o m e n , Systemtheorie d. T.e. In: W. Kallmeyer u. W. Klein (1974), s.o. § 5, Bd. 2, S. 47-70. J. P e t ö f i (1971), s.o. § 5. Peter Schmidt, Statischer T.begriff u. T.prozeß. In: D. Breuer u.a. (1972), s.o. § 2, S. 95-126. Siegfried J . Schmidt,

Text T.theorie. Probleme e. Linguistik d. sprachlichen Kommunikation (1973; U T B . 202). Ders., Lit.wiss. als argumentierende Wissenschaft (1975; Krit. Information 38). John R . S e a r l e , Speech Acts (Cambridge 1969; dt.: Sprechakte 1971). Götz W i e n o l d , Semiotik d. Lit. (1972). Ders., Das Konzept d. T.Verarbeitung u. d. Semiotik d. Lit. LiLi 27/28 (1977) S. 46-54. Jan W i r r e r , Natürliche T.Verarbeitung. Ling. u. Didaktik 27 (1976) S. 247-250. Dieter W u n d e r l i c h , Sprechakte. In: U . Maas u. D . Wunderlich, Pragmatik u. sprachliches Handeln (1972). Ders., Textlinguistik. In: H . L. Arnold u. V. Sinemus (Hg.), Grundzüge d. Lit.- u. Sprachwiss. Bd. 2 : Sprachwiss. (1974; dtv W R . 4227) S. 386-397.

Ansätze eines l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t lichen T . b e g r i f f s . § 7. Unter dem Einfluß von Kommunikationstheorie und Semiotik hat sich in den vergangenen zehn Jahren eine p r a g m a t i s c h e L i t . w i s s . entwickelt, die den linguist. T.begriff aufgreift und im Sinne einer T.wiss. weiterzubilden sucht. Diese Ansätze haben in dem kurzen Zeitraum noch nicht zu endgültigen Ergebnissen geführt, dennoch Wege gezeigt, traditionelle Fragestellungen der Lit.wiss. (Gattungs- u. Textsortenproblematik, Narrativik, Stilistik u. Rhetorik) aus veränderter Perspektive neu zu diskutieren. So sieht I. K e r k h o f f (1973) Lit. als einen Informations- und Kommunikationsprozeß, „der sich an und durch einen T . artikuliert". Wenn sie jedoch T.e als „verbale und ikonische Objektivationen, die soziale Relationen spiegeln", definiert und deren „Gesamtstruktur" „additiv" aus der „diachronen und synchronen Rezeptionsgeschichte" ableitet, so bleibt dieser T.begriff - vielleicht gerade durch den ausdrücklichen Verzicht, an die aktuelle textlinguist. und pragmatische Diskussion anzuknüpfen - zu vag, als daß er einen nennenswerten Beitrag zur Klärung der anstehenden Probleme bringen könnte. D . B r e u e r geht in seiner Einführung in die pragmatische Texttheorie (1974) von einem doppelten T.begriff aus: Aus s e m i o t i s c h e r Sicht definiert er T . e als „nach Regeln geordnete Teilmengen (Reihen) sprachlicher Zeichen von mehr oder weniger großer Komplexität, die zu kommunikativen Zwecken verwendet werden", aus k o m m u n i k a t i o n s t h e o r e t i s c h e r Sicht verbleibt für Breuer die Konsequenz, „den Begriff T . als jeweiligen Kommunikationsprozeß zu definieren und mit Hilfe des

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Kommunikationsmodells zu beschreiben". Die Lit.wiss. hat es dabei nicht mit dem T . schlechthin zu tun, sondern allein mit einzelnen, historisch zu situierenden „T.realisaten". Die praktisch-analytische Umsetzung dieses t.theoret. Konzepts gibt freilich ebenso zu krit. Fragen Anlaß wie die Einbeziehung kybernetischer Programme. Dennoch läßt sich aus der Arbeit Breuers eine Reihe von Folgerungen ableiten, an denen eine weitere Diskussion des lit.wiss. T.begriffs kaum wird vorbeigehen können: (1) Eine Gleichsetzung des T.begriffs mit dem materiellen Zeichensubstrat, mit dem Signifikanten, wie sie 1973 J . Trabant vorschlägt, erscheint wenig sinnvoll, da es zur Erkenntnis des Zeichencharakters schon immer eines Bedeutungsaspekts des Zeichens bedarf. (2) Ebenso bleibt jedoch auch die Festlegung des T.es auf eine bestimmte Bedeutung oder Nachricht ausgeschlossen, da sich die Zeichenbedeutung, die sich im Akt kommunikativer Prozesse erst konstituiert, einer eindeutigen Fixierung entzieht (vgl. auch M. Scherner 1972). Aus dieser Einsicht wäre es dann konsequent, T . als ein ganzheitliches Zeichen in einem Kommunikationsakt aufzufassen, dessen signifiant zwar festgelegt ist, dessen signifié sich jedoch durch die Variabilität der aktuellen T.konstitution auszeichnet (vgl. dazu J . Landwehr 1975). W. K o l l e r (1977) wirft in diesem Rahmen allerdings die Frage auf, ob der zweiseitige Zeichenbegriff in der Tradition Saussures noch ausreicht, um den historisch-dynamischen Aspekt eines pragmatisch begründeten T.begriffs zu fassen. Er schlägt deshalb die Einführung einer dritten Zeichendimension vor, die - im Sinne des Peirceschen Begriffes des „Interpretanten" den „Denk- und Interpretationshorizont" umschreibt, „unter dem sich das jeweilige Zeichenobjekt konstituiert". Ähnlich wie im Bereich der T.theorie tendiert auch die t.theoret. Diskussion in der Lit.wiss. zu einer Abstraktheit, die - bei aller argumentativen Schlüssigkeit - doch wenig Ansatzpunkte für konkrete T.untersuchungen erkennen läßt. Unter diesem Eindruck hat sich die Forschung in jüngster Zeit mehr der Frage zugewendet, wie sich die linguistischt.theoret. Erkenntnisse in prakt. T.analysen umsetzen lassen (vgl. dazu die Beiträge des Düsseldorfer Germanistentags 1976, z . T . dokumentiert in W. Klein 1977). Eine „t.erschließende Auswertung" pragmat.

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T.theorien im Hinblick auf Erzähltexte hat W . K a l l w e i t (1978) vorgelegt, wie ganz allgemein festgestellt werden kann, daß sich die Narrativik als ein bevorzugtes Anwendungsfeld für t.theoretische Erkenntnisse anzubieten scheint (vgl. K. Stierle 1975, W . Haubrichs 1976ff., K. Kanzog 1976 u.a.). In diesen Bereich fällt auch die Arbeit G. W a l d m a n n s (1976), der mit einer Modellanalyse von NS-Literatur „die Ideologie der Erzählform" t.theoretisch zu begründen sucht und damit den bislang wohl konsequentesten Versuch einer lit.wiss. Umsetzung der T.theorie S. J. Schmidts vorgelegt hat. Waldmann geht aus von der Erkenntnis, daß „T. als literarisches Faktum nicht isoliert" existiert, sondern allein „als Teil eines literar. Kommunikationssystems". An der Praxis des Lit.betriebes in der NS-Zeit kann er auf dieser Grundlage nachweisen, wie die Loslösung von T.en aus den konstitutiven Kommunikationszusammenhängen das T.verständnis einer schrankenlosen Ideologisierung ausliefert. In anderer Weise macht H. F. P l e t t (1975) t.wissenschaftl. Ansätze für die T.analyse fruchtbar, indem er die Möglichkeiten einer „integrativen", d . h . die syntaktische, semantische und pragmatische Zeichendimension gleicherweise einbeziehende T.wissenschaft am Beispiel rhetorischer und stilist. Figuren aufzeigt. Auf einen weiteren Anwendungsbereich kommunikationsorientierter T.forschung soll abschließend zumindest kurz hingewiesen werden: auf Arbeiten, die aus pragmatischer Sicht das Problem der literar. Gattungen bzw. der Textsorten diskutieren (vgl. dazu E. Gülich u. W . Raible 1972; K. W . Hempfer 1973 u. 1977; E. Werlich 1975; K. Zimmermann 1978 und die Beiträge zum Hamburger Germanistentag 1979). Dieter B r e u e r , Em f . in d. pragmat. T.theorie (1974; UTB. 106). Elisabeth G ü l i c h u. Wolfgang R a i b l e , T.sorten (1972; Athenäum-Skripten Ling. 5). Wolfgang H a u b r i c h s (Hg.), Erzählforschung 1-3 ( 1 9 7 6 f f . ; LiLi, Beih. 4, 6, 8). Klaus W . H e m p f e r , Gattungstheorie. Information u. Synthese (1973; UTB. 133). Ders., Zur pragmat. Fundierung d. T.typologie. In: Walter Hinck (Hg.), Textsortenlehre-Gattungsgeschichte (1977; medium literatur 4) S. 1-26. Hilmar K a l l w e i t , Transformation d. T.verständnisses (1978; medium literatur 1). Klaus K a n z o g , Erzählstrategie (1976; UTB. 495). Ingrid K e r k h o f f , Angewandte T.wissenschaft (1973). Wolfgang K l e i n (Hg.), Methoden d. T.analyse (1977; medium literatur 3). Wilhelm K o l l e r , Der sprachtheoret.

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§ 8. Einen wichtigen Beitrag zur Klärung des T.begriffs in der Lit.wiss. hat in den letzten Jahren der r e z e p t i o n s o r i e n t i e r t e T h e o r i e a n s a t z geliefert, der sich zwar weitgehend auf in Schriftform vorliegende literar. T.e bezieht, aber gerade durch diese spezielle Ausrichtung das Problem der Bedeutungskonstitution in T.en schärfer als bislang zu fassen vermag. Bereits 1970 macht W . I s e r mit allem Nachdruck darauf aufmerksam, daß „Bedeutungen literar. T.e überhaupt erst im Lesevorgang" generiert werden. „Sie sind das Produkt einer Interaktion von T. und Leser und keine im T. versteckte Größen". Mag in dieser Formulierung noch ein T.begriff herausgelesen werden, der als Zeichengestalt vor der Bedeutungsdimension liegt, so hat Iser in seiner 1976 erschienenen „Theorie ästhetischer Wirkung" diesen Sachverhalt sehr viel präziser gefaßt und die Bedeutungshaftigkeit als das Bewußtseinskorrelat im rezipierenden Subjekt eindeutig in den T.begriff einbezogen. Das dem Kommunikationsprozeß zugrunde liegende Sprachmaterial hält in seinem „Repertoire" und in seinen „Strategien den T. lediglich parat", ist „bloße Virtualität, die nur im Subjekt ihre Aktualität finden kann". Dennoch ist diese vom Rezipienten im Akt des Lesens vollzogene T.konstitution nicht der Willkür des lesenden Subjekts anheimgegeben; sie bewegt sich vielmehr, von den „Leerstellen" und „Negationspotentialen" im T.material in Gang gesetzt, in einem von Iser (1976) differenziert beschriebenen Spiel zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit des Textes. Ausgehend von dieser Auffassung kommt auch W . G a s t (1975) für den Bereich der Massen-

Text k o m m u n i k a t i o n zu dem Ergebnis, daß es im kommunikativen K o n t e x t keinen „ T . an s i c h " gebe, „sondern immer nur verschiedene textrealisate durch bestimmte r e z i p i e n t e n " . D e m g e g e n ü b e r sucht H . L i n k (1976) T . als ein feststehendes „ideelles G e b i l d e " zu fassen, das einerseits v o m materiellen Gebilde, dem „ T . r e a l i s a t " , andererseits von den „verschied e n e n " Rezeptionsereignissen abhängt, in denen jeweils eine Konkretisierung des gleichen T . e s [. . .] durch einen Rezipienten stattfindet". Freilich bleibt bei H . L i n k offen, wie überhaupt T . als intentionales Gebilde zu fassen ist, und es ist zu fragen, inwieweit nicht ein solcher T . b e g r i f f gegenüber den in Pragmatik und Semiotik aufgezeigten M ö g lichkeiten einen R ü c k s c h r i t t bedeutet. Einen anderen W e g schlagen M . N a u m a n n , D . S c h l e n s t e d t u . a . (1973) ein. Sie stimmen zunächst mit der Auffassung, die sich allgemein durchgesetzt hat, überein, daß T . nicht mit einem materiellen Substrat gleichzusetzen sei: T . ist „kein D i n g zum A n f a s s e n " . E r ist für sie aber auch kein intentionales Gebilde, sondern er umfaßt als dialektische Einheit zugleich „Zeichengestalt" und die diesem entsprechende „semantische S t r u k t u r " . Wichtig ist für sie die Einbindung des T.begriffs in den P r o z e ß der K o m m u n i k a t i o n : erst aus der speziellen Kommunikationssituation werden „wichtige F o r m m e r k m a l e des T . e s - seine Ausgeführtheit, die Vollständigkeit seiner Sätze —" erklärbar. U b e r die bislang referierten Positionen geht ihr Ansatz insofern hinaus, als er den subjektiven P r o z e ß der Bedeutungskonstitution als gesellschaftlich vermittelt aufzeigt: „ T . e werden erkennbar als besondere H e r v o r bringungen, als Gegenstände, die prinzipiell nicht o h n e Subjekt existieren, die aber Objektivität durch ihre Einbettung in gesellschaftliche Systeme und in bezug auf gesellschaftliche Fähigkeiten e r h a l t e n . " Wolfgang G a s t , T. u. leser im feld der massenkommunikation. WirkWort 25 (1975) S. 108-128. Gunter G r i m m , Rezeptionsgeschichte (1977; U T B . 691). Wolfgang I s e r , Die Appellstruktur d. T.e (1970). Ders., Der Akt d. Lesens. Theorie ästhet. Wirkung (1976; U T B . 636). Hannelore L i n k , Rezeptionsforschung (1976; Urban-TB. 215). Manfred N a u m a n n , Dieter S c h l e n s t e d t u.a., Gesellschaft, Lit., Lesen. Lit.rezeption in theoret. Sicht (1973). Karl A. P r e u s c h e n , Zur didakt. Relevanz d. kommunikationstheoret. T.begriffs von Wolfgang Iser. Disk.Deutsch 46 (1979) S. 194-203.

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§ 9. Strukturalistische Positionen des T.begriffs sind schon in den vorangegangenen Abschnitten mehrfach berührt w o r den (s.a. Struktur, Strukturalismus), so daß sich die Ausführungen auf wenige Ansätze beschränken k ö n n e n , die Ergänzungen oder Alternativen zu bisher dargestellten Auffassungen bringen. F ü r M . T i t z m a n n (1977) ist T . im weiteren Sinn „jede zeichenhafte und bedeutungstragende Ä u ß e r u n g , sei sie sprachlich oder nichtsprachlich", T . im engeren Sinn „jede Ä u ß e r u n g , die sich einer natürlichen oder künstlichen Sprache bed i e n t . " I m Gegensatz zu diesem k o m m u nikationsorientierten T . b e g r i f f steht das V e r fahren der „strukturalistischen T . a n a l y s e " , das einen sehr eingeschränkten Begriff der K o m munikation erkennen läßt. D e r Bereich einer lit.wiss. Pragmatik ( „ w o man nicht m e h r kulturelle Bedeutungen, sondern gruppenspeziDeutungsmöglichkeiten analysiert") fische gehört nach T i t z m a n n ebensowenig zur T . a n a lyse wie die „ A n a l y s e der kulturellen Situierung des T . e s " . Solchen Untersuchungsrichtungen müsse notwendig die Analyse des T . e s vorangehen. - Andere W e g e geht der sowjet. Literaturwissenschaftler J . L o t m a n , der aus strukturalist. Sicht den fundiertesten Beitrag zu einem lit.wiss. T . b e g r i f f vorgelegt hat. L o t man (1964 u. 1970) betrachtet T e x t als eigenes, in sich abgeschlossenes Z e i c h e n , das auf der Grundlage einer hierarchisch geordneten Menge von Einzelzeichen und Zeichensubsystemen fungiert. D a s T . - Z e i c h e n ist in dieser Hinsicht „ein invariantes System von Relat i o n e n " ; der Strukturkette des T .signifiant entspricht eine äquivalente Struktur auf der E b e n e des signifié. D a s bedeutet für den speziellen Fall des literar. T . e s , den L o t m a n als ein „sekundäres modellbildendes Sys t e m " auffaßt, daß alle seine Z e i c h e n - E l e mente - sowohl die primärsprachlichen wie auch die nicht-sprachlichen ( z . B . Rhythmus, Vokalklänge usf.) - entsprechend der Gesamtbedeutung des T . e s semantisiert b z w . umkodiert werden. Diese Vorstellung von T . , die n o c h stark an einem linguistisch-kybernet. Beschreibungsmodell orientiert ist (vgl. dazu R . L a c h m a n n 1977), wird ergänzt von einer Perspektive, die über die binaristisch-statische Zeichenrelation hinausweist und eine dynamische Bedeutungskonzeption als für literar. T . e signifikant herausstellt. Aus der E r k e n n t nis, daß ein T . überhaupt nicht an sich existie-

416

Text

re, sondern „unvermeidlich in einem historisch-realen oder fiktiven Kontext eingeschlossen" sei, knüpft Lotman an den Satz B. V. Tomasevskijs an, daß der T. „eine veränderliche, fließende Erscheinung ist". Der T. wird nunmehr auf die Einbettung in die außertextliche Realität (gesellschaftliches Umfeld, literar. Traditionen und Normen usw.) bezogen (und damit zugleich erweitert): „Die Wahrnehmung des T.es ist, losgelöst von dem außertextlichen Hintergrund gar nicht möglich" (Lotman 1970). In den jüngsten Arbeiten (z. B. in: Kristeva u. a. 1977) bezeichnet Lotman diesen kontextuellen Zusammenhang selbst als „kulturellen T.", zu dem die einzelnen literar. T. Formen seiner Realisation darstellen. Diese Konzeption, die den T. in den kulturellen Kommunikationshorizont einführt, führt nach R. L a c h m a n n (1977) in die Nähe des T.-Begriffes der Tel-Quel-Gruppe. J. K r i s t e v a (1968) faßt T. (= literar. Text), Gedanken von Potebnja und Bachtin aufnehmend, als eine dynamische Kraft, als productivité auf. Ein solcher T. bezieht seinen Sinn aus der polaren Spannung zur Sprache in Nicht-Literatur, zu anderen T.en, d. h. aus seiner „ I n t e r t e x t u a l i t ä t " . Dieser Sinn ist jedoch nicht im System einer traditionellen Semantik zu greifen, bezieht gerade seine Funktion aus seinem Status als Nicht-Sinn. Als signifiant ohne signifié hat T. die Möglichkeit, die Kontexte, in denen er steht, in Frage zu stellen, sie als „ideologisch" auszuweisen (vgl. Kristeva u.a. 1977); er wird selbst zu einer treibenden Kraft, zu einem signifiant pratique. Damit hat diese T.auffassung jeden linguist. Erklärungsrahmen verlassen, wird zu einem Konzept einer „Metalinguistik", die sich freilich sprachlich kaum noch fassen läßt und in metaphysisch erscheinenden Formulierungen einer Kritik willkommene Angriffsflächen bietet. Klaus W . H e m p f e r , Poststrukturale T.theorie u. narrative Praxis (1976; Romanica Monacensia 11). Julia K r i s t e v a , Problèmes de la structuration du texte. In: Tel Quel. Théorie d'ensemble (Paris 1968). Julia K r i s t e v a , Umberto Eco u.a., T.semiotik als Ideologiekritik. Hg. v. Pierre V. Zima (1977; edsuhrk. 796). Renate L a c h m a n n , Zwei Konzepte d. T.bedeutung bei J. Lotman. Russian Literature 5 (1977) S. 1-36. Jurij L o t m a n , Vorlesungen zu e. strukturalist. Poetik (1972; Theorie und Gesch. der Lit. u.d. schönen Künste 14; russ. Erstausg. 1964). Ders., Die Struktur literar. Texte (1972; UTB. 103; auch

1973; EdSuhrk. 582; russ. Erstausg. 1970). Wolf Schmid, Die Semantisierung d. Form. Zum Inhaltskonzept Jurij Lotmans. Russian Literature 5 (1977) S. 61-80. Ann S h u k m a n , Literature and Semiotics. A Study of the Writings of Yu. M. Lotman (Amsterdam 1977; Meaning and Art 1). Michael T i t z m a n n , Strukturale Textanalyse (1977; UTB. 582).

§ 10. T. und T . ä s t h e t i k . Die Gefahr, daß „T.e mißverstanden werden können als manifeste Tatsachen, als zum Ding an und für sich verfestigte Wirklichkeit sprachlicher Zeichen" (R. G r i m m i n g e r 1972), ist in der texttheoret. Konzeption der Tel-Quel-Gruppe weitgehend gebannt. Dennoch bleibt zu fragen, ob ein Ansatz, der allein vom literar. Medium ausgeht, zur Grundlage eines allgemeinen T.begriffs werden kann. Gerade das Verhältnis der „Dialogizität" oder „Intertextualität", das von Autoren wie Bachtin, Kristeva, Starobinski u.a in den Mittelpunkt gestellt wurde, erfordert geradezu einen T.begriff, der ebenso T. als „productivité" wie auch kommunikativprogrammatische T.e („discours" im Sinne von Tel-Quel) umfaßt. Zu fordern wäre also ein Allgemeinbegriff T., von dem durch Spezifizierung der Begriff literar. (oder ästhetischer) T. abgeleitet werden kann. Anknüpfungspunkt für eine solche Konzeption bietet - wie für viele andere Problemstellungen der Lit.wiss. - der R u s s i s c h e F o r m a l i s m u s , der aus der Gesamtmenge sprachlichen Vorkommens (d. h. hier: von T.en) die Teilmenge Lit. durch Bestimmung spezifischer Merkmale auszugrenzen suchte. Der Weg für die Herausarbeitung einer solchen „Literarität" (Poetizität) ging aus von einer Gegenüberstellung von „praktischer" (prosaischer) Sprache und poetischer Sprache und führte zu einer Beschreibung von „ V e r f a h r e n " und kontextlichen Einbettungen, die Lit. in ihrer Eigenart charakterisierten. Wenn auch diesen Überlegungen keine ausformulierte T.theorie zugrunde liegt und das Wort T. zumeist nur in umgangssprachlichem Sinn begegnet, so tendieren doch schon einzelne Formulierungen zu einem terminologischen Wortgebrauch. In einer Studie über Vers und Rhythmus (1928; in Stempel 1972) setzt B. T o m a s e v s k i j den Begriff T. scharf vom Begriff Vers ab: T. ist für ihn die nicht ästhetisch wahrgenommene Gedichtzeile; in dem Augenblick, wo diese prosodisch gelesen wird, wird der T. zum Vers. Dieser Befund läßt sich zu einer

417

Text — Theatergeschichte, Deutsche allgemeinen T.définition ausweiten: T . wäre nämlich nach dieser Auffassung d a s in K o m munikation vorkommende Zeichen, das noch nicht funktional interpretiert i s t . Das materielle Substrat, das Grundlage jeder Kommunikation bildet (Laute, Lettern usw.), ist zwar als Zeichen (d. h. als Einheit von signifiant und signifié) wahrgenommen, aber noch nicht in seiner spezifischen kommunikativen F u n k t i o n gedeutet. Funktion wird hier im Sinne des Prager Strukturalismus gebraucht (die Weise, wie sich ein Subjekt seiner Umwelt gegenüber geltend macht; J . M u k a r o v s k y 1970) und löst damit den älteren Begriff des „Verfahrens" ab; im Zusammenhang mit der T.définition meint „ F u n k t i o n " dann speziell die Art, wie sich aus dem Zusammenspiel von signifiant-Struktur und kommunikativer Einstellung des Zeichenbenutzers die T.bedeutung (aufgefaßt als Komplexion von semantischem Sinn und pragmatischer Wirkung) konstituiert. Einer T e x t ä s t h e t i k käme nach dieser Bestimmung des T.begriffs die Aufgabe zu, die Bedingungen einer ästhetischen Kommunikation mit T.en zu beschreiben. Ansätze einer solchen T.ästhetik begegneten in den vorhergehenden Abschnitten schon mehrfach (Wienold, Iser, Naumann/Schlenstedt, Lotman; zum Begriff vgl. G . Martens 1973, 1975 u. H . F . Plett 1975), wichtige Vorarbeiten sind insbesondere aus dem Kreis der P r a g e r S t r u k t u r a l i s t e n hervorgegangen (J. Mukarovsky 1967, 1970, 1974; M . Cervenka 1978). N a c h dieser Auffassung ist das Ästhetische nicht mit dem Klassisch-Schönen gleichzusetzen, sondern umschreibt eine spezifische Art des Umgangs mit Texten (und Gegenständen). D i e „ ä s t h e t i s c h e Funktion", Kernbegriff der strukturalist. Ästhetik J . Mukarovskys, bezeichnet die subjektorientierte Bedeutungskonstitution von T.en; sie stellt die dialektische Negierung der „praktischen" Mitteilungssprache dar, deren Sinn im ästhetisch fungierenden Zeichen „ a u f g e h o b e n " ist und vom Rezipienten auf der Grundlage seiner Erfahrung zur ästhetischen Bedeutung verarbeitet wird. Das so entstehende „ ä s t h e tische Objekt", Bewußtseinskorrelat (signifié) des „ A r t e f a k t s " (signifiant) eines ästhetischen Zeichens, ist als Variable aufzufassen, abhängig von der geschichtlichen und gesellschaftlichen Stellung des Zeichenbenutzers; das bedeutet, die in vorhergehenden

Ansätzen immer wieder hervorgehobene T.dynamik wird auch in dieser Konzeption einer T.ästhetik zu einem signifikanten Merkmal ästhetischer Kommunikation. Im einzelnen gehört freilich die Ausarbeitung einer T.ästhetik, in die auch der Begriff der Lit. (als Zeichen mit dominierend ästh. Funktion) ohne Schwierigkeiten einzuordnen ist, zu den wichtigen Aufgaben einer pragmatisch orientierten Lit.wiss. Miroslav C e r v e n k a , Der Bedeutungsaufbau d. liter. Werkes (1978; Theorie u. Gesch. d. Lit. u. d. schönen Künste 38). Rolf G r i m m i n g e r , Abriß e. Theorie literar. Kommunikation. Ling. u. Didaktik 12 (1972) S. 277-293 u. 13 (1973) S. 1-15. Gunter M a r t e n s , T.Strukturen aus rezeptionsästhetischer Sicht. Perspektiven e. T.ästhetik auf d. Grundlage d. Prager Strukturalismus. WirkWort 23 (1973) S. 359-379. Ders. (1975) s.o. § 5. Ders., Textästhetik. Theorie u. Analysepraxis (1980). Jan M u k a r o v s k y , Kapitel aus d. Poetik (1967; EdSuhrk. 230). Ders., Kapitel aus d. Ästhetik (1970; EdSuhrk. 428). Ders., Studien zur strukturalist. Ästhetik u. Poetik (1974). H . F. P l e t t (1975) s.o. § 7. Wolf S c h m i d , Der ästhetische Inhalt (1977). Siegfried J . S c h m i d t , Elemente e. Textpoetik (1974; Grundfragen d. Lit.wiss. 10). Wolf-Dieter S t e m p e l (Hg.), Texte d. russ. Formalisten II (1972; Theorie u. Gesch. d. Lit. u.d. schönen Künste 6.2). Jurij S t r i e d t e r , Texte d. russ. Formalisten I (1969; ebda 6,1; auch UTB.40). Gunter

Martens

Theatergeschichte, D e u t s c h e I. G e g e n s t a n d , W i s s e n s c h a f t s e n t w i c k lung, Forschungslage. § 1. A b g r e n z u n g u n d U m f a n g . Aufgabe der Theatergeschichte (Thg.) ist die Sicherung, Vermehrung, Auswertung der Dokumente von, für und durch Theater (Th.) im Sinne eines künstlich-künstlerisch ausgelösten, auf die Teilnahme anderer abzielenden einmaligen oder wiederholten Ereignisses. Die für die Vorbereitung und Durchführung .solcher Ereignisse eingesetzten geistigen sowie materiellen Mittel werden nach Maßgabe ihrer theatralen Bedeutung behandelt. Soweit Th. öffentliche Institutionen bedingt, berufsmäßig organisiert wird, sich Unternehmensformen schafft, kulturellen Einfluß oder soziale Wirkung ausübt, ist Thg. mit sonstiger Geschichte verzahnt. Komponenten der Th.ereignisse wie

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Theatergeschichte, Deutsche

Texte, Musik, Ausstattung, Technik, Bauten u.a. stehen ihrerseits in Zusammenhängen, deren Untersuchung sich entsprechende Fachrichtungen vorbehalten. Die Verflechtung des dt. Th.wesens mit fremdsprachigem verlangt dessen Berücksichtigung. Da Gegenstand der Thg. Ereignisse sind, auf die nur aus verfügbaren Denkmälern und Dokumenten geschlossen werden kann, nimmt sie eine Sonderstellung unter den Disziplinen ein, die es als Literatur-, Musik- oder Kunstg. vorzugsweise mit noch vorhandenen Werken zu tun haben und das Th. meist zu einer Darbietungsweise ihres eigenen Gegenstands erklären. Das im allgemeinen Aufführung (Auff.) oder Vorstellung genannte Th.ereignis ist nicht Kunstprodukt, sondern Kunstproduktion, Schöpfungsakt, im Augenblick des Werdens dem Vergehen überantwortet, momentan rezipierbar, jedoch nicht identisch reproduzierbar, daher für die Nachwelt nur gedanklich nachzuvollziehen oder an seiner Wirkung zu ermessen. Außer Ereignisg. und Rezeptionsg. ist Thg. in geringem Umfang Absichts- oder Projektg., in der sich das Unbehagen am jeweils bestehenden Th. und Reformstreben bekunden. Was Th. sei, klärt die umgangssprachliche Wortbedeutung, die eine im Französischen und Spanischen übliche Gleichsetzung von Th. mit Bühnenwerken eines Autors fast ausschließt, nur bedingt, denn die lat. und dt. Form konnte z. B. Spielpodest, Bühne, gärtnerische Anlagen bezeichnen und in übertragenem Sinn verwendet werden. Urtümliche, rituelle, sich mechanischer Hilfen bedienende Th.gattungen hatten an der bisherigen dt. Thg. kaum Anteil. Zweckhaftigkeit war dem dt. Th. weder in seinen ersten noch in seinen neuzeitlichen Anfängen fremd, doch galt es seit dem 18. Jh. nach herrschender Ansicht als autonome Kunstart. Diese Neutralität steht seit längerem nicht mehr außer Frage. Trotz unterschiedlicher Veranlassung bewahrten glaubensgebundenes, pädagogisches, gesellschaftsinternes, aufklärerisches, literar. dt. Th. die Grundstruktur eines szenischen Spiels von Menschen mit Menschen für Menschen, der sich die an Klassik und Moderne beobachteten Varianten Symbolisierungs-, Präsentations- sowie Agitationsstruktur zuordnen lassen. Bei Prozeßth., Dokumentarth., Bewußtseinsth. u. a. bewirkt die Funktion gewisse Strukturveränderungen. Begriffe, mit denen heutiges

Th. sich selbst vorstellt oder vorgestellt wird, betreffen sowohl Strukturen, Organisationsformen, Sparten, Arbeitsmethoden als auch Gesinnungen, Absichten, Zielgruppen. Da die Sprache, aber auch nichtsprachliche Mittel, das Laienspiel (s.d.), die Spontaneität, die Improvisation, aber auch Berufskunst, Selbstzucht, Stilzwang, die Versinnlichung und die Illusion, aber auch Lehrhaftigkeit und Desillusionierung von jeher Theorie nebst Praxis in ungleichem Maße bei häufigem Wechsel bestimmt haben, unterliegen Abgrenzung und Umfang der dt. Thg. dem Gesetz des histor. Befundes. Lexika: Wilhelm K o s c h , Dt. Theater-Lexikon. Biograph, u. bibliograph. Handbuch. Fortgef. v. Hanspeter B e n n w i t z Bd. lff. (Klagenfurt, sp. Bern u. München 1953ff.). Ludwig E i s e n b e r g , Großes biographisches Lexikon d. dt. Bühne im 19. Jh. (1903). Kürschners biographisches Theater-Handbuch hg. v. Herbert A . F r e n z e l u. Hans Joachim M o s e r (1956). Christoph T r i l s e , Klaus H a m m e r u. Rolf K a b e l , Theaterlexikon (1977). Rudolf K l o i b e r , Handbuch d. Oper. Bd. 1. 2. (9. Aufl. 1978). Horst S e e g e r , Opernlexikon (1978). Publikationsreihen: Theatergeschichtliche Forschungen. Bd. 1-46 ( 1 8 9 1 - 1 9 4 2 ) . Schriften d. Ges. f. Theatergeschichte. Bd. l f f . ( 1 9 0 2 f f . ) . Kleine Schriften d. Ges. f. Theatergeschichte. H . lff. (1906ff.). Die Schaubühne. Quellen u. Forschungen z. Theatergeschichte. Bd. l f f . ( 1 9 2 9 f f . ) . Theater u. Drama. Bd. l f f . (1931 ff.). Schriften zur Theaterwissenschaft. Bd. l f f . ( 1 9 5 9 f f . ) . Bibliographien: Alexander u. Bärbel R u d i n , Theater. Tanz, in: Dahlmann/Waitz, Quellenkunde d. dt. Gesch. 10. Aufl. Bd. 2, Abschn. 53 (1971). O t t o G . S c h i n d l e r , Theaterliteratur (6. Ausg. Wien 1978). Uber das wichtigste Schrifttum zu den Perioden der dt. Thg. informieren die Anhänge in: Heinz K i n d e r m a n n , Theatergeschichte Europas Bd. 1-10 (Salzburg 1957ff.). Gisela S c h w a n b e c k , Bibliographie d. dtschspr. Hochschulschriften z. Theaterwiss. von 1885 bis 1952 (1956; SchrGesThg. 58). Hans Jürgen R o j e k , Bibliographie . . . von 1953 bis 1960 (1962; SchrGesThg. 61). Karin H o e r s t e l u. Ingrid S c h l e n k e r , Verzeichnis d. Hochschulschriften, Diplom- u. Staatsexamensarbeiten d. DDR z. Drama u. Theater. 1949-1970 (1973). Franz H a d a m o w s k y , Bibliographie des . . . angezeigten theaterwiss. Schrifttums, in: Maske und Kothurn (Wien 1965ff.). Theatergeschichte in: Germanistik. Internat. Referatenorgan mit bibliogr. Hinweisen ( 1 9 6 0 f f . ) . Y o r k Alexander H a a s e , Bibliographie d. dt. Theaterliteratur, in: Sonderhefte von Theater heute (1966 ff.). Theaterwissenschaftlicher Informationsdienst, hg. v. d.

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Theatergeschichte, Deutsche Sektion f. Theaterwiss. Information an d. Theaterhochschule „Hans O t t o " (Leipzig 1968 ff.).

§ 2. W i s s e n s c h a f t s e n t w i c k l u n g . Befragung der Vergangenheit nach dem, was ein von der Gegenwart zu lösendes Problem schien, war schon bei Johann Christoph G o t t sched ein grundsätzlich richtiger Umgang mit Thg. Sein Problem hieß Inventarisierung von Bühnenwerken, um das Th. zur Veränderung der Gesellschaft durch Aufklärung zu befähigen, bibliographische Auskunftei, Auflistung dessen, was „nötiger Vorrat" zur Geschichte der dramat. Dichtung ist. Mit dem Verzeichnis aller seit 1450 gedruckten Trauer-, Lust- und Singspiele sicherte er das Material. Mit der Auswertung dessen, was er vor Augen hatte, belegte Gottsched jedoch auch schon, daß Objektivität und Zweckdenken, Wissenschaft und Voreingenommenheit sich gegenseitig behindern, denn sein Blick war nur auf einen Ausschnitt aus dem dt. sprachigen Berufsth. gerichtet und bezüglich des mal., volkstümlichen und höfischen Th.s durch klassizistische Dogmen getrübt. Die Ausklammerung einerseits des Mimus, der Burleske, der komischen Person, andererseits der Oper, beides zugunsten eines regulierten Schauspiels für bürgerliche Zuschauer, hat die weitere Wissenschaftsentwicklung beeinträchtigt. Mit Konrad Ekhof (1720-1778) reihte sich der erste dt. Schauspieler in die noch spärliche Zunft der Fachhistoriker ein. Für ihn stellte sich das Problem berufsbezogener Ausbildung, Fortbildung, Standortbestimmung, Hebung des Th.s und der Bühnenangehörigen, die sich — wie Ekhof durch Rückschau zu sehen meinte — seit einigen Generationen vollzog. Von ihm gesammeltes Material, das er brieflich weiterreichte, benutzte Johann Friedrich L ö w e n ohne Quellenangabe für seine Geschichte des deutschen Theaters-(176(>), der hier wiederum Historisches in den aktuellen und privaten Dienst stellte. Dem Literaten Löwen und seiner kleinen Schrift sowie den allenthalben verbreiteten Streitschriften der Parteigänger konkurrierender Schauspieler war dann der rührige Professor Christian Heinrich S c h m i d (17461800) an Fähigkeit zur Beschaffung, Sichtung, Ordnung von Archiv- und Nachrichtenmaterial überlegen, so daß seine Chronologie (1775) wegen der Personal- sowie Sachdaten aus dem gesamten dt. Bereich unentbehrlich geworden ist.

Seit 1775 flössen der Geschichtsschreibung mit dem Aufkommen der Kalender, Journale, Annalen, Almanache nicht nur Unterlagen für die laufenden, sondern auch zurückliegenden Th.ereignisse zu. Denn die Periodica, die Heinrich August Ottokar R e i c h a r d (1751-1828) in Gotha, Christian August B e r t r a m ( l 751-1830) in Berlin, H. G. S c h m i e d e r u. a. meist jahrelang herausgaben, veröffentlichten auch ihnen von Unternehmen zugestellte Personalverzeichnisse und Statuten, notierten Todesfälle, brachten Biographien von Autoren und Bühnengrößen, erweiterten das Aktuelle durch Beiträge zur dt. Thg., die sie mit ihren Reihen von gleichartigen Materialien, Statistiken, Informationen gleichsam ständig fortschrieben. Versuche mit zwei später beliebten historiograph. Formen, der lokalen Thg. und dem allgemeinen Schauspielerlexikon, wagten im ausgehenden 18. Jh. K. M. P l ü m i c k e (Entwurf einer Thg. von Berlin 1781) sowie J. F. S c h ü t z e ( H a m b u r g i s c h e Thg. 1794) und ein „Abraham Peiba" mit seiner Gallerie von

teutschen Schauspielern

und

Schauspielerinnen

. . . (Wien 1783). Werke solcher Art zehrten bereits von publiziertem Material, zeugten jedoch zugleich von eigener Suche nach Quellen. Texte, Rollenhefte, Szenare, Porträts, Bilder, Th.zettel zu sammeln, wurde ebenfalls schon im 18. Jh. die Sache an Thg. interessierter Personen, denen freilich meist das Sammeln zum Selbstzweck geriet. Immerhin förderten mindestens mittelbar Josef Maria : V a r e s i , Georg Andreas W i l l , Ernst Anton H e i l i g e r die Forschung durch ihren frühen privaten Einsatz, an den öffentliche Anstalten anknüpfen konnten. Die Bindung der Historiographie an ein persönliches Verhältnis zum zeitgenöss. Th. und zu Gegenwartsproblemen verleiht vielen der ältesten Beiträge zur dt. Thg. größere Bedeutung als die von überholten Dokumenten der Wissenschaftsentwicklung. Autoren des 18. Jh.s schrieben, wenn nicht überhaupt aus der Erinnerung, so doch noch aus so geringem Abstand, daß ihre Vorstellungskraft ihnen Grenzen sowie Möglichkeiten vergangener Th.Produktionen veranschaulichte und jene Kombination des rohen Materials zu runden Gebilden erleichterte, die den Nachfahren leicht überfordern mochte. Der bis zu Gottsched und über ihn hinaus reichende Abriß, den G o e t h e 1813 für Dichtung und Wahrheit

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Theatergeschichte, Deutsche

planend entwarf, dürfte das letzte Beispiel dieser Art gewesen sein, soweit es die neuere dt. Thg. betrifft. Seit histor. Th.ereignisse nicht mehr mittels Erinnerung gedacht, empirisch gewogen oder imaginatorisch verlebendigt werden konnten, erforderten Darstellungen von Thg. zunehmend Kenntnis und krit. Interpretation der Quellen. Paarten sich wissenschaftl. Grundausbildung und Vertrautheit mit der Sonderart einer Stadt oder Landschaft, so gelangen am ehesten weitere lokal begrenzte Werke zur dt. Thg. wie das von Heinrich B l ü m n e r für Leipzig (1818) und das von E . A. H a g e n für Königsberg, Danzig, Preußen (1854), beide persönlich eingefärbt, jedoch sachbezogen, materialreich, gediegen. Während Robert F. P r u t z in seinen 1847 gedruckten Vorlesungen aus seiner polit. Sicht das T h . im Zusammenhang mit der Geschichte des dt. Volks betrachtete, um Verirrungen des einen aus Verirrungen des anderen zu erklären, bescheideten sich im mittleren 19. J h . viele mit dem aufgespürten Rohstoff, ohne dessen Aufbereitung zu wagen. Nun veralten derartige Editionen alter Spieltexte, chronikalisch oder annalistisch vorgelegte Dokumente sowie Statistiken schwerlich, da sie nie jung waren. Ungewöhnlich ist die Alterslosigkeit der Geschichte der dt. Schauspielkunst, die Eduard D e v r i e n t seit 1848 erscheinen ließ. Autor und Ausgangslage ähneln Ekhof sowie dessen objektiver oder vermeinter Situation. Devrient war Schauspieler, kein rauschhaft selbstvergessener wie sein Vorfahre Ludwig Devrient, kein genialer Allesspieler, eher ein nachdenkender Fachdarsteller, ein bildungsbeflissener Standesvertreter mit reformerischem Drang, den die alte Idee der Schauspielerakademie 1840 Über Theaterschulen zu schreiben trieb und dem die bisherige Entwicklung der Schauspielkunst als Beruf bei bohrendem Eindringen in die Dokumente einen progressiven Verlauf genommen zu haben schien, dessen Bahnen es aufzuzeigen und künftig zu folgen galt. Der leitende Gedanke verlieh Devrients mehrteiligem Werk eine mitreißende Frische, drängte die Details nach innen zusammen und kappte, was der Konzeption hätte schaden müssen, aber er gestattete abgerundete Einlagen, etwa überzeugend ausgeführte Persönlichkeits- oder Situationsbilder. Da Devrient vorwiegend den Primärquellen folgte, waren Errata aus zweiter Hand bei der Nachprüfung

der von Devrient beachteten Grundsätze unschwer zu erklären sowie in krit. Neuausgaben zu korrigieren. Der Autodidakt Devrient ist hinsichtlich Sache und Methode eine Autorität geblieben. Er wußte Texte der Frühzeit nicht als Lit.produkte, sondern als Urkunden für Th.ereignisse zu lesen, er spürte die Produktionsbedingungen auf, um sich den Produktionsvorgängen zu nähern, beurteilte Schauspieler nach Wesen und Schöpfungsakt, bewertete Organisationsformen aus Erfahrung, war von dem Sinn des Historischen bei der Bewältigung von Kunstproblemen überzeugt. Die Kunstkenntnis, die in Devrients Werk eingeflossen war, blieb ein Desiderat. Soweit das T h . nicht überhaupt philosophisch-spekulativ behandelt wurde, neigten die Autoren zur Auflösung der Thg. in universelle Kulturg. oder zu ausgedehnter Bereitstellung der Personen- und Sachg., die eine Ereignisg. umlagern. Dabei erschöpften sich Lebensbeschreibungen im Protokoll des äußeren Verlaufs, ohne die Entfaltung eines unverwechselbaren Künstlertums und dessen Leistungen zu würdigen. Doch der Fahndungseifer von Historikern, Bühnenangehörigen, Sammlern förderte innerhalb weniger Jahrzehnte eine Fülle von nützlichen Urkunden, Akten, raren Drucken ans Licht, deren Originale ein J h . später als verloren oder kaum noch verfügbar gelten mußten. Was M . F ü r s t e n a u 1861 über Dresden, F. J . F r h r . v. R e d e n - E s b e c k 1881 über Caroline Neuber und ihre Zeitgenossen, O . T e u b e r 1883 über Prag veröffentlichte, ist unentbehrlich, Arbeiten über Berlin, Frankfurt a . M . , Weimar, Wien werden es bei Wiederverwendung des alten unter Neubewertung des gesamten Stoffs. Für die Verbreitung der aus Bibliotheken oder Museen zu beziehenden th.geschichtl. Dokumente wurden die von Karl G l o s s y auch in Katalogen festgehaltenen Ausstellungen 1892 in Wien ebenso anregend wie für die Publikation von Quellen im ursprünglichen Zusammenhang die 1899 erschienenen beiden Bände Archiv und Bibliothek des Groß-

herzogl. Hof- und Nationaltheaters

in Mann-

heim 1779-1839 von F. W a l t e r . Zwar waren die Ausstellungen 1910 in Berlin und 1927 in Magdeburg wiederum Ansätze zur Veranschaulichung des dem Wesen nach Unwiederbringlichen, doch hing die Lösung des Problems der Sammlung sowie Nutzung von Materialresten einer Kunstproduktion weithin von einem begründeten Urteil über werthaltiges

Theatergeschichte, Deutsche und wertloses Sammelgut ab. Die Urteilsfähigkeit aber wuchs erst mit den Erfahrungen aus dem Umgang mit Überbleibseln vergangener Th.ereignisse, wenn es galt, diese in jenen erkennen zu sollen. Noch vor der Jh.wende gewann die von Berthold Litzmann seit 1891 hg. Reihe Theatergeschichtliche Forschungen durch namhafte Wissenschaftler erste akademische Anerkennung in größerem Umkreis, als die Vorlesungen an einigen Universitäten es vermochten. Das Eröffnungsheft mit dem Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes Leitung, andere mit Untersuchungen zu den Singspielen der ältesten Wanderkomödianten, zum Gothaischen Hoftheater, zur Prinzipalschaft des J. F. Schönemann, zum Danziger Theater, zum Wandel des Spielplans, zur geistigen Entwicklung der dt. Schauspielkunst waren tatsächlich grundlegend. Neu war, daß einzelne Germanisten dem Th. ohne die Zwangsvorstellung vom Bühnenstück als einer Gattung des Gedruckten gegenübertraten, Ereignisg. als Wirkungsg. begriffen und statistische Befunde interpretierten. Als Gegenstand einer dem genannten Heft vorausgegangenen Dissertation über die sich im 18. Jh. auswirkenden Theorien hatte die Schauspielkunst die Billigung einer philosophischen Fakultät gefunden, doch mochten kunsttheoretische Überlegungen, deren Darstellung der damalige Privatdozent Max Herrmann empfohlen hatte, als wahrhaft philosophisch gelten. Ein revidiertes Selbstverständnis bezeugten jene Fakultät, die der von C. H. Kaulfuß-Diesch vorgelegten Analyse von Inszenierungen des 16./17. Jh.s zustimmte, und Albert Köster in Leipzig, der sie in der Reihe Probefahrten veröffentlichte. Weder Litzmann noch Köster bezweckte mit der Publikationshilfe eine fachliche Freisetzung der Thg. neben der sich eben erst von der Germanistik lösenden dt. Litg. Die Verbindung zwischen Litg. und Thg., wenn nicht sogar die Anbindung der Thg. an die Litg., festigte eher die noch gängige Auffassung, das Th. sei eine literarisch determinierte Präsentationsform. Auch gefährdete sie Vertrautheit mit den Forschungsergebnissen, die in histor. Zeitschriften der unterschiedlichsten Haltung oder Herkunft, in Heimatbeilagen und Schulprogrammen gespeichert lagen. Als Ingenieure und Architekten wie M. Hammitzsch mit seinem Werk über die Anfänge der modernen

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Theaterbaukunst (1906) oder A. D o e b b e r mit einer Studie über die Gebäude in Lauchstädt und Weimar (1908) den Nutzwert von Vorentwürfen und Bauplänen lehrten, deutete sich der Vorteil einer Standortbestimmung für die Weiterentwicklung der dt. Thg. an. Die Standortbestimmung hat die 1902 gegründete „Gesellschaft für Theatergeschichte", deren Vorrang nach Alter und Solidität von ähnlichen späteren Vereinigungen in aller Welt kaum bestritten wurde, in den ersten beiden Jahrzehnten nur mittelbar gefördert, solange sie sich ihrem Gegenstand ohne eigene methodische Vorklärungen näherte. Dagegen gab sie der Thg. als Eingetragener Verein' in Berlin einen ständigen Aufenthaltsort, an dem die von ihr veranlaßten, an die Mitglieder ausgelieferten Publikationen hergestellt, Hauptversammlungen sowie Vorträge abgehalten, Sammlungen gehortet wurden. Schriftsteller, Journalisten, Gelehrte, Bühnenangehörige, Verlagskaufleute verliehen der als Beruf oder Liebhaberei betriebenen Sache öffentliches Aufsehen und Ansehen durch jene Aktivitäten, die auf die Finanz- und Organisationsmittel einer selbständigen wissenschaftlichen Sozietät in der Nähe, aber außerhalb der Universität angewiesen waren. Die von einzelnen Universitäten gelegentlich akzeptierte, jedoch nicht integrierte Th.historiographie jener Periode konnte zwar mit verbreitetem Interesse für kulturelle und soziale Entwicklungen rechnen,. mußte freilich zugleich Themen und Behandlungsstil sowohl unter das Gesetz der Wissenschaft als auch unter das der Wirksamkeit zwingen. Würdigt man den von Max Martersteig 1904 erstmals gewagten Versuch, die dt. Thg. als Ergebnis der geistigen Kultur, vor allem auch der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Zustände zu erweisen, indem man das Imponierende daran nicht mit dem Unzulänglichen zudeckt, rücken die Forschungen, die Max Herrmann 1914 vorlegte, umso deutlicher unter das Zeichen einer ideologiefreien, methodisch angelegten, kritisch behutsamen, Schlüsse vorsichtig ziehenden Arbeitsweise. Herrmann (1865-1942) hatte sich seinen beiden Abhandlungen seit 1901 gewidmet und sie seit 1909 unter Terminzwang in den Druck gegeben. Von den während dieser Jahre veröffentlichten oder entstandenen Arbeiten anderer bezeichnete er die Bücher von Hammitzsch, Doebber, Julius Petersen (Schiller

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und die Bühne, 1904), die Studie von J . K l o p f l e i s c h über den Schauspieler J . Chr. Brandes als bemerkenswerte Bemühungen, die Thg. zum Rang einer Wissenschaft zu erheben, begrüßte Köster als willkommenen Mitstreiter, nannte dessen Schüler C. H. Kaulfuß-Diesch, erwähnte Schriften der Shakespearephilologie und wies auf die vorbildlichen Leistungen klassischer Philologen hin. Statt wie viele Autoren ebenfalls über Methode zu schreiben, beabsichtigte Herrmann, durch die prakt. Durchführung von Untersuchungen Methode zu bringen. Sowohl das Th. der Meistersinger in Nürnberg als auch Dramenillustrationen des 15. und 16. Jh.s erschienen ihm deshalb geeignet, weil im ersten Problemfall Ort und Stücke mit szenischen Bemerkungen die Erprobung ihrer Aussagekraft über Zuschauerraum nebst Bühne, danach über Dekoration, Requisiten, Kostüme, schließlich über die Schauspielkunst empfahlen und weil im zweiten Problemfall an Bildquellen grundsätzlich geklärt werden konnte, wieweit sie auf Th.ereignisse verweisen und für sie in Anspruch genommen werden dürfen. Herrmanns immer wieder herangezogene Einleitung forderte für die „theatergeschichtliche Wissenschaft" die Trennung von Geschichte der dramatischen Dichtung und Geschichte des Bühnenwesens, zählte zu deren eigentlichen Aufgaben die Erforschung des Publikums, der Bühne mit ihren verschiedenartigen Einrichtungen, der Schauspielkunst sowie der künstlerischen Leitung der Vorstellungen, definierte das Th. als Eigenkunst sozialen Charakters sowie die Th.kunst als Raumkunst, beklagte zugleich, daß man sich noch so wenig oder gar nicht über das Wesen der nach ihrem Ursprung freien Th.kunst in ästhetischer Hinsicht verständigt habe, und gab der Erkundung der theatral. Einzelleistung, der wirklichen Gesamtvorstellung, den Vorrang vor einer histor. Verknüpfung der verloren gegangenen Leistungen. Die Methodologie seines Buchs wollte Herrmann keineswegs zur Schablone aufwerten. Sie beanspruche nicht, jenseits aller Verbesserungs- und Verfeinerungsmöglichkeiten zu stehen. Der großen Verwandlungsfähigkeit im Ablauf der Epochen, die ein Grundzug im Wesen der Th.kunst sei, müsse auch eine gewisse Beweglichkeit bei den Rekonstruktionsmethoden entsprechen. In Herrmanns Vorwort ist nachzulesen, wie sehr er sich bewußt war, daß die von ihm ange-

wendeten Methoden eine Vielseitigkeit verlangten, der ein Einzelner kaum gewachsen sei: Vertrautheit mit auseinanderliegenden Gebieten der Kultur und Kunst, gründliche Schulung in Sachen der bildenden Kunst und in denen der Litg., eine Allbelesenheit von internationaler Weise, wie sie W. C r e i z e n a c h auszeichnete. Herrmanns Katalog der idealen Forderungen ergab, daß der Th.historiker einen eigenen Standort habe und daß eine „Geschichte der Th.spiele" als ein Zweig unter den vielen der allgemeinen Kulturg. sowie als „eigenartiges Gebiet" der allgemeinen Kunstg. auf Zuordnung getrennter Ansatzpunkte angewiesen sei. Für die nicht nur zugelassene, sondern erwartete gegenstandsgemäße Verbesserung seiner Methode setzte Herrmann in Lehre und Themenvergabe die Praxis der Lösung von Problemfällen fort. Die in den Forschungen vermerkten Studien aus seiner Berliner Schule betrafen Schauspielermonographien mit der Aufgabe einer Erfassung von Kunstleistungen statt von Laufbahnen sowie das Rollenfach im 18. Jh. unter dramaturg. sowie soziologischen Aspekten. Unter veränderten zeitlichen Voraussetzungen wurde das alte Problem der Dramenillustrationen in der Studie über die Hamlet-Darstellungen Chodowieckis und ihren Quellenwert erneut behandelt. Daß ausgerechnet der von Herrmann als willkommener Bundesgenosse begrüßte Köster mit ihm in einen Gelehrtenstreit über die Bühne des Hans Sachs geriet, lenkte die Aufmerksamkeit selbst bisher Fernstehender auf die Rekonstruktion technischer Voraussetzungen oder Elemente vergangener Th.ereignisse, die Köster für eine Sammlung funktionstüchtiger Modelle systematisch betrieb. Forschung, Lehre und Sammlung von Anschauungsmaterial traten nach dem Ersten Weltkrieg in eine Phase der Institutionalisierung, deren frühester Verlauf nach dem Abklingen von Differenzen über Erstgeburtsrechte nicht mehr protokolliert zu werden braucht. In die Phalanx einflußreicher Forscher und Universitätslehrer gliederten sich Artur K u t s c h e r (1878-1960) und Hans Heinrich B o r c h e r d t in München sowie Carl N i e s s e n (1890-1969) in Köln ein, selbständige oder selbstbewußte Universitätsinstitute mit Thg. als einem Lehrgegenstand bildeten Schwerpunkte vor allem in Frankfurt a.M.,

Theatergeschichte, Deutsche Kiel, München, Köln, Berlin, und die mit Instituten verbundenen oder in loser Beziehung verbleibenden Sammlungen oder Th.museen bewährten sich als Zulieferer von Material. Zwar war Thg. nicht alleiniges Studienfach oder gar Promotionsfach, auch nicht identisch mit der Tätigkeit aller einschlägigen Institute, aber sie galt entweder als unerläßliche Basis oder unverzichtbare Erkenntnishilfe. Da integrierter und zugleich am weitesten etablierter Bereich, diente Thg. der Schulung in den üblichen histor. Verfahren unter Berücksichtigung der hier spezifischen Sache. Innerhalb weniger Jahre wurde dt. Thg. ein verbreitet geduldetes und häufig gewähltes Thema von Dissertationen. Von den publizist. Organen, die den internen Informationsfluß und eine breitere Auswirkung begünstigten, gewannen die 1919 bei dem 30. Bd. angelangten Schriften der Gesellschaft für Thg. dadurch an sachlicher und methodischer Harmonie, daß M. Herrmann als neuer Vorsitzender amtierte. Der infolge der wirtschaftlichen Not nur verstümmelt erschienene erste Teil einer aus den Quellen erarbeiteten Darstellung des Weimarischen Hoftheaters unter Goethes Leitung von Bruno Th. S a t o r i - N e u m a n n , die Geschichte des Jesuitentheaters von Willi F l e m m i n g , die Untersuchungen über Bühneneinrichtungen des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg, über Reformpläne des Th.baues bei Schinkel und Semper, über Schauspielkostüm und Schauspieldarstellung im 18. Jh. und der Bd. 44 (1932), eine beispielhafte Analyse des Berliner Publikums zwischen 1796 und 1814, mögen den Wandel in der Wissenschaftsentwicklung andeuten. Ihn belegen auch die seit 1929 von Niessen herausgegebene Reihe Die Schaubühne mit einer Beschreibung der histor. Hecken- und Gartenth. oder der Blütezeit des Kinderth.s sowie die seit 1931 unter Mitwirkung von Herrmann und Petersen von Hans Knudsen (1886-1971) herausgegebene Reihe Th. und Drama. Der von starken Lehrerpersönlichkeiten vorgelebte und von teilhabewilligen Studenten übernommene Drang zu gemeinsamer Neulandgewinnung schlug sich in th.historischen „Schulen" nieder. So gehen die Schriften aus der Berliner Schule Herrmanns meist von methodischen Erwägungen aus oder münden in methodologische Schlüsse. Sie stehen damit im Zeichen einer stetig fortschreitenden Stoff-

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bewältigung mittels jeweils fortschrittlicher Verfahren. Insofern spiegeln sie wie auch einige lange übersehene Äußerungen Herrmanns und das, was er sich von der Emeritierung bis zur Deportation nach Theresienstadt noch abrang, eine beachtliche Ausformung der 1914 proklamierten Thesen. Die meist freie Wahl der Universität sowie der Lehrer ermöglichte die Unterrichtung über methodische Eigenheiten, für die Petersen, Niessen, Kutscher, Borcherdt einstanden, aber sie entschärfte auch Abgrenzungen. Hinsichtlich der Historiographie im Rahmen th.wissenschaftlicher Forschung ergab gegenseitige Beeinflussung einen Konsensus, der die Sonderung approbierter Untersuchungen nach Provenienzen kaum erlaubt. Dieser Konsensus schloß auch außeruniversitäre Aktivitäten sowie Einzelgänger ein. Museumsleiter, Sammlungsvorsteher, Ausstellungsarrangeure, Verleger, Autoren wie Julius B a b , Friedrich M i chael, Ernst Leopold Stahl setzten oder befolgten wissenschaftlich vertretbare Maßstäbe. Die histor. Verflechtung des dt.sprachigen Th.s mit dem Th.wesen in der ehemaligen Donau-Monarchie, in der Schweiz und anderswo, die von jeher grenzüberschreitende Darstellungen erfuhr, macht es verständlich, daß auch die Wissenschaftsentwicklung nicht vor Landesgrenzen innehielt. Nachdem Alexander v. Weilen und Eduard C a s t l e in Wien besonders österr. Thg. getrieben hatten, wurde dort Joseph G r e g o r (1888-1960) konservatorisch durch den Aufbau der Th.Sammlung der österreichischen Nationalbibliothek, editorisch durch Betreuung der Denkmäler des Th.s, schriftstellerisch durch mehrere kulturhistorisch angelegte Bücher weithin bekannt. Ebenfalls ein Th.historiker mit umfassender Aktivität war der Schweizer Oskar E b e r l e (19021956). Der Verlust an Kontinuität und Konsensus, an Menschen und Institutionen, der 1933 begann, war für die Entwicklung der Thg. auch noch nach 1945 folgenschwer. Von den alten oder nachgerückten Fachvertretern boten freilich seit 1949 Niessen in Köln und Kutscher in München unter Anknüpfung an frühere Lehrmeinungen Bücher grundlegender Art an, während Knudsen in Berlin dozierend und publizierend betont als Sachwalter der MaxHerrmann-Schule zu handeln suchte. Aber die weitgehend akademisierte Th.historiogra-

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phie litt nicht nur unter universitären Schwierigkeiten bei Stellenbesetzungen und U n t e r richtseinrichtungen, sondern auch unter der Vernichtung, Verbringung sowie Vermengung v o n Archivalien, B i b l i o t h e k e n , Sammlungen durch Kriegsschäden oder Kriegsfolgen. Städte-, provinzen-, länderübergreifende T h e men erforderten meist langwierige V o r e r k u n dungen hinsichtlich des Materialbefunds. D i e „Gesellschaft für T h g . " in Berlin, die ihre wertvollen Sammlungen sowie Lagerbestände an eigenen Publikationen verloren hatte, mußte nach dem Wiederbeginn, den der M a x - H e r r mann-Schüler K u r t R a e c k durchsetzte, einige J a h r e ihre Schriftenreihen mit schmalen Heften und billig hergestellten Bänden fortsetzen; von anderen Reihen lebten Die Schaubühne und Th. und Drama, diese erst 1957, wieder auf. Als B r ü c k e zwischen den alten und neuen Teilen des dt. Sprachraums erwies sich die 1955 begründete Vierteljahrsschrift Maske und Kothurn, eine der vielen Aktivitäten, die von H e i n z K i n d e r m a n n (geb. 1894) und Margret D i e t r i c h (geb. 1920) in W i e n ausgingen. Z u gleich j e d o c h stellte dieses nicht mehr regional ausgerichtete, vielmehr international ambitionierte F o r u m die aufgespaltene dt. T h . h i s t o r i o graphie auf eine Bewährungsprobe, zu der sie sich auch als Mitgliedergruppe der seit 1957 bestehenden International Federation f o r T h e a tre Research aufgerufen fühlen mußte. A u f die von H e r r m a n n 1914 hintangestellte Frage der Abfolge der erst einmal einzeln zu untersuchenden Th.ereignisse hatte Kindermann 1948 mit seiner Thg. der Goethezeit theoretisch und praktisch geantwortet. A b e r eigenes sowie von anderen vorgeformtes M a t e rial in G r o ß f o r m e n geistesgeschichtlicher D a r stellung zu integrieren, erschien angesichts der Flut allein an Hochschulschriften den einen als kaum noch machbar, den anderen als kaum n o c h vertretbar. D i e bibliographische V e r zeichnung sämtlicher Neuerscheinungen jeglicher H e r k u n f t belegte eine anhaltende B e triebsamkeit, indes sich bereits maßvoller W i derspruch gegen bis dahin respektierte N o r m e n sowie ein apodiktisches Ungenügen an T h g . überhaupt artikulierten. Seit und o b w o h l sich die T h g . durch Universitäten ihren R a n g als Gegenstand wissenschaftl. F o r s c h u n g und Lehre hatte bestätigen lassen, geriet sie in den Vergleich mit berufsbezogenen Disziplinen, dem sie durch das Beharren auf dem Sinn aller H i s t o r i e oder durch den N a c h w e i s eines

besonderen Sinns der T h g . für das Verständnis von T h . als einem Ereignis zu begegnen trachtete. Sie sah sich mit dem T h e o r i e n pluralismus konfrontiert und akzentuierte auch ihrerseits die verbreitete Publikumserkundung unter A n w e n d u n g demoskopischer T e c h n i k e n wie Befragungen, Tests, Statistiken u. a.

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Theatergeschichte, Deutsche § 3. F o r s c h u n g s l a g e . Der von Dietrich Steinbeck 1970 vorgelegten Habilitationsschrift Einleitung in die Theorie und Systematik der Theaterwissenschaft waren Untersuchungen zur Systematik der Opernregie (Inszenierungsformen des „Tannhäuser") sowie

der Aufsatz Jürgen von

Fehlings

,,Tannhäuser"

1933 und eine kritische Edition von

Richard

Wagners

„Tannhäuser"-Szenarium

vorausgegangen. Jener an die phänomenologische Methode Roman Ingardens angelehnte Vorentwurf für das Schema sowie für Forschungsprobleme einer „systematischen" Th.wiss. und diese auf eine systematische Perspektive eingestellten Beiträge zur histor. Perspektive erörterten und bezeugten zugleich die Verklammerung der beiden Seh weisen. Steinbecks Standortbestimmung des Fachs, nach der auf eine Zeit des Sammeins, Sichtens und Aufbereitens nunmehr eine des erkenntniskritischen Aus- und Aufbaus zu folgen habe, besaß die Legitimation einer durch eigene Forschungen erstrebten Beweissicherung. Steinbeck räumte ein, daß sich Thg. immer nur innerhalb der konkreten Überlieferung bewegen könne. Bisherige Methodenlehren hätten ihren hohen Wert dort, wo sie „als pragmatische ,Kunstlehren' zu exakter .Rekonstruktion' histor. Th.Verhältnisse" verstanden sein wollen. Aber Thg. sollte sich nicht „auf bloße Deskription des Werdens" beschränken, sondern sich die auch früher schon erkannten Divergenzen zwischen der „Daseinsform" der Bühne nebst ihren Elementen und der „Ereignisform" von Th. bewußt halten und ihre Erkenntnisleistungen daraufhin kritisch reflektieren. Mit einem Akademie-Vortrag sowie dem 1971 gehaltenen Plädoyer für die Publikumsforschung machte H. K i n d e r m a n n auf eine in Wien konzentrierte Behandlung des meist einzelfällig untersuchten Problems aufmerksam. Er musterte einschlägige Arbeiten seit der des Herrmann-Schülers R. Weil (1932), empfahl ergiebige Quellenbereiche, erwähnte die durch Hans-Jörg T i n c h o n u.a. getesteten technischen Verfahren der Feststellung von Zuschauerreaktionen, betonte jedoch, daß eine Ergründung des Kausalnexus zwischen Bühnenleistung und Publikumsreaktion, der auch die „rückspiegelnden Wandlungsenergien" aus dem Zuschauerraum umfasse, die meisten der unternommenen Anläufe ergänzen müsse. Wenige Jahre später erschienen in Wien die ersten

Dokumente für die Aktivität eines im Rahmen der österr. Adademie der Wiss. gegründeten Instituts für Publikumsforschung und weitere für die Aktivität der von Kindermann und M. Dietrich angeführten Arbeitsgruppen. Die Dt. Forschungsgemeinschaft unterstützte das von Klaus L a z a r o w i c z in München geplante und verwirklichte Projekt Theatrale Produk-

tion und Rezeption

im Labor der

Theater-

wissenschaft (1. Sept. 1979-28. Jan. 1980); im Zusammenhang mit Aufführungen von Machiavellis Komödie Mandragola wurde hier der Versuch unternommen, Thg., Th.theorie und experimentelle Forschung miteinander zu verbinden und das „Funktionieren intratheatraler Kommunikation" zu beobachten, mit modernsten Mitteln aufzuzeichnen und zu dokumentieren. Angesichts der aktuellen Bedeutung eines für das Th.kunstwerk spezifischen Publikumsbegriffs waren der Entwurf Herrmanns zu einem unzulänglich überlieferten Vortrag aus dem Jahr 1920 sowie eine 1973 gehaltene Ansprache über Herrmanns wissenschaftliche Entwicklung auch von gegenwärtigem Wert. Dem häufig gewürdigten, indes bisweilen polemisch einseitig zitierten Verfasser der Forschungen wurde man mit bloßem Bezug auf das Vorwort von 1914 als Herrmanns letztes Wort in der Sache nicht gerecht. Der „UrSinn" des Th.s bestehe, erklärte Herrmann 1920, darin, „daß das Th. ein soziales Spiel war, — ein Spiel Aller für Alle". Ursprünglich seien Zuschauer und Schauspieler identisch gewesen. Daß sich von der gemeinsamen Spielform „besondere Vertreter" lösten, die diese Vertretung dauernd übernahmen, gehöre zu einer späteren Phase. Es „blieb der Faktor des Publikums bestehen". Und Herrmann insistierte: das Publikum darf nicht fehlen, ist als mitspielender Faktor beteiligt, ist „sozusagen Schöpfer der Th.kunst", beim Th. sei „immer eine soziale Gemeinde vorhanden". Daß Herrmann 1920 einleitend bekannt hat, die bisherigen „Anlagen unserer Wissenschaften" stammten aus einer alten Periode, er sei weit davon entfernt, in einem künftigen Institut „den Hauptakzent auf den geschichtlichen Teil zu setzen", und daß wir noch nicht Geschichte schreiben, sondern „die Geschehnisse vor Augen führen", dürfte vor einer zu positivist. Interpretation der von Herrmann 1914 skizzierten Methode warnen. Zwischen den Forschungen und dem bekannten Kongreß-

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Theatergeschichte, Deutsche

Vortrag von 1930 erfolgten wesentliche Modifizierungen. Schließlich ersann Herrmann mit der „Trinität der bestimmenden Faktoren" im Th.ereignis eine einprägsame und trotz jüngerer säkularisiert-hintergründiger Parallele tradierbare Formel für die Produktionseinheit Dramatiker-Schauspieler-Publikum. Anschließend an den Rückblick auf die Th.Wissenschaft der Friedrich-Wilhelms-Universität publizierten Wissenschaftler der nunmehrigen Humboldt-Universität Thesen zur Th.historiographie, deren Voraussetzungen und Inhalte die Gegenposition zu der an der Freien Universität Berlin von Knudsen zuletzt in Methodik der Th.Wissenschaft (1971) eingenommenen Position markieren. Angelpunkt der Behandlung sei, daß das Th. sich primär als ein Bestandteil gesellschaftlicher Prozesse entwickelt. Auch die massenhaft wirkenden, „durchschnittlichen" Erscheinungen und nicht nur die weiterwirkenden künstlerischen oder auch organisatorischen Spitzenleistungen müßten daher erfaßt und behandelt werden. Ausdrücklich hingewiesen wird auf relativ eigenständig vom Th. herausgeformte Strukturen und Richtungen sowie auf die Tatsache, daß die verschiedenen Entwicklungsphasen „oft nicht synchron gehen mit wichtigen Drehpunkten in der Entwicklung der sozialen Funktion des T h . s " . Auff.srekonstruktionen in ihrer chronologischen Abfolge ergäben noch keine Thg., doch bedeute das keinesfalls, daß auf „Rekonstruktionen (im Sinne histor. Belege) überhaupt kein Wert mehr zu legen" sei. Stummfilm, Hörfunk, Tonfilm, Fernsehen haben zuerst die Wissenschaft vom Th. zur Berücksichtigung gedrängt, die frühe Publizistik bot Nachbarschaftshilfe an. Inzwischen locken sie eher die Th.wiss. zur Anpassung an eine von ihnen initiierte Forschung. In diesen Zusammenhang gehört eine von M. Dietrich befürwortete eigenständige Institution integrativ koordinierter Grundlagenforschung, die sowohl bezüglich der Wissenschaft von den theatralischen Formen und den Spielformen in Funk, Fernsehen, Film als auch anderer zentral oder partiell an den audiovisuellen Medien interessierter Fächer „wichtige Voraussetzungen klären oder Ergänzungen der jeweils vorgenommenen Forschungen bieten könnte". Mit der Faktengläubigkeit, die der Th.wiss. vorgeworfen wird, entarten Repräsentativerhebungen oder Publikumserkundungen leicht zur

Marktanalyse und Basis der Programmgestaltung. An empirischen Daten mit viel Statistik macht die unspezifische sowie unterschiedliche Interpretierbarkeit den Th.forscher genauso mißtrauisch wie seine deduktive und induktive Methode die anderen, die Beweisbarkeit anstreben und deren Motivation nicht Denkoperationen, sondern Geräte sind, die irgendwo Erfolge sicherten. Als A. M. N a g l e r eine Terminologie zur Klassifikation der Bühnenformen des 16. Jh.s für notwendig erachtete, begannen Nachbardisziplinen sowie internationale Einflüsse eine Flut ungewohnter und undurchsichtiger Begriffe heranzuschwemmen. Die im und mit dem Th. gewachsene Fachsprache sowie der Th.jargon wollen nur erlernt sein, aber jede künstlich geschaffene Sprache der Th.historiographie muß außerdem auf ihre Bündigkeit geprüft werden. Im Hinblick auf die Vokabularverwirrung sollte eine umfassende th.wiss. Nomenklatur nicht nur alte Bestände inventarisieren und neue inkorporieren, sondern auch klären, was nicht schlüssig ist, sich mit anderem deckt oder der fachlichen Anpassung bedarf. Die Worterklärung wäre unvollkommen ohne die histor. Dimension: das Wissen um den Unterschied zwischen den modernen Begriffen und denen der früheren Perioden bewahrt vor Fehlschlüssen vom Heute auf das Gestern und vom Geschichtlichen auf das Wesentliche. Dietrich S t e i n b e c k , Inszenierungsformen d. 'Tannhäuser' (1964; Forschungsbeitr. zur Musikwissenschaft 14). Ders., Jürgen Fehlings 'Tannhäuser' von 1933. Kleine SchrGesThg. 22 (1967) S. 17-40. Ders. (Hg.), Richard Wagners 'Tannhäuser'-Szenarium (1968; SchrGesThg. 64). Dietrich S t e i n b e c k , Einl. in d. Theorie u. Systematik d. Theaterwiss. (1970). Heinz K i n d e r m a n n , Die Funktion d. Publikums im Theater (Wien 1971; SBAkWien, Phil.-hist. Klasse. 273,3). Ders., Plädoyer f. d. Publikumsforschung. Maske u. Kothurn 17 (1971) S. 293-303. Das Theater u. sein Publikum. Referate d. Internat, theaterwiss. Dozentenkonferenzen in Venedig 1975 u. Wien 1976 (Wien 1977; Veröff. d. Inst. f. Publikumsforschung 5). Max H e r r m a n n , Über die Aufgaben e. theaterwiss. Institutes (Nach dem Stenogramm), in: Rudolf M ü n z , Zwei Dokumente z. Gesch. d. Theaterwiss. an d. Berliner Universität. Wiss. Zs. d. Humboldt-Univ. zu Berlin, Ges.-sprachw. R . 23 (1974) H . 3/4, S. 349-356. Rudolf M ü n z , Zur Begründung d. Berliner theaterwiss. Schule Max Herrmanns. Ebda, S. 333-348. Hans-Joachim F i e b a c h u. Rudolf M ü n z , Thesen zu theoretisch-methodi-

Theatergeschichte, Deutsche sehen Fragen d. Theatergeschichtsschreibung. Ebda S. 359-368. Hans K n u d s e n , Methodik d. Theaterwiss. (1971). Margret D i e t r i c h , Sinn u. Notwendigkeit von integrativwissenschaftlich koordinierter Grundlagenforschung in ihrer Beziehung zur Theaterwiss. Maske u. Kothurn 17 (1971) S. 275-284. Klaus L a z a r o w i c z , Theaterwiss. heute. Universitas 35 (1980) S. 838-840. A. M. N a g l e r , A Terminology for SixteenthCentury Stage Forms. Theatre Research 1 (1958), March, S. 30-33. Urs H . M e h l i n , Die Fachsprache d. Theaters (1969; WirkWort, Schriftenr. 7). Ursula R o h r , Der Theaterjargon (1952; SchrGesThg. 56).

II. S t o f f k u n d e durch S t o f f s u c h e . § 4. Q u e l l e n l a g e und Q u e l l e n b e w e r tung. Wie jedes Ereignis der Vergangenheit wird auch das theatrale für gegenwärtiges Begreifen an seinen Uberresten erfragt. Unmittelbare Zeugnisse wie der Spielort oder das Th.gebäude, Rollenhefte oder Regiebücher, Dekorationsteile oder Requisiten blieben in der Regel lückenhaft erhalten. Überkommene Texte, Bühnenskizzen, Ausstattungsentwürfe, Verträge wirkten in einem einzelfällig zu erkundenden Ausmaß an dem Th.ereignis mit oder sich in ihm aus. Th.Zettel und Akten sichern oft allein das Datum sowie die Besetzung einer Auff. älterer Epochen. Im Vergleich zu den realen Hinterlassenschaften des transitorischen Kunstwerks erfordern mittelbar von ihm zeugende Schriftsätze und Bilder die sorgfältige Prüfung ihrer Zuverlässigkeit sowohl hinsichtlich objektiver Faktoren der Qualität als auch subjektiver, die bei den Urhebern zu entdecken sind. Berücksichtigung medienbedingter Perspektiven gebietet sich bei den von Th.historikern gelegentlich aus ihrem Blickwinkel einseitig beurteilten Besprechungen einer Auff., Interviews, Würdigungen, Nachrufen in Publikationsorganen wie Th.zeitschriften, Almanachen, Kalendern, Tageszeitungen. Bildmaterial ist nicht nach künstlerischen oder kunsthistor. Kriterien zu begutachten, sondern nach seinem Gehalt an Th.geschehen. Moderne Notierungssysteme für Bewegungen einzelner Darsteller und Gruppen auf der Bühne unter Ausbau ähnlicher Ansätze in Regiebüchern sowie solche für die nichtsprachlichen Darstellungsmittel im praktischen Th.betrieb können dem Rückblickenden partielle Verläufe aufzeigen. Die Erfindung immer neuer Geräte zur Konservierung sowie Vervielfältigung optischer Situationen und akusti-

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scher Produktionen hat die Quellenlage für die Th.historiographie der jüngsten Vergangenheit stark verändert. Die Apparaturen sowie die durch sie bestimmten Kunstfabrikate von der Photographie und der Schallplatte über den Film und das Tonband zur Videoaufzeichnung als Archivierungshilfen für originäre Th.abläufe machen freilich deren geistige Verarbeitung nicht überflüssig, sondern erschweren sie wegen der unabdingbaren Aussonderung der Adaptionselemente; was z. B. bei einer filmischen Wiedergabe auf den ersten Blick als „Dokumentation" erscheint, ist stets vom Kamerastandpunkt und der Wahl der Einstellungen abhängige Interpretation. Umfang und Unterschiedlichkeit der personellen sowie materiellen Fermente eines Th.kunstwerks, vor allem seine existenzielle Verwurzelung in sozioökonomischen Grundlagen, lassen die Suche nach Quellen in selbst entlegeneren Gebieten geraten sein. Mindestens als Zulieferer für die im Zentrum stehende Beschreibung der künstlerischen Vorgänge müssen th.historiographische Zweigdisziplinen Leerstellen bei Lebensläufen von Bühnenangehörigen, die Umbesetzungen wichtiger Auff.sserien, generelle Vorbedingungen spezieller Publikumsbildung aus Tagebüchern, Briefen, Memoiren, Reiseberichten, Chroniken, aus Zeitungsmeldungen und Anzeigen, aus Urkunden, Statistiken, Stadt- und Staatsarchivalien zu klären trachten. Forschungsergebnisse bezüglich der Quellenbewertung auf Grund fruchtbarer Untersuchungen von Problemfällen und die methodologisch etwas zu hoch eingestufte Kunde der Quellenermittlung lehren, daß Überreste und Tradition schwerlich nach einem bündigen Schema gesondert oder gruppenartig aufgereiht und entsprechend bewertet werden können. Auch bleibt das Bewußtsein dafür wachzuhalten, daß der bisher erschlossene und künftig zu erschließende Realitätsbereich vor dem jeweils gewollten und einmaliges Ereignis gewordenen Th.kunstwerk endet. Die spätere Aufbereitung und Zusammenfügung der Überbleibsel von theatralen Geschehnissen vermag nur Leitlinien zum gedanklichen Nachvollzug der den Überbleibseln zuzuordnenden Intentionen, Aktionen, Interaktionen zu liefern. Da auch der Th.historiker der seine Quellenbewertung determinierenden Dialektik der eigenen Zeitbedingtheit sowie der Zeitbedingtheit abgelebter Sinndeutungen unterliegt, muß

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seine auf aktuellen Erfahrungen beruhende Th.anschauung im Verlauf der Quellensuche zur Kenntnis des zeitlich und räumlich entrückten Ereignisses geläutert werden, um diesem gerecht zu werden. Herbert A. F r e n z e l , Theaterwissenschaft, in: Universitas Litterar um. Hg. v. Werner Schuder (1955) S. 588-604.

§ 5. F u n d o r t e und Sammlungen. Seit der Ausbreitung und Akademisierung einer wissenschaftlich vertretbaren dt. Th.historiographie wuchs an Orten mit Th.Wirksamkeit sowie in Archiven, Bibliotheken, Museen das Augenmerk auf relevante Dokumente. Die Fehleinschätzung oder Überschätzung von Nachlässen verstorbener Künstler und von Randerscheinungen der Th.welt wich am Beispiel ernsthafter Sammler und Institutionen einer jeglichem Schwärmertum abholden Auslese des sehenswerten Reliktenguts. Allgemeine Hortungsstätten bemühten sich, auf theatrale Ereignisse bezügliche Stücke abzusondern sowie schneller greifbar zu machen. Selbst Th.vorstände, die sich um die tägliche Auff. sowie die nächste Premiere sorgen, gestanden der Spurensicherung einen gewissen Raum zu. Die Verluste an Material und Fundorten durch den Krieg und die allenthalben veränderten Besitzverhältnisse haben eine gleichmäßige Fortsetzung der eingeleiteten Entwicklung verhindert. So sind die Erforscher der älteren Perioden häufig zur Suche nach bereits einmal gefundenen und vielleicht sogar zuvor benutzten Quellen gezwungen, während die Entdeckung sowie die Bergung ganzer Bereiche des dt. Th.s im 20. Jh. noch anhält. Bedeutende Th.museen, die der Öffentlichkeit thematisch konzipierte Ausstellungen präsentieren, empfahlen sich dem Fachmann mit ihren gedruckten oder sonst vorliegenden Katalogen sowie mit der Zugänglichkeit ihrer magazinierten Bestände. Mit Gewinn arbeitet er sich meist eher dort vor, wo Spezialisten ihm den Einstieg in die ergiebigsten Schächte ihrer Anlage erleichtern. In den üblichen Findbüchern staatlicher, städtischer und privater Archive sind Personen, Objekte und Vorgänge des Th.wesens gelegentlich aus sehr disparaten Zusammenhängen herauszulösen. Vorgefertigte Quellenkonglomerate und sogenannte Dokumentationen sollten der Prüfung auf Vollständigkeit standhalten.

Franz H a d a m o w s k y , Die Wiener Hoftheater (Staatstheater). Verz. d. aufgeführten Stücke mit Bestandsnachweis u. täglichem Spielplan. T . l f f . (Wien 1966ff.; Museion. Veröff. d. ö s t e r r . Nationalbibl. N . F. Bd. 4, T . l f f . ) . Günter S c h ö n e , Porträtkatalog d. Theatermuseums München. Bd. 1: Die graphischen Einzelblätter. T. 1 . 2 . (1978; Quellenkataloge z. Musikgesch. 11/12). Die Bildbestände d. Theatersammlung Louis Schneider im Museum d. Preuß. Staatstheater Berlin. Systematischer Katalog. Hg. v. Rolf B a d e n h a u s e n (1938; SchrGesThg. 50). Helmut G. A s p e r , Spieltexte d. Wanderbühne. E. Verz. d. Dramenmanuskripte d. 17. u. 18. Jh.s in Wiener Bibliotheken (Wien 1975; Quellen zur Theatergesch. 1).

III. S t o f f s t r u k t u r i e r u n g . A. N a c h P r o d u k t i o n e n und P r o d u k tionsmitteln. § 6. D i e einmalige P r o d u k t i o n . Die Glaubwürdigkeit jeder strukturierten th.histor. Stoffmasse hängt u. a. davon ab, ob die Grundeinheit der einmaligen Auff. in ihr subsummiert und daher aus ihr wieder ableitbar ist. Mindestens als Element aller auf Zusammenhänge zielenden Darstellungen sowie als Testfall für deren Qualität sollte das einzelne Th.ereignis jenen Rang behalten, den ihm die Begründer einer wissenschaftlichen dt. Thg. zugesprochen haben, obwohl es im Vergleich mit sonstigem Geschehen der Vergangenheit wegen seiner Mehrschichtigkeit geistig schwieriger erfaßbar, geschweige denn wiederherstellbar ist. Realer Vordergrund und im Sinn gehabter Hintergrund rücken bei historischen Th.ereignissen in umso größere Nähe, je mehr Autoren, Aktoren und Publikum in einem ihnen als verbindliches Dogma gemeinsam aufgegebenen Sinn handelten. Das religiöse Th. im MA. (s. Spiele, mittelalterliche) verlieh gewußten oder geglaubten Sinngehalten Körper- und Bildgestalt. Stereotype sprachliche sowie eingeübte symbolische Informationen akzentuierten die im übrigen gern ausschweifende Veranschaulichung des Heilsgedankens und sicherten das intendierte Verstehen. Daher mag bei solcher Art Schaukunst die Beschreibung der eingesetzten Mittel sowie des realen Ablaufs als wissenschaftl. Evokation der Vergangenheit eher genügen als bei Produktionen aus dem glaubensmäßig oder weltanschaulich liberalisierten Th.wesen der Neuzeit. Unter den Mitteln waren die Orte inner-

Theatergeschichte, Deutsche halb oder außerhalb der Kirche lange die wichtigsten, weil teils erhalten gebliebenen, teils modellhaft rekonstruierten Forschungsobjekte, neben denen Kostüme, Dekorationen, Requisiten und auch die Laiendarsteller das Verfahren sowie den Grad der Versinnlichung jener Botschaft erkennen ließen. Bezeichnenderweise stellte sich das eigentliche Problem der Th.historiographie zunächst für die Erforschung des nicht-geistlichen Spiels. Das volkstümliche Th. an der Wende vom MA. zur Neuzeit arbeitete mit einer von den späteren Markt- und Vorstadtbühnen oder der oppositionellen Subkultur tradierten Kommunikationsweise zur Erzielung spontaner Sozialisierungseffekte. Weder auf die Intentionen noch auf die subjektiven Reaktionen bei HansSachs-Produktionen waren Rückschlüsse aus einem institutionalisierten Denken zwingend. Themen und Formgebung bis zu szenischen Usancen wollen auf autonome Prinzipien untersucht und Publikumsstrukturen überhaupt erst festgestellt sein. Publikum, bei Schulth. einkreisbar, im höfischen Th. klassifizierbar, trat als kalkulierbarer Coactor mit der berufsmäßig betriebenen und Interessenten öffentlich angebotenen Th.kunst der Hochkultur voll in Erscheinung. Als solcher ist es von der Th.historiographie immer stärker in das Zentrum verlegt worden. Um die oben zitierte „Trinität der bestimmenden Faktoren" sinnfällig zu machen, geht sie am Entwurf für die Auff. den Erwartungen des Produzenten und an stichhaltigen Bekundungen auch der rezeptiven oder aktiven Partizipation der Zuschauer nach, die im günstigsten Fall durch daraus resultierende spontane Zusätze oder nachträglich fixierte Veränderungen des inszenatorischen Grundmusters belegt sein kann.Julius P e t e r s e n , Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung. Neues Archiv f. Thg. 2 ( 1 9 3 0 ; SchrGesThg. 41) S. 163-198. Einschlägige Arbeiten von Dietrich S t e i n b e c k s. unter § 3.

§ 7. D i e h i s t o r i s c h e A b f o l g e von P r o duktionen. Gelingt die in dreifacher Hinsicht ausgewogene Beschreibung eines individuellen Th.Vorgangs bei einer Quellenlage, die einerseits die Möglichkeiten der Interpretation, andrerseits die Notwendigkeit der ergänzenden Kombination in Grenzen hält, so setzt deren geschichtliche Einfügung in die Entwicklung ganzer Produktionen oder einer

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solchen ihrer verschiedenen Aspekte in die Entwicklung von Aspekten des Th. wesens eine Entscheidung für objektiv belangvolle und subjektiv vollziehbare Schnitte voraus. Auch eine Betrachtung von Spiel texten, die sich als literarästhetisch und unter Th. eine Darbietung von Wortkunstwerken versteht, stößt auf Fragen der dramaturgisch-szenischen Qualität. Verschließt sie sich nicht den Lösungen von Problemen der Realisierung eines ganzen Textes oder erheblicher Textstellen, die das praktische Th. fand, wird eine Monographie zur Bühneng. eines Werks möglich. Sie ist freilich erst sachgerecht, wenn sie jede maßgebende Inszenesetzung als Ganzheit würdigt, den Wandel der Formen begründet und Erfolge, Mißerfolge, Vernachlässigungen, Wiederentdeckungen zu einem Rezeptionsverlauf ausweitet. Nicht durch einen Einzeltext, sondern durch eine Vorlagengattung sind analoge Monographien über Produktionssparten wie Oper, Volksstück, Revue definiert. Historische Abfolgen von Realisierungen sowohl eines Einzeltextes als auch einer Textgattung exemplifizieren den Unterschied zwischen der Rezipierbarkeit des vom Th. in seinen Dienst genommenen stabilen, jederzeit verfügbaren Materials und den Rezeptionsbedingungen des eigengesetzlich motivierten Th.wesens, das jenes konstante Material durch Kunstereignisse aktualisiert und der spontanen Wahrnehmung ausliefert. Sie bestätigen nicht nur den Unterschied zwischen Lesern und Th.besuchern, sondern erleichtern die Erkenntnis etwaiger Relationen. Insgesamt erhärten sie, daß die dt. Thg. unter anderen Bedingungen verlief als die Entwicklung des dt. Dramas. Werden nicht Werke oder Werkgruppen aus dem Verlauf der dt. Thg. herausgeschnitten, sondern geographische Komplexe wie Orte, Provinzen, Räume bis zu Produktionsstätten, so treten soziokulturelle Aspekte ins Blickfeld. Das Th., zumal das unternehmerisch betriebene, bedarf eines Nährbodens, dem es seine Kräfte nicht nur entziehen darf, sondern den es aus eigner Fruchtbarkeit regenerieren muß. Steriles Th.wesen wird schwerlich seßhaft. Das ambulante Gewerbe hat zwar seit dem 17.Jh. seine Reisewege über zahlungskräftige Handelszentren gelegt und seine Auff.stermine auf wiederkehrende Daten wie Feste oder Messen sowie auf spektakuläre Begebenheiten wie Fürstentage oder Krönungen abgestimmt, aber zu einer längeren Ver-

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weildauer gelangte es anfangs hier und da bei höfischen Mäzenen, den privaten Vorgängern aller späteren Staats- und K o m m u n a l b e h ö r d e n , die das subventionsbedürftige E r b e überantwortet erhielten. Landkarten mit den Routen von Wandertruppen und solche mit dt. T h . städten veranschaulichen, was in zahllosen Spezialuntersuchungen auch über die Ansiedlungsbedingungen und Ansiedlungsfolgen für das T h . sowie f ü r seinen Wirkungsraum erforscht wurde. D i e Verfasser sind meist durch Vertrautheit mit der polit., wirtschaftlichen und sonstigen kulturellen Entwicklung des betreffenden regionalen Bereichs für ihren th.historiographischen Ausschnitt prädestiniert, der jedes heimatkundlichen Anstrichs, aber nicht der Verklammerung mit dem maßgeblichen Th.wesen im G r o ß r a u m der U m w e l t entbehren sollte. D a ß die Th.historiographie einer Hauptstadt oder eines Landesteils nicht durch bloße Aneinanderreihung von Darstellungen einzelner Unternehmen, Direktionsperioden oder Epochen ersetzt werden kann, mag erklären, w a r u m in mehreren Fällen eine aus konstruktiver Aufbereitung vorhandener Detailarbeiten gewonnene Überschau bisher ausgeblieben ist. Epochenbegriffe, mit denen Ausschnitte aus der dt. T h g . begründet oder überschrieben zu werden pflegen, entsprechen selten dem Doppelwesen des Th.wesens als einer strukturell beharrlichen, geistig rastlosen Institution. D i e sehr divergierenden philologisch-historischen, kunsthistorischen, musikwissenschaftlichen Kenntnisse, die bei Forschungen z u m T h . im M A . und Barock, z u m T h . der Aufklärung oder seit dem späten 18. J h . unerläßlich sind, haben zu einer auch in N a c h b a r disziplinen üblichen Spezialisierung beigetragen. D e r jeweilige Zeitabschnitt rechtfertigt einen gewissen dramaturg. oder kunsthistor. oder musikologischen Überhang, dem das Hauptinteresse des Verfassers gilt, nur, wofern dadurch nicht die Funktion des Schauspielers und das theatrale Ereignis in den Schatten geraten. D e r Primärforschung k o m m t noch immer ein Schnittsystem entgegen, das die zeitliche und sachliche Dimension begrenzt verschränkt. Wilhelm R u s s o , Goethes Faust auf d. Berliner Bühnen (1924; GermStud. 32). Renate B r o c k p ä h l e r , Handbuch z. Gesch. d. Barockoper in Deutschland (1964; Schaubühne 62). Hellmuth Christian W o l f f , Oper. Szene u. Darstellung von

1600 bis 1900 (1968, Musikgesch. in Bildern 4, 1). Franz-Peter K o t h e s , Die theatralische Revue in Berlin und Wien: 1900-1938 (1977; Taschenbücherz. Musikwiss. 29). Ingeborg S t r u d t h o f f , Die Rezeption Georg Büchners durch d. dt. Theater (1957; Theater u. Drama 19). Richard H o d e r m a n n , Gesch. d. Gothaischen Hoftheaters 1775-1779 (1894; ThgFschgn. 9). Kurt R a e c k , Das Deutsche Theater zu Berlin unter der Direktion Adolph L'Arronge (1928; Mitt. d. Vereins f. d. Gesch. Berlins 45). Hellmuth Christian W o l f f , Die Barockoper in Hamburg (1678-1738). Bd. 1. 2. (1957). Hermann K a i s e r , Modernes Theater in Darmstadt 1910-1933. E. Beitr. z. Stilgesch. d. dt. Theaters zu Beginn d. 20. Jh.s (1955). Ders., Vom Zeittheater zur Sellner-Bühne. Das Landestheater von 1933 bis 1960 (1961). Wolf gang G r e i s e n e g g e r , Die Realität im religiösen Theater d. MA.s. E. Beitr. z. Rezeptionsforschung (Wien 1978; Wiener Fschgn. z. Theateru. Medienwiss. 1). Rudolf W e i l , Das Berliner Theaterpublikum unter A. W. Ifflands Direktion (1796 bis 1814) (1932; SchrGesThg. 44). Margret D i e t r i c h (Hg.), Das Burgtheater u. sein Publikum (Wien 1976; Veröff. d. Inst. f. Publikumsforschung 3). Friedrich Wolfgang K n e l l e s s e n , Agitation auf der Bühne. Das polit. Theater d. Weimarer Republik (1970; Schaubühne 67). Hans-Christof W ä c h t e r , Theater im Exil. Sozialgesch. d. dt. Exiltheaters 1933-1945. Mit e. Beitr. von Louis N a e f : Theater d. dt. Schweiz (1973). Hans D a i b e r , Deutsches Theater seit 1945 (1976). Gesamtdarstellungen: Hans Heinrich B o r c h e r d t , Gesch. d. dt. Theaters. StammlerAufr. 2. Aufl. Bd. 3 (1962) Sp. 1099-1244. Günter S c h ö n e , 1000Jahre dt. Theater. 914-1914 (1962; Bibl. d. German. Nationalmuseums 20/21). Friedrich M i c h a e l , Gesch. d. dt. Theaters (1969; ReclamUB 8344/47). Hans K n u d s e n , Dt. Theatergesch. (2. Aufl. 1970; Kröners Taschenausg. 270). In übernationalem Zusammenhang: Heinz K i n d e r m a n n (s. unter § 1). Margot B e r t h o l d , Weltgesch. d. Theaters (1968). Herbert A. F r e n z e l , Geschichte d. Theaters. Daten u. Dokumente 1470-1840 (1979; dtv-Taschenb. 4301). Zur theoret. Begründung s. auch: Berit E r b e , Spirit and Necessity of Comparative Theatre HistoryasanAcademicSubject. Maske u. Kothurn 25 (1979) S. 103-109.

B. N a c h d e m A n t e i l an d e r P r o d u k t i o n . § 8. D i e T r ä g e r , O r g a n i s a t o r e n , V e r w a l t u n g e n a l s P r o d u k t i o n s p l a n e r . D a das Th.ereignis sich durch die Trias von Text b z w . Szenenentwurf, Schauspielern, Zuschauern konstituiert, sind die unternehmerische und die gestaltende Produktion die V o r p r o -

Theatergeschichte, Deutsche duktion einer vom sofortigen Verbrauch abhängigen Kunstware. Im Vergleich mit anderer Kunst kann Th. nur bedingt vorrätig gehalten oder für materielle sowie geistige Investitionen zu einem späteren Zeitpunkt entschädigt werden. Für die Kirche im MA. war das geistliche Th. eine Dienstleistung, deren Entgegennahme sie voraussetzen durfte und die sie den gläubigen Zuschauern ohne besonderes Entgelt erbrachte. Schul- und Ordensth. waren intern Unterrichtsproduktion, extern Festveranstaltung mit humanist. oder konfessioneller Lehre. Die Handwerker produzierten bürgerliches Th. mit sich und für sich. Für den Adel im Barock blieb Th. ein Element der zwar kostspieligen, jedoch kaum entbehrlichen gesellschaftl. Aktivität, Selbstdarstellung und Repräsentation, bis er nicht mehr höfisches Th.spiel, sondern ein auch der Öffentlichkeit zugängliches Hofth. betrieb und längerfristig vorher nur gelegentlich in den Hofstaat eingegliederte Professionelle engagierte. Diese Professionellen hatten seit dem 17. Jh. die Struktur der Prinzipalschaft ausgebildet, bei der das Unternehmertum und die künstlerische Leitung personell vereinigt waren. Als Herzog Ernst II. von Gotha 1775 eins der bedeutendsten Ensembles in Gleichstellung mit den übrigen Hofbeamten übernahm und das Hofmarschallamt mit der Ober-Direktion beauftragte, wurde E k h o f als einer der beiden dieser Instanz unterstellten Direktoren für den künstlerischen Bereich, Heinrich August Ottokar R e i c h a r d für Verwaltung und Finanzen zuständig. Den Schauspielern seines Nationalth.s (s. Nationaltheater) in Wien billigte Kaiser J o s e p h II. eine am Beispiel der ComédieFrançaise orientierte Selbständigkeit in den Angelegenheiten ihrer Kunst zu, doch griff er persönlich mehr als die von ihm formell vorgesehene Hofbehörde in den täglichen Produktionsablauf ein. Obwohl sich die neu formierten Bühnen der Residenzen von den Modellfällen Gotha, Wien, Mannheim, Berlin in Einzelheiten ihrer Organisation unterschieden, wirkte der ehemals für die Produktionslenkung maßgebende und in der Produktion selbst tätige Prinzipal nun als artistischer Direktor und Angestellter unter einer meist von Adeligen nebenamtlich ausgeübten Oberdirektion oder Intendanz. Aus dem anfänglichen Nebenamt des Intendanten entwickelte sich eine für das 19. Jh. kennzeichnende selbständige Hofcharge, mit der bis 1918 auch einige Bürger-

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liche betraut wurden. Das laienhafte Interesse für Th. und Musik, das einen Adeligen für den Posten des Intendanten empfohlen haben mochte, brauchte die sachverständige Tätigkeit des artistischen Direktors nicht zu tangieren. Sobald der Intendant durch wirkliche Erfahrung im Th.wesen ausgewiesen war oder zu sein schien, pflegte der gelernte Fachmann alter Observanz überflüssig oder mindestens lästig zu werden. Die Intendanz entfaltete sich als ein behördenmäßig gegliederter Apparat, der Intendant konzentrierte dabei die wichtigsten künstlerischen Befugnisse auf sich, und der Direktor fungierte als Oberregisseur. Als einige Höfe nicht mehr fähig oder willens waren, das von ihnen begründete Th. aufrechtzuerhalten und die durch Bürgerinitiativen im 18. Jh. vereinzelt, im 19. Jh. häufiger entstandenen Th.gebäude zwecks Substanzsicherung von Stadtbehörden übernommen wurden oder Städte eigene Th. erbauten, spitzte sich das Problem der staatlichen sowie kommunalen Fürsorge für ein Th.wesen zu, das von allen fortschrittlichen Kräften als kulturelle Institution begriffen wurde und nicht länger eine Anstalt zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen der Einwohner sein sollte, öffentliche Verantwortung mehrte die finanzielle Belastung der Behörden, die sich durch Kompetenzerweiterung abzusichern trachteten, während die 1868 eingeführte Gewerbefreiheit die Zahl der Ensembles jeglicher Gattung erhöhte, die Konkurrenz verschärfte und die obrigkeitliche Unterstützung ruinierter Direktionen sowie erwerbslos gewordener Th.schaffender zu einer sozialen Frage werden ließ, die jahrzehntelang divergierend beantwortet worden ist. Im Zuge der polit. Neuordnung 1918 wurden die Hofth. von den Ländern und die Pachtbetriebe der Städte in städtische Verwaltung übernommen. Seit den 30er Jahren wurden im Deutschen Reich sowie in den nachfolgenden Staaten entgegengesetzte Methoden der öffentlichen Verwaltung, Indienstnahme, Stützung des Th.wesens praktiziert. Als Produktionsbedingungen sind sie bei der histor. Darstellung der eigentlichen Kunstereignisse ebensowenig auszusparen wie die Organisationen der Zuschauer, die seit dem ausgehenden 19. Jh. aus Abnehmern von Th.Produktionen, deren sich die Bühnen durch Dauermieten oder Abonnements möglichst im voraus versicherten, zu bestimmenden, ob-

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gleich schwer kalkulierbaren Faktoren bei der Produktionsplanung der auf sie angewiesenen Unternehmer oder Verwaltungen und sogar zu wettbewerbsfähigen Produzenten wurden. Theater — das gewagte Unternehmen. Kurt Raeck zum 75. Geh. (1978; Kleine SchrGesThg. 29/30). Herbert E i c h h o r n , Konrad Ernst Ackermann, e. dt. Theaterprinzipal (1965; Schaubühne 64). Wilhelm K l e i n , Der Preußische Staat u. d. Theater im Jahre 1848 (1924; SchrGesThg. 33). Rolf D ü n n w a l d , Der dt. Intendant de jure. Kleine SchrGesThg. 28 (1976) S. 17-36. Siegfried N e s t r i e p k e , Gesch. d. Volksbühne Berlin. Teil 1: 1890 bis 1914 (1930). Manfred R e h b i n d e r , d. dt.sprachigen Lit. zum Recht d. Bibliographie Bühne (1977; SchrGesThg. 66).

§ 9. Die A u t o r e n , D r a m a t u r g e n , R e g i s seure, B ü h n e n g e s t a l t e r als P r o d u z e n t e n der Schemata szenischer A k t i o n e n . Am schematischen Entwurf des nicht identisch, nur analog wiederholbaren Th.ereignisses ist auch der im Produktionsprozeß sichtbar agierende Schauspieler beteiligt, aber in der Regel konzipieren andere das mittels Proben noch auszuformende Inszenierungsschema. Dieses, in seiner einfachsten Form ein Szenar, ist formell überwiegend Text, jedoch mit spezifischen Qualitäten, zunächst der, daß er artikulierbar ist oder gemacht werden und dabei seelischen sowie körperlichen Bewegungen zugeordnet sein kann, die er auslöst, begleitet, ergänzt, verdeutlicht, verschlüsselt, verbirgt. Obgleich die „mimische Darstellbarkeit", die Hebbel im Vorwort zu Maria Magdalene das allein untrügliche Kriterium des gedichteten Textes nannte, noch wiss. Definition bedarf, schränkt sie die rein poetolog. Beurteilung von szenisch strukturierter Dichtung ein. Der zugleich reale und hintergründige Charakter von Bühnentexten, bei denen sich literar. Bedeutung und szenische Verwertbarkeit verbinden, impliziert mindestens eine Lesefähigkeit, mit der das intendierte menschliche Instrumentarium erkannt, Raum- und Bewegungsvorstellungen des Autors wahrgenommen sowie Klangqualitäten herausgehört werden. Das Th. realisiert die ihm zugedachten Texte im Rahmen seiner künstlerischen sowie materiellen Produktionsmöglichkeiten und unter der Voraussetzung einer kooperationsbereiten Zuschauerschaft. Die Divergenz zwischen der Rezeption gedruckter Texte und derjenigen gespielter Texte gehört zu der allgemeinen

Phasenverschiebung, die eine synchrone Behandlung von Litg. und Thg. erschwert. Autoren sind als progressive Individualitäten häufiger ihrer Zeit voraus als das komplexe Th. der jeweiligen Hochkultur. Die unmittelbare Vergegenwärtigung der eine Epoche überholenden oder sich ihr widersetzenden Texte vollzieht sich eher auf alternativen Szenen in einem von offiziellen Bühnen gelassenen Freiraum, wie ihn sich die Volksth. in Wien, Berlin, München beispielhaft zunutze machten. Der einzelne Text, von der traditionellen Dichtungshistoriographie ungeachtet einer etwaigen Bedeutungslosigkeit bei seinem ersten Erscheinen nach seinem überzeitlichen Wert bemessen, ordnet sich in der Thg. in einen Spielplan ein, innerhalb dessen er auch trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit eine herausragende Stelle einzunehmen vermag. Von den in einen Spielplan integrierten Texten, zu denen musikalisch angereicherte und musikalisch überformte gehören können, entziehen sich nicht wenige den Bemessungsgrundlagen klassizist. Dramaturgien. Sehr wohl aber ist gerade an ihnen zu erforschen, in welcher Weise Bühnenautor und Th.publikum miteinander korrespondieren. Daß der Dramatiker mit seinem schriftlichen Entwurf eine Wirkung bei Zuschauern, nicht Lesern, bezweckt, sollte seit A r i s t o t e l e s unbestritten sein. Die Überlegungen, wie Szenare unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation mit dem Publikum zu gestalten wären, haben sich in vielfältigen Methodenlehren niedergeschlagen, die von feinsinnigen Beobachtungen an Meisterwerken bis zu populären Anweisungen über die angeblich zu erlernenden Techniken reichen. Jedoch wird die Gültigkeit selbst klassischer Dramaturgien durch neu hervortretende Textformen relativiert, die das Th. mit Gewinn aufgriff. Visionärer Umgang mit Th., ohne dessen Realität zu kennen, braucht nicht unreproduzierbare Texte zu verschulden; er hat in Ausnahmefällen das reale Th. verändert. In der Regel aber entsteht das Vorprodukt Text in einer gewissen Nähe zur Produktionsstätte. Th.dichter sind unter dieser Bezeichnung im 18. Jh. engagiert worden, um die tägliche Not der Spielplangestaltung zu beheben, indem sie dem Prinzipal ihre Gewandtheit in der Verfertigung oder Zubereitung von Stücken und Gelegenheitsprodukten liehen. Schiller, in Mannheim ein unter Vertrag genommener Bühnenschriftsteller, entfaltete in Weimar

Theatergeschichte, Deutsche theoretisch und praktisch eine Dramaturgentätigkeit, die zusammen mit der von Schink, Schmieder, Vulpius, K o t z e b u e die Funktion des ursprünglichen Prinzipalassistenten zur Position des einflußreichen Repertoiredezernenten innerhalb der Th.leitung ausweitete, bis auch Dramatiker-Dramaturgen gelegentlich zu Direktoren einer Bühne berufen wurden. Die literar. Verantwortung für eine von divergierenden Komponenten abhängige Produktion sowie die Mitbestimmung bei der Vorproduktion auf den Proben ist seit der Berufung Josef S c h r e y v o g e l s an das Burgth. in Wien sowie T i e c k s an das Hofth. in Dresden die spezifische Problematik einer inzwischen außer an Bühnen bei Th.Verlagen und modernen Medien eingesetzten Berufsgruppe. Die Bezeichnung Produktionsdramaturgie für eine an manchen Orten neuerdings praktizierte Heranziehung der gern in ihre endegenen Büros verwiesenen Dramaturgen (s. Dramaturgie) deutet auf ein wach gewordenes oder zu schärfendes Bewußtsein davon, daß die Prüfung eines Textes auf Spielbarkeit, dessen sprachliche sowie strukturelle Bearbeitung, die dem gegenwärtigen Th. gemäße Aktualisierung einer histor. Vorlage (s. Bühnenbearbeitung) erst in der Vorproduktion mit den Schauspielern enden und daß sonstiges Fachwissen eines Dramaturgen noch dann in die Inszenierung einfließen könnte. In dem Prozeß der verstehenden Entfaltung des Textes zum Schema des Th.ereignisses wird Regie zur Gewähr einer harmonisierten Aktion. Zwar schreitet der neuzeitliche Regisseur nicht mehr als Regens ludi mit der Dirigierrolle vor versammeltem Publikum durch die von ihm gelenkten Darsteller, aber er lenkt die Vorproduktion auf Grund einer abgeschlossenen oder sich rundenden Konzeption von den Intentionen, die der Prätext eines dramat. Textes vermittelt. Die im 18. Jh. als Spielleitung eingeführte Regie erhob die Überwachung des Probenablaufs, eine gewisse Koordinierung der von den Fachdarstellern aus Routine getroffenen Wahl des Auftretens oder Abgehens sowie der Positionen oder Gruppierungen, die Korrektur von Fehlbetonungen, die Ausmerzung von Dialekt u. a. zur Festlegung der Sprechtempi, dialogischen Verzahnung, Gestik, Gänge und funktionierte das stereotype Accessoire von Kostüm und Bühnendekoration zur objektbezogenen Ausstattung um. Dabei ist die Mitautorschaft am

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schematischen Entwurf des Th.kunstwerks das Prüffeld einer besonderen Begabung für die szenische Verwirklichung eigener Vorstellungen mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Schauspieler und im Rahmen technischer Ausführbarkeit geworden. Eigene Vorstellungen eines Regisseurs sind für Inhaber von Autorenrechten sowie für Apologeten des Primats von Autor und Text sehr leicht eigenwillige, jedoch weisen gerade die als klassisch ausgegebenen Bühnendichtungen einen engen Funktionszusammenhang mit der zeitgenössischen Th.form auf, den der Inszenator ersetzen muß, will er ihn nicht nostalgisch rekapitulieren. Ein Primat des Dramas oder der Oper gegenüber dem Th. ließe sich eher daraus ableiten, daß Werke sich selbst gewichtigen Inszenierungsmodellen wie denjenigen Wagners oder Bert B r e c h t s an Dauerhaftigkeit überlegen zeigten. Regiebücher variieren zwischen Absichtserklärungen und durch Regieassistenten fixierten Protokollen aller während der Proben vollendeten inszenatorischen Aktivitäten. Max Reinhardt konzipierte mit seinem von W. Passow kritisch edierten Regiebuch zu Faust I die Raumorganisation, das Bühnenbild, die Beleuchtung, das Wesen, Empfinden, Denken der Figuren sowie deren Stellungen und Bewegungen, aber dieses Provisorium aus persönlicher optisch-akustischer Intuition wurde nicht autokratisch einstudiert. Reinhardt hielt die gründliche Planung, jedoch auch die Korrektur der Konzeption durch die Improvisation auf der Probe für unerläßlich und die schöpferische Mitarbeit der Schauspieler, am ehesten durch Vorspielen ihrer Intentionen, für berechtigt. Ähnliche Regiebuchanalysen hätten das Spektrum der nicht mehr von bewährten Auff.smustern oder im Handel erhältlichen Szenarien abgeleiteten, sondern individualisierten Inszenierungsweisen zu erhellen. Bei korrekter Interpretation des Terminus Regisseur im engeren Sinn setzt die Entwicklung der Regie in der dt. Thg. erst nach langen Perioden einer Inszenierungspraxis ein, die sich vornehmlich die szenisch-dekorative Realisierung von Texten angelegen sein ließ. Die Erforschung der dt. Bühnenformen weist bezüglich der nebeneinander gestellten Loca im MA. oder der Kulissenbühne der Neuzeit die Varianten internationaler Typen nach, denen eine konstitutive Bedeutung für die jeweiligen Inszenierungen zukommt. Wie das

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Theatergeschichte, Deutsche

technische Instrumentarium drängten sich auch Kostüm und Dekoration, ursprünglich Symbole als Informationshilfen, vor das Wort, das sich in der Oper nicht selten einer rein musikalischen Ubertönung erwehren mußte. Um das Schau- und Hörangebot zu verbessern, sind der Zuschauerraum nach akustischen und optischen Grundsätzen entworfen und die Szene geräumiger, verwandlungsfähiger, illusionsförderlicher angelegt worden, bis die der Wissenschaft entlehnte Theorie der historisch-geographischen Richtigkeit die Scheinwirklichkeit der Bühne vergessen lehrte und deren Kunstcharakter durch Produktionen mit garantiert echten Materialien nach dem Vorbild der Meininger und eines rigorosen Naturalismus gefährdete. In Phasen bedrohlicher Stagnation meldeten Architekten, Maler, Erfinder Reformforderungen an. Th.bau, anfänglich ein Kapitel in enzyklopädischen Behandlungen der Zivilbaukunst, später als Spezialaufgabe ausgeklammert oder in die Kategorie der Versammlungsbauten eingegliedert, Kostüm, Bühnenbild, Beleuchtung u.a. sind für die Erforschung der dt. Thg. relevante Objekte, sofern sie auch dem Kriterium der funktionellen Eignung genügen. Rudolf S c h l ö s s e r , Vom Hamburger Nationaltheater zur Gothaer Hofbühne. 1767-1779. Dreizehn Jahre aus der Entwicklung e. dt. Theaterspielplans (1895; ThgFschgn. 13). Rolf S i e b e r t D i d c z u h n , Der Theaterdichter (1938; Theater u. Drama 11). Paul F. H o f f m a n n , Friedrich Ludwig Schröder als Dramaturg u. Regisseur (1939; SchrGesThg. 52). Gertrud Rudloff-Hille, Schiller auf d. dt. Bühne s. Zeit (1969; Beiträge z. dt. Klassik 20). Volker K l o t z , Dramaturgie d. Publikums (1976; Lit. als Kunst). Ders., Bürgerliches Lachtheater. Komödie-Posse-SchwankOperette (1980; dtv-Taschenb. 4357). Roswitha F l a t z , Krieg im Frieden. Das aktuelle Militärstück auf d. Theater d. dt. Kaiserreichs (1976; Studien z. Philos. u. Lit. d. 19. Jh.s 30). Dt. Dramaturgie d. Sechziger Jahre. Ausgewählte Texte. In Zusammenarb. mit Peter Seibert hg. v. Helmut K r e u z e r (1974; Dt. Texte 31). Regie in Dokumentation, Forschung u. Lehre hg. v. Margret D i e t r i c h (Salzburg 1975; Festschrift f. Heinz Kindermann). Wilfried P a s s o w , Max Reinhardts Regiebuch zu ,Faust /'. Bd. 1.2. (1971; Münchener Beiträge z. Theaterwiss. 1). Ders., Das gedruckte Szenarium in Deutschland. Kleine SchrGesThg. 25 (1972) S. 45-59. Manfred L i n k e , Gustav Lindemann. Regie am Düsseldorfer Schauspielhaus (1969).

Wolfgang F. M i c h a e l , Frühformen d. dt. Bühne (1963; SchrGesThg. 62). Günter S c h ö n e , Die Entwicklung d. Perspektivbühne von Serlio bis Galli-Bihiena nach d. Perspektivbüchern (1933; Nachdr. 1977; ThgFschgn. 43.). Harald Z i e l s k e , Logenhaus u. Illusionsbühne — Problemfall im neuzeitlichen Theaterbau, in: Der Raum des Theaters. Beiträge zum (8. Welt-) Kongreß (der Internat. Federation f. Theatre Research) München 1977, S. 2 4 - 4 5 . Herbert A. F r e n z e l , Brandenburg-preußische Schloßtheater (1959; SchrGesThg. 59). Ders., Thüringische Schloßtheater (1965; SchrGesThg. 63). Harald Z i e l s k e , Dt. Theaterbauten bis zum zweiten Weltkrieg (1971; SchrGesThg. 65). Kurt S o m m e r f e l d , Die Bühneneinrichtungen d. Mannheimer Nationaltheaters unter Dalbergs Leitung (1778-1803) (1927; SchrGesThg. 36). Carl N i e s sen, Das Bühnenbild. Ein kulturgeschichtlicher Atlas ( 1 9 2 4 - 1 9 2 7 ) . Ottmar S c h u b e r t h , Das Bühnenbild (1955). Bühne u. bildende Kunst im 20. Jh., hg. v. Henning R i s c h b i e t e r , dokumentiert v. Wolfgang S t o r c h (1968). BühnenformenBühnenräume—Bühnendekorationen. Beiträge z. Entwicklung d. Spielorts. Herbert A. Frenzel z. 65. Geb. hg. v. Rolf B a d e n h a u s e n u. Harald Z i e l s k e (1974). Ekhart B e r c k e n h a g e n u. Gretel W a g n e r , Bretter, die die Welt bedeuten. Entwürfe z. Theaterdekor u. z. Bühnenkostüm in fünf Jh.en (1978; Veröff. d. Kunstbibl. Berlin 78). Marlis R a d k e - S t e g h , Der Theatervorhang. Ursprung, Geschichte, Funktion. (1978; Dt. Studien 32). Walther U n r u h , Theatertechnik (1969). Gösta M. B e r g m a n , Lighting in the Theatre (Stockholm 1977).

§ 10. D i e S c h a u s p i e l e r als C o p r o d u z e n t e n der I n s z e n i e r u n g s s c h e m a t a und H a n d e l n d e im P r o d u k t i o n s p r o z e ß . Die Leistung der Schauspieler während des Th.ereignisses ist die analoge Ausführung der Modelle, die von ihnen während der Proben unter Zugrundelegung der ihnen übertragenen Rollen nach Maßgabe ihrer Individualitäten erarbeitet wurden. Die besondere Kunst des Schauspielers, Schauspielkunst also nicht als vages Synonym für Th. oder Th.kunst, wird einerseits nur durch eine ihr gestellte szenische Aufgabe, andrerseits erst durch einen Verstehensakt von Zuschauenden konstituiert. Die Determination der Kunst des Schauspielers durch einen wörtlich, stichwörtlich oder gedanklich fixierten Auftrag, die auch deren ästhetischen Rang bestimmt, legt bei der historiographischen Erkennung der auf einer Spielfläche sichtbar gewordenen Aktionen die Einbeziehung von Textstellen nahe, die ent-

Theatergeschichte, Deutsche weder Darstellungspartikel förmlich vorschreiben oder mindestens anzuregen scheinen. Zwar erlauben Texte, die auf eine Produktionsgruppe zugeschnitten waren oder die von Darstellern für sich selber und ein ihnen gemäßes Ensemble hergestellt wurden, Rückschlüsse auf die Konkretisierung, insbesondere aber sind Änderungen in Text- und Soufflierbüchern, Striche, Hinzufügungen, stilist. Retuschen, Spuren persönlicher Durcharbeitung in Rollenheften für die Intentionen aufschlußreich, von deren Wahrnehmung im Th.ereignis die Quellengruppe der Berichte, Streitschriften, Briefe, Memoiren zeugt. Der fragmentarische Charakter der Überreste und die sporadische Tradition lehren die Forschung das Detail schätzen, das einen Stil zu markieren vermag. Theorien und Abhandlungen zur Schauspielkunst sowie Lehrbücher, ältere zum Gebrauch in allgemeinbildenden Schulen, jüngere zur Vorbereitung auf den Th.beruf, förderten Untersuchungen über die Entwicklung der Kunstregeln und Unterrichtssysteme, die philosophisch begründet, mit Mimik, Physiognomik, Psychologie abgestützt oder aus Erfahrungen abgeleitet und immer wieder reformiert worden sind. Die Veranschaulichung schauspielerischer Leistungen der Vergangenheit setzt die Kompatibilität der Erkenntnisbelege über die künstlerischen Intentionen mit denjenigen über die Rezeption der Zuschauer voraus. Die oft hohe Qualität zeitgenöss. Rollenbeschreibungen, die unter dem Eindruck eines Th.ereignisses abgefaßt wurden, prädestinieren sie zum unkommentierten Zitat oder zur Verschmelzung mit Quellen entgegengerichteter Provenienz. Aber die auf solche Weise entstandenen Mischbilder von ehemaligen Produktionsverläufen bleiben durch die eigene Situation jedes Historikers bedingt. Andrerseits müßten nur nach Kategorien wie Stimme, Diktion, Körperhaltung, Mimik, Gestik geordnete Befunde über den Einsatz der sog. darstellerischen Mittel noch mit verfeinerten Rastern in einer Terminologie aufbereitet werden, in der die Veränderungen des Fachjargons geortet und relativiert sein sollten. Theatromanie hat den Schauspieler zu einem höheren, weil umfassender gebildeten Wesen stilisiert, populäre Moral Vorstellungen und vulgärwissenschaftliche Verlautbarungen erklärten seinen Charakter aus Nicht-Charakter, seinen Spiel- und Verwandlungstrieb aus

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einem Individualitätsdefizit. Unterscheidungen von Ich-Spielern und Er-Spielern, Verwandlern und Bekennern orientierten sich vornehmlich an Einzelnen, solche von Identifikation und Demonstration gingen als Programme einem Stilideal voraus. Die Kernfiguren des auf äußerster Perfektion beruhenden sog. Stegreifspiels (s. d.) und die vom 18. bis zum 19. Jh. üblich gewesenen Rollenfächer waren noch auf menschliche Grundstrukturen bezogen, die sich unter dem Einfluß von Realismus und Psychologie die Auflösung in vielfältige Variationen gefallen lassen mußten. Während der im Volksth. des Vormärz wiedererstandene alte Lustigmacher der Wandertruppen und der auf der Subkulturbühne agitatorisch improvisierende Intellektuelle mit schichtenspezifischen non-verbalen Informationsmitteln einen gleichsam zeitlosen Stil verkörpern, bilden der jeweils neue, unter jeweils anderen Prämissen aufkeimende Avantgardestil sowie dessen Auswirkung auf den verfestigten Zeitstil den eigentlichen Gegenstand der Historiographie. Im Avantgardestil kann sich vordergründig soziale Unangepaßtheit künstlerisch artikulieren, zum Antipoden jeglicher Schablone werden und die Regeneration betreiben, deren das Th.wesen allein schon wegen der Gefahr personeller Uberalterung bedarf. Abfolge von Einzelstilen wird sinnfällig, wenn sie an Standardrollen vergleichend vorgeführt werden kann, obwohl auch das Tertium comparationis nicht frei von eigenen Interpretationsschwankungen ist. Die Quellenlage verführt gelegentlich zur Ausweitung individueller Merkmale auf einen kollektiven Stil sowie zur Vernachlässigung der gleichzeitig mit der Avantgarde virulent und publikumswirksam gewesenen Strömungen. Schon im 18. Jh. spielten in Leipzig, Frankfurt, Breslau neben- oder kurz nacheinander mehrere Ensembles, und die Ausstrahlung konsequenter Reformbühnen war lange regional begrenzt. Max H e r r m a n n , Die Entstehung d. berufsmäßigen Schauspielkunst im Altertum u. in d. Neuzeit. Hg. v. Ruth Mövius (1962). Franz L a n g , Abhandlungen über d. Schauspielkunst. Ubers, u. hg. v. Alexander Rudin (1975). Hans O b e r l ä n d e r , Die geistige Entwicklung d. dt. Schauspielkunst im 18. Jh. (1898; ThgFschgn. 15). Bertolt B r e c h t , Über Schauspielkunst. Hg. v. Werner Hecht (1973). Bernhard D i e b o l d , Das

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Theatergeschichte, Deutsche — Tischzucht

Rollenfach im dt. Theaterhetrieh des 18. Jh.s (1913; ThgFschgn. 25). Carl Ludwig C o s t e n o b l e , Tagebücher von s. Jugend bis zur Übersiedlung nach Wien (1818) hg. v. Alexander von Weilen. 2 Bde. (1912; SchrGesThg. 18 u. 19). Eduard G e n a s t , Aus dem Tagebuche e. alten Schauspielers. 4. Tie (1862-1866). Carl S e y d e l m a n n , Rollenhefte, hg. v. Max Grube (1915; SchrGesThg. 25). Monty J a c o b s , Dt. Schauspielkunst. Zeugnisse zur Bühnengeschichte klass. Rollen (1913; Neuausg. v. Eva Stahl 1954). Bärbel R u d i n , Der Prinzipal Heinrich Wilhelm Benecke und seine „Wienerische" und „Hochfürstlich Bayreuthische" Schauspielergesellschaft. Mittlgn. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nürnberg 62 (1975) S. 179-232. Reinhart M e y e r , Von d. Wanderbühne z. Hof- u. Nationaltheater, in: Sozialgeschichte d. dt. Lit. Hg. v. Rolf Grimminger Bd. 3 (1980) S. 186-216. Günter S c h u l z , Die Entwicklung d. Schauspielerengagements in Deutschland vom 17. bis zum 19. Jh. (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1956. Irmgard L a s k u s , Friederike Bethmann-Unzelmann (1927; ThgFschgn. 37). Julius B a b , Die Devrients. Gesch. e. dt. -Theaterfamilie (1932). Helene R i c h t e r , Schauspieler-Charakteristiken (1914; ThgFschgn. 27). Max G r u b e , Gesch. d. Meininger (1926).

§ 11. D a s P u b l i k u m als M o d i f i k a t o r des P r o d u k t i o n s a b l a u f s . Alle Intentionen der Th.Produzenten, sind einer nur generell einkalkuliérbaren Rezeption durch die Zuschauer unterworfen, die den Produktionsablauf modifiziert. Untersuchungen über allgemeine geistige und ökonomische Voraussetzungen des potentiellen Publikums sowie statist. Belege über die Abnahme eines Produktionsangebots verifizieren noch nicht, in welcher Weise eine szenische Darbietung durch ein Publikum infolge seines Erwartungshorizonts modifiziert und infolge seines Urteilsvermögens aufgefaßt worden ist. Diese Erhellung ist offensichtlich für einzelne weit zurückliegende Th.ereignisse fast nie, für Inszenierungen der jüngeren Vergangenheit in Sonderfällen erzielbar. Unter Hinweis auf die in § 3 erwähnte und dokumentierte Intensivierung der Publikumsforschung sei unter dem Gesichtspunkt dieses § 11 bemerkt, daß Interaktionen von Produzenten und Rezipienten von künftigen Historikern auf Grund unverstellter Bild- und Tonaufnahmen sowie einiger noch im Erprobungsstadium befindlicher Methoden der Beweissicherung leichter und genauer wiederzugeben sein werden. Herbert A. Frenzel

Tischzucht § 1. Für alle menschlichen Gemeinschaften ist seit je das Vorhandensein bestimmter N o r m e n charakteristisch, in denen das Verhalten, vor allem das gegenseitige Verhalten auf den verschiedensten Gebieten zwischenmenschlichen Verkehrs geregelt wird. Das Bedürfnis an derartigen Normen ist unabhängig von Zeiten, Räumen, Gesellschaftssystemen oder sozialen Ordnungen, doch ist die Aufstellung konkreter Vorschriften vielfach durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflußt oder gar bedingt. Zeitabhängig ist insbesondere die schriftliche Fixierung solcher Vorschriften und ihre eventuelle Tradierung als didaktische Literatur. In diesem Sinne versteht man unter T.en eine Reihe überwiegend kurzer, kulturhistorisch interessanter dt. Texte des hohen und ausklingenden MA.s, in denen A n s t a n d bei Tisch gelehrt wird. Zielen die älteren von ihnen auf eine ritterlich-höfische Gesellschaft ab, so reflektieren die jüngeren gewandelte Verhältnisse, in denen das hochmal. Höfische zum bürgerlich Höflichen adaptiert worden ist. Daraus ergeben sich im einzelnen signifikante Unterschiede hinsichtlich der Darstellungsart, aber auch der sprachlichen und formalen Ansprüche dieser traditionell in Reimpaaren abgefaßten, insgesamt jedoch poetisch reizlosen Texte. Neben den dt. T.en gibt es Entsprechendes in anderen europäischen Sprachen. Quelle und auch literar. Vorbild für sie alle sind letztlich thematisch einschlägige lat. Merkverse aus geistlichem (klösterlichem) Erziehungsprogramm, die ihrerseits in langer, aus der Spätantike heraufreichender Tradition stehen. Verse über gute Manieren beim Essen und Trinken stehen hier verstreut unter allgemeinen Anstandsregeln. Das weitestverbreitete Schulbuch dieser Art waren die sog. Disticha Catonis (4. Jh.); auf sie bezieht sich, in der Absicht, sie zu ergänzen, ein ebenfalls lat. Facetus (spätes 12. Jh.). Von beiden Lehrgedichten gibt es zahlreiche Hss. und auch noch Drucke, die im einzelnen vielfach Abänderungen und Erweiterungen aufweisen. Das gilt ebenso für die verschiedenen dt. Ubers, und Bearb. dieser Texte, die in vielen Hss. und Drucken des 15. und 16. Jh.s erhalten sind. Der Cato ist seit der Mitte des 13. Jh.s mehrfach, der Facetus in oder nach der Mitte des 14. Jh.s übersetzt worden; zu Überliefe-

Tischzucht rung, Ausgaben und Lit. vgl. P. Kesting, Cato, Verf. Lex. 2. Aufl. 1 (1978) 1192-1196 sowie R. Schnell, Facetus, ebda 2 (1980) 700-703. Der Weg aus diesem Raum heraus und die Entstehung volkssprachlicher T.en im engeren Sinne erfolgt im Zuge der Herausbildung einer eigenständigen weldich-ritterlichen Formkultur. Das höfische Fest, dem ein zentraler Platz innerhalb der idealtypischen Lebensvorstellungen dieser Zeit zukommt, würde durch grobes Betragen seiner Teilnehmer eine Beeinträchtigung erfahren; es verlangt Menschen, die durch ihr Auftreten und ihre Handlungen dem Ideal gerecht werden und die so die allgemeine vröude des Festes zu steigern vermögen. Das geschieht nicht zuletzt durch gesittetes Essen und Trinken. Die einschlägigen dt. Texte werden daher von vornherein unter einem bestimmten Gesichtswinkel abgefaßt: sie belehren den, der zur gesellschaftlichen Oberschicht gehören will, sie zeigen, wie sich der höfische Mensch (im Unterschied zum unkultivierten dörper) zu benehmen hat. Die Kriterien, an denen sich Gebote und Verbote orientieren, sind denn auch die Leitbegriffe der höfischen Ethik: hövesch(eit); zuht, zühtec / unzühtec, wolgezogen / ungezogen; edelez Gebaren, aus dem ere erwächst; mäze beim Essen (im Gegensatz zu unmaezecheit, begir, vräzheit). Sie werden in die Anweisungen der spätmal.bürgerl. Texte übernommen, aber hier bezeichnenderweise um Ausdrücke wie kluoc(heit), weis(heit) und Vernunft ergänzt. Im späten 15. Jh. wird diese Art von T.en von einer anderen abgelöst, in der es (wie überhaupt in der didaktischen Lit.) üblich wird, den gewünschten Erfolg nicht durch Vorschriften für ein mustergültiges Verhalten anzustreben, sondern durch den satir. Preis des Gegenteils, also im Blick auf die Tischsitten: durch das Lob ungezügelten Saufens und Fressens (s. Grobianische Dichtung). § 2. Unter den zahlreichen Anweisungen für korrektes Verhalten bei Tisch ist zu scheiden zwischen solchen, die rein auf die E r z i e h u n g zu einem ,wohlanständigen' Benehmen abzielen, und anderen, die neben diesem Aspekt den der H y g i e n e als eigentlichen Anlaß der jeweiligen Forderung erkennen lassen. Hier sind auch am deutlichsten gewisse im Lauf der Zeit eingetretene Verschiebungen einsichtig zu machen, selbst wenn

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die Vorschrift als solche unverändert geblieben ist. So werden nicht gewaschene Hände heutzutage wohl zunächst als unästhetisch und erst in zweiter Linie als unhygienisch empfunden, während es im MA umgekehrt war. Solange die Gabel ungebräuchlich war und man statt dessen mit .Messer und Hand' speiste, in einer Zeit insbesondere der gemeinsamen Schüssel", in die jeder Tischgenosse mit der Hand langte, war das in den T.en stets obenan stehende Gebot der Händewaschung primär hygienisch begründet. Und .unappetitlich' ist im MA. nur das, was die (meist rechte) Hand betrifft, mit der man die gemeinsamen Speisen anfaßt: mit ihr soll man sich (während des Essens!) weder am (grindigen) Kopf noch an anderen Körperstellen kratzen, man soll mit ihr nicht in der Nase bohren und man soll sich, wenn nötig, in die andere (linke) Hand schneuzen oder ins eigene Gewand, nicht hingegen ins allgemeine Tischtuch. Sind das insoweit generelle Hygienegebote, so sind es die detaillierten Anweisungen hinsichtlich der Art, in der die Händewaschung vorzunehmen ist, natürlich nicht. Sie lassen vielmehr die ständische E i n b e t t u n g der Texte erkennen und reflektieren in der Schilderung eines übertriebenen Zeremoniells eher Wunschvorstellungen, als daß sie von allgemein erfüllbaren Normen bestimmt wären. In den gleichen Zusammenhang gehört alles, was die äußere Form regelt, vom Tischgebet über die Sitzordnung bis zur .höflichen' Konversation, von der Art, den Tisch zu decken, bis hin zum richtigen Halten des Messers bei Essen. Anweisungen, die oft begegnen und die eben weniger die hygienische Seite als vielmehr das gesittete Betragen betreffen — wie beispielsweise die folgenden: sich zuvörderst in sauberer Kleidung anständig hinzusetzen, sodann nicht mit vollem Mund zu sprechen; erst zu trinken, wenn man hintergekaut und sich den Mund abgewischt hat; bei Tisch nicht die Ellenbogen aufzustützen, nicht zu schmatzen, nicht zu rülpsen, nicht den Nasenschleim hochzuziehen; nicht zu kleckern, nicht die Speisen zu beriechen; nicht mit dem Messer im Mund zu stochern u. dgl. — zeigen einerseits die über Jh.e unvermindert bleibende Aktualität dieser Ermahnungen, andererseits aber auch den großen Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Zeit: Die — in literar. Form — von den T.en gegebenen

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Tischzucht

Anweisungen werden zwar, wie es das didaktische Schema verlangt, vom .Alten' ( = Erfahrenen) dem J u n g e n ' ( = Unerfahrenen) vermittelt, die lat. sind zudem Schulstoff, doch richten sich die dt. Texte in erster Linie wohl an e r w a c h s e n e Leute besseren Standes. Heutzutage hingegen gehören sie zur sogenannten ,Kinderstube' und sind Bestandteile elementarer Erziehung zu anständigem Verhalten bei Tisch und anderswo. Im übrigen aber führt eine ununterbrochene Linie von den mal. T.en zu den zahlreichen Anstandsbüchern des 19. und auch noch des 20. J h . s , in denen Tischsitten freilich nur Teil eines Gesamtprogramms sind und sich überdies nicht bei primitiven Anstandsregeln wie dem Verbot des Rülpsens oder Spuckens aufhalten. § 3. Knappe Regeln über anständiges Verhalten bei Tisch finden sich häufig bei mal. S p r u c h d i c h t e r n sowie in der d i d a k t i s c h e n L i t e r a t u r . Nicht selten weisen sie wörtliche Übereinstimmung mit Versen aus den dt. Fassungen der oben erwähnten Disticha Catonis oder des Facetus auf, oder sie stimmen auch zu Versen der gleich zu nennenden T.en. Die Frage der Priorität kann hier, wenn überhaupt, nur fallweise entschieden werden. Zuweilen — wie im Wälschen Gast des Thomasin von Zirclaria (hg. v. Heinrich Rückert [1852], Neudr. bes. v. Friedrich Neumann [1965], V . 471-526) können derartige Regeln zu umfänglicher Lehre anschwellen, so daß sie als inserierte T.en erscheinen und dann den selbständig überlieferten T.en nahekommen. Von diesen gibt es zahlreiche Texte, die großteils miteinander zusammenhängen. Nur einige sind namentlich erwähnenswert. Die älteste selbständige, in Sprache und Haltung höfisch bestimmte T . ist nur in einer einzigen Hs. aus dem Ende des 14. Jh.s ( Ö N B Cod. 2885, fol. 39 v -41 v ) überliefert. Sie läuft — wohl zu Unrecht — unter dem Namen des T a n n h ä u s e r s ( D a z ist des tanhawsers getickt vn ist gut bofzucht), stammt aber jedenfalls aus dessen Zeit (s. Hofzucht). Von ihr hängt ab die bürgerlich-verflachte sogenannte Rossauer T. ( Ö N B Ser. nova 2584, fol l v -3 r , Hs. des 14. J h . s ; geringfügig modifiziert auch in der Karlsruher Hs. N r . 408), mit der eine ganze Reihe von Texten in Verbindung steht, so auch ein ndt. Gedicht von ,der hindere houescheit' (Wolfenbüttel, Hs. Helmstad. 417, fol 123 v -124 v , [15. Jh.]),

und die zuweilen noch im 16. J h . als Einblattdrucke offenbar guten Absatz fanden wie jene Disch-zucht gemert und gebessert (gedr. Worms 1538), die in weiteren Drucken sowie in Hss. des 15. Jh.s verbreitet war. Zu nennen ist schließlich die im Liederbuch der Clara H a t z i e r in enthaltene T . , die in ihrer Hausbackenheit typisch für die bei den T.en bis zum späten 15. J h . eingetretene Entwicklung ist. Es steht im Einklang mit dem starken erzieherischen Zug, der für die besten Werke der höfischen Lit. charakteristisch ist, insbesondere mit der hier üblichen Schilderung idealtypischer Verhältnisse und musterhaften Benehmens der handelnden Personen, daß uns in diesen Dichtungen immer wieder der ä u ß e r e R a h m e n , innerhalb dessen T . vonnöten ist, vorgeführt wird. Gelegenheit hierzu bieten die vielen Feste, zu denen jeweils das aufwendige Festmahl gehört. Das gilt keineswegs nur für den sogenannten höf. Roman, sondern trifft auch für Werke anderer Thematik zu, sofern sich ihr Autor den Idealen der ritterlich-höf. Formkultur verpflichtet weiß und eine entsprechende Einstellung bei seinem angesprochenen Publikum voraussetzt. So berichtet etwa K o n r a d v o n F u s s e s b r u n n e n in seiner Kindheit Jesu (hg. von Hans Fromm u. Klaus Grubmüller [1973]): Als die Heilige Familie auf der Rückreise aus Ägypten im Hause eines wohlgesinnten Räubers Einkehr hielt, da veranstaltete dieser für seine Gäste ein großes Essen, und der Dichter unterrichtet nun sein Publikum genau über die Anordnung der Tafel, über das Benehmen der Gäste, der Diener usw., ja er vergißt nicht belehrend anzumerken, daß die Tischgenossen keineswegs dichtgedrängt saßen, vielmehr eine maezliche wite (V. 2414) zwischen sich ließen, damit hinreichend Platz für die Schüsseln blieb und man sich im übrigen beim Essen nicht gegenseitig behinderte. So wirken die in den T.en direkt gegebenen Anweisungen zu einem guten Benehmen und die Darstellung von Situationen, in denen diese Anweisungen in die Tat umgesetzt sind, bei der Erziehung zu einem höfisch-kultivierten Verhalten zusammen. Ausgaben: Dichtungen d. 16. Jh.s. Hg. v. Emil W e l l e r (1874; BibLitV. 119) S. 48-58; 59-77 (Disch-zucht, gemert und gebessert). Moritz G e y e r , Altdt. Tischzuchten (1882; Jahresber. d. Gymn. zu Altenburg 1881/82). Höfische Tisch-

Tischzucht — Titel züchten. Hg. v. Thomas Perry T h o r n t o n (1957; Texte d. späten MA.s, H . 4); Grobianische Tischzuchten, hg. v. Thomas Perry T h o r n t o n (1957; TextspMA. 5). Einzelne Texte: Ein Spruch der ze tische kert, in: Friedrich Z a r n c k e (Hg.), Der dt. Cato (1852) S. 136-140. Johannes S i e b e r t , Der Dichter Tannhäuser (1934) S. 194-203. Rossauer Tischzucht. Hg. v. M. H a u p t , ZfdA. 7 (1849) S. 174-177. Erfurter Tischregeln. Hg. v. K. M e y e r , ZfdA. 36 (1892) S. 56-63 (dazu Ph. S t r a u c h , ebda S. 367f.). Niederdeutsche Tischzucht. Hg. v. A. L ü b b e n , Germania 21 (1876) S. 242-430. Der kindere hovescheit. Hg. von E. S i e v e r s , ZfdA. (1877) S. 60-65. Sieghurger Tischzucht. Hg. v. A. S c h m i d t , ZfdA. 28 (1884) S. 64-67. Das Liederbuch der Clara Hätzlerin. Hg. v. Carl H a l t a u s (1840; Nachdr. 1966; Bibl. d. ges. dt. Nationallit. I, 8) S. 276-278. Studien: Paul M e r k e r , Die Tischzuchtliteratur d. 12.-16. Jh.s. Mittlgn. d. dt. Ges. z. Erforschung vaterl. Spr. u. Altertümer in Leipzig. Bd. 11 (1913/20) S. 1-52. Johanna Glora N e u e r , The Historical Development of Tischzuchtliteratur in Germany. (Masch.) Diss., Univ. of California, Los Angeles (1970).

Achim Masser

Titel § 1. B e g r i f f : Der T. bildet in neuerer Zeit einen festen Bestandteil des Buches, wobei gleichgültig bleibt, ob er vom Autor selbst erfunden oder mit dessen Einverständnis vom Verleger gegeben wird. Deshalb genießen T. von Zeitschriften und Druckschriften, auch wenn diese anonym oder pseudonym erscheinen, nach § 16 des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb urheberrechtlichen Schutz, wenn sie eigentümlich, kennzeichnend und unterscheidungskräftig sind. Der Schutz eines T.s erlischt nicht dadurch, daß die Auflage des Buches vergriffen ist, wohl aber bei einem gegenständlich und inhaltlich völlig überholten Werk, das nicht mehr benutzt wird. Jedoch kann die Verwendung eines T.s, für den ein wettbewerblicher Titelschutz nicht mehr besteht, für ein anderes Werk unter dem Gesichtspunkt der Irreführung des Verkehrs gegen §§ 1—3 verstoßen, z. B. wenn der falsche Eindruck entsteht, es handele sich um eine Fortsetzung des alten Werkes. Vor Änderung des T.s durch den Inhaber des Nutzungsrechts (Verleger) ohne Einwilligung des Urhebers schützt § 39 des Urheberrechtsgesetzes vom 9. 9. 1965 sowie § 13 des Verlagsgesetzes, ab-

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gesehen von Änderungen, für die der Verfasser seine Einwilligung nach Treu und Glauben nicht versagen kann. Daß der Verleger als Interessent für den Absatz und Fachmann für die Publikumserwartung in vielen Fällen den Titel mitbestimmt oder selbst prägt, liegt seit der Erfindung des Buchdrucks in der Natur der Sache und auch im Interesse des Autors. Nur bereits berühmte Autoren können es sich leisten, den Rat des Verlegers auszuschlagen. Dem Buch Oswald Spenglers Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte wäre der Welterfolg versagt geblieben, wenn nicht der Verleger mit Gespür für die Zeitstimmung (1918) als Obertitel Der Untergang des Abendlandes hinzugesetzt hätte. Das W o r t T. wurde in der antiken Bibliothek geprägt, wo die zusammengerollten Buchrollen in SpezialStändern nebeneinander standen und am oberen Rand einen Pergamentstreifen mit Inhaltsangabe (Verfasser und Titel) trugen. Dieser heraushängende Streifen hieß griech. sillybos, lat. index und dann vorwiegend titulus. Es war ein weiter Weg von diesem bibliothekarischen Aushängezettel zu einem selbständigen, zum Buche gehörigen T.blatt bzw. von der antiken Buchrolle über den handgeschriebenen Codex bis zum gedruckten Buch und Buch-Massenvertrieb. Dazwischen liegt eine Zeit, in der alle T.angaben am Schluß des Textes standen und dann auch an den Anfang des Textes schrittweise übertragen wurden. Seitdem überhaupt feste T. üblich wurden, ist das Problem des T.s im Prinzip unabhängig von der Länge des Textes und ob der Text einzeln oder in Sammlungen dargeboten wird. Da jedoch bald nach Erfindung des Buchdrucks der Buchtitel für den Absatz relevant wurde, trennen sich seit Beginn der Neuzeit Buchtitel und T. kleinerer, nicht einzeln verbreiteter Texte. Ihr T., besonders der T. einzelner G e d i c h t e muß als Sonderproblem der Poetologie und Interpretation hier ausgeschieden werden, wo es sich um den Buchtitel als Objekt der literar. Kommunikation handelt. Die künstlerische Gestaltung des T i t e l b l a t t s wiederum ist ein weites Feld, das Schriftkunst, Buchkunst und Illustrationskunst einschließt und ebenfalls über den Rahmen dieses Artikels hinausführen würde. Zum juristischen Problem: Adolf B a u m b a c h , Wettbewerbsrecht (12. Aufl. 1978; Beck'sche

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Kurz-Kommentare 99) S. 1413-1420. Ludwig L e i s s , Verlagsgesetz. Kommentar (1973; Samml. Guttentag) S. 136—142. Philipp M ö h r i n g u. Käte N i c o l i n i , Urheberrechtgesetz (1970) S. 264—268. Hildegard K r ö s s n e r , Wie schützt man wirksam einen Titeli Der Literat 14 (1972) S. 253-255. Zum T. in der Antike: Wilh. S c h u b a r t , Das Buch bei d. Griechen u. Römern (2. Aufl. 1921; Handb. d. Staatl. Museen zu Berlin 12) S. 9 8 - 1 0 4 ; 139f. Ernst N a c h m a n s o n , Dergriech. Buchtitel. Einige Beobachtungen (Göteborg 1941; Nachdr. 1969; Libelli 169). Karl-Erik H e n r i k s s o n , Griech. Büchertitel in d. röm. Zeit (Helsinki 1956; Suomalaisen tiedeakatemian toimituksia B. 102,1). G e r d a F i n s t e r e r - S t u b e r , Geistige Väter d. Abendlandes. E. Samml. v. hundert Buchtiteln antiker Autoren. Hrsg. u. beschrieben. Mit e. Essay v. Walter R ü e g g (1960). E g i d i u s S c h m a l z r i e d t , [legi g>voewg (1970). Zum Gedichttitel: Johannes K u h n e n , Die Gedieht-Überschrift. Versuch e. Gliederung nach Arten u. Leistungen. (Masch, vervielf.) Diss. Frankfurt a . M . 1953. Hans-Jürgen W i l k e , Die Gedicht-Überschrift. Versuche, histor.-systemat. Entwicklung. (Masch, vervielf.) Diss. Frankfurt a . M . 1955. Anneliese D ü h m e r t , Von wem ist das Gedicht? E. bibliograph. Zusammenstellung aus 50 dt.sprachigen Anthologien (1969). Zur Verfasseridentifizierung: Max S c h n e i d e r , Dt. Titelbuch (2. Aufl. 1927; Nachdr. 1965 u. d. T . : Dt. Titelbuch 1). Heinz-Jörg A h n e r t , Dt. Titelbuch 2. 1915-1965 mit Nachtr. u. Berichtigungen zum 'Dt. Titelbuch 1' für d. Zeit von 1900-1914 (1966). A. D ü h m e r t : s. o. Für Dramentitel ist neben Joseph G r e g o r s Schauspielführer (1953ff.) hilfreich: Wilh. A l l g a y e r , Dramenlexikon. E. Wegweiser zu etwa 10.000 urheberrechtl. geschützten Bühnenwerken d. Jahre 1945—1957 u. Nachtr. 1957-1960. 2 Bde (19581962). Siehe weitere Hinweise in: Robert F. A r n o l d , Allgemeine Bücherkunde zur neueren dt. Lit. gesch. 4. Aufl. neu bearb. v. Herbert J a c o b (1966) S. 91.

§ 2. Lateinische H a n d s c h r i f t e n . Wichtiger als der bibliothekarische titulus war für die antike Buchrolle der-Explicit-T. am Schluß des Textes, der am geschütztesten war inmitten der Rolle, während der Anfang leicht beschädigt werden konnte. Beim Übergang zum lagenweise gebundenen Codex hielt man am ExplicitT. fest, fügte jedoch meist am Anfang einen Incipit-T. zu, der ebenfalls Verfasser und Werk nannte. Das war also eine Art Uberschrift, zumal wenn er durch rote Tinte herausgehoben wurde, etwa Incipit opus Fortunati presbiteri; Incipit Uber, qui cantatorium dicitur.

Abgesehen von der Explicit- und IncipitEinkleidung werden Liber, Libellus, Opus, opera vorangestellt, also etwa Incipit opus Paulini Petricordia de vita saneti Martini episcopi. Daneben gibt es gattungsbestimmte T. wie Breviarium, Abbreviatio, Breviloquium, Compendium oder inhaltsbestimmte T. wie Geometria, Arithmetica, Grammatica, Dialectica, aber auch allegorische T. wie Catena aurea de virtutibus, Gemma animae, Clavis physicae, Scala major, Scala minor. Historia scholastica dient als T. für eine erklärende Nacherzählung des Alten und Neuen Testaments durch Petrus Comestor (f 1179). Zahllos sind die SpeculumT., angefangen vom Speculum ecclesiae für ein homiletisches Priesterhandbuch des Honorius Augustodunensis (12. Jh.) und dem Speculum universale für eine komplette Glaubenslehre des Radulfus Ardens (1200) bis zu Engelberts Speculum virtutum, einem Fürstenspiegel für die Söhne der Habsburger (1298), und dem berühmten Speculum humanae salvationis (14.Jh.). Jedoch fand die Äbtissin Hrotswita von Gandersheim (f 973) für ihre Lesedramen bereits so prägnante T. wie Conversio Gallicani prineipis militiae und Lapsus et conversio Mariae nuptis Hebrahae herimicolae. Paul L e h m a n n , Mittelalterliche Buchtitel. 1. 2. SBAkMchn, Phil.-hist. Kl. 1948, 4 u. 1953, 3, wiederholt in: Lehmann, Erforschung d. MA.s. Bd. 5 (1962) S. 1 - 9 9 . Gerhard L o h s e , Einiges über mal. Büchertitel, in: Bibliothekswelt u. Lit.gesch. Festgabe f . Joachim Wieder. Hg. v. Peter Schweigier (1977) S. 170-186.

§ 3. D e u t s c h e H a n d s c h r i f t e n . In der frühen dt. Dichtung gab es keine vom Autor gewollten oder herausgestellten T. Beim mündlichen Vortrag wurden einleitende Worte gesprochen, die bei der schriftlichen Fixierung wegfielen. Viele uns geläufige T. stammen von den Herausgebern des 19. Jh.s, so Wessobrunner Gebet für eine Dichtung vom Weltanfang und Muspilli, ein aus dem Text herausgegriffenes unverständliches Wort für eine Dichtung vom Weltuntergang. Jedoch machte in der volkssprachlichen Lit. bald das lat. Vorbild Schule, so wenn die franz. Gregor-Biographie die lat. Uberschrift Incipit vita saneti Gregorii bekam oder ein mittelengl. Drama den T. Hic incipit interludium de clerico et puella. Die Stargarder Bruchstücke von Lambrechts Tobiasdichtung sind Liber Tobia überschrieben, obwohl v. 122 die biblische

Titel Quelle buoch Toby genannt wird. Das von Heinrich dem Löwen ( f l l 9 5 ) in Auftrag gegebene dt. Kompendium des theologischen und allgemeinen Wissens erhielt vom Verfasser den lat. T . Lucidarius im Anklang an seine Hauptquelle, das Elucidarium des Honorius Augustodunensis. Bei Nachbildung lat. Vorlagen wird oft der lat. Original-T. beibehalten, so Physiologus, Contemptus mundi, Ars moriendi, Rosarium, Paradisus. Die dt.sprachige mystische Schrift Davids von Augsburg erscheint als Speculum virtutum (1260), und Tilo von Kulm nennt seine heilsgeschichtliche dt.sprachige Dichtung im Prolog und im Explicit Libellus septum sigillorum (1331). In der Vorauer Sammelhs. dt. religiöser Dichtungen (1185) ist der Beginn der einzelnen Texte nur durch große Initialen hervorgehoben. In der Straßburg-Molsheimer Sammelhs. dagegen (1187) sind bereits vier Uberschriften eingeschoben. Drei von ihnen ahmen lat. Incipit-Uberschriften nach: Hie get ane daz buoch von der heiligen latenien, Hie get ane daz buoch von pilato, Hie hebit sich ane daz buoch, daz do heizzet von deme gelauben; die vierte kürzt in Diz ist Alexander. Alle vier Dichtungen haben entprechende Explicit, beginnend mit Hi ist u.Z. Solche Incipit-Uberschriften finden sich auch weiterhin häufig, etwa Hi hebet sich gregorius an in Hs. A von Hartmans Gregorius oder, etwas gekürzt Dis ist von dem armen Heinrich für Hartmans Dichtung in der verbrannten Straßburger Sammelhs. (A). Die Fassung B des Nibelungenlieds (Cod. Sangall. 857 von 1260) verzichtet auf eine Überschrift, bringt aber in der letzten Strophe den Explicit-T. Hie hat daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge not. Da dieser T. eigentlich nur auf den zweiten Teil, den Untergang der Burgunder, paßt, ändert die wohl 1206 in Auftrag gegebene glättende Fassung C die letzten Worte um zu Daz ist der Nibelunge liet. Dementsprechend bringt die älteste Hs. der Fassung C (Donaueschingen 63, 1. Hälfte des 13.Jh.s) eine rote Überschrift Aventiure von den Nibelungen, die (wie auch die Zwischenüberschriften der späteren Hs. A) den Begriff aventiure aus dem Artusroman in das Heldenepos überträgt. Das mag auch den Schreiber der ältesten bruchstückhaft überlieferten Hs. E von Hartmanns Armen Heinrich ermutigt haben, Hartmanns Dichtung Aventiure von kern heinrich owere von swaben zu nennen.

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Die Vorlagen beider Hss. werden die Uberschriften noch statt mit aventiure mit maere begonnen haben, da beide Dichtungen in der ersten Zeile von maere sprechen, auch bringt die erwähnte Straßburger Sammelhs. eine entsprechende Uberschrift Dise maere ist von der minnen für Konrads von Würzburg Herzmaere. Als steter Anhang zu allen Nibelungenhss. hat die Nibelungenklage nur das einfache Explicit Ditze liet heizt diu klage. Von den vorwiegend mündlich verbreiteten Dietrichepen haben nur zwei ein Explicit: Hie hat diz buoch ein ende und heizt Alpharts tot und Sus endet sich Ecken liet. Manche Dichtungen wurden nach den im Mittelpunkt stehenden Gegenständen benannt, so der anläßlich der Uberführung des Trierer heiligen Rockes in den Domhauptaltar gedichtete Orendel mit dem Autor-T. Der grawe rock, Heinrichs von dem Türlin Der Mantel (1210; der Schwerpunkt liegt in der Anprobe eines Tugendmantels), die Minnerede des Meisters Altswert Der kittel (2. Hälfte des 14.Jh.s) und die Moralsatire Des teuf eis netz (1441). Andere Dichtungen wollen mit ihren sehr allgemein gehaltenen T. Erwartungen wecken, ohne den T. vorauszunehmen, so Bliggers von Steinach Der umbehang (1200), der wahrscheinlich einen Zyklus von Artuserzählungen mit einem gestickten Wandteppich voller Einzelszenen verglich. Ähnliche Erwartungen erweckte der 30000 Verse zählende Ritterroman Heinrichs von dem Türlin Diu cröne (1215), Thomasins von Zerclaere Welscher gast (1216), Freidanks Spruch Weisheiten Bescheidenheit (1230), Hugos von Trimberg Renner (1300), d. h. „reitender Bote" (die erste Fassung hieß Der samenaere, d.h. „Sammler"), Ulrich Boners Fabelsammlung Der edelstein (1350), Heinrich Wittenwylers lehrhaft-allegorische Erzählung Der ring (1410) sowie Hans Vintlers Pluemen der tugent (1411), eine novellistisch ausgeschmückte Auseinandersetzung mit 17 Tugenden und den ihnen entgegenstehenden Lastern (im Grunde eine Ubersetzung des T. der Hauptvorlage Fiore di virtu). Bei den schwankhaften Mären wird im T. oft stichwortartig der Inhalt angedeutet, so bei Herrand von Wildonje (Mitte des 13.Jh.s) Diu getrew kone, Von dem ploßen kayser, Des münches not, bei Sibot Der vrouwe zucht, ferner Der sperwaere, Der vrouwen turnei, Der vrouwen triuwe, Von Metzen höchzit. Die großen auf einzelne Gestalten bezogenen Dich-

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tungen gingen, ohne daß das bei der Niederschrift zum Ausdruck gebracht wurde, unter dem Namen ihrer Haupthelden (Erec, Iwein, Parzival, Alexander) oder bei Bearbeitungen, Ergänzungen, Fortsetzungen mit entsprechendem Zusatz wie Der newe Parzival von Claus Wisse und Philipp Colin (1336). Eine IncipitÜberschrift bekam allerdings der Lohengrin in Pal. g. 634 (14. Jh.) Hie hebt sich an Lohengrin daz buoch. Interessant ist, daß bei Dichtungen mit zwei Gestalten im Mittelpunkt die Uberlieferung nur die erste im T. nennt. Dies geht wahrscheinlich auf den Autor selbst zurück bei Gottfrieds Tristan (ohne Isold) und Konrad Flecks Floyris (ohne Blancheflur). Otto II. von Freising nannte selbst seine Dichtung nur Barlaam (1220), wo wir Barlaam und Josaphat erwarten, und Johannes von Tepl bezeichnet in seinem Widmungsbrief an P. Rothers sein 'Gespräch zwischen Ackermann und Tod' thematisch richtig als invectio contra mortem, sagt aber in der Adresse cum libello ackerman, greift also denjenigen Gesprächspartner heraus, der ihm als Sprachrohr des eigenen Schmerzes näher stand, aber auch als allegorische Bezeichnung des ,Schreibers mit der Feder als Pflug' markanter erschien; der heute geläufige T. Der Ackermann aus Böhmen zeigt, wie auch literaturwiss. Konventionen (hier seit der ersten wiss. Ausg. des Ackermann von J . Knieschek, 1877) einen T. prägen können. Diese Methode, ein auffälliges Wort als T. herauszugreifen, wird in manchen mal. Lyrik-Hss. auf die Spitze getrieben. Die Sammlung der Gedichte Neitharts von Reuental Hs. c trägt als Gesamt-T. Etweu C des Neitharts rayen, gibt aber bei vielen der sich stark ähnelnden Gedichte Einzeltitel, die einfach ein auffälliges Textwort herausstellen, z. B. Die pfann (35), Das gripphoren (36), Teikorn (120). Der T. Der reidebar (79) geht auf Str. 5, 8 bei seinem reiden bare zurück, ist also Kürzung für ,Der Raye, in dem gekräuseltes Haar vorkommt'. Der Schreiber hat diese Überschriften bereits aus seiner Vorlage, denn öfters ist das Wort im T. entstellt, im Text aber richtig geschrieben, so Nr. 15 domstein statt donnerstein, Nr. 45 suwerkubel statt sükubel.

Bei mystischer und lehrhafter Dichtung wurden thematische oder sachbestimmte T. vom Autor gegeben, um die Leser anzulocken; einprägsame Beispiele sind: Mechthilds von Magdeburg Ein vliessendes lieht der gotheit (1265), Seuses (f 1366) Büchlein der ewigen Weisheit und Büchlein der wàrheit, Ottos von

Passau Die 24 alten oder der gülden thron der minnenden sele (1386). Konrad Dangkrotzheim betitelte seine volkstümlich-didaktischen Dichtungen Von allerlei hausrat (1431) und Heilig namenbuoch (1435). Edward S c h r ö d e r , Aus d. Anfängen d. dt. Büchertitels. GGN, Phil.-hist. Kl., Fachgr. II, N F , 2, 1 (1937) S. 1-48. Ders., Echte, rechte, schlechte T. in d. altdt. Lit.gesch. Imprimatur 8 (1938) S. 153-160. Gerhart L o h s e , Hildebrandlied — Jüngeres Hildebrandlied. E. Beitr. z. Gesch. d. dt. Buchtitels, in: Bibliothek, Buch, Geschichte. Festgabe f. Fr. Ad. Schmidt-Künsemüller. Hg. v. Otfried Weber (1977) S. 189-198. Hellmut R o s e n f e l d , Telkorner u. verwandte Bezeichnungen in sprachlicher Hinsicht u. Neitharts 'teikorn'. Bayer. Jb. f. Volkskunde 1956, S. 108-113. Ders., Ein neu aufgefundenes Fragment von Hartmans 'Armen Heinrich' aus Benediktbeuern. ZfdA. 98 (1969) S. 40-64, bes. 47-51. F. J. W o r s t b r o c k , Über d. T. d. 'Krone' Heinrichs von dem Türlin. ZfdA 95 (1966) S. 182-186.

§ 4. F r ü h d r u c k u n d T i t e l b l a t t . Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg bringt zunächst hinsichtlich des T.s keine Neuerung. Gutenberg und die ersten Drucker bemühten sich, die schönsten Hss. getreulich nachzubilden. Mithin übernehmen sie die Explicit- und Incipit-T., wenn auch nicht konsequent. Jedoch regte der Brauch des Explicit an, hier die Angaben über Drucker, Druckort und Druckdatum anzuschließen. Gutenbergs 42zeilige Bibel von 1453—1455, hat weder Explicit noch Impressum und beginnt mit Incipit epistola sancti Hieronymi, also nicht mit dem zu erwartenden T., sondern mit dem Hinweis auf den die meisten lat. Bibelausgaben einleitenden Hieronymus-Brief. Das noch von Gutenberg selbst vorbereitete Psalterium Moguntinum von 1457 ist das erste Druckwerk, das in der Schlußschrift das Datum des Druckabschlusses und die Drucker, die Mainzer Johannes Fust und Peter Schöffer, nennt. Diese geben noch 1466 den T. in Incipit-Form: Marci Tulli Ciceronis Arpinatis consulisque romani ac oratoris maximi ad M. Tullium Ciceronem filium suum officiorum Uber incipit. Inzwischen war längst das (in der Wissenschaft fälschlich als Türkenkalender bezeichnete) Büchlein erschienen, das mit der Uberschrift Eyn manunge der cristenheit widder die durken (1454) den ältesten gedruckten T. bringt. Es ist also das volkstümliche Propagandabuch, das zuerst zum T. hinfindet. Auch

Titel die päpstliche Bulle, die zum Kreuzzug gegen die Türken 1456 aufruft, erscheint in Mainz in dt. Sprache und mit einer allerdings etwas weitschweifigen Uberschrift von sechs Zeilen, beginnend Dis ist die bulla und der ablas. Da die Drucker gern das erste Blatt zum Schutz des ungebunden verkauften Druckes (als Schmutztitel) frei ließen, wurde für die Kreuzzugsbulle von Papst Pius II. erstmals dieses sonst freibleibende Blatt 1463 als T.blatt benutzt. Die lat. Ausgabe hat in der großen Psaltertype den lapidaren T. Bulla cruciata sanctissimi domini nostri papae contra turchos. Die ebenfalls in Mainz bei Fust und Schöffer gedruckte dt.sprachige Ausgabe bringt den T. auch im Ausdruck volkstümlicher Disz ist die bul zu dutsch die unser allerheiligster vatter der babst Pius gesant hait widder die snoden ungleubigen turcken. Diesem Vorbild folgt Arnold Therhoernen in Köln 1470 in seinem Büchlein Sermo de praesentatione beatae Mariae von Werner Rolevinck mit einem anpreisenden T. in neun Zeilen. Der Ackermann aus Böhmen (1401) hat schon in der für uns erst 1449 einsetzenden Uberlieferung in Sammelhss. eine Argumentum-Überschrift (Inhaltsangabe in mehreren Sätzen). Der Drucker Martin Flach in Basel nimmt solch ein elfzeiliges Argumentum mit einem Holzschnitt (Ackermann und Tod am Bett der Gestorbenen) 1473 als T.seite. Der Wundarzt, Meistersinger und Fastnachtspieldichter Hans Folz in Nürnberg, der seine Werke selber druckte, folgte diesem Beispiel. Sein Spruch Krieg wider einen Juden 1479 weist einen solchen Argumentum-T. nebst Impressum auf der ersten Seite unter einem Holzschnitt mit den Gesprächspartnern auf. Sein Liet von dem lob der ee bzw. Wider den pösen rauch (1480) bringt in zwei verschiedenen Drucken den T. über Titelholzschnitten, bei seinem Fastnachtspiel Von den, die sich die weiber nerrn lossen (1480) unter dem T.holzschnitt (alle drei ohne Impressum). Ähnlich ist es bei Johann Bergmann von Olpe in Basel. Der T. Der Ritter von Turn von den Exempeln der gotsforcht und erbarkeit (1493) steht über dem T.holzschnitt. Sebastian Brants epochemachendes Werk (1494), für das wahrscheinlich der junge Dürer die Holzschnitte entwarf, trägt auf der ersten und zweiten Seite auf bzw. über den T.holzschnitten den schlichten T. Das Narren schyff, während alle näheren Angaben über Verfasser, Zweck, Druckort,

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Drucker, Druckjahr in der Schlußschrift vor dem Register gebracht werden. Man kann also sagen, daß das T.blatt für kleinere und volkstümliche Drucke erfunden wurde, damit man diese Drucke, auf Bretter geheftet, dem Publikum auf dem Markt oder vor dem Haus des Buchhändlers als Anreiz zum Kauf ausstellen konnte. Dagegen haben umfangreichere Werke solche anpreisenden oder anlockenden T.blätter nicht nötig, weil sie nur auf Bestellung gedruckt oder nur durch direktes Angebot beim Fachmann abgesetzt werden konnten. Das von Jean Dupre 1481 gedruckte Missale für die Diözese Verdun hat auf dem ersten Blatt nur den zweizeiligen T. Missale ad usum Virdunensis ecclesie. Dementsprechend wurde das große 1483 von Hans Otmar in Reutlingen gedruckte Werk von Vincenz Gruner nur mit dem T. Oficj misse totius canonisque expositio versehen; Druckort, Drucker und Druckjahr blieben als Kolophon am Schluß. Anton Koberger in Nürnberg achtete bei der kostbaren, mit zahlreichen Holzschnitten ausgestatteten Weltchronik Hartmann Schedels den T. so gering, daß er den Text ohne Incipit beginnt und nur dem vorangestellten Register einen xylographischen, d. h. vollständig in Holz geschnitzten sechszeiligen umrankten T. gab: Register des buchs der croniken und geschichten mit figuren und pildnissen an anbeginn der weit bis auf unsere Zeit. Der Verfasser wird auch in der Schlußschrift verschwiegen, die weitschweifig den Ubersetzer ins Deutsche, den Drucker, die beiden Geldgeber, die beiden Illustratoren und das genaue Datum der Vollendung des Druckes nennt. Das erste im modernen Sinne vollständige T.blatt mit allen Angaben einschließlich Verleger, Drucker, Ort und Jahr finden wir in vierzehn Druckzeilen verschiedenen Schriftgrades typographisch schön erstellt durch den Leipziger Drucker Wolfgang Stockei bei Johannes von Glogaus Exercitium super tractatus parvorum logicalium Petri Hispani (1500). Seitdem setzen die Drucker meist die Impressumsangaben zum Titel. Zum mindesten wird ein eigenständiges T.blatt zur Regel. Karl Schottenloher, Der Holzschnitt-T. im Buch d. Frühdruckzeit. Buch u. Schrift 2 (1928) S. 9-15. Gustav Adolf Ernst Bogeng, Über d. Entstehung «. Fortbildung d. T.blattes. Buch u. Schrift 3 (1929) S. 75-94. Gerhard Kiessling, Die Anfänge d. T.blattes in d. Blütezeit d. dt.

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Holzschnitts 1470-3530. Buch u. Schrift 3 (1929) S. 9-45. Rudolf H i r s c h , The Earliest Development of Title Pages 1470-1479, in: Hirsch, The Printed World (London 1978), T. XVII, S. 1-13.

§ 5. R e f o r m a t i o n s z e i t a l t e r . Schon 1476/ 1478 hatte der Augsburger Erhard Ratdold in Venedig bei seinen Ausgaben von Regiomontans Kalender in lat., ital. und dt. Sprache den T. auf allen vier Seiten mit ornamentalen Holzschnittrandleisten eingerahmt. Im 16. Jh. wurde aus solchen Anfängen der figürliche und szenische Titelrahmenholzschnitt. Die hervorragendsten Künstler wie Hans Baidung, Hans Holbein, Urs Graf, Jost Amman, Tobias Stimmer haben solche Rahmenholzschnitte für bestimmte Bücher geschaffen, die wegen ihrer künstlerischen Schönheit dann immer wieder verwandt wurden, dabei auch für Bücher ganz anderen Themas, wie Baidungs TiergartenRahmenholzschnitt von 1514 für eine Flugschrift Luthers von 1520, zu der sie thematisch überhaupt nicht paßte. Diese künstlerischen T.rahmen, zunächst im Holzschnitt, später auch im Kupferstich, haben die Form des T.s in keiner Weise beeinflußt und gehören deshalb ganz zur Geschichte der Buchillustration. Luthers F l u g s c h r i f t e n (s. d.), ob sie nun mit T.rahmen erschienen oder ohne solche, brauchten keine Anpreisungen wie die kleinen Drucke des 15. Jh.s und fanden wegen ihrer Aktualität allein durch den Verfassernamen reißenden Absatz und viele Nachdrucke. Ihr T. bleibt von lapidarer Einfachheit Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520), Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern (1525), Ob Kriegsleute auch in seligen Stande sein können (1526). Auch die Gegner antworteten mit gleicher der Aktualität dieses geistigen Kampfes angemessenen Kürze, etwa Von dem grossen Lutherischen Narren, wie in doctor Munter beschworen hat (1522) oder Hieronymus Emsers An den Stier zu "Wittenberg (1521) oder Johann Cochlaeus' Siben Köpffe Martini Luthers vom Hochwürdigen Sacrament des Altars (1529). Je mehr sich das geistige Ringen um Wahrheit und Gottesverehrung in Einzelstreitereien verzettelte, desto mehr schwollen die polemischen T. an. Schon bei der frühen humanist. Satire gegen unwissende Mönche, den Epistolae ob-

scurorum virorum, verlängert sich der T. durch Adressierung an einen bestimmten fingierten Magister auf sechs Zeilen (1517). Johann Eberlin von Günzburg fügt dem Obertitel seiner eigentlich der Geldentwertung nachgehenden Streitschrift gegen die Ausbeutung durch die Pfaffen Mich wundert, das kein gelt ihm land ist (1524) einen Untertitel Ein schimpflich, doch unschedlich gesprech drayer Landtfarer über yetz gemelten tyttel sowie noch einen dritten erklärenden Satz an den Leser hinzu. Die von einem angeblichen Daniel van Soest verfaßte Satire Ein gemeyne Bicht weitet durch eine ndd. Inhaltsangabe den T. auf sieben Druckzeilen aus (1539). Diese Methode steigert sich bei Johann Fischarts Aller Practic Grosmuoter (1570) zu einem sprachschöpferisch-marktschreierischen Groß-T. von sechzig Worten, der so viel interpretationsbedürftige Anspielungen enthält, daß der Leser des T.s suggestiv zu Kauf und Lektüre verleitet wurde. Einen Rückschlag zur lapidaren Kürze der Flugschriften-T. aus der reformatorischen Kampfzeit brachte die protestant. T e u f e l l i t e r a t u r (s. d.). Hatte Brants Narrenschiff 1494 die Sünden als .Narrheiten', d. h. als durch bessere Belehrung ausrottbare Unwissenheit verharmlost, so sah Luther in seiner Gewissensnot hinter allen Lastern die reale Existenz des Teufels als Urheber alles Bösen. Diese metaphysische Aufwertung des Teufels wurde bei Luthers Nachfahren zu einem bequemen Denkschema zur Bekämpfung einzelner Laster, Verirrungen und Modetorheiten. Den Anfang machte Johannes Chryseus mit seinem fünfaktigen Daniel-Drama Hoffteufel (1545) gegen die Ränke an Fürstenhöfen und Andreas Musculus mit Vom Hosenteufel (1556 u.ö.), Wider den Eheteufel (1556 u. ö.), und Wider den Fluchteufel (1561 u.ö.). Es folgen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten andere mit Jagd-, Sauf-, Juncker-, Geiz-, Wucher-, Faul-, Hoffahrt-, Zauber-, Haus-, Bann-, Gesind-, Gelehrten-, Tanz-, Spiel-, Huren-, Pestilenz-, Melancholie-, Spekulations-, Sabbat-, Sorgen-, Eid-, Pfründenbescheide-, Gerichts-, Sakrament-, Kleider-, Neid-, Schmeichler-, Bettel-Teufel. Als Nachfahren gibt es 1603 einen Schul-, 1604 einen Gewissensteufel, 1638 einen Soldatenteufel, 1661 Schönsten-, 1664 Verzweiflungs-, Goldmacher-, 1669, Sauf-, 1673 Fastnacht-, 1675 Alamode-, 1677 Tanz-, 1678 Sauf-, 1679 Laster-, 1680 Müßiggang-Teufel, 1701 Neun Priesterteufel, 1721 H o r r e m s ' Arzneiteufel und noch 1791 (als Goethe die Direktion der Weimarer Bühne übernahm und Ifflands Jäger aufführte) Der Schriftstellerteufel.

Titel Gegenüber solchen kämpferischen Kurz-T. mußte die l e h r h a f t - u n t e r h a l t e n d e L i t e r a tur mit langatmigen Werbe-T. und Satz-T. ihre Produkte dem Käufer anpreisen. Der Franziskaner Johann Pauli gab seiner Schwanksammlung 1522 deshalb den T. Schimpf und Ernst heiset das buoch mit namen, durchlauft es der weit handlung mit ernstlichen und kurtzweiligen exemplen, parabolen und hystorien nützlich und guot zuo besserung der menschen. Er betont also den Nutzen und nicht das Entspannende fröhlicher Unterhaltung. Johannes Agricola hatte (wie Giovanni Pico della Mirandola Jahrzehnte zuvor) auch theoretisch den Menschen in den Mittelpunkt der Welt gestellt und deshalb als Zweck der Welt den sinnvollen Aufstieg der menschlichen Erkenntnis gesehen. Diesem Zwecke diente auch seine Sammlung Dreyhundert gemeyner Sprichwörter, der wir Deutschen uns gehrauchen und doch nicht wissen, woher sie kommen (1529), der noch zwei weitere Teile nachfolgten. Der T. verspricht nur indirekt in Form der Frage die dann wirklich gegebene Auslegung. Deutlicher wird Sebastian Franck mit seinem T. Sprichwörter, schöne weise herrliche Clugreden und Hoffsprüch beschrieben und ausgelegt (1541). Mit der gleichen Tendenz, aber kürzerem T. gibt Andreas Gärtner Teutsche Sprichwörter von den Sitten und gantzen Leben der Menschen (1566) in Reimen, während das Volksbuch Sechshundertsibenundzwantzig Historien von Claus Narren (1572) diese ,feine schimpfliche wort' wie die anderen ihre Sprichwörter zur bürgerlichen und christlichen Lere wie andere Apologen dienstlich und förderlich anpreist. Zutreffender betont Jakob Frey in dem elfzeiligen T. seiner Gartengesellschaft, daß diese Schwanksammlung beim Lesen die schweren verdrossenen Gemüter wider zu recreiren und aufzuheben geeignet sei (1565). Melanchthon und Luther hatten den moralischen Nutzen der Tierfabel verfochten. Erst bei seiner zweiten Ausgabe schloß sich Erasmus Alberus dieser Auffassung mit dem neuen T. Das buch von der Tugend und Weißheit nemlich neunundvierzig Fabeln, der mehrer theil auß Esopo gezogen und mit guten Rheimen verkleret (1550) an, während der fromme Burkhard Waldis bei seiner Sammlung erstaunlicherweise bei einer reinen Neuheitswerbung beließ Esopus, gantz new gemacht und in Reimen gefaßt mit sampt hundert newen fabeln, vormals in Druck nicht gesehen noch außgangen (1548).

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Als neuer T.-Typ taucht bei der belehrenden Lit. die Vereinigung eines kurzen S c h 1 a g w o r tT.s mit einem längeren erklärenden S a c h - T . auf. Wir finden das schon bei Jörg Wickrams Die Zehen alter, nach gemeynem lauf der Welt mit vil schönen newen historien begriffen, auß der Bibel gezogen, fast nützlich zu lesen und zu hören . . . (1531) sowie in Das Rollwagenbüchlin, ein neuws vor unerhörts Büchlein, darinn vil güter schwenck und Historien begriffen werden . . . (1555). Friedrich Dedekinds Grobianus, De morum simplicitate (1549) und seine Bearbeitung, Caspar Scheidts Grobianus, Von groben sitten und unhöfflichen geberden . . . (1551) benutzen dabei als Schlagwort geschickt eine Personifikation, die geradezu zur Signatur der Zeit wurde. Ähnlich machte es Hans Wilhelm Kirchhof mit seinem Wendunmuth, darinnen fünffhundertundfünffzig höflicher, züchtiger und lustiger Historien, Schimpffreden und Gleichnüssen begriffen . . . (1563). Bei Johann Fischart finden wir diesen Schlagwort-T. oft: Eulenspiegel reimenweiß (1572), Nacht-Rab oder Nebelkrah (1570), Aller Practick Großmuoter (1572), Flöhhaz Weiber Traz (1573), Das glückhaft Schiff in Zürich (1578), Binenkorb (1579) u.a., jeweils einprägsame Kurz-T., gefolgt von einem längeren oft sprachschöpferisch redseligen Sach-T. Schon die erzählende L i t e r a t u r vom Ende des 15. Jh.s wurde im T. gern als .Historie' deklariert, z. B. die Prosaauflösung von Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich, die 1481 in Augsburg bei Anton Sorg als Ein schön und gantz kurtzweilig Historien von Hertzog Wilhelm aus Österreich . . . herauskam. Dem entspricht die Prosaauflösung des Wigalois von Wirnt von Gravenberg, die als History von dem edelen herren Wigalois von Rade (1519) gedruckt wird. ,Historie' kann als eine Art Gattungsbezeichnung für das erst im 17. Jh. eingebürgerte Wort ,Roman' gelten. So heißt es 1561 Der Hystorien vom Amadis auß Frankreich, sehr lieblich und kurtzweilig auch den jungen nützlich zu lesen . . . (1561) und Historia von D. Johann Fausten, den weit beschreyten Zauberer und Schwartzkünstler . . . (Frankfurt: Spieß 1587). Jedoch setzt sich auch hier oft die Zweiteilung in einen kurzen Schlagwort-T. und einen längeren erklärenden Sach-T. durch. Bei dem Volksbuch Fortunatus, Ampedo, Andolosia (1509) ist dieser Unter-T. noch eine langatmige Inhaltsangabe. Anders das Volksbuch Die schön Magelona, ein fast

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lustige und kurtzweilige Histori . . . (1536), wo sich der Unter-T. auf vier Druckzeilen beschränkt, sowie Der Fincken Ritter, History und Legend von dem treffenlichen unnd weiterfarnen Ritter . . . (ca 1560) mit neunzeiligem Unter-T., während Die Schiltbürger wunderseltzame abentheuerliche unerhörte und bisher unbeschriebene Geschichten . . . (1598) den Unter-T. in der marktschreierischen Art Fischarts ausweitet. Jörg Wickram ordnet sich mit Ritter Galmy uß Schottland, schön und lieblich Historien . . . (1539) und Der jungen Knaben Spiegel, ein kurtzweilig History zweier Knaben . . . (1554) diesem zweiteiligen Roman-T.-Typ ein. In Der Goldtfaden, eine schöne, liebliche und kurtzweilige Historia . . . (1554) dagegen nimmt er als Schlagwort das Dingsymbol des Goldfadens, der die Liebe des Helden offenbart und Gegenliebe weckt, und findet damit zu einem modernen Roman-T. § 6. V o m B a r o c k zur A u f k l ä r u n g . Nachdem die Sicherheit, mit der Renaissance und Reformation den Mensch in den Mittelpunkt gestellt hatten, ins Wanken geraten war, versuchte das Barock mit Aufwühlung aller Sinnlichkeit ins Transzendentale vorzustoßen. Barockmalerei, barocke Baukunst, Barockmusik gingen voraus. Die O p e r schien geeignet, die Wortkunst einzubeziehen. Die T. der Opern Befreiung Ignatii Loyolae (Würzburg 1617 aufgeführt), Repräsentation der hl. Jungfrau St. Catharina (Salzhurg 1618), Magdalena die Sünderin (Salzburg 1643), Pia et fortis mulier Natalia (1677) nennen Märtyrer und Heilige. Philothea, also mit sprechendem T. ,Liebe Gott' (München 1643) ist eine geistlich-allegorische Oper, während Theophilus (1643) als Sünder und Erlöster sich der erbaulichen Thematik einreiht. Die geistliche Oper der Protestanten wird nach einem vergeblichen Ansatz in Nürnberg mit Philipp Harsdörffers allegorischer Seelewig (,ewige Seele') in Hamburg seit 1676 gepflegt und nennt wie die katholische im T. religiöse Gestalten Esther, Hl. Eugenia, Geburt Christi (1681). Stattdessen nennt Der gefallene erschaffene, gefallene und wiederaufgerichtete Mensch (1678) das religiöse Problem. Die wohl und beständig liebende Michal oder der siegende David (1679) aber sucht Anschluß an den höfisch-galanten Geschmack. Aus Italien kam das geistliche O r a t o r i u m eines G. Carissimi (1604-1674) mit alttesta-

mentlichen T.n wie Abraham, David, Joseph, Jonas und wurde an dt. Höfen in ital. Sprache gespielt. In Wien kamen hinzu allegorische Oratorien am Karfreitagsgrab der kaiserlichen Gruft Santo sepulcro, die ähnlich bis 1740 aufgeführt wurden. Zu protestant. Oratorien regte Harsdörffer in Nürnberg Johannes Klaj an. Es entstanden Auferstehung Jesu Christi (1644), Höllenund Himmelfahrt Christi (1644), Herodes (1645), Der leidende Christus (1645), Geburt Christi (1650). Vor Klaj begann schon der Barockkomponist Heinrich Schütz mit Oratorien Historia. von der Auferstehung Jesu (1623), Sieben Worte Christi am Kreutz (1645), Weihnachtsoratorium (1664). Andere folgen mit gleichen oder ähnlichen Themen, Johann Sebastiani 1672 und Christian Klaj 1693 mit Matthäus-Passion. Nach Barthold Heinrich Brockes' Gemarterter und sterbender Jesus (1712), von Händel komponiert, folgen auf höherer Ebene Johann Sebastian Bach mit Johannes-Passion (1724), Matthäus-Passion (1729), Weihnachtsoratorium (1734) und Georg Friedrich Händel mit Saul und Israel in Ägypten (1739), Messias (1741), Samson (1742), Judas Makkabäus (I746),jephta (1751). Die Wirksamkeit von T.n läßt sich in dieser Zeit am besten von den Theaterzetteln der W a n d e r b ü h n e n ablesen. Da der Name des Autors erst nach den Reformen Gottscheds und der Neuberin (1740-1745) auf den Theaterzetteln genannt wurde und sich dort nur langsam durchsetzte (noch im 19. Jh. fehlten bei Aufführungen von Lustspielen an kleineren Bühnen, vor bzw. nach dem Hauptstück, die Autorennamen), ging der Werbeeffekt allein vom T. aus (s. Englische Komödianten). Das O r d e n s d r a m a , vor allem das Jesuitendrama (s. Jesuiten) erwuchs aus dem Schulbetrieb, da jeweils die Gymnasialabschlußklasse sicheres Auftreten und Sprachkenntnisse in einer ,Schlußkomedie' zu erweisen hatte. Zunächst benutzte man dazu ndl. Moralitäten, dann nach der Hauptfigur betitelte eigene Dramen mit moralisch-religiösem Exempelcharakter. Jacob Bidermanns Cenodoxus, zuerst in Augsburg 1602 aufgeführt, hat noch Moralitätsrelikte, wurde aber epochemachend und Jahrzehnte lang an verschiedenen Orten aufgeführt. Der Eigenname des schließlich verdammten Pariser Doctors bedeutet,Eitelruhmsüchtiger'. Weitere Dramen Bidermanns bieten Wechsel des Geschickes und Gewissenserschütterung an histor. Gestalten: Beiisar(1607),

Titel Josephus Aegypti prorex (1615), Johannes Calybita (1618). Ebenso nennen Jacob Baldes Jephtias (1654) und viele andere T. wie Mauritius, Androphilus, Telesbius, Josaphat die Hauptfigur (Weller). Das Ordensdrama der Benediktiner ist volksnaher, der Gehalt mehr ethisch, aber die T., z. B. Simon Rettenbachers Demetrius (1672), Attys (1673), Perseus (1674), Ulyxes (1680), Osiris, Rosimunda nennen überwiegend Gestalten der Antike, an denen demonstriert wird, daß alle Schuld sich auf Erden rächt. Den profilierteren Dichtern folgen auch in den anderen Orden geringere, die Jahr für Jahr in jedem Kloster Schulabschlußdramen aufführen bis zum Ende des 18. Jh.s. Hierbei werden teils thematische T. wie Bestrafte Verachtung des hochheiligen Meßopfers (Weyarn 1753), teils Namen von Märtyrern (Agapit der Kämpfer Weyarn 1779) oder histor. Gestalten (Cyrus 1784, Fernando 1786 in Weyarn) als T . genannt (Schmied). Das barocke K u n s t d r a m a hatte sein hochgebildetes Publikum an den kleinen dt. Höfen, besonders Schlesiens. So konnten entlegene Stoffe aus der Antike, dem Orient und von überall herangezogen werden. Andreas Gryphius gebrauchte bei seinen Tragödien Doppel-T., Eigenname und den Konflikt andeutendes Reizwort mit ,oder' gekoppelt, aber in wechselnder Reihenfolge: Catharina von Georgien oder bewehrte Beständigkeit (1647), Cardenio und Celinde oder ungleiche Verliebte (1647), Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus, Großmütiger Rechtsgelehrter oder sterbender Aemilius Paulus Papinianus, Leo Armenius oder Fürstenmord. Daniel Caspar v. Lohenstein nennt nur die Namen seiner Heldinnen Cleopatra (1661), Agrippina (1665), Epicharis (1665), Sophonisbe (1669), deren Leidenschaften, Verbrechen und Sühnetod er schildert. Johann Christian Hallmann folgt Lohenstein im T. Mauritius (1662), Theodericus (1666), Catharina von England (1676), Marianne (1669), während Christian Günther Gryphius' T.-Art abwandelt (Die von Theodosio bereute Eifersucht, 1715). In der B a r o c k k o m ö d i e stellt Herzog Heinrich Julius von Braunschweig den ,miles gloriosus' durch einen, seinem Helden angemessenen großsprecherischen T. vor: Von Vincentio Ladislao Sacrapa von Mantua, Kämpfern zu Roß und Fuß, weiland des edlen und ehrenvesten, auch manhaften und streitbaren Barbarossae, Bellicosi von Mantua, Rittern zu Malta ehelichen nach-

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gelassenen Sohn (1794). Gryphius dagegen begnügt sich mit dem lächerlich wirkenden WortUngeheuer Horribilicribifax (ca 1680). Zuvor hatte er bei Absurda Comica oder Herr Peter Squentz, Schimpffspiel (1657) an seine Tragödien-T. angeknüpft; einfache Sach-T. führen das „Gesangspiel" Verübtes Gespenst und das „Bauernschertzspiel" Die geübte Dornrose (1660), die durch ihre Aufführung als „Mischspiel" der barocken Theaterkonvention, Hauptund Nebenhandlung kontrastierend auf moralische Belehrung auszurichten, entsprechen. Christian Weise gibt im Unter-T. seines Niederländischen Bauern (1685) langatmig den Inhalt wieder, während Christian Reuter Gryphius' Doppel-T. kopiert, indem er den dt. T. an den T. der franz. Vorlage anschließt: femme, La maladie et la mort de l'honete das ist: Der ehrbaren Frau Schlampampe Krankheit und Tod (1696). Eine andere Möglichkeit, vom Sinnlichen ins Transzendentale vorzustoßen, ergab sich in der E m b l e m a t i k (s. Emblemliteratur). Ausgehend von der Hieroglyphica des Horapollo, hatte Andreas Alciatus mit seinem Emblematum über (1531) die emblematische Methode erarbeitet. Da dies Werk 250 Jahre lang (bis 1781, dem Erscheinungsjahr von Kants Kritik der reinen Vernunft) 140mal nachgedruckt wurde, verstand man offensichtlich das, was bei ihm Renaissancespiel des Geistes war, emotional im Sinne der Affektenlehre. So wurden Emblemata zur Barockmode. Genannt seien — ohne Berücksichtigung der zahlreichen Nachdrucke und T.-Wiederholungen in neuen Werken anderer Autoren — die T. von zwölf Originalausgaben seit 1602. Es gab Emblemata physicoethica (1602), amorum (1608), amatoria (1611), Nucleus emblematum (1613), Emblemata amatoria (1615), partim moralia, partim civilia (1618), politica (1618), ethico-politica (1619), amoris (1622), sacra (1625), moralia et aeconomica (1627), sacra (1631), politica (1640), moralia (1750), aber mit einem Stich ins Schäferliche, da Hieronymus Sperling damit das Parisurteil über Juno, Venus, Minerva bzw. Reichtum, Liebe und Weisheit vermengt. Der S c h ä f e r r o m a n (s. Schäferdichtung) ist ein Analogon zur Wildleuteverkleidung an spätmal. Höfen und zu den Bauernhochzeitaufzügen am Münchner Hof des 18. Jh.s. Die Barock-Schäferei stößt jedoch vom Primitiv-Sinnlichen zum Metaphysisch-Erotischen vor. Nach franz. Vorbild entsteht schon 1595

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Die Schäffereyen von der schönen Juliana mit dem Unter-T. Von den Eygenschaften und ungleichen Würckungen der Liebe, ein herrliches Gedicht in Gestalt einer History . . . Bei Juliana und der Montemayor nachgebildeten Schäfferey von der schönen verliebten Diana und dem vergessenen Syreno (1619) sollten mit den Frauennamen Erinnerungen an antike Kaisertöchter und Göttinnen aufklingen und dadurch den Frauenkult der höfisch-adligen Gesellschaft betonen. Diese Leserschicht wird noch deutlicher angesprochen, wenn Schäfereien als eine Art novellist. Festtagsgeschenk dienen. Martin Opitz' Schäfferey von der Nimfen Hercinie (1630) ist eine Huldigung für das freiherrliche schlesische Geschlecht Schaffgotsch, Sigmund von Birkens Guelfis (1666) ist dem Herzogshaus Braunschweig-Lüneburg gewidmet. Der anonyme Zweyer Schäfer neugepflanzter Liebesgarten . . . (1661) gilt zwei bestimmten, aber ungenannt bleibenden hohen Amanten. Der h ö f i s c h - h i s t o r i s c h e R o m a n , Heiden*, Staats- und Liebesgeschichte zugleich, hat in Philipp von Zesen seinen Höhepunkt. Bei der ersten Übertragung einer franz. Vorlage gebraucht er noch die ältere Romanbezeichnung ,historie': Die traurice, jedoch fröhlich außgehende historia von Lysandern und Kalisten (1644), aber schon bei der zweiten heißt es Ibrahims oder des durchleuchtigen Bassa und der beständigen Isabella Wundergeschichte (1645). Entgegen der Vorlage werden die Liebesgeschichte und die höfische Tugend der Beständigkeit betont und mit, Wundergeschichte' diese hohe Staatsaffaire vom gewöhnlichen Historienroman abgehoben. Zesens Originalroman Adriatische Rosemund (1645) stellt die Frauengestalt in den T., ebenso seine Assenat (1670), obwohl es derselben und des Josefs heilige Stahts-, Lieb- und Lebensgeschicht ist. So ist es auch bei Herzog Anton Ulrich von Braunschweigs Die durchleuchtige Syrerinn Aramena (1669/73) und bei Heinrich Anshelm von Zieglers Die Asiatische Banise oder das blutig- doch muthige Pegu . . . (1689), und gerade dieser Roman rief Nachahmungen wie Die deutsche Banise (1752), Die engelländische Banise (1754) hervor. Auch der h ö f i s c h e H e l d e n r o m a n nennt neben dem Helden die Gattin, unerläßlich beim barocken Frauenkult, so Andreas Heinrich Buchholtz bei seinen zur Abwehr der Amadisromane geschaffenen Des christlichen teutschen Groß-Fürsten Herkules

und der böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wunder-Geschichte (1659) und dem entsprechend titulierten Herkuliskus und Herkuladisla (1665). Selbst David Caspar von Lohenstein stellt in seinem viel bewunderten Heldenroman neben Arminius dessen Gattin. Aber im T. Großmütiger Feldherr Arminius oder Hermann nebst seiner durchlauchtigen Thusnelda in einer Staats-, Liebes- und Heldengeschichte und dem weiteren Epitheton tapferer Beschirmer der deutschen Freyheit' und der Widmung ,dem Vaterlande zu Liebe, dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge' werden der nationale Charakter der Staatsgeschichte und das adlige Publikum genügend herausgestellt. Der galante L i e b e s r o m a n wird seit Ende des 17. Jh.s von wenig geachteten Hofpoeten zum adligen Zeitvertreib und auch zur Unterrichtung über die galanten Unterhaltungsformen verfaßt. Vorbild wird der Hofmeister und spätere Ritterakademieprofessor August Bohse, der seine Rokokoromane noch unter dem Einfluß der höfischen Kultur, aber als Anleitung zu Liebespolitik und gesellschaftlichem Flirt schrieb. Das verrät der T. Talanders Liebes-Cabinett der Damen oder curieuse Vorstellung der unterschiedlichen Politic und Affecten, welcher sich alles galante Frauenzimmer in der Liebe bedienet (1685). Vorher schrieb er Der Liebe Irregarten (1684), weil es Geschichten, aber keine Hauptheldinnen gab, und weiterhin Verliebte Verwirrung der sizilianischen Höfe (1725), Tausendundeine Nacht nebst der tausend und einen Viertelstunde (1730). Ihm folgen u.a. Christian Fr. Hunold mit Die verliebte und galante Welt (1700), Gottlieb Corvinus mit Das Carneval der Liebe (1712), ein andrer mit Des englischen Hofes Liebes-Irrgarten (1697) und Amor auf Universitäten (1710) und Johann Gottfried Schnabel mit Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Cavalier . . . (1738). Im Gegensatz zum höfisch-galanten Roman steht der volksnahe S c h e l m e n - und A b e n t e u e r r o m a n (s. Abenteuerroman). Aegidius Albertinus begann nach span. Vorlage mit Der Landstörzer Gusman von Alfarache . . . (1615), der mit Bekehrung des Helden endet, ein Unbekannter verdeutschte das Gegenstück Landtstörzerinn Justina Dietzin, Picara genandt (1620). Aus diesen und anderen Vorlagen entnahm Hans Jakob Christoffel von G r i m melshausen mancherlei Anregungen, auch

Titel die Ich-Form. Der T. Der abentheuerliche Simplicissimus teutsch, das ist: die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten . . . (1668) erweckt mit ,teutsch' den Eindruck der Ubersetzung einer berühmten Vorlage als wertsteigernd, , Landstörzer' wird neutraler zu ,Vagant', das Epitheton abenteuerlich' erweckt von vornherein große Erwartungen, die durch Inhaltsangabe im Unter-T. noch gesteigert werden. Das T.kupfer nutzt die emblematische Methode, um durch rätselhafte Bilder und Symbole und unklare Verse zur Lektüre des Buches selbst anzureizen (Rosenfeld). T. und T.kupfer sind so gestaltet, um bei Aushang Neugier zu erwecken und zum Kauf zu verleiten. Nach dem großen Bucherfolg werden auch andere Werke der gleichen Gattung wie Die Landstörzerin Courache (1670), Der seltzame Springinsfeld (1670), Das wunderliche Vogelnest (1672) vom Dichter an den Namen Simplizissimus angeknüpft, selbst ein gewöhnlicher Kalender als Des abenteuerlichen Simplicissimi ewig währender Calender (1670). Es ist deutlich eine Ausnützung der Konjunktur, die sich auch andere mit Nachdrucken und Nachahmungen zunutzemachen, so daß ,Simpliciade' zu einem Gattungsbegriff für moralsatir. Abenteuerromane wurde. Selbst ein Ungarischer oder Dacianischer Simplicissimus erscheint 1683 und noch 1743 kommt ein Simplicissimus redivivus, das ist: der in Frankreich wieder belebte und curieus becörperte alte Simplicius . . . heraus. Der p o l i t i s c h e R o m a n bringt Simplicianisches und Moralsatirisches in die Form einer belehrenden Reise. Christian Weise, gräflicher Sekretär und Erzieher, dann Gymnasialrektor, wählte den betont einfachen T. Der politische Näscher (1678), Johannes Riemer sagt etwas ausführlicher Der politische, possirliche und doch manierliche simplicianische Hasenkopf (1680). Im Bestreben, die politische, d.h. gesellschaftliche Belehrung mit Lustigkeit schmackhaft zu machen, ist fast immer das Hauptwort des T.s lustig. Neben Näscher und Hasenkopf steht politischer Maulaffe (1679), Politischer Passagier, Grillenfänger (1682), Politischer Leiermann (1683), Politische Mausefalle (1683) und ähnliches. Dem Berufsliteraten Eberhard Werner Happel verdankt der europäische G e s c h i c h t s roman seine Entstehung, breit ausgeschmückte Berichte vom Zeitgeschehen an Fürsten-

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höfen, mit Liebesgeschichten verzuckert, i m T . mit marktschreierischer Aufzählung von spektakulären Begebenheiten,blutigen Feldschlachten, Bestürmungen, Massacren, Feldzügen, Seetreffen, Verwüstungen' für sich werbend wie z. B. im Christlichen politischen KriegsRoman . . . (1681). Dabei werden meist die neuesten Ereignisse in Romanform umgemünzt, etwa Der ungarische Kriegs-Roman oder außführliche Beschreibung des jüngsten Türken-Kriegs . . . (1685/89). Dann verarbeitete Happel die Ereignisse der einzelnen Jahre 1686-1689 flugs nach Jahresende zu einem Roman. Der englische Eduard über 1689 und Der Bayerische Max über 1690 müssen schon von andrer Hand sein, da Happel am 15.5.1690 starb. Er fand auch sonst Nachahmer, so im Sächsischen Witekind (1693) und Schwäbischen Ariovist (1694). Andere machten aus Reisebeschreibungen A b e n t e u e r r o m a n e , die meist mit Seßhaftwerden endeten. Voranging die Übertragung von Nicolaus Heinsius' holländ. Roman von 1695 als Kurtzweilige Aventurier . . . (1714). Von 1714 bis 1769 gibt es zwanzig solche .Aventuriers', die im Unter-T. Geburtsort oder Heimatland des Helden nennen, also Siebenbürgen, Schweiz, Leipzig und andere Städte und Länder. Seit Erscheinen von Daniel Defoe's The life and stränge surprizing adventuries of Robinson Crusoe (1719 machten Übertragungen und Nachahmungen der R o b i n sonaden (s.d.) dem Abenteuerroman Konkurrenz, so daß sogar Heinsius' Roman unter dem T. Der niederländische Robinson (1720) neugedruckt wurde. Schon 1233 brachte das mhd. Kudrun-Epos als Jugendepisode des Königs Hagen eine regelrechte Robinsonade. Jetzt, in der Aufklärungszeit, wird der Gestrandete, der isoliert von der Welt den ganzen Zivilisationsprozeß nachholen muß, programmatisch. Robinsonaden und Pseudo-Robinsonaden werden von 1720 bis zum Jh.ende Mode, wobei die Helden dieser ,Leben und Begebenheiten' einen Allerweltsnamen erhalten, um den Wahrheitscharakter der Erzählung zu unterstreichen, z. B. Bernhard Creutz (1722), Cornelius Paulson (1724). Joachim Heinrich Campe gab der aufklärerischen Robinsonade eine neue Wendung mit Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder (1779). Ein andrer Pädagoge schrieb sogar einen Chemisch-technologischen Robinson als Abendunterhaltung

450 für die Jugend zur Beförderung der technologischen Kenntnisse (1806).

Titel chemisch-

§ 7. V o n der A u f k l ä r u n g bis zum R e a lismus. Während die höfisch-galanten und abenteuerhaften Romanarten mit ihren ausschweifenden T.n noch weiterliefen, wandten sich führende Köpfe gegen die Unlauterkeit solcher T. Schon Johann Burkhard Mencke protestierte dagegen in De charlataneria eruditorum (1713; 1715; 1726). Der Artikel Titul in Zedlers Universal-Lexikon 44 (1745) Sp. 471 ff. schloß sich an, und Gotthold Ephraim Lessing gab im 21. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie (10. 7. 1767) den Rat: „Ein T. muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte verrät, desto besser ist er". Unter dem Druck solcher Proteste und auch nach dem Vorbild der engl, psychologischen Romane eines Samuel Richardson begann Mitte des 18. Jh.s eine radikale Gegenbewegung zu kürzeren T.n. Es fängt schon an bei Christian Fürchtegott Gellerts abenteuerlichempfindsamem Roman Lehen der schwedischen Gräfin*** (1747). Sophie von La Roche's Geschichte des Fräulein von Sternheim (1771) brauchte noch eine adlige Heldin. Mit bürgerlichen Helden begnügten sich Johann Timotheus Hermes' Geschichte der Miß Fanny Wilkes (1766), Friedrich Nicolais Das Leben und die Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker (1769), Goethes Das Leiden des jungen Werthers (1774), Friedrich Heinrich Jacobis Aus Eduard Allwills Papieren (1775), Johann Heinrich Pestalozzis Lienhard und Gertrud (1781), Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisters Wuz (1790), und sein Leben des Quintus Fixlein (1796), Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795), Ludwig Tiecks Geschichte des Herrn William Lovell (1795), Friedrich Schlegels Lucinde (1799). Trotz solcher betonter Bürgerlichkeit ermutigte Christoph Martin Wielands gräzisierender E n t w i c k l u n g s r o m a n Geschichte des Agathon (1766) geringere Geister zu Lebensgeschichten von Alcibiades, Alexander, Aristoteles, Attila, Epaminondas, Marc Aurel und Themistokles, und ihnen fügt sich im T. auch Friedrich Hölderlins Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797) ein. Daneben aber hatte ein breites Publikum seine Freude am R ä u b e r - , R i t t e r - und S c h a u e r r o m a n von Christian Heinrich Spieß (Das Petermännchen, Geistergeschichte, 1791/92, und Der Überall

und Nirgends, Geistergeschichten, 1792/97), vor allem aber an Christian August Vulpius' Rinaldo Rinaldini, Räuberhauptmann (1798) und Ignaz Arnolds Vampyr und Schinderhannes (1801), die alle noch Jahrzehnte Nachahmer fanden. Lessings Rat wurde gerade von großen Dichtem befolgt. Die T. werden dann erst durch das Werk selbst belebt und zu einem unverlierbaren Etikett wie etwa bei Kleists Michael Kohlhaas (1808), Goethes Die Wahlverwandtschaften (1809), E. T. A. Hoffmanns Der goldene Topf (1814), Eichendorffs Das Marmorbild (1814), Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842), Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857), Theodor Storms Aquis submersus (1876), C. F. Meyers Das Amulett (1878), Gottfried Kellers Das Sinngedicht (1882). Die Romantik begeisterte sich für dt. Vergangenheit, die sie in Novalis' Heinrich von Ofterdingen (1802) und Achim von Arnims Die Kronenwächter oder Bertholds erstes und zweites Leben (1817) legendär sah. Sie führte damit zum h i s t o r i s c h e n R o m a n , etwa Wilhelm Hauffs Lichtenstein (1827), zu Willibald Alexis von Scott beeinflußten märkischen Romanen Der falsche Waldemar (1842), Die Hosen des Herrn von Bredow (1846), zu Josef Viktor von Scheffels Ekkehard (1855), Adalbert Stifters Witiko (1865), zu Gustav Freytags Die Ahnen (1873/81). Einen Umschwung in der T. gebung brachte es, als man Lebensbilder ganzer E p o c h e n oder Gruppen zu geben suchte. Eichendorffs Dichter und ihre Gesellen (1834) und Ida Gräfin Hahn-Hahn Aus der Gesellschaft blieben noch bei Gruppen. Weit ausgriff Karl Immermanns Die Epigonen als Bild einer Epoche und Heinrich Laubes Das junge Europa (1833/37), gegliedert in Poeten, Krieger, Bürger. Im ,Roman des Nebeneinander' rüttelte Karl Gutzkow in jungdt. Sinne mit seinen Die Ritter vom Geiste (1850) am herkömmlichen Weltbild. In soziale Problematik führte Friedrich Wilhelm Hackländers Europäisches Sklavenleben (1854), zur krit. Betrachtung einzelner Berufskreise Gustav Freytags Soll und Haben (1835) und Die verlorene Handschrift (1864) und Friedrich Spielhagens Hammer und Amboß (1868). Von hier war es nicht mehr weit zu dem Ingenieur Max Eyth und seinem Hinter Pflug und Schraubstock (1899).

Titel Eine besondere T.mode bildete sich für N o v e l l e n s a m m l u n g e n . Schon in der Antike sprach man bei Lyriksammlungen von Anthologie ,Blumensammlung'. Das gab wohl Anregung, jetzt Sammlungen von Erzählungen aller Art von 1798 bis 1842 mit Blumennamen zu betiteln. Malven, Frühlingsblumen, Nelkenblätter, Sommerblumen, Cyanen, Violenblätter, Amaranthen, Lotosblätter, Aurikeln und andere Blumen aller Art finden wir (Komorzynski). Die Mode läuft aus bei dem Berliner Ludwig Rellstab mit Sommerblumensträuße (1842) und bei dem Wiener Johann Gabriel Seidl mit Laub und Nadeln (1842). Inzwischen hatte man die Blumen als T. für M u n d a r t g e d i c h t s a m m l u n g e n entdeckt, da der Großstädter durch solche T. am ehesten auf dieses ländliche Genre aufmerksam wurde. Allein in Österreich gab es zwischen 1838 und 1903 etwa fünfzig solcher Publikationen: Alpenblumen, Feldbleameln, Ehrenbuschen, Feldreserln, Gebirgsbleameln usw. (Arnold), als letzte Karl Bauers Neue Jeschkenblumen, Gedichte in Reichenberger Mundart (1903). Den aufklärerischen Wunsch, Wissenschaft populär zu machen, verwirklichte man mit Gottscheds Die vernünftigen Tadlerinnen (1725ff.) und anderen Z e i t s c h r i f t e n . Auch die Form von B r i e f e n benutzte man wie Lessings Briefe, die neueste Literatur betreffend (1760) oder das ,Gespräch'. Außer Friedrich Gottlieb Klopstocks Grammatische Gespräche (1794) und Lessings Ernst und Falk, Gespräche für Freimaurer (1778/80) gibt es zahlreiche Gesprächspublikationen kleinerer Art. Leichter war Wissen durch belehrende Broschüren mit gezieltem T. zu verbreiten. Im Josephinischen Wien setzte 1782 eine regelrechte Broschürenreihe ein mit der T.formel ,Was ist . . .?' Was ist der Papst, der Kayser, ein Bischof, ein Pfarrer, der Staat, Aufklärung usw. Eine T.-form, die zunächst für aufklärerische Erzählungen aufkam (etwa bei Wilhelmine Karoline von Wobsers Elisa oder das Weib wie es sein sollte (1795, dann in zahllosen Nachahmungen), wurde zur T.-form von O r t s - und L ä n d e r b e s c h r e i b u n g e n umgestaltet. Diese T.welle beginnt mit Spanien, wie es gegenwärtig ist (1797) und Bern, wie es war, ist und seyn wird (1798) und endet erst 1887 mit Frankfurt, wie es leibt und lebt, etwa die hundertste nachweisbare derartige Publikation (Arnold).

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§ 8. V o m N a t u r a l i s m u s zur G e g e n w a r t . Der Naturalismus beginnt mit Heinrich und Julius Harts Kritischen Waffengängen (1882/ 84) und mit den programmatischen Kampfbroschüren Revolution der Literatur (1886) von Karl Bleibtreu und Die wissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) Wilhelm Bolsehles, aber nicht mit einer Revolutionierung der T.gebung. Die aufwühlenden naturalist. Dramen Gerhard Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889), Einsame Menschen (1891), Die Weber (1892), Der Biberpelz (1893) und die provozierenden Dramen Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891), Der Erdgeist (1895) sowie Max Halbes Ein Emporkömmling (1880), Freie Liebe (1890), Eisgang (1892), Jugend (1893) verraten im T. kaum etwas von dem Neuen und auch Hauptmanns Hannele (1894, erst 1896 Hanneies Himmelfahrt) oder Die Versunkene Glocke (1897), Und Pippa tanzt (1906) wenig von der Hinwendung zur Neuromantik. Hermann Bahrs Broschüre Die Überwindung des Naturalismus (1891) prophezeit, was in Stefan Georges T. Pilgerfahrt (1899), Algabal (1892), Das Jahr der Seele (1897), Der Teppich des Lebens (1900), Der Siebente Ring (1907), Der Stern des Bundes (1904) und Rainer Maria Rilkes Das Stundenbuch (1905) nur zu erahnen ist. Prüft man systematisch die T. nach ihrem sprachlichen Aufbau, so ergeben sich T. typen im Sinne von Lessings Forderung nach kurzen T . , die nichts verraten und von der Aufklärungszeit bis zur Gegenwart unverändert fortleben (Bergengruen). Genannt werden jeweils nur wenige Beispiele seit dem Naturalismus. Ein E i n z e l w o r t in Ein- oder Mehrzahl haben wir in Moral (Ludwig Thoma, 1909), Mord (Walter Hasenclever, 1920), Staub (Reinhard Stamann, 1957) sowie in Kreuzungen (Emil Strauß, 1904), Verheißungen (Max Meli, 1954). Z w e i w o r t - T . mit geographischem oder Eigenschaftswort finden sich bei Abendliche Häuser (Eduard Graf v. Keyserling, 1914), Bunte Erde (Kasimir Edschmid, 1948), Unberechenbare Gäste (Heinrich Boll, 1958), Rheinisches Zwischenspiel (Josef Ponten, 1935), Argentinisches Mosaik (Werner Bock, 1958). F a m i l i e n - , B e r u f s - und C h a r a k t e r b e z e i c h n u n g e n mit bestimmtem Artikel haben Der Vater (Jochen Klepper, 1937), Die Tochter (Bruno Franck, 1943), Der Untertan (Heinrich Mann, 1913), Die Majorin (Ernst Wiechert, 1934), Der Schwierige (Hugo von Hofmanns-

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Titel

thal, 1921), Der Erwählte (Thomas Mann, 1951), Die Vaterlandslosen (Hermann Bang, 1912), Die Schuldlosen (Hermann Broch, 1950). Dementsprechend sind die T. mit Namen nach Einzelnamen, Vollnamen ohne und mit Anrede und Namenkopulationen zu scheiden: Franziska (Frank Wedekind, 1912) steht neben Michaela (Ina Seidel, 1959), Demian (Hermann Hesse, 1919) neben Paracelsus (Erwin Guido Kolbenheyer, 1917/26) und Lennacker (Ina Seidel, 1938), Michael Kramer (Gerhart Hauptmann, 1900) und Tonio Kröger (Thomas Mann, 1903) neben Peter Brindeisener (Hermann Stehr, 1924) und Franziska Sadeler (Bernard v. Brentano, 1945). Fontanes Frau Jenny Treibel (1892) und Arthur Schnitzlers Fräulein Else (1924) betonen den Stand, Keyserlings Beate und Mareile (1903), Heinrich Zerkaulens Anna und Sigrid (1934) und Per und Petra von Josef Maria Frank, 1955) die Beziehungen. Fontanes Die Poggenpohls (1896) stehen neben Rudolf Herzogs Die Wiskottens (1905) und Thomas Manns Buddenbrooks (allerdings mit dem Unter-T. Verfall einer Familie, 1901), Lion Feuchtwangers Die Geschwister Oppenheim (1933) und Gerhard Pohls Die Brüder Wagemann (1936). Beliebt ist auch, dem Namen den Beruf voranzustellen oder nachzustellen, wie einst bei Eduard Mörikes Maler Nölten (1832) so wieder bei Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1888) und Fuhrmann Henschel (1898), Heinrich Manns Professor Unrath (1905), Hans Müller-Schlössers Schneider Wibbel (1913), Josef Roths Stationschef Fallmayer (1933), Ernst Tollers Pastor Hall (1946), Thomas Manns Doktor Faustus (1947). Neben Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl (1900) steht Carl Spittelers Conrad der Leutnant (1898). Es ähneln sich T. wie Adolf Schnitthenners Das deutsche Herz (1908), Ernst Jüngers Das abenteuerliche Herz (1929), Erwin Guido Kolbenheyers Das gottgelobte Herz (1938) und Siegfried v. Vegesacks Die gestohlene Seele (1955), Das Haus im Moor von Nanny Lambrecht (1900) und Curt Goetzens Das Haus in Montevideo (1946). Beliebt sind T. mit ,erst', ,letzt' oder Zahlen. Erster Frühling (Maurice Reinhard von Stern, 1894) korrespondiert mit Erste Liebe von Luise Rinser (1946), Ricarda Huchs Der letzte Sommer (1910) mit Die letzte Welt (Edzard Schaper, 1956), Hermann Stehrs Drei Nächte (1909) mit Erich Kästners Drei Männer im Schnee

(1934). T. mit ,ohne' wie Vicki Baums Die Welt ohne Sünde (1921) klingt an an Werner Helwigs Reise ohne Heimkehr (1953) oder Heinrich Bolls Haus ohne Hüter (1954). Die Koppelung divergierender Begriffe durch ,und' geht von Karl Bleibtreus Welt und Wille (1886), Karl Schönherrs Glaube und Heimat (1911) bis zu Ernst Jüngers Feuer und Blut (1925) und Siegfried Thalheimers Macht und Gerechtigkeit (1958). Die Autoren haben sich unbekümmert um Ähnlichkeiten mit älteren Werken T. herausgesucht, die ihnen für ihr Werk ein passendes Etikett schienen, und fast immer wechseln sie beim nächsten Buch zu ganz anderen T.-typen. Neu belebt wird die Freude an T.n mit vollständigem oder unvollständigem Satz, sei es Feststellung, Zitat oder Frage. Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig stellt Franz Werfel 1919 provozierend fest. Der Form nach ähnlich, aber mit ganz anderer Wirkung heißt es bei Heinrich Boll Der Zug war pünktlich (1949). Mit Kleiner Mann, was nun? umriß Hans Fallada 1932 geschickt den Abstieg eines Bürgers zum Proletarier, während sein Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (1934), Heinrich Bolls Wo warst du, Adam (1951) und D. G. Walcherens Wer des Lebens Schule schwänzt (1958 anstelle von Scherven längs de hemel) neugierig machen. Bei Ubersetzungen benutzen Verleger gern neu erfundene Satz-T. zu wirksamer Reklame. Gabor von Vaszary wird durch Mit 17 beginnt das Leben (1955) und Heirate mich, Chéri (1956) dem Publikum als frivol-unterhaltsam empfohlen, ähnlich Charles Exbrayat durch Lieben Sie Pizza? (1970). Wenn aber Alan Paton's Cry, the beloved country (1948), ein Roman über die Rassentrennung in Südafrika und das daraus erwachsene Leid, dem dt. Publikum frei nach Matth. 5,4 als Denn sie sollen getröstet werden (1949) dargeboten wird, so verfälscht der T. die sozialkrit. Intentionen des Autors. Gerade beim Satz-T, wird auch sonst gern mit literar. Anspielungen und Zitaten gearbeitet. Schon Arthur Brausewetters Wer die Heimat liebt wie Du (1916) knüpfte bewußt an Fontanes Ballade Archibald Douglas (Str. 22) an. Wenn Heinrich Boll für eine seiner Erzählungen den T. Wanderer, kommst Du nach Spa . . . (1950) wählte, so weckt er damit Assoziationen an das weltbekannte SimonidesEpigramm über den Heldentod des Leonidas

Titel und seiner 300 Spartianer an den Thermopylen; die Verkürzung hat daneben symbolische Bedeutung: der Gymnasiast, der dieses Epigramm so unvollständig an die Klassentafel schrieb, sieht diese Schriftzeichen wieder, als er wenige Monate später schwerverwundet in das als Behelfslazarett dienende Gymnasium zurückkehrt und ihm beide Arme und ein Bein amputiert werden. Hermann Brochs Schauspiel-T. Denn sie wissen nicht, was sie tun (1934; als Hörspiel u . d . T . : Die Entsühnung, 1961), profaniert ein Wort Christi am Kreuz (Luk. 23,34), verweist aber auf die „übergeordnete göttlich-humane Problematik" des Stückes. John Braine's Gesellschaftsroman Room at the top (1959) wird durch den an Matth. 16,26 angelehnten Übersetzungs-T. . . . und nähme doch Schaden an seiner Seele (1957) auf eine theologische Wertung festgelegt; der spätere Ubersetzungs-T. Der Weg nach oben (1960) wird dem sozialen Aufstieg des Romanhelden besser gerecht. Daß einT. auch durch ausführliche I n h a l t s angabe, wie sie sonst nur im 16. Jh. üblich war, Interesse wecken kann, zeigt Peter Weiss' Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1964). Als Theaterstück wurde es ein Welterfolg, als Buch in 14 Sprachen übersetzt, woran der ungewöhnlich ausführliche, aber die Intentionen des Autors bezeichnende T. als Signifikant keinen geringen Anteil hatte. Das erfolgversprechende Verfahren wurde sichtlich nachgeahmt durch Wolf Wondratscheks Ein Bauer zeugt mit einer Bäuerin einen Bauernjungen, der unbedingt Knecht werden will (1970). Andere T. desselben Autors weisen dagegen wieder Kurz-T. auf, die anscheinend doch mehr Käufer anlocken als solche Inhaltsangaben: Omnibus (1972), Machine Nr. 9 (1973). Auch Peter Weiss kehrte nach Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird (1968) wieder zu Kurz-T.n zurück: Trotzki im Exil (1970), Hölderlin (1971), Das Duell (1972). Bei p o p u l ä r w i s s e n s c h a f t l i c h e n P u b l i k a t i o n e n gibt beim T. oft der Verleger den Ausschlag, weil er das finanzielle Risiko trägt und er das bessere Gespür für den Reizwert eines Titels hat, wie der Titel Der Untergang des Abendlandes (s. § 1) zeigt. Als Hans Eich sein Sachbuch über literar. Praktiken unter dem T. Lug, Trug und Versteckspiel in der Welt-

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literatur erscheinen lassen wollte, verwies der Verleger diesen T. in den Unter-T. und wählte die bildhaftere Formulierung Falsch in die Feder geflossen als Haupt-T. (1964); zur E i n stimmung' stellte er zudem das Pseudonym ,Dr. Matthias Quercu' (gebildet aus dem Namen des Autors und seines Mitautors Günter Matthias) voran, durch dessen Entschleierung am Schluß des Buches der Leser in das Versteckspiel miteinbezogen wird. Auch Walter Bartons Kleine Stilfibel des dt. Buchtitels wurde vom Verleger mit einem Haupt-T., dem stimulierenden Denn sie wollen gelesen sein (1968) versehen. Solche Doppel-T. für Sachbücher wurden Mode, z . B . : Steht es in den Sternen? Eine wissenschaftliche Untersuchung über Wahrheit und Irrtum der Astrologie von Ludwig Reiners (1951) und: Die den Tod befehlen. Das Wunder der Herzchirurgie (statt: The risk takers) von Hugh McLeave (1968). Ein Abriß der archäologischen Forschungsgeschichte wurde durch den alliterierenden D r e i e r - T . Götter, Gräber und Gelehrte (C. W. Ceram, 1949) zum Bestseller, wobei der Unter-T. Roman der Archäologie den traditionellen Gattungsbegriff nur metaphorisch verwendet. Auch diese Dreier-T. wurden Mode in: Forscher, Fallen, Fabeltiere. Abenteuerliche Tierentdeckungen (Ulrich Dunkel, 1954), Mysten, Maurer, Mormonen. Geheimbünde aus vier Jahrtausenden (Hermann u. Georg Schreiber, 1956), Propheten, Priester, Professoren. Ein Buch Menschheitsgeschichte (Emil Günther Paris, 1957). Einen Z w e i e r - T . mit U n t e r - T . kreierte Cerams Enge Schlucht und Schwarzer Berg. Entdeckung des Hethiter-Reiches (1955) in Anlehnung an die türk. Namen Boghazköy und Karatepe. Auch dieser T. wurde Muster für viele andere Sachbücher, so für Christiana Tsai's Dunkle Wurzel — helles Licht. Romanhafter Bericht über die Chinamission (1957; Original-T.: The queen of the dark chamber), Helmut Domkes Alter Berg und Feuchtes Tal. Herbstliche Lahnwanderung (1957) u. a. Frank Arnau verschmolz solche Zweier-T. wortspielerisch zu Kunst der Fälscher, Fälschen der Kunst (1959) und wurde ebenfalls bald nachgeäfft, so mit Filmtricks und Trickfilme, Witz als Schicksal - Schicksal als Witz, Die Welt der Bühne als Bühne der Welt u.a. Die Protestant. Theologie im 20. Jh. wurde durch den verblüffenden T. Die Sache mit Gott (Heinz Zähmt, 1966) verkaufsträchtig ge-

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Titel — Topik

macht. Die Toleranzgrenze wird überschritten, wenn der reißerische T. Zeigt mir Adams Testament (Paul Herrmann, 1956) den Effekt über die Sache (Unter-T. : Wagnis und Abenteuer der Entdeckungen) stellt. Die Geschichte des T.s bietet der kulturund geistesgeschichtlichen Forschung eine Fülle von Hinweisen auf Gebrauchswerte und Geschmackswandel, sie bezeugt den großen Einfallsreichem der Versuche, die ,Lust am Lesen' zu wecken, aber sie überrascht auch mit Entgleisungen im immer stärkeren Konkurrenzkampf um Käufer und Leser. Allgemein: Rudolf F ü r s t , Die Mode im Buchtitel. LE. 3 (1901) Sp. 1089-1098. Theodore Low de Vinne, A Treatise on Titel-Pages (New York 1902; Neuaufl. New York 1972). Karl Bader, Vom Buchtitel einst u. jetzt. ZfBüchfr. 6, 1 (1902/ 03) S. 68-73. Robert Franz Arnold, Zur Gesch. d. Buchtitels. Mittlgn d. österr. Ver. f. Bibliothekswesen 7(1903) S. 167-173; 8 (1904) S. 28-31. Heinr. Meisner, Buchtitelmoden. ZfBüchfr. 8, 1 (1904/05) S. 38-43. Reinhold Bammes, Der Titelsatz, s. Entw. u. s. Grundsätze (1911; Monographien d. Buchgewerbes 4). Moriz Sondheim, Das Titelblatt (1927; Kleine Drucke d. GutenbergGes. 5). Maurice Hélin, Les Livres et leurs titres (Liège 1957; Bibliotheca Univ. Leodiensis. Publ. 9.). Werner Bergengruen, Titulus . . . Gedanken zur Naturgeschichte d. dt. Buchtitels . . . (1960). G. Sichelschmidt, Die Magie d. Buchtitel. Der junge Buchhandel 18 (1965) S. 185-188. Walter B a r t o n , Denn sie wollen gelesen sein. Kleine Stilfibel d. dt. Buchtitels (1968; FurcheBücherei 301). Hans Elema, Dt. Buchtitel, in: Dichter u. Leser. Studien z. Lit. Hg. v. Ferdinand van Ingen u. a. (Groningen 1972 ; Utrechtse publikaties voor algemene literatuurwetenschap 14) S. 315-331. Wolfgang Mieder, Buchtitel als Schlagzeile. Sprachspiegel 31 (1975) S. 36-43. Harry Levin, The Title as a Literary Genre. MLR. 72 (1977) S. XXIII-XXXVI. T.Sammlungen u. -reproduktionen: Gustav K ö n n e c k e , Bilderatlasz. Gesch. d. dt. Nationallit. (1887). Alfred Forbes J o h n s o n , One Hundred Title-Pages 1500-1800 (London 1928). Stanley M o r i s o n , Four Centuries of Fine Printing. 272 Examples of the Work of Presses Established Between 1465 and 1924. With an Intr. (2. ed. London 1949). Alfred Estermann u. Hans-Albrecht K o c h , Dt. Lit. in Titelblättern. Repr. aus Büchern d. Stadt- u. Univ. bibl. Frankfurt a. M. (1978). Lit. zu § 5 - 8 : Herbert Vollmann, Der dt. Romantitel in literar-histor. Sicht 1470-1776. (Masch.) Diss. Berlin (FU), daraus: Der dt. Romantitel 1470-1770. e. buch-u. literaturgeschichtl. Unters. Arch. f. Gesch. d. Buchw. 8 (1967)

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Rosenfeld

Topik Die lit.wiss. Bedeutung des T.- bzw. des ToposBegriffs läßt sich nur in einem weitgezogenen histor. und interdisziplinären Horizont angemessen beurteilen. Eine zusammenhängende Darstellung der zweieinhalbjahrtausend alten fächerübergreifenden Bedeutungsgeschichte des Komplexes T. existiert jedoch bislang noch nicht. Es kann daher im folgenden lediglich darum gehen, nach einer Skizzierung des Begriffsfeldes (§ 1) einige epochengeschichtl. Schwerpunkte und bedeutungsgeschichtl. Entfaltungstendenzen der T. herauszustellen (§ 2), die Ansätze zu einer interdisziplinären T.-Diskussion im Bereich der allgem. Rhetorikforschung anzudeuten (§ 3), die besondere lit.wiss. Forschungssituation zu beleuchten (§ 4) und schließlich mit knappem Kommentar einen bibliographischen Einstieg in die übrige multidisziplinäre histor. T.-Forschung und aktuelle T.-Diskussion (§ 5-§ 12) zu bieten. § 1. B e g r i f f s f e l d . Von der Topik des Aristoteles aus der Mitte des 4. Jh.s v. Chr. als der ältesten theoret. Grundlagenschrift bis in die gegenwärtigen T.-Diskussionen verschiedener Fachwissenschaften ist es bislang zu keiner eindeutigen und zugleich umfassenden Definition der Begriffe Topik und Topos gekommen. Es erscheint daher unverzichtbar, sich immer wieder auf den Eingangssatz der aristotelischen Schrift zu besinnen und von hier

Topik aus die Begriffs- und Bedeutungsgeschichte der T. ins Auge zu fassen. Dieser Satz lautet: „Das Ziel dieser Abhandlung ist, ein Verfahren (methodos) zu finden, mit dessen Hilfe wir gegenüber jeder Problemstellung (problema) auf der Grundlage der geltenden Meinungen (endoxa) zu einem schlüssigen Urteil kommen können (syllogizesthai) und, wenn wir selbst einer Argumentation standhalten sollen, in keine Widersprüche geraten." (Top. 100 a). Als Hauptmittel des hier anvisierten Verfahrens für argumentative Problemlösungen entwickelt Aristoteles eine Fülle von allgemeinen Argumentationsgesichtspunkten, die er sowohl in der Topik wie in der etwas späteren Rhetorik „topoi" nennt. — Seit dieser Grundlegung wird das ,topische Verfahren' (methodos; tropos topikos: Aristoteles, Rh et. 1396 b; lat. ars inveniendi: Cicero, Top. II, 6) während der gesamten Antike als produktives Hilfsmittel des dialektischen und rhetorischen Argumentierens verstanden. Und zwar bedeutet die topisch-inventive Kunst eine Art von Argumentationsphantasie, die aus dem Fundus der gesellschaftlich allgemein anerkannten bzw. konsensus-fähigen Meinungen (endoxa, die auch durch Mehrheitsverhältnisse oder Autoritäten bestimmt werden können: Aristoteles, Top. 100b; Rhet. 1398b) .allgemeine Argumentationsgesichtspunkte' ( = topoi; lat. loci bzw. loci communes) sammelt und jederzeit zur Verfügung hat und mit deren Hilfe bei konkreten Problemstellungen jeweils eigene Problemlösungen argumentativ bzw. rhetorisch zur Geltung zu bringen vermag, indem je nach Diskussionsstand und Adressatenkreis die,allgemeinen Argumentationsgesichtspunkte' zu jeweils besonders einleuchtenden konkreten Argumenten verwendet werden. Das Ziel topischen Argumentierens bzw. Uberredens ist erreicht, sobald die Zustimmung der unmittelbar Angesprochenen (Kontrahent, Richter, Volksversammlung) für die eigene Argumentation gewonnen ist. — , T o p i k ' ließe sich daher in freier Formulierung definieren als: ,die Kunst, in konkreten Problemdiskussionen gesellschaftlich allgemein bedeutsame Gesichtspunkte auf geschickte Weise für die jeweils eigene Interessenargumentation auszunutzen' bzw. kürzer als: g e s e l l s c h a f t l i c h relevante Argumentationsphantasie'. Entsprechend läßt sich der Begriff , T o p o s ' definieren als: »gesellschaftlich allgemein bedeutsamer Argumentationsgesichtspunkt' bzw.

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kürzer als: a l l g e m e i n e r A r g u m e n t a t i o n s g e s i c h t s p u n k t ' (vgl. unten 2. Absatz). — Trotz ihrer gesellschaftlichen Allgemeingeltung sind Topoi in konkreten Problemdiskussionen auch für gegensätzliche Argumentationsinteressen verwendbar (in utramque partem — Prinzip). Die allgemeine gesellschaftliche Relevanz (Bedeutsamkeit) beruht vielmehr gerade darauf, daß die Topoi sowohl interpretationsfähig als auch interpretationsbedürftig sind. Die , Allgemeingültigkeit' der Topoi meint also keine eng definierbare Normativität, sondern die Grenzen des Interpretationsspielraums, der auch strikt gegensätzlichen gesellschaftlichen Argumentationsinteressen zur Verfügung steht. Topoi sind in diesem Sinne ebenso fundamentale wie polyfunktionale , Grundelemente' (stoicheia: Aristoteles, Rhet. 1403 a) konsensusfähiger Argumentationen. Ein Topos kann sowohl die Funktion eines „Vordersatzes" bzw. einer „Prämisse" als auch die einer interimistischen Argumentationsstütze haben (vgl. Kemper 1980). Es gibt daher auch keine abstrakte begriffssystematische, sondern lediglich eine auf konkrete Diskussionsabläufe beziehbare funktionale Unterscheidung zwischen einem .allgemeinen Argumentationsgesichtspunkt' ( = Topos im engeren Wortsinn) und einem ,konkreten Argument' (argumentum in der weiten antiken Wortbedeutung). Topoi können ferner sowohl materialer Art sein und sich nur auf bestimmte Geltungsbereiche beziehen (etwa im Sinne politischer, ethischer oder psychologischer Grundnormen, wie sie Aristoteles im 3. Buch seiner Topik und in der Rhetorik I, 4-17 entwickelt und ebd. II, 22 als „topoi" bezeichnet oder wie sie Cicero generell mit seinem Begriff loci communes meint) oder auch f o r m a l e r Art (etwa als formallogische Kategorien oder Denkmuster oder disputationstaktische Verfahrensweisen, wie sie besonders prägnant von Aristoteles, Rhet. II, 23-26 aufgelistet werden). — Versteht man die Entfaltung der T. im Rahmen der antiken „Dialektik" und „Rhetorik" lediglich als den histor. Beginn und die spätere Tradierung dieser T. (ars inveniendi) im Rahmen der (erst im 19. Jh. als Unterrichtsfach aufgegebenen) Schul-Rhetorik lediglich als e i n e n , wenn auch als den ältesten und dauerhaftesten Entwicklungsstrang des ,topischen Denkens', dann eröffnet sich darüber hinaus eine recht komplexe Bedeutungsgeschichte der T . , wobei nicht nur die epochen-

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Topik

geschichtlichen Varianten innerhalb der Schulrhetorik selbst zu berücksichtigen sind, sondern ebenso die von diesem zentralen Traditionsstrang abzweigenden und sich zunehmend fachspezifisch verselbständigenden Formen ,topischer Argumentationsphantasie'. Allgemeine Lit.hinweise zur antiken T . - L e h r e unten zu § 2. 1. Zur Ubersetzung des aristotelischen Topos-Begriffs als „allgemeiner Gesichtspunkt" vgl. jetzt S i e v e k e 1980 S. 19f. (zu Arist., Rhet. 1 3 5 8 a ) ; ähnlich S p r u t e 1975 S. 9 0 : „generelle Gesichtspunkte" (mit dem freien Zusatz: „deren Vergegenwärtigung den Redner oder Disputanten instandsetzt, zweckentsprechend Äußerungen zu machen, wobei diese Äußerungen nicht einmal Enthymeme zu sein brauchen"). — Der Begriff „Argumentationsphantasie" wird im vorliegenden Artikel als kürzeste Formel für das topisch-inventorische Vermögen gewählt, obwohl es noch eingehender begriffs- und bedeutungsgeschichtlicher Untersuchungen nicht nur zum Wortfeld ,phantasia/imaginatio/inventio', sondern auch zum Zusammenhang mit den Bedeutungskomplexen enthymem/syllogismos/argumentatio sowie mneme/memoria bedürfte (vgl. dazu unten § 1 1 ) . Zur Problematik bisheriger synthetischer Darstellungen der auch für die ,topische' Inventionskunst einschlägigen Grundbegriffe der älteren und neueren europäischen Sprachen vgl. die bislang umfänglichsten Artikel von H ü g l i und T h e i s s m a n n 1976 zu „Invention, Erfindung, Entdeckung" und von H o m a n n und T r e d e 1972 zu „Einbildung, Einbildungskraft". Zur Bestimmung eines a l l g e m e i n e n „ T o p i k " - und „Topos"-Begriffs L a u s b e r g 1960 § 3 7 3 f . und B o r n s c h e u e r 1976 (1) u. 1977 (vgl. darüber hinaus unten § 3). Lothar B o r n s c h e u e r 1976 (1): Topik. Zur Struktur d. gesellschaftl. Einbildungskraft (1976). D e r s . 1977: Zehn Thesen z. Ambivalenz d. Rhetorik u. z. Spannungsgefüge d. Topos-Begriffs, in: Heinrich F . P l e t t 1977 (1): ( H g . ) , Rhetorik. Krit. Positionen z. Stand d. Forschung (1977; Krit. Informationen 50) S. 2 0 4 - 2 1 2 . K. H o m a n n u. J . H . T r e d e , Einbildung/Einbildungskraft. Hist. W b . d. Philos. Bd. 2 (1972) Sp. 3 4 6 - 3 5 8 . A . H ü g l i u. U . T h e i s s m a n n , Invention, Erfindung, Entdeckung. Hist. Wb. d. Philos. Bd. 4 (1976) Sp. 5 4 4 - 5 7 4 . J . A . R. K e m p e r , T. in d. antiken rhetor. Techne, in: Breuer/Schanze 1980 (s. § 3) S. 17ff. Heinrich L a u s b e r g , Handb. d. literar. Rhetorik. 2 Bde (1960; 2 . , durch e. Nachtr. verm. Aufl. 1973). Franz G . S i e v e k e 1980: Aristoteles, Rhetorik (Ubers.) (1980). J . S p r u t e , Topos u. Enthymem in d. arist. Rhetorik. Hermes 103 (1975) S. 6 8 - 9 0 .

§2. Historischer Überblick. 1. A n t i k e . Seit Beginn der griech. Stadtstaatenkultur und der sophistischen Revolutio-

nierung des Bildungswesens erfüllte auch die im Rahmen der Allgemeinbildung der Polisaristokratie vermittelte T.-Lehre in der politisch-juristischen Öffentlichkeit eine feste all- • tagspraktische Funktion. Das in der hellenist. Epoche immer mehr differenzierte und formalisierte Klassifikationssystem aller möglichen allgemeinen Argumentationsaspekte erfuhr am Ende des l . J h . s n. Chr. durch Q u i n t i l i a n seine kompendiöseste Zusammenfassung. Die klassische schulrhetorische T.-Definition, die im röm. Unterrichtssystem endgültig an das Paradigma der jurist. Argumentation gebunden war, lautet in C i c e r o s Frühschrift De inventione: „Inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium quae causam probabilem reddant" (De inv. I, 9), und die entsprechende, propädeutisch einprägsame Topos- bzw. locusDefinition lautet in Ciceros Spätschrift Topica: „locum esse argumenti sedem" (Top. II, 8). In seiner Topik betont Cicero unter Berufung auf Aristoteles sehr nachdrücklich die Bedeutung der inventio als eigenständiger Fertigkeit, in Abgrenzung gegenüber der von der heilenist. Stoa einseitig ausgebauten „Dialektik" (Top. II, 6). Ciceros Polemik gegen die Vernachlässigung derT. durch die stoische Schulphilosophie wird erst voll verständlich, wenn man weiß, daß er in seiner Hauptschrift über den idealen Redner (De oratore) unter Rückgriff auf älteste sophistische ,Gemeinplatz'-T. ein in neuer Qualität verstandenes emphatisches loci communesKonzept propagiert hat. Unter den loci communes verstand Cicero die gesellschaftlich bedeutungsvollen ethisch-polit. Ideale und quasiphilosophischen Themen, die sich zur eindrucksvollen Steigerung (amplificatio) öffentlicher Reden eigneten; „loci wie die über die unsterblichen Götter, ( . . . ) über die Freundschaft, über das gemeinsame Recht der Bürger, der Menschen und Völker, ( . . . ) über die Seelengröße, über jede Art von Tugend" usw. (De or. I, 56). Solche .Gemeinplätze' galten Cicero als Quellen einer unteilbaren copia rerum et verbomm, eines hinreißenden Gedanken- und Redestroms. Und eben dieses, auf die loci communes-T. gestützte hohe Sprachkunst-Ideal hat von der Spätantike durch das gesamte MA. bis hin zu den Anfängen der neuzeitl. europäischen Dichtung in der Renaissance die histor. Bedeutung des Ciceronianismus begründet und vor allem zu einer reichen Entfaltung der Figuren- und Stil-T.

Topik beigetragen. Ciceros emphatische loci communes-T. war ein wesentlicher Inspirationsquell eines qualitativ neuen philosophischästhetischen ,Sprach-Denkens' und Lit.-Begriffs, in dem rhetorische, moralisch-philosophisch-religiöse und poetische Tendenzen immer mehr verschmolzen. Lit.hinweise zur antiken T. bei Jehn 1972 S. 321324 Nr. 1-46; außerdem noch immer von Gewicht Kroll 1940; zu Aristoteles vgl. jetzt Sprute 1975 und Kemper 1980, außerdem Bornscheuer 1976 (1) S. 26-60; zu Cicero vgl. unter den bei Jehn a.a.O. gegebenen Hinweisen bes. Apel 1963/1975, außerdem B o r n s c h e u e r a.a.O. S. 61-90. Von Kemper (Klassiek Sem., Univ. Amsterdam) ist demnächst ein Kommentarwerk zu Ciceros De oratore zu erwarten. 2. Spätantike. Training des eigenen Sprachund Stilvermögens, Studium und Auslegung klass. Texte und die Suche nach einem zeitlosen Ideal des „Erhabenen" als Ausdruck allgemeinmenschlicher „Seelengröße" (vgl. die Schrift Über das Erhabene aus augusteischer Zeit) verwandelten die ältere, argumentatorische Problemphantasie in den ersten Jhh. n. Chr. zu einer h e r m e n e u t i s c h e n S u c h phantasie neuer Qualität, insofern es nunmehr zunehmend um die Suche nach dem Sinnpotential klassisch-literarischer, kanonischjuristischer oder religiöser, insbesondere jüdisch-christl. Texte ging. Die topische Phantasie der Spätantike und des MA.s stand primär im Dienst von Herrschaftspanegyrik, religiöser Verkündigung, jurist. Glossatorik, schulrhetor. Deklamationskunst und öffentlicher,, Konzertrednerei" (vgl. Eisenhut 1974 S. 69). Diese T. wurde zum schriftauslegenden und sinnverkündigenden modus inveniendi quae intelligendae sunt, zum Hilfsmittel auf der Suche nach den durch die scripturae verbürgten, gleichwohl aber auch durch deren signa verhüllten res („res per signa discuntur", A u g u s t i n , De doctr. christ. IV, 1). Auf der Suche nach dem vielschichtigen Schriftsinn wurden auf religiöse, juristische, rhetor. und poetische Texte weitgehend die gleichen Kriterien angewendet. Topischer Fundus sind die autorisierten scripturae, nicht mehr die gesellschaftl. endoxa. Und der sensus ist nicht mehr der aristotel. consensus omnium, sondern die aus der esoterischen obscuritas und ambiguitas (Augustin, a . a . O . III) numinoser Texte heraus zu offenbarende höchste Wahrheit. Dieses neue symbolischallegorische Schriftverständnis vollzieht sich

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völlig parallel in heidnischer und christl. Bildungstradition (vgl. Dörrie 1969; zur Vorgeschichte der obscuritas bis Longin vgl. Fuhrmann 1966), so daß das Hauptwerk De nuptiis Philologiae et Mercurii von Augustins heidnischem Zeitgenossen Martianus Capella (1. y . d. 5. Jh.s) zum Grundbuch mal. Allegorik werden konnte. Bis in das 18.Jh. reicht die Tradition der Verschmelzung von rhetorischargumentativer, christlich-spiritueller und poet. Sinn-Konstitution und Sinn-Findung (vgl. Dyck 1977). 3. F r ü h m i t t e l a l t e r . Zu Beginn des 6. Jh.s gewann neben der in der Schulrhetorik weiter tradierten ,Argumentations-T.' (mit ihrem festen Klassifikationssystem) und neben der ,hermeneutischen T . ' spätantik-christl. Provenienz eine dritte Ausformung topischen Bewußtseins neues epochengeschichtliches Gewicht: das schon im aristotelischen Gesamtwerk verankerte und durch die hellenist. Stoa weiter differenzierte ,formal-logische' T.Verständnis. Vor allem der aus spätröm. Senatorenadel stammende christl. Philosoph B o e t h i u s sorgte an der Wende zum 6. Jh. für das Vermächtnis der formal-dialektischen Werke der Antike an das MA. und verfaßte selbst eine Schrift De differentiis topicis. Boethius bereitete den Weg für die überwiegend formalisierend-logifizierende Rezeption der antiken T.-Lehre durch die hochmal. Philosophie. Während die augustinische doctrina christiana gerade die Differenz zwischen der locutia propria und der allegorischen locutia figurata zum Fundament spirituellchristl. Hermeneutik gemacht hatte, begann Boethius (mit seiner rationalen Bemühung um eine clara distinctio locorum wie auch um genaue Begriffsunterscheidungen zwischen locus und argumentum, argumentatio und amplificatio, res und verbum usw.) jenen Grenzverwischungen wieder entgegenzutreten, die Cicero mit seiner emphatischen loci comm«nes-Rhetorik eingeleitet hatte. Immerhin bewahrte auch Boethius das von Cicero mit großem Selbstbewußtsein propagierte inventorische Grundprinzip der copia, das in anderer Weise ja auch ein Grundprinzip der hermeneutischen ars inveniendi der doctrina christiana war. Boethius' De differentiis topicis war neben Ciceros De inventione und Topica und der (damals auch ihm zugeschriebenen) Rhetorica ad Herennium bis zur arabischen

Topik

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Vermittlung des gesamten aristotelischen Organon im 12. J h . die wichtigste Grundlage des dialektisch-logischen Unterrichts (vgl. insgesamt Grabmann 1909/1911 sowie unten § 5; zu Boethius' Topik Otte 1971, S. 186ff.). 4. H o c h m i t t e l a l t e r . Alle drei bislang angedeuteten Traditionsstränge ,topischen Denkens' führten gemeinsam, nach der ersten großen Glaubenskrise des Katholizismus (Schisma zwischen west- und oström. Kirche; Trennung zwischen spiritualia und saecularia im Wormser Konkordat), in A b a e l a r d s Schrift Sic et Non (1. H . d. 12. Jh.s) zur Wiederbelebung eines der ältesten Prinzipien partem-Prinzips. »antiker T . : des in utramque An zahllosen unvereinbar erscheinenden Stellen der Bibel, des patrist. Schrifttums und kirchenrechtl. Dekretsammlungen verdeutlichte Abaelard zu wichtigen theolog. Fragen die Brisanz echten Problemdenkens und schuf unter Verzicht auf eigene Problemlösungsargumentationen ein Musterbuch für die s c h o l a s t i s c h e n q u a e s t i o n e s - D i s p u t a t i o n e n als Herausforderung theolog. Wahrheitsfindung. Damit war ein neuer epochengeschichtlicher Status argumentativer Problemphantasie gewonnen, die im Gegensatz zur antiken T . zum Aufbau eines hierarchischen Prinzipiensystems und einer bis ins einzelne geregelten strengen Disputationsmethodik führte, wobei allgemeine theolog. Glaubensprobleme mit einer immer strengeren Formallogik zu lösen versucht wurden (vgl. allgemein Grabmann 1909/1911). — Zunächst als komprimiertes Schema einer universellen Argumentationstopik zur Erzeugung aller denkmöglichen und wahren Aussagen über Gott und die Welt konzipiert, entwickelte der Spanier Ramon L u l l an der Wende zum 14. J h . unter dem Werktitel Ars magna eine auf Begriffs- und Buchstabentafeln und abstrakt-mechanische Gebrauchsregeln reduzier-

te ars compendiosa

inveniendi veritatem,

die

zwei J h . e später, in der Lull-Rezeption des 16. und 17. Jh.s, zum umfassendsten topischinventorischen Instrumentarium auswucherte, das es in der europäischen Geistesgeschichte gegeben hat (dazu weiter unten § 2. 6). — Die seit dem 12. J h . auftauchenden ersten europäischen Poetiken entwickeln noch kein eigenständiges ars inveniendi-Verständnis, sondern halten sich vollständig an die schulrhetor. Lehrtradition (vgl. unten § 4).

5. H u m a n i s m u s . Vor der Kulmination der durch den Lullismus beeinflußten kombinatorischen ars inveniendi kam es durch die Neuentdeckung der ciceronianisch-quintilianischen Rhetorik im Renaissance-Humanismus zur Reaktivierung des ältesten Traditionsstrangs der Topik. Die Aktualität des Ciceronianismus für die Humanisten lag global betrachtet in dem Interesse daran, für die seit dem Spät-MA immer offener zutagetretenden Ordnungsprobleme auf allen kulturellen Gebieten (einschließlich dem des Glaubens) eine neue, ,humane', konsensusfähige Argumentationsbasis wiederzugewinnen. Die antischolastische Wende konnte zwar unmittelbar an die schulrhetor. und schullogische Bildungstradition des mal. artes liberale5-Systems anknüpfen (Agrícola: De inventione dialéctica; Erasmus: De duplici copia verborum; Melanchthon:

Loci communes verum theologicarum sive Hypotyposes Theologicae), hatte aber ganz neue Aufgaben zu bewältigen. Zu diesen Aufgaben gehörte etwa die der Vermittlung zwischen einem neuartigen Gesetzes-Denken und dem neuen Reichtum der sinnlichen Erfahrungswelt. Diese Vermittlungsproblematik stellte sich innerhalb sämtlicher Bereiche: für die traditionellen universitären Disziplinen Theologie, Jurisprudenz und Medizin ebenso wie für die neue „politische", ethisch-soziale Verhaltensreflexion und insbesondere für sämtliche Künste. Hinzukam die Vermittlungsproblematik z w i s c h e n den sich verselbständigenden bereichsspezifischen Ordnungsvorstellungen. Im Bereich der sozialen Praxis kam der humanist. Jurisprudenz eine Führungsrolle zu, um das „Prinzip des G u t e n " , „das alle Menschen von Natur aus als solches erkennen und um seiner selbst willen anstreben", jeweils auch mit dem Prinzip der situationsspezifischen Billigkeit, des aequum, zu vereinbaren (vgl.

De nobilitate

legum et mediane

des Cicero-

nianers Coluccio Salutati von 1399). Im Bereich der Künste leistete die A r c h i t e k t u r t h e o r i e Schrittmacherfunktion (vgl. De re aedificatoria des unter dem Einfluß Salutatis stehenden Leone Battista Alberti von 1485, aus dessen Hand nicht zufällig auch eine Frühschrift De Iure von 1437 erhalten ist) (Vgl. zum Vorhergehenden Mühlmann 1970; weitere Lit. unten § 12). In der Öffentlichkeit der frühneuzeitl. höfisch-aristokratischen Repräsentationskultur hatte die Architektur den höchsten

Topik Demonstrationswert für gesellschaftliches Ordnungsdenken, noch ohne prinzipielle Unterscheidung zwischen kosmisch-natürlichem und rechdich-positivem „Gesetz". Im architektonisch Schönen war das Gesetz des höchsten Guts und der allgemeinen Harmonie — je nach dem sozialen Gebrauchszweck eines Gebäudes differenziert — zu sinnlicher Anschauung zu bringen. Wie das utile in der Staatskunst (Macchiavelli) und das aequum in der Rechtssprechung bedurften das ästhetische decorum in den Künsten und ebenso der „gute Geschmack" in Sprache und sozialem (höfischem) Verhalten (Castiglione) sowohl einer guten Kenntnis der jeweils herrschenden Normen als auch eines guten Geschicks, diese Normenkenntnis situationsspezifisch angemessen zu praktizieren. (Mußte doch seit dem Augsburger Religionsfrieden sogar die persönliche Glaubensentscheidung den jeweiligen Machtverhältnissen angepaßt werden.) Die im Zeitalter des beginnenden Absolutismus vor allem aus polit. Gründen ebenso schwierige wie lebenswichtige Kunst der Beherrschung eines angemessenen Rollenspiels auf dem theatrum mundi mit seinen oft genug konkurrierenden Spielregeln war eine der wichtigsten Leistungen der humanist. ars inveniendi. Das gesellschaftliche Organ der humanistisch-barocken ars inveniendi war idealiter noch immer der sensus communis und dessen individuelle Verinnerlichung das ingenium. Dieser Prozeß der Individualisierung der humanist. T. auf allen Gebieten ist noch wenig erforscht. Ein anderes Forschungsdesiderat stellt sich mit der Frage, wie sich im einzelnen der Renaissance-Humanismus mit den Mitteln der römisch-ciceronianischen inventio-Lehre in Ablösung des spirituellen Deutungskosmos des MA.s nicht nur neue topische Formen des „gesellschaftlichen Sinns", sondern zugleich auch solche der „gesellschaftlichen Sinnlichkeit" suchte (Mühlmann 1970, vgl. unten § 12). 6. B a r o c k . Schließlich sind auch die Wechselwirkungen zwischen Rhetorik-Humanismus und seinem inventio-Denken auf der einen Seite und jener schon erwähnten (vgl. oben § 2 . 4 ) , durch den Lullismus beförderten Entwicklung einer abstrakten ars inveniendi zu einer enzyklopädischen ars combinatoria auf der anderen Seite erst ansatzweise nachvollzogen. Die schon in der aristotelischen Topik beanspruchten Prinzipien uneinge-

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schränkter Wissens- und Problemoffenheit sowie eines freien kombinatorischen Gebrauchs der allgemeinsten Ordnungsgesichtspunkte in konkreten Problemstellungen gewannen im 16. u. 17. Jh. neues Gewicht. So kam es zu einer geradezu überschießenden Erfindungskunst auf der Suche nach möglichen neuen (topischen) Orientierungsprinzipien und zu äußerst komplizierten Spezialisierungs- wie auch Wechselwirkungsprozessen zwischen erapirisch-rationalem Kausalitätsdenken, systematisch-formaler Logik und Mathematisierung, Semiotik- und Erkenntnistheorien. Zu den „spitzfindigsten" Wort-, Gedanken- und Dingbeziehungen führte die ars combinatoria in der Poesie und in den bildenden Künsten (Allegorik, Emblematik). Auf künstlerischem Gebiet wurde am Ende alles mit allem verbunden, und durch analogischen „Witz" konnte gerade zwischen den Extremen noch die bedeutungsvollste Beziehung ,gefunden' und .erklärt' werden. Inventio als argumentierende Erfindung' machte bis in das frühe 18. Jh. hinein keinen Unterschied zwischen konventionalisierbarer geistreicher Bedeutungskonstitution und der Erkenntnis objektiver (Natur-) Gesetze. Daher konnte die heute oft abstrus erscheinende kombinatorische ars inveniendi vor allem des späten 17. Jh.s einen wesentlichen Beitrag zur methodologischen Entwicklung sowohl der modernen Mathematik, Logik und Sprachphilosophie als auch der gesamten empirischen Wissenschaften leisten. — Die barocke ars combinatoria bedeutet einerseits eine Kulmination der mal. spirituell-allegorischen Deutungstopik, andererseits deren Selbstzerstörung und den epochengeschichtlichen Durchbruch eines neuen universellen inventorischen Prinzips: des p o i e t i s c h e n . Die Erfindung immer neuer Einzeldisziplinen und immer neuer enzyklopädischer Gesamtsysteme (vgl. unten § 6) führte einerseits zu fachspezifischen kritisch-methodischen Einschränkungen des Problem- und ProblemlösungsBewußtseins (dagegen richtete sich ja Vicos heftige Apologie der topica copiosä), andererseits zu einem von keinem sensus communis mehr disziplinierten, rein additiven bzw. formalistisch - alphabetischen Enzyklopädismus des gesellschaftlichen Gesamtwissens (im größten Stil bei D'Alembert und Diderot, vgl. unten § 6). Während Omeis noch 1704 die Loci Topici (sie) zur Gewinnung „poetischer Erfindungen" empfiehlt (vgl. Herrmann 1970

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S. 89), lehnt sie Thomasius 1713 schon entschieden ab (vgl. Dyck 1966 S. 40ff., hier S. 64). 7. A u f k l ä r u n g . Wenn der Systemphilosoph Christian Wolff 1733 auch noch meint: „num utile sit artem inveniendi in systema redigi" (Ges. Werke Bd. 35, 1974 S. 130) und in Zedlers Universallexikon zur gleichen Zeit noch einmal alle klassischen Begriffe und Begriffserklärungen („Erfindung", „Inventio", „Loci Topici", „Topic, . . . " , „Gedächtnis") zusammengetragen werden, verliert für die neue, ,ästhetische' Theorie der produktiven Einbildungskraft der Topos- bzw. locusBegriff im frühen 18. Jh. fast schlagartig seine Bedeutung, selbst wo er, wie bei Baumgarten (vgl. dazu Linn 1974) rein verbal noch verwendet wird. Die weitere Reduzierung und völlige Umdeutung des Topik-Begriffs (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Ausg. A S. 259: „transzendentale Topik"; vgl. auch noch den Begriff „ T . " in Droysens Historik von 1858) läßt sich nur noch in Spurenelementen verfolgen, mit Ausnahme der mit einer gewissen Phasenverschiebung einsetzenden musiktheoretischen inventio-Lehre (dazu unten § 12). Die alle handwerklich oder wissenschaftlich definierbare, eingeschränkte, auf bestimmte Zwecke festgelegte Erfindungskunst übersteigende „freie" Einbildungskraft des künstlerischen ingeniums übernimmt im 18. Jh. die Funktion der alteuropäischen ars inveniendi. Kontinuität und Diskontinuität dieses Übergangsprozesses sind noch wenig erforscht. Wesentlich dominanter als alle (durchaus vorhandenen, aber von der geisteswissenschaftl. älteren Forschung überbetonten) spirituellirrationalistischen Beeinflussungen der modernen Ästhetik ist der Umstand, daß sich diese frühaufklärerisch als „critische Dichtkunst" und noch in frühromant. Intention als „Reflexionspoesie" — in moderner Ausdrucksweise als „ästhetischer Diskurs" (Jörg Zimmermann 1978) — konstituiert hat. Nicht zufällig rekurrierten die Frühromantiker noch einmal intensiv auf die in der barocken ars combinatoria ausufernde alteuropäische ars inveniendi, um das reflexive Wesen der „modernen Poesie" (Friedrich Schlegel) zu begreifen. In völlig neuer Qualität hatte allerdings die aufklärerische Philosophie der „freien" künstlerischen Einbildungskraft, von der früh-

aufklärerischen Geschmacksdiskussion bis zum spätaufklärerisch-idealistischen Theorem des „interesselosen Wohlgefallens", auch und gerade dort noch einen gesamtgesellschaftlichen Konsensus .erfunden', wo — wie in den Sprach- und Dichtergesellschaften, Akademien und Salons — die Gefahr des sozialen Konflikts, des Bruchs zwischen Adel und emanzipiertem Bürgertum, am größten war. In der Tradition der Renaissance-Ästhetik wurde das Schöne zum höchsten Topos für alle weitere gesamtgesellschaftliche Argumentationsphantasie'. Mit der idealistischen Idee des Schönen als sinnlicher Wahrnehmungsform aufklärerischen „Freiheits"-Pathos' (das Schöne als „Freiheit in der Erscheinung", Schiller), mit der Idee des Staates als des „vollkommensten aller Kunstwerke", mit dem Begriff von Schönheit, die allein dem Menschen „einen geselligen Charakter erteilen" könne (Schiller, Über d. ästh. Erziehg. d. Menschen, 2. u. 27. Brief), wurde die alteuropäische Vorstellung einer .gesellschaftlich relevanten Argumentationsphantasie', also das Grundprinzip der alteuropäischen ars inveniendi, im „ästhetischen Diskurs" (s. oben) gerettet. Diese idealistisch-ästhetische Rettung des consensus omnium im Zeitalter politisch-sozialer Revolutionspraxis läßt sich als Transformation des ,topischen Denkens' ins ,u-töpische Denken' bezeichnen. Dieser noch wenig erforschte Transformationsprozeß gesamtgesellschaftlichen Bewußtseins in soziale Utopie beginnt allerdings schon im Renaissance-Humanismus. 8. M o d e r n e . Angesichts der sich im 19. Jh. herausbildenden bürgerlich-proletarischen Zweiklassengesellschaft und im Blick auf das entsprechende dichotomische Kunstsystem mit seiner Grenzziehung zwischen „hoher" und „niederer" Kunst stellt sich als eine weitere noch zu bewältigende Forschungsaufgabe: die formale wie materiarle Topik „hoher" und „niederer" Kunst als T r a n s f o r m a t i o n der alteuropäischen Themen- und Stil-HöhenUnterscheidung zu verstehen und damit als E r h a l t u n g des Prinzips, daß alle künstlerische Tätigkeit letztlich in „sozialer Topik" wurzelt. Obwohl es die Literaturwissenschaft war, die den T.-Begriff (seit dem Zusammenbruch des bürgerlich-idealist. Bildungsdenkens in der Epoche des Faschismus) wieder in die Debatte gebracht hat, hat sie selbst die Rückbesinnung auf die Verwurzelung aller inventorischschöpferischen Phantasie im .gesellschaftlichen

Topik Problembewußtsein' und in einer gesellschaftlich relevanten Argumentationsphantasie' methodologisch bis heute noch nicht bewältigt — im Unterschied zur traditionsbewußteren rechtswissenschaftlichen T.-Reflexion und zu einer geradezu spontanen sozialwissenschaftlichen Aneignung des T.-Begriffs (vgl. unten die §§ 9 und 10). Auch und gerade die im letzten Jahrzehnt aufgeblühte lit.wiss. „Rezeptionsästhetik" (,bürgerlicher' wie .materialistischer' Provenienz) hat trotz der vor allem von Gadamer und Habermas inspirierten Debatte über „Ideologiekritik und Hermeneutik" kein neues Interesse an einer ,T.-Forschung' entwickelt, so nahe eine solche Entwicklung gelegen hätte (vgl. Bornscheuer 1976 (1) S. 180ff.). Diese Vernachlässigung des T.-Komplexes läßt sich z u m einen auf eine generell verkürzte, rein traditionalist. und geistesgeschichtliche Vorstellung von den Möglichkeiten einer „ T o p o s forschung" zurückführen (in diesem Sinne besonders deutlich Gumbrecht 1977), und zum andern auf die ganz anders orientierte, von den Rezeptionsästhetikern vertretene „ Ü b e r zeugung vom Primat des ereignishaft N e u e n über das prozeßhafte Gewordensein, der N e gativität oder Differenz über affirmative oder institutionalisierte Bedeutung" (Jauß 1975 S. 339). Zur Uberwindung irrtümlicher oder einseitiger Vorstellungen und Ausblendungen des Komplexes , , T . " wird im vorliegenden Artikel bewußt die ursprüngliche, p r o d u k t i o n s t h e o r e t i s c h e Relevanz der alteuropäischen T.-Lehre (als einer ars inveniendi) herausgestellt (trotz ihrer traditions- und konventionsbildenden Funktionsmomente; zum Zusammenhang von phantasia und memoria vgl. unten § 11). Gerade im Fortgang der „Rezeptionsästhetik" zu einer Theorie der „ästhetischen Erfahrung" (vgl. auch Jauß 1977) könnte eine verschärfte T.-Reflexion helfen, die D i a l e k t i k zwischen Phantasiepotential und „institutionalisiertem" Bedeutungspotential; zwischen Inventorik und Hermeneutik, und insbesondere die D i a l e k t i k zwischen allgemein-gesellschaftlichem und künstlerischem Phantasie- und Rezeptions-Potential besser zu verstehen. A p e l 1963/1975 s. § 4. Bornscheuer 1976 (1) s. § 1. H . D ö r r i e , Spätantike Symbolik u. Allegorese. FMSt. 3 (1969) S. 1-12. Joachim D y c k 1977: Athen u. Jerusalem. Die Tradition d. argumentativen Verknüpfung v. Bibel u. Poesie

461 im 17. u. 18. Jh. (1977; Ed. Beck 16). Werner E i s e n h u t , Einf. in d. antike Rhetorik u. ihre Gesch. (1974; 2. Aufl. 1977). M. F u h r m a n n , Obscuritas. Das Problem d. Dunkelheit in d. rhetor. u. literarästhet. Theorie d. Antike, in: Wolfgang I s e r (Hg.), Immanente Ästhetik — Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne (1966; Poetik u. Hermeneutik 2) S. 4772. Martin G r a b m a n n , Gesch. d. scholast. Methode. 2 Bde (1909/1911). G u m b r e c h t 1977: s. u. § 4. Hans Peter H e r r m a n n , Naturnachahmung u. Einbildungskraft. 2ur Entw. d. dt. Poetik v. 1670 bis 1740 (1970; Ars poética 8). H . R. J a u ß 1975: Negativität und Identifikation. Versuch zur Theorie der ästhet. Erfahrung, in: Harald W e i n r i e h (Hg.): Positionen der Negativität (1975; Poetik u. Hermeneutik 6) S. 263-339. Ders. 1977: Ästhetische Erfahrung u. literar. Hermeneutik. Bd. 1: Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung (1977; UTB. 692). Peter J e h n (Hg.), Toposforschung. E. Dokumentation (1972; Respublica Literaria 10). W. K r o l l , Rhetorik. PaulyWissowa Suppl. 7 (1940) Sp. 1039-1137. M. L. L i n n , A. G. Baumgartens 'Aesthetica'u. d. antike Rhetorik, in: Helmut S c h a n z e 1974: (Hg.), Rhetorik. Beitr. zu ihrer Gesch. in Dtschld. v. 16.-20. Jh. (1974; Fischer Athenäum Tb Litw. 2095) S. 105-125. M ü h l m a n n 1970 s. § 12. Gerhard O t t e , Dialektik u. Jurisprudenz. Unters, z. Methode d. Glossatoren (1971; Jus dommune, Sonderh. 1). Johann Heinr. Z e d i e r , Großes vollständiges Universallexikon, Stichworte Erfindung, Bd. 8 (1734) Sp. 1600-1602; Gedächtnis, Bd. 10 (1735) Sp. 552-560; Inventio, Bd. 14 (1735) Sp. 797; Loa Topid, Bd. 18 (1738) Sp. 104-106; Topic, Tópica, Topicum exemplum, Topicum universale, Topicus respectus, Topischer Beweis, Topische Methode, Bd. 44 (1745) Sp. 12741277. Jörg Z i m m e r m a n n , Ästhetische Erfahrung u. d. ,,Sprache der Natur". Zu e. Topos d. ästhet. Diskussion von d. Aufklärg. bis z. Romantik, in: Zimmermann, Sprache u. Welterfahrung (1978; Krit. Information 69) S. 234-256.

§ 3. A l l g e m e i n e R h e t o r i k f o r s c h u n g u n d i n t e r d i s z i p l i n ä r e T . - D i s k u s s i o n . Im Rahmen allgemeiner histor. oder lehrbuchmäßiger Darstellungen der alteuropäischen Rhetorik wurde auch die T. seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s, mit dem Ende der Rhetorik als regulärem Unterrichtsfach, stets mitberücksichtigt, oft genug mit ambivalenter Grundeinstellung gegenüber der gelehrten, aber unproduktiven Schatzkammer-inventio (vgl. Volkmann 1885; Neuansätze erst bei Apel 1963/ 1975, Dyck 1966, Barner 1970, Brückner 1975). Schon 1855 publizierte Eugène T h i o n v i l l e eine Monographie zur aristotelischen Topik.

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Mit Schwerpunkt auf dem späteren röm. Material präsentierte in bester positivist. Tradition erst 1960 der Romanist Heinrich Lausberg in seinem Handbuch der literarischen Rhetorik auch die klassische antike schulrhetorische inventio-hthie mit kaum überholbarer systematischer Vollständigkeit. Bis heute hat die hier zugrunde liegende Idee, das alte rhetor. Begriffs-System als literaturwissenschaftl. Analyseinstrument neu in Gebrauch zu nehmen, manche Nachfolger gefunden. — Ein anderer Romanist, Ernst Robert C u r t i u s , war demgegenüber mit seinen schon seit den späten 30 er Jahren verfaßten und in seinem 1948 unter dem Titel Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter zusammengefaßten historisch-komparatist. Studien vor allem an literar. Motiv-Traditionen von der Spätantike bis in die Neuzeit interessiert. Der — an die „chronologische Topik" Teichmüllers erinnernde — von Curtius geprägte Begriff ,,histor. T . " orientierte sich vor allem an dem mat e r i a l e n , durch Cicero zu hoher rhetorischliterar. Bedeutung aufgewerteten locus communis- Begriff sowie an der durch die ciceronianische , Gemeinplatz'-Rhetorik wesentlich bereicherten Lit.praxis seit der Spätantike. Curtius' neuer, inhaltlich-materialer Topos- bzw. T.-Begriff inspirierte eine Unzahl literaturgeschichtl. Motiv-Monographien (vgl. die Bibliographie bei Jehn 1972). Im Gegensatz zu diesen überwiegend auf bloße Motiv- und Themensammlung eingestellten lit.wiss. „Topos-Forschungen" löste innerhalb der Rechtswissenschaft — unter Hinweis auf Curtius' Topos-Begriff — Theodor Vieh weg seit den frühen 50 er Jahren eine langanhaltende methodologische Grundlagendiskussion aus. Und ebenfalls unter Bezug auf Curtius kam es noch in den 50 er Jahren zu einer sozialwissenschaftl. Begriffsrezeption in Form des von Hanno K e s t i n g erstmals verwendeten terminus technicus „soziale Topik". — Trotz der schon 1956 von dem Anglisten Edgar M e r t n e r erhobenen prinzipiellen Kritik daran, daß Curtius' ToposBegriff nichts zu tun habe mit dem formalklassifikatorischen /oc«s-Begriff der antik-röm. Schulrhetorik (locus = sedes argumentorum), lag offenbar gerade in dem wesentlich materialen Bedeutungsschwerpunkt von Curtius' T.-Verständnis dessen Virulenz für das neue jurist. Interesse am fallbezogenen inhaltlichkonkreten ,,Problem"-Denken wie auch für

das neue sozialwissenschaftl. Interesse an konkreten Bewußtseinsinhalten. Rein historische, auf Aristoteles' Dialektik und T. konzentrierte Forschungsinteressen verfolgte das internationale T h i r d Symposium A r i s t o t e l i c u m von 1963, während schon seit den fr'ühen 50 er Jahren die zahlreichen und international gewichtigen Arbeiten von Chaïm Perelman und L. O l b r e c h t s - T y t e c a auf der Basis der alteuropäischen Dialektik- und Rhetorik-Tradition eine entschieden aktualisierende, und zwar als Argumentationstheorie verstandene, „Nouvelle Rhétorique" entwickelten. Zu einer neue Perspektiven eröffnenden spezielleren T.Reflexion oder gar ,nouvelle topique' ist es jedoch in diesen Arbeiten ebensowenig gekommen wie in den kommunikations- und medientheoretisch interessierten anglo-amerikanischen Forschungen zu einer „New Rhetoric" seit Beginn unseres Jh.s. Einschlägiger und zahlreiche fachwissenschaftl. Tendenzen vermittelnd sind unter dem letztgenannten Aspekt (neben Schumann 1974) eher die seit den frühen 70er Jahren erscheinenden Arbeiten des Kommunikationswissenschaftlers Josef K o p p e r s c h m i d t , der schon in seiner Allgemeinen Rhetorik (1973) als Versuch der Begründung eines neuen „kritischen" Rhetorik-Verständnisses auch die Grundlagenbedeutung der T. für eine neue krit. Rhetorikpraxis herausgestellt hat. Kopperschmidts Gesamtkonzept einer „kritischen Rhetorik" folgt vor allem den Spuren von Jürgen H a b e r m a s und Walter J e n s . Den ersten Versuch, in Anknüpfung an die beiden wichtigsten antiken Rhetorik- und T.,Theoretiker', Aristoteles und Cicero, einen aktualisierbaren allgemeinen Topos- bzw. T.Begriff zurückzugewinnen, der es zugleich ererlauben könnte, die inzwischen in zahlreichen Einzelwissenschaften zu beobachtenden neueren T.-Diskussionen einer i n t e r d i s z i p l i n ä ren Gesamtdiskussion zuzuführen, meint der Verf. des vorliegenden Artikels unternommen zu haben (Lothar B o r n s c h e u e r , Topik, 1976 (1)). Ein solcher ,Versuch aus einer Hand' muß sich selbstkritisch vor allem die Gretchenfrage nach der jeweiligen Fachkompetenz stellen und kann mit guten Gründen auch in mancher anderen Hinsicht problematisiert werden. Geht es doch im vorliegenden Fall nicht nur um den Versuch eines Brückenschlags von der ältesten europäischen T.-Reflexion bis zu modernen „hermeneutischen"

Topik Theoremen unterschiedlichster Provenienz (spätidealistische philosophische Hermeneutik von Hans-Georg G a d a m e r ; „kritische" Sozialphilosophie von Jürgen H a b e r m a s ; gewerkschaftlich orientierte bildungs-politische Aufklärungsarbeit mittels der „sozialen Topik" im Sinne Oskar N e g t s). Noch problematischer mag es erscheinen, trotz einer neuen Differenzierung nach vier Begriffsmerkmalen ( B o r n s c h e u e r : Habitualität, Potentialität, Intentionalität, Symbolizität) dadurch einen interdisziplinär verwendbaren allgemeinen ToposBegriff zu (re-)konstruieren, daß ganz bewußt auf jenen vor-technischen und vor-wissenschaftlichen Status begrifflicher und methodologischer „Unscharfe" zurückgegriffen wird, den der Topos-Begriff bei Aristoteles und der locus communis-Begriff bei Cicero nach Auffassung Bornscheuers hatten. Ob es auf Dauer des Topos- bzw. T . Begriffs bedarf, um im Gegenzug zur gesamten neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung fachspezifisches Methodenbewußtsein auf neue Weise wieder an eine gesamtgesellschaftlich bedeutsame Argumentationsphantasie' zurückzubinden, bleibt abzuwarten. Den bislang entschiedensten organisatorischen Versuch, eine interdisziplinäre Diskussion über den Komplex „Topik" zwischen legitimierten Vertretern verschiedener Fachwissenschaften in Bewegung zu bringen, hat der „ A r b e i t s k r e i s für A l l g e m e i n e R h e t o r i k " mit einer Tagung im Jahre 1978 unter Leitung der Literaturwissenschaftler Dieter B r e u e r und Helmut Schanze unternommen. — Der umfänglichste, jedoch auch die begriffsgeschichtlichen und methodologischen Darstellungsprobleme sichtbar machende Artikel Invention stammt bislang von Hügli und T h e i s s m a n n 1976. A p e l 1963/1975 s. § 4. Wilfried B a r n e r 1970: Barockrhetorik. Unters, z. ihren geschichtl. Grundlagen (1970). Lothar B o r n s c h e u e r 1976 (1): s. § 1; dazu: O. P ö g g e l e r 1978: Rez. Poetica 10 (1978) S. 106-119. Dieter B r e u e r u. Helmut S c h a n z e (Hg.), Topik. E. interdisziplinäres Kolloquium (1980). W . B r ü c k n e r , Loci Communes als Denkform. Literar. Bildung, u. Volkstradition zw. Humanismus u. Historismus. Daphnis 4 (1975) S. 1-12. Ernst Robert C u r t i u s , Europ. Lit. u. lat. MA. (1948; zit. 6. Aufl. 1967). Joachim D y c k 1966: Ticht-Kunst. Dt. Barockpoetik u. rhetor. Tradition (1966; Ars poetica Bd. 1). H. G. G a d a m e r 1960/1965: s. § 4. J. H a b e r m a s 1967 u. 1971: s. § 6. W. J e n s , Rhetorik. Reallex. Bd. 3 (2. Aufl.

463 1977) S. 432-456. H. K e s t i n g , Zur sozialen Topik, in: Heinr. P o p i t z [u. a.], Das Gesellschaftsbild d. Arbeiters (1957; Soziale Forschg. u. Praxis 17) S. 81-88. Josef K o p p e r s c h m i d t 1973: Allg. Rhetorik. Einf. in d. Theorie d. Persuasiven Kommunikation (1973; Sprache u. Lit. 79). H. L a u s b e r g 1960: s. § 1. G. K. L e h m a n n 1966/1976: s. § 12. E. M e r t n e r , Topos u. Commonplace, in: Strena Anglica Festschr. f. Otto Ritter (Halle a. d. Saale 1956) S. 178-224. O. N e g t 1968/1971: s. § 10. Chaim P e r e l m a n u. L. O l b r e c h t s - T y t e c a , Traité de l'argumentation. La nouvelle rhétorique. 2 Bde (Paris 1958; 2. éd. Bruxelles 1970). O. P ö g g e l e r 1978: s. oben zu Bornscheuer (1976 (1)). H. G. S c h u m a n n , Ideologiekrit. Rhetorikforschg. als interdisziplinäre Aufgabe, in: H. S c h a n z e 1974, s. § 2 (zu Linn) S. 199-216. Zu T e i c h m ü l l e r vgl. H. G. M e i e r , Begriffsgeschichte. Hist. Wb. d. Philos. Bd. 1 (1971) Sp. 802 u. 808. Eugène T h i o n v i l l e , De la théorie des lieux communs (Paris 1855). Third Symposium Aristotelicum: Aristotle on Dialectic. The Topics. Proceedings of the Third Symposium Aristotelicum 1963 Ed. by G. F. L. Owen (Oxford 1968). Theodor Vieh w e g 1953/1974: Topik u. Jurisprudenz. E. Beitr. z. rechtswiss. Grundlagenforschg. (1953; 5. Aufl. 1974; Beck'sche Schwarze Reihe 110). Richard V o l k m a n n , Die Rhetorik d. Griechen u. Römer in systemat. Übersicht (1885; 3. Aufl. bes. von Caspar Hammer 1901; Hdb. d. Altertumswiss. II 3).

§ 4. Lit. Wissenschaft. Bei der Einführung des Topos-Begriffs als eines lit.wiss. terminus technicus orientierte sich C u r t i u s vor allem an dem (oben § 2. 1 und 2. 2 skizzierten) spätantiken Prozeß des (durch Ciceros emphatisches T.- und Rhetorik-Konzept eingeleiteten) Aufstiegs rhetorischer' Sprachkunst zu literar. Dignität bzw. der korrespondierenden Durchdringung sämtlicher Lit.-gattungen durch eine sprachästhetisch neu qualifizierte Rhetorik. „Ihr kunstvoll ausgebautes System wurde Generalnenner, Formenlehre und Formenschatz der Literatur überhaupt. Das ist die folgenreichste Entwicklung innerhalb der Geschichte der antiken Rhetorik" (Curtius 1948/1967 S. 79f.). Mit diesem spätantiken Prozeß der „Rhetorisierung der Lit." und der „Literarisierung der Rhetorik" (Fuhrmann 1973 S. 162) wurden zumindest in der literar. Praxis die Grenzen zwischen argumentativ-formaler und amplifikatorisch-materialer ,T.', zwischen den schulrhetorisch unterschiedenen rhetor. Aufgabenbereichen der inventio und der elocutio fortschreitend verwischt. Auf dieser lit.-ge-

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schichtl. Basis konnte sich Curtius mit seinem Topos-Begriff bewußt über die Grenze zwischen Gehalt und Gestalt, zwischen Inhalt und Form hinwegsetzen. Er konnte auf die in der Antike immer schon vorhandene Wechselwirkung zwischen Gebrauchsrhetorik und Kunstprosa bzw. Poesie verweisen und sprach von einer spezifisch poetischen Topik: „Naturschönheit im weitesten Sinne", „Wunschträume und Wunschzeiten" wie „das goldene Zeitalter". „Aber auch Lebensmächte: Liebe, Freundschaft, Vergänglichkeit (. . .)" ( a . a . O . S. 92). Den aus der Rhetorik abgeleiteten, aber neu verstandenen literarästhetischen Topos-Begriff konnte Curtius auch begriffsgeschichtlich durch den Hinweis auf das weite Bedeutungsfeld des antiken argumentum-Begriffs untermauern. Dieser Begriff „bedeutet nämlich in der klass. Latinität nicht nur ,rhetor. Beweisgrund', sondern auch ,Erzählung, Stoff, Inhalt, Gehalt, Vorwurf eines Gedichts', schließlich das Gedicht selbst, so daß Quintilian sagen kann, argumentum heiße omnis ad scribendum destinata materia." (a.a.O. S. 448f.) Wenn schließlich im frühen 7. Jh. n. Chr. der span. Erzbischof Isidor die (topische) Inventionskunst für die Dichter als ebenso unerläßlich erklärte wie für Redner, Juristen und Philosophen, so sprach er damit jenes Verständnis von der Einheit der gedanklichsprachlichen, argumentativ-amplifikatorischen Einbildungskraft aus, das von Cicero bis hin zu Vico nicht nur die Grundlage jeglichen ,Literatur'-Verständnisses bildete, sondern das auch sämtliche Disziplinen des Bildungssystems der artes liberales von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit hinein zusammenschloß. „Dem Redner ist ja der Dichter nahe verwandt" (Cicero), und der Redner galt bekanntlich als Inbegriff des universal Gebildeten. (Die hier einschlägigen Quellennachweise für Cicero, Isidor und Vico bei Bornscheuer 1976 (1), S. 250, Anm. 1.) Bis heute wird diese alteuropäische E i n h e i t von , B i l d u n g ' und E i n b i l d u n g s k r a f t ' unterschätzt. Der Umstand, daß seit dem Auftauchen der ersten lehrbuchmäßigen Poetiken im 12. Jh., die es überhaupt in der europäischen Lit.entwicklung gibt (vgl. Faral 1924/ 1962; dazu knapp Wiegmann 1977, S. 20ff.), die poetologische mventio-hehre weitgehend aus den Rhetorik-Lehrbüchern übernommen wurde, ist nur der theoret. Aspekt der Tatsache, daß bis in das frühe 18. Jh. hinein Dichtung —

wie jede andere Kunstart — sowohl als Gattung wie als Einzelwerk als eine Art „Argumentationssystem" (vgl. Dyck 1966 und 1974; außerdem Sieveke 1976) verstanden wurde. Der .Argumentations'-Charakter von Dichtung bezog sich dabei nicht nur auf die allgemeine gesellschaftliche Verwurzelung aller schöpferischen' Phantasie, auf die Bindung aller imaginatio (phantasia) an die memoria (vgl. unten § 11) — an das .Inventarium' gesellschaftlich anerkannter ,Inventionen'. Die grundsätzliche ,Argumentationsfunktion' aller Dichtung konnte sich in ganz konkreten disputatorischen bzw. juristisch-kasuist. Lit.formen exemplarisch verdichten (vgl. Gruenter 1952; Kafitz 1970; Neumeister 1969; Nolting-Hauff 1959). Gerade dieser Aspekt der Einheit der gesellschaftlich konsensusfähigen Einbildungskraft in allen kulturellen Disziplinen ist an der späten Apologie des neapolit. Rhetoriklehrers Vico auf der Wende vom alteuropäischen Humanismus zur Aufklärungsepoche mit wahrzunehmen. Denn Vico ging es nicht nur um das reiche Phantasiepotential, sondern auch um die Rettung des sensus communis, als er den pädagogischen Primat der topica gegenüber der cartesianischen nova critica, dem neuen fachwissenschaftl. Methodenrationalismus, verkündete. (Zu Vicos T.-Apologie vgl. Apel 1963/1975; Gadamer 1960/1965; Kopperschmidt, zuletzt 1980 (2); Viehweg 1953/1974). Die in der topischen ars inveniendi in spannungsvoller Einheit wirksamen unterschiedlichen Momente der memoria, phantasia, argumentatio und significatio (vgl. die entsprechenden von Bornscheuer 1976 (1), S. 91 ff. entwickelten vier t o p i s c h e n S t r u k t u r m e r k male: Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität), die nicht nur der Lit., sondern sämtlichen alteuropäischen Wissenschaften und Künsten ihre besondere kulturgeschichtliche Eigenart und psychologische Binnenstruktur verliehen (vgl. unten § 11), diese Grundkräfte der T. sind weder durch das Werk von Curtius noch durch die unzähligen von ihm inspirierten motivgeschichtlichen monographischen „Topos"-Untersuchungen bislang ausreichend erforscht. Um so gewissenhafter ist dieses gesamte Forschungsmaterial 1972 von J e h n dokumentiert worden (vgl. dazu B o r n s c h e u e r 1976 (1), S. 166ff. und 1976 (2); vgl. außerdem B a e u m e r 1973, auch dazu B o r n s c h e u e r a . a . O . ) . Unter den älteren Arbeiten zum Topos-Begriff und zur Toposfor-

Topik schung sind neben den Artikeln und Forschungsberichten von Veit 1963 und 1965, P ö g g e l e r 1970 und F i s c h e r 1973 hervorzuheben: G r o s s e 1968, O b e r m a y e r 1969, Beller 1970, F i s c h e r 1976; zu B o r n s c h e u e r 1976 (1) die umfangreiche Kritik von P ö g g e l e r 1978; über den von J e h n dokumentierten Forschungsstand hinaus weiterführende Überlegungen auch bei G a y c k e n 1976 und G r e i n e r 1977; ohne Kenntnisnahme der gesamten lit.wiss. Topos- und T.-Diskussion nach Curtius (!) und daher forschungsgeschichtlich verwirrend, die polemische Gegensatzkonstruktion zwischen „Toposforschung" und „Begriffsgeschichte" bei G u m b r e c h t 1977; vgl. demgegenüber H. G. Meier 1971. Schließlich ist auf die lit.wiss. Beiträge von W i e d e m a n n , A l l g a i e r , D r u x und P e t e r s in dem von B r e u e r und Schanze 1980 hg. Kolloquium-Band hinzuweisen.

Eine der rechtswissenschaftlichen T.-Diskussion vergleichbare methodologische Grundlagenreflexion des ,T.'-Komplexes innerhalb der Lit.wiss. hätte, über die gesamte alteuropäische Bedeutungsgeschichte der T . hinaus, zahlreiche unterschiedliche moderne Forschungsansätze der Hermeneutik, des Strukturalismus (s. d.), der Semiotik und etwa der Sozialpsychologie zu vermitteln und käme kaum umhin, aus den ,topischen Dimensionen' literarisch-künstler. Textkonstitution heraus vor allem auf eine Vermittlung zwischen alltagsweltl. und künstler. ,Problemphantasie' hinzuarbeiten. Da das ,topische Verfahren' im aristotelischen Sinne grundsätzlich immer nur als ein H i l f s v e r f a h r e n jeglichen m e t h o dischen Argumentierens' im strengeren Sinne verstanden werden sollte, geht es nicht um die Etablierung einer ,topischen Lit.wiss.'. Wohl aber könnte die Rückbesinnung auf die ,topischen Dimensionen' aller Lit. auch und gerade de'n literarästhetischen Kommunikationsprozeß — wie alle künstlerische Arbeit — als ein .Problemlösungsverfahren sui generis' wiederentdecken lassen. Im Gegensatz zu allen wissenschafdich-technologisch eingeschränkten Problemlösungsmethoden stellen künstler. Texte die vermutlich komplexesten Informationsträger dar, die der Mensch bislang überhaupt zu erfinden vermochte (Jurij M. Lotman, 1972). Die weitere Erforschung der dynamischen Binnenstruktur der alteuropäischen ars inveniendi könnte daher der modernen Textund Kommunikationsästhetik mancherlei Hilfestellungen bieten, um die Komplexität künstler. Problemgestaltung und Problemlösungsverfahren primär wieder aus dem komplexen

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Fundus alltagsweltl. Problemerfahrung und Problemlösungsphantasie heraus zu verstehen (vgl. dazu Hillmann 1977; außerdem Lehmann 1966/1976), ohne daß die spezifisch ästhetische Differenz zwischen alltagsweltlicher und künstlerischer Problembewältigung vernachlässigt werden dürfte. In diesem Sinne erscheint heute eine historisch fortschreitende Rückkehr aus dem ,u-topischen' Kunst-Begriff der bürgerlich-idealist. Ästhetik zu einem ,topischen', d. h. gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Verständnis aller überhaupt bedeutsamen' Kunst denkbar (vgl. oben § 2. 7, Ende und unten § 12, Ende). Karl-Otto Apel 1963/1975-.DieIdeed. Sprache in d. Tradition d. Humanismus v. Dante bis Vico (1963; 2., durchges. Aufl.; Archiv f. Begriffsgesch. 8). Max L. B a e u m e r (Hg.): Toposforschung (1973; WegedFschg. 395). M. B e l l e r , Von d. Stoffgesch. z. Thematologie. E. Beitr. z. komaparatist. Methodenlehre. Arcadia 5 (1970) S. 1-38. L. B o r n s c h e u e r 1976 (1) s. § 1. Ders. 1976 (2): Bemerkungen z. Toposforschung. Jb. f. mlat. Philologie 11 (1976) S. 312-320. B r e u e r / Schanze 1980: s. § 3. E. R. C u r t i u s 1948/1961: s. § 3. J. D y c k 1966: s. § 3. Ders. 1974: Rhetor. Argumentation u. poet. Legitimation. Zur Genese u. Funktion zweier Argumente in d. Lit.theorie d. 17. Jh.s, in Schanze 1974: s. § 2 (zu Linn) S. 69-86. Edmond F a r a l , Les arts poétiques du XIF et du XIII' siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge (Paris 1924; Nachdr.; 1962; Bibl. de l'École des Hautes Études 238). L. F i s c h e r 1973: Topik, in: Grundzüge d. Lit.- u. Sprachwiss. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Volker Sinemus Bd. 1 (1973) S. 157-164. Ders. 1976: Naturzauber, warenwirtschaftl. u. poet. Prospekt d. Analyse e. Stücks aktueller Topik. JblntGerm. 8 (1976) S. 4976. Manfred F u h r m a n n 1973: Einf. in d. antike Dichtungstheorie (1973). Hanne B. G a y c k e n , A Comparative Study of Topoi in Germanie and Romance Médiéval Literature. Diss. (Masch.) Univ. of Tennessee, Knoxville (1976). HansGeorg G a d a m e r , Wahrheit u. Methode (1960; 2. Aufl., durch e. Nachw. erw. 1965). Bernhard . G r e i n e r , Welttheater als Montage. Wirklichkeitsdarstellg. u. Leserbezug in romant. u. mod. Lit. (1978; Medium Lit. 9). Ernst Ulrich G r o s s e , Sympathie d. Natur. Gesch. e. Topos (1968; Freiburger Sehr. z. roman. Philologie 14). R. G r u e n t e r , Über d. Einfl. d. genus iudiciale auf d. höf. Redestil. DVLG 26 (1952) S. 49-57. H. U. G u m b r e c h t , Toposforschung. Begriffsgesch. u. Formen d. Zeiterfahrung im MA., in: Beiträge z. roman. MA. Hg. v. Kurt Baldinger (1977; ZfromPh., Sonderbd.) S. 1-16. Heinz H i l l m a n n , Alltagsphantasie ». dichter. Phanta-

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sie. Versuch e. Produktionsästhetik (1977; Athenäum Tb 2130). P. Jehn 1972: s. § 2. Dieter K a f i t z , Lohensteins 'Arminias'. Disputator. Verfahren u. Lehrgehalt in e. Roman zw. Barock u. Aufklärung. (1970; Germanist. Abhh. 32). J. Kopperschmidt 1980 (2): T. u. Kritik, in: Breuer/Schanze 1980: s. § 3, S. 171ff. Jurij M. L o t m a n , Die Struktur literar. Texte. Übers, v. R.-D. Keil (1972; UTB. 103). Sebastian Neumeister, Das Spiel mit d. höf. Liehe. Das altprovenzal. Partimen (1969; Poetica, Beitr. 5). Ilse N o l t i n g - H a u f f , Die Stelig. d. Liebeskasuistik im höf. Roman (1959; Heidelberger Fschgn. 6). A. O b e r m a y e r , Zum Toposbegriff d. mod. Lit.wiss. Jb. d. Wiener Goethe-Ver. NF. 73 (1969) S. 107-113. O. Pöggeler 1970: Dialektik u. T., in: Hermeneutik u. Dialektik H. G. Gadamer z. 70. Geh. Hg. v. Rüdiger Bubneru. a. Bd. 2 (1970) S. 273-310. O. Pöggeler 1978: s. § 3. F. G. Sieveke 1976: T. im Dienst poet. Erfindung. Zum Verhältnis rhetor. Konstanten u. ihrer funktionsbedingten Auswahl oder Erweiterung (Omeis-Richter-Harsdörffer). JblntGerm. 8 (1976) S. 17-48. W. Veit 1963: Toposforschg. E. Forschungsbericht. DVLG 37 (1963) S. 120-163. Ders. 1965: Topos. Fischer Lex. Lit. Bd. 2/2 (1965) S. 563-570. T. Viehweg 1953/1974: s. § 3. Hermann Wiegmann, Gesch. d. Poetik. E. Abriß (1977; SammlMetzler 160). § 5. T h e o l o g i e . Die enge Verflechtung zwischen schulrhetor. inventio-Lehre und christl. H o m i l e t i k ist unter dem Stichwort ars praedicandi vielfach erforscht (Jens 1972, S. 439f., 451 mit weit. Lit.; Jehn 1972, S. 325f. (Nr. 17-23)) und wird auch in der neueren Predigt.Lit. weiter verfolgt (Grünberg 1973; Josuttis 1975, S. 46ff.; Fuchs 1978). - Weniger geklärt scheint bislang die oben ( § 2 . 2) angedeutete Konvergenz zwischen dem epochengeschichtlich neuen Interesse am „Erhabenen" und gleichsam Numinosen aller KlassikerSchriften seit Beginn der röm. Kaiserzeit (vgl. Fuhrmann 1973, S. 161 ff., bes. S. 176) und dem damit verbundenen Interesse an neuen symbolisch-allegorischen Verfahren hermeneutischer,,Sinn-Findung" (Dörrie 1969) in rhetorischen, poetischen, religiösen, jurist. Texten nichtchristl. Provenienz auf der einen Seite sowie dem Beginn christlich-spiritueller E x e getik auf der anderen Seite (vgl. im allgemeinen Ohly 1958/59, Lubac 1959, Hoefer 1971). Insbesondere wäre die prinzipielle Untrennbarkeit zwischen homiletischer und exegetischer, zwischen textherstellender, textauslegender und textverkündigender , Argumentationsphantasie' noch genauer zu erforschen

(vgl. Jens 1972, S. 442; hier bes. Sieveke 1974, S. 44). Zur topischen Argumentationskunst in der hochmal.-scholast. Theologie Lang 1961 und Haible 1969 sowie zu Lulls Extremvariante scholast. T. (vgl. oben § 2. 4) Platzeck 1953, Pring-Mill 1961 und mit poetologie-geschichtlichem Hintergrund Neubauer 1978. (Zur Lull-Rezeption vgl. oben § 2. 6 und unten § 6.) — Zur frühprotestant. Argumentationstopik noch immer aufschlußreich Joachimsen 1926; zu Luther Stolt 1969 und Nembach 1972; zu Melanchthon Schnell 1968; demnächst (auch zu Agricola u. Erasmus) SchmidtBiggemann mit weit. Lit. — Zur T. in der Rhetorik des Jesuiten Caussinus (17. Jh.) Sieveke 1974. H. D ö r r i e 1969: s. § 2. Ottmar Fuchs, Die lebendige Predigt (1978). M. Fuhrmann 1973: s. § 4. Wolfgang Grünberg, Homiletik ». Rhetorik. Zur Frage e. sachgemäßen Verhältnisbestimmung (1973). E. Haible, Loci theologici, in: Sacramentum Mundi. Theolog. Lexikon f. d. Praxis. Hg. v. Karl Rahner Bd. 3 (1969) Sp. 291296. Hartmut H o e f e r , Typologie im MA. Zur Übertragbarkeit typolog. Interpretationen auf weltl. Dichtg. (1971; Göppinger Arb. z. Germanistik 54). W. Jens 1972: s. § 3. P. J o a c h i m s e n , Loci communes. E. Unters, z. Geistesgesch. d. Humanismus u. d. Reformation. Luther-Jb. 8 (1926) S. 27-97. M. J o s u t t i s , E. Renaissance d. Rhetorik. Beihefte z. Evgl. Theologie 20 (1975) S. 22-48. A. Lang, Loci theologici. LThK. Bd. 6 (1961) Sp. 1110-1112. Henri de Lubac, Exégèse Médiévale. Les quatre sens de l'Écriture. P. 1-2 (Paris 1959-1964; Théologie 41. 42. 59). Ulrich Nembach, Predigt d. Evangeliums. Luther als Prediger, Pädagoge ». Rhetor (1972). John Neubauer, Symbolismus ». symbol. Logik. Die Idee d. 'Ars Combinatoria' in d. Entw. d. modernen Dichtung (1978; Humanist. Bibl. I, 28). F. O h l y , Vom geistigen Sinn d. Wortes im MA. ZfdA 89 (1958/59) S. 1-23. Eberhard Wolfram Platzeck, Raimund Lull. Sein Leben — seine Werke. Die Grundlagen s. Denkens. 2 Bde (1962-1964; Bibliotheca Franciscana 5. 6). R. D. F. P r i n g - M i l l , Grundzüge von 'Lulls Ars Inveniendi Veritatem'. Arch. f. Gesch. d. Philos. 43 (1961) S. 239-266. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica Universalis. E. Modeligesch, humanist. ». barocker Wissenschaft. Habil.schr. FU Berlin (in Vorber. z. Druck). Uwe Schnell, Die homilet. Theorie Philipp Melanchthons (1968; Arbeiten z. Gesch. u. Theologie d. Luthertums 20). F. G. Sieveke 1974: Eloquentia sacra. Zur Predigttheorie d. Nicolaus Caussinus S. ]., in: Schanze 1974: s. § 3 (zu Linn) S. 43-68. Birgit Stolt, Studien z. Luthers Freiheitstraktat m. bes. Rücksicht auf d. Verh. d. lat. ». d. dt. Fassung zueinander ». d. Stilmittel d. Rhetorik (Stockholm 1969; Stockholmer Germanist. Forschungen 6).

Topik § 6. Philosophie/Enzyklopädismus. Der schon von der Sophistik und auch im Eingangssatz der aristotelischen T.-Schrift erhobene Anspruch, ein Verfahren finden zu wollen, um. gegenüber j e d e r Problemstellung gewachsen zu sein, enthält in nuce die prinzipiell enzyklopädistische Tendenz topischen Problemdenkens. Der damit notwendig verbundene Anspruch auf Allgemeinbildung (enkyklios paideia) haftet der rhetorisch-dialektischen T.-Lehre bis zu ihrer lullistisch-barocken Hypertrophierung zu einer universellen ars combinatoria an, — trotz der jahrhundertealten schulrhetor. Disziplinierung der ars inveniendi im Disziplinensystem der artes liberales. Die universalist. Grundtendenz des topischen Verfahrens verlieh diesem von Anfang an eine gewisse philosophische Dignität. (Aristoteles: „Bis zur Topos-Findung vollzieht sich die Betrachtungsweise des Philosophen und des Dialektikers auf ähnliche Weise." Top. 155b; zu Ciceros Aufwertung der rhetor. inventio Apel 1963/1965, bes. S. 131 ff., Bornscheuer 1976 (1), S. 71 ff.). Gegenüber der bislang überwiegend systemphilosophischen Betrachtung des aus der frühneuzeitlichen kombinatorischen ars inveniendi erwachsenen „Enzyklopädismus" (grundlegend Dierse 1977) ist der nuancenreiche Ubergangsprozeß von einer mehr topisch-klassifikatorischen Enzyklopädistik (antik-mal. Prägung) zu einer mehr utopisch-poietischen Enzyklopädistik (frühneuzeitlicher Prägung) noch wenig erforscht (erster Ansatz jetzt bei Schmidt-Biggemann). Diese Erforschung setzt allerdings diejenige des in der T . untrennbaren Komplexes memoria — argumentatio — phantasia voraus (vgl. dazu unten § 11). Zum Enzyklopädismus allgemein: Schalk 1972; zum antiken E.: Fuhrmann 1960, Grimal 1965/ 66; zum mal. E.: G o e t z 1936; zum Übergang vom MA. zur frühen Neuzeit (sowie darüber hinaus grundlegend zum angedeuteten memoria — argumentatio — phantasia — Komplex): Rossi 1960; zu den philosophischen Implikationen des topischen Denkens im Sprachhumanismus von Dante bis Vico: Apel 1963/1975; über die logik-geschichtlichen Implikationen (vgl. dazu u. § 7, insbesondere Risse 1964 u. 1965/1970) hinaus zum Gesamtfeld der Topica Universalis im 16. und 17. Jh. demnächst Schmidt-Biggemann; aus dem Bereich der Leibniz-Forschung sei in diesem Zusammenhang lediglich hingewiesen auf Schepers 1966; abschließend ist noch einmal die wissenschaftssystematische Gesamtdarstellung des E. vom 16. bis 19. Jh. von Dierse

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1977 herauszustellen. Hier S. 58 der anregende Hinweis darauf, daß unter dem langfristigen Einfluß der im frühen 17. Jh. konzipierten empirischinduktiven ars inveniendi Bacons (vgl. dazu auch Bloch 1972, S. 85ff.) die schon der alteuropäischen ars inveniendi immanente Trias memoria — argumentatio — phantasia sich im Grundriß der aufklärerischen Enzyklopädie D'Alemberts und Diderots in voller historisch-logischer Konsequenz zu der Wissenschafts-Trias „Historia (Memoria), Philosophia (Ratio) und Poesia (Phantasia)" aufgefächert hat. Die Aktualität der philosophischen Rückbesinnung auf die T . lag implizit schon G a d a m e r 1960/1965 zugrunde (vgl. dazu Bornscheuer 1976 (1), S. 181 ff.); explizit wurde sie von A p e l 1963/1975 im Sinne einer „seinsgeschichtlich-transzendentalen Hermeneutik" (S. 58) thematisiert, ferner vor allem von P ö g g e l e r in den Arbeiten 1960, 1962, 1970, 1978, 1980. Zum Reflexionszusammenhang zwischen philosophischer Hermeneutik und Sozialwissenschaft vgl. H a b e r m a s 1967/1970 und 1971. K.-O. Apel 1963/1975: s. § 4. Ernst B l o c h , Vorlesungen z. Philosophie d. Renaissance (1972; SuhrkTb 75). Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Gesch. e. philos, u. wiss.theoret. Begriffs (1977; Arch. f. Begriffsgesch. Suppl.-H. 2). Manfred Fuhrmann, Das systemat. Lehrbuch. E. Beitr. z. Gesch. d. Wiss. in d. Antike (1960). H. G. Gadamer 1960/1965: s. § 4. W. G o e t z , Die Enzyklopädien d. 13. ]h.s. E. Beitr. z. Entstehg. d. Laienbildung. Zs. f. dt. Geistesgesch. 2 (1936) S. 227-250. P. Grimal, Encyclopédies antiques. Cahiers d'Histoire Mondiale 9 (1965/1966) S. 459482. Jürgen Habermas 1967/1970: Zur Logik d. Sozialwiss. (1967; Philos. Rs., Sonderh. 5 Neuaufl. 1970; EdSuhrk. 481). Ders. 1971: Der Universalitätsanspruch d. Hermeneutik, in: Hermeneutik u. Ideologiekritik (1971 ; Theorie-Diskussion) S. 120159. H. G. Meier 1971: s. § 3 (zu Teichmüller). O. Pöggeler 1960: Dichtungstheorie ». Toposforschung. JbÄsth. 5 (1960) S. 89-201. Ders. 1962: Metaphysik u. Seinstopik hei Heidegger. Philos, d. Görres-Ges. Jb. 70 (1962) S. 118-137. Ders. 1970: s. § 4. Ders. 1978: s. § 3. Ders. 1980: T. ». Philosophie. In: Breuer/Schanze 1980: s. § 3, S. 95ff. Wilhelm Risse, Logik d. Neuzeit. 2 Bde (1964-1970). Ders. Bibliographe Logica. 4 Bde (1965-1979). Paolo R o s s i , Clavis Universalis. Arti mnemoniche e logica combinatoria da Lullo a Leibniz (Milano, Napoli 1960). F. Schalk, Enzyklopädie. Hist. Wb. d. Philos. Bd. 2 (1972) Sp. 573-575. Ders., Enzyklopädismus. Ebd. Sp. 575-577. H. Schepers 1966: Leibniz' Arbeiten z. e. Reformation d. Kategorien. Zs. f. philos. Fschg. 20 (1966) S. 539568. W. Schmidt-Biggemann: s. §5.

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§ 7. L o g i k / A l l g e m e i n e A r g u m e n t a t i o n s t h e o r i e . Das logikwissenschaftliche Interesse an der rhetorisch-dialektischen ars inveniendi-Lehre hat seit der antiken Logik selbst eine kontinuierliche Tradition und stellt auch in der T.-Forschung seit dem 19. Jh. neben der allgemeinen Rhetorikforschung (vgl. oben § 3) bis zur lit.wiss., rechtswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen T.-Diskussion seit der Mitte unseres Jh.s (vgl. hier die §§ 4, 9 und 10) die eigentliche Dominante dar. Insbesondere das formallogische T.-Verständnis überwiegt noch bei B i r d 1961, auf dem „ T h i r d S y m p o s i u m A r i s t o t e l i c u m " von 1963 und etwa bei de P a t e r 1965 im Bereich der Aristoteles-Forschung, aber auch etwa noch bei R i s s e 1964 im Bereich der Cicero- und Humanismus-Forschung oder H o w e l l 1971 (für das englische 18. Jh.). Vgl. auch S c h e p e r s 1972. — Innerhalb der Aristoteles-Forschung haben schon W i e l a n d 1962 und D ü r i n g 1966 auf die Eigenständigkeit des topischen Denkens und das Bestimmende gerade dieser Denkform im gesamten aristotelischen Œuvre aufmerksam gemacht. Zum methodologischen „Unschärfe"-Prinzip B o r n s c h e u e r 1976 (1), S. 42ff. ; in ähnlichem Sinne S p r u t e 1975. — Im Rahmen der allgemeinen Rhetorik-Forschung haben vor allem die Arbeiten von P e r e l m a n und O l b r e c h t s ' T y t e c a , im Widerspruch zum ,logischen' Argumentationsmodell der gesamten neuzeitlichen Wissenschaftsmethodologie seit Descartes, das rhetorische' Argumentationsmodell im Sinne des Argumentierens ad hominem neu zur Geltung gebracht. Fast gleichzeitig nahm sich auch T o u l m i n 1958/1975 wieder die Jurisprudenz zum Paradigma eines nicht formalistisch-„analytischen", sondern „substantiellen" Argumentierens, wobei Toulmin gerade für dieses „substantielle", auf Kriterien wie „Wahrscheinlichkeit" und „Relevanz" gestützte Argumentieren die allgemeingültigen formalen Standards zu ermitteln sucht. Berücksichtigt man schließlich das von V i e h w e g 1953/1974 (vgl. u. § 9) in ähnlicher Intention innerhalb der Rechtswissenschaft selbst dem in cartesianischer Tradition stehenden „Systemdenken" kontradiktorisch entgegengestellte „Problemdenken", das Viehweg explizit aus der alteuropäischen T . heraus zu rehabilitieren versucht, dann ist es berechtigt, innerhalb der gesamten neueren allgemeinen „Argumentations"-Theorien von einer Abkehr von logisch-

formalanalytischen Kriterien und einer Hinwendung zu inhaltsorientierten, substantiellen „Relevanz"-Kriterien zu sprechen. Diese Wende könnte insgesamt als die ,topische Wende der Argumentationstheorie' bezeichnet werden. Unter explizitem Rückgriff auf das Begriffsfeld T . : K o p p e r s c h m i d t , insbes. 1977 (1) u. (2), S c h e c k e r 1977, G ö t t e r t 1978. (Vgl. außerdem unten § 10.) O. B i r d , The Re-Discovery of the Topics. Mind 70 (Edingburgh 1961) S. 534-539. Ingemar D ü r i n g , Aristoteles. Darstellung u. Interpretation s. Denkens (1966; Bibl. d. Klass. Altertumswiss. N F . I, 2). Karl-Heinz G ö t t e r t , Argumentation. Grundzüge ihrer Theorie im Bereich theoret. Wissens u. prakt. Handelns (1978; Germanist. Arbeitshefte 23). Wilbur Samuel H o w e l l , Eighteenth-Century British Logic and Rhetoric (Princeton, N . J . 1971). Josef K o p p e r s c h m i d t 1977 (1): Überzeugen. Problemskizzen z. d. Gesprächschancen zw. Rhetorik u. Argumentationstheorie. In: Michael S c h e c k e r (Hg.), Theorie d. Argumentation (1977; Tübinger Beitr. z. Ling. 76) S. 203-240. Ders. 1977 (2): Zw. Sozialtechnologie u. Kritik. Plädoyer f. e. andere Rhetorik. JblntGerm. 9 (1977) S. 53-89. Ders. 1978: Sprache u. Vernunft. T . 1: Das Prinzip vernünftiger Rede. (1978). Ders. 1980 (1): Sprache u. Vernunft. T. 2: Argumentation. (1980). W. A. de P a t e r , Les Topiques d'Aristote et la dialectique Platonicienne. La méthodologie de la définition (Fribourg/S. 1965; Études thomistes 10). C. P e r e l m a n u . O l b r e c h t s - T y t e c a i s . § 3 . W. R i s s e 1964 s. § 6. M. S c h e c k e r , Argumentationen als illokutionäre Sprechakte, in: S c h e c k e r 1977: s. oben (zu K o p p e r s c h m i d t 1977 (1)) unter Registerstichwort. H. S c h e p e r s 1972: Enthymem. Hist. Wb. d. Philos. Bd. 2 (1972) Sp. 528-538. Third Symposium Aristotelicum: s. § 3. Stephen T o u l m i n 1958/J975: Der Gebrauch v. Argumenten (Engl. Ausg. Cambridge 1958, dt. Ausg. 1975; Wiss.theorie u. Grundlagenforschg. 1). T. V i e h w é g 1953/1974: s. § 3. Wolfgang W i e l a n d , Die aristotel. Physik. Unters, über d. Grundlagen d. Naturwiss. u. d. spracht Bedingungen d. Prinzipienforschung bei Aristoteles (1962).

§ 8. S e m i o t i k / L i n g u i s t i k . Das Verhältnis zwischen res und verbum und die unterschiedlichen Möglichkeiten der significatio stellen nicht nur in den Bereichen von Dialektik und Rhetorik, sondern auch in spezielleren Theorie-Entwicklungen auf den Gebieten der Logik und Sprachphilosophie seit der Antike, und mit ganz besonderer Intensität im HochM A . , eine Grundproblematik europäischen

Topik Denkens dar, die in vielfacher Weise mit Grundproblemen des ,topischen Denkens' verflochten ist. (Über die schon oben in § 7 angegebenen Lit.hinweise hinaus vgl. zur mal. Sprachphilosophie Pinborg 1972.) Obwohl die T . als ars inveniendi schulrhetorisch-propädeutisch säuberlich von der zweiten Hauptaufgabe des Redners, dem Arbeitsfeld der elocutio, getrennt wurde, ist es keine bloße Unachtsamkeit, wenn Cicero einmal von ,Stil-loci' („de ornatu loci", De or. I I I , 210) spricht; läßt doch gerade er mit seiner loci commune s-T. gar keinen prinzipiellen Unterschied mehr zu zwischen den Quellen für die Gedankenfindung und denen des eloquenten Redestroms (vgl. oben § 2. 1). Schon bei den älteren Sophisten hatten die koinoi topoi offenbar oft ein festes sprachliches oder sogar stilistisch umfängliches Gewand (vgl. Cicero, Brut. 46; dazu auch Kroll 1940 Sp. 1044). Sprachlich-stilist. Stereotypie gehört also von Anfang an zum Bereich der T . , was nicht schlechthin negativ zu verstehen ist, da ja auch etwa Sprichwörter oder Dichterzitate als argumenta gelten konnten bzw. interpretierbar waren (vgl. oben § 4 zum argumeniKm-Begriff). B r e u e r 1974 (1) S. 176 spricht daher mit gutem Grund einmal von der „Topik der sprachlichen Wirkungsmittel" (was von P l e t t 1977 (2) S. 146 nur mit Vorbehalt hingenommen wird, obwohl dieser innerhalb seines eigenen Kapitels Die Pragmatik der Figuren mit der Anerkennung einer möglichen „persuasiven Funktionalisierung der rhetor. Figuren" (ebd.) durchaus selbst eine spezifisch ,topische' Funktion charakterisiert, nämlich die argumentationsfördernde Funktion rhetorischliterar. Stilmittel). In wesentlich anderer Richtung als das von B r e u e r und P l e t t verfolgte Instrumentarium zur Analyse mehr oder weniger a r t i f i z i e l l e r Texte fragt die Soziolinguistik nach den a l l t a g s s p r a c h l i c h e n Bedingungen und Ausdrucksformen gesellschaftlicher Argumentationsphantasie' und „sozialer T . " . Die explizite Diskussion dieses letztgenannten Begriffs spielt zwar in dem hier einschlägigen, fast unübersehbar gewordenen Forschungsfeld nur eine eingeschränkte Rolle. Doch ist von der Sache her die gesamte sozialwissenschaftlich orientierte Sprachwissenschaft von T.forschung kaum abgrenzbar (vgl. unten § 10). An dieser Stelle sei lediglich auf den zweiten, linguistischen Teil in der Arbeit von Q u a s t h o f f 1973

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hingewiesen, in dem es um verschiedene Beschreibungsmodelle für den Begriff „Stereot y p " als der sprachlichen Ausdrucksform des „sozialen Vorurteils" geht. Den noch relativ unentwickelten Diskussionsstand einer allgemeinen ,semiotischen' T . forschung dokumentieren die wenigen Lit.verweise und die umso anregenderen Thesen S p i l l n e r s „zur Zeichenhaftigkeit der T . " (1980; vgl. auch Spillner 1977 S. 102f.) sowie die knappen Hinweise bei F u h r m a n n 1975. Trotz des begriffsgeschichtlichen Übergangs vom Toposbzw. genauer vom „commonplace"-Begriff zum „topic"-Begriff in England während des 18. J h . s (vgl. Mertner 1956 S. 2 1 6 f . ) ist heutzutage ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, daß der im Zusammenhang der Transformationsgrammatik verwendete Begriff „top i c " (bzw. der Begriff „Topikalisierung", vgl. Heintz 1978 S. 158ff.) mit einer semiotischen Problematisierung des alteuropäischen T.-Begriffs (im Sinne des vorliegenden Artikels) nichts zu tun hat (diesem Mißverständnis verfällt Hartig 1977 S. 2 1 0 f . als Übersetzer eines engl. Beitrags). Mit einem Rhetorik-Kapitel berührt E c o 1968/1972 in seiner Einführung in die Semiotik (s. 179-194) auch Probleme der T . , jedoch nur auf knappem Raum. Die differenziertesten semiotischen Überlegungen zum topischen Verfahren finden sich bislang, nicht zufällig, in der Rechtswissenschaft, und zwar bei S c h r e c k e n b e r g e r 1978, während es auch bei N e u b a u e r 1978 noch vorwiegend bei einer histor. Beschreibung der spätbarocken, insbesondere leibnizianischen, und der frühromant. Versuche bleibt, für die inventorische ars combinatoria einen „Kalkül" bzw. eben eine ganze „Semiotik" zu entwickeln. Während es N e u b a u e r gerade auf die Autonomie der — auch ästhetisch relevanten — abstrakten Argumentationsphantasie ankommt, hat S c h r e c k e n b e r g e r , unter Bezug auf konkrete Fallanalysen, dezidiert „pragmatische Geltungskriterien" im Auge. Dieter Breuer 1974 (1): Einf. in d. pragmat. Texttheorie (1974 UTB. 106). Umberto E c o , Einf. in d. Semiotik (Ital. Ausg. Milano 1968, dt. Ausg. 1972 UTB. 105). M. Fuhrmann 1975: Die linguist. Pragmatik u. d. rhetor. StatusLehre, in: Positionen d. Negativität, hg. v. Harald Weinreich (1975; Poetik u. Hermeneutik 6) S. 437-439. M. Hartig: Ubers, v. S. Ervin-Tripp, Eine Analyse d. Interaktion v. Sprache, Gesprächstopik «. Hörer. In: Ursula Wenzel u. Matthias

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Topik

H a r t i g (Hg.), Sprache, Persönlichkeit, Sozialstruktur (1977) S. 208-227. Günter H e i n t z , Sprachl. Struktur u. dichter. Einbildungskraft. Beitr. z. linguist. Poetik (1978; Lehrgebiet Sprache 2). W . K r o l l 1940: s. § 2. E. M e r t n e r 1956: s. § 3. J. N e u b a u e r 1978: s. § 5. - Jan P i n b o r g , Logik u. Semantik im MA. E. Überblick (1972; Problemata 10). H. F. P l e t t 1977 (2): Die Rhetorik d. Figuren. Zur Systematik, Pragmatik u. Ästhetik d. 'Elocutio'. In: Plett 1977 (1): s. § 1 (zu Bornscheuer 1977) S. 125-165. Uta Q u a s t h o f f , Soziales Vorurteil u. Kommunikation. E. sprachwiss. Analyse d. Stereotyps (1973; Fischer Athenäum Tb. 2025). W . S c h r e c k e n b e r g e r 1978: s. § 9. B. Spillner 1977: Das Interesse an d. Rhetorik, in: H. F. P l e t t 1977 (1): s. § 1 (zu Bornscheuer 1977) S. 93-108.

§ 9. R e c h t s w i s s e n s c h a f t . Im Rückgriff auf Vicos Rehabilitationsversuch der topica gegenüber der cartesianischen nova critica leitete Viehweg 1953/1974 eine über zwanzig Jahre andauernde Kontroverse in der rechtswissenschaftl. Grundlagendiskussion aus. Schon bald wurde Viehwegs provozierende Gegenüberstellung zwischen topischer „Techne des Problemdenkens" und axiomatischdeduktivem „Systemdenken" als ein überschärfter „idealtypischer Methodengegensatz" (Esser 1979 S. 30) erkannt, der in der Praxis kaum vorkommt (vgl. bes. Horn 1967). Außer auf den Uberblick über „zwanzig Jahre T.-Diskussion" von O t t e 1970 ist auf die in der letzten Auflage von V i e h w e g s Arbeit (5. Aufl. 1974) sowie auf die bei E s s e r 1979 zusammengestellte Diskussionsl. hinzuweisen, insbesondere auf die 1973 noch einmal zwischen S a v i g n y und S e i b e r t ausgebrochene Kontroverse. Neue rechtswissenschaftliche Beiträge zum Komplex „Topik" von H o r n , R o d i n g e n , S e i b e r t und V i e h w e g sind bei B r e u e r / S c h a n z e 1980 zu finden.

Eine zunächst auch interdisziplinär ausgreifende S e m i o t i k der jurist. „Rhetorik" mit einer besonderen Ausdifferenzierung der „topischen Rhetorik" liegt jetzt aus der Hand von S c h r e c k e n b e r g e r 1978 vor. Zu einer grundlagentheoret. Einführung in die semiotische Analyse jurist. Texte gesellen sich hier exemplarische „Analysen von rhetorischen Grundstrukturen der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts", und zwar unterschieden nach zwei Argumentationsmodellen: zunächst einem „ordnungstheoretischen", danach einem „problemtheoretischen", nämlich dem der „topischen Rhetorik". Der mit dieser

Arbeit gewonnene Reflexionsstandard dürfte auf längere Zeit auch interdisziplinär neue Maßstäbe setzen. Denn auch über die fachjurist. Belange hinaus wird hier mit dem Versuch, drei Varianten des „problemtheoretischen Argumentationsstils" („Kombinatorik", „Präferetik", „Diathetik") sowie insbesondere auch noch unterschiedliche Modi des „kombinatorischen" Argumentierens zu unterscheiden, wohl überhaupt zum erstenmal eine Feinstrukturierung jener spezifisch inventorischen Tätigkeit angeboten, für die seit der antiken inventio-Lehre als Lehre der .Argumentationsphantasie' niemals eine wirkliche Methodologie entwickelt worden ist; denn es gab keine Regeln dafür, wie man in konkreten Problemdiskussionen vom einen zum andern Argumentationsgesichtspunkt gelangen könne. Auch die pedantische Klassifizierung und Inventarisierung rhetor. Topoi schloß ja noch keine Prioritäten oder Abfolgeregeln für den konkreten Topoi-Gebrauch ein. Diese Problematik konnte auch nicht von N e u b a u e r 1978 (für die spätbarocken und frühromant. Bemühungen um einen „Begriffskalkül" und eine „Semiotik" oder gar „Logik" der kombinatorischen ars inveniendi) gelöst werden. B r e u e r / S c h a n z e 1980: s. § 3. Josef E s s e r , Jurist. Argumentieren im Wandel d. Rechtsfindungskonzepts unseres Jh.s (1979; SBAkHeidbg., Phil.-hist. Kl. 1979, 1). Norbert H o r n , Zur Bedeutung d. T.lehre Theodor Viehwegs für e. einheitl. Theorie d. jurist. Denkens. Neue jurist. Wochenschr. 20 (1967) S. 601-608. J. N e u b a u e r 1978: s. § 5. G. O t t e , Zwanzig Jahre T.Diskussion. Ertrag u. Aufgaben. Rechtstlieorie. Zs. f. Logik, Methodenlehre, Kybernetik u. Soziologie d. Rechts 1 (1970) S. 183-197. E. v. Sav i g n y , T. u. Axiomatik: e. verfehlte Alternative. [Anm. zu T.-M. Seibert.] Arch. f. Rechts- u. Soz.philos. 59(1973)S. 249-254. Th.-M. S e i b e r t , T. alsProblematisierungv. Aussagesätzen. Gegenthesen zu E. v. Savigny 'Zur Rolle d. deduktivaxiomat. Methode in d. Rechtswiss.' Ebda S. 3755. Ders., Drei alternative Topoi. Zur T./Axiomatik-Diskussion m. E. v. Savigny. Ebda S. 255. Waldemar S c h r e c k e n b e r g e r , Rhetor. Semiotik. Analyse v. Texten d. Grundgesetzes u. von rhetor. Grundstrukturen d. Argumentation d. Bundesverfassungsgerichtes (1978). T. V i e h w e g 1953/ 1974: s. § 3. O. W e i n b e r g e r , T. u. Plausibilitätsargumentation. Arch. f. Rechts- u. Soz.philos. 59 (1973) S. 17-35.

§ 10. S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n / I d e o l o g i e und V o r u r t e i l s - F o r s c h u n g . Unter aus-

Topik drücklichem Bezug auf Curtius' lit.wiss. Topos-Begriff führte Hanno K e s t i n g 1957 im Rahmen einer Teamuntersuchung über „das Gesellschaftsbild des Arbeiters" den Begriff „ s o z i a l e T o p i k " in die Diskussion ein: „Das allgemeine Denken über allgemeine Probleme kleidet sich im allgemeinen in stereotype Klischees; es vollzieht sich, um einen philologischen Terminus zu verwenden, in Form von Topoi." Unter solchen Topoi verstand Kesting verfestigte Sprach- und Denkformen, die jeweils für bestimmte „soziale Gruppen" spezifisch sind. Ein gutes Jahrzehnt später legte Oskar N e g t (1968/1971) Untersuchungen vor, die sich nicht mit der Feststellung solcher „sozialen Topik" begnügten, sondern die den „relativ festen Bestand an umgangssprachlichen Kristallisationsprodukten" als auf „kollektiver Erfahrung" beruhende „soziale Deutungsmuster" erklärten und in denen es um „den Stellenwert in Bildungsprozessen" der Arbeiterschaft ging, und zwar nicht nur im Sinne eines das Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft schützenden' oder auch negativ ,verdinglichenden' „Konservatismus", sondern auch im Sinne der Anknüpfung und Freisetzung „soziologischer Phantasie" und „exemplarischen" Lernens" der Arbeiterschaft. Auf dieser bewußtseins- und bildungssoziologischen Basis bauen zahlreiche weitere Arbeiten auf. Herauszuheben ist dabei die sozialpsychologische und linguistische Untersuchung von Q u a s t h o f f 1973 zum Begriff „soziales Vorurteil" und zum „Stereotyp" als dessen sprachlicher Ausdrucksform, wobei allerdings das Adjektiv „sozial" nicht wie bei Negt das Subjekt, sondern das Objekt des Vorurteils meint. In der umfangreichen neueren bewußtseinssoziologischen bzw. dezidiert ideologiekrit. Lit. zur V o r u r t e i l s - und S t e r e o t y p - P r o b l e m a t i k (übrigens auch innerhalb der Lit.wiss., vgl. Barner 1977 und Elliott u.a. 1978) ist der „T. "-Begriff inzwischen weitgehend fallengelassen worden wie übrigens auch in der Politologie (vgl. noch Hennis 1963, dazu Bornscheuer 1976 (1), S. 123ff. und kritisch replizierend Pöggeler 1978, S. 113). Der Verzicht auf den „ T . " - bzw. „Topos"-Begriff ist überall dort zu begrüßen, wo er lediglich aus zweiter oder dritter Hand im Umlauf bleibt (wenig überzeugend etwa Ritsert 1972, S. 95 u. 103 f. mit dem Begriff „topische Textexegese" oder auch das Verständnis von „topischem Argu-

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mentieren" bei Maas 1973). Davon zu unterscheiden sind bewußte, an den histor. Bedeutungskern anknüpfungsfähige Aktualisierungen des „T."-Begriffs im Sinne von L. F i s c h e r 1974 und 1976 sowie jene aktualisierenden Reflexionen, die wie bei K o p p e r s c h m i d t 1980 (2) nicht nur hervorragende histor. und interdisziplinäre Sachkenntnis ausweisen, sondern den Blick zielbewußt noch einmal zu Vicos Apologie der topica gegenüber der „nova critica" zurücklenken, von der schon V i e h weg 1953/74 bei seiner rechtswissenschaftlichen Neo-Apologie des „topischen Denkens" ausgegangen war, und von wo übrigens auch Gadamer 1960/1965 (S. 16ff.) die philosophische „Vorurteils"-Diskussion eröffnet hatte (die sich inzwischen allerdings in anderen Bahnen bewegt, vgl. Jankowitz 1975). Wie schon die Rechtswissenschaftler H o r n 1967, S c h r e c k e n b e r g e r 1978 und E s s e r (zuletzt 1979) plädiert auch K o p p e r s c h m i d t 1980 (2) für die Einsicht, „topisches" und „rationales" Argumentieren nicht länger als strikte Alternative zu betrachten. — Nicht weniger gewichtig ist der Exkurs Die soziale Topik bei P r o k o p 1979, der noch einmal jene „Ambiguität" der T. zwischen Stereotypie und Phantasiepotential betont, die der topischen Argumentationsphantasie seit ihrer antiken Grundlegung im Spannungsfeld zwischen memoriaund phantasia-Funktion zu eigen war (dazu weitere Hinweise im folgenden § 11). W. B a r n e r , Rhetor. Aspekte d. Schlagwortanalyse an Texten d. Aufklärung. Kopenhagener Beitr. z. germanist. Ling. 9 (1977) S. 104-127. James E l l i o t t u. a. (Hg.), Stereotyp u. Vorurteil in d. Lit. Unters, zu Autoren d. 20. Jh.s (1978; Lili Beih. 9). J . E s s e r 1979: s. § 9. L. F i s c h e r 1974: Des Käufers Stellvertreter u. s. Konterfei. Versuch z. Analyse v. T. in d. Werbung. Sprache im techn. Zeitalter 51 (1974) S. 261-293. L. F i s c h e r 1976: s. § 4. Wolf-Günther J a n k o w i t z , Philosophie u. Vorurteil. Unters, z. Vorurteilshaftigkeit v. Philos. als Propädeutik e. Philos. d. Vorurteils (1975; Monographien z. philos. Forschg. 140). H . K e s t i n g 1957: s. § 3. J . K o p p e r s c h m i d t 1980 (2): s. § 4. U . M a a s , Sprachl. Handeln 2: Argumentation, in: FunkKolleg Sprache. Bd. 2 (1973; Fischer-Tb. 6112) S. 158-172. Oskar N e g t , Soziolog. Phantasie u. exemplarisches Lernen. Zur Theorie u. Praxis d. Arbeiterbildung (1968; 6., völlig Überarb. Aufl. 1971). Dieter P r o k o p , Faszination u. Langeweile. Die populären Medien (1979; dtv. 4336). U . Q u a s t h o f f 1973: s. § 8. Jürgen R i t s e r t , Inhaltsanalyse u. Ideologiekritik. E. Versuch

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über krit. Sozialforschung ( 1 9 7 2 ; Fischer-Athenäum T b . 4001). W . S c h r e c k e n b e r g e r 1978: s. § 9. H . G . S c h u m a n n 1974: s. § 3. T . V i e h w e g 1 9 5 3 / 1 9 7 4 : s. § 3.

§ 11. P s y c h o l o g i e . „Das Ziel der Rhetorik (. . .) ist Psychagogie." (Jens 1972 S. 433, vgl. 445f.) Die neben dem argumentativen docere und dem geistreichen delectare stehende dritte rhetorische Hauptaufgabe des movere macht seit alters die Lehre von Pathos und Ethos, die Technik der Erregung und Beherrschung der Affekte, zu einem „Kernstück der Rhetorik" (Dockhorn 1944/1968 S. 16f., vgl. Jens 1972 S. 435ff.). Dieser zentralen w i r k u n g s p s y c h o l o g i s c h e n Aufgabe widmet sich naturgemäß ein erheblicher Teil der traditionellen T.-Lehre (vgl. Dockhorn 1949/ 1968, bes. S. 58ff.), und spätestens seit dem durch Cicero begründeten psychagogischen Sprach-Denken muß die gesamte und immer extensiver betriebene Figuren- und Stillehre (vgl. Lausberg 1960 §§ 453-1082) mit zur rhetorischen T. im weiteren Sinne des Wortes gerechnet werden (vgl. Plett 1975 zur „Rhetorik der Affekte" und allgemein oben § 2. 2). Unter dem wirkungsrhetor. Aspekt der „Psychagogie" lassen sich selbst innerhalb der Schulrhetorik die Grenzen zwischen rationaler argumentatio und sprachlich-psychagogischer amplificatio nicht konsequent ziehen (vgl. Bornscheuer 1976 (1) S. 78ff.).

Lit.hinweise gegeben: für die antike Mnemotechnik: B l u m 1969; zur mal. Mnemotechnik: H a j d u 1936 sowie zum Ubergang vom M A . zur frühen Neuzeit: R o s s i 1960; die historisch umfassendste Monographie zur Gedächtniskunst stammt von Y a t e s 1966; die wichtigsten Beiträge im Sinne einer psychologischhistor. Erforschung der Wechselwirkung zwischen memoria und imaginatio/phantasia neben Y a t e s : für Antike und M A . : B u n d y 1927, für M A . und frühe Neuzeit die schon erwähnte Arbeit von R o s s i 1960. Der neueste Beitrag stammt von P l e t t 1980. Zur wissenschaftssystematischen Ausfächerung der T . nach den drei Momenten von memoria, argumentatio und phantasia im Enzyklopädismus der franz. Aufklärung vgl. oben § 6.

Auf die Rolle des Topos-Begriffs in der m o d e r n e n P s y c h o l o g i e kann an dieser Stelle nur bibliographisch hingewiesen werden: zu F r e u d vgl. Guillaumin 1973 u. Bornscheuer 1976 (1) S. 196ff. (über den Begriff „T. des seelischen Apparates" im Sinne von „Gegend der Denkbildungen" bzw. „der der sinnlichen Wahrnehmungen"). Daß auch der materialist. Psychologe Lucien Sève 1972/1977 unter ausdrücklichem, wenn auch krit. Bezug auf Freuds „Instanzentheorie" (die mit dessen T.-Begriff aufs engste zusammengehört) in grundsätzlicher begriffs- und methodentheoret. Reflexion den Begriff „Topologie" einführt, sich aber zugleich unter Berufung auf L a p l a n c h e und P o n t a l i s der Vorläufigkeit dieser Begriffsbildung bewußt bleibt (vgl. Sève 1972/ 1977, bes. S. 274ff., 283ff.), bedeutet nur ein fachwissenschaftliches Beispiel mehr für die Nebenbei sei darauf hingewiesen, daß auch der Vermutung, daß die gesamte neuere Reaktia persona-T. als Teil des argumentativen Topoivierung des Topos- bzw. T.-Begriffs in einer Arsenals (vgl. Lausberg 1960 § 376) eine gewisse Umbruchsepoche sämtlicher Geistes-und Ge„psychologische" Implikation innewohnt. Diese sellschaftswissenschaften eine rein h e u r i s t i Personal-T. hat bis in das 17. Jh. hinein vor allem sche F u n k t i o n erfüllt und nicht voreilig als auch in den literarisch-poetisch relevanten epideiktijeweils fachwissenschaftl. oder sogar interdiszischen und enkomiastisch-panegyrischen Genera eine plinärer, begriffs-systematisch definierbarer tragende Rolle gespielt. terminus technicus verstanden werden darf. Eine der interessantesten „psychologischen" , In eben dieser rein heuristischen Funktion, Implikationen der h i s t o r . T. ist der enge- d. h. als Hilfsmittel bei der Erarbeitung fachZusammenhang des rationalen Kerns der topimethodischer Orientierungsprinzipien angeschen Argumentationsphantasie einerseits mit sichts einer gesamtgesellschaftlich noch unbedem inventio-Vermögen im engeren Wortsinn wältigten ,Problemsituation', hätte dann der (als Kunst innovativer Argumentenfindung) Topos-Begriff seine bedeutungsgeschichtliche und andererseits mit dem memoria-Vermögen. Kontinuität von der Antike bis in unsere Möglicherweise hat Aristoteles selbst seinen Tage. — Erwähnt sei noch die Begriffsbildung Topos-Begriff der älteren sophistischen Mne- ' „topische Progression" bei L o r e n z e r 1970 motechnik entlehnt. (S. 161 ff., insbes. S. 194, 206), die jedoch ähnlich marginalen Stellenwert zu besitzen Zu dem noch unausgeschöpften reichen F o r scheint wie in anderer Weise der Begriff schungsfeld einer ,histor. Psychologie der ars in„topische Textexegese" bei R i t s e r t 1972; denveniendi' seien an dieser Stelle lediglich folgende

Topik noch kommt Lorenzers Unterscheidung von „ S y m b o l " und „Klischee" ( a . a . O . S. 72ff.) für eine interdisziplinäre „Topos"-Diskussion erhebliches Gewicht zu. Herwig Blum, Die antike Mnemotechnik (1969; Spudasmata 15). L. Bornscheuer 1976 (1): s. § 1. Murray Wright Bundy, The Theory of Imagination and Medieval Thought (Urbana, III. 1927; Illinois Studies in Lang, and Lit. 12). K. Dockhorn 1944/1968: Wordsworth ». d. rhetor. Tradition in England; zuerst 1944, jetzt in: Dockhorn, Macht u. Wirkung d. Rhetorik. Vier Aufs. z. Ideengesch. d. Vormoderne (1968; Respublica literaria 2) S. 9-45. Ders. 1949/1968: Die Rhetorik als Quelle d. vorromant. Irrationalismus in d. Lit.- u. Geistesgesch.; zuerst 1949, jetzt in: Dockhorn 1968 a.a.O. S. 46-95. J. Guillaumin, Freud entre les deux topiques: Le comique après 'l'humour' (1927), une analyse inachevée. Revue française de Psychanalyse 37 (1973) S. 607-654. Helga Hajdu, Das mnemotechn. Schrifttum d. MA.s (1936). W. Jens 1972: s. § 3. Jean Laplanche u. Jean-Bertrand Pontalis, Vocabulaire de la Psychanalyse (Paris 1967; dt. Übers. 1972). Alfred Lorenzer, Sprachzerstörung u. Rekonstruktion. Vorarbeiten z. e. Metatheorie d. Psychoanalyse (1970). Heinrich F. Plett 1975: Rhetorik d. Affekte: Engl. Wirkungsästhetik im Zeitalter d. Renaissance (1975; Studien z. engl. Philologie NF. 18). Ders., 1980: T. u. Memoria. Strukturen mnemotechn. Bildlichkt. in d. engl. Lit. d. 17. Jh.s, in: Breuer/Schanze 1980: s. §3, S. 307ff. P. Rossi 1960: s. § 6. Lucien Sève, Marxisme et théorie de lapersonalité (Paris 1969); dt. Ausg. u. d. T.: Marxismus u. Theorie d. Persönlichkeit (3. Aufl. 1977; Marxist. Paperbacks 34). Francés A. Yates, The Art of Memory (London/Chicago 1966). § 12. K u n s t w i s s e n s c h a f t e n . Im Gegensatz zu allen von Axiomen oder „wahren" Ausgangssätzen deduzierten Argumentationen ist die Basis der topischen inventio das „WahrScheinliche". In diesem Begriffsfeld ist in allen europäischen Sprachen der „gesellschaftliche Sinn" (sensus communis) mit auf die Überzeugungskraft der „gesellschaftlichen Sinnlichkeit" (Mühlmann 1970) gegründet. Unmittelbar sinnliche Wahrnehmung und sprach-bildliche Vergegenwärtigung wirken in der mit topischen Mitteln erzeugten, auf das „Wahrscheinliche" gegründeten „Evidenz"(Quintilian V I , 2, 32) eng zusammen. Mit der Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit zu einem Modus von Erkenntnis seit der Renaissance gewann die vom RhetorikHumanismus neu aktivierte ars inveniendi auch

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für die Theorie der bildenden Künste, und mit einer gewissen Phasenverzögerung auch für die Musiktheorie, eine grundlegende Bedeutung, wie es umgekehrt auch zu einer erheblichen Bereicherung der rhetor. und poet. Lit. aus den Bereichen der bildenden Künste kam, was sich vor allem in der neuen Kunstform der E m b l e m a t i k (s. Emblemliteratur) dokumentierte. Während es unübersehbar vielfältige, durch „allegorische" Sinnbildlichkeit vermittelte Wechselwirkungen zwischen T . und „Emblematik" gibt, zwischen sprachbildlichen und „sinnen-bildlichen" Wahrnehmungs- und Darstellungskonventionen sowie zwischen öffentlicher und esoterischer, zwischen rhetorisch-„säkularisierender" und christlich-spiritueller ,Sinn-Deutung' bzw. Weltdarstellung (vgl. das gesamte Material an Primärdokumenten und Forschungsliteratur bei Henkel/ Schöne 1967 und Penkert 1978; vgl. außerdem etwa Grassi 1970 und 1979), scheinen bislang kaum e x p l i z i t e grundlegendere Forschungsbeiträge seitens der Lit.wiss. zur Wechselwirkung zwischen „topischer" und „emblematischer" ars inveniendi sowie zur Äquivalenz und Differenz zwischen rhetorischer und „poetischer Emblemstruktur" (Penkert 1978 S. 15 und 22) zu existieren — von den zahllosen i m p l i z i t e n Hinweisen zu allen diesen Aspekten in der Emblematik-Forschung abgesehen. — Demgegenüber ist der Zusammenhang zwischen rhetor. und bildkünstlerischer bzw. später musikalischer ars inveniendi von Seiten der Kunstwissenschaften vielfach explizit analysiert worden. Inhaltlich wie bibliographisch unentbehrlich: Kemp 1977; ebenfalls grundlegend, wenn auch zu weiteren eingehenderen Untersuchungen herausfordernd: Mühlmann 1969 und 1970. Ferner sind zu nennen: Lee 1942 (bes. S. 210ff.) und Lee 1967 (bes. S. 16-23); Spencer 1957 (bes. S. 36ff.). Angesichts der schon oben (§ 2. 5) erwähnten Schrittmacherfunktion der A r c h i t e k t u r t h e o r i e für die kunsttheoret. Rezeption der rhetor. inventio-Lth.re im Zeitalter von Renaissance und Barock (vgl. Mühlmann 1970 und Contardi 1978) liefert merkwürdigerweise die insgesamt höchst akribische Arbeit von H o r n - O n c k e n 1967 wenig Aufschluß über die Rolle der inventio im einzigen antiken Architektur-Traktat (des Römers Vitruv) sowie innerhalb der humanist. Vitruv-Rezeption, obwohl gerade der von Horn-Oncken in den

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Topik

Mittelpunkt gerückte ¿ecor-Aspekt auch eine gewisse architektur-theoretische Bedeutung des ,topischen Denkens' und Gestaltens erwarten läßt. Es muß der Fachwissenschaft überlassen bleiben, über die denkbare Parallele zwischen den endoxa oder sogar topoi in der Topik und Rhetorik des Aristoteles sowie dem interpretatorisch umstrittenen Ausdruck probatis rebus in Vitruvs Definition des decor zu entscheiden (vgl. dazu Horn-Oncken 1967 S. 29 mit Anm. 37 und S. 71 sowie S. 77 zur ausdrücklichen Berufung des humanist. VitruvUbersetzer Cesariano auf die aristotelische Topik). Immerhin hatte schon Erwin P a n o f sky auf die an der scholast. Disputationsmethodik orientierte Argumentationsphantasie gotischer Kathedralbaumeister hingewiesen (vgl. dazu Bourdieu 1970 S. 125ff.). Forschungsgeschichtlich sind übrigens die Hinweise G o m brichs 1959/1978 (S. 39f.) zu Julius von Schlossers Frage nach der „Rolle des Typus und des Stereotypen innerhalb der .Kunstsprache'" und zu dem Einfluß dieser kunstpsychologischen Forschungsrichtung des frühen 20. Jh.s auf Generationsgenossen Erwin Panofskys wie Aby Warburg („Pathosformel") und Ernst Robert Curtius (,,Topos"-Begriff) bemerkenswert. Zur m u s i k h i s t o r i s c h e n T.-Forschung ist zunächst auf die Artikel Invention von Hans Heinrich E g g e b r e c h t 1967 und 1978 mit jeweils weiterführenden Lit.hinweisen aufmerksam zu machen. Von der übrigen, vielfältigen Lit. zum Gesamtthema .Rhetorik und Musik' seien an dieser Stelle lediglich die weiteren Artikel-Stichworte Ars musica und Figuren, musikalisch-rhetorische Figuren (in Brockhaus/ Riemann, Musiklexikon, 1. Bd. 1978 S. 58f. und 404 f.) sowie Figuren, musikalisch-rhetorische (in M G G 4, 1955 S. 176-183) genannt. Gegen die von Eggebrecht vertretene Herleitung des frühneuzeitlichen musikalischen infentto-Begriffs aus dem mal. System der artes liberales, dem ja auch die musica zugehörte, plädiert Margarete R e i m a n n in ihrem Artikel Invention (in M G G 6, 1957 S. 1383ff.). Zusätzlich zu der von diesen Artikeln aus zu erschließenden Lit. sind die einschlägigen Ausführungen bei D a m m a n n 1967 (S. 114-168) herauszustellen, schließlich auch der Versuch von K o m o r o w s k i 1971 (mit begriffs-geschichtlichem Exkurs S. 6 ff.), den inventio-Begriff auf die zeitgenöss. Musiktheorie anzuwenden.

Die bemerkenswerteste aktuelle ästhetische Rückbesinnung auf das Wesen der alteuropäischen ars inveniendi hat — bei expliziter Verwendung dieses Begriffs, jedoch ohne jeden begriffs- und bewußtseinsgeschichtlichen Rekurs - Günther K. L e h m a n n 1966/1976 geleistet, indem er, auf materialist. philosophischer Basis, „individuelles Forschen und Erfinden, Entwerfen und Probieren" nur im Wechselwirkungsprozeß mit dem Zuwachs an „gesellschaftlichen Erkenntniskräften" und der „ständigen Erneuerung des gesellschaftlichen Phantasie-Reservoirs" zu sehen vermag und überdies zwischen wissenschaftlich-technischer Forschungsphantasie und künstlerischer Phantasie ebenfalls keine prinzipielle Grenze mehr anerkennen kann. Lehmann hätte sich — zumal er sich des Begriffs ars inveniendi explizit bedient — mühelos auf antike und auch noch frühneuzeitliche Vorgänger berufen können, wenn er schreibt: „Erfinden heißt, etwas herauszufinden, es in einem schwer überschaubaren Sachverhalt aufzuspüren und dort ausfindig zu machen. Das dt. Wort ,erfinden' gibt treffend die Mühe des Suchens, Forschens, Sich-Heranarbeitens an das wieder, was gefunden, als Gegenstand überhaupt erst einmal ausgemacht werden soll". Zu eher frühaufklärer. Ansätzen einer erkenntnistheoretisch fundierten Ästhetik leiten die weiteren Überlegungen Lehmanns über, wenn er schreibt: „Die realistische Phantasie erfindet das Wahrscheinliche aus dem Real-Möglichen (. . .) Die Phantasiebilder haben überhaupt nur einen Sinn, solange sie im lebendigen Erkenntnisprozeß ,in Arbeit' sind." (Lehmann 1966/1976 S. 104-113). Daß jegliche Phantasietätigkeit, insbesondere aber die künstlerische Produktivität psychische , A r b e i t ' bedeutet, gehört heute zur opinio communis. Die Vermittlung zwischen individual- und sozialpsychologischer , Kreativitätsforschung' im Sinne einer Vermittlung zwischen individualpsychischer und sozialer „Arbeit" steht jedoch noch immer auf dem Programm (vgl. hierzu Mechthild Curtius 1976). Erst eine solche, auf gesellschaftl. Alltagsund Arbeits-Phantasie und damit auf alltagsweltliches Problemdenken rückbezogene Erforschung der künstlerischen Phantasie und Arbeit würde jene Dichotomie zwischen „Leben" und „Kunst" (Schiller) überwinden, wie sie die bürgerlich-idealist. Ästhetik am Ende der Aufklärungsepoche herausgebildet hat, während noch Gottsched Handwerklichkeit

Topik — Totengespräch und Geschicklichkeit im Sinne der alteuropäischen ars tnveniendi-Lehre mit den Tugenden der frühneuzeitl. bürgerlichen Arbeitsund Produktivitätsmoral (Erfindungsgeist, Fleiß, gesellschaftliche Nützlichkeit) zu vereinigen suchte (vgl. zur frühneuzeitl. Trennung von Künstler, Ingenieur und Forscher Zilsel 1976; zu Gottsched demnächst Borjans). P e t e r B o r j a n s , Bürgerl. Produktivität u. Dichtungstheorie. Zu d. methodolog. Grundlagen von J. Chr. Gottscheds Grit. Dichtkunst. Diss. Duisburg 1978 (in Druckvorber.). Pierre B o u r d i e u , Zur Soziologie d. symbol. Formen (1970). Bruno Contardi, La retorica e /' architettura harocca (Roma 1978; Studi di storia e dell' arte 8). Mechthild C u r t i u s u.a. (Hg.), Seminar: Theorien d. künstler. Produktivität. Entwürfe mit Beitr. aus Lit.wiss., Psychoanalyse u. Marxismus (1976; SuhrkTbWiss. 166). Rolf D a m m a n n , Der Musikbegriff im dt. Barock (1967). H . H . E g g e b r e c h t 1967: Invention. Riemann. Musiklex. Sachteil (1967) S. 416f. Ders. 1978: Invention. Brockhaus/Riemann. Musiklex. Bd. 1 (1978) S. 594f. Ernst H . G o m b r i c h , Kunst u. Illusion. Zur Psychologie d. bildl. Darstellung (1978; engl. Ausg. London 1960). Ernesto G r a s s i 1970: Macht d. Bildes. Ohnmacht d. rationalen Sprache. Zur Rettung d. Rhetorischen (1970). Ders., 1979: Die Macht d. Phantasie. Zur Gesch. ahendl. Denkens (1979). Arthur H e n k e l u. Albrecht S c h ö n e (Hg.), Emhlemata. Handh. z. Sinnbildkunst d. 16. u. 17. Jh.s (1967). Alste H o r n O n c k e n , Über d. Schickliche. Studien z. Gesch. d. Architekturtheorie (1967; AbhAkGött. III, 70). M . K e m p , From „Mimesis" to „Fantasia": The Quattrocento Vocabulary of Creation, Inspiration and Genius in the Visual Arts. Viator 8 (1977) S. 347-398. R . W. L e e , Ut Pictura Poesis: The Humanistic Theory of Painting. The Art Bulletin 22 (New York 1942) S. 197-269. Günther K. L e h m a n n , Phantasie u. künstler. Arbeit. Betrachtungen z. poet. Phantasie (Berlin/Weimar 1966, 2., durchges. u. erg. Aufl. 1976.) H. M ü h l m a n n 1969: Albertis St.-Andrea-Kirche u. d. Erhabene. Zs. f. Kunstgesch. 32 (1969) S. 153157. Ders. 1970: Über d. humanist. Sinn einiger Kerngedanken d. Kunsttheorie seit Alberti. Zs. f. Kunstgesch. 33 (1970) S. 127-142. Sibylle P e n k e r t (Hg.), Emblem u. Emblematikrezeption. Vergl. Studien z. Wirkungsgesch. v. 16. bis 20. Jh. (1978). J . R. S p e n c e r , Ut Rhetorica Pictura. A Study in Quattrocento Theory of Painting. Journal of the Warburg and the Courtauld Inst. 20 (London 1957) S. 26-44. Edgar Z i l s e l , Die sozialen Ursprünge d. neuzeitl. Wiss. (1976; SuhrkTbWiss. 152).

Lothar Bornscheuer

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Totengespräch I. U r s p r u n g der G a t t u n g . §1. Lukianische Gesprächsgattungen. Das T . , eine Sondergattung des Dialogs (s. d.), leitet seinen Namen von den griech. T.en (Nekrikoi dialogoi) des Syrers Lukianos aus Samosata (2. Jh. n. Chr.) her. Bei den 30 T.en dieser Sammlung handelt es sich um kurze, meist burlesk-komische Gesprächsszenen an den verschiedenen Schauplätzen der antiken Unterwelt oder bei der Überfahrt über den Styx (10. T.), in denen in der Regel zwei oder drei Personen auftreten. Gesprächspartner sind einerseits die Toten, mit den Kynikern Menippus und Diogenes als Lukians Lieblingsfiguren, andrerseits die Unterweltsgottheiten, der Totenfährmann Charon, der Seelenführer Hermes-Merkur, die Totenrichter Minos, Aeakus und Rhadamanthus und der Herrscher über das Totenreich Hades-Pluto. Diese in sich vielgestaltige Gruppe bildet den formalen Haupttypus des T.s, der in den europäischen Literaturen seit dem Humanismus des 15. Jh.s je nach der geschichtl. Situation oder den Absichten und der Eigenart des jeweiligen Autors auf mannigfache Weise erneuert, abgewandelt und erweitert worden ist. Der Gattung T. werden stillschweigend einige gleichfalls auf die Unterwelt bezogene, aber um weitere Figuren und szenische Elemente bereicherte satir. Dialoge Lukians zugeordnet, welche die Hadesfahrt Lebender oder den Urlaub von Hadesbewohnern auf der Menschenwelt zum Gegenstand haben. Diesen T.en im engeren und weiteren Sinne entsprechen bei Lukian die G ö t t e r g e s p r ä c h e , auf die olympischen Götter bezogene und gleichfalls entweder kürzere oder umfangreichere Gesprächsszenen, welche als Versammlung der Götter, als Reise eines Lebenden zum Olymp oder als Erdenfahrt eines Abgesandten Jupiters gestaltet sein können. Die Toten haben sich mit dem Ubertritt in den Hades aller Rechte und Pflichten ihrer irdischen Existenz begeben und sind dadurch gleich den Unsterblichen im Olymp Zuschauer der Menschenwelt mit dem Abstand von Raum und Zeit geworden. Die Autoren der Folgezeit waren sich des Zusammenhangs zwischen den Göttergesprächen und den T.en bei Lukian bewußt und haben die verschiedenen Gesprächstypen abwechselnd als formale Vorbilder für ihre Neuschöpfungen aufgegriffen. Im dt. Humanismus z . B . führten die

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Totengespräch

lukian. Muster zu Mischformen, während Wieland die Hadesfahrt oder das Göttergespräch ( = G.) neben dem Haupttypus als vertauschbare Möglichkeiten zu unterschiedlichen Absichten wählte. Der Haupttypus des T.s sollte deshalb nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den anderen lukian. Spielarten der GuT.e betrachtet werden. Im Zuge der Entdeckung griech. Autoren durch die ital. Humanisten des 15. Jh.s erkannte das Zeitalter in Lukian einen Lieblingsautor und machte sich alle unter seinem Namen laufenden echten und unechten Schriften zueigen. Sein Gesamtwerk wurde für die humanist. und manche späteren Autoren eine fast unerschöpfliche Quelle für Themen, Motive oder Figuren, für stoffliche oder formale Elemente, die in ihre eigenen GuT.e eingegangen sind. Davon ist jedoch die bewußt an Lukian anknüpfende Nachahmung anderer Gattungen durch die Autoren der Folgezeit zu unterscheiden. Die im vorigen abgegrenzten lukian. GuT.e heben sich durch die in ihnen auftretenden Figuren, in zweiter Linie durch die Schauplätze von den Gesprächen unter Lebenden, der auch für Lukian anzunehmenden und von ihm häufig gepflegten Grundform des fiktiven Dialogs (vgl. § 5), ab. Einen Sonderfall stellt der beliebte lukian. Dialog Der Hahn oder Der Traum des Micyllus dar, der durch die Motive des Traums und der Seelenwanderung den GuT.en nahesteht und auf die Folgezeit gewirkt hat. Vielleicht ist hier die Anregung dafür zu suchen, daß man die Hadesfahrt eines Lebenden (wie in Goethes Götter, Helden und Wieland, 1773) im Traum geschehen läßt; andrerseits erinnert sich der als Haushahn Wiedergeborene (wie später Peregrinus in Nervals L'ane d'or, 1842) seiner früheren Existenzen und gewinnt dadurch eine ähnliche Perspektive wie die ihr irdisches Leben aus der Distanz des Hades überblickenden Toten oder die aus dem Olymp herabschauenden Götter. Da an der Dialogform als unterscheidendes Merkmal festzuhalten ist, sind erzählende Berichte von Hadesfahrten und bloße Beschreibungen der Unterwelt als Grenzfälle zu betrachten, auch wenn sie, wie Lukians Wahre Geschichten (Alete diegemata), für die Ausformung der Jenseitsvorstellungen in den GuT.en bedeutsam geworden sind (s. § 9 ) . §2. M y t h o l o g i s c h e r Rahmen. Die GuT.e bauen auf den Vorstellungen des antiken My-

thos auf, wobei der Attizist Lukian in seinen Schriften die griech. Überlieferung betont und in Anspielungen und Zitaten u.a. auf H o m e r , H e s i o d , die Tragiker oder heute verschollene Lokalsagen verweist. Auch spätere Verf. von T.en berufen sich neben Lukian gelegentlich auf H o m e r oder V e r g i l , d.h., auf die Begegnung des Odysseus mit der Welt der Schatten im 11. Gesang der Odyssee öder auf den (Homer nachgebildeten) Besuch des Aeneas in der Unterwelt im 6. Buch der Aeneis. Für die Nachfolge gleichfalls bedeutsam geworden sind als weitere außerlukian. Quellen die Hadesfahrt des Dionysos in den Fröschen des A r i stophanes oder Stellen bei P l a t o , etwa die im Staat geschilderte Unterweltsvision des scheintoten Er oder die Bemerkungen des Sokrates in der Apologie über die Aussicht, mit den Gestalten der Vorzeit Unterhaltungen zu führen. Lukian wird in seinem Verhältnis zum Mythos von dem Paradox bestimmt, daß er der mythischen Vorstellung für den Aufbau seiner Welt zwar bedarf, sie andrerseits aber ironisch in Frage stellt: statt verbindliche Realität zu sein, ist die mythische Überlieferung für den skeptischen Rationalisten literar. Fiktion geworden. Er beurteilt den antiken Volksglauben von der Unterwelt nach dem Maßstab des gesunden Menschenverstandes oder verweist auf einander widersprechende Elemente in den Göttersagen, um alle diese Vorstellungen als widersinnig zu entlarven und dem Gelächter preiszugeben. Wieland nennt die lukian. Götter „Wesen, die aus Inconsequenz und Widersprüchen zusammengesetzt sind". So ist Jupiter durch das Bewußtsein seiner Ohnmacht gekennzeichnet, und Fragen des Göttervaters wie die nach der Ansicht der Menschen über seine Existenz verraten die satir. Absicht. Die burlesk-komische Behandlung des Mythos und die Gestaltung der antiken Götter und andrerseits der Toten als komische Figuren sind den lukian. GuT.en eigentümlich, wobei als Vorläufer und mögliche Vorbilder Lukians neben verschollene Werke auch solche treten, die späteren Autoren bekannt waren, wie die komischen Hadesszenen der attischen Komödie und besonders die Frösche des A r i s t o p h a n e s oder die Parodie des homerischen Gespräches zwischen Ulysses und Tiresias durch H o r a z (vgl. § 3). Die komische Gestaltung des Jenseits und der in ihm auftretenden Figuren bleibt auch für die Nachfolge Lukians mehr oder weniger cha-

Totengespräch rakteristisch und unterscheidet sich von der ernst aufgefaßten Welt Dantes. Der von Lukian ausgebildete pagane mythologische Apparat ist als formaler Rahmen auch während der christlichen Jh.e für die GuT.e wesentlich, selbst wenn dessen Bedeutsamkeit von Epoche zu Epoche oder von Autor zu Autor wechseln mag. §3. D i a l o g und K o m ö d i e . Lukian selbst versteht seine Gesprächsdichtungen als eine Verbindung von Dialog und Komödie, wobei man einerseits an Piatons philosophischen Dialog und andrerseits an die von Ar ist ophanes vertretene attische Komödie zu denken hat. Diese Herkunft vermag auch die Prosa der lukian. Dialoge zu erklären. Mehr oder weniger belanglos ist, ob man in Lukian den Schöpfer des von ihm gepflegten satir. Dialogs oder einen bloßen Nachahmer verschollener Vorbilder zu erblicken hat: für die Folgezeit gilt er als der Begründer dieser Dialogform und im besonderen der GuT.e; denn was z.B. von dem kynischen Schriftsteller M e n i p p o s (um die Wende vom 4. zum 3. Jh. v. Chr.) überliefert ist, als dessen Schüler sich Lukian bekennt, läßt kaum Schlüsse auf Menippos Anteil an der Ausbildung der lukian. Dialogform zu. Hingegen ist in diesem Zusammenhang an das Versgespräch zwischen Ulysses und Tiresias bei H o r a z (die 5. Satire des 2. Buches) zu erinnern, das Lukian, sofern er davon Kenntnis hatte, als ein röm. Zeugnis mit Stillschweigen übergeht, das aber (nach Wieland) „für das Original aller satir. Gespräche im Reiche der Todten . . . gelten kann". Statt auf der philosophischen Erörterung von Problemen mit einem greifbaren Ergebnis liegt das Gewicht in den lukian. GuT.en auf der Ausgestaltung dramat. Szenen, die auf komische Wirkung hin angelegt sind. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich in der Folgezeit die Gerichtsszenen in der Unterwelt oder im Olymp, z.B. die Szene (in der Überfahrt), wo die Schatten vor den Totenrichter geführt werden, oder die Szene (im 12. T.), wo Minos entscheiden soll, wer der größte Feldherr sei. Die Nähe zum Drama wird durch den Wechsel der Schauplätze unterstrichen, z.B. zwischen Charons Nachen und dem Totengericht (in der Überfahrt), zwischen Menschenwelt und Totenreich (in der Höllenfahrt des Menippus) oder Menschenwelt und Götterwelt (im Ikaromenippus oder im Timon) usf.; Metaphern und

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Vergleiche aus dem Bereich des Theaters legen die Vorstellung vom Leben als einem Schauspiel nahe. Vor allem die dt. Humanisten und Erasmus erkennen hier Verwandtes und greifen in Aufbau und Sprache ihrer Neuschöpfungen auf diese Elemente zurück. Für die Versuche des 15. und 16Jh.s, lukian. GuT.e auf die Bühne zu bringen, sei aus dem dt. Sprachbereich Hans Sachs genannt, der in seiner „tragedi" Der Caron mit den abgeschidnen geisten (1531) das 10. T. und in seiner „comedi" Das Judicium Paridis (1532) das 20. G. bearbeitet und sich dabei eng an das lukian. Original hält. Für die Lukian-Nachfolge, wie etwa für G o e t h e s „Farce" Götter, Helden und Wieland (1773), ist nicht immer eindeutig auszumachen, ob ein Werk als Bühnenstück gelten soll oder nicht. § 4. L u k i a n i s c h e Modelle. Ein Abriß der für die Geschichte der Gattung wesendichen Schriften Lukians und einiger ihrer stilist. und inhaltlichen Merkmale soll es ermöglichen, im einzelnen zu ermessen, wo die späteren Autoren diesen Vorbildern folgten, wo sie sich von ihnen entfernten. Auswahl und Anordnung der lukian. Muster waren von ihrer Bedeutung für die Nachfolge bestimmt, während die Chronologie ihres Entstehens und ihre Stellung im Gesamtwerk des Autors hier unberücksichtigt bleiben konnten. In Ergänzung der §§ 1-3 sind näher zu betrachten: a) der szenische Aufbau der GuT.sdichtungen (deren Titel hier im wesentlichen der Wielandschen Ubersetzung folgen), b) die Figuren der Gesprächsszenen und c) die Gegenstände von Lukians Satire und dessen weltanschauliche Grundhaltung. a) G e s p r ä c h s s z e n e n . Gemeinsam ist den drei Sammlungen der 30 T.e, 26 G.e (Theön dialogoi) und 15 Meergöttergespräche (Enbalioi dialogoi) ein Umfang der meisten Stücke von nicht mehr als zwei bis fünf Seiten und die Zahl von gewöhnlich zwei sprechenden Personen, denen eine mehr oder weniger stumme dritte oder vierte Person beigesellt sein kann. Das als Urteil des Paris bekannte 20. G. und das 10.7". fallen durch szen. Erweiterung, mehr Personen und somit größeren Umfang aus dem Rahmen. Lukian vermag einen schon mit den ersten Worten in die Situation zu versetzen und läßt den Dialog vielfach mit einem überraschenden Schlußeffekt enden. Er verfügt über eine verhältnismäßig begrenzte Zahl von Stoffen, Themen, Motiven und (s. b) Figuren, die er in den einzelnen Gesprächsdichtungen (wie in seinen übrigen Werken) jeweils

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Totengespräch

abwandelt, umstellt und zu einem neuen Ganzen ordnet. In den Götter- und Meergöttergesprächen werden kleine aus der Mythologie vertraute Episoden erörtert und die Gesprächspartner dabei mit psycholog. Einfühlung charakterisiert. Gegenstand des 5. G.s z. B. ist „ein ehlicher Wortwechsel zwischen Jupiter und seiner Gemahlin" über den Mundschenken Ganymed, der als stumme Person zugegen und Junos Eifersucht ausgesetzt ist. Diesem Typus spaßhaft gestalteter Plänkeleien entsprechen unter den T.en etwa das 5., wo Charon mit Hermes über gelieferte Waren abrechnet, oder das 22., wo er mit dem als blindem Passagier übergefahrenen Menippus zankt. Gewichtiger und in ihrer Nachwirkung bedeutender ist jene Gruppe der T.e, deren Themen auf den G e g e n s a t z von irdischer E x i s t e n z und Schattendasein gestellt sind, so das Thema der Gleichheit aller im Totenreich oder das der Preisgabe auf Erden genossener Vorzüge (Reichtum, Macht, Ruhm oder Schönheit). An die Sterblichen vermitteln diese Gespräche die Lehre, daß alles menschliche Glücksstreben fragwürdig ist. Im 5. bis 9. und 11. T. z.B. wird das Thema der Erbschleicherei variiert, im 15. und 24. bis 26. das der Gleichheit im Tode; das 2., 13., 15., 24. und 25. T. handelt von der Erinnerung an das Erdenleben, die nicht nur die einst vom Glück Begünstigten wie Könige und Helden quält, sondern z . B . auch einen neunzigjährig verstorbenen lahmen und fast blinden Bettler (27. 7".). In den meisten Stücken unterhalten sich Abgeschiedene im Hades, während in dem, besonders im dt. 16. Jh. beliebten, 10. T. die Episode der Uberfahrt gestaltet ist und zunächst die Szene, wie die Neuankömmlinge (Tyrann, Athlet, Reicher, Soldat, Philosoph) gezwungen sind, unter der Aufsicht Merkurs alles, was ihnen auf Erden teuer war, abzulegen, ehe Charon sie in seinen Nachen aufnimmt. Bei der Ankunft brechen die Toten unter Führung Menipps, des einzigen, der freiwillig und heiter übergefahren ist, zum Totenrichter auf. Lukian erweitert die Szene im Dialog Die Überfahrt oder Der Tyrann (Kataplüs e tyrannos) und gruppiert sie um den Tyrannen Megapenthes, der mit Gewalt herübergebracht werden muß; eine Gerichtsszene im Hades beschließt die Überfahrt. Den f o r e n s i s c h e n Zug haben alle jene lukian. GuT.sdichtungen gemein, in denen menschliche oder göttliche Handlungen und Taten abgewogen oder gerichtet werden. Die Toten z. B., die auf das Erdenleben zurückblicken, beurteilen oder rechtfertigen ihr irdisches Handeln, vergleichen ihre Schicksale oder messen sich mit ihrem Gesprächspartner. Dabei kann es sich um verkappte Gerichtsszenen handeln, bei denen Ankläger, Verteidiger und Richter bloß mitgedacht sind wie etwa im G. Prometheus (Prometheus e Kaukasus), wo der Titan vor Merkur und Vulkan, die Jupiters Urteil vollziehen müssen, eine Verteidigungsrede hält, in der er die drei Anklagepunkte des abwesenden Göttervaters nacheinander

entkräftet und dessen Entscheidungen als willkürlich und von selbstsüchtiger Rache bestimmt entlarvt. In diesen ausgestalteten oder bloß angedeuteten Gerichtsszenen zielt Lukians Satire auf die Verlegenheit der Richter und deren weder vernunftmäßig noch moralisch begründete Entscheidungen. Das betrifft auch die der Gattung wesentlichen Figuren der Totenrichter und z.B. den Fall, wo Minos, von den spitzfindigen Argumenten des Straßenräubers Sostratus in die Enge getrieben, den bereits zum Feuerstrom verurteilten freiläßt (30. T.; vgl. dagegen das 2-). Als Gerichtsszene ist bei Lukian der R a n g s t r e i t gestaltet, ein beliebtes Thema der rhetorisch-sophistischen Tradition. Das 12. T. mit dem Streit zwischen Alexander, Hannibal und Scipio, wer der größte Feldherr sei, ist durch den europäischen Humanismus ein Lieblingsstück der Renaissance geworden (s. § 12d). Abgesehen davon, daß ein solcher Rangstreit letzthin unentschieden bleiben muß, ist er im Totenreich mit der Aufhebung irdischer Maßstäbe auch gegenstandslos geworden. Fragwürdig ist wiederum die Entscheidung des Richters: Minos räumt Alexander den geforderten ersten Platz ein, der bei genauer Prüfung der Verteidigungsreden Hannibal gehört (vgl. Wielands Kommentar); und ähnlich entscheidet Jupiter (im. 13. G.) den „Rangstreit zwischen zwei neugeadelten Göttern", Aeskylap und Herkules, mangels triftigerer Gründe aufgrund der Erstgeburt für den ersteren. Den Toten ist die Rolle des Zuschauers aufgezwungen, welche die Hauptfiguren anderer Gesprächsdichtungen aus freien Stücken übernehmen, nur daß die Standorte der Betrachter und die Szenen wechseln. Im Charon oder Die Weltbeschauer (Charon e episkopüntes) z . B . schaffen sich der Totenfährmann und sein Reiseführer, Merkur, einen Aussichtspunkt auf der Erde, damit Charon, der dazu von Hades einen Tag Urlaub erhalten hat, das von seinen Fahrgästen beweinte menschliche Leben kennenlernen kann, während die Götter im Tragöden Jupiter (Zeus tragödos) aus dem Olymp herabschauend die Vorgänge auf der Erde beobachten. In diesem wie etwa in den Dialogen Der doppelt Angeklagte (Dis kategorumenos) und Die Entlaufenen (Drapetai) im Timon (Timön e misanthröpos) oder im 20. G. spielen die Gesprächsszenen abwechselnd auf zwei Ebenen, im Himmel-Olymp und auf der Erde, mit dem Götterboten Merkur als Mittler; in den beiden sich ergänzenden Stücken Die Höllenfahrt des Menippus oder Das Totenorakel (Menippos e nekyomanteia) und Ikaromenippus oder Die Luftreise (Ikaromenippos e hypemephelos) hingegen verändern sich Standorte und Schauplätze mit dem in den Hades oder zur Jupiterburg reisenden Menipp. Indem Lukian für die Gespräche zwischen Göttern, Sterblichen oder Toten die drei Schauplätze Himmel-Olymp, Menschenwelt und HölleTHades in den verschiedensten Kombinationen aufeinander bezieht, schafft er szenische M o d e l l e , die sich

Totengespräch vor allem die dt. Humanisten des 16. Jh.s zunutze gemacht haben. Elemente seiner kurzen GuT.e finden sich in den erweiterten Gesprächsdichtungen vereint und zu Tableaus gruppiert. So z. B. kehren in der Höllenfahrt die auf diese Schauplätze bezogenen lukian. Lieblingsthemen und -motive wieder: das Ubersetzen in Charons Nachen und das Gericht des Minos, die Besichtigung des Totenreichs (18. und 20. T.) und das Necken der vormals Reichen und Mächtigen mit der Erinnerung an ihre irdischen Glücksumstände (2. 7*.), die Gleichheit aller, auch in der äußeren Erscheinung eines Totengerippes (25. 7".), und Menipps Unterredung mit dem Seher Tiresias (28. T.) oder die Grotte des Trophonius (3. T.), durch welche Menipp an die Oberwelt zurückkehrt. b) G e s p r ä c h s p a r t n e r . Dem satir. Stil der lukian. Dialoge entsprechend sind die Gesprächspartner Komödienfiguren und als solche keine individualisierten Charaktere, sondern allgemeine Typen. Dies gilt für geschichtliche oder legendäre Gestalten ebenso wie für mythologische, d.h. für Götter, Halbgötter und Heroen, deren traditionelle Züge vielfach possenhaft verzerrt erscheinen. Die mit Vorliebe verwendeten allegorischen Figuren werden als Personifikationen abstrakter Begriffe erst recht keine Charaktere. (In den Entlaufenen erscheint die „Philosophie" vor Jupiter als Klägerin gegen einige liederliche Sklaven, die sich als Philosophen ausgeben, oder sie entscheidet im Dialog Der Fischer oder Die Wiederauferstandenen [Anahiüntes e halieus] als Richterin über die Anklage der aus dem Hades beurlaubten Philosophen des Altertums gegen Lukian und ist dabei von einer Reihe anderer allegorischer Gestalten umgeben, von „Wahrheit", „Tugend", „Syllogismus" und „Überführung".) Alle diese Kategorien lukian. Figuren kehren in der späteren Geschichte der Gattung wieder, und einzelne Gestalten sind stehende Figuren geworden: neben den Unterweltsgottheiten etwa Alexander, Krösus, Midas usf., Diogenes, Menippus und nicht zuletzt Lukian selbst, der schon in seinen eigenen Dialogen auftritt. Lukian führt in den GuT.sdichtungen mit Vorliebe zwei Figuren zusammen, deren eine die andere herausfordert und in eine Abwehrstellung drängt. Die Rolle des A n g r e i f e r s ist in der Regel den Lieblingsfiguren übertragen, in der Unterwelt den Kynikern Menipp und Diogenes und im Olymp dem Momus (z.B. im Tragöden Jupiter) oder dem Cyniskus (im Widerlegten Jupiter [Zeus elenchomenos]). Die Träger irdischer oder götdicher Macht, die Könige und Tyrannen oder die Götter und unter diesen besonders der Göttervater sind die A n g e g r i f f e n e n und werden als Despoten gezeichnet, die von selbstsüchtigen Motiven bestimmt sind, ohne sich um das allgemeine Wohl zu bekümmern. Die Herausforderer glauben als gesellschaftl. Außenseiter niemand Respekt zu schulden und beanspruchen für sich ein Narrenrecht: „Menippus wird in der Unterwelt als eine Art von philosophischem Harlekin geduldet wie

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Momus unter den Göttern" (Wieland). Durch Gegenüberstellung solcher Figuren erreicht Lukian burlesk-komische Wirkungen. Die Herausforderer sind den Angegriffenen überlegen, haben nicht nur die stichhaltigeren Gründe für sich, sondern vertreten ihre Sache auch rücksichtsloser und geschickter, während die Angegriffenen meist eine schwache Verteidigung führen, durch die unbequemen Fragen in die Enge getrieben werden und mehr oder weniger ihre Verlegenheit eingestehen müssen. In Lukians Totenreich und Götterwelt ist die ges c h i c h t l i c h e Z e i t aufgehoben; seine Figuren aus verschiedenen Epochen sind als gleichzeitig gedacht, was den „burlesken Anachronismus" (Wieland) als ein lukian. Stilmerkmal bestätigt. Im Unterschied zu Aristophanes und zu einem Gutteil der späteren Autoren, bei denen Jüngstverstorbene oder lebende Zeitgenossen auftreten, stammen die lukian. Gestalten ausschließlich aus früheren Jh.en, es sei denn, daß sich hinter erfundenen Namen den Zeitgenossen erkennbare Persönlichkeiten der Gegenwart verbergen. (Für die persönlich gezielte Satire auf geschichtlich verbürgte Zeitgenossen wie den Kyniker Peregrinus Proteus und den Alexander von Abonoteichos wählt Lukian die Gattung der Prosaepistel: Vom Lebensende des Peregrinus [Peri tes Peregrinu teleutes] und Alexander oder Der falsche Prophet [Alexandras e pseudomantis].) Topoi, Motive oder Situationen, soweit Lukian sie mit bestimmten Begebenheiten verknüpft, stammen wie die Figuren aus der geschichtlichen oder legendären Vergangenheit; die seinen Stil kennzeichnenden, meist parodistisch verwendeten Zitate sind aus Homer, Hesiod, den Tragikern usf. genommen. Selbst wenn sich die Themen auf die Gegenwart beziehen und gelegentlich auf zeitgenöss. Ereignisse angespielt wird, bleibt der Rahmen geschichtlich unbestimmt. c) G e g e n s t ä n d e von L u k i a n s Satire. S e i n e w e l t a n s c h a u l i c h e G r u n d h a l t u n g . Die in den lukian. Gesprächsdichtungen bloßgestellten und verlachten Torheiten, Gebrechen und Laster sind vielfach allgemein menschlicher Natur: Eitelkeit, Streben nach Reichtum und Macht, Ruhmsucht, Schmarotzertum, Erbschleicherei u. dergl. begegnen in allen menschlichen Verhältnissen. Im Unterschied zu einem Gutteil der späteren GuT.e behandeln die lukianischen kein Thema aus der aktuellen Politik und Lit.; der unter den Erneuerern der Gattung beliebte Rangstreit der Dichter ist in den aristophanischen Fröschen vorgebildet. Gegen Mißstände des eigenen Zeitalters richten sich jedoch Lukians satir. Angriffe auf die Berufsklasse der P h i l o s o p h e n ; er entlarvt die lasterhaften Elemente, die sich als Vertreter der verschiedenen, durch Tradition geheiligten Philosophenschulen geben und deren Lebensführung im Widerspruch zu der von ihnen verkündeten Lehre steht. Die Typisierung dieser Figuren erlaubt es den Humanisten später, in den falschen Philosophen Lukians die kor-

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rupten Kleriker und Theologen ihres Zeitalters zu erkennen. Andrerseits gilt seine Satire den r e l i g i ö s e n V o r s t e l l u n g e n der Epoche. Die Existenz der antiken Götter stellt Lukian in Frage, indem er (wie im Widerlegten Jupiter oder im Tragöden Jupiter) die einander widersprechenden Aussagen der mythischen Überlieferung ironisch gegeneinander ausspielen läßt; sein Jupiter, ein ohnmächtiger Beobachter des Weltgeschehens, wird als solcher zur stehenden Figur in den Gesprächen der Späteren ( z . B . Hans Sachs oder Wieland). Von der Nachwelt ist die Frage gegensätzlich beantwortet worden, ob den Satiriker Lukian ernsthafte erzieherische Absichten leiteten oder ob er nicht vielmehr nur Anlässe für seine S p o t t l u s t und Möglichkeiten für die Entfaltung seiner auf Wirkung bedachten Darstellungen suchte, wobei sich heute die letztere Absicht im wesentlichen durchgesetzt hat. Seine scheinbar krit. Haltung wie die von ihm erprobten Prosaformen haben ihn dem Humanismus und der Aufklärung empfohlen, und Bewunderer wie Erasmus oder Wieland (s. §§ 17 u. 18), bestochen vielleicht von dem eleganten Stilisten, wollten in Lukian den eigenen sittlichen Ernst wiederfinden. Andrerseits haben Gegner wie Pierre Bayle die Unverbindlichkeit von Lukians Kritik betont und besonders seine grundsätzliche Gleichgültigkeit in religiösen Fragen bemängelt, u. a. daß er an die Stelle des von ihm leichtfertig verhöhnten Götterglaubens nichts Positives zu setzen vermocht habe. Zu Gestalt u. Nachwirkung von Lukians W e r k : Rudolf H e l m , Lucian u. Menipp ( 1906). Francis G. A l l i n s o n , Lucian Satirist and Artist (London 1926; O u r Debt to Greece and R o m e 8; Nachdr. N e w Y o r k 1963). R. H e l m , Lucianos der Satiriker. Pauly-Wissowa 13 (1927) Sp. 1 7 2 5 - 1 7 7 7 . Alfred R. B e l l i n g e r , Lucian's Dramatic Technique. Diss. Yale 1925, in: Yale College. D p t m . of Classics. Yale Classical Studies 1 (1928) S. 1-40. Jacques B o m p a i r e , Luden écrivain. Imitation et création (Paris 1958; Bibliothèque des Écoles Françaises d'Athènes et de R o m e 190). — S. a. einzelne E p o chen u. Autoren (§§ 11-19).

II. M ö g l i c h k e i t e n der G a t t u n g . F o r m e n der R e z e p t i o n . § 5 . Für die Vielfalt geschichtl. Verwirklichungen der Gattung GuT. sind die lukian. Modelle als wandlungsfähige G r u n d f o r m e n maßgebend: Auch während der christl. Jh.e hält man im wesentlichen an dem von der griech.-röm. Mythologie geprägten Rahmen fest (s. § 2 ) ; und abgesehen von charakteristischen Ausnahmen (wie z. B. Hans Sachs oder Schillers Xenien) gilt die Prosaform als Regel. Die Beziehung zur Uberlieferung ist von Fall zu Fall verschieden. Bei den klassisch Gebilde-

ten (z.B. bei den Humanisten, bei Fenelon oder Wieland) ist meist auf eine unmittelbare Vertrautheit mit Lukian und ein bewußtes Anknüpfen an ihn zu schließen, andere hingegen kennen ihn nur mittelbar. Selbst bei ausdrücklicher Berufung auf Lukian ist nicht unbedingt ein selbständiges Zurückgehen auf dessen Gesprächsdichtungen anzunehmen, während manche Autoren gar nicht mehr um den lukian. Ursprung der von ihnen gebrauchten Dialogform wissen. Nur wenige sind sowohl mit dem Gattungsschöpfer Lukian als auch mit einem Gutteil der Nachfolger vertraut. Im europäischen Zusammenhang betrachtet erscheint die Geschichte der Gattung als ein Geflecht von Wechselbeziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten, so daß die eigentümlich dt. Entwicklung nur im Vergleich mit den anderen Nationallit. zu erfassen ist. Fontenelle z. B. hat mit seinen vom Vorbild Lukians in mancher Hinsicht abweichenden Nouveaux dialogues des morts (1683) für das 18. Jh. ein neues Muster geschaffen, das u.a. für Faßmann wie für George Lord Lyttelton maßgebend wurde, dessen Dialogues of the Dead (1760) dann wieder eine Ubers, ins Franz. erlebten und andrerseits auf die Form von Bodmers Gesprächen im Elysium und am Acheron (1763) einwirkten. Der äußere U m f a n g der GuT.e kann (wie bei den „Unterwelts"-Xew«ew) auf ein Distichon schrumpfen oder sich (wie im Falle der Faßmannschen T.e) über siebzig bis achtzig Quartseiten und mehr erstrecken. Die offene Form des Dialogs zeigt sich erst recht in der beliebigen Erweiterung des Themenkreises. Mit Humanismus und Reformation wird die Politik Gegenstand des GuT.s, mit Boileau und Fontenelle u. a. auch die Lit. Für beide Bereiche können wiederum die aristophan. Frösche als Vorläufer gelten, indem der Rangstreit zwischen Euripides und Aeschylus nicht nach künstlerischen Maßstäben, sondern nach den Erfordernissen der polit. Situation zugunsten des letzteren entschieden wird. Im Dienste der polit. oder literar. Satire haftet dem GuT. eine Zeitbedingtheit an, sofern es nicht gelingt, (wie Erasmus mit seinem Charon) das Zeitnahe ins allgemein Gültige zu heben und die Zweckform zur Kunstform werden zu lassen. Der wachsenden Mannigfaltigkeit der Gesprächsthemen entspricht ein Zuwachs an verschiedenartigen G e s p r ä c h s p a r t n e r n . Neben geschichtliche oder mythologische Gestalten

Totengespräch der Antike treten nun Persönlichkeiten aus neuerer Zeit und selbst Zeitgenossen der Autoren, Jüngstverstorbene oder Lebende, die (wie Herzog Ulrich von Württemberg in Huttens Phalarismus von 1517 oder Wieland in Goethes Farce von 1773) als vorübergehende Besucher im Hades auftreten. Mit polem. Absicht werden Zeitgenossen, die noch am Leben sind, zu Toten in der Unterwelt gemacht (wie der böse Herzog Heinrich von Wolfenbüttel in den anonymen Drey Newen vnd lustigen Gesprechen von 1542 (s. §§ 13 u. 14) oder Herzog de Choiseul und Graf Struensee in einem franz. T. von 1772 des Königs Friedrich II. von Preußen). Besonders mit Fontenelle, dessen T.e im Dienste der „Querelle des anciens et des modernes" stehen, wird die Möglichkeit erschlossen, Figuren der neueren Zeit solchen der Antike gegenüberzustellen, wenn nicht sie gegeneinander auszuspielen. Zu den stehenden Figuren aus der Antike wie Alexander, Diogenes, Menipp oder Lukian (s. § 4 b ) treten solche aus der neueren Zeit und unter ihnen gerade Autoren von GuT.en wie Erasmus, Friedrich II. von Preußen oder Wieland. Zu den geschichtl. Persönlichkeiten gesellen sich fiktive Gestalten und darunter (mit Boileaus Les héros de roman um 1665) Figuren literar. Werke, so etwa Agathon und Tom Jones in A.G.Kästners „Romanheldengespräch" (1768) oder Agathon und Hippias in einem T. Wielands (1800). Oder die Autoren, und im Falle von J . E. Schlegels Demokrit (1741) und von Goethes Farce sind es Dramatiker, müssen sich gegenüber den Urbildern ihrer Gestalten verantworten. Als Gegenwirkung auf die T.sMode in der 1. H. d. 18. Jh.s in Deutschland entwickeln sich parodist. Spielarten, Gespräche in der Unterwelt zwischen Tieren, zwischen unbelebten Gegenständen usf. Die Frage nach den G r ü n d e n für die jeweilige B e l i e b t h e i t des GuT.s kann hier nur versuchsweise beantwortet werden. Es wird in Epochen und von Autoren mit einer Vorliebe für die Dialogform im allgemeinen gepflegt, tritt jedoch zahlenmäßig hinter der Grundform, den Dialogen unter Lebenden, zurück. Von den 57 Gesprächen der erasmischen Colloquia familiaria (in der Ausg. von 1533) z . B . gehört streng genommen nur der eine Charon hierher. Blütezeiten des GuT.s sind im dt. Kulturkreis Humanismus und Reformation und andrerseits die Aufklärung, d. h. Epochen, in denen die eigendich dichter. Gattungen in

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den Hintergrund treten. Im 18. Jh. trifft dies zumindest auf die 1. H. zu, während in der 2. H. und bis ins 1. Jahrzehnt des 19.Jh.s hinein die Gesprächsformen als Nebenerscheinung weiterleben, in einem Zeitraum also, in welchem bedeutende dichter. Leistungen entstehen. In den genannten Blütezeiten geht es u. a. darum, geistige Positionen neu zu bestimmen, wozu sich der Dialog als ein geeignetes Mittel anbietet; seine Möglichkeiten reichen von der sachbezogenen, verstandesmäßig kühlen und Urbanen Erörterung und Klärung gegensätzlicher Meinungen bis zum gefühlsbetonten, schonungslosen Angriff auf gegnerische Standpunkte oder Personen. Fontenelle z. B. wird aus persönlichen Gründen ein Erneuerer der Gattung: nach dem Scheitern seiner eigenen Versuche in verschiedenen dichterischen Gattungen und zumal im großen Drama greift er in satir. Absicht zum T . , um sich an den Hütern der klass. Tradition zu rächen. § 6 . V o r a u s s e t z u n g e n für das F o r t leben der G a t t u n g . Es hängt dieses nicht zuletzt davon ab, wie weit der antike mythologische Rahmen für die Autoren und deren Publikum verbindlich ist. K l a s s . B i l d u n g scheint für ein Verhältnis zu diesen Gesprächsformen seit ihrer Erneuerung durch die Gelehrtenelite des europäischen Humanismus Voraussetzung zu sein, und für einen Teil der Überlieferung trifft dies auch zu. Doch wird das GuT. im 16. Jh., im Anschluß an die humanist. Bemühungen und im Dienste der Reformation eine v o l k s t ü m l i c h e Gattung: die Ubers, von Huttens lat. Dialogen Phalarismus (1517) und Inspicientes (1520) ins Dt. (Phalarismus; Die Anschauenden-, 1521) sind ein Schritt dazu, bewußt volksnahe anonyme dt. Dialoge folgen; und nicht zuletzt bedient sich Hans Sachs dieser Formen (s. §§ 12 c u. 13). Die seit 1718 erscheinenden Faßmannschen „Entrevuen" wiederum, mit denen die T.sMode im dt. 18. Jh. einsetzt, erreichen Leser aus allen Volksschichten und namentlich aus dem Handwerkerstand (s. § 16). (Nur am Rande zu erwähnen ist hier die Lebendigkeit des mythologischen Apparates, der Götter und Helden und der Schauplätze Olymp und Unterwelt, in der Wiener Volkskomödie vom 18. Jh. bis ins 1. Jahrzehnt des 19. Jh.s hinein.) Der von Lukian vermittelte pagane Rahmen (s. § 2) wird in den christl. Jh.en, in Byzanz und später im europäischen Humanismus, mehr

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oder weniger vorbehaltlos übernommen. Dies erleichtern gewisse Ubereinstimmungen der lukian. J e n s e i t s v o r s t e l l u n g e n mit den mal.christl.: Lukian bestätigt und bereichert das vom MA. geprägte Bild vom Leben nach dem Tode (wie u.a. sein Einfluß auf Holbeins Totentanz zeigt). Für die Humanisten ist der griech. Autor zwar ein entscheidendes Bildungserlebnis, in ihre Dialoge aber nehmen sie daneben noch mal. Inhalte und Formen auf, so wie die erasmischen Colloquia zunächst an die lat. Schülergespräche des MA.s anknüpfen. Andrerseits ist nachzuweisen, wie z . B . in den ganz in ein christl. Kostüm gekleideten, anonymen und u.a. dem Erasmus zugeschriebenen Dialog Julius exclusus (1517) mit dem Thema der versuchten Himmelfahrt des Papstes Julius II. Elemente aus verschiedenen lukian. Werken eingegangen sind; und ähnliches gilt für Nikodemus Frischlins Komödie Julius redivivus (1585). Häufiger noch, besonders im 16. Jh., mischen sich die antiken und christl. Elemente, bei Hutten, im Carolus und Momus der anonymen Dialogi Septem (1520), bei Hans Sachs usf. Die Schauplätze und das Wanderungsmotiv in der Divina Commedia könnten vermuten lassen, daß D a n t e auf das GuT. gewirkt habe, doch verschmelzen Dantesche Höllenvorstellungen offenbar erst bei Q u e vedo mit denen Lukians; und die dt. Nachahmungen der Sueños (1608), die Traumsatiren des 17. Jh.s, sind keine Dialoge im eigentlichen Sinne. Abgesehen davon, daß Dante selbst den griech. Autor noch nicht kennt, scheidet ihn von dessen aufklärerischem, satir. Geist der gläubige Ernst. Trotz scheinbarer Ähnlichkeiten hat man es hier mit zwei verschiedenen Überlieferungen zu tun. Die Möglichkeit einer Gleichsetzung von antiker Unterwelt und christl. Hölle mag es erklären, daß der Haupttypus des T.s (s. § 1) auch als volkstüml. Form weiterlebt und zur Mode wird, wogegen das G. nach Humanismus und Reformation an Popularität einbüßt, aber beispielsweise mit den Nouveaux dialogues des dieux, ou Réflexions sur les passions (1711) des franz. Aufklärers Rémond de S a i n t - M a r d und in der dt. Spätaufklärung durch H e r d e r und namentlich durch Wieland erneuert wird. Von anderen Verstößen gegen die Gattung abgesehen halten sich Faßmann und seine Nachahmer auch nicht folgerichtig an die mythologischen Voraussetzungen für ein Ge-

spräch im Totenreich. Hingegen ist die überkommene Form des M y t h o s als ein konstitutives Element des GuT.s für die klassisch gebildeten, formbewußten dt. Autoren des 18. Jh.s verbindlich, auch wenn sie z . T . vielleicht erst durch die T.s-Mode auf die Gattung verwiesen worden sind; diese klassizist. Autoren können darauf zählen, daß der mythologische Hintergrund ihrer Gespräche noch allgemein verstanden wird. Mit dem Abklingen von Aufklärung und Klassik und etwa seit dem 2. Jahrzehnt des 19. Jh.s, wenn die Gattung in der dt. wie in den übrigen Nationallit. nur noch gelegentlich aufgegriffen wird, ergibt sich kein einheitliches Bild mehr. Neben traditionellen Gesprächen entstehen eigenwillige Neuschöpfungen mit einer jeweils verschiedenen Beziehung zur Uberlieferung, die von den Autoren gelegentlich verdeckt wird, für den mit der Gattung Vertrauten aber durchschaubar ist. Eine Reihe von T.en, in denen philosophische Themen erörtert werden, bleiben der klassizist. Form verpflichtet, so Maurice J o l y s Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu (1864); Paul V a l e r y s Eupalinos ou l'architecte (1923), ein T. zwischen Phaidros und Sokrates; George Santayanas Dialogues in Limbo (1925) zwischen den Schatten meist antiker Gestalten „and the Spirit of a Stranger still living on earth"; oder Peter Gays The Bridge of Criticism (1970), „Dialogues among Lucian, Erasmus, and Voltaire on the Enlightenment . . . " . Daneben aber erschafft sich ein Dichter im Gefolge der Romantik wie Edgar Allan P o e in The Conversation of Eiros and Charmion (1839) oder The Colloquy of Monos and Una (1841) seinen persönlichen Mythos. B r e c h t wiederum gestaltet im Verhör des Lukullus (1939) den Ubertritt des röm. Feldherrn ins Totenreich und die Totengerichtsszene auf eine eigenwillige, von der aristophanisch-lukian. Tradition abweichenden Weise, gibt aber der szenischen Aufmachung seines „Hörspiels" (s.a. § 19b) ein eigentümlich antikisches Gepräge. Andrerseits scheint z. B. Heinz P i o n t e k in seinem Dreiergespräch von 1973 einen ausdrücklichen Bezug auf die antike Überlieferung vermeiden zu wollen; doch indem dieses Gespräch „zwischen Herrn Bertolt Brecht und seinem Knecht Puntila sowie dem Manuskriptschreiber P. an einem nicht näher bezeichneten Ort" stattfindet, wird es ein aufschlußreicher Beleg für das Fortleben der Gattung.

Totengespräch § 7. D i a l o g und Drama. Die Zusammensetzung der lukian. Gesprächsdichtungen aus Dialog und Komödie (s. § 3) gilt auch für die GuT.e seiner Nachfolger, wobei das Mischungsverhältnis der beiden Elemente in den geschiehtl. Verwirklichungen der Gattung ein jeweils verschiedenes ist. D . h . , das Gewicht kann entweder auf der komödienhaften Ausgestaltung einer Szene oder auf der dialogischdialekt. Erörterung eines Problems oder irgendwo zwischen diesen Extremen liegen. Nach Humanismus und Reformation nimmt die Zahl der sachbezogenen Gespräche gegenüber den szenenhaft gestalteten zu. Bei vielen Autoren spielt dabei eine Kenntnis anderer antiker Dialogtraditionen und besonders der platonischen mit, an welche z . B . Valérys Eupalinos unmittelbar anknüpft. Die Preisgabe szenischer Elemente zugunsten der Diskussion kann die Grundstimmung des GuT.s verändern: der burlesk-komische Ton weicht einer um Wahrheit und Erkenntnisse bemühten ernsten Haltung, wobei der Ernst wie etwa in den Wielandschen Gesprächsdichtungen von Ironie durchbrochen sein mag. (Die FaßmannSchule bleibt hier unberücksichtigt, weil sie die künstler. Form der Gespräche über dem mitzuteilenden Wissensstoff vernachlässigt.) Ein ernster Zug scheint besonders das dt. 18. Jh. zu kennzeichnen, obgleich z . B . auch die Dialogues des morts des Prinzenerziehers F é n e l o n (1712), der Zweckbestimmung seiner Samml. entsprechend, ernst gestimmt sind; und ähnliches trifft auf die (in § 6 genannten) außerdt. philosophischen Gespräche des 19. und 20. Jh.s zu. Andrerseits lebt die komödienhafte Szene weiter, so etwa in V o l t a i r e s Druides (1772), wo es heißt: „La scène est dans le Tartare", oder in der dt. Lit., von den derbsatir. Göttern, Helden und Wieland des Stürmers und Drängers G o e t h e bis zur anklagenden Satire des Brechtschen Lukullus oder zum Dreiergespräch P i o n t e k s : i n der Art, wie dort der zur Kultfigur gewordene Brecht von dem „Manuskriptschreiber P . " herausgefordert und in die Enge getrieben wird, gemahnt an lukian. Szenen wie den Widerlegten Jupiter, und zugleich wird hier das Motiv einer Konfrontation des Dichters mit einer von ihm geschaffenen Figur wieder aufgegriffen. Die Grenze zwischen den szenisch gestalteten GuT.en und den Dramen und Theaterstücken, die im Olymp oder in der Unterwelt spielen, ist nicht scharf zu ziehen (vgl. § 3).

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Außerhalb der lukianisch-aristophan. Überlieferung stehen als dramat. Großformen und ihres ernsten Charakters wegen die Dramen und Opernlibretti in der Nachfolge der griech. Tragödie, in denen Stoffe wie die Mythen von Orpheus und Alkestis gestaltet werden, während die Parodien auf diese Stoffe und Dramen, die u.a. bis ins 2.Jahrzehnt des 19. Jh.s hinein auf das Wiener Volkstheater gebracht werden, höchstens als Grenzfälle für die Gattung GuT. in Anspruch zu nehmen sind. Andrerseits stehen ihr eine ganze Reihe von anderen Bühnenstücken nahe, so z. B. die 1737 aufgeführte „Farce" Eurydice von Henry Fielding oder David G a r r i c k s „Dramatic Satire" Lethe (von 1749), ein auf dem zeitgenöss. Theater erfolgreiches Nachspiel, in welchem sich u.a. eine Reihe von Hadesfahrern aus der Gegenwart des Autors mit Aesop unterhalten, während die Trilogie von Versdramen Gil V i c e n t e r s , das Auto de moralidade da embarcagäo do Inferno (portug.; Moralisches Spiel von der Fahrt zur Hölle, 1517), das Auto da barca do Purgatörio (portug.; Spiel von der Barke des Fegefeuers, 1518) und das Auto da barca da Gloria (span.; Spiel von der Barke der Seligkeit, 1519) u.a. Motive aus Lukians T.en und zumal dem 10. und aus der Überfahrt mit solchen der mal. span. Totentänze verbindet. Ähnlich wie später F r i s c h l i n s Julius redivivus folgt die lat. „tragoedia nova" Pammachius in Versen (von 1538) des dt. Protestanten Thomas N a o g e o r g u s in ihrem szenischen Aufbau und in Einzelmotiven zwar lukian. Vorbildern, alles Pagane aber ist durch Christi, ersetzt: statt der Götter im Olymp unterhalten sich Christus und die Heiligen im Himmel über die traurigen Zustände auf der Erde usf. Im modernen D r a m a wird gelegentlich die jenseits unserer Erfahrung liegende Welt der Toten gestaltet, doch ist eine Vertrautheit der Autoren mit der lukian. Uberlieferung nicht mehr vorauszusetzen, und wo sie anzunehmen wäre, wird von der Tradition z. T. bewußt abgerückt. Ubereinstimmungen dieser für die Bühne bestimmten Stücke mit dem GuT. beruhen u. a. darauf, daß auch ihnen die Vorstellungen eines Fortlebens nach dem Tode, eines Totenreiches und darüber hinaus einer Verständigung zwischen Jenseits und Diesseits zugrundeliegen. Dieser Gemeinsamkeiten wegen sind die genannten Dramen bei der Abgrenzung der Gattung zu berücksichti-

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gen: Die ihr verwandten Elemente sind von den wesensfremden zu scheiden, wobei die letzteren meist persönliche Neuschöpfungen darstellen, sofern sie nicht anderen Uberlieferungen zugehören (s. § 1 9 b ) . §8. Geschichtliche Verwirklichungen u n d T h e o r i e . Das G u T . Lukians und seiner Nachfolger, das sich von der Grundform, dem erdachten Gespräch unter Lebenden, durch bestimmte Figuren, Schauplätze und Situationen abhebt (s. §§ 1 u. 5), enthält eine Reihe von Möglichkeiten, die im einzelnen Gespräch nicht alle zu verwirklichen sind, einander sogar ausschließen können. Einige dieser a) die Darstellungen der Gegenwart, b) die Gestaltung der Gesprächspartner und c) die Motive für die Wahl der Gattung betreffenden Alternativen werden im folgenden aüs den geschichtl. Verwirklichungen der Gattung herausgehoben, um d) zu einer Theorie des G u T . s zu gelangen. a) D a r s t e l l u n g der G e g e n w a r t . GuT., das geschichtslos scheint, weil es die chronologische Zeit außer Kraft setzt, bezieht sich paradoxerweise auf die geschichtl. Gegenwart seines Autors (s. § 4 b ) . Gleichgültig, ob in ihm allgemein menschliche und philosophische Fragen oder im eigentlichen Sinne zeitgemäße zur Sprache kommen (s. §§ 4 c u. 5), stets verrät das Gespräch den geschichtl. Standort des Verfassers und wendet sich zuerst an dessen Zeitalter. Am sinnfälligsten verwirklicht diese Absicht der Gesprächstypus des U r l a u b e r s aus dem H a d e s oder des o l y m p i s c h e n A b g e s a n d t e n (s. §§ 1 u. 4 a). Auf der Erde angelangt vergleichen die Besucher die Zustände, die sie antreffen, mit denen zu ihren Lebzeiten und beurteilen sie aus der überlegenen Sicht von Hades und Olymp. So beklagt der aus der Unterwelt gekommene Cicero im lat. Dialog Roma capta (1528) von Eobanus H e s s e in einem Gespräch mit Roma das Unglück seiner von den Kriegsereignissen des Jahres 1527 heimgesuchten Vaterstadt; bei Nikodemus F r i s c h l i n (dessen Julius redivivus an Hesse anknüpft) weilen Cäsar und Cicero auf kurzem Urlaub auf der Oberwelt, um das Schicksal ihres Vaterlandes zu erkunden und enttäuscht in die Unterwelt zurückzukehren (s. §§ 6 u. 7); und ähnlich begegnet in V o l t a i r e s Dialogue entre Marc-Aurele et un recollet (1752) der aus dem Hades kommende röm. Kaiser auf dem Kapitol dem Franziskaner Fulgence, einem beschränkten und Opportunist. Diener der Kirche, und muß verblüfft feststellen, wie sich die Zeiten, Religion und Politik betreffend, zum Schlimmen verändert haben. Oder um beide Seiten der berühmten „Querelle" zu Wort kommen zu lassen und zu einem ausgewogenen Urteil zu gelangen, läßt Voltaire im Dialog Les anciens et les modernes ou La toilette de Madame de

Pompadour (1765) die über die Errungenschaften der neuzeitlichen Zivilisation erstaunte Römerin Tullia im Boudoir seiner franz. Zeitgenossin auftreten. Aus dem Olymp wiederum kommen im Momus der anonymen lat. Dialogi Septem (1520) die Titelfigur und Menipp auf die Erde, um auf Jupiters Geheiß alle Verkehrtheiten und zumal die Bedrückung Deutschlands durch die röm. Kurie zu tadeln (s. § 6), während im ersten der satir. Dialoge des franz. Cymbalum mundi von D e s P e r i e r s (1537) dem von Jupiter herabgeschickten Merkur ein Abenteuer zustößt, durch welches der Ablaßhandel der Kirche bloßgestellt werden soll. Gleichfalls mit Blick auf die eigene Zeit erneuern die Autoren das lukian. Motiv des H e r a b s c h a u e n s der G ö t t e r auf die E r d e (s. § 4 a ) , so H u t t e n , in dessen Inspicientes (1520) Sol und Phaethon die Vorgänge auf dem Reichstag zu Augsburg (1518) aus der Vogelperspektive verfolgen und u. a. die Abhängigkeit Deutschlands von der röm. Kurie und deren Geldgier anprangern (s. § 6); oder W i e l a n d im X I . G. (1791), in welchem „Jupiter Olympius, Merkur, Numa Pompilius, Sankt Ludewig. Heinrich IV., zuletzt noch der Schatten Ludewigs X I V . . . . in einer Wolke über dem Marsfelde zu Paris" der Volksversammlung unten und der Eidesleistung des Königs zuschauen und Für und Wider der neuen Verfassung erörtern, wobei jeder der Gesprächsteilnehmer das zeitgemäße Problem aus der Sicht seiner eigenen geschichtl. Situation beleuchtet (s. § § 4 c , 6 u. 7). Ebenso dienen Gespräche der Unterweltsgottheiten der Zeitkritik, so schon im Cbaron von Giovanni P o n t a n o (15. Jh.), einem der frühesten humanist. Lukian-Nachfolger, der durch die Unterhaltung Charons mit Minos und Aeakus über die Toten und deren Schicksale die Zuchtlosigkeit der Kleriker brandmarken will; und am wirkungsvollsten im Cbaron des E r a s m u s (1523), der hinter der sarkast. Unterredung des Totenfährmanns mit Alastor seine bittere Anklage gegen die verbirgt, welche die Menschheit ins Verderben des Krieges stürzen (s. § § 5 u . 6). Und schließlich werden die lukian. Modelle der H a d e s f a h r t und der R e i s e z u r J u p i t e r b u r g aufgegriffen (s. § 4 a ) . In H u t t e n s satir. Phalarismus (1517) z . B . reist der Tyrann, d.h. des Autors persönlicher Widersacher Ulrich von Württemberg in die Unterwelt, um sich von seinem antiken Vorläufer Phalaris in der Tyrannei unterweisen zu lassen (s. § 5); oder im Carolus der Dialogi septem (1520) erhält Karl V. von seinem Vorgänger Maximilian Ratschläge für seine Regentschaft und für die Erneuerung der Kirche (s. § 6). In W i e l a n d s Lustreise in die Unterwelt (1787) ist es der Autor selbst, der sie im Traum unternimmt, um sich mit Menippus und Xenophon über die am Vorabend der Franz. Revolution akut gewordenen Fragen von Königtum, Recht des Stärkeren oder Gesellschaftsvertrag auszusprechen, während Hans Sachs unter Führung der „fraw racio" im Traum zu Jupiter fliegt und Ein

Totengespräch gespräch der götter wider den aufrüerischen füersten margraff albrecht und ander füersten und stedt deutschlands (1554) belauscht, in welchem Minerva und Justitia vor dem Thron des Göttervaters über die Kriege in Deutschland Klage führen und auf ein Strafgericht über die Menschen drängen. Der Haupttypus, das T. im engeren Sinne, zeigt vielfach schon durch die Zusammenstellung der Gesprächspartner seine Beziehung auf die Gegenwart (s. § 8b). Selbst wenn sich Gestalten der Antike wie in Bodmers Gesprächen im Elysium und am Acheron (1763) unterhalten, fehlt dieser Bezug nicht: Cato und Homer z . B . sprechen über ihren Nachruhm, und Cato erfährt, daß das 18. Jh. kein Zeitalter von Helden, Patrioten, von „Ehrbegierigen" mehr und somit auch Homers Dichtung gegenüber verständnislos ist' (s. § 5). Die Darstellung der Gegenwart ist für das GuT. konstitutiv, während ein bloßes Sichversetzen in eine vergangene Zeit dem Wesen der Gattung widerspräche. Götterwelt und Totenreich, seien sie geglaubte Wirklichkeit oder literar. Fiktion, sind zwar als Gegenwelten zum Diesseits geschaffen, zugleich aber auf dieses bezogen. Die Möglichkeit des GuT.s, die Zeitlichkeit aus dem Abstand der Ewigkeit zu betrachten, bildet ein Hauptmotiv für die Wahl dieser Gattung (s. § 8 c). b) G e s t a l t u n g der G e s p r ä c h s p a r t n e r . Die Gespräche der Lukian-Tradition setzen voraus, daß die Toten noch nicht aus dem Lethe getrunken, sondern ihre E r i n n e r u n g an die Welt der Lebenden behalten haben und ihren Gesichtskreis im Jenseits vielfach erweitern. Wie die Titelfigur in Wielands Geheimer Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus (1791) vermögen die Hadesbewohner ihr eigenes Leben zu überblicken und zu durchschauen; Neuankömmlinge und Besucher aus dem Diesseits halten sie über die neuesten Weltereignisse auf dem laufenden (s. § 8d). Besonderes Interesse beansprucht auch für Lukians Nachfolger der Moment der A n k u n f t im Hades (vgl. § 4 a ) : Die meisten der eben Eingetroffenen lehnen sich gegen ihre neue Lage auf; einige lernen sich damit abzufinden; selten verliert sich die Sehnsucht der Toten nach dem Leben. Die Gesprächspartner haben ihren Charakter mit ins Jenseits herübergenommen. Dabei sind sie entweder wie bei Lukian so weise oder beschränkt, gut oder böse geblieben, wie sie auf Erden waren, oder ihr neuer Zustand hat es ihnen erlaubt, im Rahmen ihres Charakters einsichtsvoller, reifer zu werden. Das bei Lukian vorgebildete Motiv der G l e i c h heit aller im T o t e n r e i c h (s. §4a) wird von der Nachfolge auf jeweils charakteristische Weise verschieden gehandhabt. Während der Humanismus und einzelne spätere Autoren wie Fenelon (s. § 7) an der Vorstellung des Totengerippes als eines äußeren Zeichens der Gleichheit und zugleich als eines Symbols der Vergänglichkeit körperlicher Kraft und Schönheit festhalten, verliert das Motiv bei den

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Neueren, so etwa bei Fontenelle (s. § 5), an Bedeutung; die Gesprächspartner zeigen sich in ihrer irdischen Gestalt, sofern ihre äußere Erscheinung überhaupt zur Sprache kommt. Ähnliches gilt für die Aufhebung aller auf Erden genossenen gesellschaftl. Vorzüge. Wie in der lukian. Unterwelt die Kyniker den einst vom Glück Begünstigten zusetzen (s. § 4b), so fordern z. B. bei Matthew Prior die Untergebenen ihre einstigen Herren zu einem Wortgefecht heraus, dem diese unterliegen — so in A Dialogue hetween the Vicar of Bray, and Sir Thomas More oder A Dialogue hetween Oliver Cromwell, and his Porter (um 1721), während Faßmann in seinem Reiche der Toten die ständische Hierarchie intakt läßt; die verstorbenen Standespersonen begegnen einander mit dem gewohnten Zeremoniell (s. § 6). Wie die antiken Götter sind die Toten bloße Zuschauer geworden (vgl. §§ 1 u. 4a). Mit dem Ubertritt in den Hades ist ihnen jedwede Möglichkeit zu handeln benommen, und für Sartre, der dieses Motiv (in seinem Einakter Huis Clos von 1944/1945) folgerichtig zu Ende führt (s. § 19b), besteht die eigentliche Höllenqual im Verwehrtsein freiheitlichen Handelns. Für die Gattung fruchtbarer geworden ist die Vorstellung des Schattendaseins als einer Befreiung von der Begrenztheit irdischer Existenz. Von den Forderungen des Körpers und von den Rechten und Pflichten des Erdendaseins entbunden, vermögen die Toten leidenschaftslos und vorurteilslos auf ihr Leben und auf das Weltgeschehen zu blicken; und während das Verwickeltsein in die Geschäfte der Welt zur Verstellung gezwungen hat, ist es im Jenseits einem jeden erlaubt, ehrlich gegen sich selbst und er selbst zu sein. Neuankömmlinge wie etwa Diokles und Phaon in den (an Lukians 10. u. 25. T. anknüpfenden) Wielandschen Dialogen im Elysium (von 1780 u. 1782) müssen sich erst von Selbsttäuschungen freimachen. Die Aufhebung von Raum und Zeit im Totenreich und in der Götterwelt ermöglicht ein Zusammentreffen von P e r s ö n l i c h k e i t e n , die in verschiedenen Weltgegenden und Zeitaltern gelebt hatten und somit auf Erden einander nicht begegnen konnten. Im Unterschied zu Lukians Gesprächsdichtungen (s. § 4 b ) überwiegen in denen seiner Nachfolger geschichtl. und pseudogeschichtlich-legendäre Gestalten (s. § 5). Drei beliebte Möglichkeiten, geschichtl. Figuren in einem Gespräch zu vereinen, zeigt die Gliederung von Fontenelles beiden Samml. in „dialogues des morts anciens", „dialogues des morts anciens avec des modernes" und „dialogues des morts modernes". U.a. weckt das Auftreten bekannter, wenn nicht bedeutender Persönlichkeiten das Interesse der Leserschaft, und zudem erhält eine Äußerung mehr Gewicht, die aus berühmtem Munde kommt. Der Wahl der Gesprächspartner scheinen grundsätzlich keine Grenzen gesetzt, doch fordert das ideale GuT., daß die Gesprächsteilnehmer dem Thema entsprechend gewählt sind oder daß zwi-

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sehen den Beteiligten a priori eine wie auch immer geartete B e z i e h u n g besteht. Es kann sich um die Gegenüberstellung von Gleichgesinnten oder von Widersachern handeln, und der Charakter der Unterredung kann von der leidenschaftslos-abgeklärten Diskussion bis zum Streitgespräch reichen usf. (s. § 5), wobei auch die aus Lukian vertrauten und der Dialogform entsprechenden Anlässe für eine Begegnung, wie das Vergleichen und Messen der Taten und Schicksale (vgl. § 4 a ) , bei den späteren Autoren in immer neuen Abwandlungen wiederkehren. Fragwürdig ist es, wenn Faßmann, der ausschließlich Standespersonen oder Berühmtheiten auftreten läßt, um der Sensationslust des Publikums willen die ungewöhnlichsten Begegnungen einrichtet, so etwa (in der 48. Entrevue) zwischen Cyrus und dem albanischen Nationalhelden Skanderberg. Gegen dieses Verfahren wenden sich offensichtlich die grotesken Zusammenstellungen der Gesprächspartner in den Parodien auf die Faßmann-Schule (s. § 5), was darauf hindeutet, daß für das GuT. als eine Kunstform die zwingende Wahl der am Gespräch Beteiligten wesentlich ist. Der Verfasser kann seine Sympathien einer bestimmten Figur zuwenden und sie zu seinem Sprecher machen; oder es ist wie in den Gesprächen Wielands nicht zu entscheiden, welche Figur die A n s c h a u u n g e n des A u t o r s vertritt; Für und Wider, in ihm selbst angelegt, scheinen auf alle Gesprächspartner verteilt. In manchen Dialogen wird den Figuren kein Eigenleben zuteil, und sie dienen lediglich als ein Sprachrohr für Ideen und Meinungen; oder sie sind Typen im Sinne Lukians und dem Stil der komödienhaften Szene gemäß (s. § 4 b ) . Andrerseits aber können sie als i n d i v i d u a l i s i e r t e C h a r a k t e r e gestaltet sein, und zumal bei geschichtl. Persönlichkeiten ist es wesentlich, daß ihnen auch als Toten der durch die Überlieferung verbürgte und dem Leser vertraute Charakter eignet. So bemängelt z . B . Voltaire (gegenüber Friedrich II.) an Fontenelle, daß dessen Figuren nicht im Einklang mit ihrem geschichtl. Charakter reden, daß aus ihnen immer nur der Autor spreche und gleichsam auf ihre Kosten geistreich sein wolle. Die künstlerisch überzeugende Darstellung einer histor. Gestalt verlangt eine solche Vertrautheit mit dem Urbild, daß die ihr in den Mund gelegten Aussagen authentisch klingen (Ethopoiie), so wie dies Prior bei seinen Gestalten und zumal bei seinem Montaigne geglückt ist (in A Dialogue between Mr. John Lock und Seigneur de Montaigne, um 1721), oder Maurice Joly bei seinem Machiavelli (s. § 6). Im Falle von Wielands Peregrin, der aus dem Elysium zurückblickend seine Handlungen und Motive dem einstigen Verleumder Lukian gegenüber rechtfertigt, bemüht sich der Dichter, einen Charakter durch Deutung der histor. Quellen nachzubilden und einen Verfemten zu retten. Das ideale GuT. verlangt einen L e s e r , der u.a. den jeweiligen vom Autor gewollten Sinn des my-

thologischen Rahmens erfaßt (s. § 2 ) und der, wenn geschichtl. Persönlichkeiten als Charaktere gezeichnet sind, ein Vorwissen über deren Urbilder mitbringt und ihre von Gespräch zu Gespräch wechselnden Rollen zu vergleichen und zu beurteilen vermag. Solche Erwartungen an die Leserschaft schränken diese auf eine elitäre humanist. Gemeinde ein (s. §§ 5 u. 6), welcher die Autoren selbst zugehören. Sie bekunden dies nicht zuletzt mit der Wahl der Gesprächspersonen, auch wenn man die stehenden Figuren der Gattung (s. §§ 4 b u. 5) zunächst daraus zu erklären hat, daß den Schauplätzen Olymp und Hades bestimmte Figuren zugeordnet sind und daß es ferner innerhalb der Gattung üblich geworden ist, bestimmte Figuren mit bestimmten Situationen und Themen zu verknüpfen. Wenn Peter G a y zu einem Gespräch über die Aufklärung Lukian, Erasmus und Voltaire zusammenführt (s. §6), so erinnert er damit an Voltaire, in dessen Conversation de Luden, Erasme et Rabelais dans les Champs Blysees (von 1765) Kirche und Papsttum im Sinne der Aufklärung kritisch beleuchtet werden. S c h i l l e r zielt mit seinem beißenden Xenion Peregrinus Proteus (s. § 5) auf Wielands Gesprächsdichtung und läßt dessen Rettungsversuch durch den Philosophen selbst mit einer an Wieland gerichteten Botschaft aus dem Hades in Abrede stellen. Fraglich ist, ob P r i o r um die Vorliebe früherer Autoren für Karl V. wußte, den er, der Engländer, in A Dialogue between Charles the Emperor und Clenard the Grammarian (um 1721) satirisch behandelt, wogegen ihm seine Zeitgenossen aus dem Reich mit Hochachtung begegnen: Im Carolus aus den Dialogi Septem (1520) (s. § § 6 u. 8a) oder in Alfonso de Valdes' span. Didlogo de Mercurio y Carön (1529?), in welchem des Kaisers Politik erörtert und er selbst als das Ideal eines christl. Herrschers gepriesen wird. Das Auftreten derselben mythologischen, legendären oder histor. Figuren bei Autoren unterschiedlicher Wesensart und verschiedener Epochen, d. h. die Erscheinung der stehenden Figuren in der Geschichte des GuT.s, läßt mehr als eine Erklärung zu (s. § § 4 b u. 5). U . a . ist sie ein Anzeichen dafür, wie die Gattung dazu auffordert, sich in den Bahnen bestimmter Traditionen zu bewegen. Entscheidend ist dabei, daß den Autoren, die bei der Wahl der Gesprächspartner z. T. bewußt an Vorläufer anknüpfen und sich mit diesen auseinandersetzen, ein Spielraum für die schöpferische Gestaltung ihrer Figuren bleibt. c) M o t i v e für die W a h l der G a t t u n g . Die lukian. Modelle des GuT.s lassen den späteren Autoren in der Wahl der Gesprächsgegenstände eine so gut wie unbegrenzte Bewegungsfreiheit. Die geschichtl. Verwirklichungen zeigen jedoch, daß in den verschiedenen Epochen bestimmte Themen im Vordergrund stehen. Schon im ital. Humanismus des 15. Jh.s entdeckt man die Gattung als ein geeignetes Mittel, K r i t i k an den polit. Zuständen zu üben und besonders die Mißstände in Kirche und Staat bloßzu-

Totengespräch stellen (s. §§ 5 u. 8 a). Denn abgesehen von der Möglichkeit, die irdischen Belange sub specie aeternitatis zu betrachten (s. § 8 a), erlaubt es das GuT., die Verantwortung für das Gesagte auf fiktive Gestalten zu übertragen. Die Autoren hoffen sich dadurch dem Zugriff kirchlicher oder weltlicher Macht zu entziehen, und diese Möglichkeit wird im Gefolge von Gesprächssamml. wie dem antiklerikalen Charon des neapolitan. Staatsmannes und humanist. Dichters Giovanni P o n t a n o (1426-1503) (s. §8a) ein entscheidendes Motiv für die Wahl der Gattung. Viele Autoren versuchen sich noch zusätzlich vor Verfolgung zu schützen, indem sie ihre Gespräche anonym oder unter einem Pseudonym veröffentlichen. Im Falle des Julius exclusus (1517), der u.a. dem Erasmus zugeschrieben wird (s. § 6), ist es nicht geglückt, die A n o n y m i t ä t des Verf. zu lüften und diesen für die schonungslose Satire auf den machthungrigen, kriegslustigen Papst Julius II. zur Rechenschaft zu ziehen, so wenig man bei den Dialogi Septem Festive Candidi: Authore S. Abydeno Corallo. Germ. (1520) das Pseudonym des Autors zu entschlüsseln vermochte, in welchem neuere Deutungen bald (W. Brecht) den Crotus Rubeanus, bald (P. Merker) den Nicolaus Gerbelius erkennen wollen (s. § § 6 , 8a u. 8b). Hingegen wird Bonaventure Des Périers hinter dem Pseudonym Thomas de Clerier als der Verf. des den Katholiken wie den Calvinisten verhaßten Cymbalum Mundi, en francoys, contenant quatre dialogues poétiques, fort antiques, joyeux et facetieux (1537) erkannt und belangt, der Drucker verurteilt und das Buch vom Henker verbrannt, während Des Périers selbst dank seiner Stellung am Hofe der humanistenfreundlichen Marguerite d'Angoulême und mächtiger Fürsprecher frei ausgeht (s. §8a). Im Zeitalter der dt. Frühaufklärung muß David Faßmann seine Gespräche in dem Reiche derer Todten (1718-1739) wegen der kursächs. kirchlichen Zensur anonym veröffentlichen, mit der er u.a. viermal zusammenstößt; seine 83. Entrevue „zwischem dem Russischen Kayser Petro I Magno, und dem grausamen Czaar Iwan Basilowitz" wird konfisziert. Einmal erhält Faßmann vierzehn Tage Gefängnis, wird ein andermal zur Flucht gezwungen und lebt wegen seiner Zeitschrift in ständiger Angst (s. § § 5 , 6 u. 8 b). Der zuerst anonym herausgekommene und als ein Pamphlet gegen das zweite Kaiserreich verstandene Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu ou La politique de Machiavel au XIX' siècle par un contemporain (1864) erscheint 1868 in zweiter Auflage mit Angabe des Verf., Maurice J o l y , der zu fünfzehn Monaten Gefängnis und 200 Franken Geldstrafe verurteilt wird (s. § § 6 u. 8 b). Die Unterdrückungsmaßnahmen fördern jedoch das P u b l i k u m s i n t e r e s s e an diesen Gesprächen und tragen zu ihrer Verbreitung bei. Alfonso de Valdés' Diâlogo de Mercurioy Carôn (1529?) z . B . , mit welchem der Sekretär Karls V. u. a. für die mora-

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lische Erneuerung des Christentums und eine verinnerlichte, keiner priesterlichen Mittlerrolle bedürfenden Religiosität eintritt, wird nach dem Verbot durch die Inquisition im Ausland rasch bekannt, erlebt eine ital. und eine mehrfach aufgelegte dt. Ubers, unter dem Titel Discours über Kayser Carolen des Fünfften mit dem Khönig aus Frankreich Francisco Valesio gehaltener Schlacht von Pavien (Amberg 1609) und liefert der evangl. Seite Zündstoff in den Kämpfen der Gegenreformation (s. § 8b). F a ß manns Gespräche verdanken einen Teil ihres Publikumserfolgs den Ubergriffen der Obrigkeit; und ähnlich wie J o l y s Dialogue aux enfers bringen die im kath. Verlag Herder 1873 in 5. Aufl. und 1876 in Neuer Folge und 2. Aufl. unter dem Pseudonym Lukianos Dendrosthenes erschienenen Fegfeuer-Gespräche über den Kulturkampf die Stimme der polit. Opposition zu Gehör. Bis ins 20. Jh. hinein wählen einzelne Autoren das GuT. für eine krit. Betrachtung der Weltlage, so der Amerikaner C. E. S. Wood im Heavenly Discourse (1927) oder Salvador de Madariaga in einem New Yorker Zeitungsbeitrag von 1938, Elysian Fields. A Dialogue, in welchem u. a. Goethe, Maria Stuart, Voltaire, Marx und Washington auftreten und Napoleon sich an Hitler wendet. Vor allem in zwei Epochen der dt. Lit., im 16. Jh. und in der 1. H. des 18. Jh.s, wählt man das GuT., um die Zeitgenossen auf polit. Fragen anzusprechen, was freilich der veränderten geschichtl. Situation gemäß mit jeweils verschiedenen Absichten und auf verschiedene Weise geschieht. Dem übernationalen europäischen Humanismus dient die Gattung als Sprachrohr des Widerstandes gegen die Mißbräuche des Klerus und der Fürsten, den nationalen Kräften wird sie zur Waffe im Kampf gegen die als Fremdherrschaft empfundene röm. Kirche, und die meisten dieser Gespräche enthalten zugleich eine Warnung an die Mächtigen, daß auch ihnen die Stunde schlagen wird. Im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus wiederum kommt Faß mann mit dem in seinen Gesprächen in dem Reiche derer Todten aufbereiteten Wissensstoff einem Bedürfnis des zum Selbstbewußtsein erwachenden und zu wirtschaftlicher Bedeutung aufsteigenden dt. Bürgertums entgegen, zu einer seiner neuerworbenen gesellschaftl. Stellung gemäßen histor. und polit. Bildung zu gelangen. Später als die Politik, in Deutschland erst im 18. Jh., wird die L i t e r a t u r ein bevorzugtes Thema der Gattung (s. § 5). Dichter, Gelehrte und Literaten oder die Figuren ihrer Werke usf. sind nun die Gesprächspartner, während die Leserschaft dieser Gespräche auf das literarisch interessierte Publikum schrumpft. Mehr als andere Formen der Lit.kritik lädt das GuT. zur satir. Darstellungsweise ein, und die Lit.satire erfüllt insofern eine Forderung dieser Gattung, als sie in der Regel auf Gegenstände der unmittelbaren Gegenwart zielt, auf Werke, Pesönlichkeiten oder Streitfragen usf. (s. §8a). So nehmen

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z.B. William Kings Dialogues of the Dead Relating to thepresent Controversy Conceming the Epistles of Phalaris (von 1699) die Anschauungen und Gewohnheiten des Altphilologen Richard Bentley, eines berühmten Zeitgenossen, satirisch aufs Korn. Diese zeitbezogene Themenstellung erlaubt es u.a., die Wandlungen des G e s c h m a c k s (s.d.) seit dem Neubeginn der dt. Lit. im Zeichen der Aufklärung am GuT. zu verfolgen. G o t t s c h e d knüpft an Fontenelle an, indem er 1727 dessen Gesprächssamml. übersetzt und „mit einer Vorrede, von Gesprächen überhaupt" versieht; B o d m e r liefert im 3. Teil seiner Discourse der Mahlern (1722) ein „Suplement zu dem possierlichen Gespräche des Boileau zwischen den Romanen Helden" (s. § 5), das er 1746 im Mahler der Sitten wiederholt und in welchem er in einem als Satire auf den Barockroman gemeinten Gespräch Pluto und Diogenes mit den Titelhelden von Bucholtz' Herkules und Lohensteins Arminius zusammenführt. Die Linie solcher satir. Gegenüberstellungen führt über Joh. Elias Schlegels Democritus. Ein Todtengespräche (1741) (s. §5), G o e t h e s Götter, Helden und Wieland (1773) (s. §§ 1, 3, 5 u. 7) und Schillers UnterweltsXenien (1796) (s. §§5, 8b u. 9) bis zu P i o n t e k s Dreiergespräch (1973) (s. §§ 6 u. 7), während in G r i l l p a r z e r s posthum gedrucktem, Bruchstück gebliebenem Gespräch im Elysium (von 1841) König Friedrich II. von Preußen gegenüber Lessing, der bereits eine stehende Figur der Gattung geworden ist, über einige Dichter des 18. Jh.s und der Klassik sein Urteil fällt. In all diesen Gesprächssatiren geht es den Autoren u. a. darum, den eigenen literaturkrit. Standort zu bestimmen. So wie im GuT. in bestimmten Epochen gewisse Themen vorherrschen, zeigen sich auch in Behandlungsart oder Grundstimmung der Dialoge bestimmte Züge, die einer Nation, Epoche oder Gruppe von Autoren gemeinsam sind. Bei den engl. Gesprächen (des 17. und 18. Jh.s) etwa fällt eine Vorliebe für derbe Komik auf, bei den franz. der scharfsinnige Witz, bei den dt. ein ernster, belehrender Ton. Oder die Gespräche der Humanisten und Vorkämpfer der Reformation unterscheiden sich mit ihren Grobheiten und bitteren Anklagen von denen der Aufklärer, in denen die Wortgefechte mit spitzeren Waffen ausgefochten werden (s. §§ 5, 7 u. 8b). Solche überpersönlichen Gemeinsamkeiten sind als allgemeine Züge einer Nation oder Epoche zu verstehen, erklären sich andrerseits aber aus dem Wesen der Gattung selbst, die wie im Falle der stehenden Figuren (s. § 8 b ) auch in Thematik und Darstellungsweise eine zur Nachfolge auffordernde Uberlieferung schafft. Innerhalb dieser Grenzen bleiben dem einzelnen Autor jedoch alle Möglichkeiten, seine individuelle Eigenart zu entfalten. Den zeitbezogenen Inhalten und Absichten entsprechend wird das GuT. in der Mehrzahl als eine literar. Z w e c k f o r m gewählt (s. § 5). Dabei ist die Erfindung des Buchdrucks der Erneuerung der Gat-

tung im Humanismus zugute gekommen und hat u.a. die rasche Verbreitung solcher Gespräche ermöglicht, die auf die polit. Gegebenheiten Einfluß nehmen sollten. Neben die Form von Einzeldrucken oder gedruckten Gesprächssamml. treten dann, in England und Frankreich seit dem 17. Jh. und besonders im Deutschland des 18. Jh.s, die Beiträge zu Z e i t s c h r i f t e n , später zu Almanachen und im 19. und 20. Jh. zu Tageszeitungen. Schließlich nimmt das T. selbst die Gestalt einer Zeitschrift an, nach vereinzelten kurzlebigen Versuchen im 17. Jh. in England mit dem langjährigen Unternehmen David Faßmanns, das in Deutschland bis ins beginnende 19. Jh. hinein Nachahmer findet (s. §§ 9 u. 16). d) T h e o r i e des G ö t t e r - und T o t e n g e sprächs. Die Rolle der Gattung als eine literar. Zweckform, die auf die Gegenwart bezogene Inhalte publikumswirksam vermittelt, schließt für das GuT. die Möglichkeit, K u n s t f o r m zu werden, nicht aus (s. § 5). Zeitnahes kann wie im erasmischen Charon so gestaltet sein, daß es über die Epoche hinaus Gültigkeit behält (s. § 5), so wie Hans Leisegang, Jolys dt. Ubersetzer und Interpret, in dessen Dialogue aux enfers kein zeitgebundenes Pamphlet, sondern ein bedeutendes philosophisches Werk erblickt (s. §§6, 8b u. 8c). Die Frage nach den künstlerischen Regeln der Gattung ist an dem von F a ß mann geschaffenen Gesprächstypus aufgeworfen worden. Der Publikumserfolg seiner Gespräche in dem Reiche derer Todten hat den Autor anfangs selbst überrascht und ist mit ein Grund für die zahllosen Wiederholungen durch ihn und andere dt. Autoren des 18. Jh.s geworden. Unter teil weiser Verkennung gewisser der Gattung innewohnender Gesetze hat Faßmann eine äußere Form geprägt, die man gleichsam mechanisch nachbilden konnte. Dieser Typus, dem die zahlenmäßig ansehnlichste Gruppe in der Geschichte des GuT. s entspricht, hat die Gattung in der dt. Uberlieferung in Verruf gebracht (s. §§5, 6 u. 8c). Formbewußte Autoren überdenken die Voraussetzungen der Gattung jeweils aufs neue und wenden sich den klass. Mustern zu. Von Fall zu Fall wird abzuwägen sein, ob zwingende Gründe zur Wahl der Gattung geführt haben, ob bloß eine Mode mitgemacht wird. Dabei ist von der Nachahmung eines starren Schemas das schöpferische Anknüpfen an die verschiedenen Elemente der Tradition und zumal an den Gattungsbegründer Lukian zu unterscheiden, von dem Voltaire sagt: „On est toujours tenté d'ajouter à ses dialogues". In der Regel wird stillschweigend ein allwissender Autor vorausgesetzt, gelegentlich aber bemüht sich der Verf., mit einer F i k t i o n zu begründen, wie er zur Kenntnis des Gesprächs gelangte. Hans Sachs kommt im Traum unter Führung des Genius vor Jupiters Thron und belauscht die Gespräche der Götter (s. §§ 4c u. 8a); B o d m e r behauptet (im 82. Blatt des Mahlers der Sitten von 1746), schon oft den von den „bekannten Geschichtschreibern der Todten erfundenen Weg in das unterirdische Reich und wie-

Totengespräch der aus demselben zurücke" gegangen zu sein, und gibt eine Unterredung zwischen Julius Caesar und Crispinus Hilarius wieder, der er „hinter einem wohlverwachsenen Busch" zugehört habe (s. § 8c); und ähnlich leitet Wieland mit der ironischen Behauptung, daß seine Seele den Körper verlassen könne, die Lustreise in die Unterwelt (1787) ein, auf welcher er sich mit Xenophon und Menipp unterhält (s. § 8 a). Ganz selbstverständlich machen die Autoren jeweils die eigene Schriftsprache — bei den Humanisten ist es das Latein — zur universalen Sprache von Götterwelt und Totenreich, während Faßmann hier zunächst eine Schwierigkeit sieht und einen der Gattung widersprechenden Naturalismus vertretend in der 1. Entrevue noch für jeden Gesprächspartner den Gebrauch seiner Muttersprache fordert. Für die meisten Autoren ist eine den Haupttypus, das T. im engeren Sinne betreffende Frage gegenstandslos, wie die vorzeiten Abgeschiedenen die neuesten Weltereignisse, über die sie sprechen, erfahren konnten. Möglichkeiten der N a c h r i c h t e n übermittlung an das Totenreich sind schon bei Lukian vorgebildet und werden von der Nachfolge gelegentlich aufgegriffen und abgewandelt (s. § 10). So sagt Aristoteles in Schillers gleichnamigem Xenion zu dem in die Unterwelt gekommenen Lehrling: „Gleich zur Sache, mein Freund. Wir halten die Jenaer Leitung/ Hier in der Hölle und sind längst von allem belehrt." (s. § 9e); und in einem kurz nach der Schlacht bei Jena (1806) verfaßten fragmentar. Gespräch des jungen G r i l l p a r z e r zeigt Voltaire dem an der Nachricht von Österreichs Niederlage zweifelnden Friedrich II. ein „Zeitungsblatt, das Mercur so eben von der Oberwelt hieher gebracht hat". Faßmann hat das Motiv als ein in jeder Entrevue wiederholtes Schema benutzt, demzufolge „Mercurius . . . einem Secretario ein Paquet, derer neuesten Merckwürdigkeiten aus dem Reiche der Lebendigen überreichet, welche sich die beyden Potentaten . . . vorlesen lassen und sonderbare Reflexionen darüber machen". Bei dem Versuch, eine Theorie der Gattung aufzustellen, hat man die durch Wesensart und Absichten des Autors bestimmten Faktoren von denen zu scheiden, die in der Gattung selbst angelegt sind, wobei das GuT. die letzteren vielfach mit der Grundform des erdachten Gesprächs teilt (s. § 1). Im folgenden werden einige der schon genannten für die Gattung k o n s t i t u t i v e n E l e m e n t e (s. § 8a-c) im Zusammenhang dargestellt und ergänzt. Als Bewohner von Hades und Olymp sind die Gesprächspartner der Einflußnahme auf die irdischen Belange entrückte Zuschauer, deren Interesse jedoch paradoxerweise dem Diesseits gilt (s. §§1, 4 a u. 8 b). Dank ihrer Situation vermögen sie das Zeitliche — das Erdenleben wie die jüngsten Weltereignisse — unter dem Blickwinkel der Ewigkeit zu betrachten (s. §§ 8a u. 8c). Als Tote sind die Gesprächsfiguren einander in allem gleichgestellt (s. §§ 4 a u. 8 b): die

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Schranken, die während ihres Erdendaseins zwischen ihnen aufgerichtet waren, sind gefallen, die Masken, die ihnen ihre irdische Rolle aufgezwungen hatte, abgeworfen, so daß sie sich in ihren Aussagen nicht mehr aus Vorsicht oder Rücksicht zu verstellen brauchen. Im idealen GuT. werden solche Partner einander zugesellt, die von vornherein etwas Gemeinsames verbindet, z. B. ein vergleichbares Schicksal oder die Beziehung zum Thema (s. §§ 4a u. 8b). Bevorzugt wird das Z w i e g e s p r ä c h , das die Unterredner ermutigt, sich ihrem Gegenüber unbefangen anzuvertrauen, so wie G r i l l p a r z e r s Friedrich II. zu Lessing sagt: „Es hört uns Niemand, da können wir schon ein wenig übertreiben . . . " (s. § 8 c ) ; oder wie Wielands Peregrin sich nicht scheut, vor Lukian seine „geheime Geschichte" aufzurollen (s. § 8 b ) . Anders verläuft ein G e s p r ä c h unter dreien, sei nun der dritte am Gespräch beteiligt, ein stummer Zeuge oder etwa der Schiedsrichter in einem Rangstreit (s. §§ 4 a, 5 u. 12 d). Vermehrt sich die Zahl der Beteiligten, so verändert sich der jeweilige Gesprächscharakter aufs neue. In den GuT.en der Lukian-Nachfolge treten in der Regel zwei bis höchstens fünf Personen zusammen, von denen gewöhnlich zwei die Sprecher und die übrigen mehr oder weniger stumme Personen sind (s. §§ 1 u. 4a). Erst recht erhält der Dialog ein jeweils verschiedenes Gepräge, wenn er zwischen Angehörigen unterschiedlicher Welten stattfindet. Die Toten nämlich, die als solche dasselbe Los teilen, oder die Unsterblichen reden anders, wenn sie unter sich sind, als in Gegenwart eines Besuchers aus dem Diesseits, oder wenn sie als Urlauber aus dem Hades oder als Abgesandte aus dem Olymp mit Lebenden sprechen (s. §1). Mit der Zahl der Gesprächspartner vermehren sich wiederum die Blickwinkel, unter denen ein und dasselbe Thema betrachtet wird. P o l y p e r spektive, welche die Äußerungen der einzelnen Sprecher relativiert, kennzeichnet den Dialog als eine im weitesten Sinne aufklärerische Form und erklärt u. a. dessen Beliebtheit im Humanismus und in der Aufklärung des 17. und 18. Jh.s(s. §5). Im GuT. erfährt die mehrperspektivische Beleuchtung eines Gegenstandes noch dadurch eine Steigerung, daß die Beteiligten verschiedenen Welten angehören oder aus verschiedenen Zeitaltern stammen und ihre durch diese Herkunft geprägten, unterschiedlich gearteten Anschauungen auf das Thema vereinen (s. § 8 b). Dem Stil des einzelnen GuT.s entsprechend kann der m y t h o l o g i s c h e Rahmen verschieden gestaltet sein oder als selbstverständlich vorausgesetzt werden (s. §§2, 5, 6 u. 8). Jedoch erfordert es die innere Glaubwürdigkeit eines Gespräches, das auf fiktiven Schauplätzen und zwischen Göttern oder Toten stattfindet, daß die Regeln für ein „wirkliches" Gespräch, ein Gespräch unter Lebenden, beachtet werden. Zahl und Wesensart der Gesprächspartner, seien sie als Typen oder Individualcharaktere gestaltet, und wie auch immer ihre Beziehung zuein-

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ander beschaffen sein mag (s. §§ 4 b u. 8 b), haben zur Art der Gesprächsführung zu passen. L u k i a n z . B . meistert den auch bei den Nachfolgern beliebten Kunstgriff, mitten in das Thema einzuführen, wodurch das Gespräch sich gewissermaßen selbst erläutert, während er andrerseits wie später Fontenelle seine (kurzen) Gespräche auf eine Schlußpointe hin anlegt (s. § 4 a). Der F o r d e r u n g nach W a h r s c h e i n l i c h k e i t unterliegt besonders die L ä n g e des G e s p r ä c h s . Als einer offenen Form sind dem Dialog hinsichtlich des Umfangs keine Grenzen gesetzt; letzterer hat jedoch in einem angemessenen Verhältnis zum Thema zu stehen. Dem Beispiel der lukian. GuT.e folgend (s. §§ 1 u. 4 a) ist auch in der späteren Uberlieferung jeweils ein einziges Thema die Regel, das auf wenigen Seiten abgehandelt wird, während die S c h i l l e r schen Distichen mit ihrer epigrammat. Kürze einen aufschlußreichen Grenzfall darstellen (s. § § 5 , 8b u. 9e). Andrerseits kann in einem Gespräch das erste Thema zu einem zweiten und dritten usf. führen, so wie der Wielandsche Peregrinus Proteus mit Lukian, der ihn zu Lebzeiten verunglimpft hatte, sein ganzes Leben erörtert, um es — dem forensischen Charakter der Gattung entsprechend (s. § 4 a) — vor dem einstigen Gegner zu rechtfertigen (s. § 8b). Auch wenn dieses Gespräch durch die Erörterung einer Lebensgeschichte zum Roman wird, bleibt es ein echtes T. Bei F a ß m a n n leidet jedoch die Glaubwürdigkeit seiner Entrevuen als „wirkliche" Gespräche an dem Mißverhältnis des Themas zu Umfang und Gesprächsführung (s. § § 5 , 6 u. 8b). Des Autors Bemühen, irdische Verhältnisse in naturalist. Weise auf das Totenreich zu übertragen, kommt hier dem dringenderen Bedürfnis in die Quere, durch das Ausbreiten sensationellen histor. und polit. Wissens zu unterhalten und zu belehren. Diese in der Gattung selbst begründeten Elemente lassen dem einzelnen Autor Spielraum, mit seiner Individualität auf eine dem jeweiligen Gesamtcharakter des Gespräches angemessene Weise gegenwärtig zu sein (s. § § 8 b u. 8c), was nicht zuletzt in der G r u n d s t i m m u n g geschieht, die je nach seinem Temperament oder der von ihm verfolgten Absicht irgendwo in dem weiten Feld zwischen Scherz und Ernst liegt. Doch spielen selbst hier überpersönliche, in der Epoche oder im Nationalcharakter verankerte Züge mit hinein (s. §§ 5, 7 u. 8 b), so wie sich der Autor auch in der Wahl der Themen, die er seinen Gesprächspartnern stellt, als ein Vertreter seines Zeitalters erweist, dessen Wesenszüge er teilt und wissentlich oder nicht in die überkommene Gesprächsform hineinträgt (s. § § 5 , 8a u. 8c), und so wie es das Publikum seiner eigenen Zeit ist, das er ansprechen will (s. §§2, 5, 6a u. 8 b). Andrerseits hat die Gattung GuT. eine reiche Uberlieferung von stehenden Figuren, bevorzugten Themen, Lieblingssituationen und -motiven usf. herausgebildet und bereitgestellt, aus welcher die nachkommenden Autoren mit einer diese Gattung kennzeichnenden Vor-

liebe schöpfen (s. § § 4 u. 8 b). Seine künstler. Individualität zeigt der einzelne Verf. darin, wie er zu diesen vorgegebenen Elementen greift und sie dem stilist. Ganzen seiner Gesprächsdichtung einverleibt (s. § 8b). Anstelle einer bibliogr. Erfassung einzelner T e x t e muß auf die Lit. und die den Darstellungen beigegebenen SpezialVerzeichnisse hingewiesen werden, die jedoch das Quellenmaterial nur unvollständig erfassen. Zudem behandelt die Lit. meist ausschließlich den Haupttypus, d.h. das Gespräch unter Abgeschiedenen in der Unterwelt (vgl. § 1), doch selbst in bezug auf ihn sind die Verzeichnisse ergänzungsbedürftig. Die allg. bibliogr. Hdbb. wiederum trennen nicht zwischen GuT.en und anderen erdachten Gesprächen. Zuverlässige Daten über den zahlenmäßigen Umfang der Gattung stehen noch aus. Voraussetzung für eine umfassende Darstellung der Gattungsgeschichte wäre ein die verschiedenen Nationallit. und geschichtlichen Epochen gleichermaßen berücksichtigendes Gesamtverzeichnis der Texte. Vorarbeiten dazu liegen in einer von Moriz Grolig angelegten Zettelsamml. von T.sTiteln vor, die mit dessen umfangreicher Samml. gedruckter T.e in den Besitz der University of California, Los Angeles, gelangt ist. — Die L i t . besteht überwiegend aus Teilunters, zu einzelnen Epochen, Nationallit. oder Autoren und wird unter den entsprechenden Kapiteln verzeichnet. Textausg. sind nur aufgeführt, sofern die Kommentare der Hg. herangezogen werden. Allgemeine Darstellungen: Johannes R e n t s c h , Das Totengespräch in d. Lit. in: Lucianstudien II (1895; Progr. Plauen) S. 15-44. Ergänzende Bespr. v. Richard R o s e n b a u m in: Euph. 5 (1898) S. 126-134. C. K a u l f u ß - D i e s c h , Totengespräch. R L Bd. 3 (1928/1929) S. 379-380. Vgl. Rudolf H i r z e l , Der Dialog. 2 Bde. (1895; Nachdr. 1963). III. A b g r e n z u n g d e r G a t t u n g . § 9. M i s c h f o r m e n . V e r w a n d t e s in W e r k e n a n d e r e r G a t t u n g e n . Die für das G u T . konstitutiven Elemente — mythologischer Rahmen, Schauplätze, Figuren, Motive oder Themen usf. — begegnen in gewissen Werken anderer Gattungen, von denen sich das G u T . durch die Dialogform abhebt. Letztere teilt es jedoch mit dem Drama (s. §§ 3, 7 u. 1 9 b ) und andrerseits mit dem Brief ( s . d . ) , der, als H a l b dialog verstanden, im Briefwechsel zum Dialog wird (s. § 10). Die übrigen Gattungen sind wegen ihrer jeweils verschieden gearteten Gemeinsamkeiten mit dem G u T . im folgenden zu erörtern und von diesem abzugrenzen. Dabei hat man aus einer Vielfalt z . T . berühmter

Totengespräch Werke unterschiedlichen Charakters sinnfällige Beispiele auszuwählen. Es handelt sich zunächst a) um Journalist. Unternehmen, die im Titel auf die Jenseitsvorstellungen der LukianTradition deuten, aber neben Gesprächen und Briefen auch Reden, Aufsätze usf. enthalten, ferner b) um einige G u T . e , die im Titel als solche bezeichnet werden, aber keine reinen Dialoge darstellen; denn der Autor tritt in diesen Werken durch essayistische, erzählende oder erklärende Einleitungen und Zwischentexte immer wieder in Erscheinung, während man vom echten Gespräch erwartet, daß es sich selbst erläutert und daß Zwischenbemerkungen des Autors auf stichwortartige Regieanweisungen beschränkt bleiben. Davon sind c) Werke erzählender oder beschreibender Prosa zu unterscheiden, in welche Dialoge in direkter Rede eingelegt sind, Darstellungen von Reisen in den Hades oder in die Götterwelt (s. §§ 1 u. 4a), oder Szenen, die sich auf diesen Schauplätzen abspielen, wobei die Autoren vielfach die Fiktion der Traumvision wählen. Der eingeschaltete direkte Dialog kennzeichnet auch entsprechende Versdichtungen verschiedener Gattungen, d) komisches Epos, Travestie und e) Fabel, Verserzählung oder Gedicht. Ein gemeinsamer Zug der meisten dieser Werke, der sie der lukianischaristophan. Uberlieferung zuordnet, ist das satir. oder burlesk-komische Element. a) Journale. Für die Zeit vor Faßmanns Auftreten sind u. a. zwei engl. Versuche nachweisbar (s. § 8 d): der nach vier Nummern vom März 1680 eingegangene satir. Mercurius Infemus: or News from the other World: Discovering the Cheats and Abuses of This, mit unterhaltsamen, zeitgenöss. Zustände meinenden Hadesszenen, die Lukian und besonders seinem 4. T. verpflichtet sind; ferner die in acht Teilen von Okt. 1714 bis Aug. 1715 erschienenen (und 1719 u. 1756 in Buchform neu aufgelegten) News from the Dead: or, the Monthly Packet of true Intelligence from the other World. Written hy Mercurius, die zwar mit einer satir. Szene in „Helliopolis" beginnen, dann aber auch Aufsätze über Erziehung und zur Verteidigung des Christentums einschließen. — Faßmanns Gespräche in dem Reiche derer Todten (1718-1739) sind dem Namen nach Dialoge, doch äußern sich die darin auftretenden Personen vorwiegend in der Form des erzählenden Berichts, und zudem enthält diese Zeitschrift Dokumente ohne gesprächshaften Charakter (s. §§ 5, 6, 8b-d u. 16). Moriz Flavius Trenck von T o n d e r , ein später Nachahmer Faßmanns, verrät schon im Titel die gattungsmäßige Zusammensetzung seiner patriot. Zeitschrift, der anonymen „Neuwieder Ge-

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spräche" (1786-1810): Das Reich der Todten, enthaltend polit. Gespräche der Todten, polit. Reden nebst geheimen Briefwechsel zwischen den Lebendigen und den Todten (s. § 10). — Während bei Faßmann und Trenck von Tonder das satir. Element zurücktritt, pflegt es der Satiriker J. D. Falk in seinem zweimal wöchentlich vom Jan. bis Sept. 1806 in Weimar erscheinenden Elysium und Tartarus: Zeitung für Poesie, Kunst und neuere Zeitgeschichte, für das er Mitarbeiter aus dem Weimarer Kreis wie Wieland zu gewinnen sucht (s. § 10). Das Blatt enthält wenige T.e, dagegen zahlreiche Briefe von Toten an Lebende neben Aufsätzen, Anekdoten, Gedichten usf. Die literaturkrit. Absicht kommt darin zum Ausdruck, daß Falk die Mittwochsnummer mit dem Titel Elysium den „guten Dichtern und ihren Verehrern" widmet, die Sonntagsnummer, Tartarus betitelt, den „schlechten und ihren Anhängern". Von den patriotischen, anti-napoleonischen Ausfällen der Zeitung, die sich im Laufe ihres Erscheinens zunehmend verschärfen, befürchtet der Minister Goethe schwerwiegende Folgen für Weimar und erwirkt im Sept. das Verbot des Blattes. Falks polit. Kampfmittel sind u.a. seine T.e (vgl. § 8c), so ein Gespräch zwischen Doktor Luther und Nelson im Elysium (19. März 1806) über die Welteroberer, die für ihre irdischen Taten im Tartarus leiden, und ein Gespräch im Reich der Todten, zwischen Keith, Schwerin, Winterfeld, Ziethen und Friedrich dem Großen (21. Sept. 1806), das in dem Rat Friedrichs gipfelt, „Frankreich mit seinen eigenen Waffen zu besiegen". b) Uneigentliche Gespräche. Grenzfälle sind zwei Gesprächsdichtungen Wielands. In der Lustreise in die Unterwelt (1787) (s. §8a) überläßt der Autor das Gespräch in direkter Rede nach der langen essayist. Einleitung sich selbst; und ähnlich verfährt der Dichter schon in den Beyträgen zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens (1770): aus dem essayist. Zusammenhang erwächst organisch das an Lukians Prometheus (s. §4a) anknüpfende Gespräch des Autors mit dem an den Kaukasus geschmiedeten Titanen in dem Kap. Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus. — Herder beantwortet mit dem Beitrag Ob Malerei oder Tonkunst größere Würkung gewähre? Ein Götter Gespräch, die 1784 im Journal von Tiefurt gestellte Preisfrage (s. § 6). Das Thema, der von Apollo entschiedene Rangstreit zwischen den Musen der Malerei, Tonkunst und Dichtkunst verweist auf die Welt der lukian. G.e, doch handelt es sich hier der Form nach, entgegen der vom Verf. gewählten Gattungsbezeichnung und im Sinne der unter c und e genannten Beispiele um eine Prosaerzählung. — Unter dem Titel T.e veröffentlichte Fritz Mauthner in den Jahren 1906 und 1919 zwei Sammlungen von insgesamt 22 Prosastücken, in denen der Dialog auf eine von Fall zu Fall verschiedene Weise mit Erzählung und essayist. Reflexion gemischt ist. In satir.

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Absicht werden eine bunte Reihe von Themen aus Lit., Philosophie, Kultur und Politik behandelt, denen das Interesse des Tages gilt, z.B. Das Urheberrecht (1906 u. 1919), Die Kantfeier (1906 u. 1919), Coethe's Apotheose (1906), Der Verein gegen die Nacktheit (1919) und Bismarcks Trauer (1919). Die enge Bindung an den Zeitgeist widerspricht der Gattung nicht, aber erklärt es vielleicht, weshalb nur 6 Stücke der ersten Sammlung in der zweiten wiederkehren. Ihres feuilletonist. Charakters wegen, der sich in der gattungsmäßigen Mischform, in Sprachstil und Thematik bestätigt, bleiben Mauthners T.e hinter den Forderungen für das ideale GuT. zurück (vgl. § 8). c) Epische und b e s c h r e i b e n d e Prosa. Der sächs. Humanist und Lukian-Kenner Paulus Niavis erörtert in seinem lat. Iudicium Iovis sive Visio Heremitae (um 1490) ein Thema seiner Gegenwart, das Für und Wider von Bergwerken in der Markgrafschaft Meißen, in Form einer von dem Einsiedler geschauten Gerichtsszene vor Jupiter, mit Merkur, dem Vertreter der zerfleischten Allmutter Erde, und anderen Göttern - Bacchus, Ceres, Charon und Faunus - als Klägern gegen die Menschen. Die kurzen Zwiegespräche dieser dem ital. Humanismus verpflichteten, unterhaltenden und belehrenden Erzählung entsprechen lat. Schülergesprächen. - Eingelegt in das 30. Kap. des Buches von Rabelais' Roman, Pantagruel (1533), ist der für Spätere Modell gewordene Augenzeugenbericht von Hölle und Elysium eines - ähnlich dem Er bei Plato (s. § 2) - ins Leben zurückgekehrten Epistemon, zunächst in indirekter, dann in direkter, von Zwischenfragen unterbrochener Rede. Lukianisches mischt sich mit Christi., u. a. in dem Motiv (der Höllenfahrt und der Wahren Geschichten, s. § § 4 a u. 1) von den durch erniedrigende Beschäftigungen gedemütigten Großen und dem Diogenes im Purpurmantel, das Rabelais zu einem Katalog von etwa 80 Königen des Altertums, Helden der franz. Geschichte, Päpsten und berühmten Frauengestalten usf. erweitert, die von Geächteten wie Villon geneckt werden. Es folgen christl. Schilderungen wie Bartholomäus Ringwaldts Neue Zeitung, so Hanns Fromman mit sich auß der Hellen und dem Himmel bracht hat (1582), neu aufgelegt als Christliche Warnung des Trewen Eckharts (1588); John D o n n e s dem Traktat (s.d.) nahestehende lat. und engl. Höllenschilderung, Ignatius His Conclave (1611), gegen die Jesuiten gerichtet, mit satir. Gesprächen zwischen Loyola und einigen „Neuerern"; die Höllenvisionen in den span. Traumsatiren, Sueños, von Francisco de Quevedo (1608ff.) (s. §6), auf denen M o s c h e roschs erfolgreiches Hauptwerk beruht, erschienen zwischen 1640 und 1677, in verschiedenen Fassungen und unter wechselndem Titel, u. a. als Wunderliche und warhafftige Gesichte Philanders von Sittewald. Das ist Straff-Schriften Hanß-Michael Moscheroschs von Wilstädt (1650) mit dem 6. „Gesicht", HöllenKinder, einem „Strafgericht über die verderbte Zeit".

Unter den Nachahmungen sind die beiden Höllen„Gesichte", Schoristen-Teuffel (1661), von K u r a n dor [d.i. Balthasar Kindermann] zu nennen. Das lukian. Element tritt u.a. mit F o n t e n e l l e s Jugement de Pluton Sur les deux parties des „Nouveaux dialogues des morts" (1684) erneut in den Vordergrund, hier in der Richterfigur und ihren Entscheidungen (s. § 4a), in der ironischen Beweisführung wie in der szenischen und dialog. Gestaltung. Fontenelle kleidet seine Selbstverteidigung in eine satir. Gerichtsszene im Hades, in der sich die in seinen Gesprächen auftretenden geschichtlichen Gestalten - gleich den alten Philosophen in Lukians Wiederauferstandenen (s. § 4 b ) - gegen Charakter, Rolle und Aussagen verwahren, die ihnen der Autor verliehen hat, und diesen bei Pluto verklagen; im Grunde aber dienen die von den Betroffenen geforderten und von Pluto auf Rat von Aeakus und Rhadamantus verordneten Maßnahmen und Richtigstellungen doch wieder nur einer Verspottung der Überlieferung und geben die gefeierten Großen erst recht der Lächerlichkeit preis (s. §§5 u. 8b). - Traumschilderungen in der Ich-Form folgen. Zu den von Lukians Jenseitsdichtungen angeregten Satiren F i e l dings (s. § 7) gehört A Joumey from This World to the Next (1743), in deren 1. Teil der anonyme Erzähler schildert, wie seine Seele den Körper verläßt, zum Elysium reist und dort berühmten Toten begegnet; im 2. Teil berichtet Julianus Apostata von den Wiederverkörperungen (s. § 1), die ihm als Strafe für seinen Abfall auferlegt sind, während im 3. Teil Anne Boleyn eine kurze Selbstdarstellung liefert. - Bei R a b e n e r , Ein Traum von den Beschäftigungen der abgeschiedenen Seelen (in den Bremer Beyträgen von 1744) träumt dem Autor, er sei gestorben und komme an den Sammelplatz der Schatten, wähle sich einen Führer und treffe Kritiker und Dichter, die dort ihre irdische Tätigkeit fortsetzen, worauf der Träumende in Bedrängnis gerät und einen Kampf der Kritiker miterlebt. - In Friedrich von der T r e n c k s antiklerikalem Pater Pavian, Voltaire und Ich in der Unterwelt (1784) tritt der Erzähler für ein vernunftgemäßes Christentum ein, während er bei Joseph R i c h t e r , in einer die Bestrebungen Leopolds II. unterstützenden Broschüre, Kaiser Joseph der Zweite vor Minos Richterstuhl (1791), einer öffentlichen Gerichtsverhandlung beiwohnt, in welcher sich der im Vorjahr verstorbene Monarch für seine umstrittenen Reformen verantworten muß und durch die drei Totenrichter von fast allen Anklagepunkten freigesprochen wird, nachdem der Schutzgeist des Kaisers eine erfolgreiche Verteidigung gegen die, Klerus, Adel, Fürsorge und Wirtschaft vertretenden, Kläger geführt hat. - D. C. Seybold huldigt dem literar. Vorbild im Titel seiner Traumvision des Totenreiches aus demselben Jahr (1791): Lucian's neueste Reisen oder wahrhafte Geschichten, während für die Einkleidung der stilistisch uneinheitlichen, herausfordernden literar. Satire W a i b l i n g e r s , Drei Tage in der Unterwelt (1826), „Ein Schriftchen das Vielen

Totengespräch ein Anstoß seyn wird, und besser anonym herauskäme", Anregungen verschiedenster Art vorauszusetzen sind: neben dem 11. Buch der Odyssee, den aristophan. Fröschen und Dante möglicherweise auch Rabeners Traum, Goethes Farce, die Xenien usf. Der Autor unternimmt seine „Kunstreisen" im Hades unter Führung des gleichfalls noch unter den Lebenden weilenden Franz Horn, trifft Dichter, Literaten und Gestalten dichter. Werke und findet dabei Gelegenheit zu Ausfällen gegen literar. Erscheinungen seiner Zeit. Als ein Grenzfall hat die im 3. Teil von Swifts Roman Gulliver's Travels (1726) erzählte, lukian. Motive verarbeitende Episode auf der Insel Glubbdubdib zu gelten, wo Gulliver den Großen der Geschichte und anderen Hadesbewohnern begegnet. Der Held erzählt zwar in der Ich-Form, gibt aber die Gespräche mit den Toten - im Gegensatz zu den übrigen unter c genannten Werken - ausschließlich in indirekter Rede wieder. Die aus der Überlieferung vertrauten Figuren treten auf; Homer und Aristoteles werden der fast endlosen Zahl ihrer Erklärer vorgestellt - ein Motiv aus den Wahren Geschichten. Ähnlich Fontenelle korrigiert Swift auf eigenwillige Weise das herkömmliche Bild von den geschichtl. Gestalten und Ereignissen, zieht jedoch im Gegensatz zu diesem die Alten den Neueren vor, so wie bei ihm auch die Lebenden den Vergleich mit den Toten nicht aushalten. Dem Verfasser gibt die Episode die Möglichkeit zu sarkast. Kritik an der Gegenwart, dem Helden durch Einblicke in die Vergangenheit zur Erweiterung seiner Erfahrungen. Entscheidend ist, daß man es mit keiner Hadesfahrt zu tun hat, indem der Gouverneur der Insel, ein Magier, die Schatten für Gulliver aus dem Totenreich zitiert. Bei Lukian kommen jedoch die Urlauber aus der Unterwelt aus eigenem Antrieb ins Diesseits; eine Totenbeschwörung ist der Gattung wesensfremd. Imaginäre Reisen oder Utopien entsprechen dem GuT. nur dort, wo es sich bei den fiktiven Welten um das Jenseits - Totenreich oder Götterwelt - handelt. Werke wie die folgenden erfüllen diese Forderung nicht, auch wenn vielleicht lukian. Schriften wie die Wahren Geschichten, Die Höllenfahrt des Menippus oder der Ikaromenippus auf sie gewirkt haben: Grimmelshausen, Der fliegende Wandersmann nach dem Mond: Oder . . . Beschreibung der Neuen Welt deß Monds (1659); Ludvig Holberg, Nicolai Klims Unterirdische Reise worinnen eine ganz Neue Erdbeschreibung wie auch eine umständliche Nachricht von der fünften Monarchie die uns hishero ganz und gar unbekannt gewesen, enthalten ist (1741, gleichzeitig mit dem lat. Original); C. I. Geiger, Reise eines Erdbewohners in den Mars (1790) oder die anonym erschienene Schrift Die Unterwelt oder Gründe für ein bewohnbares und bewohntes Inneres unserer Erde (1828). d) K o m i s c h e s und travestiertes Epos. Als gemeinsame Erben Homers und Vergils stehen die

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beiden Gattungen dem GuT. nahe (s. § 2), doch gehören nur die im Jenseits spielenden Episoden dieser Epen hierher. - Im 2. Buch der an Fontenelles Jugement de Pluton erinnernden Prosasatire G o t t scheds, Der deutsche Dichterkrieg (aus den Belustigungen . . ., 1741-1743) bringt Eris in Gestalt des Gottsched-Gegners Mauvillon die Schrift Bodmers, Charakter der Teutschen Gedichte, in die Unterwelt und muß vor den Dichtern, die sich verunglimpft fühlen, fliehen; nach dem Vorlesen der zurückgelassenen Schrift im 3. Buch, das mit einem ungeheueren Tumult und der Flucht des Vorlesers endet, verwahren sich die einen Dichter von der ahd. Zeit bis zum Barock gegen die über sie gefällten Urteile, die anderen klagen, gar nicht erwähnt zu sein. K. H. H o m m e l überträgt in seinem „Heldengedicht" (in Prosa), Das Meisterspiel im Lomber (in den Belustigungen . . ., 1742), die Schauplätze auf die rokokohafte Kleinwelt der Spielkarten, wobei er die Spielerinnen zu olympischen Göttinnen, den Spieltisch zur Oberwelt und den Fußboden zur Unterwelt macht. - In J . F . W . Zachariaes „scherzhaftem Heldengedicht" in Hexametern, Murner in der Hölle (1757; Neufassung 1767 und von R. E. Raspe 1781 unter dem Titel Tabby im Elysium in engl. Prosa übersetzt) ist der Kater der Tierfabel Titelheld. Murner stirbt und spukt (im 3. Gesang), bis er menschengleich bestattet wird, so wie Elpenor im 11. Gesang der Odyssee um Bestattung fleht; die Beschreibung der Vorhölle (im 2. Gesang) folgt dem 6. Buch der Aeneis; die Unterweltsszenen dienen u.a. der Standessatire.-Im5. Gesangvon V o l t a i r e s heroisch-komischem Epos in vers communs, La Pucelle d'Orléans (1762), dessen Satire auf die fortschrittsfeindliche Kirche zielt, wird der Franziskaner und Magier Grisbourdon bei seiner Ankunft in der Hölle von Satan und den Seinen freudig begrüßt, nachdem er beim Versuch, die Jungfrau von Orléans zu vergewaltigen, von ihr getötet worden ist. Bevor er auf Drängen der Teufel sein Abenteuer erzählt, sieht sich der Franziskaner in der Hölle um, unterhält sich mit den anderen Toten und ist erstaunt, nicht nur, wie zu erwarten, bedeutende Persönlichkeiten des Altertums als Nichtchristen dort anzutreffen, sondern auch zahllose Vertreter aller Stufen der kirchlichen Hierarchie und zumal den für die Christianisierung Frankreichs verantwortlichen König Chlodwig, Konstantin den Großen und den Heiligen Dominikus, die für ihre von der Kirche absichtlich übersehenen Verbrechen büßen müssen. Die innerhalb des Werkganzen so gut wie selbständige Unterweltsepisode ist sowohl durch die ironische Beleuchtung christl. Höllen Vorstellungen hier bedeutsam, als auch durch ihre künstlerischen Vorzüge, die witzigen und prägnanten, in den Erzählfluß eingebetteten Dialoge in direkter Rede oder den überlegen mit dem Leser plaudernden Erzähler, der sich u. a. des Topos bedient, aus Raumnot nicht alle in der Hölle befindlichen Heiligen aufzählen zu können.

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Den Regeln der Travestie gemäß wird in Aloys Blumauers Abenteuer des frommen Helden Aeneas oder Virgils Aeneis travestiert (1784-1788) der hohe Stil der Vorlage ins Burlesk-Komische, das Heroische ins Alltäglich-Bürgerliche verkehrt. Schon dadurch ist das Werk dem Geist der GuT.e verwandt. Andrerseits geht die Erzählung in der 3. Person nur selten in einen Dialog in direkter Rede über. Die komische Wirkung beruht u.a. auf den sich überstürzenden witzigen Einfällen, der respektlosen, bewußt modernen Sprache im Zusammenspiel mit Metrum und Reimzwang der siebenzeiligen, aus jambischen Vier- und Dreihebern regelmäßig zusammengesetzten Strophen. Wie bei Vergil behandelt das 6. Buch die Hadesfahrt des Aeneas, die Blumauer mit besonderer Liebe ausgestaltet und wie folgt in drei Teile gliedert: der Held besucht (1.) die Sibylle und begibt sich unter ihrer Führung auf die Reise, besteht (2.) die Abenteuer der Höllenfahrt und besucht (3.) den Vater im Elysium. Im Kampf gegen Kirche, Papsttum und Mönchswesen steht die Travestierte Aeneis, ein Werk der josephinischen Aufklärung, der Pucelle Voltaires in nichts nach; Blumauers Satire greift jedoch auf alle Lebensbereiche und nicht zuletzt auf Lit. und Philosophie aus. Aeneas begegnet in der Unterwelt neben den z . T . von der Vorlage übernommenen mythologischen Figuren einer langen und bunten Reihe von Gestalten aus Heiligenlegende, Kirchengeschichte und Geschichte von frühester Zeit bis auf die Gegenwart; und zwar trifft er, worin sich Wertung und Absichten des Verf. spiegeln, die einen in Vorhölle und Hölle, die anderen im Elysium an. Das selbstverständliche Nebeneinander von paganen und christl. Elementen wie die unbekümmerte Aufhebung der geschichtl. Zeit, die Gleichzeitigkeit von Längstvergangenem und Gegenwärtigem, sind Züge, welche die Travestierte Aeneis mit dem GuT. teilt. Der ,burleske Anachronismus", ein Stilmerkmal Lukians (s. § 4 b ) , kennzeichnet aber auch Versdichtungen des von Blumauer verehrten Wieland, zumal dessen Comische Erzählungen (s. e) ebenso wie Scarrons Virgile travesti en vers burlesques (1648ff.). e) Verserzählung (s.d.), Fabel (s.d.) und Gedicht. Im 18. Jh., aus welchem so gut wie alle folgenden Beispiele stammen, sind die Grenzen zwischen den genannten Gattungen fließend; im besonderen werden Werke epischer Natur vielfach Gedichte genannt. Unberücksichtigt müssen hier lyr. Dichtungen bleiben, die der aristophanisch-lukian. Uberlieferung fernstehen, auch wenn ihnen - wie etwa R. A. Schröders Elysium. Ein Buch Gedichte (1906) - antike Mythologie und Jenseitsvorstellungen zugrundeliegen. - In G e l l e r t s Elmire und Selinde aus dem 2. Buch (von 1748) der Fabeln und Erzählungen macht Charon den beiden Schönen ihr Geständnis, verliebt gewesen zu sein, zur Bedingung der Überfahrt; Selinde, die ihrem Schäfer in unschuldsvoller Liebe zugetan war, trägt über Elmire, die falsche Prüde, den Sieg davon und darf den Jung-

fernkranz behalten. Lukian-Tradition und Rokoko berühren sich in diesem Wettstreit (s. § 4 a); der Erzähler tritt in der geschlossenen kleinen Dichtung in gereimten, meist vierhebigen Jamben neben den in direkter Rede zu Wort kommenden Personen nur kurz in Erscheinung. - Besonders die burleske Komik der lukian. G.e wird in der satir. Verserzählung des literar. Rokoko nachgestaltet, wobei Themen und Motive auch aus Ovid oder anderen klassischen Autoren stammen können, so etwa i n j . A. Schlegels Proserpina und Pluto (aus den Bremer Beyträgen von 1747). Die auf der franz. Vorlage La Mottes beruhende Erzählung mündet in die Moral, daß die Liebe des Unterweltsgottes durch die halbjährige Abwesenheit seiner Gemahlin wachgehalten werde, während sie bei vielen durch Gewohnheit gleichgültig gewordenen Ehemännern erkaltet sei. Schlegels Dichtung nimmt mit der Thematik, den Madrigalversen und dem Wechsel von Erzählhaftem und eingelegtem Dialog die virtuoseren Comischen Erzählungen Wielands (1765) vorweg, deren erste, Das Urteil des Paris, Lukians 20. G. nachgebildet ist, und von denen die übrigen, Endymion, Juno und Ganymed, Aurora und Cephalus, zumindest im Geiste Lukians, so wie ihn sein Bewunderer versteht, geschrieben sind. Während die Satire des Rokoko den kleinen menschlichen Torheiten und Schwächen, zumal im Bereich des Erotischen gilt, ist Voltaires Verssatire in gereimten Alexandrinern, Les trois empereurs en Sorbonne (1762), erneut gegen den Klerus und hier gegen die orthodoxen Theologen gerichtet, welche die wahrhaft Großen verdammen und Königsmörder zu Heiligen machen. Gleich diesem aus der Pucelle vertrauten Motiv treten auch Titus, Trajan und Mark Aurel in der dortigen Höllenepisode auf, kommen aber diesmal aus dem Himmel, um sich Paris anzusehen, wodurch das Werk wie die (in § 8 a) genannten Prosadialoge Voltaires dem Typus der Urlauber aus dem Jenseits folgt. - Ein mißliebiger Zeitgenosse ist die Zielscheibe in dem epigrammat. Gedicht in Madrigalversen aus dem Halberstädter Dichterkreis, das zugleich als eigentliches GuT. gelten kann, Des Kunstrichters Seele ohne Nase will über den Styx (1774). Charon, der einzige Sprecher, verweigert dem als stumme Person auftretenden Nickel - es ist der unter den Lebenden weilende Nicolai - die Uberfahrt mit der in der Schlußzeile ausgesprochenen Begründung, „Ich fahre keinen Narren ohne Nase, noch wen'ger ohne Kopf!". - Unter den in Totenreich und Götterwelt spielenden Beiträgen zur Schillerschen Anthologie auf das Jahr 1782 befinden sich einige, der burlesk-komischen Gesprächsszene aristophanischlukian. Überlieferung verwandte und andrerseits im Geiste des Sturm und Drang verfaßte Satiren, so der erste Beitrag, der wie später die Xenien die Mittelmäßigkeit treffen will, Die Journalisten und Minos (von 1781), eine Verserzählung in regelmäßig gereimten, aus jamb. Dreihebern gebildeten vierzeili-

Totengespräch gen Strophen. Erfindung Schillers ist das Motiv der versiegenden Unterweltsgewässer, weil „teutsche Zeitungsschreiber" ihre Tintenfässer damit gefüllt haben - als Strafe wird ihnen der Höllenhund auf den Leib gehetzt; original ist die Fiktion, daß der Erzähler die Nachricht der Höllenzeitung verdanke der entsprechende Auszug nimmt als Mittelstück 17 der 22 Strophen des Gedichtes ein. - Ebenso eigenständig ist Schillers Einkleidung seiner Satire auf die Geschmacksverirrungen von Stäudlins Schwäbischer Blumenlese in eine Verserzählung, Die Rache der Musen. Eine Anekdote vom Helikon. Auf ihre Klagen bei Apollo über die Nachstellungen von Rokokokavalieren wird den Musen eine Furie unterschoben und an ihrer Stelle von den Übeltätern zu deren Verderben vergewaltigt. - Schließlich ist Der hypochondrische Pluto. Romanze in drei Büchern und gereimten siebenzeiligen Strophen zu nennen, deren komische Wirkung z. T. auf der Verwendung medizinischer Fachsprache beruht und als deren Verfasser neben Schiller vielleicht F. F. Pfeiffer in Frage kommt. Der erkrankte Pluto, dem sein Leibarzt nicht helfen kann, ruft Apollo herbei. Dieser erscheint vor dem finsteren, ungeschlachten „alten Murrkopf", einer Sturm-und-Drang-Gestalt, als Stutzer herausgeputzt (1. Buch), schlägt ihm als Heilmittel eine Reise ins Elysium vor, die Pluto ablehnt; Pluto schickt Apollo heim (2. Buch), worauf ein Arzt und Wundermann, den ein Bote von der Erde gemeldet hat, dem Unterweltsgott „ein Weibchen", d.h. geschlechtliche Liebe empfiehlt (3. Buch), ein Universalrezept, das für Ober- und Unterwelt gleichermaßen gelte. - Die unter häufiger Verwendung direkter Rede zügig erzählenden Gedichte stellen nach Thema, Motiven und Komposition eigenwillige Neuschöpfungen des jungen Schiller dar, die sich jedoch zwanglos in den Rahmen der Uberlieferung fügen und sie bereichern. An Schillers Beitrag zu den gemeinsam mit Goethe verfaßten Xenien von 1796 haben die auf die Unterwelt bezogenen Distichen gewichtigen Anteil. Sie gründen u.a. auf eine Vertrautheit des klass. Schiller mit den entsprechenden Episoden in Odyssee und Aeneis, den Fröschen und dem durch Wielands Übers, im Weimarer Kreis heimisch gewordenen Lukian. Den Rahmen für den Unterweltszyklus innerhalb der Xenien bildet die Hadesfahrt des meist als Frager in direkter Rede sprechenden Autors (s. §§ 1 u. 4a); ein Gutteil der Stücke sind lapidare T.e (s. § 8 d). Das einzelne Distichon kann Frage und Antwort vereinen - so in dem gegen Nicolais Parodie gerichteten Xenion Der junge Werther; oder es bleibt, mit der Gegenrede im nächsten Distichon, einem einzigen Sprecher zugeteilt - so in den Xenien Peregrinus Proteus (s. § 8 b ) oder Aristoteles (s. §8d). - Zwei Gruppen von Distichen aus dem Unterweltszyklus erscheinen in den Sammlungen der Schillerschen Gedichte (von 1800 und 1803) leicht verändert als selbständige Dichtungen, Die Philosophen und Shakespeares Schatten. Parodie. In den

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Philosophen ist jedes der 19 Distichen einem anderen Sprecher vorbehalten, abgesehen von den fünfen, in welchen der „Lehrling" zu Wort kommt, der bei den Philosophen über Gott und Welt und zwar vergebens Aufschluß sucht. Ironischerweise finden sich unter den Gesprächspartnern nicht nur im jeweiligen Titel genannte Tote (Aristoteles, David Hume u. Puffendorf), sondern auch Ungenannte, aber aus der Selbstcharakteristik ihrer Lehren erkennbare lebende Zeitgenossen wie Kant (Fünfter), Fichte oder Schelling (Sechster), Reinhold (Siebenter) usf. In Shakespeares Schatten sucht der Hadesfahrer „den alten Kothurn" (in der Xenien-Fassung „den guten Geschmack"), der auf dem zeitgenöss. Theater dem alltäglichen Mittelmaß eines Schröder, Iffland und Kotzebue gewichen ist, verbürgerlichten, christlichmoralischen Rührstücken und unheldischen Figuren, in denen statt der „großen, unendlichen Natur" der Griechen nur die „erbärmliche" der platten Gegenwart begegnet. Nach den ersten drei erzählend einführenden Distichen gehören die übrigen 19 der von Distichon zu Distichon wechselnden Rede und Gegenrede von Hadesfahrer und Schatten, wobei die Anwendung des homerischen Stils auf den banalen Inhalt komische Wirkung erzielt; parodiert und ihr Sinn dem Thema angepaßt werden dem klassisch Gebildeten wohlbekannte Verse aus der Hadesfahrt des Odysseus. Dem Typus der Hadesfahrt im Traum folgt Brechts episches Gedicht in reimlosen, der Prosa angenäherten Versen, Besuch bei den verbannten Dichtern, aus den 1939 gedruckten Svendborger Gedichten. Ihrem im Brechtschen Sinne verstandenen Charakter gemäß reden die Toten den selbst stummen, in der 3. Person eingeführten Gast aus dem Diesseits an, der - auch er ein Verbannter - ihre Hütte betreten hat. Der Erzähler tritt hauptsächlich in Erscheinung, um die direkten Reden der verbannten Dichter einzuführen: Ovid, Polhü-yi, Tu-fu, Villon, Dante, Voltaire, Heine, Shakespeare, Euripides und „die Vergessenen", deren Werke vernichtet wurden und zu denen - dies die Schlußwendung auch der Besucher gehört. Ungeachtet der sarkast. Bemerkungen und des Gelächters der Toten ist die Gesamtstimmung des Gedichtes ernst, wozu die autobiographische Note beiträgt. Ähnlich seinem Lukullus (s. §§6 u. 19 b) steht Brechts Besuch der aristophanisch-lukian. Überlieferung zwar fern, trägt aber antikischen Charakter. U. a. entspricht es antiken Jenseitsvorstellungen, daß bestimmten Gruppen ein gemeinsamer Aufenthaltsort im Totenreich zugewiesen ist, so wie hier die Hütte der verbannten Dichter neben derjenigen der verbannten Lehrer steht. § 10. B r i e f . Der Verständigung innerhalb von Götterwelt und Totenreich und andrerseits zwischen Jenseits und Diesseits dient in der Lukian-Tradition gelegentlich der Brief, die dem Dialog am engsten verwandte Gat-

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tung. (Auch der Briefschreiber wendet sich ja an einen - in diesem Falle abwesenden, nur im Geiste gegenwärtigen - anderen, und wenn dieser andere mit einem Brief antwortet, ist ein Briefwechsel und somit eine Form des Gesprächs zustandegekommen.) Abgesehen von Privatbriefen handelt es sich hier um Sendschreiben, amtliche Erlässe u. dergl., wobei diese Briefe Teil eines anderen Werkes oder ein selbständiges Ganzes sein können; der lukian. Uberlieferung gemäß sind der Prosabrief und ein satir. Zug die Regel. Im übrigen gilt das (bes. in § 8) über Voraussetzungen, Charakter und Aufgaben des G u T . s Gesagte in gleichem Maße für die entsprechenden Briefe. Zu erörtern sind im folgenden a) bei Lukian vorgebildete Briefe von Göttern, b) Briefe Lebender an Tote und c) Toter an Lebende, doch hat man bei den letzteren die der Lukian-Nachfolge gemäßen Briefe von solchen zu unterscheiden, die wie die empfindsamen Totenbriefe außerhalb der gezogenen Grenzen liegen. a) Briefe der Götter. In Lukians Gesprächssatire Die Götterversammlung (Theön ekklesia) wird der wegen der vielen Fremdlinge, die sich in die Götterversammlung eingeschlichen haben, in Verlegenheit geratene Jupiter von Momus gerettet (s. § 4 b), indem dieser ein von ihm verfaßtes und vom Götterrat gebilligtes Dekret mit den Bestimmungen für eine Aufnahme unter die Götter verliest. - Die kleine lukian. Trilogie der Saturnalien (Satumalia), die mit einem Gespräch zwischen Kronos-Saturn und seinem Priester im 1. Stück beginnt, enthält als 2. Stück, Krono-Solon (Kronosolön), die Festgesetze, die der Priester - halb Gott (Kronos), halb Gesetzgeber (Solon) - verkündet, während im 3. Stück, Saturnalische Briefe (Epistolai Kronikai), ein Briefwechsel des Gottes mit den Menschen folgt: Auf den 1. Brief, „Ich an den Saturnus" - eine Beschwerde des Armen über die ungerechte, gegen die Festgesetze frevelnde Behandlung durch die Reichen antwortet der Gott im 2., „Saturn an mich" mit dem Versprechen, in der kurzen Zeitspanne seiner Herrschaft Abhilfe zu schaffen und versucht es auch, erfolglos freilich, im 3. Brief, „Saturn an die Reichen"; denn im 4. und letzten, „Die Reichen an Saturn", geloben diese eine Besserung erst für den Fall, daß die Armen ihr habgieriges Schmarotzertum aufgeben. Die Späteren wandeln diese Modelle ihren jeweiligen Zwecken gemäß ab: Im Iudicium Iovis des Niavis (um 1490; s. § 9 c ) überläßt der Göttervater - hierin ein Abbild des lukian. Jupiter (s. § 4 a) - die Entscheidung des Streitfalles der Fortuna als Königin der Sterblichen und erteilt ihr diesen Auftrag mit einem Brief, welchen Fortuna ihrerseits mit einem Brief erwidert. - Auf schöpferische Weise

verarbeitet Erasmus Anregungen der Saturnalischen Briefe in seinem, Paganes ins Chrisd. umsetzenden, Mahnbrief der Jungfrau Maria aus dem Dialog Peregrinatio religionis ergo in den Colloquia familiaria von 1526. Die Jungfrau wendet sich an den zum Luthertum neigenden Priester Glaukoplutus ihrer Kirche Maria-Stein, u. a. um ihn davor zu warnen, nicht auch noch sie selbst zusammen mit allen anderen Heiligen aus ihrer Kirche zu verbannen. Mit einei ironisch gemeinten Fiktion wird die Echtheit des Briefes begründet, den der gläubige Ogygius seinem skeptischen Gesprächspartner Menedemus vorliest. - Den lukian. Dekreten nachgebildet sind die „Règlemens" des Unterweltsgottes am Ende von Fontenelles Jugement de Pluton (1684; s. §9c). - In diesen Zusammenhang gehört F. W. Rothammers Sendschreiben an die allgemeine hohe Reichsversammlung zu Regensburg von Friedrich II. weiland Preußens irdischem König aus der Geisterwelt (1787), in welchem Friedrich gegen seinen Nachahmer und Bewunderer Joseph II. ausgespielt wird. b) Lebende an Tote. Auch wenn es für diesen wie für den unter c vorgestellten Brieftypus keine lukian. Vorläufer gibt, handelt es sich um zwei einander ergänzende Möglichkeiten, die in der Überlieferung angelegt sind. - Hierher gehört z.B. der Widmungsbrief „A Lucien, aux Champs Elysées", den Fontenelle seinen Nouveaux dialogues des morts (1683; s. §§ 5 u. 8b) vorausschickt, oder die „Lettre des vivans aux morts" in dessen Jugement de Pluton (1684; s. § 9c). Auch dieser Brief zielt auf den mit den „Alten" getriebenen Kult: die Lebenden machen geltend, daß ihre alltäglichen Unterhaltungen so geistreich und nützlich seien wie die der hochgeehrten Toten. - Der greise Voltaire richtet zwei seiner satir. Versepisteln (in gereimten Alexandrinern) an die in hohem Ansehen stehenden Autoritäten Boileau und Horaz, ihrerseits Meister der poet. Epistel. Seine mit Eigenlob untermischte, die allzumenschlichen Seiten in ihrer Laufbahn hervorkehrende respektlose Kritik ruft die Verteidigung der beiden Toten auf den Plan: die Epistel A Boileau, ou mon testament (1769) wird von einem anonymen Verfasser - J.-M. B. Clément - mit der (gleichfalls in Alexandrinern abgefaßten) Epistel Boileau à Voltaire beantwortet, auf die Voltaire in seiner Epistel A Horace (1771) höhnisch verweist; die Verteidigung des Horaz übernimmt La Harpe mit seiner anonym gedruckten Réponse d'Horace à M. de (1772). c) T o t e an Lebende. Lukian. und engl. Tradition burlesker Komik treffen sich in den satir. Letters from the Dead to the Living des gelehrten Journalisten Tom Brown „of facetious memory". Noch im Jahr ihres Erscheinens (1702) wird der Sammlung eine Nachahmung unterschoben, während Brown selbst im Jahr darauf A Continuation or Second Part of the 'Letters from the Dead to the Living folgen läßt und (gleichfalls 1703) das Certamen Epistolare, or

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in Death: in Twenty Letters from the Dead to the VIII. Letters between an Attorney and a Dead Living (1728), an welche die 1753 erscheinenden Parson. Joe Haines's Three Letters, being a SuppleHexameterepisteln des jungen Wieland anknüpfen, ment to the Second Part of Letters from the Dead die Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde. to the Living -. Die bis 1778 mehrmals aufgelegte Die empfindsamen Briefschreiber — wie die Empfänposthume Ausg. von Thomas Brown's Works enthält ger, ihre hinterbliebenen Geliebten und Freunde, jeweils auch - ein Zeichen ihrer Beliebtheit - die sind es Privatpersonen - teilen mit den Toten der Totenbriefe. Sie beziehen sich gleich dem GuT. auf Lukian-Nachfolge lediglich die Sicht der Ewigkeit; die unmittelbare Gegenwart, teilen mit diesem die dem Geist der GuT.e ist der lyrische Subjektivismus Gegenstände der Satire wie Papsttum oder Dissendieser Totenbriefe fremd. ter, Richard Bentley (s. § 8 c ) oder die „Querelle" (s. § 5) usf. Der jüngstverstorbene Komödiant Joe Heinrich D ö r r i e , Der heroische Brief. BeHaines schickt seine drei Briefe an „Will's Coffee standsaufnahme, Gesch., Kritik e. humanist. Lit.House" in London, und mit der Schilderung der gattung (1968). UnterWeltshauptstadt „Brandipolis" liefert Brown ein Zerrbild der zeitgenöss. britischen Metropole, wobei auch er seinen unterhaltsamen HadesbeschreiIV. H u m a n i s m u s und R e f o r m a t i o n . bungen direkten Dialog einfügt (s. § 9). - Offenbar § 1 1 . N e u b e g i n n und A u f g a b e n im H u stammt von Brown der Gedanke, einen Schauspieler m a n i s m u s . Seit der Entdeckung durch den oder Dramatiker aus dem Totenreich an einen lebenden Kollegen schreiben zu lassen, so wie dies u. a. in ital. Frühhumanismus zu Beginn des 1 5 . J h . s einer anonymen Veröffentlichung von 1752 ge(s. § 1) und bis in die Mitte des 16. Jh.s hinein schieht, A Poetical Epistle from Shakespeare in Elybleibt Lukian - vor Plutarch und Homer - der sium, to Mr. Garrick. beliebteste griech. Autor (s. § 6). Die HumaHingegen stehen die anonymen Letters of the nisten erkennen in ihm einen GeistesverwandDead; or, Epistles from the Statesmen of Former ten (s. § 12 a) und finden andrerseits in den von Days to Those of the Present Hour. Part II (von ihm gepflegten Formen, zumal in seinen satir. 1802) ihrer Thematik nach den Beispielen aus dem dt. 18. Jh. nahe: Mit ausdrücklicher Berufung auf " Dialogen und unter diesen besonders in den GuT.sdichtungen geeignete Ausdrucksmittel das Vorbild Faßmanns veröffentlicht J. F. Gaum 1782 einen Briefwechsel aus Elysium, diesmal nicht vorgebildet (s. § 4). Auch aus den übrigen von Toten mit Lebenden, sondern zwischen Luther lukian. Schriften schöpfen sie für ihre GuT.e und dem 1774 angeblich vergifteten Papst Klemens stoffliche, motivische und thematische AnreXIV., der im Jahr vorher den Jesuitenorden aufgegungen (s. § 1), so wie im Falle des Phalarishoben hatte; von dem Journalisten Joseph Richter mus eine Vertrautheit Huttens mit den beiden (s. § 9 c) erscheinen 1786 Briefe aus dem Himmel Phalaris-Reden Lukians zu vermuten ist. Die über die Freimaurerrevolution zu Wien, während GuT.e überwiegen an Zahl die NeuschöpfunT r e n c k von Tonder seiner polit. Zeitschrift Das gen der Humanisten in anderen lukian. GatReich der Todten (1786-1810; s. § 9a) u. a. „geheime tungen wie Enkomium oder Lobrede - mit Briefwechsel zwischen den Lebendigen und den dem erasmischen Lob der Torheit (Morias EnTodten" einverleibt, so wie auch Falk in seine Zeitung Elysium und Tartarus (von 1806; s. § 9 a) mehkömion seu Laus Stultitiae von 1511) oder rere Briefe aus dem Totenreich einrückt, darunter Pirckheimers Lob d.es Podagra (Apologia seu Wielands Neuestes Schreiben aus Elysium vom 6ten Podagra Laus); dieser entnimmt auch den Stoff Jan., das sich mit A. W. Schlegel auseinandersetzt. einer lukian. Schrift, dem Tragopodagra, die Falk selbst steuert für das 1. Heft des Prometheus noch andere humanist. Satiren anregt. - Mit (1807) ein Sendschreiben aus Elysium an Stoll bei und dem 2. Jahrzehnt des 16. J h . s beginnen die gibt diesem am Tage seiner Abreise aus Weimar nach Humanisten des Nordens eigene lat. G u T . e zu Wien Ratschläge für sein dramat. Schaffen und seine verfassen; die ersten deutschen erscheinen neue Zeitschrift auf den Weg. - Die Beispiele aus 1521, doch sind es noch Ubersetzungen zweier dem späteren 19. Jh., die anonymen Briefe aus der Huttenscher Gespräche aus dem Lat. (s. § 6). Hölle von + + + (1883) und Briefe aus dem Himmel (1884) sind ähnlich den Fegfeuer-Gesprächen (aus Bis zum Auslaufen der Gattung in der 2. H . den siebziger Jahren; s. § 8c) theologischen Fragen des Jh.s entstehen nebeneinander lat. G u T . e gewidmet. und solche in der Volkssprache; ihre Autoren, Von den satir. oder zeitkrit. Briefen, die dem von Ausnahmen wie Hans Sachs abgesehen, GuT. zuzuordnen sind, ist u. a. eine Spielart von gehören weiterhin zur humanist. Elite. Das Briefen Toter an Lebende abzuheben, die sich im G u T . stellt jedoch nur einen kleinen Teil des 18. Jh. als eine Ausdrucksform des empfindsamen reichen Dialogbestandes im Zeitalter der ReFreundschaftskultes entwickelt hat. Zu nennen ist formation und ist - anders als das T . des dt. die Prosasammlung der Elizabeth R o w e , Friendship

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18. J h . s - keine zahlenmäßig ins Gewicht fallende populäre Sondergattung geworden. Die Humanisten glauben in Lukian Gemeinsamkeiten mit ihrer eigenen geschichtl. Situation zu erkennen; sein satir. Dialog zeigt ihnen einen W e g , zu den Fragen der Zeit Stellung zu nehmen (s. § 8 a ) und k o m m t dem Bedürfnis des z u m Selbstbewußtsein gelangten Renaissancemenschen entgegen, seiner individuellen Meinung frei und kritisch Ausdruck zu geben, während der streitbare Zug der lukian. Dialoge die Autoren in ihrer schonungslosen Offenheit bestärkt. Sie wenden sich u. a. gegen die überlieferten F o r m e n des Glaubens, die Sittenlosigkeit des Klerus und die Ausbeutung der Gläubigen durch die Kirche, gegen die Tyrannei und Eroberungssucht der Fürsten oder gegen persönliche Feinde (s. § 14 u. §§ 5, 8 a u. c). Jedoch werden diese Angriffe auf die Mißstände, Auswüchse und Torheiten der Zeit mit dem Blick auf die Ewigkeit geführt. Die von Lukian vermittelten Unterweltsvorstellungen (s. § 13), die lukian. Motive der U n b e ständigkeit des Glücks, der Preisgabe aller irdischen Vorzüge beim Ubertritt ins Totenreich und der Gleichheit aller im T o d e (s. § § 4 a u. 8 b) zusammen mit der Vorstellung des Lebens als eines Schauspiels (s. § 3 ) geben dem G u T . im Zeitalter zwischen M A . und Neuzeit existentielles Gewicht. Zahl und Auswahl der Lukian-Ubersetzungen (s. § 12b), die Beliebtheit von Schriften wie das 10. T. oder Die

Überfahrt

(s. § 12 c) und die Vorliebe für das

12. T., das u . a . dem Übel der Ruhmsucht gilt (s. § 12d), verraten das nachhaltige Interesse der Zeitgenossen an diesen ewig menschlichen Fragen. Entscheidend für die Wahl der Gattung sind vor allem die in ihr angelegten propagandist. Möglichkeiten, deren sich der europäische Humanismus wie die erwachenden nationalen Kräfte in ihrem Widerstand gegen die herrschenden Mächte bedienen und dabei aus der jungen Erfindung des Buchdrucks N u t z e n ziehen (s. § 8 c). § 12. H u m a n i s t i s c h e L u k i a n - E r n e u e r u n g . U m die G u T . e des Zeitalters in ihrer Eigenart zu erfassen, hat man zunächst a) dessen widerspruchsvolles Verhältnis zu L u kian kennenzulernen, während die Geschichte b) der Texte, Übersetzungen und Bearbeitungen und c-f) der beliebtesten lukian. G u T . e und schließlich g) der pseudolukian. Dialoge

einen eigenen Beitrag zur Geschichte der Gattung darstellt. a) N a c h f o l g e und G e g n e r s c h a f t . Die Humanisten finden sich durch die lukian. Werke auf Schritt und Tritt in ihrem Kampf gegen das MA., die mal. Kirche bestätigt und ermutigt. U . a. entdecken sie in den von Lukian verspotteten, leeren und in hochtrabender Sprache vorgetragenen Spekulationen von Stoa und Akademie eine Vorwegnahme der gelehrten Disputationen der Skotisten und Spätscholastiker, oder sie erkennen ein Gegenbild zum lukian. Zerrbild von volkstümlicher Götterverehrung und Orakelglauben in Heiligenkult und Wundermären ihres Zeitalters. Die Gelehrten des 15. und 16. Jh.s entnehmen Lukian den Rat, sich menschlichen statt metaphysisch-theologischen Fragen zuzuwenden; durch ihn werden sie in ihrer Abkehr von der Askese und im Bekenntnis zum Diesseits, in der Bejahung von Lebensfreude und Lebensgenuß bestärkt und sehen in ihm einen Gesinnungsgenossen, auf den sie sich bei der Ausbildung eines neuen Lebensgefühls, der Entfaltung individuellen Selbstbewußtseins berufen können. Den Humanisten gilt Lukian als der Skeptiker, der unabhängige, freimütige Geist, der unter Berufung auf den gesunden Menschenverstand vor den durch Tradition geheiligten Vorstellungen und Gebräuchen nicht haltmacht, sie vielmehr anzweifelt, entlarvt und um der Wahrheit willen dem Gelächter preisgibt (s. § 4 c). Während ihn seine humanist. Verehrer wie Erasmus und Thomas More idealisieren, wird Lukian von christl. Seite verteufelt. Schon mit seinem Bekanntwerden in Italien warnt man die Jugend vor seinen, Glauben und Sitte gefährdenden Schriften. Seine gelegentlichen Äußerungen gegen die Christen machen ihn zu einem Feind des Christentums und führen u. a. dazu, daß zwei seiner Schriften (darunter die Prosaepistel Vom Lebensende des Peregrinus; s. § 4b) auf den ersten Index (von 1554) kommen; Luther verdammt Lukian, den atheist. Spötter auf den christl. Glauben und die Religion schlechthin und schließt in diese Verurteilung seine zeitgenöss. Bewunderer, Erasmus an der Spitze, mit ein; und noch im 17. Jh. eifert der Protestant Comenius, der Präses der Brüdergemeinden, gegen Lukian, während doch Th. More, der in seinem Glauben gefestigte Katholik, (1506) zu seinen Gunsten geltend gemacht hat, daß die Zweifel eines Heiden an der Unsterblichkeit einen Christen nicht irremachen könnten, daß man sich besser an Lukians satirische Gabe halte, Aberglauben, falsche Religiosität, Heuchelei, Anmaßung usf. bloßzustellen. Die humanist. Bewunderung gilt neben der Haltung des vermeintlichen Moralisten vor allem dem Schriftsteller Lukian. Durch seine Verständlichkeit bürgert er sich im 16. Jh. in Deutschland, Frankreich usf. als Schulautor ein. Erasmus, der wie Hutten u. a. Griechisch an ihm gelernt hat, empfiehlt ihn als einen solchen, nicht nur der Sprache und des Stiles,

Totengespräch sondern auch des unterhaltsamen Inhalts wegen. Für seine Übersetzungen lukian. Schriften ins Lat., die er 1505/1506 in England - in freundschaftlichem Wettstreit mit Th. More - begonnen hat und bis 1514 fortsetzt, wählt er die Dialoge für Schulübungen nach dem Grundsatz der utilitas. Lukian erfüllt nach Meinung von Erasmus und Th. More die doppelte horazische Forderung des prodesse et delectare; er spricht als ein eleganter Autor den Formsinn des Renaissancemenschen an und bleibt in der Beherrschung der rhetor. Stilmittel, in Leichtigkeit und Anmut der Gestaltung das großenteils unerreichte Vorbild. Erasmus und Th. More entdecken im besonderen Lukians Ironie als Ausdruck seiner Welthaltung und als sein Stilprinzip (s. § 13). b) L u k i a n - U b e r s e t z u n g e n und B e a r b e i tungen. Griech. Lukian-Hss. gelangen seit dem Beginn des 15. Jh.s aus Byzanz nach Italien, und von den ihm zugeschriebenen Schriften sind dort um 1425 bereits 65, um 1475 alle in griech. Mss. verfügbar. 1496 erscheint in Florenz die erste griech. Gesamtausg. im Druck; zwei weitere aus der venezianischen Offizin Aldus Manutius folgen 1503 und 1522. Bis zur Mitte des 15. Jh.s liegt eine Vielzahl lukian. Dialoge in lat. Übers.en vor, von ital. Humanisten angefertigt, und mit den 1470 in Rom und 1494 in Venedig erscheinenden Ausgaben bildet sich aus den Übersetzungsarbeiten der Italiener ein Kanon heraus; doch handelt es sich häufig um keine textgetreuen lat. Wiedergaben, sondern um Bearbeitungen wie die des 12. T.s durch Aurispa (s. § 12 d); und ferner werden Lukian Schriften unterschoben, die im Zeitalter als echt gelten, wie Palinurus und Virtus Dea (s. § 12 g). Als sich gegen Ende des 15. Jh.s die griech. Studien aus Italien nach dem Norden verlagern, entstehen auch dort lat. Übers.en des griech. Textes, unter denen die lat. Übers.en von Erasmus und Th. More hervorstechen und, den Kanon der Italiener nördlich und südlich der Alpen ersetzend, zur maßgebenden lat. Version der lukian. Schriften werden. In rund 50 Drucken erscheinen von 1506 bis 1550 die Lukian-Ubers.en des Erasmus; auch Jacob Molsheym (Micyllus) verleibt sie der von ihm 1538 veranstalteten lat. Gesamtausg. der lukian. Schriften ein, die 1543, 1546 und 1549 weitere Drucke erlebt. Die Übers.en in die Nationalsprachen, ins Ital., später ins Dt., Franz. usf., werden im wesentlichen nach dem lat. Text, selten nach dem griech. Original angefertigt; unter den bedeutenden Ausnahmen ist Reuchlins Ubers, des 12. T.s zu nennen (s. § 12d). Bezeichnenderweise sind die Ubersetzer des populärsten griech.. Autors in den 20er und 30er Jahren des dt. 16. Jh.s Angehörige verschiedener Stände, gelehrte Humanisten, Schulmänner, Dichter, (Protestant.) Theologen, Juristen oder Adlige. Die Vorliebe des Zeitalters, das so gut wie dem ganzen Lukian Beachtung schenkt, gilt dessen GuT.sdichtungen und einigen unter ihnen im besonderen, deren Schicksal (in den §§ 12c-g) im einzelnen zu

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verfolgen ist. Vorwegnehmend sei auf die Erneuerung weiterer in diesem Zusammenhang bedeutsamer Dialoge verwiesen. 1514 veröffentlicht Erasmus seine lat. Übers, einer geschickt getroffenen Auswahl der Götter-, Meergötter- und Totengespräche; ihr geht 1512 die lat. Ubers, dieser drei Samml. von Gilles de Gourmont voraus, und es folgen ihr 1515 Othomarus Nahtgalls, auch T.e enthaltende, griech.-lat. Ausg. der Theön dialogoi und die 1554,1556 und 1559 gedruckte lat. Auswahl des Ungar. Humanisten Zsämboki (Sambucus). Darüber hinaus finden einzelne Stücke der lukian. GuT.e im 15./16. Jh. immer wieder Ubersetzer (s. § 12c-f). - Erasmus legt 1514 den lat. Icaromenippus seu Hypemepbelus vor, Th. More 1506 den Menippus seu Necromantia (s. § 4 a) und P i r c k h e i m e r , der damit frühere lat. Versionen des Italieners Perlus und Th. Mores ablöst, den Piscator seu reviviscentes. Er gibt der Ubers, seine Schutzschrift für Reuchlin bei (s. Humanismus, Reallex. I, 715) und bezieht dadurch die Philosophensatire des Dialogs (Die Wiederauf erstandenen-, s. § 4 b) auf die Theologen seiner Gegenwart. Dies mag den Erfolg des Stückes erklären, auf dessen Erstdruck von 1517 noch mehrere Auflagen folgen. Eine Ausg. weiterer Lukian-Ubers. Pirckheimers (von 1520) enthält mit den Fugitivi erneut eine lukian. Philosophensatire (Die Entlaufenen; s. § 4 a u. b). - Für den Timon (s. § 4a), der u.a. durch das Thema des Menschenhasses und dessen Motivierung allgemein anspricht, ist eine frühe lat. Übers, von 1403 belegt, die vermutlich einem Florentiner und Schüler des Chrysoloras zuzuschreiben ist. Bertoldus verfaßt die Ubers, im ital. Kanon des lat. Lukian (1470 u. 1494), die von der des Erasmus, Timon seu Misanthropus (1506), abgelöst wird. Auch die lat. Auswahl des Sambucus (1554 usf.) enthält den Dialog, und Jacob Schenck übersetzt ihn (1530) unter dem Titel Gesprech des kunstreichen Dichters Luciani genant der Timon ins Dt., während schon 1494 eine Bearb. für die Bühne in ital. Terzinen vorliegt, Timone commedia del magnifico Conte M. Bojardo, traducta de uno Dialogo de Luciano, und für 1577 eine Aufführung des Timo Luciani graece durch die Annaberger Lateinschule bezeugt ist. c) Scaphidium und Tyrannus. Das 10. T., neben dem 12. die im 15./16. Jh. populärste lukian. Schrift (s. §§ 1,4a u. 11), ist den Zeitgenossen als das Scaphidium vertraut, ein vom Schauplatz, Charons Nachen, hergeleiteter Titel. Unter Führung Merkurs langen die Schatten zu Beginn der Gesprächsszene dort an, müssen vor dem Einsteigen alles Irdische ablegen und gehen nach der Uberfahrt zum Totenrichter ab. Nach den lat. Scaphidium-Ubers.en der Italiener - Giovanni Aurispa (um 1425; s. § 12d), Lilius Castellanus (1475) und Rinuccio Aretino (1494) - übersetzen im 16. Jh vor allem Dt. den Dialog, zunächst ins Lat., als der früheste wohl Jacob Thanner, Dialogus Luciani, quomodo solus nudus . . . (Leipzig 1500), Paulus Niavis (?; s. § 9c)

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Totengespräch

und Vitus Werler (Uuerlerus), dessen Auswahl der Luciani Samos. Dialogi (Leipzig 1513) den Text des Scaphidium und dazu eine bildliche Darstellung des Totenschiffleins enthält. Molsheyms Gesamtausgabe (von 1538) enthält die Ubers, des Martinus Bolerus. Die wiederholte Übers, ins Dt. bezeugt das Interesse der Reformationszeit an der Thematik dieses Dialogs. Hans Sachs benutzt Werlers lat. Übers, für seine Dramatisierung des „Staphidion" in dt. Knittelversen (vom Jan. 1531), Ein tragedi, mit 11 personen zu agiren. Der Caron mit den abgeschidnen geisten (s. §§ 3 u. 5). Er folgt im wesentlichen Lukian, läßt jedoch im Reigen der verschiedenen Typen die Figur des Rhetors weg, die man im 16. Jh. nicht mehr versteht, und setzt dafür Epikur ein nach der mal. Uberlieferung (fälschlicherweise) der Inbegriff des Schlemmers, des „säuwischen" Lebens - und geißelt damit das dt. Laster der Unmäßigkeit. Durch das Motiv, daß Epikur dem abgefahrenen Nachen nachschwimmt, verrät Hans Sachs seine Kenntnis der Überfahrt, wo diese Rolle dem Schuster Micyllus zufällt. - Unter dem Titel Item ein schöner Dialogus des spöttischen Luciani vom todten Schifflein da wir all unser gut müssen dahinden lassen soll uns der Charon überfuren zum Garten der Seligen (Straßburg 1536) veröffentlicht der Freiherr Johann von S c h w a r z e n b e r g unter seinem Namen (mit dem Scaphidium als Titelbild) die von seinem Hausgeistlichen Johann Neuber angefertigte freie dt. Ubers, des 10. und 22. T.s (s. § 4 a ) ; und schließlich wird das Scaphidium Teil der Samml. von Jacob V i e l f e l d , Spigel der menschlichen Blödigkeit, drei schöner Gesprech, sampt ander lustigen Historien, Jetzund von neuem verteutscht und außgangen (Straßburg 1545). In der um weitere Figuren und Episoden erweiterten Gesprächsszene Die Überfahrt oder Der Tyrann (s. §§3 u. 4 a) gilt das Interesse des Zeitalters der Figur des Tyrannen, der mit Gewalt zum Nachen gebracht wird, die Parze Klotho um Aufschub bettelt, an den Mast gebunden werden muß und nach der Uberfahrt von Rhadamanthus abgeurteilt wird. Unter dem Titel Tyrannus wird der Dialog wiederholt ins Lat. übersetzt, von Ottavio Rinucci (1470), Christoforo Persona (1494) und Petrus Schade (Mosellanus) (Hagenau 1518). Züge des Tyrannen gehen u.a. in die Gestalt des anmaßenden Papstes vor der Himmelspforte im Julius exclusus und des Tyrannen in Huttens Phalarismus ein. d) Comparatio. Das 12. T. (s. §§3, 4a. 8d u. 11) kennt man im 15./16. Jh. vor allem als die Comparatio, ein Titel, der die Schrift mit einer das MA. überdauernden und in der Renaissance erneuerten und beliebten antiken Form verknüpft. Ein Rangstreit wie der zwischen Alexander, Hannibal und Scipio (Africanus) ist den Zeitgenossen vertraut; er spricht die Neigung des selbstbewußten Individuums an, sich mit seinesgleichen zu messen, und zieht im besonderen die Regenten an, die sich in den großen Feldherrn der Antike wiedererkennen möch-

ten. Zudem kann das Auftreten berühmter geschichtl. Persönlichkeiten mit der allgemeinen Neugier rechnen. Über diesem vordergründigen Interesse scheint man die im 12. T. verborgene Ironie zu übersehen (s. § 4a), u.a. daß Minos den Vorschlag des zuletzt und kurz sprechenden Scipio für die Rangordnung einfach übernimmt. Alexander erhält den ersten, Scipio den zweiten und Hannibal den dritten Platz. Da Scipio erst zum Schluß auftritt, ohne seine Sache wie die beiden anderen mit einer langen Rede zu verfechten, sind Zweifel entstanden, ob nicht in einer ursprünglichen Fassung der Wettstreit bloß zwischen Alexander und Hannibal ausgetragen wird, wie dies in einer entsprechenden Gerichtsszene vor Rhadamanthus im 2. Buch der Wahren Geschichten der Fall ist (s. § 1). Jedenfalls legt der Scipio-Teil in der als echt geltenden Fassung eine Ergänzung nahe. Wiederholt wird der griech. Text ins Lat. übersetzt, u.a. von Varinus Guarino, der (1403/8) in Konstantinopel griech. Studien betrieben hat, von Bartholomeus Landus, einem weiteren Veroneser (Mitte des 15. Jh.s), von Gillesde Gourmont (1512) und Ludovico da Ponte (1529), dessen Fassung in die Molsheymsche Gesamtausgabe (von 1538) eingeht. Eine nachhaltigere Wirkung auf das Zeitalter übt die lat. Bearbeitung der Comparatio durch Giovanni Aurispa aus, der 1423 mit einer Samml. griech. Hss. auch Lukians Schriften aus Konstantinopel mitgebracht hat und 1425 seine Ubers, des 12. T.s fertigstellt. Die Translatio ex Graeco in Latinum dialogi Luciani a Libanio emendati de comparatione Alexandri Hannibalis et Scipionis wird zunächst in zahllosen Abschriften verbreitet, erscheint dann mindestens elfmal in Einzelausgaben oder Samml. im Druck und vertritt das 12. T. auch im lat. Kanon der Italiener (1470 u. 1494). Entgegen der lukian. Überlieferung wird Scipio der erste Platz eingeräumt, Alexander der zweite und Hannibal der dritte. Aurispa unterschiebt seine Fortsetzung - mit einer langen Rede des Scipio - dem griech. Rhetor Libanios aus dem 4. Jh., der jedoch schon wegen seines Hasses auf die Römer und alles Römische als Verf. ausscheidet. Aurispas Scipio rühmt sich neben der Tapferkeit seiner sittlichen Haltung, betont u.a., daß er nach dem Sieg über Karthago sich selbst treu geblieben sei, und gibt damit dem Urteil des Minos den Ausschlag. Mit seiner moralischen Motivierung folgt Aurispa wohl dem Vorbild Petrarcas, der die Gestalt Alexanders als einen Inbegriff der Verworfenheit der Idealfigur des Römers Scipio gegenübergestellt hat. Indem Aurispa seinen „Italus Scipio romanus" zum ital. Nationalhelden macht, spricht er - wie die Geschichte der Comparatio zeigt - den in Italien und in den anderen europäischen Ländern erwachenden Nationalstolz an. Die Autoren widmen die Übers.en und weiteren Umarbeitungen der Comparatio Vielfach ihren Herren und huldigen ihnen dadurch als den natürlichen Erben der Tugenden und Errungenschaften, die im Text erörtert und beurteilt werden -

Totengespräch so wie Aurispa selbst seine Bearb. dem Militärgouverneur von Bologna, Battista Capodiferro, zugeeignet hat. Italien. Im Dez. 1441 bildet das spectaculum representans Scipionem, Alexandrum et Annibalem coram Minoe, disceptantes praesidentiae den ersten Teil eines am neapolitan. Hof zur Feier des Sieges von René d'Anjoy aufgeführten Huldigungsspiels, in dessen zweitem Teil der Sieger René mit Scipio und der Besiegte, Alfons V. von Aragonien, mit Hannibal verglichen wird; auch Filippo L a p a c c i n i , Dichter und Gelehrter und gegen Ende des 15. Jh.s im Dienste der Gonzaga in Mantua, verfaßt seine Bearb. der Comparatio in ital. Terzinen vermutlich für eine Hoffestlichkeit. Schließlich dient die Aurispa-Fassung als Vorlage für Nicolò de Lonigos Übers, des 12. T.s ins Ital. im Rahmen seiner Ausg. des ital. Lukian, die erstmals 1525 in Venedig erscheint und bis 1551 acht Neuauflagen erlebt. — Spanien. Für König Juan II. verfertigt Vasio Ramirez de Guzmân (vor 1438) eine Ubers, von Aurispas Text ins Kastilian., una comparacion entre Alexandre et Anibal et Scipion. — F r a n k r e i c h . Jean Miélot, der 1449 als Hofgelehrter in die Dienste Philipps des Guten, Herzogs von Burgund, getreten ist und ihm als erste Gabe die franz. Ubers, einer zeitgenöss. lat. comparatio, Disputatio de nobilitate, gewidmet hat, liefert ihm 1450 als Gegenstück dazu eine franz. Bearb. von Aurispas Fassung, Le Débat d'honneur entre trois chevaleureux princes, assavoir Alixandre roy de Macedonie, Hannibal duc de Cartaige et Scipion consul romain, estrivans ensemble lequel d'eulx trois estroit de plus grant renom et le plus resplandissant en gloire; 1475 werden beide comparationes zusammen in Brügge gedruckt. — Vielleicht als Gabe für Franz I. bei dessen Thronbesteigung verfaßt Clément Marot 1415 eine vor allem auf Miélot gründende gereimte freie Übertragung, Le Jugement de Minos sur la preference d'Alexandre le grant, Hannibal de Carthage et Scipion le Romain, ja menez par Mercure aux lieux inférieurs devant icelluy juge. Die Jugendarbeit Marots, die vor der Zeit seiner klass. Studien und wohl noch ohne Kenntnis Lukians entstanden ist, erscheint 1531 erstmals im Druck. — England. In einer vielleicht für Humphrey, Herzog von Gloucester, verfaßten Erweiterung von Aurispas Text aus der Mitte des 15. Jh.s wird der 1422 verstorbene engl. König Heinrich V. mit einer langen Rede zu seiner eigenen Verteidigung in den Rangstreit eingeführt - Contendo Alexandri Hannibalis Scipionis et Regis Henrici Quinti de presidentia coram Minoe - und erhält vor den antiken Feldherrn den ersten Platz, während Jaspar Mayne seiner 1638 in Oxford erscheinenden Ubers, ins Engl, die lukian. Fassung zugrundelegt. Deutschland. Die Verleihung der Herzogswürde an den Grafen Eberhard im Barte zu Württemberg (im Juli 1495) ist für Johannes Reuchlin ein Anlaß, seinem des Lat. unkundigen Landesherrn

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das 12. T. direkt aus einer griech. Hs. ins Dt. zu übersetzen, wobei er ausdrücklich betont, „nichts sonders darzu noch darvon gethan" zu haben. Es ist neben gleichzeitigen Demosthenes-Ubers.en Reuchlins für den Herzog schlechthin die erste direkte Übertragung eines griech. Autors ins Dt. Reuchlins Text wird erst im 19. Jh. durch den Druck bekannt, nach einer Abschrift, die Herzog Albrecht III. von Sachsen (vermutlich 1495 bei einem Zusammentreffen mit Eberhard) anfertigen läßt. — Mathias R i n g man (Ringman Philesius) übersetzt Caesars Schriften für Maximilian I. ins Dt. — J u l i u s der erst Römisch Keiser von seinen kriegen erst mals vsz dem Latin im Tütsch bracht vnd nüw getruckt (Straßburg 1507) — und gibt dem Band neben Plutarchs Caesar auch eine eigenwillige Erweiterung von Aurispas Comparatio-Fzssung bei, Ein zanck Hanibalis Alexandri, un Scipionis welcher under denen derfürtreffelichst houptman sy geweszt ouch zu letst von Julio Cesare u. s. w. Mit offensichtlichem Bezug auf den Kaiser wird am Schluß die Frage aufgeworfen, wie Minos wohl entschieden haben würde, hätte Caesar seine Ansprüche geltend gemacht. — Der 1516/17 in Bologna und 1519 auf Steckelberg entstandene und 1529 in Hagenau postum gedruckte Arminius. Dialogus Huttenicus, quo homo patriae amantissimus Germanorum laudem celebravit, ist eine an Aurispas Comparatio anknüpfende lat. Neuschöpfung. Die Entscheidung im Rangstreit ist vor Beginn der Gesprächsszene gefallen, in welcher neben Arminius die drei antiken Feldherrn und Minos, Merkur und Cornelius Tacitus auftreten. Arminius, der als der größte Feldherr der Weltgeschichte gelten möchte, verlangt von Minos eine Überprüfung der Rangordnung. Während der Anspruch des Cheruskers den drei antiken Rivalen zu hochgegriffen scheint, tritt Tacitus für ihn ein, und Minos, der schließlich davon überzeugt ist, daß Arminius der höchste Feldherrnruhm gebühre, aber sein Urteil nicht mehr umstoßen kann, weist dem Germanen einen Ehrenplatz als erster Vaterlandsverteidiger neben den drei Großen der Antike zu und beauftragt Merkur, es Göttern und Menschen sogleich zu verkünden. Hutten, mit dessen Dialog die Verherrlichungen des Arminius als eines Nationalhelden in der dt. Lit. beginnen, will seine Zeitgenossen aufrütteln; mit dem vom röm. Joch befreiten Germanien soll das Deutschland der Reformation im Kampf gegen das Papsttum bestärkt werden, und Huttens Freund Sickingen soll sich, so wird vermutet, in der Gestalt des Arminius als Vaterlandsbefreier aufgefordert sehen. Das Huttensche T. wird zwar erst im 19. Jh. ins Dt. übersetzt, findet aber bei seinem ersten Erscheinen unter den Humanisten ein nachhaltiges Echo; Melanchthon gibt es 1538 in Wittenberg zusammen mit der Germania des Tacitus von neuem heraus. — B ö h m e n . Über die höchst erbärmliche Lage der großen Herren (O naybiednieysim stavu velikych Panuov. Lucyan) überschreibt Nicolas K o n ä c seine 1507 in Prag erscheinende

502 tschech. Ubers, von Charon, Comparatio nach Aurispa.

Totengespräch Palinurus

und der

e) Charon. Das G. Charon oder Die Weltheschauer (s. § 4a) wird von den Humanisten u.a. als Modell für den Typus des Urlaubs aus der Unterwelt und andrerseits als Vorbild für die Situation der Beobachtung irdischen Treibens aus der Vogelschau geschätzt (s. § 8a) und wiederholt ins Lat. übersetzt u. a. von einem ital. Anonymus, dann - im Kanon der Italiener - von Ottavio Rinucci (1470) und Rinuccio Aretino (1494); im Norden folgen Paulus Niavis (?) und Petrus Schade (Mosellanus) (Hagenau 1518), während in einer Heidelberger Hs. aus dem 16. Jh. eine anonyme dt. Ubers, vorliegt, Lucianus von der Welt Beschawunge, genant Charon. f) Gallus. Lukians Dialog Der Hahn oder Der Traum des Micyllus (Oneiros e Alektryöri) ist als eine der Anregungen für die im GuT. des Zeitalters gern verwendete Traumfiktion zu betrachten (s. §§ 1 u. 13) und wird durch die aus ihm zu gewinnende Lehre, daß aller irdischer Besitz nichtig sei, von den Humanisten hochgeschätzt. E r a s m u s leitet seine Ubers. (1506), Gallus sive somnium, mit einer begeisterten Vorrede unter Betonung des utile ein; weitere lat. Ubers.en von Rudolf A g r i c o l a , Gallus (Straßburg 1530), und Michael N e a n d e r , Somnium sive Gallus (Basel 1557) folgen, während der kurpfälzische Kanzler Dietrich von P l e n i n g e n unter Berufung auf die Übers, seines Lehrers Agricola eine dt. Ubers, des Dialogs als eine Antwort auf die Frage vorlegt, „wie es zukom, das wenig Menschen jrs stand benuegen lassen" (Landshut 1516). g) Palinurus und Virtus Dea. Der ital. Kanon lat. Lukian-Ubers.en von 1470 und 1494 enthält ein T D e foelicitate et miseria, zwischen Charon und dem Steuermann des Aeneas, Palinurus, unter dessen Namen es bekannt wird und das Maffeo V e g g i o zum Verf. hat. In der Ausg. von 1494 erscheint zudem ein G. zwischen Tugend und Merkur, Virtus Dea, das von Leon Battista A l b e r t i stammt und mit der Fiktion herausgegeben wird, Carlo Marsuppini habe es aus Lukian ins Lat. übersetzt. Es handelt sich um Neuschöpfungen im Geiste der Zeit; mit ihrer Thematik - Wechsel des menschlichen Glücks und Preis der Tugend (Palinurus), Allmacht des Glücks und Ohnmacht der Tugend (Virtus Dea) — fügen sich die beiden Unterschiebungen in die Reihe derjenigen lukian. GuT.sdichtungen, die das Zeitalter besonders liebt. Molsheym nimmt die beiden Dialoge in seine lat. Gesamtausg. (Frankfurt 1538) auf, durchschaut sie aber als Fälschungen ital. Gelehrter. - Der Palinurus findet sich u.a. in der lat. Auswahl von Marmita (Paris 1505) und Werler (Leipzig 1513); Nicolas Konäc übersetzt ihn (1507) ins Böhm, und Johannes Galinarius (1512) ins Dt. (Luciani Palinurus uss kriechischer sprach durch das Latyn in tütsch transferieret, sagen von Geferlichkeit und trühsal in allen Stenden der Welt), neben dem Kölner Druck erscheint im selben Jahr ein solcher

in Straßburg. Die Samml. von Jacob Vielfeld (Straßburg 1545) schließt eine weitere dt. Ubers, ein. § 13. F o r m e n d e s G ö t t e r - u n d T o t e n g e s p r ä c h s . Szenischer Aufbau, dramat. H a n d lung und Figurenreichtum der satir. G e sprächsdichtungen Lukians weisen den A u t o ren neue W e g e (s. § 4 a), während Streitgespräch (s. d . ) und Schülergespräch als F o r m e n des mal. Dialogs weiterwirken und daneben, besonders im Zuge der R e f o r m a t i o n , neue volkstümliche Gesprächsformen entstehen (s. § 6 ) . D i e Humanisten des 15./16. J h . s greifen auf so gut wie alle der von Lukian begründeten Modelle des G u T . s zurück (s. § 8 a) - ein in die Augen fallender formaler R e i c h t u m gegenüber dem 17./18. J h . mit dem Vorherrschen des T . s im engeren Sinne. Verglichen mit eigenwilligen Neuschöpfungen des 2 0 . J h . s jedoch halten sich die Autoren eng an die Uberlieferung, auch dann, wenn sie, wie z . B . Erasmus oder H u t t e n , Naogeorgus oder Frischlin (s. §§ 7 u. 8 a), einzelne szenische E l e m e n t e , Situationen, Motive, Figuren usf. verschiedenen lukian. Schriften entnehmen und in ihren G u T . e n jeweils zu einer neuen Einheit verschmelzen (s. § 1). D a b e i k o m m t ihren satir. Absichten das bei Lukian entdeckte Stilmittel der Ironie entgegen (s. § 12a). In Huttens Pbalarismus (1517) z . B . wird nach A r t der E n k o m i e n die T y r a n n e i gepriesen; in einem lat. Dialog C o n r a d N e s e n s (von 1519) will M e r k u r in Frankfurt D i e b e n und Betrügern an die H a n d gehen. D e r T o t e n fährmann im erasmischen Charon (1523) n i m m t vergnügt die N a c h r i c h t auf, daß die T o t e n ihm durch Krieg, Pest und Zwietracht in H a u f e n zugehen werden; oder C h a r o n m u ß z u m Kauf einer neuen B a r k e an die O b e r w e l t , weil der morsche Kahn durch die übergroße Belastung Schiffbruch erlitten hat; und in den Drey Newen vnd lüstigen Gesprechen. Wie der Wolff so etwan doch nicht lang ein Mensch Heintz Wolffenbüttel genannt, jnn abgrund der Hellen verdammt sey ( 1 5 4 2 ) verteidigt sich L y c a o n - W o l f f mit dem A r g u m e n t , zeitlebens der H ö l l e gedient zu haben. D e n humanist. Autoren bereitet es keine Schwierigkeit, Heidnisch-Antikes mit C h r i s t lichem zu versöhnen, sei es, daß der pagane R a h m e n folgerichtig beibehalten, mit christl. Elementen vermischt oder ganz ins Christi, umgedeutet wird (s. § 6 ) . W ä h r e n d man z . B . M e r k u r als F ü h r e r ins Jenseits oder als G ö t t e r boten in den eigenen Gesprächen beibehält,

Totengespräch wird er in anderen durch die chrisd. Figur des Genius ersetzt. Ein Genius führt Papst Julius zur Himmelspforte (s. §§ 6 u. 8 c), der Genius Maximilians geleitet Karl V. in die Unterwelt (s. § 8 a), der Genius Alastor ist Charons Gesprächspartner bei Erasmus, der Genius als Verkörperung der christl. Kirche verhindert die Begnadigung des bösen Heinrich von Wolfenbüttel, während bei Hans Sachs der Traumführer des Dichters bald „geyst", bald „engel genius", bald „fraw racio" heißt (s. §§ 4c, 8a u. d). Ähnlich entspricht der häufig gestalteten Überfahrt über den Styx (s. § § 4 a u. 12c) die Fahrt zur Himmelspforte, für welche neben dem christl. MA. der Ikaromenippus (s. § 4 a ) und die lukian. Totengerichtsszenen als Modelle anzunehmen sind und für die der anonyme dt. Dyalogus der Rede vnnd gesprech so Franciscus von Sickingen vor des himels pforten mit sant Peter vnd dem Ritter sant Jorgen gehalten, zuvor und ehe dan er jnngelassen ist worden (1523) zum Julius exclusus mit dem abgewiesenen Papst ein Gegenbeispiel liefert. Die satir. Dialoge Lukians, welche zur Ausbildung einer humanist. Prosa beigetragen haben, sind u.a. für die Prosaform der GuT.e verantwortlich (s. § 5), während der Vers die Ausnahme bildet und vor allem Bühnenbearbeitungen Lukianischer Dialoge oder aus lukian. Elementen aufgebaute Dramen kennzeichnet (s. § § 3 , 7 u. 12b-d). Daneben sind jedoch eine Reihe weiterer dt. GuT.e des 16. Jh.s in Versen abgefaßt und unter ihnen die 1544 und 1553/54 entstandenen Hans Sachsschen „gespreche der götter" (s. §§2, 4c, 6 u. 12c). Während z . B . seine sog. Reformationsdialoge dem Vorbild der volkstümlich-realist. dt. Dialoge des J h . s folgen und dementsprechend in Prosa gehalten sind, wählt Hans S a c h s für seine Gesprächsdichtungen in der Lukian-Nachfolge - Bühnenbearbeitungen (s. § § 3 u. 1 2 c ) und G . e - den Knittelvers, eine Stilisierung, die ihm Figuren und Schauplätze nahezulegen scheinen. Seine G . e folgen einem und demselben Muster: der Dichter wird im Traum zu den olympischen Göttern geführt und belauscht ihre Beratungen (s. § 8 a). Das erste, Ein gesprech der götter oh der edlen und bürgerlichen kranckheit despodagram oder zipperlein (vom 28. II. 1544) bearbeitet auch einen lukian. Stoff (s. § 11), das zweite (vom 3. III. 1544), Ein artlich gesprech der götter, die zwitracht des römischen reichs betreffend, und das dritte (vom 1 6 . 1 1 . 1 5 5 3 ) über das Thema, warumb so vil übler regenten auff der erden sind,

503

üben wie das vierte, gegen den Markgrafen Albrecht gerichtete (s. § 8a), besorgte Kritik an den polit. Zuständen der Gegenwart. Ohne Datum überliefert ist ferner Ein gesprech zwischen den göttern, warumb die Menschen nimmer alt werden. T r o t z scheinbarer Ähnlichkeiten - wie z . B . das an den Timon erinnernde Aufbegehren des Menschen - steht der Prosadialog Der Ackermann aus Böhmen (s. Humanismus, Reallex. I, 694) außerhalb der Gattung. U . a . ist er um 1400, vor Lukians Wiederentdeckung im Westen, entstanden. Weder T o d noch Gott treten im G u T . als Gestalten auf; der Schauplatz des Ackermanns ist nicht näher bezeichnet und erst recht nicht gestaltet, d . h . der Prozeß zwischen Ackermann und T o d findet weder im O l y m p noch vor dem Totenrichter statt.

§ 14. K r i t i k an der G e g e n w a r t . Im Gegensatz zu Lukian, der die religiösen .Vorstellungen als solche in Frage stellt (s. § 4c), tasten die Humanisten die christl. Religion nicht an; ihre Kritik gilt der Kirche und ihren Trägern (s. § 8); und ebenso wenig rütteln sie an der staatl. und ständischen Ordnung, aber wenden sich gegen die Übergriffe der Fürsten (s. § § 8 , bes. 8a u. 11). Der allgemeingültige Charakter der lukian. Typen erlaubt ihre Übertragung auf ändere Zeitalter (s. § 4b), so wie der Tyrann Megapenthes aus der Überfahrt (s. §§ 3 u. 4a) bei den Tyrannenfiguren der Humanisten (s. § 12c) und u. a. beim Lycaon der Drey Newen und lustigen Gespreche (s. §§ 5 u. 13) Pate steht, und wie Lukians falsche Philosophen mit den, Fürsten und Volk manipulierenden, falschen Klerikern gleichgesetzt werden, deren dünkelhaftes Wesen in den humanist. GuT.en mit einem Lieblingsausdruck Lukians, „arrogans supercilium", bezeichnet wird, während man andrerseits in der Haltung der lukian. Kyniker-Figuren eine Vorwegnahme christl. Ethik, wahrer Frömmigkeit erkennen will. Die Satire kann einem ganzen Berufsstand, den Theologen und Klerikern, oder bestimmten Persönlichkeiten gelten, seien sie Träger kirchlicher oder fürstlicher Macht oder persönliche Feinde (s. § 5), und sie äußert sich in Formen, die auf Lukian zurückzuführen sind, zugleich aber das Zeitalter von Humanismus und Reformation kennzeichnen - Invektive (Hutten), Ironie (Erasmus) oder burleske Komik (Drey Newe vnd lustige Gespreche usf.) (s. § 8 c ) . Gegen die Rache der Mächtigen glauben sich die Autoren dadurch abzusichern, daß sie ihre Kritik an den Zuständen der Gegenwart in den Mund von Göttern und Toten legen (s. § 8 c).

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Schon im G u T . der ital. H u m a n i s t e n des 15. Jh.s wird der Kampf gegen die Mißstände der Kirche a u f g e n o m m e n ; im N o r d e n fällt die Erneuerung der Gattung (s. § 11) mit den A n fängen der Reformation z u s a m m e n , für welche die meisten Autoren als Anhänger Luthers eintreten (ohne durch dessen Vorbehalte gegen Lukian [s. § 12 a] v o m Gebrauch lukian. Form e n abgehalten z u werden). So wird das G u T . zugleich ein Ausdruck der nationalen Bestrebungen gegen die röm. Kirche (s. § 8 a u. c), u. a. in d e m (1538) angeblich aus Bologna nach Deutschland gesandten (lat. u. dt.) D i a l o g Ein kleglich gesprech babsts Leonis und babsts elementen mit irem Kemmerer, Cardinaln Spinola, in der helle gehalten, den jetzigen Kirchen standt belangend, w o r i n Geldgier und verschlagene Politik der Päpste ironisch gepriesen werden, oder in Johann S c h r a d i n s T. in gereimten dt. Versen zwischen Ariovist, Arminius, Kaiser Rotbart und G e o r g v o n Frundsberg, Gründliche ursach der jetz schwebenden Kriegsleuff und wie sich darinnen zu halten sey. Darzu ein klag des teutschen lands (1546). Lukian-Nachfolge: Richard F ö r s t e r , Ludan in d. Ren. ArchfLitg. 14 (1886) S. 337-363. Paul S c h u l z e , Ludan in d. Lit. u. Kunst d. Ren. (1906; Progr. Dessau). Lawrence S. T h o m p s o n , German Translations of the Classics Between 1450 and 1550. JEGPh. 42 (1943) 5 . 358. Antonio V i v e s Coli., Ludano de Samosata en España (1500-1700) (Valladolid 1959; Universidad de La Laguna. Secretariado de Publicaciones). Einzelne Autoren oder Werke. Paulus Niavis: Ernst S c h w a b e , E. sächs. Novellist aus d. Zeit d. Frühhumanismus. ZfdU. 22 (1908) S. 673689. — Erasmus von Rotterdam: Martha H e e p , Die 'Colloquia Familiaria' d. Erasmus u. Ludan (1927; Nachdr. 1973; Hermaea 18). Natale C a c cia, Note su la fortuna di Ludano nel Rinasdmento. Le versioni ei dialoghi satirid di Erasmo da Rotterdam e di Ulrico Hutten (Milano 1914). Craig Ringwalt T h o m p s o n , The Translations of Ludan by Erasmus and St. Thomas More (Ithaca 1940; Diss. Princeton 1937). Christopher R o b i n s o n , Luciani Dialogi (Introduction). In: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami. I, 1 (1969) S. 363-378. — Ulrich von Hutten (vgl. Erasmus): Albert B a u e r , Der Einfluss Lukians von Samosata auf Ulrich von Hutten. Philologus 75 (1918) S. 437-462. Olga G e w e r s t o c k , Lucían u. Hutten. Z. Gesch. d. Dialogs im 16. Jh. (1924; Nachdr. 1967; GermSt. 31). — Dialogi Septem festive candidi: Walther B r e c h t , Die Verfasser der Epistolae obscurorum virorum (1904; Q F . 93)

S. 187-227. Albert B a u e r , Der Einfluss d. Lukian von Samosata auf die 'Dialogi Septem Festive Candidi'. Authore S. Ahydeno. Corallo. Germ. München. Mus. f. Philol. d. MA. u. d. Ren. 3 (1918) S. 305-326. Paul M e r k e r , Der Verfasser d. 'Ecdus Dedolatus' u.a. Reformationsdialoge (1923; Sächs. Forschungsinst. in Leipzig. Forschungsinst. f. neuere Philol. II, 1), Kap. 3,1. — Gil Vicente: Paolo Q u í n t e l a , Motivgeschichtl. Betrachtungen z. d. 'Barcas' des Gil Vicente. Rom Fschgn. 56 (1942) S. 359-363. — Alfonso de Valdés: Karl Ludwig S e l i g , Zu Vaidés' erasmischem 'Diálogo de Mercurio y Carón'. Bibliothèque d'Humanisme et Ren. 20 (1958) S. 1724. — Bonaventure des Periers: Ph. Aug. B e c k e r , Bonaventure des Periers als Dichter u. Erzähler. III : Das 'Cymhalum mundi' u. Piatons 'Lysis'. SBAkWien. Philos.-hist. Kl. 200. Bd. 3. Abt. (1924) S. 48-56. — Hans Sachs: Edmund G o e t z e , Hans Sachs als Gegner d. Markgrafen Albrecht Aldhiades. ArchfLitg. 7 (1878) S. 279303. Friedrich Wilhelm T h o n , Das Verhältnis, d. Hans Sachs z. d. antiken u. humanist. Komödie. Diss. Halle 1889. Wilhelm A b e l e , Die antiken Quellen d. Hans Sachs. 2 Tie (1897 u. 1899; Progr. Cannstatt). Eduard E d e r t , Dialog u. Fastnachtspiel bei Hans Sachs. E. stilist. Unters. Diss. Kiel 1903. Barbara K ö n n e k e r , Hans Sachs (1971; Samml. Metzler 94). — Nachwirkung von Lukians 12. T.: Richard F ö r s t e r , Zur Schriftstellerei d. Libanios. NJbbAGLP. 46 (1876) Bd. 113, S. 219-225. Theodor D i s t e l , Die erste Verdeutschung d. 12. Lukianischen T.s nach e. urtextl. Hs. v. Johann Reuchlin (1495). Zfvgl Litg., N . F. 8 (1895) S. 408-417. Ders., Diezweite Verdeutschung d. zwölften Lukianischen T.s durch Ringman. ZfvglLitg., N . F. 11 (1897) S. 60-65. Emil B u r g e r , E. franz. Hs. d. Breslauer Stadtbihl. (1901/1902; Progr. Breslau). Ph. Aug. B e c k e r , Clément Marot ». Lukian. Neuphil Mitt. 23 (1922) S. 57-84. David C a s t , Aurispa, Petrarch, and Ludan: An Aspect of Ren. Translation. Ren. Quarterly 27 (1974) S. 157-173. Sonstige Uberlieferungen: Charles Harold H e r f o r d , Studies in the Literary Relations of England and Germany in the Sixteenth Century. (Cambridge 1886, Nachdr. 1966), P. I. Chap. II: Polemical Dialogues. Aloys B ö r n e r , Die lat. Schülergespräche d. Humanisten. 2 Tie (1897 u. 1899, Nachdr. 1966; Texte u. Fschgn. z. Gesch. d. Erziehung u. d. Unterrichts in d. Ländern dt. Zunge 1). Gottfried N i e m a n n , Die Dialoglit. d. Reformationszeit nach ihrer Entstehung u. Entwicklung (1905; Probefahrten 5). Bespr. v. Georg B a e s e c k e in: Euph. 14 (1907) S. 135-145. Wilhelm S ü s s , Aristophanes u. d. Nachwelt (1911; Das Erbe d. Alten 2/3). Heinrich N e e d o n , Technik u. Stil d. dt. Reformationsdialoge. Diss. Greifswald 1922. Werner L e n k , Die Reformation im zeitgenöss. Dialog. 12 Texte aus d. Jahren

Totengespräch 1520 bis 1525 (1968; Dt. Bibl. Studienausg. z. neueren dt. Lit. 1). Werner P. Friederich, Dante's Fame Abroad 1350-1850. The lnfluence of Dante Alighieri (Roma 1950; Storia e letteratura 31). 17. Jh. Quevedo: Margarita Morreale, Luciano y Quevedo. La humanidad condenada. Revista de Literatura 8 (1955) S. 213-227. Guy Testas, L'enfer dans les 'Songes' de Quevedo. Recherches sur les principales sources. Diss. Paris 1964. — Dt. Nachwirkung: Heinz Klamroth, Beitr. z. Entwicklungsgesch. d. Traumsatire im 17. u. 18. Jh. Diss. Bonn 1912. V. 18. u n d f r ü h e s 19. J a h r h u n d e r t . § 15. E r n e u e r u n g der G a t t u n g . Nach dem Abklingen des Humanismus in der 2. H . d. 16. J h . s und einem damit verbundenen Nachlassen des Interesses an Lukian begegnen in der dt. Lit. nur vereinzelt G u T . e , bis die Gattung im 2. Jahrzehnt des 18. J h . s eine vor allem der Aufklärung dienende beliebte und volkstümliche Lit.form wird, die sich bis ins 2. Jahrzehnt des 19. J h . s hinein behauptet (s. § 5). Faßmann hat als der Erneuerer der Gattung zu gelten, der - an die franz. Vorbilder anknüpfend - mit seinen Gesprächen in dem Reiche derer Todten (1718/39 u. 1740) eine modische Sonderform schafft (s. § 16), derer sich zahllose Nachahmer bedienen und der man mit Beifall, meist aber mit einer jeweils verschieden begründeten und teilweise heftigen Kritik begegnet. Daneben entsteht, vielleicht angeregt durch Faßmann, aber in bewußtem Gegensatz zu dem von ihm geschaffenen Typus (s. § 6), eine Vielfalt von GuT.en, deren Autoren unmittelbar an Lukian oder gleichfalls an Fontenelle, Boileau, Fénelon usf. anknüpfen (s. § 5) oder neue Formen schaffen und sich, was vor allem für die -2. H . d. 18. J h . s gilt, der Gattung als einer Kunstform bewußt sind (s. § 8d). Der Grundtypus der Gattung, Gespräche von Abgeschiedenen — meist histor. Persönlichkeiten - im Totenreich, steht im D t . allen anderen lukian. Modellen gegenüber im Vordergrund, so wie die sachbezogenen Gespräche die burlesk-komische Szene überwiegen (s. § 7). Aus dieser Periode und aus dem dt. Sprachgebiet stammen die meisten G u T . e überhaupt, wobei einzelne Gespräche oft nur in einem einzigen Exemplar nachweisbar sind und der Bestand bisher noch unvollständig erfaßt ist. Im folgenden können jeweils nur ausgewählte Beispiele vorgestellt werden, so daß für weitere

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Quellen auf die Lit. und zumal auf die Darstellung von Rutledge verwiesen sei. Von Faßmann und seiner Schule abgesehen erscheint die Mehrzahl der G u T . e als einzelne Beiträge zu Zss. unterschiedlicher Prägung (s. § 17), während eine Reihe von Gesprächen, die nicht in der Nachfolge Faßmanns stehen und z . T . ausgesprochen satir. Charakter haben, als Einzeldrucke veröffentlicht werden (s. § 18a); außerdem kommt seit den 60er Jahren des Jh.s eine Reihe geschlossener Samml. von GuT.en heraus (s. § 18 b). Wenn man im folgenden die Einteilung des Materials nach der Publikationsform vornimmt (s. § 8 c ) , so sind dabei Überschneidungen mannigfacher - formaler und inhaltlicher - Natur in Kauf zu nehmen. Die Grenzen zur Faßmann-Schule z . B . können nicht immer scharf gezogen werden, und besonders muß man auf eine Scheidung zwischen Triviallit. und Gesprächsdichtungen verzichten (s. §§ 5 u. 8c-d). § 16. F a ß m a n n u n d s e i n e N a c h f o l g e . Eine im Hinblick auf vielseitige politische, diplomatische und administrative Verwendung erhaltene Schulung und eine durch Reisen erworbene Welterfahrung, verbunden mit ausgedehnten gelehrten Kenntnissen, schaffen die Voraussetzung für das erfolgreiche journalist. Wirken David Faßmanns (1685-1744). Mit einem Gespür für die Bedürfnisse eines breiten Lesepublikums wählt er für seine historischpolitische Zs. die unterhaltsame Form des T . s (s. § 8c). Im Sinne der Aufklärung will Faßmann sowohl unterhalten als auch belehren und gelehrtes Wissen - zumal über politische Geschichte - auf eine allgemein verständliche Weise vermitteln und nicht zuletzt den unteren Ständen einen Einblick in Bereiche und Zusammenhänge gewähren, der ihnen bisher versagt worden ist (s. §§ 6 u. 8 c). Der vergleichsweise hohe Bildungsstand des einfachen Volkes in Sachsen sowie Leipzig als Verlagsort kommen diesen Absichten entgegen, die den Verf. andrerseits den kirchlichen und staatl. Autoritäten verdächtig machen und ihn zur anonymen Herausgabe seiner Totengespräche zwingen (s. § 8 c ) . Die immer wieder — u.a. schon durch Gottscheds Abgenöthigte Critique der sogenannten Gespräche in dem Reiche derer Todten von 1721 - erhobenen Einwände gegen die künstler. Unzulänglichkeiten der Faßmannschen Entrevuen (s. § § 6 , 7, 8 b u. d) .werden der Bedeutung dieser Zs. als einem

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O r g a n a u f k l ä r e r i s c h e r V o l k s b i l d u n g u n d einer f r ü h e n Journalist. F o r m nicht g e r e c h t . D i e T . e F a ß m a n n s sind f ü r dessen Verleger ein einträgliches G e s c h ä f t u n d e r m ö g l i c h e n d e m A u t o r die, w e n n a u c h stets g e f ä h r d e t e , E x i s t e n z eines f r e i e n Schriftstellers (s. § 8 d ) . Der anhaltende Publikumserfolgt macht N e u auflagen notwendig, f ü h r t zu R a u b d r u c k e n u n d r u f t v o r allem eine F l u t v o n N a c h a h m u n g e n h e r v o r , „ m e h r als sechzigerley G a t t u n g e n a n d e r e r T o d t e n g e s p r ä c h e " , die F a ß m a n n in d e r l e t z t e n N u m m e r ( v o n 1739) in einer Valetrede des Autoris an seine Todten-Gespräche unter d e n G r ü n d e n f ü r das Einstellen seiner Z s . n e n n t . D e r g r ö ß t e Teil d e r T . e , die F a ß m a n n s M o d e l l f o l g e n o d e r es a b w a n d e l n , fällt ins 2. u n d 3. J a h r z e h n t des 18. J h . s , d o c h hält die M o d e im 4. u n d 5. J a h r z e h n t an u n d w i r k t n o c h bis ins 19. J h . h i n e i n n a c h - in E i n z e l d r u c k e n , S a m m l . u n d selbst in F o r m v o n Zss. (s. § § 8 c , 9 a u . 19a). A u c h w e n n ihre D i a loge n a c h A u f b a u , U m f a n g u s f . v o m S c h e m a F a ß m a n n s a b w e i c h e n , b e k e n n e n sich die Autoren mit der Formel „Gespräch im Reiche der T o d t e n " z u d e r v o n i h m b e g r ü n d e t e n U b e r l i e f e r u n g , so e t w a J . R i c h t e r , Kaunitz und Herzberg. Ein Gespräch im Reich der Todten, den preuß. Separatfrieden betreffend ( W i e n 1795; s. § 9 c) o d e r d e r a n o n y m e V e r fasser eines Gesprächs im Reich der Todten zwischen Karl Theodor und Max Joseph, seinem Regierungsvorfahren ( M ü n c h e n 1799). Bereits in d e n 20er u n d 30er J a h r e n greifen die T h e m e n ü b e r das G e b i e t d e r P o l i t i k h i n a u s , u n d eine R e i h e dieser T . e befassen sich m i t F r a g e n v o n T h e o l o g i e u n d R e l i g i o n , so ein Besonders curieuses Gespräch im Reiche der Todten zwischen zweyen im Reich der Lebendigen hochberühmten Männern, Christian Thomasio . . . und August Hermann Francken (1729). U . a. d u r c h die W a h l d e r D i a l o g p a r t n e r w e i ß F a ß m a n n die Sensationslust d e r Leser a n z u s p r e c h e n (s. § 8 b ) , m i t d e r erst r e c h t viele seiner N a c h a h m e r r e c h n e n , i n d e m sie z . B. b e kannte Spitzbuben u n d Übeltäter usf. im G e s p r ä c h v e r e i n e n . E b e n s o b e r u h t die k o m i s c h e W i r k u n g v e r s c h i e d e n e r P a r o d i e n auf die T . e des F a ß m a n n - T y p u s (s. § 5) auf d e r b i z a r r e n Zusammenstellung der Sprecher. I m folgenden ist E r g ä n z e n d e s a) z u d e m F a ß m a n n s c h e n T y p u s u n d b) dessen V o r l ä u f e r u n d N a c h f o l g e zu bemerken. a) F a ß m a n n s Entrevuen. Der Titel der im Aug. 1718 in Leipzig anonym erscheinenden ersten

Nummer lautet: Gespräche In Dem Reiche derer Todten Nebst dem Kern der neuesten Merckwürdigkeiten und sehr wichtig darüber gemachten Reflexionen, mit dem Untertitel: Erste Entrevue, zwischen Leopold I, Römischer Kay ser . . . und Ludovicus XIV, König in Frankreich . . . (s. § 8 d). Bis 1739 erscheinen 240, im Durchschnitt 80 Quartseiten starke, Entrevuen, die zu je 16 Nummern in 15 Bänden mit einem Register zusammengefaßt werden, worauf 1740 noch ein abschließender Supplementband mit weiteren Verzeichnissen folgt. Der Aufbau der einzelnen Entrevue bleibt von der ersten bis zur letzten Nummer derselbe. — Im Totenreich, als locus amoenus gestaltet, treffen zwei berühmte geschichtliche Persönlichkeiten aus älterer öder neuerer Zeit zusammen, meist Monarchen, aber auch Feldherrn, Minister, Gelehrte, Schriftsteller, geistliche Würdenträger, Mätressen usf. Der eine Gesprächspartner erzählt dem anderen seine Lebensgeschichte und wird gelegentlich durch Fragen unterbrochen; am Ende verliest ein Sekretarius die vom Boten Merkurius überbrachten „ M e r k w ü r d i g keiten" aus dem Diesseits, über welche die beiden Personen „sonderbare Reflexionen" machen (s. §§ 8d u. 9a). Je nach dem Interesse, mit welchem die Gesprächspartner bei der Leserschaft rechnen können, werden sie - wie etwa Alexander der Große, Nero, Augustus u. Prinz Eugen - in einer zweiten oder weiteren Entrevuen erneut zusammengef ü h r t . — Der Zs. ist ein für die 1. H . d. 18. Jh.s ungewöhnlicher Erfolg beschieden. Die durchschnittliche Auflage einer Entrevue beträgt 3000 Exemplare, einzelne Nummern erreichen bis zu fünf Auflagen, und in einem Fall soll es auf eine Zahl von 15000 Exemplaren gekommen sein. b) V o r l ä u f e r u n d N a c h f o l g e . Faßmann beruft sich auf das Vorbild Fontenelles und später auch Fénelons, doch beschränken sich die Gemeinsamkeiten auf wenige Züge wie die Wahl geschichtlicher Persönlichkeiten verschiedener Zeitalter als Gesprächspartner, während Anhaltspunkte für eine direkte Kenntnis Lukians fehlen (s. §§ 5 u. 7). Andrerseits haben Faßmanns Entrevuen als periodische Veröff. von T.en Vorläufer (s. § 9 a ) , unter denen als mögliches Vorbild etwa folgende anonyme Monatsschrift zu nennen ist: Historische-Politische und Philosophische Krieg- und Friedens-Gespräch Auf das jetzt neu-eingehende 1683. Jahr. Worinnen auch allerley leß- und merckwürdige Discursen, unter dem so genannten frantzösiscben Kriegs-Simplicissimo, in den Elysäischen Feldern Aller Monatlich deß gantzen Jahrs abgehandelt werden. Im Laufe des 18. Jh.s erscheinen noch weitere periodische Folgen von T.en mit kürzerer Lebensdauer, darunter ein weiteres Faßmannsches Unternehmen in 5 Teilen (von 1737/40 u. 1742), Die neuentdeckten Elisäischen Felder und was sich in denenselben sonderbares zugetragen; ]. Z. G l e i c h m a n n s Merkwürdige Staats- und Kay sergespräche im Reiche der Todten (Erfurt 1747/51), auf die (1754) noch

Totengespräch Ertzbischöffliche und Churfürstliche Gespräche in der stillen Gesellschaft des Reichs der Todten folgen. Der Nürnberger Chr. J. R i c h t e r kommentiert den Siebenjährigen Krieg mit seiner monatlich herauskommenden Geschichte des jetzigen Kriegs zu unpartheyischer Erkenntniß seines Anfangs und Fortgangs in Gesprächen im Reiche der Todten vorgestellt (1757/63). Die Aufhebung des Jesuitenordens wiederum (1773) veranlaßt eine Reihe von T.en, u. a. elf Stücke von Chr. K. Korn (1774/75) und weitere von J. F. Gaum (s. § 9c); letzterer zählt zugleich zu den Autoren, die Friedrich II. von Preußen nach dessen Tod (1786) zu einer stehenden Figur der Gattung machen, im Todesjahr sind es neben Gaum noch andere Bewunderer des Königs wie S. J. S c h r ö c k h , Friederich im Elysium (s. § 8c), während unter den krit. Stimmen C. I. G e i g e r zu nennen ist, der in einer Totengerichtsszene - Friedrich II. als Schriftsteller im Elysium. Ein dramatisches Gemälde (1789) - den König seiner Freigeisterei wegen zur Rechenschaft ziehen läßt (s. § § 8 c u. 18b). Die verschiedenartigsten öffentlichen und privaten Ereignisse von unmittelbarem Interesse für die Gegenwart (s. § 8a) geben den Anlaß zu einzelnen T.en des Faßmannschen Typus, im weitesten Sinne verstanden, was die Gattung als eine bevorzugte literar. Zweckform des Jh.s bestätigt. Es können Todesfälle, unerhörte Vorkommnisse, Jubiläen usf. sein, so wie z. B. aus dem Gedenkjahr des Nürnberger Religionsfriedens von 1532 ein Historisches Jubel-Gespräche im Reiche derer Todten, zwischen Martin Luther und Johann Tetzein (Hamburg 1732) stammt.

§ 17. Z e i t s c h r i f t e n b e i t r ä g e . Die Zss. des dt. 18. Jh.s, deren Beiträger sich mit Vorliebe der Gattung zuwenden, sind nicht für zünftige Gelehrte, sondern für das allgemeine, dem gehobenen Bürgertum zugehörige Lesepublikum bestimmt. Durch ein mehr oder weniger fest umrissenes erzieherisches Programm im Sinne der Aufklärung heben sich a) die Moralischen Wochenschriften (s. d.) von den b) mit dem 4. Jahrzehnt aufkommenden Zss. verschiedener Prägung ab, die u. a. nicht nur belehren, sondern auch unterhalten wollen und in denen literar. oder ästhetischen Fragen mehr Bedeutung eingeräumt wird. Beiträge zu Almanachen und Anthologien gehören gleichfalls hierher. In manchen Fällen handelt es sich bei diesen als Einzelbeiträge erschienenen GuT.en um Vorabdrucke, die später einem Zyklus oder der Werkausgabe eines Autors einverleibt werden. a) M o r a l i s c h e W o c h e n s c h r i f t e n (s. d.). Im Gegensatz zu den engl. Vorbildern, die so gut wie keine T.e enthalten, wird in den dt. Moralischen Wochenschriften - in einem weiten Sinne verstan-

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den - von der Gattung als einer lehrhaften Form reger Gebrauch gemacht; die Herausgeber preisen Lukian und Fontenelle als ihre Vorbilder, während sie Faßmann verurteilen. Abgesehen von formalen Einwänden beanstanden z.B. Bodmer in den Discoursen der Mahlern (1721) und in ähnlicher Weise Gottsched (s. § 8 c) in den Vernünftigen Tadlerinnen (1725/26) von der Warte ihrer bürgerl. Moralbegriffe aus, daß in den Entrevuen die Welt der Politik und der galanten Höfe im Mittelpunkt stehe. Die eigenen GuT.e der Beiträger sind wie diejenigen Lukians und Fontenelles kürzer, nehmen nur ausnahmsweise eine ganze Nummer ein und werden als lebhafte, z.T. witzige Dialoge gestaltet. Der Absicht der Autoren, über moralische Handlungen ein Urteil zu sprechen, kommt in besonderem Maße die Gerichtsszene in der Unterwelt entgegen (s. § 4a), die in diesen Zss., abgesehen von denen der Wiener, mit auffallender Häufigkeit erneuert wird, wofür neben Bodmer (s. §8c-d) u.a. die Danziger Mühsame Bemerckerin derer Menschlichen Handlungen (1736) oder das Lübecker Allegorische Bildercabinet, oder anmuthige Sittenlehre . . . (1750) Beispiele liefert - dort mit der Szene Rhadamanthus, Oder Abbildung des Richterstuhls im Reiche der Todten, und ebenso der Bienenstock. Eine Sittenschrift der Religion und Vernunft gewidmet (Hamburg u. Leipzig 1756) mit dem Beitrag Gerichte in dem Felde der Wahrheit. Die Gesprächspartner sind nicht mehr vorwiegend polit. Persönlichkeiten der europäischen Geschichte, sondern neben den stehenden Figuren der antiken Überlieferung u. a. als Typen gezeichnete anonyme Schatten und im Hinblick auf die Leserschaft der Wochenschriften vielfach Frauengestalten, so in Octavia und Julia, ein Todtengespräche, in Ninon von Lenclos, und Phillis, ein Todtengespräche aus dem Wiener Verbesserer (1766 u. 1767), oder in der Zs. Theresie und Eleonore des Wieners Sonnenfels (1767), wo Ariadne und Sappho ein Gespräch über die Motive ihres Selbstmordes führen. In einer Gerichtsszene in Gottscheds Tadlerinnen (1725) mit dem Titel Proserpina, Mercurius, etliche Geister verstorbener Weibsbilder wird sogar das Richteramt des überlasteten Minos einer Göttin übertragen. - Unter den Themen, die im GuT. der Wochenschriften kritisch erörtert werden, beanspruchen Lit. und Schaubühne neben allen anderen Lebensbereichen einen gewichtigen Platz, wobei die Gattung den Autoren u. a. dazu dient, künstler. Formen zu bekämpfen, die sie der galanten Welt des Hofes zurechnen und in deren leichtfertiger Weltlichkeit sie eine Gefahr für die bürgerl. Leser und Leserinnen erblicken. So läßt z.B. Bodmer in einer Gerichtsszene den (barocken) Roman verurteilen (s. § 8 c), so wenden sich die Verfasser gegen Komödie und Oper. b) Z e i t s c h r i f t e n verschiedener Prägung. Im Gegensatz zu den Gesprächen der Moralischen Wochenschriften zeichnen sich diejenigen in den Zss. vermischten Inhalts durch eine größere Vielfalt

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von Formen und Themen aus, berufen sich aber wie jene auf Lukian und andere außerdt. Muster und enthalten gleichfalls Uber.en lukian. GuT.e. Bei den Neugestaltungen tritt neben das T. auch das G., z. B. im Neuen gemeinnützigen Magazin (1761/62) oder in den Neuen Belustigungen des Gemüths (Hamburg und Leipzig 1745), dort noch mit einer mißverständlichen Gattungsbezeichnung: Merkur und Momus. Ein Todtengespräch. Die Wahl der Gesprächspartner - ein konstitutives Element der Gattung (s. §§ 4b, 5, 8b-c usf.) - gibt Aufschluß über die von den Autoren dieser GuT.e bevorzugten Möglichkeiten der Uberlieferung. In seinem - in den Belustigungen des Verstandes und Witzes (von 1741) erschienenen - Democritus. Ein Todtengespräche, stellt J. E. Schlegel den Titelhelden von Regnards Stück in satir. Absicht dem Verf. gegenüber (s. §§ 5 u. 8c), und ähnlich wird in den Westphälischen Bemühungen zur Aufnahme des Geschmacks und der Sitten (1754) der Schreiberling Faßmann mit dem großen Swift ins Gespräch gebracht; oder der Dichter mit dem Schulmeister wie im T.e. Horaz. Orhil aus den Neuen Bremer Beyträgen (von 1745), wobei es sich im letzten Falle zugleich um eine im dt. T. des Zeitalters öfters veranstaltete Wiederbegegnung des Schülers mit seinem ehemaligen Lehrer handelt. In diese Reihe fügt sich ein im Deutschen Museum (1784) gedruckter und A. G. M e i ß n e r zugeschriebener Dialog, wie K. Ludewig XIV. und Fenelon ihn gehalten haben könnten, in welchem ähnlich wie bei Lukian der Gesprächspartner von geringerem Stande der überlegene Herausforderer ist (s. § 4 b ) . - Im Sinne Fontenelles (s. § 8b) richtet schon N. H. G r ü n d ling - in seinem Sammelbd. Grundlingiana (von 1715) — ein Gespräch zwischen Michel Montaigne und dem Archimedes ein; ähnlich bringen die Hamburger Unterhaltungen (von 1766) ein T. zwischen Horaz und einem neuern Gelehrten oder W. L. W e k h r l i n in seinen Chronologen (1779) ein solches zwischen Cornelius Tacitus und Magister Schönfleck, während D. C. Seybold im Deutschen Museum (von 1787) mit dem Titel Pluto, Hannihal, Alexander, Scipio, Epaminondas, Conde, Turenne, Marschal von Sachsen die Comparatio erneuert (s. § § 4 a u. 12d). Mit den 60er Jahren pflegen klassisch gebildete Autoren wie B o d m e r (s. §§5, 8a u. 18b) in vermehrtem Maße Gespräche unter antiken Gestalten einzurichten, u. a. um mit einem Blick auf die Gegenwart literar. oder ästhet. Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Sprache zu bringen, so wie in einem T. Achilles. Homerus — im Neuen gemeinnützigen Magazin für die Freunde der nützlichen und schönen Wissenschaften und Künste (1760) - gefragt wird, ob Stoff oder Darstellungskunst die Größe der klass. Autoren ausmache, oder wie im folgenden Jg. dieser Zs. Ein T., zwischen dem Menippus und Lycamhas (d. h. zwischen Satiriker und Zielscheibe einer Satire) den gegenwärtigen Stand dieser Gattung erkundet; G ö c k i n g k wiederum läßt

Demokrit und Heraklit. Ein Gespräch im Reiche der Schatten führen (1773), das in der Auswahl der besten zerstreuten prosaischen Aufsätze der Deutschen (von 1780) erscheint und in welchem von gegensätzlichen Standpunkten aus Kritik an Eigenheiten der zeitgenöss. Deutschen geübt wird. Wieland veröffentlicht im Teutschen Merkur (1780 u. 1782) im Vorabdruck drei Dialogen im Elysium antiker Prägung (s. § 8 c ) , die nach wiederholtem Druck in Wielandschen Teilsamml. zuletzt dem 25. Bd. (von 1796) seiner Sämmtlichen Werke unter dem Titel Gespräche im Elysium einverleibt werden. Gleichfalls im Merkur erscheinen (1783), in Akte und Auftritte gegliedert, Die schöne und häßliche Seele. Scenen im Elysium von Merck, in denen Glycerion (die schöne Seele) und Aspasia (die häßliche Seele) zusammen mit Gestalten aus dem Kreis um Sokrates auftreten und die für das 18. Jh. bedeutsame Streitfrage, was eine „schöne Seele" sei, vor Minos verhandelt wird. — Wieland läßt im Merkur (1787) Eine Lustreise in die Unterwelt folgen (s. §§ 8 a u. du. 9 b), die er (1797) überarbeitet als Eine Lustreise ins Elysium in seine Gesamtausgabe aufnimmt; und in den Jgg. 1788/89 bringt er in Fortsetzungen etwa die Hälfte seines Peregrin und Lucian. Ein Dialog im Elysium, der, zum Ganzen gerundet, (1791) unter dem Titel Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus erscheint und als Peregrinus Proteus (1797) in den Sämmtlichen Werken Aufnahme findet (s. § 8 b u. d). Wie der Peregrinus-Roman von seiner Ubers, der Sämmtlichen Werke Lukians angeregt wird, so führt Wielands Beschäftigung mit dem Vorbild auch zu seiner Erneuerung des G.s (s. § 6); drei Stücke enthält seine Zs. (1790) im Vorabdruck, die in den unter dem Titel Neue Göttergespräche (1791) in Buchform erscheinenden Zyklus von zwölf Dialogen eingehen. Ein weiteres G. folgt im Neuen Teutschen Merkur (von 1793), das mit den anderen (1796) in der Gesamtausgabe vereint wird. Acht der XIII G.e Wielands haben ihre harmlosen Themen und „Geist und Laune" mit den lukianischen gemein, während die fünf übrigen - darunter das XI. (s. § 8 a) - zu Fragen der Franz. Revolution Stellung nehmen. — Als Beiträge zum Musenalmanach für das Jahr 1797 gehören auch die Schillerschen Xenien in diesen Zusammenhang (s. §§5, 8b-c u. 9e). Das in B o il eau s Les héros de roman vorgebildete Auftreten dichter. Gestalten in der Unterwelt (s. § 5) wird von B o d m e r in das T. der dt. Zs. eingeführt (s. § 8c-d), von A. G. K ä s t n e r mit dem in Einigen Vorlesungen (1768) erschienenen Agathon und Tom Jones. Ein Romanheldengespräch erneuert (s. § 5 ) und von W. L. W e k h r l i n mit der Szene Der Schatten des Schach-Lolo vor seinem Richter in seiner gesellschaftskrit. Zs. Das graue Ungeheuer (1786/87) aufgegriffen. Wieland selbst bedient sich der Sonderform im Attischen Museum (1800), in seinem Agathon und Hippias, ein Gespräch im Elysium. Dazwischen ist ein der Faß-

Totengespräch mann-Schule verpflichteter, in zwei Teilen erschienener Druck einzureihen, Gespräche im Reiche der Todten zwischen Telemach und Robinson Crusoe (Frankfurt u. Leipzig 1739/40). — Auch die Traumfiktion begegnet, abgesehen von Wielands Lustreise, im dt. 18. Jh. auch sonst, so bei Th. J. Quistorp in einem - an Kleists Frühling im Sinne Gottscheds Kritik übenden - Gespräch im Traume, mit dem Hrn. v. Canitz, über die neumodische hieroglyphische Schreibart aus dem Neuen Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1750). Unter den Zeitgenossen, die nach ihrem Ableben in den als Beiträgen erschienenen T.en häufig begegnen, ist neben Lessing wiederum Friedrich II. von Preußen zu nennen (s. §§ 8c u. 16b), der, für den Verfasser ein Gegenstand nationaler Verehrung, in C. F. D. Schubarts Vaterländischer Chronik (1787/89) in vier, der Faßmann-Schule nahestehenden, polit. Gesprächen auftritt. Andernorts wird der König mit Philosophen und Dichtern zusammengeführt; wie später bei Grillparzer (s. § 8c) halten im Neuen deutschen Museum (1790) Friedrich der Große und Lessing ein Todtengespräch, hier über das Drama, wobei der erste für Voltaire, der zweite für Diderot eintritt, und ebenda vorher Friedrich der Zweite, Voltaire und Wolf. — In einem Gespräche im Reiche der Schatten, zwischen Klotz, Lessing und einem Landpriester aus dem Journal aller Journale (Hamburg 1786) wird Lessing vorgeworfen, er habe durch Veröffentlichung der Wolfenbütteler Fragmente den Glauben des einfachen Mannes gefährdet, und auch in einem anonymen Einzeldruck vom folgenden Jahr deutet die Zusammenstellung der Gesprächspartner - Lessing, Mendelssohn, Risbeck, Goeze, ein Todengespraech - auf eine theolog. Auseinandersetzung. — In weiteren Beiträgen zu Sammelbänden erscheint Lessing u.a. im Zwiegespräch mit Lichtenberg (bei D. Jenisch, 1802) und mit Ramler (bei Falk, 1803; s. § 9a) usf. (s. §§ 18a u. 19a). § 18. E i n z e l d r u c k e u n d S a m m l u n g e n . Die im folgenden unter a) vorgestellte, in sich ungleichartige Gruppe der als Einzeldrucke erschienenen G u T . e unterscheidet sich von der Nachfolge Faßmanns durch die Themen aus dem Bereich von Lit., Philosophie oder Theologie und durch einen mehr oder weniger betonten satir. Charakter (s. § 8 c ) , während unter b) die in der zweiten H . des J h . s erschienenen Samml. von GuT.en aufgeführt werden, die durch Thematik, Wahl der Sprecher usf. jeweils in sich geschlossene Zyklen bilden. Auch wenn die Autoren von Faßmann z . T . bewußt abrücken, hat der von ihm geschaffene Typus der Gattung ihr besonderes Gepräge gegeben, so daß die Autoren des dt.

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18. Jh.s ihm oft, wissentlich oder nicht, in Einzelzügen folgen. a) Einzeldrucke. J. W. Steinauers Gespräche zwischen Johann Christian Günther aus Schlesien In dem Reiche der Todten Und einem Ungenannten In dem Reiche der Lebendigen (Breslau 1739), die u.a. der Kritik an einer im Vorjahr erschienenen Günther-Biographie dienen, erinnern im Titel und in weiteren Elementen an die Entrevuen, was den Gottschedianer Steinauer veranlaßt, sich wegen des Gebrauchs dieser Form zu entschuldigen; in den anonymen Freundschafftlichen Unterredungen der Seelen David Faßmanns und Thomas Hobbes', durch welcher beyder Charakter moralisch zergliedert werden (Wiesenthal u. Malmesburg 1751) ist die Satire auf Faßmann geradezu das Thema. — Das verwirrete und wieder beruhigte Reich der Todten. Eine Lucianische Satyre, ohne Vorrede (Köln 1746) folgt dem lukian. Modell des Urlaubers aus dem Totenreich; dieser, es ist Lukian selbst, berichtet von einem in der Unterwelt zwischen Philosophen und Theologen ausgebrochenen Krieg. In Goethes Götter, Helden und Wieland. Eine Farce (1773 entstanden u. 1774 gedruckt) wird die burleske Szene lukianisch-aristophan. Herkunft im Geiste der Geniezeit erneuert (s. § 7) und geht mit einer Reihe anderer Motive der Uberlieferung eine glückliche Verbindung ein, wodurch das Werk zu einer der gelungensten Verwirklichungen der Gattung wird. Es folgt dem Modell der Hadesfahrt eines Lebenden (s. §§ 1 u. 5), der sie, was u. a. an die G.e des Hans Sachs erinnert (s. § 13), im Traum unternimmt. Der Hadesfahrer Wieland, als ein ängstlicher Bürger gezeichnet, begegnet - ähnlich Regnard bei J. E. Schlegel - den Urbildern der in seinem Singspiel Alceste auftretenden Gestalten von Angesicht zu Angesicht (s. §§5, 8 c u. 7 b), wobei der junge Goethe die griech. Götter und Helden zu Figuren des Sturm und Drang (s. d.) formt. Veranlaßt wird die Satire u. a. durch die Briefe . . . über . . . Alceste, in denen Wieland der eigenen, modernen Bearbeitung im Vergleich mit seiner griech. Vorlage, der Alkestis des Euripides, den Vorzug gibt. Das anonyme satir. Gespräch zwischen Voltaire und Hr. D. Bahrdten im Reiche der Todten, in welchem dieselben einander ihre Begebenheiten erzählen (Mühlhausen 1780), verrät in der Fassung des Titels den Einfluß der Entrevuen; erörtert werden Lebensgeschichte und philosophisch-theologische Fehden des umstrittenen und damals ironischerweise noch unter den Lebenden weilenden K. F. Bahrdt (s. §5); A. G. Meißners Lope di Vega, Lessing und Pastor Richter. Eine Anekdote aus der Unterwelt (Leipzig 1782) gestaltet einen Rangstreit der Dichter (s. §4c), in welchem der eben angekommene Lessing, von dem auf seine Fruchtbarkeit pochenden spanischen Dramatiker herausgefordert, auf den Görlitzer Pastor und dessen die Dramen Lope de Vegas an Zahl weit übertreffenden Predigten

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verweist. — J . J. Perinet schließlich, ein Autor des Wiener Volkstheaters, auf dem burlesk-komische Szenen in Hades und Olymp in Mode sind, gibt auch dem Nachruf auf den Kasperl-Darsteller die Form eines T.s - vielleicht ein Nachwirken der FaßmannTradition (s. § 16b): Laroches Todtenfeyer oder Des sog. Kasperls Gespräch am jenseitigen Ufer des Styx mit dem Schatten eines seiner Directeure. In Knittelreimen (1806); und ähnlich im selben Jahr: Der weyland Casperl aus der Leopoldstadt im Reiche der Todten. Ein Gespräch in Knittelversen. b) Sammlungen. Vorläufer und mögliche Anregungen sind die lukian. Götter-, Meergötter- und Totengespräche (s. §4a) und die außerdt. Zyklen Fontenelles, Fenelons, Lytteltons usf. W. E. N e u gebauer, ein Anhänger Bodmers und Klopstocks, erfüllt in seinem gesellschaftskrit. Versuch in Totengesprächen (1761), einer Folge von fünf Stücken, die künstler. Forderungen der Gattung, u. a. in einem Gespräch zwischen einem anonymen Buchhändler und einem Dichter, dessen Werke nicht veröffentlicht worden sind, oder zwischen Justinian, dem Gesetzgeber, und Juvenal, dem Satiriker, über Für und Wider der Satire (s. § 17b), wobei der Leser jeweils selbst zur Urteilsbildung gezwungen wird. — In B o d m e r s zwölf Gesprächen im Elysium und am Acheron (1763) - neun davon werden aus den Neuen Critischen Briefen vom selben Jahr wiederholt sind die Gesprächspartner fast ausschließlich Gestalten der röm. Geschichte, was der Samml. ihre Geschlossenheit gibt (s. § 8 a). Der Autor verweist auf die Anregung Lytteltons (s. § 5), dessen Samml. 1761 in J. G. H. Oelrichs auch einen dt. Übersetzer gefunden hat. — Mit erzieherischer Absicht verfaßt J. Wegelin seine Folge von zwanzig Dialogen, Religiöse Gespräche der Todten (1763) und läßt zwischen geschichtl. Persönlichkeiten wie Erasmus und Luther (s. § 12a) Glaubensfragen erörtern. — J. K. Faesi, der Bodmer nahesteht, veröffentlicht einen Band Todtengespräche über wichtige Begebenheiten der mittleren und neueren Geschichte (1775) und läßt einen zweiten Band folgen: Unterredungen verstorbener Personen über wichtige Begebenheiten der altern, mittlem und neuern Geschichte (1777), mit Gesprächspartnern aus dem 15. bis 17. Jh., während der von Wieland geschätzte Lukian-Kenner D. Chr. Seybold mit seinen Neuen Gesprächen im Reich der Todten. Nach Lucianischem Geschmack (1780) eine u.a. durch die Zusammenstellung der Gesprächspartner künstlerisch bedeutsame Samml. schafft; sieben der neun T.e hat der Autor schon vorher in seinem Roman Reitzenstein (1778/79) vorgelegt. — 1791 folgt die Buchausgabe von Wielands Neuen Göttergesprächen (s. § 17b). Die Lit. zur Geschichte des GuT.s im Frankreich und England des 17. Jh.s wird hier nachgetragen, da für das dt. 17. Jh. ein eigenes Kap. entfällt.

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die an das G u T . erinnern und b) von dieser Gattung abzugrenzen sind (s. § § 3 u. 7). a) Totengespräch. Als Nachfahren der polit. und philosophischen GuT.e des 18. Jh.s (s. §§8 u. 16) können Stücke wie Buonaparte und Londonderry. Ein Gespräch im Reiche der Todten (München 1822) gelten, die Fegfeuer-Gespräche der 70er Jahre des 19.Jh.s (s. § 8c) oder Friedrich M. Reifferscheidts Facetten der Freiheit. Ein Totengespräch (1951), in welchem Lessing und Mendelssohn mit Blick auf den sich herausbildenden Gegensatz zwischen Ost- und Westdeutschland verschiedene Begriffe von Freiheit - bürgerliche, polit. Freiheit usf. beleuchten. — Literar. Themen überwiegen, wobei die Gesprächspartner - ausgenommen in Pionteks Dreiergespräch (1977; s. §§ 6, 7 u. 8 c) - meist Dichter und Philosophen der Vergangenheit und zumal des 18. Jh.s sind, so in G r i l l p a r z e r s T . (1841) zwischen Friedrich II. und Lessing (s. § 8c u. d) oder bei Ernst Woldemar, Ein Gespräch im Elysium (1822), in welchem Wieland (s. §§ 5 u. 8 b) eine im Zeitalter seiner Verkennung seltene Gelegenheit erhält, seine Lebensphilosophie und sein Dichtertum gegenüber Klopstock, Rabener, Uz, Gleim und Geliert gegen die üblichen Vorwürfe zu verteidigen, während die Theaterdichter in der Unterwelt, Shakespeare, Racine, Aristophanes, Lessing, Schiller, Goethe usf. in Julius Knittels „Quodlibet" (1840 in Knittelversen) bei einem Intendanten über den schlechten Geschmack auf dem zeitgenöss. Theater klagen. — Ein in Blankversen abgefaßtes, im Anschluß an Goethes Tod entstandenes anonymes Dramatisches Gespräch im Reiche der Todten, zwischen Schiller, Wieland, Iffland, Kotzebue und Göthe. In vier Abtheilungen (Quedlinburg u. Leipzig 1833) interessiert durch die Fiktion, daß die genannten Dichter bei ihrer Ankunft die anderen Toten über die neuesten Weltereignisse unterrichten; sie alle gelangen zu der Uberzeugung, daß angesichts des kulturellen Niedergangs das irdische Leben nicht mehr lebenswert sei. —- Aus dem 20. Jh. ist Herbert Eulenbergs mit Modernismen durchsetzte Hadesszene Lord Byron (aus den Schattenbildern, 1910) zu nennen, in der neben Byron u. a. der neu eingetroffene Oscar Wilde und Shelley auftreten; oder Oskar Kanehls Goethe und Lessing. Ein Gespräch im Himmel (1913) über Kunst und Künstler. Alfred Polgars satir. Traumgespräch zwischen Genius und Dichter (Prolog zu einer Pantomime) (aus seiner Samml. In der Zwischenzeit, 1935) ebenso wie eines „Interviewers" Gespräch mit Judith (aus Polgars Standpunkten von 1953), in welchem die Enthauptung des Holofernes durch Judith als eine polit. Lüge entlarvt wird, stellen gelungene eigenwillige Neugestaltungen dar. Neben dieser ergänzungsbedürftigen Liste von Einzeldrucken oder einzelnen Beiträgen zu Samml., Zss. und Zeitungen sind zwei dt. Samml. zu ermitteln, neben den formal einen Grenzfall bildenden

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T.en Mauthners (1906 u. 1919; s. § 9 b), die dem Geist der Gattung gemäße Samml. Moderne Totengespräche „von Lucian dem Jüngeren" (Berlin 1889), deren anonymer Verf. unmittelbar an das lukian. Vorbild anknüpft. In den 28 Gesprächen unterhalten sich Neuankömmlinge, Typen aus des Verfasser Gegenwart, miteinander oder mit stehenden Figuren wie Äacus und Charon über kultur-, gesellschafts- oder literaturkrit. Themen aus dem zeitgenössischen Deutschland, Preußen oder Berlin. So ist Nr. 2 Klub -Schulze und Verein-Meier betitelt, die gegen den Antisemitismus gerichtete Nr. 17 Der gehetzte Jude - d. h. der Jude Israel kann nicht schnell genug in Charons Nachen gelangen, um seinen Verfolgern zu entgehen - während z . B . Nr. 19 Der Göthekenner, Nr. 26 Der Socialdemokrat überschrieben sind usf. In der Sprache, die nicht antikisierend, sondern umgangssprachlich modern ist, bestätigt sich der Journalist. Charakter des Werkes.

Verurteilung des Lukullus zutrifft. — Sartre bezieht sich in Huis Clos ironisch auf herkömmliche Höllenvorstellungen, sein Totenreich aber ist ein Hotelzimmer der Gegenwart, in welchem nacheinander drei Personen eintreffen und entdecken müssen, daß sie auf alle Ewigkeit zusammengesperrt sind; das u.a. im 2. lukian. Totengespräch im Keim angelegte Motiv, den Quälereien der anderen Toten ausgeliefert zu sein, wird hier in seiner Konsequenz gezeigt und in dem Satz „l'enfer, c'est les Autres" zusammengefaßt (s. § 8b). — In der 3. Szene von Hauptmanns Finsternissen wiederum begrüßen der Prophet Elias, der Jünger Johannes und Ahasver den jüngstverstorbenen Kommerzienrat Joel, der sie in seine Villa zu Gast geladen hat, und im 3. Akt von Wilders Our Town knüpft Emily Webb bei ihrer Ankunft auf dem Friedhof ein Gespräch mit den anderen Toten an.

Durch die Emigration des aus Deutschland stammenden Peter Gay (d.i. Peter Froelich) sind auch seine klass. T.e, The Bridge of Criticism (1970), dem dt. Sprachbereich verloren (s. §§6, 7 u. 8 b). Maurice J o l y s Dialogue aux enfers . . . (s. § § 6 , 7, 8 b-d) findet schon ein Jahr nach dem Erstdruck von 1864, also noch vor Leisegangs aus dem Geist der Neubesinnung nach dem Zweiten Weltkrieg entstandener Übertragung einen dt. Ubersetzer, Gespräche aus der Unterwelt zwischen Macchiavelli und Montesquieu oder die Politik Macchiavellis im 19. Jahrhundert, „von einem Zeitgenossen" (Leipzig 1865); R i l k e überträgt 1927 das 1923 erschienene T. Valerys Eupalinos oder Der Architekt (s. §§ 6 u. 7).— Bei den in diesem Zusammenhang häufig genannten Erdachten Gesprächen von Paul E r n s t (München 1921) handelt es sich jedoch um keine T.e, sondern um Gespräche unter Lebenden, histor. oder fiktiven Gestalten, und solches gilt gleichermaßen für die von Rudolf B o r c h a r d t (1923) aus dem Engl, übersetzte Auswahl von Walter Savage Landors Imaginären Unterhaltungen.

Die Überraschung der Neuankömmlinge und ihre Eingewöhnung ins Totenreich - letzteres schon ein Thema in Wielands Dialogen im Elysium (s. §§ 5 u. 8b) - begegnet in Stücken Max F r i s c h s , u.a. im Nachspiel, einer „Burleske", in welcher herkömmliche christl. Höllenvorstellungen und Anklänge an Goethes Faust parodistisch zu einer bürokratisch organisierten modernen Hölle verarbeitet werden und in welcher das Ehepaar Biedermann herausfindet, daß es sich statt im Himmel in der Hölle befindet. Das im Nachspiel und vorher im „Versuch eines Requiems" Nun singen sie wieder (1945/46) im Mittelpunkt stehende Thema der Schuld, das Frisch im Triptychon, „Drei szenische Bilder" (1978), von neuem aufgreift, wird im GuT. auf solche Weise nur selten gestellt. Auch vermag von dieser Gattung aus gesehen die in den beiden letztgenannten Stücken gewollte traumhafte Unbestimmtheit von Ort und Zeit, die Vermischung von Diesseits und Jenseits nicht zu überzeugen; dem Autor gelingt es offenbar nicht, die dramatechnischen und motivischen Anleihen mit den eigenen Einfällen zu einem künstlerisch schlüssigen Ganzen zu verschmelzen.

b) Modernes Drama. Die hierher gehörenden Gestaltungen des Jenseits sind dramat. Kleinformen, Einakter wie Sartres Huis Clos (1944/45) oder das Nachspiel (von 1958) zu Max Frischs „Lehrstück ohne Lehre" Biedermann und die Brandstifter, und andrerseits Episoden innerhalb von Stücken wie Gerhart Hauptmanns (1937 entstandenes, 1947 gedrucktes) „Requiem" Die Finsternisse oder Thornton Wilders Our Town (1938). Dabei ist der Ubertritt ins Totenreich (s. § 4a u. 8b) für die modernen Autoren wie für die Lukian-Tradition von besonderem Interesse. Den GuT.sdichtungen am nächsten steht B r e c h t s Hörspiel Verhör des Lukullus (1939; s. §§ 6 u. 7), auch wenn es seiner Sprachgestalt nach mehr der griech. Tragödie als der lukianisch-aristophan. Uberlieferung verpflichtet ist, was noch mehr auf die Erweiterung des Verhörs zum Libretto der von Roger Sessions (1947) und erneut von Paul Dessau (1951) komponierten Oper Die

Während die Urlauber aus der Unterwelt im GuT. auf die Erde zu kommen pflegen, um die in der Gegenwart des Autors herrschenden Zustände kennenzulernen und kritisch zu beleuchten (s. §§ 4 a u. 8 a), wollen die Toten im modernen Drama aus persönlichen Gründen ins Leben zurückkehren, so wie der Durchschnittsmensch Ulysses in Salacrous L'inconnue d'Arras (1935/36) nach seinem Selbstmord die Stationen der eigenen Vergangenheit nochmals durchläuft, um den Sinn oder Unsinn seines Lebens kennenzulernen; oder wie Emily in Wilders Our Town am Begräbnistag ihren 12. Geburtstag wiederholen darf, und indem sie aus der Erfahrung des Todes auf das Leben zurückblickt, sich dessen Wertes bewußt wird. Den Helden in Sartres Les jeux sont faits (1947) wiederum gestattet man die Rückkehr ins Leben unter einer Bedingung, die ähnlich wie im Orpheus-Mythos nicht erfüllt werden kann, und im „letzten Bild" von Frischs Nun sin-

Totengespräch — Totentanz gen sie wieder kommen die Toten auf die Erde, um mit ihren im Tod gewonnenen Einsichten die Lebenden aufzuklären, ohne jedoch von diesen wahrgenommen zu werden. — Dem Geist der GuT.e widerspricht das Auftreten von Gestalten aus dem Jenseits, sofern es sich dabei wie in H a u p t m a n n s „Traumspiel" Hanneies Himmelfahrt (1893) oder in H o f m a n n s t h a l s Thor und Tod (1893/94) um Erscheinungen in der Vorstellung von Lebenden oder Sterbenden handelt. — Einen Grenzfall bildet Egon Friedells und Alfred P o l g a r s Goethe, eine „Groteske in zwei Bildern" (1908), die mit der Beschwörung des Dichters aus dem Jenseits in die Uberlieferung der Geisterbeschwörung gehört und von entsprechenden Szenen im Faust ausgehen dürfte. Die Gegenüberstellung Goethes mit dem an den dt. Gymnasien getriebenen Goethe-Kult, auf der die Komik der Groteske beruht, stellt jedoch ein geglücktes Beispiel für den Urlauber aus dem Totenreich im Sinne der Lukian-Nachfolge dar.

Hansjörg

Schelle

Totentanz § 1. Begriff. Der T. in lit.geschichtl. Sinne meint Darstellungen von mit Todesgestalten tanzenden Toten nebst beigegebenen Dialogversen. Die Toten oder Sterbenden als Repräsentanten aller Menschen sind als ,Ständerevue' von Kaiser und Papst bis zum geringsten geordnet. In der Frühzeit gehört der zum Tanz aufspielende Spielmann Tod dazu sowie eine Predigergestalt mit zu rechtzeitiger Buße mahnenden Versen. Wo die Abbildungen oder umgekehrt die Dialogverse fehlen, handelt es sich um eine unvollständige Wiedergabe. Hans Holbein erhielt 1522 den Auftrag, das franz. Gedicht Le mors de la pomme (ca 1450) zu illustrieren, also ein an den Apfelbiß im Paradies anknüpfendes dialog. Gedicht vom Sterben (vgl. H. Reichard in: Zs. f. Schweizer. Archäologie u. Kunstgesch. 34,1977,246-249). Er schuf zwar in Kenntnis der Baseler Totentänze, aber er hatte zu zeigen, wie der Tod die Menschen mitten im Leben überrascht, also Bilder des Sterbens zu geben. Sein hervorragender Holzschnittzyklus erschien erst 1538 als Simulachres et historiées faces de la mort bei Trechsel in Lyon und nicht mit dem ursprünglichen Text, sondern kurzen Bibelzitaten. Seine faszinierenden Darstellungen haben fast alle T.-Darstellungen der nächsten Jh.e beeinflußt; sie bewirkten, daß man bis in unsere Tage Bilder von Tod, Sterben und Vergänglichkeit aller Art als T.e bezeichnete.

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Entgegen der dadurch ausgelösten Begriffsverwirrung soll hier nur von den eigentlichen T.en mit dichter. Text die Rede sein, deren Folge ebenfalls bis in unsere Tage reicht. § 2. Todessymbolik. Voraussetzung für den T. ist die christl. Todessymbolik: durch Christi Tod als Uberwindung des Todes und Sieg des Lebens darf der Gläubige hoffen, wie Christus zum ewigen Leben aufzuerstehen. Die frühe christl. Kunst stellte deshalb zunächst den überwundenen Tod dar. Es bleibt der leibliche Tod eines jeden Menschen als der Sünde Sold. Um seine Schnelligkeit und Unerbittlichkeit zu zeigen, stellte die Kunst ihn als Reiter mit Schwert, Speer oder Pfeil und Bogen, als Vogelfänger, als Jäger mit dem Feuerrohr, als Mäher mit Sichel oder Sense dar, in Frankreich aber als Totengräber mit Haue, Schaufel und Sarg, um zu rechtzeitiger Buße zu mahnen, damit der leibliche Tod nicht zum ewigen Tod werde. Die Todesgestalt selbst glich sich der wechselnden Gestalt seiner Opfer an, zunächst bekleidet, dann durch Bauchschnitt und Einbalsamierung zusammengeschrumpft, schließlich als reines Gerippe, so daß jeder dargestellte Tote zur Manifestation oder zum Abgesandten des Todes werden konnte. Die Grenzen blieben fließend. H. R o s e n f e l d , Tod. Lexikon d. christl. Ikonographie 4 (1972) Sp. 327-332. Ders., Der Tod in d. christl. Kunst. Zs. f. Gerontologie 11 (1978) S. 327-332; wiederh. in: H. H. J a n s e n , Der Tod in Dichtung, Philosophie u. Kunst (1978) S. 94-106. Erwin Koller, Totentanz. Versuch e. Textemheschreibung (1980; Innbrucker Beitr. z. Kulturwiss., Germ. R. 10).

§3. Entstehung. DerT. ist ein europäisches Phänomen. Es besteht aber kein Zweifel, daß er in Deutschland entstand. Das bezeugt auch der franz. Chronist Petrus Desrey bei seiner Übers, der franz. ,Danse macabre'-Ausgabe von 1486 ins Lateinische (1490), wenn er von chorea ab eximio Macabro versibus alemanicis edita spricht (Gesamtkatalog d. Wiegendrucke. Bd. 7, 1938, Nr. 7957). Deutsch ist nämlich die Grundvorstellung vom Spielmann Tod. Sie ist gekoppelt mit dem Armseelenglauben und der Lehre von der Fegfeuerqual. Sahen Augustin und noch Thomas von Aquino das Endgericht als Ziel der Welt, so lehrte die Hochscholastik, daß die Seele nach Einzelgericht und Läuterung im Fegefeuer der vollen Seligkeit teilhaftig

Totentanz

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werden könne (von Papst Benedikt X I I . 1336 zum Kirchendogma erhoben). D e r Volksglaube hielt aber zäh an der älteren Auffassung von der Grabesruhe von Leib und Seele fest. D i e frommen Wünsche Requiesce in pace, die auch in der Totenmesse widerklangen, konnten als Bestätigung dieser Volksanschauung gelten. Diese Ruhe nach einem arbeitsamen Leben wird gestört durch die Fegfeuerqual der armen Seelen, die darin bestand, daß der T o d sie nächtlich zu qualvollem wilden Tanz über den Gräbern zwang. Das sagt die Predigergestalt des sog. Würzburger lat. T . s ganz klar: Fistula

tartarea vos jungit in una chorea, qua licet inviti saliunt ut stulti periti: haec ut pictura docet exempli figura. Die P e s t e p i d e m i e v o n 1348 raffte in vielen Städten mehr als die Hälfte aller Einwohner dahin; in Paris starben angeblich 5 0 0 0 0 , in Basel 14000 Personen. Man mußte die Toten, so wie sie beim jähen T o d gekleidet waren, auf Pestkarren wegtransportieren und in Massengräbern verscharren. Das gab einem D o minikaner die V i s i o n ein, wie nun diese unbußfertig aus dem Leben Gerissenen in ihrer Standestracht in der Nacht zum Tanz über den Gräbern nach der Pfeife des Todes gezwungen würden. Die namenlose Masse der Pesttoten aller Stände ordnete sich ihm zu der Standesreihe von Papst und Kaiser bis zu Mutter und Kind, die nun alle Hand in Hand mit den schon verwesten oder halbverwesten Leichen als (arme Seelen) tanzen mußten. D e r erste lat. Text läßt die Neuverstorbenen ihre Klagemonologe gleichsam in den leeren Raum sprechen. Der Papst beklagt, daß er frivole geführt werde und sich vergeblich sträube. In ähnlicher Weise beklagen sich Kaiser, Kaiserin, König, Kardinal, Patriarch, Erzbischof, Herzog, Bischof, Graf, Abt, Ritter, Jurist, Kanoniker, Arzt, Freiherr, Freifrau, Kaufherr, N o n n e , Bettler, Koch, Bauer, Kind und Mutter, daß sie zum Tanz gezwungen werden

(z.B. cogor, ut adeam

cum morte

choream),

Schemen unter Schemen ( c u m vanis vanus), den Tanzenden beigesellt (chorisantibus associatus). Ja, das Kind klagt, daß es tanzen müsse und könne doch noch nicht einmal gehen. Dieser schauerliche Tanz war auf dem Bilderbogen (s. d.) abgebildet, mit den beiden Versen (leoninischen Hexametern) darunter. A m Anfang steht ein doctor, also ein gelehrter D o m i n i k a n e r , der die Lebenden im Hinweis

auf den abgebildeten zwanghaften Tanz, dem alle ohne Ansehen der Person unterworfen sind, zu rechtzeitiger B u ß e aufruft. Ein anderer Dominikaner, von dem es ausdrücklich heißt

depictus praedicando

in opposita parte,

also

auf der rechten Seite des breiten Bilderbogens, fordert die Lebenden, die künftigen Genossen dieses ,perversen' Tanzes, zur Verachtung der Welt auf, zum Meiden der Sünde und Vorbereitung auf das Ende (jeweils sechs leoninische Hexameter). Bilderbogen benutzten auch die dominikan. Mystiker wie Heinrich S e u s e , um ihren klösterlichen Beichtkindern eindringlich in Wort und Bild den Weg zur mystischen Einung mit G o t t zu zeigen. D e r T.-bilderbogen mit seinem lat. Text war wohl als Anregung für Prediger gedacht. Die Dominikaner haben bei ihrer Predigt gern an Anschauliches angeknüpft. Die Schachallegorie des J a c o b u s de C e s s o l i s (Genua 1320), die 1337 von Konrad von Ammenhausen ins Deutsche übertragen und weithin verbreitet wurde, entsprang einem dominikan. Predigtzyklus, ebenso die Kartenspielallegoriedes J o h a n n e s v o n R h e i n f e l d e n (13 77) und das Goldene Spiel des Meister Ingold (1432), das an Hand von sieben Spielen über die sieben Todsünden handelte. D e r lat. T.bilderbogen steht also im Rahmen dominikan. Predigthilfen. Wahrscheinlich wurde alsbald eine zweite Fassung hergestellt, die den bisher stummen namenlosen Tanzpartnern Stimme verlieh und ihnen eine bittere Antwort auf die Klagemonologe der Standesvertreter in den Mund legte als höhnisches E c h o . Dieser dialog. T.bilderbogen wurde in den Ordenskreisen allenthalben, natürlich auch in Frankreich, verbreitet. So verwundert es nicht, daß der franz. Parlamentsprokurator J e han L e F e v r e , als er der Pariser Pestkatastrophe von 1374 entronnen war, 1375 sich durch den lat. T.text zu einem franz. T . w e r k anregen ließ, das wohl auch in Bilderbogenform weiterverbreitet wurde. Aber aus den schlichten lat. Versen werden mit aller literar. Kunst gedichtete achtzeilige Strophen. Zwar nennt er die Dichtung noch La danse de macabre ,Tanz der Gräber', aber die namenlosen Totenpartner werden mehr und mehr zu Abgesandten des Todes, die das erste Wort haben und bei ihrer Aufforderung zum Tanz starke Ständekritik üben. Für die Universitäts- und Residenzstadt Paris brauchte man allerdings eine reichere Ständeauffächerung, vor allem den Universi-

Totentanz tätsmagister, Richter, Gerichtsdiener, den Bankier, Bürger, den vornehmen Liebhaber, den Spielmann, mehr geistliche Stände (Karthäuser, Dominikaner, Franziskaner, Pfarrer, Kaplan, Einsiedler) und anstelle des lat. dux die neue Marschallcharge des .Connestable', während alle Frauengestalten, Graf, Krüppel und Koch wegfielen, so daß 30 Stände blieben. Als man 1424 in Zeiten des Unglücks den T. in den Friedhofsarkaden des Pariser Franziskanerklosters ,Aux SS. Innocents' malte, schrieb man Le Fevre's inzwischen als Bilderbogen verbreitete Verse darunter. Der Text ist in mehreren Hss. festgehalten. Bild und Text zusammen gingen in die Holzschnittbücher der La danse macabre des Guyot M a r c h a n t in Paris ein, 1485 unverändert, in späteren Ausgaben um weitere Gestalten vermehrt und gefolgt von einer La danse macabre desfemmes und anderen religiösen Traktaten. Soviel dürfen wir dem Holzschnittbuch entnehmen, daß der 1529 zerstörte Pariser T. wie sein lat. Vorbild den Prediger mit einer (sich an den lat. Text anschließenden) Bußpredigt hatte, dann einen zum Tanz aufspielenden Tod und am Schluß auch den zweiten Prediger. Im Text wird vielfach noch von Tanz gesprochen, aber das wird mehr und mehr zur Allegorie für Sterben. Da viele der namenlosen Tanzpartner gemäß franz. Todesikonographie die Totengräberwerkzeuge Haue, Schaufel und Sarg tragen, wurden sie mehr und mehr zu Abgesandten des Todes, auch wird durch das Tragen solcher Geräte das Hand-in-Hand des Totenreigens in eine Reihung von Tanzpaaren aufgelöst. Immer noch hält die Bezeichnung danse macabre, entstanden aus danse de macabre (d. i. arab. maqäbir ,Gräber') fest, daß es eigentlich, wie die lat. Vorlage aus Deutschland es vorsah, ein zwanghafter nächtlicher Tanz über den Gräbern war. § 4. Der o b e r d e u t s c h e T o t e n t a n z . Der dt. dialogische T.text, wie ihn verschiedene Hss. und Blockbücher des 15. Jh.s überliefern, ist der Sprache seiner Reime nach 1350/60 in Würzburg gedichtet (deshalb Würzburger Totentanz genannt). Auch der zugrunde liegende lat. T.bilderbogen wird im Würzburger Dominikanerkloster entstanden sein. Die dominikan. Bilderbogen sind verschollen; der Text wird erst in Hss., Blockbüchern und Totentanzgemälden des 15. Jh.s greifbar. Der Ulmer Totentanz an der Friedhofsmauer des

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Wengenklosters, 1440 gemalt, folgt in Text und Figurenfolge • genau dem Würzburger Totentanz. Der 1923 aufgedeckte Teil, ein 1,4 m hoher Gemäldestreifen (9 m) mit Schriftband darunter, umfaßte die T.paare vom Kaiser bis Chorherr und den Partner des Arztes. Der Brand vom 17. 12. 1944, der dies zerstörte, legte einen neuen Teil vom Edelmann bis zum Kind frei, ist aber bis auf die Edelfrau mit zwei Totenpartnern alsbald von der Witterung zerstört. Da kein geschlossener Reigen, sondern wildbewegte Tanzpaare gegeben wurden, lag eine Vorlage zugrunde, die den ursprünglichen Bilderbogen auf Buchseiten verteilte. Wie der erhaltene Rest (Rosenfeld, 1954, Abb. 16) zeigt, hat der Maler aber teilweise die alte Reigenform beibehalten, also vielleicht auch einen Bilderbogen zur Verfügung gehabt. Der Auftraggeber, der Ulmer Abt Ulrich Strobl, nahm am Basler Konzil (1431-1439) teil und kann Abbildungen seiner Malvorlagen nach Basel vermittelt haben, wo ebenfalls 1440 zwei T. gemalt wurden, oder aber seine Vorlagen aus Basel mitgebracht haben. Die Umformung eines Bilderbogens in ein Buch zeigt das 1465 in Basel hergestellte T.-Blockbuch. Jedes T.paar erhält eine Seite mit den Vierzeilern der namenlosen Toten über, denen der Ständevertreter unter dem Bild. Die Verse der Anfangspredigt füllten ein ganzes Blatt allein und werden ohne das Predigerbild gegeben, andererseits der Prediger am Schluß ohne seinen Predigttext, nur mit einem Spruchband Dy gnade unsers. Die Isolierung der Tanzpaare gestattete eine abwechslungsreiche Mimik. Acht Tote betätigen mit der freien Hand verschiedene Musikinstrumente und betonen dadurch und durch ihre Haltung den Tanz, andere entreißen ihren Partnern ihre Attribute, z. B. das Patriarchenkreuz, den Abtstab, das Herzogsschwert, die Bauernpeitsche und zeigen damit die Zwanghaftigkeit dieses grausigen Tanzes. Der Todespartner des Edelmanns hat noch weibliche Brüste und macht damit klar, daß es sich noch um den Tanz der Neuverstorbenen mit den halbverwesten ,Armen Seelen' über den Gräbern handelt. Unorganisch ist als 25. T.paar noch der Apotheker zugefügt, dessen Verse z.T. vom Koch, z.T. anderen Gestalten entliehen sind. Der Großbasier Totentanz an der Außenseite der Kirchhofsmauer des Dominikanerklosters wurde zweifellos unter dem Eindruck der Pestkatastrophe in Auftrag gegeben, die vom 5.4.

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Totentanz

bis 11.11.1439 Basel heimsuchte und 5000 Opfer forderte, darunter den päpstlichen Protonotar Ludovicus Pontanus, den Patriarch von Aquileja, Herzog Ludwig von Teck und andere Konzilsteilnehmer, auch die bereits in ihre Heimat geflüchteten, aber schon angesteckten Bischöfe von Lübeck und Evreux. Das große, der Stadt zugekehrte Gemälde mit einem der Ständekritik Raum gebenden Text war in erster Linie eine ernste Mahnung an die Uberlebenden zur Besserung, aber vielleicht auch als eine Art Unterpfand gedacht gegen die Wiederholung einer solchen Katastrophe. Da trotz des durchgehenden Gemäldestreifens alle T.paare isoliert stehen, muß eine Buchvorlage benutzt worden sein, die aber bereits zum Würzburger T. noch 15 weitere Gestalten zugefügt hatte. Der 1450 gemalte Kleinbasler T. im Kreuzgang des Klingentaler Nonnenklosters ist offensichtlich nach der gleichen Vorlage gemalt wie der Großbasier. Nur bedienten sich die Nonnen eines mittelmäßigen Malers, während man in dem Großbasier Gemälde die Hand oder Schule des berühmten Konrad Witz zu spüren glaubt. Selbstverständlich war der ausführende Maler an Bild und Text der Vorlage gebunden. Diese hatte nach dem Juristen den Fürsprecher eingefügt, außerdem etwas unorganisch zwischen Bettler und Koch weitere 14 Berufe, die dem großstädtischen Charakter der Stadt Basel gerecht werden sollten: Schultheiß, Vogt, Herold, Wucherer, Pfeiffer, Narr, Waldbruder, Begine, Blinder, Jüngling, Jungfrau, Jude, Heide und Heidin. Die der Unbill der Witterung ausgesetzten Gemälde mußten öfters ausgebessert werden und dabei hat man Patriarch, Erzbischof, Fürsprecher, Begine und Mutter durch Königin, Herzogin, Ratsherr, Krämer und das Selbstbildnis Hans Hugo Klaubers, des Restaurateurs von 1568, ersetzt. Aber der Basler Totentanz wurde international bekannt und berühmt, zumal man ihn für ein Werk von Hans Holbein hielt und zahlreiche Textausgaben mit Holbeins Bildern des Todes erschienen. Auch der Volksglaube knüpfte sich an diese Bilder. In seinem Kleinen feinen Almanach von 1777 druckte Friedrich Nicolai erstmals das Volkslied Als ich ein jung Geselle war, nahm ich ein steinalt Weib, in dem der junge Mann mit Erfolg den ,lieben Tod von Basel' bittet, ihn von seiner Alten zu befreien: dieses Lied ist in den verschiedensten dt. Landschaften noch im 19. Jh. aufgezeichnet worden (Rosenfeld,

1966). Auch nachdem die Mauer mit dem Totentanz 1805 der Spitzhacke zum Opfer gefallen war, blieb allenthalben der ,Tod von Basel' eine stehende Redensart, so daß noch Platens Lustspiel Die verhängnisvolle Gabel (1826) den Tod von Basel bei seinen Lesern und Hörern als bekannt voraussetzen durfte. Begrenzter war die Wirkung des Berner Totentanzes, den der als Maler und Dichter bekannte Nikiaus Manuel 1516/19 an die innere Friedhofsmauer des Dominikanerklosters malte, wobei er wohl die gleiche Vorlage in Händen hatte wie die Basler Maler von 1440 und 1450, da 21 seiner 41 Gestalten mit Basel übereinstimmen. Er muß aber auch das Holzschnittbuch von 1485 mit dem Mittelrhein. Totentanz benutzt haben, da sich vielerlei Anklänge finden (Rosenfeld, 1954). Der erst 1660 zerstörte Berner Totentanz ist aber zeitgebundener als seine Vorgänger, da er im Vorfeld der Reformation der Kritik an der Geistlichkeit und dem Unmut über die Mißstände in der Kirche sehr freimütig Raum gab. Andererseits ist er darin renaissancehaft, daß alle Figuren, unabhängig von dem verkörperten Berufsstand, Porträts einflußreicher Männer und Frauen seiner Vaterstadt sind, die es sich zur Ehre anrechneten, in diesem Gemälde für jedermann erkennbar verewigt zu werden. Für den Kaiser stand z . B . Manuels Schwiegervater Gantner, der Wirt zur Sonne, Modell, für den Handwerker Zwingiis Schwager Tremp, und bei seinem Tode 1561 berichtet der Berner Chronist, er sei der letzte Überlebende derer gewesen, die zu den predigern am totentanz gemalt sind. § 5. Der m i t t e l d e u t s c h e T o t e n t a n z . Der Mittelrhein. Totentanz ist seiner Sprache nach und wegen Erwähnung des .Wirtes von Bingen' in Mainz zu beheimaten. Die kostbare Pergamenths. mit goldgehöhten Miniaturen unter zweispaltigem Text steht in der Tradition der burgundisch-flämischen Buchillumination und ist der Zeittracht nach etwa 1460 zu datieren. Der Miniator gibt porträtähnlich das bartlose Antlitz des 1452 zum Kaiser gekrönten Friedrich III. wieder und bringt beim Grafen das Wappen des steigenden Löwen der Pfalzgrafen bei Rhein: vielleicht war die Hs. für Kurfürst Friedrich den Siegreichen (1449-1476) von der Pfalz bestimmt. Die Achtzeiligkeit der Strophen und viele wörtliche Anklänge erweisen, daß der Textautor die franz. ,Danse

Totentanz macabre' kannte, die damals gerade eine Expansion erlebte: 1450 wird der Totentanz zu Kermaria gemalt, 1460 der in La Chaise-Dieu, 1455 gibt Marmion im Hintergrund eines Altarbildes einen an die Wand gemalten Totentanz wieder und 1449 ließ sich Philipp der Gute von Burgund in Brügge durch den Maler Nicaise de Cambray ein certain jeu, histoire et moralité sur le fait de la danse macabre vorführen. Es finden sich aber auch viele wörtliche Anklänge an den Würzburger Totentanz, daß man von einer glücklichen Vereinigung franz. und dt. Elemente zu einem der eindrucksvollsten Texte sprechen kann. Die Verwirrung in der Folge der Figuren, die die Hs. und die einzelnen Drucke in verschiedener Weise aufweisen, ließe sich am besten erklären, wenn die gemeinsame Vorlage ein fünfreihiger T.bilderbogen war, der in den ersten beiden Reihen nach franziskan. Art getrennt die geistl. Stände brachte, in den unteren drei Reihen die 24 weltl. Vertreter. Dann wäre bei Auflösung der Bilderbogenform zur Reihung im Buch die Verwirrung vor sich gegangen. Jedenfalls gehen die Holzschnittbücher nicht auf die Kasseler Hs. zurück, sondern auf eine gemeinsame Vorlage, die in der Trennung von geistl. und weltl. Ständen und in vielen Einzelheiten von franziskanischer Geistigkeit geprägt war. Franziskanisch ist die bittere Abrechnung mit der Weltgeistlichkeit, die Brandmarkung der Benediktiner und Dominikaner, vor allem aber der Hinweis auf die Barmherzigkeit Gottes, die immer wieder durchklingt. Der Ärmste der Sünder, der Dieb wirft sich unter Berufung auf den Schächer am Kreuz seinem ,lieben Herrn Jesu Christ' bittflehend in die Arme. Der Text schließt mit einer Anrede aller Stände, die aber nicht wie die Schlußpredigt des Würzburger Totentanzes zu rationalem Ankämpfen gegen die Sünde auffordert, sondern franziskanisch mahnt, Gottes Freunde zu werden. So können alle Stände und alle Leser einstimmen in die Bitte um Gottes Erbarmen und um die Hilfe der Jungfrau Maria. Die Eigenart der Illustration liegt in der Darstellung des wilden Tanzes der aus den Gräbern und dem Beinhaus kommenden Toten und wie sie (in den Buchausgaben noch gesteigert) mit den Musikinstrumenten aller Art die Neuverstorbenen zum Tanze zwingen. Dieser wilde Tanz unterstreicht die mit dem

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Text verbundene Aufwühlung der Gemüter. Das färbte auch auf Marchants ,Danse macabre'-Ausgabe von 1486 ab: hier wird ein zwar sehr ruhig stehendes vierköpfiges Totenorchester eingefügt, aber mit vier verschiedenen, aus von den Todesgestalten des Heidelberger Druckes übernommenen Musikinstrumenten. Die Reichweite und Eindrucksstärke des mittelrhein. Textes wird nicht nur durch die Holzschnittausgaben Heidelberg 1485, Mainz 1492 und München ca 1510 dokumentiert, sondern auch durch Spuren hsl. Weiterverbreitung. Eine wörtliche Ubers, ins Niederländische (Oberysselsche) vom Ende des 15. Jh.s ist fragmentarisch erhalten. Eine in Eger 1499 geschriebene religiöse Sammelhs. bringt eine Abschrift des Nordböhmischen Totentanzes. Hier sind die mittelrhein. Achtzeiler zu Vierzeilern gekürzt, aber aus dem Würzburger Totentanz und anderen Quellen noch weitere Personen zugefügt, und anstelle des Predigers spricht Christus selbst die Einleitungsworte. Den ganzen Text durchzieht der franziskan. Gedanke, daß wahre Reue die Barmherzigkeit des Heilands erreichen könne. § 6. Der niederdeutsche Totentanz. Die engen Handelsbeziehungen zwischen Norddeutschland und dem Westen brachten es mit sich, daß die franz. ,Danse macabre' in Bilderbogen nach Deutschland kam. Der Westfälische Totentanz-Bilderbogen (Pergamentfragment mit vier T.-Gestalten) ist eine fast wörtliche Übers, der franz. Verse ins Westfälische (erhalten sind Grever und Junchere mit ihren Totenpartnern), und die Tanzpartner tragen außer der dt. ,Pfeife des Todes' nach franz. Art Särge. Nach Lübeck kam die franz. ,Danse macabre' durch einen mndl. Bilderbogen, dessen mndl. Reime manchmal im Lübecker Text festgehalten wurden. Er übermittelte den Prediger und den musizierenden Tod des Anfangs ebenso wie den Hand-in-Hand-Reigen vom Papst und Kaiser bis zum Kind. Als die Pestwelle 1462/63 sich vom Mittelrhein nach Nordosten ausbreitete, ließ man vonBernt Notke in der Beichtkapelle der Marienkirche rings über dem Kirchengestühl den T. auf eine 30 m lange mit Schriftband versehene Leinwand malen. Der am 15. 8. 1463 vollendete Lübecker Totentanz besteht aus Achtzeilern (404 w.), die z.T. den ursprünglichen franz. Text noch wörtlich durchschimmern lassen, aber auch Anklänge an den auch hier be-

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Totentanz

kannten Würzburger Totentanz bringen, z. B . wörtlich beim Papst und beim Kind. Die Totenpartner sind als Todespersonifikation aufgefaßt. Sie antworten auf den Klagemonolog des Sterbenden und rufen im letzten Vers des Achtzeilers den nächsten zum Sterbetanz. Dieser T . von 1463 sollte die Lebenden zur Buße mahnen und vielleicht auch bildmagisch die Pestkatastrophe verhindern, die dann Pfingsten 1464 über Lübeck hereinbrach. Die junge lebenslustige Kaiserin hatte im Namen aller die vergebliche Bitte gestammelt: ok lat mi

noch leven, des bidde ik di! Der Tod kritisiert

vor allem die höheren Stände, verheißt aber dem bußfertigen Klausner und auch dem von Arbeit und Mühsal bedrängten Bauern im Sinne der ,Devotio moderna' das Himmelreich. Das Redentiner Osterpiel, unmittelbar vor Ausbruch der Pest 1464 in Lübeck gedichtet, hat unter dem Eindruck des Gemäldes in der Marienkirche gegen alle Osterspieltradition an den Schluß ein ,Höllenspiel' gestellt, dem Totenreigen entsprechend einen Sünderreigen, in dem verschiedene Handwerker ihre betrügerischen Praktiken bekennen und von Luzifer zur Hölle verdammt werden. Die ersten 28 Gestalten vom Prediger bis zum Bürgermeister mußten 1588 durch eine Kopie ersetzt werden. Die Originalleinewand wurde jedoch restauriert und an die Nicolaikirche zu Reval gegeben, wo sie seit 1603 nachweisbar ist. Die ersten 13 Gestalten vom Prediger bis zum Bischof sind dort bis heute erhalten geblieben. In Lübeck selbst mußte 1701 das gesamte beschädigte Gemälde durch eine Kopie ersetzt werden, und da die meisten nd. Verse unlesbar geworden waren, dichtete Nathanael Schlott einen neuen hd. Text in flüssigen Alexandrinern. Der ndd. Text von 1463 war schon 1489 unter Verwertung anderer Quellen, z . B . des Gespräches zwischen Leben und T o d , um das Vierfache erweitert zu einem Andachtsbuch mit 1686 Versen umgearbeitet worden. D e r Autor, wohl Franziskaner des Katharinenklosters, übt dabei harte Kritik an Papst, Bischof und Domherren und ihrer Pfründenwirtschaft, Simonie, Prasserei und Benachteiligung der armen klerke und mahnt alle Menschen zu steter Todesbereitschaft. O b wohl der Druck nur mit kleinen Einzelholzschnitten des Todes und einzelner Menschen versehen war, wurde 1496 ein 2. Druck nötig. Wahrscheinlich wollte der Drucker die Holzschnitte erneut ausnützen und ließ 1520 einen

neuen moderneren Text dafür erstellen. In ihm wird der weitschweifige Text von 1489 in Sechszeiler gepreßt, aber auf Grund des franziskan. Hamburg-Berliner T.textes mancherlei Neues zugefügt, besonders die Bitten um E r barmen. D e r Schluß zeigt wörtliche Anklänge an die Franziskanerpredigt des Berliner Totentanzes und mündet in eine regelrechte ,Ars moriendi'. O b w o h l die Berliner Marienkirche eine Stadtpfarrkirche war, wurde hier in der T u r m halle, wahrscheinlich anläßlich der Pestkatastrophe von 1484, ein typisch franziskan. T . gemalt, mit dem Franziskanermönch auf der Kanzel, Trennung der Geistlichen und Weltlichen und dem Hinweis auf Christi Erbarmen. Wahrscheinlich wurde dieser T . für die H a m burger Franziskaner-(Magdalenen-)Kirche anläßlich der Pest von 1473/74 verfaßt und mit Bilderbogen weiter verbreitet. D e r Textbearbeiter benutzte den Lübecker Text von 1463, hat aber als Franziskaner, den Vertretern der Armen gegenüber den Reichen, in kleinbürgerlichem Sinne geändert und vereinfacht. D i e schlichten Sechszeiler haben nicht die Spannweite des Lübecker Textes, aber in mindestens 19 Fällen (14 Strophen fehlen) berufen sich die Sterbenden mit einem help my nu Jhesu oder ähnlichen Rufen auf das Erbarmen Christi. So war es nicht unorganisch, wenn man in Berlin ein bereits vorhandenes Kreuzigungsbild in die Mitte des T . e s einbezog, auf die sich von links die Geistlichen vom Küster bis zum Papst, von rechts die Weltlichen vom Narr bis zum Kaiser hinbewegen sollten, um vom Gekreuzigten selbst die tröstliche Botschaft zu hören, daß er für sie alle gestorben sei. Der biedere Maler in Berlin folgte allerdings bei seinem Gemälde seiner Vorlage, die alle G e stalten von links nach rechts zu dem Kreuz am Schluß ziehen ließ (so zeigt es noch der Totentanz von Pinzolo 1539), läßt also entgegen der Intention seiner Vorlage die Weltlichen vom Kaiser bis zum Narren weg vom Kreuz nach rechts ziehen. D e r Text aber hielt eindrucksvoll fest, daß die von Sünden belasteten Menschen im Aufblick zum G e kreuzigten Todesangst und Sündennot überwinden können. § 7. N e u e r e T o t e n t ä n z e . Auch in der neueren Zeit verlor der T . nichts von seiner Faszination als Mahnung zur Todesbereitschaft und Bußfertigkeit. Im Kreuzgang der Wall-

Totentanz fahrtskirche zu K i e n z h e i m / O b e r e l s a ß , die rechtliche Bindungen an den Basler Bischof hatte, wurde 1517 ein T . gemalt. Der Text hat Verwandtschaft mit dem Basler T.; Bild und Text sind aber bezüglich der Betonung des Tanzes mit verschiedenen Musikinstrumenten und hinsichtlich der Bitten um Erbarmen vom Mittelrhein. T. stark beeinflußt. Auch der T . in der Annakapelle von St. Mang in F ü s s e n (1596-1602) hat enge Berührungen mit dem Basler T., bringt aber mehrere neue Figuren, darunter den Wirt, dem ironisch vorgeworfen wird, Wasser in Wein verwandelt zu haben. D e r T . in der Vierzehn-Nothelfer-Kapelle in O b e r s t d o r f / A l l g ä u (1640) hält sich eng an die Vierzeiler des Füssener T.es. Die Füssener T . Gemälde haben noch die T . e des Lechtaler Malers Anton F a l g e r um 1840 in E l b i g e n a l p , S c h a t t e n w a l d usw. stark beeinflußt, während als Text neue Reimereien beigegeben wurden. Aus Norddeutschland haben wir nur Nachrichten über drei nicht mehr erhaltene neuere T . e in W i s m a r ; nur die T . - V e r s e des 1616 in der Nikolaikirche gemalten T . e s sind im Taufregister festgehalten. Es waren 22 Paare, im wesentlichen das Programm des Lübecker T.es von 1463. Die hd. Vierzeiler sind betont protestantisch gehalten: der Papst wird als Antichrist, Kardinal, Bischof, Abt werden als Heuchler angeredet. Dagegen zeigen die weltl. Stände von Kaiser und König bis zu Jungfrau und Kind fromme Ergebenheit in Gottes Willen; es ist die Zeit der größten Ausdehnung des Protestantismus in Deutschland und der Regierung von Kaiser Matthias, der dem Protestantismus große Zugeständnisse machte. Anderwärts wurde die allgemein menschliche Tendenz des alten T . e s bewahrt. In der Pfarrkirche zu B r u c h h a u s e n bei Unkel am Rhein (ca 1640) wird ein T . - F r i e s in zwei Reihen übereinander gegeben, oben die Geistlichen bis zur N o n n e und einer Modedame, unten die weltlichen Stände vom Kaiser bis Krüppel. Die beigegebenen Zweizeiler sind teils dem T o d , teils den Sterbenden in den Mund gelegt und schwacher Nachklang des Würzburger Totentanzes. In L u z e r n wurden 1626-1633 die 67 Dreieckzwickel der eingedachten Mühlenbrücke (Spreuerbrücke) mit Bildern des Todes in Holbeins Art, aber barocker Bildfülle bemalt. Jedes Bild hält das Wappen eines Stifters und wahrscheinlich auch wie der Berner T. sein Porträt fest. Die recht allgemein gehaltenen Vierzeiler sind einem Kup-

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ferstichbildbogen entnommen. D e r T . im 1661 erbauten Beinhause von Wolhusen bei Luzern hält sich in seinem Text an das T . - B u c h der Gebrüder Meyer von 1650. D e r T . in der Friedhofskapelle zu B a b e n h a u s e n in Schwaben (1710/23) lehnt sich in seinem Text an Abraham a Sancta Clara's Todtenkapelle von 1710 an. Auch in S t r a u b i n g an der Donau wählte man das Innere der Totenkapelle auf dem Petersfriedhof für einen T . aus. Felix Hölzl malte ihn 1753 in Holbeins Art, aber im Rokokostil: 36 einzelne Todesbilder in verschnörkeltem Rahmen über- und nebeneinander in zwangloser Folge. Die pathetischen Verse, meist Vierzeiler, sind teils erzählerisch gehalten, teils den Sterbenden in den Mund gelegt, wohl für die ausgeführten Bilder gedichtet und münden in die Mahnung, jederzeit zum Sterben bereit zu sein. Noch stärker rokokohaft ist der T . in der St. Michaelskapelle auf dem Friedhof zu F r e i b u r g im Breisgau (1760). Es sind zwölf Einzelbilder in Rokokorahmen vom Sterben, vom Kind und Knaben bis zum Greis, Priester, Bauer; die kurzen Zweizeiler erläutern den Bildinhalt.

§ 8. N e u e r e T o t e n t a n z b ü c h e r . Hans H o l b e i n , der 1514-1526 in Basel lebte, kannte den Basler T., als er von den Gebrüdern Trechsel in Lyon den Auftrag erhielt, für die Todesdichtung Le mors de la pomme Illustrationen zu entwerfen. Dadurch, daß der hervorragende Holzschnittkünstler Hans Lützelburger nach Fertigstellung der ersten 41 H o l z schnittmodeln 1526 starb und Trechsel die Modeln gerichtlich einklagen mußte, die weiteren Entwürfe Holbeins aber keinen ebenbürtigen Holzschneider fanden, unterblieb zunächst die Veröffentlichung. Erst als Erasmus von Rotterdam moralische Bibelstellen für jeden Holzschnitt herausgesucht und Gilles Corrozet dies in franz. Zweizeiler gepreßt hatte, erschienen Holbeins Holzschnitte mit den lat. Bibelzitaten über, den franz. Reimen unter dem Bild sowie bereichert durch eine Reihe anderer sich mit dem T o d befassender

Texte als Les simulachres et historiées faces de la mort autant elegamment pourtraictes que artificiellement imaginées (Lyon 1538) als kleines Andachtsbuch. Eine lat. Ubers, der franz. Reime lieferte Luthers Schwager Georg O e m l e r für die Neuausgabe Imagines de morte

et epigrammata

e gallico idiomate in Latinum

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Totentanz

translata (Lyon 1542). Solche ,Icones', d . h . Bilderbücher mit kurzen erklärenden Versen, waren im 16. J h . Mode geworden. D e r Schulmeister Caspar S c h e i d t sollte für Trechsel eine entsprechende dt. Ausgabe herstellen, überwarf sich aber mit dem Verleger. Daß Holbein gemäß seinem Illustrationsauftrag auf geniale Art Bilder des Sterbens im Alltag entworfen hatte und keinen T . im alten Sinne, war keinem mehr klar. Man hielt Holbeins Gestaltung für eine Renaissance-Form der alten T . - I d e e . Deshalb nannte Caspar Scheidt, als er 53 Nachschnitte nach Holbein mit seinen didaktisch-moralisierenden Sechszeilern in Worms 1557 herausbrachte, seine Publikation

Der Todten-Dantz durch alle Stende und Geschlecht der Menschen, darinnen ihr herkommen und ende, nichtigkeit und Sterblichkeit als ein Spiegel zu beschawn, fürgebildet und mit schönen figuren gezieret. Seine Verse knüpfen oft an das von Erasmus herausgesuchte Bibelwort an und sind teils dem T o d , teils den Sterbenden in den Mund gelegt. D i e der Geistlichkeit gewidmeten Verse sind stark antikatholisch gefärbt. Aber auch die höheren weltl. Stände, Fürst, Richter, Fürsprech, Ratsherr werden der Ungerechtigkeit, Bestechung und Mitleidlosigkeit gegenüber den Armen beschuldigt. Dieser didaktisch-moralische T o n war des Publikumserfolges sicher. Neuauflagen erfolgten 1560, 1573, 1574, 1583; 1558 erschien eine ndd. Ubersetzung. Schon zuvor hatte der aus Antwerpen stammende Augsburger Formschneider Jobst de N e c k e r Holbeins 40 kleine Holzschnitte in Folio kopiert, 2 Blätter noch zugefügt. Mit Versen eines eifernden Protestanten erschienen sie in Augsburg 1544 als Totentantz. D e r Textautor benutzt eingangs das Gespräch zwischen T o d und Mensch zu theologischer Belehrung, Holbeins Paradiesbilder zur Darlegung der Entstehung der Erbsünde. Der eigentliche T . - D i a l o g nimmt zunächst die 9 geistl. Stände in antikathol. Kritik vor, dann die 16 weltl. Stände, bei denen Kaiser und König nicht schlecht wegkommen, aber die bürgerlichen Honoratioren wegen Begierde nach weltl. Gut getadelt werden. Die höher gestellten der 9 Frauen werden wegen Freude an Pracht und Reichtum verklagt, während die einfachen Leute gut wegkommen. Wegen dieser bürgerlich-demokratischen engchristl. Haltung erschienen mehrere Nachdrucke: Augsburg 1561, Leipzig 1572, St. Gallen 1581,

wobei letzterer die Schärfe gegen die Geistlichkeit z . T . dämpft. Viel Anklang fand auch Rudolf Meyers

Todten-Dantz, ergäntzet durch Conrad Meyem,

und herausgegeben Malern in Zürich

(1650). Rudolf M e y e r ( f l 6 3 8 ) hatte sich, wie er sagt, durch einen Kupferstichbilderbogen anregen lassen und auch dessen Vierzeiler übernommen. Die Kupferstiche schließen sich ziemlich eng an Holbein an und bringen 46 Stände, zunächst die 9 geistlichen, dann 12 höhere weltliche Stände, dann die 25 Vertreter einer großen Stadt bis zum Spieler, Säufer, Bauchdiener und Narr. Außer den Vierzeilern unter den Kupfern sind noch auf der freien linken Seite Verse des Todes und Antworten der Menschen nach einer in Alexandrinern gehaltenen Einleitung über Hebr. 9,27 und weiteren Strophen über Sündenfall und T o d , Erlösung und Jüngstes Gericht. Die Dialogverse wechseln oft die metrische F o r m , sind aber z. T . recht lebendig und volkstümlich. Deshalb erschienen in Augsburg 1703 und 1704 Neuauflagen unter dem Titel: Erbaulicher

Sterb-Spiegel . . . anjetzo mit lateinischen Unterschriften der Kupfer vermehret und ausgezieret von Augustino Casimiro Redelio. Latinisiert wurden aber den Kupfern, nicht den linken Seiten. Meyerschen Kupfer

nur die Vierzeiler unter aber die dt. Verse auf N o c h 1759 kamen die in Hamburg neu heraus,

jedoch mit neuen, dazu dienenden Versen und Überschriften.

moralischen

Ein spätbarockes Werk dieser Art aus dem südostalpinen Raum ist das Theatrum mortis

humanae tripartitum per saltum mortis . . ., das ist: Schau-Bühne des menschlichen Todts (Laibach 1682) von Joannes W e i c h a r d u s Frhr. von Valvasor, dessen 1. Teil nicht unbeeinflußt von der Meyerschen Publikation einen T . bringt. Vorangestellt ist wie so oft der Dialog zwischen Mensch und T o d . D i e Bilder des Krainer Johann K o c h , gestochen von Andreas T r o s t , kopieren überwiegend Holbeins Bilder des Todes, einschließlich der vier Einleitungsbilder von Adam und Eva. D e r eigentliche T . bringt 10 Geistliche vom Papst bis zur Klosterfrau, 24 Weltliche vom Kaiser bis zum Bettler, dann 7 Frauen von der Kaiserin bis zur A m m e sowie Knabe und Kind. Ü b e r den Kupfern werden die einst von Erasmus für die H o l bein-Ausgabe von 1538 herausgesuchten Bibelzitate gegeben, darunter ihre dt. Übersetzung. Die linken Seiten geben den Achtzeiler-Dialog

Totentanz zwischen Mensch und Tod, der die Allgewalt des Todes betont, selbst beim Bild des Gekreuzigten nur vom Triumph des Todes spricht. Es folgen noch gemäß Holbeins Vorbild das Jüngste Gericht und das Wappen des Todes. Dabei war der Basler T., in ganz Deutschland berühmt als ,Tcd von Basel', niemals vergessen. Gleichzeitig in Basel und bei Merian in Frankfurt erschien 1696 Der Todten-Tantz, wie derselbe in Basel als ein Spiegel menschlicher Beschaffenheit ganz künstlich mit lebendigen Farben gemalt. Es sind die alten Basler T.Reime, aber statt der wirklichen Basler Bilder Nachschnitte von Holbeins Bildern des Todes. In Norddeutschland allerdings beharrte man auf der eignen Tradition. Dort hatte man ja 1701 den T. von 1463 durch eine mehr oder weniger getreue Kopie, aber mit hd. neuen Dialogversen von Nathanael Schlott ersetzt. Auch das wurde als Buch herausgebracht mit dem Titel Der Todtentanz in der sogenannten Todtenkapelle der St. Marien-Kirche zu Lübeck (1701). Hier kann man auch die aus Predigten hervorgegangenen Werke des volkstümlichen und humorvollen Wiener Hofpredigers A b r a ham a Sancta Clara einreihen. Unter dem Eindruck der Wiener Pestepidemie von 1679 schrieb er sein berühmtes Merk's Wien (1679). Nach Schilderung des Pestverlaufs läßt er sechs Gruppen zu schauerlichem Reigen antreten, voran die Geistlichen, dann das schöne Geschlecht, die Reichen, die Gelehrten, die Eheleute, die Soldaten. Die sechs derben Holzschnitte verraten Kenntnis des Basler T.s. Der Text zeigt zwar die Sünden auf, will aber nicht richten, sondern voll Mitleid mit den Opfern die Angehörigen trösten und zur Fürbitte für die Toten aufrufen. Posthum erschien seine Besonders meubliertund gezierte TodtenCapelle oder allgemeiner Todten-Spiegel (Nürnberg 1710) mit 68 Kupfern, wie er im weitschweifigen Untertitel sagt: ein Memento mori . . . mit lachendem Mund oder thränenden Augen . . . betrachten und verachten lernen. Er knüpft an die üblichen T.e an und lädt in seinem skurril-humorvollen Predigerton die Menschen vom Papst bis zum Krüppel und Bildhauer zum Tode. Als Kranker hatte er selbst den Tod vor Augen: er starb am 1.12. 1709. Neuauflagen erschienen 1711 und 1729, holländische Ubersetzungen in Brüssel 1730, Amsterdam 1741 und 1744, Löwen 1767 und 1792.

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Eine geniale und eigenartige Wiederaufnahme des T.-Themas finden wir bei Alfred R e t h e l (1816-1859). Er hatte gerade Holbeins Bilder des Todes von 1526 kennengelernt, als ihn Heinrich Heines (am 19.4.1832 publizierter) Bericht über das Auftreten der Cholera in Paris zu seiner Bleistiftzeichnung Der Tod als Erwürger (Winter 1847/48) anregte, die 1851 als Holzschnitt erschien: der Tod geigt auf einem Knochen den Choleratoten ein Schlummerlied, während die Überlebenden panikartig aus dem Ballsaal flüchten. Das war das Vorspiel zu den sechs Holzschnitten, die mit erklärenden Versen Robert R e i n i c k s Mitte 1849 als Ein Totentanz aus dem Jahre 1848 in 10000 Exemplaren, in späteren Auflagen mit dem Titel Auch ein Totentanz, erschienen. Der hohe künstlerische Rang dieser Holzschnitte ist unbestritten, als Vision eines Sieges des Todes in den damals erst ausgebrochenen Revolutionskämpfen menschlich tief ergreifend. Die erklärenden Reime passen sich dem Holzschnittstil gut an, wenn sie auch Rethels Aufbegehren gegen jede Revolutionseuphorie als Ausdruck tiefer Menschlichkeit etwas ins Biedermeierliche umbiegen. Ein weit geringerer Künstler hat als Gegenbild unter dem Titel Noch ein Todtentanz sechs Holzschnittblätter mit erklärenden Versen bei Emil Roller in München herausgegeben, in denen der Bruderkampf von 1849 vor allem als Schuld der übel beratenen Fürsten gegeißelt und prophezeit wird, die Freiheit werde aus den Gräbern der toten Helden von 1849 emporsteigen. Lit. zu § 3-8: Ellen Breede, Studien zu d. lat. u. dt.sprachigen T.texten d. 13. bis 17. Jh.s (1931). Dietrich Briesemeister, Bilder d. Todes. [größtenteils Graphik aus der Samml. Alfons Meister, Bayer. Staatsbibl. München, ohne Besitzangabe] (1970). Stephan Cosacchi, Makabertanz. Der T. in Kunst, Poesie u. Brauchtum d. MA.s (1965); voller Irrtümer u. Fehlschlüsse (vgl. H. Rosenfeld in: ArchfKultg. 48, 1966, S. 58-64). Wilh. Fehse, Der Ursprung d. Totentänze (1907). Hans Helmut Jansen (Hg.), Der Tod in Dichtung, Philosophie u. Kunst (1978). Leopold Kretzenbacher, Totentänze im Südosten. Jb. d. ostdt. Kulturrates (München) 6 (1959) S. 125-152. Hellmut Rosenfeld, Der mal. T. Entstehung, Entwicklung, Bedeutung (1954; 2. Aufl. 1968; 3. Aufl. 1974; ArchfKultg., Beih. 3), nebst Bibliographie Todu. T. in Dichtung u. Kunst, S. 337-371. Ders., Der T., sein Werden u. Verfall. WirkWort 4 (1954) S. 327-337. Ders., Der T. in Deutschland, Frankreich u. Italien.

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Totentanz

Letterature moderne 5 (1954) S. 62-80, \27i. Ders., Der T. als europäisches Phänomen. Archf Kultg. 48 (1966) S. 54-83. Ders., Tod, T.Jenseits. Die Sammlung Alfons Meister. Arch. f. Gesch. d. Buchw. 11 (1970) Sp. 449-471. Ders., T. Lex. d. christl. Ikonographie 4 (1972) Sp. 343-347. Ders. in: VerfLex. 2. Aufl. (1978ff.): Basler, Berliner, Berner, Lübecker, Mittelrheinischer, Nordböhmischer, Ulmer, Westfälischer, Würzburger Totentanz.

§ 9. T . m o t i v e in V o l k s l i e d u n d V o l k s s c h a u s p i e l . So wie in der Graphik seit der Renaissance auch Einzelgestalten mit dem T o d dargestellt werden (Dürers Landsknecht mit dem Tod 1510, Urs Grafs Dirne, 2 Landsknechte und Tod 1524, Hans Sebald Behams

Tod und Weih, Weib mit dem Tod, Spaziergang der Frau mit dem Tod, Nikolaus Manuels Dirne und Tod), so gibt es viele Volkslieder oder volkstümliche Lieder, die die Begegnung der Königstochter oder des Mädchens mit dem T o d in Wechselstrophen festhalten. Dies Motiv Tod und Mädchen klingt weiter bei Matthias Claudius in der Vertonung von Franz Schubert. D e r Aspekt des Todes als Schnitter, der auch im Ackermann-Druck von 1461 als Holzschnitt festgehalten wurde, verdichtet sich im Volkslied zu dem ergreifenden und vielfach nachgedruckten Lied Es ist ein Schnitter, der heißt

Tod, hat Gwalt vom großen Gott . . . Hut dich, schöns Blümelein. In kathol. Kirchenliederbücher, z . B . Paderborn 1617 und Würzburg 1618, ging ein das vielstrophige Lied

Der grimmig Tod mit seinem Pfeil thut nach dem Leben zielen, das eine der geläufigsten volkstümlichen Vorstellungen vom T o d festhält. Ein in Salzburg erhaltenes hsl. Liederbuch überliefert ein Totentanzlied, in dem der T o d mit 21 Siebenzeilern alle Stände vom Kaiser bis zu Magd und Knecht ins Grab ruft, die Überlebenden aber zu steter Todesbereitschaft mahnt. O b w o h l sich der T . leicht in eine Schauspielrevue, wie sie viele Fastnachtspiele darstellen, hätte verwandeln lassen, wissen wir nur von dem in § 5 erwähnten certain jeu, histoire

et moralité sur le fait de la danse

macabre,

die sich Philipp der Gute von Burgund 1449 in Brügge hatte vorführen lassen. Erst die mit der Renaissance vollzogenëeindeutige U m wandlung des Tanzes der Toten in einen Aufruf des Todes zum Sterben ermöglichte die Einbeziehung des T . ins S c h a u s p i e l . Am stärk-

sten hat der T . - G e d a n k e in den geistl. Spielen der östlichen Alpenländer F u ß gefaßt und zu einer vom 16. bis zum 20. J h . reichenden Volksspieltradition geführt. Zunächst wurden, wie im Burgenland deutlich wird, T . - E i n z e l szenen durch gedruckte Flugblattexte unter das Volk gebracht. Dann wurden diese Szenen in verschiedene geistliche Volksspiele mit einbezogen und sind mit diesen als reine , Stubenspiele' (abwechselnd in verschiedenen Privathäusern gespielt) bis zum heutigen Tage lebendig geblieben. In den ,Paradeisspielen', die in der Aufklärungszeit von 1760 bis etwa 1800 als u n anständig' verboten waren, aber wieder auflebten, wird Weltschöpfung, Sündenfall, Gericht über die vom Teufel eingeforderten U r eltern und Verheißung eines Erlösers dargestellt. Eine Gruppe solcher ,Paradeisspiele' schließt einen gesungenen, gesprochenen und gespielten T . an, als Testament Adams bezeichnet. D e r T o d mit seinem grimmen Pfeil schleicht sich herzu, rühmt sich seiner Macht über alle Menschen und stößt schließlich Adam den Pfeil in den Rücken. Die Darsteller der Dreifaltigkeit leiten singend von Adams T o d zur Aussicht auf Erlösung über. Bei anderen ,Paradeisspielen' wird ein Parabelspiel vom Guten Hirten und dem verlorenen Schäflein in Gestalt einer Schäferin zugefügt: der Teufel als schmucker Jäger (,Wildschäfer') verlangt Einlaß bei der Schäferin und erhält ihn schließlich, der Gute Hirte wird abgewiesen, aber der T o d mit seinem Pfeil umkreist die Schäferin tanzend so lange, bis sie sich zu Buße und Sterben bereitfindet. Das ,Reichen-Prasser-Gspiel' oder ,Hauptsündenspiel', eigentlich die ,Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus', wird vielfach zum T . ausgeweitet: Gestalten, die die sieben Todsünden verkörpern, werden in getanztem oder mimischem Dialog vom T o d mit seinem Pfeil niedergerungen. Der Kärtner Totentanz als Volksschauspiel überläßt dem T o d 10 O p f e r : Jüngling, König, Alte Frau, Richter, Arzt, Jungfrau, Bettler, Bauer, Soldat und Mutter, während in der Komödia von dem grimmigen Tod, ebenfalls aus Kärnten, der T o d nur Jüngling, Schäferin, König, Soldat und den alten Mann bedroht. Diese heute noch in der germ.-slavisch-roman. Kontaktlandschaft der Südostalpen lebenden Volksschauspiele (Stubenspiele) zeigen in Maske, dramatisch-tänzerischer Szene, Lied und Darstellung die Gegen-

Totentanz — Tragikomödie wärtigkeit der T.idee in lebendiger eigenwilliger Abwandlung. L u d w i g E r k u . Fr. M . B ö h m e , Dt. Liederhort. Bd. 3 (1894; 2. Aufl. 1963) Nr. 2151-2156. E. v. F r i s c h , Ein salzburgisches T.lied. Salzburger Museumsbll. 6 (1927) Nr. 5, S. 1-3. Henri S t e g e m e i e r , The Dance of Death in Folksong. With an Introduction of the History of the Dance of Death (Chicago 1939). Karl M. K l i e r , T. u. Jüngstes Gericht. Alte Lieder aus d. Burgenland. Burgenländ. Heimatbll. 13 (1951) S. 173-196. Ders., Das Totenwacht-Singen im Burgenland (Eisenstadt 1956; Burgenländ. Forschgn. 33). Leopold K r e t z e n b a c h e r , Die steirisch-kämtischen Prasser- u. Hauptsündenspiele. österr. Zs. f. Volkskde 50 (1947) S. 67-86. Ders., Lebendiges Volksschauspiel in Steiermark (Wien 1951; ö s t e r r . Volkskultur 6). Ders., Passionsbrauch u. Christi-Leiden-Spiel in den Südost-Alpenländern (Salzburg 1952). Ders., Adams Testament und Tod. Apokryphe u. T. im lebendigen Volksschauspiel d. Steiermark. Schweiz. Arch. f. Volkskde 54 (1958) S. 129-149. Ders., Totentänze in d. südostalpinen Volkskultur, in: Rad Kongressa folkloristika Jugoslavije u Varazdinu M7 (Zagreb 1959) S. 299-309. Ders., T.e im Südosten. Jb. d. ostdt. Kulturrates 6 (1959) S. 142152. H . R o s e n f e l d , Dermal. T. (3. Aufl. 1974) S. 306, 344f. 364f. Reinhold H a m m e r s t e i n , Tanz und Musik d. Todes. Die mal. T.e u. ihr Nachleben (1980).

Hellmut

Rosenfeld

Tragikomödie § 1. B e g r i f f . T. ist eine Wortprägung des röm. Komödiendichters Plautus (Prolog zu Amphitruo), zunächst als tragicocomoedia, um scherzhaft die Mischung verschiedener Stilund Handlungsebenen, das Auftreten von Göttern, Heroen und einem Sklaven in einem Drama zu thematisieren. Im Gegensatz zur Tragödie und Komödie hat die T. keinen eigenen Platz in der antiken Dramentheorie, da es sich zunächst um ein einmaliges Wortspiel handelt, das die Verkleidung von Göttern als Sterbliche motivieren soll. Das antike Drama kannte jedoch sowohl Tragödien mit versöhnendem Schluß (Euripides, Andromache, Iphigenie in Tauris) wie Komödien, die auch ernstere Stillagen enthalten (Menander, Georgios) oder für einige Personen unglücklich enden, sowie die Mischgattung des Satyrspiels (Euripides, Klyklop), die zwar Horaz in der Ars poetica beschrieb, die aber erst nach neuen Versuchen mit einem Mischdrama von Guarini zu deren Verteidigung damit identifiziert wurden.

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Die Anwendung des B e g r i f f s wurde erforderlich, als eine strikte Interpretation der aristotelischen Poetik das Feld zu beherrschen begann. Damit bezeichnet T. höchst verschiedene Arten des Dramas: das Schäferspiel (s. Schäferdichtung), das im 16. Jh. in Anlehnung an lyrische Dialoge der Antike (Virgil, Ecloga IV) erfunden wurde und am meisten dem entsprach, was diese Zeit für antik hielt; daneben bot T. sich an als Begriff für christl. Mysterienspiele oder Dramatisierungen biblischer Stoffe, die glücklich enden, um die Probleme eines christl. Trauerspiels zu vermeiden (s. Trauerspiel); dann schien T. geeignet, um heroische Tragödien mit einem glücklichen Ende zu bezeichnen, selbst wenn sie keinerlei Element der Komik enthalten wie Corneilles Cid (1637), und schließlich knüpft sich an diesen Begriff die Diskussion um eine mittlere Gattung im Drama, die keinen passenden Namen fand (comédie larmoyante, tragédie bourgoise etc.), die Stilmischung zur angemesseneren Darstellung der Wirklichkeit, die metaphysisch aufgeladene Theorie des Humors, das ernste Lustspiel und die Auflösung der Form im Drama. Im übertragenen Sinne verwenden seit dem 17. Jh. burleske polit. Pamphlete diesen Begriff, oft sogar im Titel oder Untertitel. Seit dem 19. Jh. ist es ein Topos der Rede, den Lauf der Welt oder typische Ereignisfolgen des polit, und sozialen Lebens für tragikomisch zu halten. Darin spiegelt sich eine Auflösung der Tragödientheorie, vermischt mit einem populären philosophischen Pessimismus. Diese „Weltanschauung", die in der Zeit der polit. Ohnmacht des dt. Bürgers im Vormärz (s. d.) begann und während der „Exstirpation des dt. Geistes zugunsten des dt. Reiches" (Nietzsche) das resignative Komplement einer Spießerideologie wurde, vermag nicht den Ausgangspunkt für eine Poetik dieser höchst verschiedenen Kunstformen zu bieten. Eher ist der Begriff T. jeweils ein Indiz für die literatur- und theaterfremde Dramen-, theorie, die sich meist der aristotelischen Poetik in dogmatischer Absicht bediente, um damit moralische und polit. Restriktionen der Bühne zu begründen. § 2. G e s c h i c h t e . Die Dramen, die seit Plautus und dann wieder seit dem 16. Jh. in der europäischen Lit. sich selbst als T.n bezeichnen oder von der Lit.kritik so genannt worden sind,

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Tragikomödie

bilden keine gemeinsame Gattung. Sie weisen alle darauf hin, daß es wohl eine Gattung des Dramas gibt, daß es aber unmöglich ist, aus einzelnen inhaltlichen oder formalen Bestimmungen eigene Gattungen zu bilden. So findet sich unter dem Namen T. alles zusammen, was mit einzelnen histor. Phasen normativer Poetik in Konflikt geriet. Es ist deshalb wohl möglich, einzelne Geschichten von Dramenformen zu verfassen, die mehr oder weniger unbestritten unter diesem Namen laufen, es wäre aber unwissenschaftlich, sie für eine Gattung auszugeben oder eine positive Definition zu versuchen. Die T. wird so zum Sammelbecken der dramat. Regelverstöße in der Evolution der Literatur. Da das Drama aber keine bleibende Norm kennt, sondern wechselnde Verbindungen von Vorstellungen, die ihrerseits oft kaum nur von einem einzigen Werk erfüllt werden und auch nicht an den Möglichkeiten des Theaters orientiert sind, ist ihre Behandlung eine Frage des gewählten Gesichtspunktes. In der Geschichte des Dramas braucht sie keine eigene Abteilung zu bilden, sondern kann als Sonderfall der Nomenklatur und dann als allgemeine Tendenz im dramat. Stilwandel interpretiert werden. Eine Bearbeitung unter dem genuin literar. und zugleich geschichtsphilosophischen Gesichtspunkt der Stilmischung im Bezug auf die Darstellung der Wirklichkeit wäre möglich, in Anlehnung an Erich Auerbachs Mimesis (1946; 3. Aufl. 1964), die vorwiegend mit epischen Quellen eine Erscheinung der europäischen Lit. im ganzen herausarbeitet, ist aber noch nicht versucht worden. Dabei wäre die Orientierung an der Benennung sachlich fragwürdig, weil sie zu einer Begriffshypostasierung führen müßte. Das Problem der sog. „dritten Gattung" ließe sich nicht von Guarinis Pastor fido (1590) und noch weniger von Corneilles Cid (1637) zu Diderots Bemühungen um ein „genre sérieux" führen, aber auch nicht von der „domestic tragedy", etwa Thomas Heywoods A Woman Killed with Kindness (1602), und von der „morality", von welcher dieses Stück abzuleiten wäre, führt kein Weg zum tragischen Humor Georg Büchners. Ein ganz anderer Weg müßte gesucht werden, um das jeweilige Durchbrechen von Gattungsschranken funktional, aber nicht als Reflex einer sozialen Problematik, sondern in

dem Verfahren zu begreifen, das als Änderung der literar. Mittel und zugleich — sei es als Kompensation, sei es als Projektion — auf die gesellschaftliche Wirklichkeit reagiert. § 3. Die Geschichte dieser Entwicklung der dramat. Produktion, gelesen als Regelüberschreitung, wäre zugleich die G e s c h i c h t e der R e z e p t i o n der Antike und des MA.s. Denn bei jedem Schritte dieser Entwicklung bestimmt sich deren wechselseitiges Verhältnis anders. Einer der ersten Schritte ist bedingt durch das erneute Lesen antiker Dramen mit anderen Augen zugleich mit dem Studium der Poetik des Aristoteles. Denn damit erst wird deutlich, daß das christl. Mysterienspiel nicht Tragödie im Sinne der Antike sein kann, auch wo oder gerade wo der „Held" schrecklich endet. Denn er ist nur Beispielfigur im größeren Drama der Passion, die das tragische Ende verwandelt hat, und des Jüngsten Gerichts, das zugleich mit der Verdammung und Seligkeit enden wird. Im Schwanken der Benennungen und im gelegentlichen Gebrauch des Terminus tragicocomedia dämmert ein Bewußtsein, daß es eine Tragödie im Rahmen der bibl. Uberlieferung nicht geben kann. Bedeutende Stoffe auch des AT.s erweisen eine Rechtfertigung des Schrecklichen, seine Sinngebung, die es nicht länger als schrecklich erscheinen lassen kann. So wird die Josephsgeschichte (Lodovicus Crucius, 1605), der Hiob (Johannes Bertesius, 1603) und Judith und Holofernes (Martin Behm, 1618) als „Tragicomoedia" bezeichnet. Das bedeutet eine Reflexion in der mechanischen Benennung der bibl. Historien nach ihrem Ende allein als Tragödie oder Komödie, wie es von Hans Sachs bis zum Terentius Christianus des Cornelius Schonaeus (1602-04) üblich war und noch weiterhin wirkte. Der Ausweg eines dritten Namens konnte aber ebensogut einer moralischen Farce oder einer Übersetzung des Ajax des Sophokles ins Lat. beigelegt werden (Erasmus Pfeiffer 1631). § 4. Zu dieser Zeit wurde aber auch eine nicht mehr christliche, mit allen Mitteln und viel Gelehrsamkeit, die sich in Kommentaren und Verteidigungsschriften niederschlug, antik sich gebärdende T. geschaffen, die Tragicomedia pastor ale, wie Guar i ni seinen Pastor fido (1590) nannte. Dabei war diese Bezeichnung nicht notwendig für den dramat. Rahmen, denn es

Tragikomödie traten keine verkleideten Götter auf wie bei Plautus. Jedem Gebildeten der Renaissance war neben der tragischen und der komischen eine dritte B ü h n e n s z e n e r i e aus dem Vitruv bekannt, die des Satyrspiels, die nicht aus öffentlichen oder privaten Bauten bestand, wie die beiden anderen, sondern eine Landschaft mit Bäumen, Grotten und Bergen darstellen sollte (De architectura 5, 6, 9). Und in einer solchen Landschaft führen die Hirten und Nymphen ihre oft langen Dialoge über Keuschheit und Liebe. Primär eine aristokratische Gegenwelt, geschaffen zu einer Zeit, als sich die Politik der öffentlichen Verhandlung und der Einwirkung auch des Adels zu entziehenbegann, ist die Pastorale in Gefahr, wirklichkeitsfremd und publikumsfern zu sein. In der Zeit der Gegenreformation das Exil von Freiheit und Liebe, hat sie Musik und Malerei inspiriert und da wie in dem poetisch weit bedeutenderen Aminta Tassos (1573), einem lyr. Drama, das er selbst als „favola boschereccia" bezeichnet, und in der Lyrik Werke von großer Schönheit hervorgebracht. Nur blieb sie eine Randerscheinung auf dem Gebiet des Dramas. Wird sie in den Kreis des Dramatischen gezogen, wie in Shakespeares As you like it (1599), so verwandeln sich ihre Elemente, sie wird realistisch, gesellschaftskritisch und sowie die verkleideten Hirten ihr Ziel erreicht haben, fliehen sie zurück in die geschmähte Welt des Hofes. Als das Schäferspiel längst totgesagt war, konnte es doch mit seinen traditionellen Elementen R o u s s e a u dazu dienen, im Le divin du village (1752) Natur und Naivetät wiederzuentdecken, und G o e t h e gelang im HelenaAkt des Faust II (1831) wie zuvor in der Pandora (1809) eine wiederum lyrisch geprägte Neugeburt der Pastorale auf tragischem Grund. Keines der genannten Werke entspricht den Regeln der Tragödie oder der Komödie, ohne daß es doch sinnvoll wäre, auf Guarinis Verlegenheitslösung zurückzugreifen, die Hofmannswaldau in seiner Ubersetzung als „Trauer- und Lustspiel" wiedergibt in Ermangelung eines dt. Äquivalents. § 5. „Dramatische Mißgeburten" nannte Lessing die Werke, für welche sich die Bezeichnung T. in der i t a l i e n i s c h e n , span. und franz. Lit. durchzusetzen begann. Teils sind es Dramatisierungen epischer Stoffe, wie Tragödien im hohen Stil, aber glücklich

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endend, teils sind es „drames libres", die sich zwischen der akademischen Tragödie im Stil Senecas und dem mal. Mysterienspiel bewegen, und ihren Stoff Romanen wie d'Urfé's Astrée (1607/27) entnehmen. Die Tendenz zielt auf eine klassizist. Tragödie mit versöhnendem Schluß. Aber C o r n e i l l e selbst hatte den Cid (1637) nur in der Defensive als T. angesehen, und mit weit größerem Recht leitet sich von ihm die klassische franz. Tragödie her. Umgekehrt ist es eine Komödie wie M o lières Misanthrope (1667), die ernst zu werden beginnt und zum Kronzeugen für die spätere Diskussion um die „hohe" Komödie und das „genre sérieux" wird. Was sie auszeichnet, ist aber nicht tragisch, sondern — in neutralem Sinne — pathologisch, wie es von dorther gesehen auch andere Komödien Molières sind. Ebenso wirft Shakespeare die überkommenen Bestimmungen der Gattung beiseite. Statt ihn mit Autoren in eine Reihe zu stellen, deren Werke von der ,Morality' herkommen oder romanhafte Motive mit tragischen ebenso wie mit komischen Elementen dramatisieren, wären die Begriffe von Tragik und Komik in Frage zu stellen. Denn sie haben sich entscheidend verwandelt, und ein neuer Name würde diesen Wandel nur kaschieren statt ihn zu erkennen zu geben. Eine große Freiheit in der Behandlung histor. Stoffe, eine nie gekannte Spannweite im Ausdruck mit tragischem Witz und komischem Pathos ließ die Wirklichkeit in ganz anderer Weise Gestalt gewinnen und veränderte die künstlerischen Mittel. Trotzdem blieb dieser Wandel an eine geschichtl. Situation gebunden, und die Autoren, die Shakespeare über alles verehrten, vermochten nicht viel mehr von ihm zu lernen als jene, die nur Regelverstöße in ihm wahrnahmen. Eine Geschichte des dt. klassischen Dramas müßte sich vergegenwärtigen, wieviel seine Autoren der häufig geschmähten franz. Tragödie verdanken und wie wenig von Shakespeares Möglichkeiten auf der dt. Bühne zu verwirklichen waren. Ein Werk wie Shakespeares Troilus and Cressida (1603), das eine völlige Umkehrung der klassizist. Bewertung der griech. Antike bedeutet, blieb ebenso folgenlos wie A r i s t o phanes, dessen gelegentlich das Tragische streifende Umkehrung der polit. Ordnung in der Geschichte der neueren Komödie kaum je verstanden wurde. Als man es aber zu würdigen begann, bemerkte man Unterschiede

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zur neueren Komödie und prägte den Begriff ,dark comedy'. § 6. Ein folgenschwerer Irrtum scheint darin zu liegen, bedeutende Werke einer vergangenen Zeit, die sich nicht in ein der Wirklichkeit der Bühne ebenso wie der des Lebens fremdes Schema zwingen lassen, zum Ausgangspunkt der Untersuchung und zugleich zum Beweisstück dafür zu machen, daß es so etwas wie T . n geben müsse. Umgekehrt wäre zu fragen, ob das von Kritikern späterer Zeiten darin entdeckte tragikomische Element nicht ein genuines Qualitätsmerkmal der alten griech. Komödie, des Shakespeareschen Trauerspiels oder der ausgeprägten Charakterkomödie M o lières sei. U n d ob nicht der Maßstab der Qualität in Beziehung auf das Vermögen des Zeitalters bzw. des Publikums, eine solche Spannung auszuhalten, auch ein Gesichtspunkt für dramat. Produktionen nach der theoret. Begründung einer T . ist. O b nicht T s c h e c h o v mit seiner höheren Auffassung der Komödie der Wahrheit näher steht, wenn er den Kirschgarten (1904) im Gegensatz zur Reaktion des Publikums als komisches Stück verteidigt, als H e b b e l , der mit dem Trauerspiel in Sizilien (1851) eine T . schreiben wollte und sein mißglücktes Werk mit einer überforderten Theorie befrachtet? Gäbe es ein isolierbares Phänomen des Tragikomischen, so müßten sich wenn nicht bessere so doch wirkungsvollere Bühnenproduktionen seither finden lassen. Auch wenn diese Wirkung vergleichsweise kurz ist auf der Ebene der hohen Lit. wie etwa beim bürgerlichen Rührstück, das dann im Sumpf der Trivialliteratur unausrottbar fortwuchert. U n historisch aber und der bewußten Arbeit der Autoren gegenüber einigermaßen unfair jedoch ist es, die veränderte, wie eine eitle Nachwelt glaubt, vertiefte Auffassung vergangener Tragödien und Komödien zur Richtschnur ihrer Gattungszugehörigkeit zu machen. D a ß es die Tragik des Lear steigert, wenn er nicht nur königlicher Held, sondern zugleich ein Narr ist und ein Tyrann, der in der Erniedrigung erst seine wahre G r ö ß e erweist, ist Shakespeares Kunstmittel. Für ein franz. Publikum des 17. J h . s hätte das kein Dramatiker tun können. Wenn Molière keine bloße Posse, sondern eine Charakterkomödie schreibt, legt er den Helden so reich an, daß er nicht nur lächerlich ist, aber die Tatsache, daß sich ein J h . später

Rousseau mit diesem Charakter identifizieren kann, beruht auf der Qualität seiner Darstellung und nicht auf einem Phänomen des Tragikomischen. § 7. Im Vergleich zur Entwicklung der Kunstmittel, sind die Bezeichnungen der Autoren und die Zuschreibungen der Lit.kritik allenfalls I n d i z i e n , die auf etwas verweisen, das nicht auf der Ebene der Benennungen diskutiert werden kann. Dazu gehört die T h e o r i e der g e m i s c h t e n E m p f i n d u n g e n , die vielfach im 18. J h . erörtert wurde. Man glaubt ihr Wirken nicht in der einfachen Folge unterschiedlicher Empfindungen zu begreifen, sondern in einem Fortwirken noch der einen, wenn schon andere Empfindungen spürbar sind und sich mit diesen mischen und steigern. David H u m e gebraucht dafür den Vergleich eines Saiteninstruments im Gegensatz zu einem Blasinstrument. D i e Saiten schwingen länger, als sie angeschlagen werden, verschiedene T ö n e mischen und verbinden sich. Wie aus Dissonanzen größere Harmonien entstehen, so vereinigen sich entgegengesetzte Empfindungen zu tieferen Gemütsbewegungen ( A Disser-

tation on the Passions, vgl. Engel, Ideen zu einer Mimik,

2. Teil, 1786, S. 2 5 6 f . ) .

Daneben stehen s o z i a l e E i n s i c h t e n . Ist nicht mehr der Souverän Held des ernsten Dramas, sondern der durch Pflichten und Grenzen seines Standes beschränkte B ü r g e r , so ändern sich auch Darstellung und Sprache. Behandelt das Drama zeitgenöss. Stoffe, so verringert es die Distanz zur Bühnenfiktion oft auf unkünstlerische Weise und nötigt zur Identifikation, wobei es sich sentimentaler oder demagogischer Mittel bedienen kann. D a sich die schauspielerischen Mittel kaum veränderten, nur ihr Einsatz jeweils anders geregelt wird, wird auch der König des Geschichtsdramas wie ein schlecht verkleideter oder überspannter Bürger auftreten und auch sprechen, wo es nicht gelingt, dem Helden eines bürgerlichen Dramas die Würde und Freiheit eines königlichen Selbstbewußtseins zu verleihen. Bestimmte Formen der Darstellung verbrauchen sich und konventionelle Rangordnungen werden unglaubwürdig, so daß schärfere K o n traste nötig werden, erst aus der Erniedrigung von neuem Hoheit, im Durchgang durch den H a ß die Gestaltung von Liebe, durch die Reduktion und Verkümmerung von Sprache erneut ein Sprechen möglich wird. Wie durch

Tragikomödie die Erfahrung der eigenen Zeit jedes ausreichend gehaltvolle Werk einer früheren Epoche neu gelesen wird und Entdeckungen ermöglicht, so prägt auch die Bühnenwirklichkeit der eigenen Zeit die Darstellung vergangener Werke, wobei sich bestimmte Werke entziehen und andere aktuell wirken. Dieser Prozeß der Entwicklung und des Wandels der künstler. Mittel in Beziehung auf die Darstellbarkeit sozialer Wirklichkeit wäre der Gegenstand der Untersuchung. Bei diesem Prozeß verändert sich die Auffassung der Gattungsbestimmungen. Schon von den drei griech. Tragikern hat jeder den Begriff der Tragödie verwandelt, wieviel mehr noch ganze Epochen, die andere Anschauungsmuster der Wirklichkeit haben und darin wieder eine Generation gegen die andere, ein Autor gegen den anderen. Während das Drama sich gegen Epos und Lyrik abheben läßt, gibt es keine einheitliche Gestalt der Tragödie, wohl aber Elemente, die als tragisch identifiziert werden. Und wie das Epos in seiner Geschichte und besonders als Roman ganz entsprechende Wandlungen durchmacht seit Rabelais, Cervantes und dann seit Sterne, ohne daß man bei allem Wechsel der Kunstmittel und Stillagen neue Gattungsbezeichnungen benötigte oder sie aus der Etikettierung als Lebensbeschreibung, Chronik, Geschichte etc. abstrahieren würde. Jedes dieser Werke verwirklicht eine Intention auf die Form des Romans selbst. § 8. I n t e n t i o n auf die F o r m des Dramas und „ V e r ä n d e r u n g der S z e n e " (Lenz) sind die leitenden Gesichtspunkte, unter denen die zunehmend theoretisch und historisch bewußter gearbeiteten Werke interpretiert werden können. Dabei bedeutet die Absicht, nicht Tragödien oder Komödien im alten Sinne zu schreiben, weder logisch noch historisch, daß das jeweils Neue und andere gemeinsam wiederum eine Gattung bilden müßte, geschweige denn, daß sie ein Phänomen der Tragikomik voraussetzen oder darstellen wollten. Autoren wie Diderot und Lenz, die häufig für diese „dritte" Gattung reklamiert werden, haben die Bezeichnung ,Tragikomödie' abgelehnt. Und auch die ausdrückliche Erklärung eines Autors, daß er tragische und komische Elemente in seinem Drama zu mischen gedenkt, wobei zu unterscheiden wäre, ob sie je für sich nebeneinander und im Kontrast sich steigernd oder zu einem Dritten verbunden,

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das er dann in einem anderen Sinne tragikomisch nennen könnte, besagt zunächst nicht mehr als die entsprechenden reich dokumentierten Verlautbarungen von Alchemisten und Geistersehern. Erst die I n t e r p r e t a t i o n kann erweisen, ob es sich um eine Mißgeburt, eine künstlerische Jämmerlichkeit, die keine Form zu finden vermochte, handelt, oder um einen poetisch lebensfähigen Zentauren. In den bisherigen Zusammenstellungen überwiegen zahlenmäßig die Mißgeburten, während bei den Werken die Zuschreibung fraglich ist und weder die Verwandlung des tragischen und komischen Stils eingesehen noch die Beziehung zu Werken, die als Schauspiel, Drama, dramatisches Gedicht etc. bezeichnet sind, überzeugend diskutiert wurde. Vor allem fehlt eine Berücksichtigung jener Veränderungen der Szene, die der vermeintlichen Einführung der Tragikomik vorausgingen oder sich gleichzeitig vollzogen. Die A b s c h a f f u n g des , G r o t e s k - K o m i s c h e n ' , des Harlekins, auf der komischen Bühne oder im Zwischenakt oder Nachspiel der Tragödie hat die Stillage im Schauspiel völlig verwandelt; sie ist in den späten Stücken Goldonis ebenso zu spüren wie im sog. „bürgerlichen Trauerspiel" (s. d.) und seinen Nebenformen. Dabei ist die Erklärung dieses Faktums, ob sie aus stilist. oder institutionellen Gründen erfolgte, hier gleichgültig. Sie hat das System der Darstellung, den Stil der Gebärdensprache und die möglichen Kontraste der Personengestaltung verwandelt. Eine K o m i k ohne Harlekin oder ,lustige Person' muß die dadurch ausgefallenen Effekte, zu denen nicht nur das Groteske und Lächerliche gehören, sondern auch Gesellschaftskritik und das Identifikationsangebot mit dem Outcast, dem Narren als Weisen, dem Bettler als König der Szene ersetzen, wo sie diese Effekte nicht völlig zu vermeiden trachtet. Eine T r a g i k ohne die Souveränität eines unumschränkten Willens, ohne das edle Pathos einer von allen Bedingtheiten des Standes freien Persönlichkeit muß ebenfalls die dadurch ausfallenden Effekte ersetzen, wenn sie sie nicht vermeiden will. Dabei ist vorauszusetzen, daß etwa der Arlecchino der entwickelten Commedia dell'arte über Mittel verfügt, die das Tragische streifen und die man sogar in einem Sinne tragikomisch nennen kann, der nichts mit dem bürgerlichen Drama zwischen Lessing

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und Hebbel gemeinsam hat, sich aber bei Büchner oder Wedekind finden ließe. Schon Lenz entwickelt den Hofmeister (1774) in der Spannung von Schuldigem und Opfer der Verhältnisse, aber statt nach der Weise des Aristophanes die bestehenden Verhältnisse fiktiv umzukehren, zeigt er sie als veränderbar. Zieht man eine Entwicklungslinie von Lenz zu Büchner, so liegt der Fortschritt in einer Resignation, in der tieferen Einsicht in die kreatürliche Bedingtheit nicht nur eines Woyzeck, sondern auch eines Danton. Und dieser Einsicht entspricht ein weit stärkerer Einsatz für die Veränderung der Möglichkeit solcher Bedingtheiten. Auf Grund des Vorverständnisses von Kleist als einem „tragischen" Dichter und des Motivzusammenhangs mit Plautus Amphitruo gilt Kleists Ampbitryon. Ein Lustspiel nach Molière (1807) für ein Musterbeispiel der Tragikomödie. Aber nicht nur hat Kleist diese stofflich naheliegende Benennung verschmäht, sondern er hat einen Stil gefunden, der weder mit den Lustspielen von Lenz noch den Tragikomödien von Hebbel oder Ibsen irgend vergleichbar ist. Trotz der über ein Jh. währenden fast allgemeinen Verkennung des (erst 1899 uraufgeführten) Werkes und der auch danach noch möglichen Verflachung ins Tragikomische bei den meisten seiner Interpreten hat Kleist die Komödie Molières bei der Bearbeitung dialektisch verwandelt: die Auflösung des komödiantischen Motivs „endigt in dem tragischen Widerspruch von Alkmenens Gefühl, das sich bewährt, indem es versagt" (Peter Szondi).

Einsicht von Lenz' Hofmeister und Büchners Woyzeck von dem bürgerl. Trauerspiel sowohl wie der Charakterkomödie abhebt und zum anderen Kleists Amphitryon von einer Gesellschaftskomödie unterscheidet und die schließlich Wedekinds Dramen von Tragödien sowohl wie von Possen trennt, ermangelt der Unterscheidungskraft und der histor. Erkenntnis, derer sie als Wissenschaft bedürfte, und sie versagt vor der interpretatorischen Aufgabe, die der Lit.kritik gestellt ist. Eine Semantik des Terminus ,Tragikomödie'/,Tragikomik' als S e l b s t b e z e i c h n u n g dramat. Autoren, die statt ungeschiedener Nacherzählung und Kommentierung die Bestimmungen des jeweiligen Begriffs herauszuarbeiten vermöchte, steht noch aus. Dabei wären die verwendeten künstlerischen Mittel von der Populärmetaphysik sowohl der Personen des Dramas wie der programmatischen Äußerungen des Autors strikt zu trennen. So hat z . B . Gerhart H a u p t m a n n Die Ratten (1909/10) als „Tragikomödie" bezeichnet, aber die Textintention ist auf das .tragische' Geschehen der John-Handlung ausgerichtet; die Komik der integrierten Hassenreuter-Welt ist dagegen Teil einer werkimmanenten Poetik, die wilhelminisches Theaterpathos und doktrinären Naturalismus gleichermaßen kritisiert. Friedrich D ü r r e n m a t t nannte sein Stück Der Besuch der alten Dame (1956) „eine tragische Komödie", bekannte sich aber bereits in seinen Anmerkungen zur Komödie (1952; vgl. Theater-Schriften u. Reden, Zürich 1966, S. 132ff.) zur ,Groteske', die seitdem als konkurrierender' Begriff die Interpretation lenkt.

§ 9. Die Verkennung der Stillage und des Gehalts dramat. Werke ist nicht nur als ein Mangel zu deuten, sondern kann als Indiz die jeweiligen z e i t l i c h e n Bedingungen der Wirkungsgeschichte dokumentieren. Trotzdem gibt es zur gleichen Zeit Deutungen verschiedener Qualität, Entdeckungen an längstbekannten Werken ebenso wie tradierte Mißdeutungen und dagegen Einsichten, die diese Mißdeutungen erst erkennen lassen und nichtig machen, und das unbeschadet der Tatsache, daß die Mißdeutungen lange Zeit hindurch die Majorität behalten können, wie etwa bei der Verkennung der klassischen franz. Tragödie in der dt. Literatur. Eine literaturgeschichtl. Argumentation, welche die Differenz, die einmal die soziale

Niemand leugnet Beziehungen zwischen der philosophischen Begründung des H u m o r s seit der Romantik und den Absichten der Dramatiker bei der Gestaltung der Wirklichkeit. Aber von einer bestimmten Zeit ab beides gleichzusetzen, solche Äquivokationen in eine vergangene Epoche zurückzuprojizieren und, außerstande, zwischen der im Kunstwerk konkretisierten dialektischen Einsicht und dem realistischen Kurzschluß einer Künstlerideologie zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden, hieße auf die Möglichkeiten der Interpretation zu verzichten. Wenn die philosophische Ästhetik eine Einsicht gewonnen hat, dann die in die dialektische Einheit von Gegensätzen durch ein tieferes Verständnis der Tragik und Komik an ihren höchsten Manifestationen, wo sie ein

Tragikomödie U m s c h l a g e n ins G e g e n t e i l , nicht aber deren Mischung bedeutet. Diese Einsicht in einer •Geschichte des Dramas zur Geltung zu bringen und an dem Wandel seiner künstlerischen Mittel zu bewähren, dürfte, da es in Skizzen seiner Entwicklung und Interpretationen einzelner Werke geschah, möglich sein. Es ist zu vermuten, daß diese Darstellung des Gestaltwandels und der Theorie des Dramas der Moderne nicht die Geschichte der Tragikomödie wäre. Zur Theorie des Komischen: Jean Paul, Vorschule d. Ästhetik (1804; 2., verb. Aufl. 1813); histor. krit. Ausg. hg. v. Eduard Berend. Bd. I, 11 (1935). Friedrich Theodor Vis eher, Über das Erhabene u. Komische. Habil.-Schr. 1837 (in: Vischer, Kritische Gänge. 2. Aufl. hg. v. R. Vischer. Bd. 4, 1922, S. 31 ff.) Neuausg. in: Yischer, Überd. Erhabeneu. Komischeu, a. Texte z. Ästhetik. Einl. v. Willi Oelmüller (1967; Theorie 1). Theodor Lipps, Komik u. Humor. E. psychologisch-ästhet. Untersuchung(1898;2. Aufl. 1922; Beitr. z. Ästhetik 6). Henri Bergson, Le rire. Essai sur la signification du comique (Paris 1909); dt. Ubers, v. J. Frankenberger u. W. Fränzel (1914 u. ö.) Joh. V o l k e l t , System d. Ästhetik. 3 Bde (1905-1914). Friedrich Georg J ü n g e r , Überd. Komische (1936; 3. Aufl. 1948). Christian J a n e n t z k y , Über Tragik, Komik u. Humor. Jb. d. FDH 1936/40, S. 3-51. Joachim R i t t e r , Über d. Lachen. Bll. f. dt. Philosophie 14 (1940) S. 1-21. Helmut Plessner, Lachen u. Weinen. E. Unters, nach d. Grenzen d. menschL Verhaltens (1941; 3. Aufl. 1961). Otto Rommel, Die wiss. Bemühungen um d. Analyse d. Komischen. DVLG. 21 (1943) S. 161-195. Reinhold Grimm u. Klaus L. Berghahn (Hg.), Wesen u. Formen d. Komischen im Drama (1973; Weged Fschg. 62). Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning (Hg.), Das Komische (1976; Poetik u. Hermeneutik 7). Zur Theorie der Tragikomödie: Marvin T. H e r r i c k , Tragicomedy: Its Origin and Development in Italy, France and England (Urbana 1955; Illinois Studies in Lang, and Lit. 39). Peter Szondi, Theorie d. modernen Dramas (1956; 2. Aufl. 1959), wiederh. in: Szondi, Schriften. Bd. 1 (1978). Karl S. Guthke, Gesch. u. Poetik d. dt. Tragikomödie (1961). Ders., Das Problem d. gemischten Dramengattung in der dt. Poetik u. Praxis vom MA. bis zum Barock. ZfdPh. 80 (1961) S. 339-364. Ders., Die moderne Tragikomödie. Theorie u. Gestalt. Aus d. Amerik a s übers. (1968; Kl. Vandenhoeck-R. 270). Helmut A r n t z e n , Die ernste Komödie. Das dt. Lustspiel von Lessing bis Kleist (1968; Samml. Dialog 23). John Louis Styan, The Dark Com-

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Tragikomödie — Traktat

96. — A . S t r o k a , A. Schnitzlers Tragikomödien. Germanica Wratislaviensia 14 (1970) S. 55-73. Kurt B e r g e l , A. Schnitzlers Tragikomödie 'Das Wort', in: Studies in A. Schnitzler. Centennial Commemorative Volume. Ed. by Herbert W. Reichert and Herman Salinger (Chapel Hill 1963) S. 1-24. — Karl S. G u t h k e , Gerhart Hauptmann u. d. Kunstform d. Tragikomödie. GRM 38 (1957) S. 349-362. Benno v. W i e s e , Wirklichkeit u. Drama in G. Hauptmanns Tragikomödie 'Die Ratten'. Jb. d. dt. Schillerges. 6 (1962) S. 311-325, wiederh. in: Wiese, Zwischen Utopie u. Wirklichkeit (1963) S. 215-231. Gerhard K a i s e r , Die Tragikomödien G. Hauptmanns, in: Festschrift f . Klaus Ziegler. Hg. v. Eckehart Catholy u. Winfried Hellmann (1968) S. 269289. — Paul B ö c k m a n n , Die komödiantischen Grotesken Frank Wedekinds, in: Das dt. Lustspiel. Hg. v. Hans Steffen. Bd. 2 (1969; Kl. Vandenhoeck-R. 277) S. 103-124. — Volker K l o t z , Engagierte Komik. Zu Bertolt Brechts 'Mann ist Mann'. Das neue Forum 8 (1958/59) S. 193-199, wiederh. in Klotz, Kurze Kommentare zu Stücken u. Gedichten (1962) S. 29-35. H. A r n t z e n , Komödie u. episches Theater. Deutschunt. (Stuttg.) 21 (1969) S. 67-77, wiederh. in: Wesen u. Formen d. Komischen im Theater. Hg. v. Reinhold Grimm u. Klaus L. Berghahn (1975; WegedFschg. 62) S. 441-455. Hans K a u f m a n n , Zum Tragikomischen bei Brecht u. anderen, in: Studien z. Lit.gesch. u. Lit.theorie. Hg. v. HansGünther Thalheim u. Ursula Wertheim (1970) S. 272-290. Marianne K e s t i n g , Die Groteske vom Verlust der Identität: Bertolt Brechts 'Mann ist Mann', in: Das dt. Lustspiel. Hg. v. Hans Steffen. Bd. 2 (1969; Kl. Vandenhoeck-R. 277) S. 180-199. — R . B. H e i l m a n n , TragicElements in a Dürrenmatt Comedy. Modern Drama 8 (1965) S. 156-160. Ulrich P r o f i t l i c h , Friedrich Dürrenmatts Komödienbegriff u. Komödienstruktur. E. Einführung (1973; Sprache u. Lit. 86). Manfred D u r z a k , Die Travestie d. Tragödie in Dürrenmatts 'Der Besuch d. alten Dame'. Deutschunt. (Stuttg.) 28 (1976) S. 86-96.

Horst

Günther

Traktat § 1. Innerhalb der lit.wiss. Diskussion über literar. Gattungen und einzelne Textsorten, die schließlich, wenn auch zögernder, ebenfalls über Prosatexte mit sachl. Inhalt bzw. Bezug geführt worden ist, haben B e g r i f f und M e r k m a l e des T.s als einer eigenständigen, mit langer Tradition behafteten literar. Zweckoder Gebrauchsform, wenn überhaupt, dann in der Regel nur gewisse Hilfsfunktionen zur

definitorischen Klärung und Abgrenzung besonders im Falle der Beschreibung von Begriff und Geschichte des E s s a y s (s. d.) wahrgenommen. Dabei" wurde in Ansätzen bereits deutlich, daß der T. nicht nur für die Patristik und die darauf folgende mal.-scholast. Theologie und Philosophie, sozusagen als der Dogmatik unterworfener Vorläufer des undogmatisch und frei sich entfaltenden Essays, eine wichtige Rolle gespielt hat, sondern als Textform bis in die Gegenwart hinein in Anspruch genommen bzw. erfüllt wird. Denn in der wiss. wie literar. Prosa der Neuzeit weisen manche Kriterien darauf hin, daß der T. oder t.hafte Momente fortbestehen oder erst neu sich ausgebildet haben, selbst wenn die ursprünglich christl.-religiösen Vorzeichen der T.lit. fortfallen oder geändert sind. Obgleich der T. bisher keine monographischen, speziell dieser Form gewidmeten Untersuchungen herausgefordert hat, erscheint er, ähnlich wie vor einigen Jahrzehnten nach H . Wolffheims Formulierung der Essay, für diese „Forschungsaufgabe" mittlerweile geradezu prädestiniert, weil er als Ordnungsbegriff bei der Erörterung histor. Textsorten unerläßlich und materialreich sowie bei der Bestimmung von gegenwärtigen, im Zuge der modernen Publikationspraxis der Wiss., ihrer jeweiligen Didaktik und der daraus resultierenden Sachbuch- und Zeitschriften-lit. immens ausufernden Prosaformen (Vorlesung, Rede, Vortrag, Predigt, Untersuchung, Bericht, Protokoll, Bestandsaufnahme, Gutachten, Entwurf, Konzept, Erwiderung, Diskussionsbeitrag, Referat und Korreferat, Aufsatz verschiedener Konvenienz wie aus Zeit- und Festschriften, Jb(b), Kongreß- und Tagungsberichten, weiterhin Abhandlung, Studie, Arbeit, Modell u. ä.) zum mindesten nützlich ist und typische Anhaltspunkte für die Wertung und Charakterisierung solcher Texte an die Hand gibt. Begriff, Geschichte und literar. Geltung wie wiss. Bedeutung des T.s lassen den Rückschluß zu auf eine Textform mit zwar eingeschränkter, aber intensiver Wirkung. Im T. treffen nämlich Eigenschaften expositorischer Texte, die rein praktischen Zwecken dienen, mit denen, literarisierter Gebrauchsformen, die literar. .Elemente für das praktische Ziel einsetzen, aber ebenfalls (wenn auch selten) mit Merkmalen rein literar. Gebrauchsformen, deren fiktionaler Anspruch vorrangig ist, zusammen und bestimmen den Horizont des Traktats zwischen

Traktat pragmatischer Mitteilungsfunktion auf der einen und sprachlich-literar. Kunstwerk auf der anderen Seite. K a y s e r , Kunstw. — Hans W o l f f h e i m , Der Essay als Kunstform. Thesen zu e. neuen Forschungsaufgabe, in: Festgruß für Hans Pyritz (1955; Euph., Sonderh.), S. 27-30. Dolf S t e r n b e r g e r , Über d. Umfang d. Lit. Dt. Akad. f. Sprache u. Dichtung. Jb. 1963, S. 95-97. Wolfgang S c h a d e w a l d t , Der Umfang d. Begriffs d. Lit. in d. Antike. Ebda, S. 98-115. Wolfgang Victor R u t t k o w s k i , Die literar. Gattungen. Reflexionen über e. modifizierte Fundamentalpoetik (1968). Friedrich S e n g l e , Die literar. Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform (1967; 2. Aufl. 1969; Dichtung u. Erkenntnis 1). Horst B e l k e , Literar. Gebrauchsformen (1973; Grundstudium Lit.wiss. 9), Kap. Textarten. Grundzüge d. Lit. u. Sprachwiss. Hg. v. Heinz Ludwig A r n o l d u. Volker S i n e m u s . Bd. 1: Lit.wiss. (1973; dtv.Taschenbuch 4226) S. 258-341; darin bes. H. B e l k e , Gebrauchstexte, S. 320-341. Johannes S c h w i t a l l a , Was sind ,,Gebrauchstexte"? Dt. Sprache 4 (1976) S. 20-40. Ludwig F i s c h e r , Knut H i c k e t h i e r u. Karl R i h a (Hg.), Gebrauchsliteratur. Methodische Überlegungen u. Beispielanalysen (1976). § 2. W o r t . D e r (seltener: das) Traktat, aus lat. tractatus spätmhd. entlehnt und zuerst belegt beim Pfarrer z. d. Hechte, bezeichnet außer der Abhandlung, die im vorliegenden Zusammenhang allein gemeint ist, (beim Pluralgebrauch) auch Verhandlungen, weiterhin das Ergebnis von Verhandlungen, nämlich den Vertrag selbst, wofür Kants Verkündigung des

nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie, ein Jahr nach seiner Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 verfaßt, ein Beispiel ist. T . ist darüber hinaus in der jüdischen Uberlieferung die spezielle Bez. der 63 Einzelbücher der Mischna, der Tossefta und des Talmud. Manchmal bezeichnen T . , über diese besondere Bedeutung im jüdischen Bereich hinaus, überhaupt die Einzelteile (Kapitel) eines größeren Ganzen. Tractatus als literar. Form ist mit dem griech. W o r t ófuMa zu umschreiben und synonym mit collatio, freilich mit der Einschränkung „praesertim de rebus sacris". Im D t . treten außer T r a k t a t noch die Diminutiva T r a k t ä t c h e n (zuerst bei Grimmelshausen), T r a k t ä t e l (als tractatell bei Luther) und T r a k t ä t l e i n (zuerst 1493 bezeugt) auf. Im engl., span., portug., ital. und franz. Sprachraum hat der T . als

tract, tratado,

trattato,

trattatello

und traité

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vor und neben dem Essay eine maßgebliche Funktion innerhalb der Prosa mit informierender, aber zumeist auch bestimmten Wertvorstellungen verpflichteter Absicht ausgeübt. Das zugehörige Verb t r a k t i e r e n (dem lat. tractare im 15. J h . nachgebildet) kommt in der Bedeutung bewirten (1445), aber auch theologari (1477) und in dem Sinne reden o f f tracteren van gotliken saken und seit dem 16. J h . mit den Bedeutungen .handhaben, behandeln, erörtern, verhandeln' vor, die dem lat. bzw. mlat. Vorbild entnommen wurden. Das Diminutiv T r a k t ä t c h e n ist von besonderer Bedeutung. Durch die kleinen, weitverbreiteten moralisch-religiösen Erbauungsschriften mit dieser Bezeichnung, die von den vielen Traktatgesellschaften vertrieben wurden (vgl. § 6d), erhielt die literar. Form des T . s einen nachhaltig pejorativen Nebensinn. D e m restaurativen Geiste dieser Gesellschaften und der Unzahl von teilweise nicht einmal mehr im Sinne ihrer Erweckungsbewegung popularisierten und verflachten Schriften gilt die abfällige Verwendung des Begriffs T . und seines Diminutivums bis heute. Beispiele der T . Kritik aus dem 19. J h . sind besonders aufschlußreich und bezeichnend. Wenn Heinrich Heine im 2. Bd. der Reisebilder {Ideen. Das Buch Le Grand, Kap. X I V ) verächtlich und ironisch zitierend auf „Traktätchenverfasser" verweist und sie gegen die ernst zu nehmenden Autoren ausspielt, ist der gleiche Sachverhalt angeprangert wie in Gottfried Kellers Wort vom , ,Traktätleinkonservatismus". A d e l u n g T. 4 (1808) Sp. 637. Carolus D u f r e s n e du C a n g e , Glossarium mediae et infimae Latinitatis. Bd. 6 (Paris 1846) S. 627f. Jacob u. Wilh. G r i m m , Dt. Wb. Bd. 11 (1935) Sp. 10141018. Lexikon d. Judentums (2. Aufl. 1971), Sp. 812. Friedr. K l u g e u. Walther M i t z k a , Etymologisches Wb. d. Dt. Sprache (20. Aufl. 1967) S. 785. § 3. D i e B e g r i f f s b e s t i m m u n g des T . s bringt ähnliche Probleme mit sich wie die Definition anderer Formen der Sachprosa, z . B . Abhandlung, Essay oder Feuilleton. D i e Verwendung des Begriffs T . zur literar. Einordnung einer literar. bzw. wiss. Arbeit bereits im Titel oder an anderer Stelle durch den Autor selbst ist nicht immer ein verläßliches Indiz dafür, daß es sich wirklich um die literar. F o r m des T . s handelt. Das Wort wird, abge-

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Traktat

sehen von seiner angeführten negativen Bedeutung, manchmal auch im pretiösen Sinne germanist. oder sonstwie wiss. und allgemeinen Sprachgebrauchs angewendet [vgl. G. Haas, Essay S. 61; beispielsweise spricht Wolfgang Kuttenkeuler, (Heinrich Heine. Artistik u. Engagement, 1977, S. 187) sowohl in Hinblick auf Walter Muschg und ein Kapitel von dessen Tragischer Literaturgeschichte als von „seinem Traktat über den Ruhm der Dichter" wie auch (S. 201) über Heines postum veröffentlichtes kurzes Prosastück Verschiedenartige Geschichtsauffassung als von einem „Traktat"; vgl. auch die Verlagswerbung des S. FischerVerlages zu Hubert Fichtes Roman Versuch über die Pubertät (1979), die diesen als „Hubert Fichtes vielschichtiges T. über die Ritualisierung pubertärer Vorgänge" bezeichnet]. Häufig sind die Grenzen zwischen den einzelnen Textsorten literar. Gebrauchsformen fließend. Leszek Kolakowskis Traktat Uber die Sterblichkeit der Vernunft (1967) heißt im Untertitel z. B. Philosophische Essays. Trotz mancher Ungenauigkeiten und begrifflichen Verschiebungen haben die bisherigen Definitionsbestimmungen und Beschreibungen von Prosazweckformen manche beiläufigen Verweise bis hin zu wesentlichen Kriterien für die Eingrenzung des T.-begriffs geliefert, worauf weiterführende Untersuchungen über den T. aufbauen können. a) F o r s c h u n g s e r g e b n i s s e und - h i n w e i se. In Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Lit. (1955 u . ö . ) wird der T. lapidar als „ A b handlung über ein Problem des geistigen, kulturellen oder allgemeinen Lebens, Darlegung eines Sachverhalts in tendenziöser Absicht als Flugschrift oder Broschüre" bezeichnet und global charakterisiert. Diese knappe, teilweise nicht gerade positive Begriffsbestimmung entspricht dem Schlagwort T. in den traditionellen großen Lexika und Enzyklopädien, wobei freilich Meyers Enzyklopädisches Lexikon (Bd. 23, 1978, S. 638) eine bereits neutrale, dem veränderten Stand der Diskussion Rechnung tragende, sachlich aufwertende Charakteristik vornimmt, indem der T. als „literar. Zweckform in Prosa, schriftl. Behandlung eines religiösen, moral. oder wiss. Problems (Abhdlg.)" beschrieben und als „in Deutschland häufige Form der Erbauungsliteratur seit dem 16. Jh. sowie von religiösen Flugschriften, Streit- und Schmähschriften" bezeichnet wird, mit der

Ergänzung, daß der Traktat „daher bisweilen abschätzig als Bez. für platt tendenziöse Schriften (,Traktätchen') verwendet" werde. Diese allgemeinsten Angaben erfahren in den Arbeiten von Just, Berger, Rohner, Haas, Baehmann, Belke u.a. erwägenswerte und differenzierte Vorstufen und Ergänzungen. Die im engl. Sprachraum insgesamt feststellbare „traktathafte Komponente" (Haas, S. 16) des Essays hatte Klaus Günter Just am Beispiel der Essayistik John Ruikins zutreffend, und damit zugleich ein Problem der Essay- und T.Definition überhaupt bezeichnend, als „immer an der Grenze zum T . " befindlich umschrieben und bei Wells und Shaw als „zur Hälfte Traktat" charakterisiert {Essay, Stammler Aufr., 2. Aufl. 1960, Sp. 1931 u. 1937). Diese Grenze wird in der Lit. über den Essay stets von neuem angesprochen. Bruno Berger (Der Essay, 1964, S. 31) streift den T. mit einer pauschalen, nicht allzu gründlichen Abschweifung, die dennoch einige erhellende Aspekte zum Vorverständnis dieser Gebrauchsform beiträgt, insofern sie ihn, wenn auch durch eine negative Abgrenzung, in die Reihe der Unterrichts- und Lehrwerke eingliedert: gelegentlich habe sich „eine gelehrte Abhandlung grundsätzlichen Charakters" T. genannt, „in dem etwas traktiert, behandelt" werde; der T. habe die Funktion einer kurzen Thesenzusammenfassung ausgeübt, oft habe mit ihm „nur die gedrängte Darstellung (im Gegensatz zum Lehrbuch, Handbuch, auch zur Untersuchung, Darstellung, Handreichung) ausgedrückt werden" sollen. Grundsätzlicher verfährt Ludwig Rohner bei der Auseinandersetzung mit dem T. in seinem Standardwerk Der deutsche Essay (1966). Er ordnet den Essay und sein Verhältnis zum T. geistesgeschichtlich ein. Über Montaigne und Bacon, die Wegbereiter des Essays, heißt es: „Zeitgenossen während fast drei Jahrzehnten, leben sie in jener versuchsfreudigen Epoche, deren Denken das System, deren Schriftsteller den Traktat der Scholastik verabschieden" (S. 26). Mit dieser Positionsangabe sind manche Konsequenzen verbunden. Rohner folgt (S. 55) ebenso wie später Haas (S. 62) Wolfgang Iser {Walter Pater. Die Autonomie des Ästhetischen. 1960, S. 25) in der klassischen Formulierung vom „determinierenden Zwang des T . " und schließt sich Erich Auerbach {Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländ. Lit. 2. Aufl. 1959, S. 276) in der Beobachtung an, daß der Essay sich in seiner Form theoretisch gebe, aber gleichzeitig die Möglichkeit einer theoretischen Bewältigung der Erfahrung verwerfe, „die der T. beansprucht". Rohner konstatiert, daß mit den Essais von Montaigne aus dem Jahre 1580 sich die offene Form des Essays „künftig zum systematischen T . " gesellt, wider diesen gestritten und ihn schließlich zurückgedrängt habe. Der T. gehe von festen Prämissen aus; sein Verf. stelle den Typ des systematischen, analytischen Schriftstellers dar; das Ergebnis, der T. selbst, gehe

Traktat eine kompakte, über die moralischen Maßstäbe fraglos verständigte Gesellschaft an, die er geradezu voraussetze. Die Methode des T . besteht nach Rohner darin, daß er in professoralem Monolog abgeschlossene, systematisch geordnete Gedanken zu einem Thema vortrage; er handele ab, spreche den Leser nicht wie einen zu Einwürfen bereiten Hörer an. Während dem T . unter den kleinen Formen die Maxime als Denkspruch, der einen obersten Grundsatz mitteilt, sowie die Paränese als ermahnender Zuspruch korrespondierten, gehöre zum Essay als kleinster Einheit der Aphorismus (S. 62-65). Die Nahtstelle zwischen T . und Essay wird besonders bei Bacon und dessen Essays von 1597 deutlich. Rohner zitiert (S. 71) die differenzierende Einordnung beider Prosaformen im Aufsatz von Ruth Schirmer-Imhoff über Montaigne und die Frühzeit des englischen Essays (GRM, N F 3, 1953, S. 121-135, hier S. 125f.), wo festgestellt wird: „Doch fehlt den Baconschen Essays das, was die Montaignes zu Essays im eigentlichen Sinne macht: Das Tasten, das Schmecken, das Erfahren des Ich. Wenn Bacon Erfahrung mitteilt, wird er didaktisch. Seine Essays wollen keine Konfession sein, sie bieten T.e in geschliffener Form." Trotz aller Bedeutung, die dem Essay auch im Deutschen zugekommen ist, enthält Rohners Exkurs über die deutsche Essay-Fremdheit (S. 127-131) das teilweise polemisch verschärfte Urteil, daß formgeschichtlich gesehen der moderne dt. Essay zum T . zurücktendiere und sich der spielerischen Form begebe. „Der T . ist als literar. Ausdruck einer bestimmten Form des Denkens auch heute noch durchaus legitim, doch soll er sich nicht als Essay ausgeben: er steht unter ganz anderen Stilgesetzen." Die Rückbildung des Essays zum T . bedeute den Wechsel von sinnlicher zu theoretisierender Sprache, vom experimentierend offenen Schreiben zum bloßen Mitteilen von Denkergebnissen, von geselliger zu monologischer Prosa; Analyse trete an die Stelle der Synthese, Theorie an die der Erfahrung, Doktrin an die des Erlebnisses. Rohner sieht eine solche Tendenz bei vielen modernen Essayisten ausgebildet: „sie handhaben die traditionsreiche, literaturhistorisch und ästhetisch fixierte Form des Essays nach den Regeln eines T . s " . Das beste Beispiel sei dafür Theodor W. Adorno, der im Gegensatz zu Lukács Ausführungen Über Wesen und Form des Essays (1911) den eigenen Beitrag Der Essay als Form (geschrieben 1954-58) geradezu als T . abgefaßt habe. Oberhaupt möge Adornos Denken vielleicht essayistisch sein, die Form sei es nicht, eine Unterscheidung, die wegen der, .unverwechselbaren Denkhaltung", aus der heraus der T . ebenso wie der Essay bestimmt sei, von Haas (S. 62) mit dem Verb „denunzieren" versehen wird. (An anderer Stelle beziehen sich Rohners Vorbehalte ebenso auf Bense, z . B . S. 608 und 787). Rohner ist trotz seiner prononzierten Bedenken gegenüber Adornos Essays, die für ihn trotz gewagter Experimente in Gedanke

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und Formulierung „eher Traktate" darstellen, großzügig genug, Rainer Gruenters Bemerkungen zu Adornos Prosa zu zitieren (S. 129f.), in denen ihr gerade der Charakter des T.s unter einem weiträumigen Blickwinkel abgesprochen wird: „In Deutschland gab es bedeutende, aber folgenlose Miterben (des klassischen franz. moralischen T.s), Georg Christoph Lichtenberg und Schopenhauer, und schon bei Nietzsche, dem letzten dt. Moralisten von franz. Rang, wenn auch sehr deutscher Prägung, beobachten wir den Zerfall des moralischen T.s und seiner geschlossenen thematischen Einheit in ein Potpourri aphoristischer Bravourstücke. Die Minima moralia Adornos, der letzte gewichtige Beitrag zur moralischen Lit. Europas, sind nur noch hermetische Notizen, in der Form also schon Ausdruck moralisierender Subjektivität" (Sitten ohne Sitte. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 749, 23. 2. 1964). Damit hätte der von Rohner beklagte Verfall des Essays in seiner Reduzierung zum T . auch vor dem T. selbst nicht Halt gemacht. An weiteren Kennzeichen des T.s bringt Rohner bei, daß dem T. als literar. Kleinform bestimmte polemische Merkmale im Unterschied zum vornehmzurückhaltenden Essay zuerkannt werden müssen (S. 332). Inhaltlich gesehen sei seit der Renaissance im Essay die Tradition des antiken und scholastischen T.s fortgeführt worden durch die Behandlung der „Moralia", nämlich Leidenschaften, Erziehung, Glück, Zusammenleben und Erfahrung (S. 364). Darin zeigt sich in der Tat die enge Verwandtschaft der bis in die Gegenwart aufeinander bezogenen Formen, die teilweise in den traktathaften dt. Kulturanalysen bei Benjamin, Broch, Musil, Adorno, Kracauer, Enzensberger, aber auch bei Heidegger, Benn, E. und F. G. Jünger wiederum zur Symbiose gelangen, wobei Bloch wegen der geglückten Einheit von Denkerlebnis und Bildgehalt ausdrücklich ausgenommen wird (S. 428f.). Neben einigen verstreuten Hinweisen enthält das Realienbändchen über den Essay von Gerhard H a a s (1969), der bereits 1966 Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman (Studien zur dt. Lit. Bd. 1, bes. S. 107-116: T. und Essay) vorgelegt hatte, im Kapitel Topographische Abgrenzungen den Abschnitt T. und Essay, dem wesentliche Anregungen zu entnehmen sind. Bereits die Einleitung des Kapitels macht mit aller Deutlichkeit auf ein bisher nicht beseitigtes Dilemma aufmerksam: „Es ist eines der hervorstechendsten Merkmale der Essaydiskussion bis in die Gegenwart herein, daß die Begriffe Essay, T., Aufsatz, Abhandlung, Skizze, Fragment, Feuilleton und Aphorismus nicht selten ununterschieden oder geradezu synonym gebraucht werden" (S. 60). Im Abschnitt über T. und Essay selbst (S. 61-63) beginnt Haas mit dem Hinweis auf die „starke Bedeutungsverengung", die der Begriff T. in den letzten 200 Jahren erfahren habe, indem er „vorwiegend das literarisch anspruchslose religiöse Erbauungsschriftchen" meine. Dabei sei die

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Traktat

Bedeutung einer literar. abgrenzbaren Gattung — seit Augustinus und Prudentius mit der Qualität Predigt, Bibelauslegung — weitgehend verloren gegangen. Bei seiner heutigen Verwendung drücke er gelegentlich (wie oben bereits erwähnt) sprachliche Preziosität bzw. auch Gedankenlosigkeit aus und fungiere im übrigen „als neutraler Sammelbegriff". Wie beim Essay die eigene Benennung des Essayistischen notwendig wird, so ist „das Traktathafte" als „wechselnd starke Unterströmung in der Literatur" dingfest zu machen; Haas folgert zu Recht: „wo es sich zur abgeschlossenen Form organisierte, geschah das häufig unter dem Namen Essay oder Aufsatz". Nach dem von Rohner (S. 128) übernommenen und oben wiedergegebenen „Merkmalskatalog der beiden Formen" T. und Essay charakterisiert Haas die Absicht des Verf. eines T.s sehr anschaulich. Sein Ziel sei „nicht die Erkenntnis einer Sache, die er zusammen mit dem Leser, mit der Gesellschaft, an die er sich wendet, zu bewerkstelligen trachtet — sein Ziel ist die Darstellung einer These, einer fertigen Überzeugung von nicht in Frage zu stellender Position aus." Es folgt eine konzentrierte und umfassende Beschreibung des T.s als literar. Zweckform: „Nicht selten enthält der T . auch Attacken gegen Andersgläubige' im weitesten Sinne. Hier berühren sich T . und Pamphlet. Beide literar. Zweckformen gehen Positionen an: das Pamphlet, indem es sie als lächerlich oder verabscheuungswürdig darstellt, der T., indem er die eigene, ,richtige' Position vorführt und an ihr mißt. Im T. gibt es nur eine Sicht des Gegenstandes; alles zielt auf das endgültige Ergebnis und auf das Zurruhekommen der Denkbewegung in diesem Ergebnis. T.e stellen Weltansichten vor, große und kleine Ideologien; sie beinhalten deshalb auch immer eine mehr oder weniger versteckte didaktische Tendenz." An diesen Bestimmungsversuch schließt sich die in der nachfolgenden Lit. zum Thema (Bleckwenn, S. 123) bereits als „pointiert" herausgehobene Formulierung an: „ D e r T . legt fest — der Essay erwägt." Wichtig sind ebenfalls die Ausführungen über die dem T. eigentümlichen sprachlichen Formen. „Wie die Denkhaltung des Essays durch bestimmte Sprachformen ausgewiesen wird, so gibt es auch sprachliche Indizien für den Traktat. Das ,wir' des Essays bezeichnet die Einbeziehung des Lesers in die Denkbewegung; im T. erhält ,wir' eher die Qualität eines pluralis majestatis. Dem T. fehlen die den scheinbar festen Ergebnissen ihre Offenheit zurückgebenden Wendungen ,vielleicht', wahrscheinlich', möglicherweise', ebenso wie die Verben des Erwägens und Meinens: ich glaube, ich sage, ich will . . . usw. Dem T. mangelt ferner die doppelte Sicht einer Sache im abwägenden einerseits — andererseits'. Poetisches Bild und Zitat benutzt er als Zeugnis für die eine Wahrheit, dit er vorstellt. Insgesamt ist seine Sprache strenger, karger; es fehlt ihr der Glanz des Uberflüssigen, des frei Assoziierten und zu weiteren assoziativ angeschlossenen Gedanken-

gängen Anregenden." (S. 63). Als Fazit kann Haas allerdings auch nur festhalten, daß es zwischen Essay und T. Ubergänge gebe, „die eine reinliche Scheidung erschweren oder unmöglich machen. Die ideal typische Beschreibung beider Formen ist deshalb nur insofern von Belang, als sich mit ihrer Hilfe das Faktum von Grenzen ausmachen läßt und als auf diese Weise das jeweilige Profil eines Textes mit differenzierteren Mitteln bestimmbar wird" (ebd.). Die Überlegungen von Haas führen in bezug auf die gesellschaftliche Funktion der Textformen Essay und T . zu der bemerkenswerten Feststellung (S. 81), daß beide Formen von der je liberal oder dogmatisch geprägten Zeit und Umwelt abhängen. Der Mangel an Essays in Deutschland zwischen 1933 und 1945 und ebenso nach 1945 in der D D R , wohl aber das Vorhandensein von T.en, die, wie Haas ausdrücklich betont, „damit literar. keineswegs geringer bewertet sind", belege diese Zusammenhänge. Der „Strukturwandel zum T . " wird deshalb auf der ganzen Linie für H. Bleckwenn nur unter dem Gesichtspunkt verständlich, daß die Geschichte des dt. Essays als Geschichte einer Gattung der bürgerlichen Lit. zu konzipieren sei (S. 122 u. 124). Uber die begrifflichen Schwierigkeiten bei der Bestimmung des T.s geben auch die beiden auf den T. bezogenen Abschnitte Vom Essay zum T. und Allegorie als Kontinuum zwischen Denkbild und T. im Walter Benjamin-Kapitel der Studie Essay und Essayismus (1969) von Dieter B a c h m a n n Aufschluß. Benjamins Essays fehle „jene spielerische Serenität, die man dieser Form nachrühmt; sie sind Apologien, provokativ, polemisch, traktathaft" (S. 119). Benjamin selbst hat in der Einhahnstraße unter dem Stichwort Innenarchitektur eine Passage über den T. verfaßt, die seine eigene Essayistik verständlicher macht: „Der T . ist eine arabische Form. Sein Äußeres ist unabgesetzt und unauffällig, der Fassade arabischer Bauten entsprechend, deren Gliederung erst im Hofe anhebt. So ist auch die gegliederte Struktur des T.s von außen nicht wahrnehmbar, sondern eröffnet sich nur von innen. Wenn Kapitel ihn bilden, so sind sie nicht verbal überschrieben, sondern ziffernmäßig bezeichnet" (Bachmann S. 120). Bachmann behauptet die Vermischung von Essayistischem mit T.haftem in Benjamins Aufsätzen, ordnet diese zwar dem Essay zu, sieht aber Züge des Essays mit denen der Abhandlung verbunden, wobei der T . in der Mitte zwischen diesen beiden Prosaformen steht (S. 123 f.). Bachmann stellt fest: ,,In einem Kontinuum zwischen reinem Traktat und reinem Bild bewegt sich Benjamins eigentliche Essayistik" (S. 124, Hervorheb. v. Bachmann). Ein Zitat Benjamins aus seinem Ursprung des dt. Trauerspiels (1928, S. 12f.) wird von Bachmann herangezogen, um Benjamins essayist. Auffassung des T.s verständlich zu machen. Zugleich ergeben sich in diesen Äußerungen Benjamins für das Verständnis des T.s selbst wichtige Anhaltspunkte über Methode und hist. Hintergrund: „ T . e

Traktat mögen lehrhaft zwar in ihrem T o n sein; ihrer innersten Haltung nach bleibt die Bündigkeit einer Unterweisung ihnen versagt, welche wie die Lehre aus eigener Autorität sich zu behaupten vermöchte. [. . .] Darstellung ist der Inbegriff ihrer Methode. Methode ist U m w e g . Darstellung als U m w e g — das ist denn der methodische Charakter des T . s . Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation." Weiter heißt es dann in einem tiefschürfenden Vergleich der Mosaikkunst mit der gleichzeitigen Traktatlit.: „ W i e bei der Stückelung in kapriziöse Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so bangt auch philosophische Betrachtung nicht um Schwung. Aus Einzelnem und Disparatem treten sie zusammen; nichts könnte mächtiger die transzendente W u c h t , sei es des Heiligenbildes, sei's der Wahrheit lehren. Der Wert von Denkbruchstücken ist um so entscheidender, je minder sie unmittelbar an der Grundkonzeption sich zu messen vermögen und von ihm hängt der Glanz der Darstellung im gleichen Maße ab, wie der des Mosaiks von der Qualität des Glasflusses. Die Relation der mikrologischen Verarbeitung zum Maß des bildnerischen und intellektuellen Ganzen spricht es aus, wie der Wahrheitsgehalt nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sachgehalts sich fassen läßt, Mosaik und T . gehören ihrer höchsten abendländischen Ausbildung nach dem Mittelalter an; was ihren Vergleich ermöglicht, ist echte Verwandtschaft" (S. 1 2 8 f . ) .

Die bisher dargestellten Forschungsergebnisse und -hinweise werden von Horst B e l k e (Literar. Gebrauchsformen, 1973) im Kapitel

Klassifizierung und Beschreibung etablierter literar. Gebrauchs formen nach ihrer dominanten praktischen Funktion im Abschnitt über Formen mit informierender Funktion (im U n terschied zu solchen mit wertender, appellierender und autobiographischer Funktion) knapp verarbeitet. Die Interdependenz der Begriffe gibt Aufschluß über Stellenwert und Bedeutung des T . s und der verwandten F o r men. Als Formen mit informierender Funktion folgen einander: Abhandlung, T . , Sachbuch, Dialog, Bericht, Reportage, Interview, Biographie. Unter Formen mit wertender Funktion versteht Belke: Essay, Feuilleton, Glosse, Leitartikel und Kritik. Die appellierende Funktion kommt in Formen wie Rede, Predigt sowie Formen der Polemik (Flugblatt, Flugschrift, Pamphlet, Invektive, Pasquill) zum Ausdruck. Formen mit autobiographischer Funktion stellen schließlich dar: Tagebuch,

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Autobiographie und Memoiren. Sein definitorischer Versuch, der an manche Aussagen Rohners und Haas' anknüpft, lautet: „ D a s Traktat ist eine durch lange Tradition geprägte Form der Abhandlung. Es war vor allem im M A . gebräuchlich als Darstellungsform philosophisch-wissenschaftlicher Probleme. Kennzeichnend für das T . ist die Einseitigkeit, die Einlinigkeit, mit der eine Position vertreten wird, die für den Autor als , D o g m a ' , als ,Lehre', als ,System' vorgegeben ist und somit einen subjektiven Zugriff nicht erlaubt. Das T . als Form einer bestimmten D e n k haltung bietet seine Auffassungen und Ergebnisse als unverrückbare Thesen dar. Es unterscheidet sich dadurch von der Abhandlung, daß es den Gegenstand von vorgefaßten Prämissen her analysiert und ihn somit nicht mit der bei der Abhandlung angestrebten O b j e k t i vität darstellen kann. Abweichende Anschauungen werden zuweilen in einer Weise attakkiert, die das T . in die Nähe des Pamphlets rückt. Die mit durchaus appellativer Absicht dargestellten Thesen, Ideen und Weltansichten sollen dem Leser als die einzig richtigen erscheinen." Weiter heißt es an dieser Stelle: ,,In der Neuzeit hat sich die Bedeutung des Begriffs T . verengt. E r bezeichnet seit dem 18. J h . vorwiegend anspruchslose religiöse Erbauungsschriften. Im literar. und wiss. Bereich hat er heute häufig eine pejorative Bedeutung im Sinne von doktrinärer Argumentation und ambitioniert preziöser Darstellungsweise. U m s o bemerkenswerter ist die Tatsache, daß auch im 20. J h . Schriftsteller und Philosophen vom Range Walter Benjamins, Theodor W. Adornos und Leszek Kolakowskis sich trotz oder gerade wegen dieser Einschätzung des T . s seiner als Darstellungsform bedienen, wobei allerdings die Begriffe T . und ,Essay 1 auf schwer unterscheidbare Art vermischt werden." (S. 7 9 f . ) Durch Belkes Beschreibung wird allerdings selbst fraglich, ob die Einordnung des T . s unter die Formen mit informierender Funktion nicht relativiert werden muß, weil Ubergänge zu denen mit wertender und appellierender Tendenz feststellbar sind. Eine einfachere Zuordnung unter die wiss. Gebrauchstexte findet in seiner instruktiven und den T . ebenfalls einleuchtend charakterisierenden Studie über Gebrauchstexte (Grundzüge der Lit.- u. Sprachwiss. H g . v. Heinz Ludwig Arnold u. Volker Sinemus. Bd. 1, 1973, S. 328) statt. Die lit.wiss. Diskussion geht

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Traktat

weiter, weil das Problem der Textarten inzwischen auch für den Unterricht und die Didaktik interessant geworden ist (vgl. Fischer/Hickethier/Riha [Hg.], Gebrauchslit. unter § 1). b) H i s t o r i s c h e H e r l e i t u n g und z u s a m m e n f a s s e n d e B e g r i f f s b e s t i m m u n g . Für die Begriffsklärung des T.s ist über die weitreichenden und z. T. gründlichen Definitionen der bisher vorliegenden relevanten Lit. hinaus ein Blick auf die Herkunft und lit.hist. Verflechtung dieser Prosaform hilfreich. Im T. treffen nämlich Traditionen der antiken griech. Philosophie und Rhetorik mit der Ausbildung und religionsgesch. Voraussetzung der frühchristl. Homilie zusammen, so daß die histor. Vorformen sowohl für spätere Vor- und Randformen, aber auch für den T. selbst typische Merkmale beizutragen haben. Die besonders populär gehaltenen Formen, die in der stoisch-kynischen Philosophie als literar. Medium für das breite Publikum Verwendung fanden, waren D i a t r i b e und Satire. Besonders durch die Diatribe gelangten Lehren der philosophischen Ethik ins Volk. Als rhetorische bzw. literar. Form ist sie zu charakterisieren durch den zwanglosen, leichten Gesprächston, mit dem ein bestimmtes überschaubares Thema von den kynischen Predigern öffentlich vorgebracht wurde. Im Zuge der literar. Fixierung fand eine gewisse Reglementierung der Diatribe statt. Als ihr Schöpfer gilt Bion von Borysthenes (3. Jh. v. Chr.); die frühesten überlieferten Diatriben stammen von Teles um die Mitte des 3. Jh.s v. Chr. Zur selben Zeit erscheint in den versifizierten Diatriben des Kerkidas und Phoinix bereits das formale griech. Vorbild für die röm. Lit. (Horaz, Juvenal, Seneca und Cicero). Im hellenist. Kulturkreis, besonders vollkommen ausgebildet durch Philon von Alexandria, war die Diatribe von großer Bedeutung und massenhafter Verbreitung. Neben der Bezeichnung Diatribe finden sich u.a. auch Dialogos und Homilia; letztere wurde später als Benennung für die christl. Predigt, die mit der Diatribe viel Ähnlichkeit hat und von ihr beeinflußt ist, üblich. Insgesamt ist die Diatribe als eine populärphilosophische, um stilist. Einfachheit bemühte Darlegung anzusehen, die der Homilie (anfangs übrigens in der Bedeutung von Verkehr zwischen Lehrer und Schüler sowie Unterricht) als christl. Predigt, formgeschichtlich gesehen, Vorbild ist und vorausgeht.

Neben der Diatribe aus dem klassisch-griech. Kulturkreis ist als Vorform bzw. Vorbild für den T., wie er dann im christl. Altertum und MA. gebräuchlich war, selbstverständlich auch an die verkündenden und belehrenden sowie mitteilenden oder kommunikativen Gattungen innerhalb der Geschichts- und Rechtsbücher der jüdischen Tradition zu denken, die dann im AT. ihren Niederschlag gefunden haben und als Thora (mündl. Weisung), Gespräche, Reden, Predigten, Gebete, Briefe und Episteln in die alttestamentlichen Bücher eingegangen sind und ihrerseits wieder auf die literar. Formen des NT. eingewirkt haben. Die Entstehung der Homilien des Origenes zeigen den ,Sitz im Leben' dieser Vorformen der T.e an: es handelt sich dabei um oft unvorbereitet vorgetragene, von Stenographen nachgeschriebene und nach der Durchsicht durch Origenes selbst oder auch erst nach seinem Tod von anderen hg. Predigten und Lehrvorträge, die deutlich die Kennzeichen des gesprochenen Wortes tragen und ohne rhetorischen Schmuck auskommen (W. v. Christ, Gesch. d. griech. Lit., 2,2, S. 1322). In der lat. christl. Lit. entwickelten sich diese Formen erbaulich-didaktischer Richtung und der Unterweisung zu T.en, die für die Seelsorge eingesetzt wurden und sich von Briefen oft nur dadurch unterschieden, daß die individuellen Verhältnisse der Angesprochenen in den Hintergrund traten. Diese lehrhafte Lit. gab für viele Jh.e den Ton an. Die T.lit. bildete die besonders typische Sonderform jeglicher Vermittlung religiösen und weltlichen Stoffes. Noch für Dante war die von ihm geleistete meisterliche Verknüpfung der Scholastik und Rhetorik durch die für beide Traditionen wichtigen modi tractandi ein Akt der poetischen Selbstbehauptung: Sein Brief an Cangrande (um 1319) führt jene sechs Fragen auf, die am Anfang jedes Lehrwerks ( d o c t r i n a l e opus) zu stellen sind, nämlich nach Gegenstand, Verfasser, Form, Zweck, Titel und philosophischem Gebiet. Dabei sei die Form doppelt: Form des T.s und Form des Traktierens. Für die Form des Traktierens zählt Dante je eine poetisch-rhetorische Fünferreihe und eine mit philosophischen Aspekten des Werkes auf. Poesie, Fiktion, Beschreibung, Abschweifung, Metaphorik sind genauso vorhanden wie Definition, Einteilung, Beweis, Widerlegung und Anführung von Beispielen. Dante nimmt somit für seine Poesie in ihrer

Traktat Eigenschaft als T. die Erkenntnisfunktion in Anspruch, welche die Scholastik der Dichtung gemeinhin bestritt (vgl. E. R. Curtius, Europ. Lit. H. lat. MA., S. 229 u. 232). Daß sich auf der einen Seite „ein Kunstwerk von unvergänglichem Glanz und zugleich ein eminent politisches Traktat" in Dantes Göttlicher Komödie manifestiert, ist eine Unterscheidung, die sich infolge dieser Identifikation von handlich-anwendbarer Lehre und literar. Form des T.s bis ins 20. Jh. erhalten hat (Louis Fürnberg, Dichtung im Befreiungskampf [1943]. In: Der Briefwechsel zwischen L. F. und Arnold Zweig, 1978, S. 251). Zusammenfassend läßt sich der T. als eine aus der populärphilosophischen Vermittlung der griech. Antike herstammende literar. Gebrauchsform bestimmen, die für christl.homiletische und -apologetische Zwecke nutzbar gemacht wurde und Einzelthemen moralisch-dogmatischer Art aufzunehmen hatte. In der Scholastik wurde der Horizont um viele Gebiete theologisch-philosophischer Konvenienz erweitert, so daß später alle Wissensgebiete auf eine sachlich orientierte, einem festen Weltbild verpflichtete Art und Weise im T. den Rahmen für ihre literar.-wiss. Übermittlung des jeweiligen speziellen Wiss.stoffes finden konnten. Als literar. Form sind T.e weder an einen bestimmten Sprach-, noch mittlerweile an einen festen Kulturkreis gebunden (vgl. z. B. Rudolf Otto, Die Lehr-Traktate der Bhagavadgita, 1935). Es ist allerdings zu beobachten, daß Strömungen der Säkularisierung und Liberalisierung die offene, frei assoziierende und zitierende Form des Essays entspricht, während Autoren, die unter Bedingungen religiös oder ideologisch gebundener Gesellschaftsformen schreiben oder diese für sich auch in einem relativ anderen pluralistischen Umfeld akzeptieren bzw. propagieren (die diachrone wie synchrone Bandbreite reicht von christl.-kath. bzw. -protestant. bis zu sozialistisch, marxistisch und kommunistisch und schließt diese anerkannten Großsysteme ebenso wie sektiererischen Wildwuchs ein), die geschlossene Form des T.s als die ihnen gemäße Mitteilungsform informierender, wertender sowie appellierender Gebrauchsprosa wählen, wobei Wertung und Appell der Information von vornherein inhärent sind bzw. diese nur vor dem einmal gesetzten Verstehenshorizont mitgeteilt wird und nachzuvollziehen ist.

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Uberschaubarkeit, Klarheit und Verständlichkeit zeichnen den T. in der Regel aus. Die Orientierung an der einen, in Rede stehenden Sache geschieht zwar für gewöhnlich zugleich in Unterordnung unter ein System, zu dessen tiefergehender Erkenntnis bzw. partikulärer Aufschlüsselung der T. mit Blick auf ein zu unterrichtendes, zu überzeugendes oder zu bestärkendes Lesepublikum geschrieben ist, kann sich aber als Fachbezogenheit auch in einer gewissen Ideologiefreiheit absolut setzen. Relative Kürze und Insistieren auf den Verfolg des zum Abschluß zu bringenden Themas besonders im philosoph.-sozialen, aber auch im histor. und sonstigen fachwiss. Bereich sind als Kennzeichen des T.s mehr oder weniger häufig bei einem großen Teil der mit der allgemeinen Bezeichnung „Aufsatz" versehenen wiss. und populärwiss. Lit. ohne ausgesprochen literar. Anspruch zu verifizieren. Damit soll die literar. Gebrauchsform des T.s keinesfalls für alle nicht eindeutig mit feststehenden Ordnungsbegriffen wie Untersuchung oder Abhandlung zu belegenden Sachtexte mit wiss. Informationscharakter in Anspruch genommen, wohl aber der Begriff „Traktathaftes" als ein Ingredienz aller Sachprosa mit vermittelnder Funktion oder Tendenz festgehalten werden. Eine histor. Darstellung des T.s kann deshalb nur in Ausschnitten und unter Aussparung vieler ebenfalls beachtenswerter Bereiche stattfinden. Zu a) Fritz M a r t i n i , Essay. Reallex. Bd. 1 (2. Aufl. 1958) Sp. 408-410. K. G. J u s t , Essay. Stammler Aufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1960) Sp. 18971948. Bruno B e r g e r , Der Essay. Form u. Geschichte (1964; Slg. Dalp 95). Ludwig R o h n e r , Der dt. Essay. Materialien zur Gesch. u. Ästhetik e. literar. Gattung (1966). Gerhard H a a s , Essay (1969; Samml. Metzler 85). Dieter B a c h m a n n , Essay u. Essayismus (1969; Sprache u. Lit. 55). Horst B e l k e , Literar. Gebrauchsformen (1973; Grundstudium Lit.wiss. 9). Helga B l e c k w e n n , Essay. Handlexikon zur Literaturwissenschaft, hg. v. Diether K r y w a l s k i (2. Aufl. 1976) S. 121127. Zu b) Wilhelm S c h m i d u. O t t o S t ä h l i n , Gesch. d. griech. Lit. T. 1: Die klass. Periode d. griech. Lit. Bd. 3: Die griech. Lit. zur Zeit d. attischen Hegemonie nach d. Eingreifen d. Sophistik (1940; Handb. d. Altertums wiss. VII. 1, 3) S. 182. Wilhelm von C h r i s t ' s Gesch. d. griech. Lit. 6. Aufl. Unter Mitw. v. O t t o S t ä h l i n bearb. v. Wilhelm S c h m i d . T. 2: Die nachklass. Periode d. griech. Lit., 1. H . : Von 320 v. Chr. bis 100 n. Chr. (1920; Nachdr. 1959; Handb.

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d. Altertumswiss. VII 2, 1), S. 55f.; 2. H . : Von 100 bis 530 n. Chr. (1924; Handb. d. Altertums wiss. VII 2, 2) S. 1322. Martin S c h a n z , Gesch. d. röm. Lit. bis zum Gesetzgebungswerk d. Kaisers Justinian. T . 3: Die Zeit von Hadrian 117 bis auf Constantin 324. 3. Aufl. v. Carl H o s i u s u. Gustav K r ü g e r (1922; Nachdr. 1969; Handb. d. Altertumswiss. VIII, 3) S. 460. Ernst Robert C u r t i u s , Europäische Lit. u. lat. MA. (8. Aufl. 1973) S. 228-232. Ernst S e l l i n u. Georg F o h r e r , Einleitung in das AT. (10. Aufl. 1965) S. 83-92. § 4. T r a k t a t l i t . d e r P a t r i s t i k . Mit der Ablösung der heidnischen Antike durch das Christentum trat innerhalb der Lit. trotz mancher Adaptionsbestrebungen der Kirche eine Konzentration und damit Reduzierung von Themen und Stoffen ein, die erst allmählich in den einzelsprachlichen Lit. des rom. und germ. Sprachbereichs wieder durch die Vielfalt von Gattungen, F o r m e n und Motiven aufgehoben wurde. D e m T. fiel bei der K o n solidierung der christl. Theologie und des damit verknüpften Weltbildes für die Wiss., aber auch für die populäre Vermittlung eine beachtliche Rolle zu. Der lat. T . des M A . s wird dann schließlich zum Inbegriff einer alle Gegenstände in den Griff bekommenden Methode und der dadurch vermittelbaren Ordnung der Dinge. In der apologetischen, gegen die heidnische, aber auch jüdische U m w e l t gerichteten Lit. wie auch in der antihäretischen, gegen Tendenzen und theologische Entwürfe in den' eigenen Reihen, zumal gegen die Gnosis sich wendende Lit. des 2. J h . s lebt die T r a d i t i o n d e r D i a t r i b e fort, wobei in den Homilien und sonstigen Unterweisungen teilweise von Anfang an die schriftl. F o r m Voraussetzung war. D e n Märtyrerakten und -legenden der altchristl. Zeit folgt bald eine sich verfeinernde Kirchengeschichtsschreibung in Chroniken und biographischen Darstellungen; daneben entfaltet sich als zweiter Überlieferungsstrang die B r i e f - u n d P r e d i g t l i t . , oft nach den Regeln der antiken Rhetorik angelegt. Ihr engstens verwandt bzw. die auf schriftliche statt auf mündliche Kommunikation abzielende und unpersönlicher sich gebende F o r m dieser Homilien und Lehrbriefe ist der T . als eine unter mehreren sich entwickelnden Prosaformen der christl. Verkündigung, Apologie und Systematik. Vorzugsweise in der dogmatischpolemischen T.lit. der frühchristl. J h . e spiegelt

sich der gewaltige Umbildungsprozeß, der sich im religiösen, sozialen und kulturellen Umfeld abspielt. D e r T . dient als Argumentationsforum und Vermittlungsinstanz. Als Verfasser von Homilien sind unter den Kirchenvätern und altchristl. Schriftstellern des griech. Ostens im 3. Jh. neben Origines K l e m e n s von A l e x a n d r i e n und G r e g o r der W u n d e r t ä t e r zu nennen. Aus der Blütezeit der patristischen Lit. vom Konzil von Nizäa (325) bis zum Konzil von Chalcedon (451) tun sich unter den Orientalen Makarius der Ägypter, Arius, Cyrill von Alexandrien, Basilius der Große, Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomus, Markus Eremita, Theodoret von Cyrus, Rabulas und Philoxenus von Mabbug mit Homilien, aber auch bereits mit als T.en eingeschätzten (vgl. Altaner) Schriften hervor, während bei den abendländischen großen Vätern und Schriftstellern die eigentliche, auch im Titel als solche ausgewiesene lat. T.lit. einsetzt. Von H i l a r i u s von P o i t i e r s stammt ein nach den hermeneutischen Grundsätzen der allegorischen Exegese verfaßter, nur unvollständig erhaltener Tractatus super Psalmos, der um 365 unter Benutzung der Sepluaginta und des lat. Textes geschrieben wurde, sowie ein erst 1887 in Bruchstücken herausgegebener Tractatus Mysteriorum, der die Typen (mysteria) oder prophetischen Vorbilder des AT. behandelt. Der Bischof Z e n o von V e r o n a hinterließ 16 längere und 77 kürzere Predigten (tractatus), die den u. a. an Tertullian und Laktanz geschulten Rhetor verraten. Seine Themen sind die Trinitätslehre, Mariologie, Taufe und Osterliturgie. P a c i a n u s , Bischof von Barcelona, werden zwei pseudo-hieronymianische aszetische Traktate De contumnenda hereditate und De vera circumcisione zugesprochen. Vom BiSchof G r e g o r von E l v i r a bei Granada stammen die sog. 20 Tractatus Origenis de libris s. Scripturae über Texte des AT. (1-19) und über die Aussendung des hl. Geistes (20) sowie einige Homilien über das Hohelied unter dem Titel Tractatus de epithalamio (vgl. Kindlers Lit.-Lex. Bd. 10, S. 9472), in denen erstmals im Abendland die Brautmystik auf Christus und die Kirche übertragen wird. Aus dem Umkreis der gnostischmanichäischen Lehren entstammen die apologetischen T.e des Spaniers P r i s z i l l i a n (z. B. Liber apologeticus) und der seiner Richtung nahestehende T. De Trinitate fidei catholicae. Bei A m b r o s i u s von M a i l a n d werden als beinahe durchweg aus Homilien hervorgegangene T.e einige exegetische Schriften über das AT. bezeichnet (z. B. De Paradiso, De Cain et Abel, De Noe, De Abraham etc.). Von A u g u s t i n u s sind die 124 Tractatus in Joannis evangelium und die 10 Tractatus in epistolam Joannis I. bemerkenswert. Es handelt sich dabei um wirkliche Predigten, die Augustinus in Hippo gehalten, und nicht nur um Sermones, die er einem Sekretär diktiert und dann durch einen Priester in der Kirche hat vorlesen lassen.

Traktat Der Ausgang der patrist. Lit. weist im 6. Jh. beispielsweise unter den Arbeiten des Boethius kleinere theologische T.e über die Trinitätslehre und gegen den Nestorianismus und Monophysitismus sowie einen Abriß der Glaubenslehre De fide catholica auf, weiterhin aber auch T.e zur Logik, darunter Introductio ad syllogismos categóricos, De syllogismo hypotbetico, De divisione und De differentiis topicis. Die beiden letzten T.e gehörten nach den Verordnungen der Pariser Universität aus dem 13. Jh. noch zum Gegenstand des Unterrichts und Examens, wie überhaupt die T.e des Boethius auch für die Fächer des Quadriviums (De música, De aritbmetica) sowie im gesamten scholastischen Geistesleben von größtem Einfluß und intensiver wie spekulativer Nachwirkung gewesen sind und ihrerseits eine eigene interpretierende T.lit. nach sich gezogen haben (z. B. Tractatus super Boetium De Trinitate des Magisters Clarembaldus). Otto Bardenhewer, Gesch. d. altkirchl. Lit. 5 Bde. (Bd. 1 u. 2 in 2. Aufl. 1913/14; Bd. 3 1912, Bd. 4 1924, Bd. 5 1932. Nachdr. 1964). Adolf Harnack, Gesch. d. altchristl. Lit. bis Eusebius. 2 Teile (1893-1904). Hermann Jordan, Gesch. d. altchristl. Lit. (1911). Martin Grabmann, Die Gesch. d. scholastischen Methode. 2 Bde. (1909; Nachdr. 1956). Berthold Altaner u. Alfred Stuiber, Patrologie (8. Aufl. 1978). Kindlers Lit.-Lex. Bd. 10 (1973). § 5. Im MA. lebt somit der T. in der vielfältigsten Weise fort, gelangt neben der Fülle an großen Summen, Kommentaren und Quaestionen zu seinem literar. Höhepunkt in den verschiedensten Bereichen der kirchlichtheologischen, aber auch der wiss.-didaktischen und juristischen Gebiete mit Ausstrahlung in die Zeit des Humanismus und der Renaissance hinein und wird auch für das weite Feld der mal. Prosa in dt. Sprache als wesentliche Gebrauchsform durch Ubersetzung oder eigenständige Übernahme bald akzeptiert und weiter ausgebildet. a) Lat. T r a k t a t l i t . Daß die Form des T.s durchaus auch imstande war, dialogische Strukturen aufzunehmen, zeigen die didaktischen T.e Alkuins in Abhängigkeit von den augustinischen Schriften. In seinem T. De dialéctica werden in einem Zwiegespräch zwischen Karl d. Gr. und Alkuin die Grundzüge der Dialektik vorgeführt. Beispiele für eine Frageund Antwort-Form beim T. kommen auch in der späteren theologischen Lit. vor. In der Regel aber ist die Form der Explikation beim T. monologisch. Die im folgenden genannten

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Autoren wie Titel können die Bandbreite des T.s andeuten. Verständlicherweise bot sich die T.form besonders für die kirchlichen S t r e i t s c h r i f t e n (s. d.) an. Ein Tractatus de investitura episcoporum vom Anfang des 12. Jh.s vertritt den Standpunkt des engl. Königs Heinrich I. Der Tractatus de clericorum conubio aus Nordfrankreich will einige Jahrzehnte früher die Rechtmäßigkeit der Priesterehe gegenüber Rom unter Anführung vieler Bibelstellen erweisen. Ähnlich streitbar verfahren die verschiedenen Tractatus Eboracenses, die vielleicht von Girard, Erzbischof von York, stammen, und von denen sechs gegen Anselm von Canterbury für Heinrich I. von England Partei ergreifen im Hinblick auf die Priesterehe und den röm. Einfluß. Aus dem Streit zwischen Kaiser und Papst (Alexander III.) rührt der lebendig geschriebene, propäpstliche Tractatus de scismaticis eines bayer. Klerikers her. Daneben besteht die T.lit. der maßgebenden Theologen. Anselm von C a n t e r b u r y hat außer einigen in Dialogform abgefaßten T.en (z.B. De veritate, De libero arbitrio) und einem Traktat zur Inkarnationslehre in seiner letzten Schrift Tractatus de concordia praescientiae etpraedestinationis necnon gratiae Dei cum libero arbitrio ein inhaltlich wie formal hochstehendes Beispiel der T.lit. geschaffen, das in drei Quaestionen, die wiederum in Kapitel eingeteilt sind, schwierigste sich scheinbar widerstreitende Lehrpunkte der theologischen Tradition harmonisch auflöst. Alger von L ü t t i c h s Tractatus de misericordia et iustitia steht methodisch völlig unabhängig neben Abälards Sic-et-non-Methode und hat diese eigentlich befördert. H u g o von St. V i c tors Summa sententiarum wurde 1708 als Tractatus theologicus in die Gesamtausgabe der Werke Hildeberts von Lavardin aufgenommen, weil die Autorschaft umstritten war. Einen Tractatus de Trinitate und einen De matrimonio hat W a l t e r von M o r t a g n e verfaßt, einen Tractatus de Trinitate gibt es ebenfalls vom Abt von St. Victor, M a g i s t e r Achardus. Daß im MA. die Form der T.e teilweise als Oberbegriff über mehrere vermittelnde Textarten verstanden wurde, belegt der Prolog zu den Sentenzen Robert von Meluns: weil einige ein schwaches Gedächtnis hätten und deshalb um die tiefere Einsicht beim Lesen kämen, wieder andere wegen ihres geringen Denkvermögens an ein tieferes Eindringen in

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die Wahrheit gehindert wären, sei für all diese nun gesorgt durch diejenigen theologischen T.e, welche den Namen Sentenzen trügen; sie böten in bündiger und klarer Darstellung ein inhaltsreiches Kompendium der Vätergedanken dar (M. Grabmann, Gesch. d. scholast. Methode. Bd. 2, 354). Die T h e m e n der T.lit. des MA.s bewegen sich im konventionellen Rahmen der Exegese, Dogmatik und scholastischen Philosophie. O b J o a c h i m von F i o r e seinen Tractatus super quatuor Evangelia verfaßt oder A l b e r t u s Magnus in einem T. De quiditate et esse über das Sein oder im Tr. De sacramento eucharistiae über das Abendmahl meditiert, jeweils wird ein Teilbereich der mal. Lebenswelt systematisch eingebracht. J o h a n n e s Duns Scotus hat im Tractatus de primo principio um 1305 seinen Gottesbeweis aufgrund der Ordnungsverhältnisse der Dinge neu diskutiert (vgl. Kindler Lit.-Lex. Bd. 10, S. 9473). Kurz vorher hatte der Thomas-Schüler Ägidius C o l o n n a als Erzieher des franz. Königs Philipp III. des Schönen auf ganz andere Weise die mal. Welt wiedergegeben, indem er einen Fürstenspiegel Tractatus de regimine principum verfaßte, der in Europa, u.a. in dt. Übertragungen, eine weite Verbreitung gefunden hat. Auch der Kampf gegen Häresien spielt weiterhin eine große Rolle, so in dem anonymen, gegen den Averroismus gerichteten Tractatus de errorihus philosophorum. In der franz. Thomistenschule spielt beiPetrus dePaludeim Tractatus de potestate papae die Auseinandersetzung um die päpstliche Vorherrschaft hinein, die dann auch beim reichen T.Schrifttum Wilhelm von O c k h a m s in seinem Tractatus de imperatorum et pontificum potestate von Bedeutung ist. Von Ockham stammen auch ein Tractatus minor, weiterhin ein Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei et de futuris contingentibus sowie die Tractatus de principiis theologiae, Tractatus de quantitate und Tractatus de successivis. Zugeschrieben wird ihm auch der kirchenpolitische Tractatus de potestate imperiali von 1338 (vgl. Kindlers Lit.-Lex. Bd. 10, S. 9472). Im Gefolge der nominalistischen Schule Wilhelm von Ockhams steht Johannes B u r i d a n s Tractatus de suppositionibus. Als fundamentaltheologischer T. sind Heinrich Totting von O y t a s Quaestiones super libros Sententiarum charakterisiert worden (B. Decker, Ein fundamentaltheologischer Traktat d. MA.s, in:

Wiss. u. Weisheit 18, 1955, S. 217-219). Von Johannes W y c l i f f , der als Vertreter des Laiengeistes den Herrschaftsanspruch der Kirche leugnet, sind die Tractatus de logica, Tractatus de officio regis und Tractatus de Trinitate zu nennen. In den Bereich der Mystik gehören der aus dem 12. Jh. stammende Tractatus de XII lapidibus über die Bedeutung der zwölf Edelsteine der Apokalypse sowie PseudoBonaventuras Tractatus de Septem gradibus contemplationis. In der wiss. Ausbildung des Spät-MA.s stellte der T. überhaupt jene Textform dar, in der entweder die Ansichten eines führenden Denkers (Thomas, Duns Scotus) verteidigt oder bestimmte Fragen der Logik, Erkenntnislehre, Naturphilosophie und Gesellschaftslehre entwickelt wurden. Von lit.hist. Bedeutung ist. aus der 2. H. des 14. Jh.s der Tractatus de crudelitate mortis als unmittelbare Vorlage für den Ackermann des Johannes von Tepl. Der T. enthält ein 26 Strophen umfassendes mlat. poetisches Streitgespräch zwischen einem Ankläger und dem Tod über dessen Grausamkeit. In die Reformationslit. hinein reicht dann bereits eine der Satiren des Johannes Crotus R u b e n e a n u s mit dem Titel Tractatulus quidam solemnis de arte et modo inquirendi quoscumque haereticos, stcundum consuetudinem Romanae curiae (1519). b) Dt. T r a k t a t l i t . Dt.sprachige T.e entstehen als Ubersetzung oder in Abhängigkeit von lat. Vorbildern, nehmen dann in der literar. Uberlieferung einen nicht geringen eigenständigen Raum ein und bestimmen mit durchaus charakteristischer Prägung ganze Bereiche der geistlichen wie weltlichen Prosa, der ins Dt. transponierten Scholastik, der Erbauungslit. und der Mystik, aber auch der mal. Fachprosa der Artes. Das Feld der dt.sprachigen T.e des MA.s (aber auch darüber hinaus) ist immer noch unübersichtlich, weil die literar. Gebrauchsformen innerhalb der Lit.geschichtsschreibung kaum Beachtung gefunden haben und, zumal wenn sie im MA. entstanden sind, vom Inhalt her gewöhnlich als zur Theologie, Philosophie, Volksfrömmigl^eit, Didaktik usw. gehörig eingestuft wurden, was zur Folge hatte, daß sich keine Fachwiss. damit beschäftigte, da diese Quellen für Einzeldisziplinen und Wissenschaftsgeschichte nur am Rande von Belang schienen. Deshalb sind zahlreiche T.e einer intensiveren Forschung und wiss.

Traktat Auswertung entgangen. Darstellungen, die diesem Mangel wenigstens indirekt beizukommen versucht haben, sind W. Stammlers und G. Eis' grundlegende Beiträge über Mal. Prosa in dt. Sprache und Mal. Fachprosa der Artes (Stammler Aufr. Bd. 2, 2. Aufl. 1960), die über zahlreiche Traktate und ihre Verfasser unterrichten. Stammler widmet innerhalb seines Kapitels über Erbauungsbücher den T.en als größtem Kontingent einen eigenen kleinen Abschnitt (Sp. 1029-1031), greift aber in seinem gesamten Entwurf überhaupt und immer wieder auf den Begriff des T.s als Charakterisierungsmoment für die überlieferten Prosazeugnisse zurück. Ergänzt werden die Arbeiten von Stammler und Eis durch die Artikel Erbauungslit. (F. W. Wodtke), der allerdings über das MA. hinausführt, und Mystik (J. Quint) im Reallexikon (2. Aufl. 1958/1965). Ein besonderes Gewicht kommt dem T. in der geistlichen P r o s a zu. Alle Bereiche der Glaubens- und Sakramentenlehre, des Gebets und der 10 Gebote mitsamt der zugehörigen Sünden- und Tugendproblematik und den Merkmalen des christl. Lebens sind durch dt. T.e wiss. und populär, meist von traditionellen Mustern beeinflußt, aufgearbeitet worden. Die Bibel und die Kirchenväter forderten zur Aneignung und Auseinandersetzung heraus, die wiss. Scholastik und erlebnishafte Mystik benötigten eigene Formen der Vermittlung durch Traktate. Die vielen, teilweise vom spirituellen Ausgangspunkt her sehr unterschiedlichen Ordensgemeinschaften schufen eine häufig differierende Predigtkultur, die wiederum ihren Niederschlag in T.en als erweiterten Homilien fand. Die zahlreichen Erbauungsbücher sind durch die T.form geradezu geprägt. Das Bedürfnis nach geistlicher Bildung und religiöser Empfindung in der Kirche wurde beantwortet durch eine T.lit., die oft nur noch in der Variation, Komposition und Reihung bekannter Texte und Sprüche bestand, so daß sich Mosaiktraktate ergaben (Wodtke, 395; vgl. Stammler, 765 u. 953). Beliebte Ansatzpunkte stellte die Passion dar. Die Verdeutschung eines dem Beda Venerabiiis (aber auch Bernhard) zugeschriebenen T.s De meditatione passionis Christi per Septem diei horas hatte eine unübersehbare Verbreitung. Auch die Eschatologie gehörte zu den nachhaltigsten Themen, wie u. a. der Traktat von der Goldwag der ewigen Stadt Jherusalem (um 1350), aber auch alle sonstigen über Himmel, Hölle und

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Fegefeuer zeigen. Das Puch von den sechs narrten des fronleichnam des Mönchs von Heilbronn aus dem Zisterzienserorden, ein ripuarischer T. Van dem sacrament eines Meister Gebart und ein ostmitteldt. T. Die pluemen der sele geben einen Eindruck von der eucharistischen Frömmigkeit des 14. Jh.s, an dessen Ende der Streit um die Häufigkeit des Kommunionempfangs stand, in den sich Matthäus von Krakau und Johannes Gerson, der Kanzler der Pariser Universität, einschalteten. Beider Schriften wurden auch ins Deutsche übertragen. Den Eucharistie-Traktaten eng verwandt sind die zahlreichen Unterweisungen über den Besuch der Messe. Beichte und Buße sind unter einer Masse solcher T.e Gegenstand auch des dem Wiener Theologen H e i n r i c h von L a n g e n s t e i n zugeschriebenen T.s Erkantnüß der siind (terminus ante quem non 1384), der in verständlicher Sprache abgefaßt ist und eine theologische Erörterung des Bußsakramentes und der Einzelsünden sowie einen Beichtspiegel bietet (hg. v. Rainer Rudolf 1969; vgl. außer Stammler, 819 u. 928 auch Peter Wiesinger). Auf bürgerliche „Hausbackenheit" wird der T. über die Ehe Wie man zu der ee greifen sol zurückgeführt (Stammler, 824). Der Dekalog fand im dialogisch angelegten T. De decem praeceptis oder Das Bothuch (um 1390) des M a r quard von Lindau eine lebendige, volksnahe und enorm verbreitete Vermittlungsform. Uber die in der christl. Tradition stets hochgeschätzte Jungfräulichkeit handelt einer der ältesten T.e aus dem 14. Jh. mit dem Titel Von megtlicher wirdikeit. Aus Cicero, Seneca und anderen Gewährsleuten war ein Tractatus de quattuor virtutibus geformt worden (Martin von Bracara oder Martinus Dumiensis als Verf.), der vielfach bearbeitet wurde. Auch die Kirchenväter kamen immer wieder zu Ehren. Nach I s i d o r von Sevilla wurde im 15. Jh. ein kleinerer T. wie sich der mensch sol halten in sinem leben verbreitet. Von C y p r i a n brachte Johannes Cochläus noch 1524 heraus: Ein heilsamer Tractat von einfaltigkeit der Prelaten und einigkeyt der kirchen wider die ketzerey und zertrennung. Die M y s t i k war reich an T.en, die besonders in Nonnenklöstern auf ein dankbares Publikum stießen. Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und Gertrud von Helfta hatten in Meister Eckhart, Tauler und Seuse Gegenpole, die ebenfalls von großer literar. und

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Traktat

sprachlicher W i r k u n g gewesen sind. Aus diesem Geiste lebt auch der für N o v i z i n n e n bestimmte T . Scbürebrand, der zu T r e u e und G e h o r s a m im O r d e n anleiten soll. Ins übertrieben Süßliche geht der T . Ein güldin spil,

das gemacht ist wider die süben

houbtsünden

des Elsässers J o h a n n K r e u t z e r (gest. 1468). Aus den Predigten Bertholds von Regensburg (gest. 1272) und Davids von Augsburg (gest. 1272) wurden genauso T . e geformt, wie 2 J h . e später aus den Predigten des J o h a n n Geiler von Kaisersberg (gest. 1510). U n t e r der E r bauungslit. nahmen die B ü c h e r über das Sterben einen großen R a u m ein. 1497 druckte J o h a n n Weissenburger in M e m m i n g e n eine vermutlich von ihm stammende Kompilation

als Tractetlein von dem sterbenden menschen, von der anfechtung im sterben, von etlichen fragstuck, tröstung und ermanung von dem ennd des sterbenden menschen, gepredigt durch einen geistlichen vater. D e r Anteil an w e l t l i c h e r P r o s a wächst nur langsam, aber stetig, bis schließlich im 18. J h . endgültig das religiöse Schrifttum durch die schöngeistige und außergeistliche L i t . übertroffen wird. D a der T . als eigentlich theologisch-didaktische G e b r a u c h s f o r m entstanden und jh.elang als solche benutzt worden ist, bietet er sich zwar einerseits auch für die Fachprosa an, verliert dann aber durch die Entstehung des Essays zugleich wieder an B o d e n . F ü r die mal. Lebensordnung sind die Artes als System der Wissenschaften von hervorragender Bedeutung gewesen. D i e artes liberales, mechanicae und magicae haben ein eigenes typisches Schrifttum, darunter nicht wenige T . e , hervorgerufen. E n d e des 14. J h . s entstanden selbständige dt. T . e über G e g e n stände der freien K ü n s t e , besonders des Q u a driviums (Arithmetik, Musik, Geometrie, A s t r o n o m i e ) und lösten die lat. Unterrichtssprache ab. N e b e n dem für ein Jahrtausend als Autorität geltenden M u s i k t r a k t a t des Boethius entstanden bereits in der M e r o w i n g e r und Karolingerzeit mehrere kleine T . e über den gregorianischen Gesang, aber die erste dt. musikwiss. Arbeit, die N o t k e r L a b e o zugeschriebene Schrift De musica, wurde erst gegen E n d e des 10. J h . s verfaßt. Aus dem 11. J h . stammt ein T . Eberhards von Freising über das Verhältnis von Q u e r s c h n i t t und Länge der Orgelpfeifen. U n t e r den a l c h e m i s t i s c h e n S c h r i f t e n soll das in mehreren H s s . überlieferte B u c h Splendor solis oder Sonnenglantz

(vgl. Eis, Sp. 1 1 5 0 ; F a k s . - A u s g . der Berliner H s . als Privatdruck der K r e w e l - W e r k e K ö l n , 1972) hervorgehoben werden, das aus sieben „ T r a c t a t " besteht, „ d u r c h welche beschriben wird / die künstliche wirckunge des verborgenen Steins der Alten W e i s s e n " . D i e praktische N u t z u n g der T e x t s o r t e zeigt sich im Traktat

von

Wein, Bier

und Essig des Theologen

H i e r o n y m u s E m s e r (Wien 1513). Innerhalb der M e d i z i n ist Hufelands berühmtes T h e m a Die

Kunst, das menschliche Leben zu

verlängern

( 1 7 9 8 ) bereits in einem T . des 15. J h . s

ab-

gehandelt: Hye fahet sich an des menschen auffhaldung und verlengerung seines lebens. Innerhalb der V e t e r i n ä r - M e d i z i n hat der E m d e n e r Tractaet, der in Friesland um die M i t t e des 16. J h . s nach einer Vorlage des 15. J h . s geschrieben wurde (Gerhard Eis, Forschungen zur Fachprosa, 1971, S. 1 3 5 - 1 3 7 ) , als A r b e i t über die Pferdekrankheiten modellhaften Charakter. U b e r h a u p t sind die genannten W e r k e nur als Andeutungen eines R a h m e n s zu verstehen, in dem die T . l i t . der Artes einzuordnen ist. Zu a) Martin G r a b m a n n , Die Gesch. d. scholast. Methode (1909; Nachdr. 1956). Max M a n i t i u s , Gesch. d. lat. Lit. d. MA.s. 3 Bde. (1911-1931). de B o o r - N e w a l d Bd. 4,1 (1970). T. B a r t h , Spätscholastik. LThK. (2. Aufl. 19571967) Bd. 9, Sp. 950-953. Wilhelm T o t o k , Handbuch d. Gesch. d. Philosophie. Bd. 2: MA. (1973). Kindlers Lit.-Lex. Bd. 10 (1973). Zu b) Wolfgang S t a m m l e r , Mal. Prosa in dt. Sprache. Stammler Aufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1960) Sp. 749-1102. Gerhard E i s , Mal. Fachprosa der Artes. Stammler Aufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1960) Sp. 1103-1216. Friedr. Wilh. W o d t k e , Erhauungslit. Reallex. Bd. 1 (2. Aufl. 1958) S. 393-405. Josef Q u i n t , Mystik. Reallex. Bd. 2 (2. Aufl. 1965) S. 544-568. Erwin W a l d s c h ü t z , Meister Eckhart. E. philosoph. Interpretation d. Traktate (1978). Peter W i e s i n g e r , Zur Autorschaft u. Entstehung des Heinrich von Langenstein zugeschriebenen T.s ,Erkenntnis der Sünde'. ZfdPh. 97 (1978) S. 42-60. § 6. U b e r l i e f e r u n g u n d Neuansatz b e i m T . d e r N e u z e i t . N i c h t nur die U b e r gänge zwischen den einzelnen miteinander verwandten T e x t s o r t e n sind fließend, auch die G r e n z e n zwischen den von der Geschichtsschreibung festgelegten E p o c h e n sind durchlässig. D e r T . des M A . s lebt in vielen solcher Textzeugnisse aus dem Zeitalter des H u m a n i s mus und der R e f o r m a t i o n fort und erlangt

Traktat durch den Buchdruck eine vorher nicht gekannte Verbreitung. a) D i e lat. T r a d i t i o n . Die 33 bei Holzmann/Bohatta (Dt. Anonymen-Lexikon, 1961, S. 184f.) aufgeführten Tractatus-T\te\ aus dem 16.-19. Jh. belegen die lat., nur geringfügig dt. durchsetzte Tradition in Themen und Form der T.e aus den theologisch-philosophischen, juristischen, naturwiss. bzw. alchemistischen und sonstigen Fächern sowie kulturhist. relevanten Bereichen sehr eindrucksvoll. Der Tractatus de arte loquendi et tacendi desAlbertano d a B r e s c i a (Landshut 1514) gehört genauso in diesen Rahmen wie Laszlo B a r t h o l o m a e i d e s ' Brevis Tractatus, quo disquiritur: an nomina ungaricum et magyaricum apud veteres fuerint propria (1810). Von besonderem Wert und anhaltender Bedeutung ist unter den anonym erschienenen lat. T.en Baruch Spinozas Tractatus theologico-politicus (1670), dessen Forderung nach Trennung von Theologie und Philosophie sowie nach dem Recht auf Gedankenfreiheit im polit. Raum zu den Voraussetzungen der Säkularisation und Emanzipation in der Neuzeit gehört. Die älteste uns bekannte Schrift Spinozas ist der ebenfalls lat. abgefaßte Tractatus brevis de Deo, bomine eiusque felicitate (um 1660), der nur in holl. Ubersetzung vorhanden und als erster Entwurf zur Ethik anzusehen ist. Ein weiterer Schritt zur Ethik war der Tractatus de intellectus emandatione (1661/62). Die polit. Probleme wurden von Spinoza in dem unvollendeten Tractatus politicus (1677) wieder aufgegriffen, dessen Realitätssinn für den Menschen, so wie er aufgrund seiner affektgebundenen Natur ist, eine anti-utopische, sich der geschichtlichen Empirie bewußte Staatstheorie entwickelt. b) D e r franz. traité. Die Essais M o n taignes haben trotz ihrer Wirkung die T.lit. nicht abreißen lassen. Das franz.sprachige Schrifttum des theologischen, aber auch des philosophischen, literar., histor. und naturwiss. Bereichs pflegt den traité auf bemerkenswerte Weise. Franz von Sales' Traité de l'amour de Dieu (1616) ist als Schrift der Gegenreformation von eminenter Bedeutung gewesen. D e s c a r t e s wollte seine naturwiss. Ergebnisse in einem Traité du monde zusammenfassen, wurde aber als Vertreter des Heliozentrismus durch die kirchliche Verurtei-

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lung des Galilei davon abgehalten und gab aus Gewissensgründen nur Teilergebnisse bekannt (R. Lauth, Descartes. LThK Bd. 3, 2. Aufl. 1959, S. 244). M a b i l l o n s Traité des études monastiques (Paris 1691) bildete eine kurzgefaßte Würdigung der scholast. Theologie und Methode. Er wurde 1745 als Tractatus de studiis monasticis in der lat. Übersetzung von Joseph Porta in Venedig herausgebracht (M. Grabmann, Gesch. d. scholast. Methode, Bd. 1, S. 51 u. 147). Als Anhang zur Neuausgabe des Traité de morale (1697) brachte Nicolas de M a l e b r a n c h e eine mit Franz von Sales' T. gleichlautende Arbeit heraus. Von Biaise Pascal erschien 1665 postum sein Traité du triangle arithmétique, avec quelques autres petits traitez sur la même matière. Pierre Daniel H u e t nennt seine historisch-literaturtheoretische Arbeit über den Roman Traité de l'origine des romans (1670). Der rhetorischen Tradition des Altertums ist der Traité du sublime (1674) von Nicolas B o i l e a u - D e s préaux als Ubersetzung einer griech. Schrift über den erhabenen Stil und den richtigen Gebrauch der Redefiguren verpflichtet. Der philosophische Traité des sensations (1754) von Étienne Bonnet de C o n d i l l a c betont die Bedeutung der äußeren Wahrnehmung, aus der alle geistigen Bewegungen durch einen Transformationsprozeß hervorgehen. V o l t a i r e s Traité sur la tolérance à l'occasion de la mort de Jean Calas (1763) faßt die Forderungen nach absoluter Freiheit in religiösen Dingen zusammen. Antoine Laurent Lavoisiers Traité élémentaire de chemie (1789) bildet den Ausgangspunkt der modernen Chemie. Als physikalische Grundlagenschrift gilt der Traité de mécanique céleste (1798-1825) von Pierre Simon de Laplace. Noch in der ästhetischen Programmschrift von André G i d e Le traité du Narcisse über Probleme der Symboltheorie und die Modernisierung antiker Mythen zeigt sich die Stärke der tradierten T.lit., auch wenn formal bei Gide der T. als Folge von statischen Szenen erscheint, die durch eine logische Gedankenführung miteinander kombiniert werden. c) Span., portugies. und ital. B e i s p i e l e . Im außerfranz.-rom. Raum gibt es ebenfalls einige T.beispiele, die den weiten inhaltlichen Rahmen dieser Textart angeben. Die erbauliche span. Abhandlung Tratado de la tribulación (1589) des Pedro de Ri vadeney ra, des engsten

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Traktat

Mitarbeiters von Ignatius von Loyola, steht in der Tradition christl. asketischer Lehrschriften über Leiden und Drangsale sowie deren reinigenden und erleuchtenden Effekt. Über Brasilien gibt es zwei portugiesische Arbeiten, die aus dem 16./17. Jh. stammen und erst Mitte des 19. Jh.s herausgegeben wurden: Von Gabriel Soares de Sousa ist der Tratado descritivo do Brasil em 1857, hg. und so genannt durch den Historiker und Diplomaten Francisco Adolfo de Varnhagen im Jahre 1851. Die Tratados da terra e da gente do Brasil des Jesuiten Fernäo C a r d i m (kurz nach 1583 geschrieben) erschienen 1847. Für Italien sind wichtig der Trattatello in laude di Dante, auch Vita di Dante, von Giovanni B o c c a c c i o , entstanden um 1360, erschienen 1477 in einer gedruckten Ausgabe der Comedia als hervorragende Würdigung Dantes, und der als vielgelesener ital. Knigge anzusehende Trattato di Messer Fiovanni della Casa (1558), in dem ein, freilich äußerst belesener, Analphabet als Lehrmeister auftritt und einen jungen Mann in die guten Sitten einführt. Von dem ital. Sozialphilosophen Vilfredo P a r e t o stammt der Trattato di sociologia generale (1916), in dem den irrationalen Antrieben die primäre Rolle zugeschrieben wird. d) D i e engl. V a r i a n t e : England war der Ausgangspunkt für jene aktiven T. gesellSchäften, die dann ebenfalls in Deutschland, aber auch in Amerika rasch Fuß faßten und sich für die Verbreitung billiger Bibeln, Lehrbücher und populärer Flugschriften, die sog. Traktätchen, zur Förderung des christl. Glaubens und Lebens unter dem Volk einsetzten. Die T.gesellschaften machten die seit der Reformation bestehende Form protestantischer Volksbildung und Einflußnahme in Form der 1698 in London gegründeten Society for promoting Christian Knowledge zu einem organisierten Unternehmen. Nach der Franz. Revolution versuchte man dann, besonders den von Frankreich herüberkommenden Ideen durch christl. Traktate entgegenzuwirken. 1796 wurde die Edinburgher, 1799 die Londoner Religious Tract Society gegründet. Seit 1825 gab es dann im Zuge der Erweckungsbewegung die Amerikanische Traktatgesellschaft. In Deutschland entstanden im Rahmen dieser von London ausgehenden Erneuerungsbestrebungen 1811 der Christliche Verein im nördlichen Deutschland (Sitz in Eisleben), 1814 die Wup-

pertaler Traktatgesellschaft und der Berliner Hauptverein für christliche Erbauungsschriften in den preußischen Staaten sowie 1820 in Hamburg die Niedersächsische Gesellschaft zur Verbreitung christlicher Erbauungsschriften und 1829 der Calwer Traktatverein. Weitere Gesellschaften für die evang. Schriftenmission bildeten sich anschließend in anderen Orten. Noch 1879 wurde die Deutsche evangelische Buch- und Traktatgesellschaft in Berlin ins Leben gerufen. Innerhalb der engl, kirchlichen Bewegung spielt der T r a k t a r i a n i s m u s im 19. Jh. eine besondere Rolle. Er wird so genannt nach den 90 Tracts for the Times, die seit 1833 erschienen, und steht im Zusammenhang mit der theologisch-liturgischen Oxford-Bewegung, die die Anglikanische Kirche durch Rückführung auf die kath. und apostolische Uberlieferung und in direkter Abwendung vom theologischen Liberalismus und jeglichen Säkularismus zu erneuern versuchte. Der 1. Tract, eine Verteidigung der apostolischen Sukzession, wurde von John Henry N e w m a n verfaßt. Der letzte Tract (1841), ebenfalls von Newman, führte zu einer Krise der OxfordBewegung. Newmans Konversion zur kath. Kirche schließlich belastete neben anderen Ubertritten die Bewegung stark, setzte ihr aber kein Ende. In den Tracts ist die Entwicklung von der kurzen volkstümlichen Flugschrift zu schultheologischen Dokumenten feststellbar. e) T r a k t a t e in D e u t s c h l a n d . Die dt. T.e der Neuzeit spiegeln in Thema und Form die europäische Tradition wider und gewähren zugleich Einblick in die jeweiligen wiss. und kulturhistor. Bedingungen ihrer Entstehungszeit. Allerdings hat die polit. und religiöse Umwälzung im Zusammenhang mit der Reformation auch ein breiteres Spektrum der Lit. zur Folge, in dem die vermittelnde Textsorte des T.s nur noch einen eingeschränkten Spielraum einnehmen kann. Einige Beispiele seit dem 16. Jh. belegen aber, daß der T. ähnlich wie im franz. Sprachraum für mehrere Wissenschaftszweige Geltung behält und somit weiterlebt. Die auch in den Titeln greifbare Neuentdeckung des T.s findet nach der Flut von Kleint.en der T.gesellschaften des 19. Jh.s erst im 20. Jh. statt. Im kirchlich-theologischen Raum wird die T.lit. des MA.s auf die neuen Verhältnisse angewendet. Von Luthers Schüler Hieronymus

Traktat W e l l e r stammt der erbauliche Traktat vom Leiden und der Auferstehung Christi (1546). Auf die dunkelsten Seiten jener Jahrzehnte bezieht sich Ulrich M o l i t o r s Tractatus von denn bösen wiber, die man nennet die Hexen (1579). Philipp H a r s d ö r f f e r übersetzte mehrere engl., ital. und franz. Erbauungstraktate. Der Pietist Spener ist als Verfasser kleiner T.e ebenso wie August Hermann F r a n c k e zu nennen. Johann Albrecht Bengel wirkte mit seinen t.haften Formen in Schwaben selbst noch auf Hermann Hesse. Auch das Schrifttum der Gegenreformation und des kath. Barock führt die T.form als Erbe aus Väterzeit und MA. weiter. Als Mosaiktraktat aus den dt. Mystikern stellt selbst im 19. Jh. im kath. Raum Heinrich Seuse Denifles Andachtsbuch Das geistliche Leben (1873) einen wichtigen Beitrag dar. Einige Arbeiten Romano G u a r dinis gehören dann im 20. Jh. gewiß ebenfalls zur T.lit. Unter dem Titel Theologische Traktate veröffentlichten Erik Petersen (1951) und Gerhard G l o e g e (1965/67) kleinere Arbeiten. Aloys W i n k l h o f e r s Traktat über den Teufel (1961) und der Traktat über die Juden (1979) von Franz M u s s n e r zeigen die innere Verbindung von formaler Bezeichnung und theologischem Inhalt. Unter den j u r i s t i s c h e n T.en des 18. Jh.s soll auf den dt. Tractatus de juribus Judaeorum (1741) von Johannes B e c k hingewiesen werden, der über Judengesetze aus dem Strafund Privatrecht handelt. Im 20. Jh. schließen sich aus anderen Fächern allein von der Titelgebung her an: die Schrift des für die Wandervogelbewegung maßgebenden Hans B l ü h e r Traktat über die Heilkunde, insbesondere die Neurosenlehre (1926), Lutz M a c k e n s e n mit einem Traktat über Fremdwörter (1972), Albert Hahn mit Ein Traktat über Währungsreform (1964). Im p h i l o s o p h i s c h e n Bereich ist durch seine Rezeption besonders relevant Ludwig Wittgensteins Tractatuslogico-philosophicus, dessen Niederschrift 1918 beendet wurde. 1922 erschien in London eine deutsch-engl. Ausgabe des Tractatus mit einer Einleitung von Bertrand Rüssel. Der Tractatus ist „formal gesehen, eine Kuriosität . . . Er besteht aus losen brillant geschriebenen, numerierten Aphorismen" (Ingeborg Bachmann, Ludwig Wittgenstein. Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte, Wittgenstein, Schriften, Beih., 1960, S. 9). Wittgenstein bestreitet die Möglichkeit,

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mit Hilfe der Logik die Wirklichkeit erforschen zu können. Vor seinem sprachlich-stilistischen Anspruch an sich selber hielt nur der Tractatus stand. Bereits 1925 abgeschlossen, aber erst 1971 (Schriften. Bd. 1) publiziert, ist die Th. W. Adorno gewidmete Schrift Der DetektivRoman: ein philosophischer Traktat von Siegfried K r a c a u e r zugleich philosophische Diagnose und Zivilisationskritik. Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte Josef Pieper im Traktat über die Klugheit (1949) an die Scholastik, vor allem an Thomas von Aquin an. Als Textsortenbezeichnung findet der Name T. dann besonders in der Philosophie zusehends Gefallen. Helmut Kuhns Traktat über die Methode der Philosophie (1966) ist für die wachsende Beliebtheit des T.s ebenso ein Beleg wie der erwähnte Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft (1967) von Leszek Kolakowski. Hans A l b e r t hat einen Traktat über kritische Vernunft (1968) und einen Traktat über rationale Praxis (1978) veröffentlicht. Von Bernhard W i n t e r e r stammt ein Traktat über Elend und Bedürfnis (1973), wobei es sich um Vorüberlegungen zu einer Theorie der Verelendung handelt, von Theodor W i l h e l m ein Traktat über den Kompromiß (1973) als Beitrag zur Weiterbildung des polit. Bewußtseins und von Eugen F i n k der Traktat über die Gewalt des Menschen (1974). Im l i t e r a r . - ä s t h e t i s c h e n Bereich hat innerhalb der germanist. Diskussion die Frage eine Rolle gespielt, ob Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795; 2. Fass. 1801) als T. oder Essay zu betrachten sind (Wolfdietrich Rasch, Schein, Spiel u. Kunst in der Anschauung Schillers. WirkWort 10, 1960, S. 2-13). Von M. Y . B e n - G a v r i e l (Eugen Höflich) erschienen Traktate über ganz gewöhnliche Dinge (1962), die von H.-J. Ahnert (Dt. Titelbuch, Bd. 2, 1966, S. 504) als Essays charakterisiert werden. Peter S z o n d i gab seinem einführenden Abschnitt Über philologische Erkenntnis in seinen HölderlinStudien (1967) Gewicht durch die eigene Ankündigung im Untertitel des Buches: Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Dieser T. unter Berufung auf Schleiermacher und Wittgenstein macht die Verengung des T.begriffs im angesprochenen Sinne der absolutierten Sachbezogenheit deutlich. Besondere Aufmerksamkeit unter den modernen literar. T.-Titeln verdient Hermann Hesses Tractat vom Steppenwolf (1927), der in einem mit

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Traktat - Trauerspiel

antiquierter Typographie und Sonderzählung (in der Erstausg. 33 S.) versehenen Heft mit gelbem Umschlag in den Roman Der Steppenwolf (in der Erstausg. zw. S. 64 u. 65) eingefügt ist. Bei diesem T. handelt es sich um die literar. Nachahmung der Traktätchenliteratur („es war ein dünnes, schlecht auf schlechtem Papier gedrucktes Jahrmarktsbüchlein", S. 64). D e r T . bietet den „Abriß" der „innern Biographie" des Steppenwolfs (Tractat, S. 21) und wird von Harry Haller, dem Helden des Romans, als „kluge Studie von unbekannter Hand" (S. 66) bezeichnet. Bei der Lektüre empfindet Haller neben Hingabe und Dankbarkeit „Hohn und Verachtung gegen die Nüchternheit des Traktates" (S. 73). Der „Steppenwolftraktat" (S. 155 u. 158; vgl. „Steppenwolfbüchlein", S. 69 u. 71 f.) enthält die Lehre, daß der Mensch aus bis zu tausend Seelen bestehe. Im Steppenwolf hat der T. wie die essayistischen Partien in den Brochschen oder Musilschen Werken die Funktion der Reflexion, leistet diese aber nur auf eine gewisse sentimental-anachronistische Weise. Im Vergleich zum fingierten ,Traktätchen' von Hesse handelt es sich in der wiss. T.-Lit. der Gegenwart um echte literar. Gebrauchsformen, deren Bedeutung offenbar ständig zunimmt. F. W. Wodtke, Erbauungslit. Reallex. Bd. 1 (2. Aufl. 1958) S. 393-505. Kindlers Lit.-Lex. Bd. 10 (1973) S. 9472-9475, 9506-9513 u. Bd. 11 (1973) S. 9516-9520. Tractatengesellschaften. Pierer's Universal-Lexikon (1863) S. 738f. Rudolf Buddensieg, Traktarianismus. REPTh. Bd. 20, S. 18-53. H. Rahlenbeck, Traktatgesellschaften. REPTh. Bd. 20, S. 53-55. V. H. H. Green, Traktarianismus. LThK. (2. Aufl. 1957-1967) Bd. 10, Sp. 304. G. Biemer, Oxfordbewegung. LThK. (2. Aufl. 1957-1967) Bd. 7, Sp. 1323 f. — Zu Spinoza: Norbert Altwicker (Hg.), Texte zur Gesch. d. Spinozismus (1971). Werner Ziegenfuß u. Gertrud Jung, Philosophen-Lexikon. Bd. 2 (1950) S. 587-606. Zu Wittgenstein: Ilona Borgis, Index zu Wittgensteins ,Tractatus logico-philosophicus'u. Wittgenstein-Bibliographie (1968). Erik Stenius, Wittgensteins Traktat. E. krit. Darlegung s. Hauptgedanken. Aus d. Engl, v. Wilhelm Bader (1969; Theorie II, 21). Rolf A. Dietrich, Sprache u. Wirklichkeit in Wittgensteins 'Tractatus' (1973). Zu Hesse: H. Hesse, Tractat vom Steppenwolf. Nachw. v. Beda Allemann (1964; edsuhrk. 84). Lynn D h o r i t y , Who Wrote the 'Tractat vom Steppenwolf? GLL. 27 (1973/74) S. 59-66.

Joseph A. Kruse

Trauerspiel § 1. Begriff. Das Wort T. prägt Opitz 1628 in Anlehnung an ndl. „Treurspel" als Ubers, für Tragödie. Beide Wörter werden nebeneinander gebraucht, T. wird in den 40er Jahren üblich, ist lexikalisch aber z.B. bei Duez noch nicht 1642, sondern erst 1664 nachweisbar. Die Ubers, meint zugleich eine Nichtunterscheidung vom Begriff der antiken Tragödie und sie bezeichnet auch das, was vor der Wortprägung im dt. 16. Jh. unter dem Namen ,Tragedia' lief. Eine bewußte Differenzierung findet man erst bei den Autoren kurz vor 1800; die Verwendung beider als Gegenbegriffe, um damit ihre geschichtsphilosophische Eigenart herauszuarbeiten, ist die Leistung Walter Benjamins. Lange bezeichnen beide Begriffe nicht eine literar. Gattung allein, sondern werden auch auf epische Stoffe und auf die Ereignisse oder das Leben selbst übertragen, wobei auch die Unterscheidung Tragödie — Komödie, Trauerspiel — Freuden- oder Lustspiel manchmal gar nicht (jedes als Begriff aller schauspielerischen Darstellung) oder nur sehr vage getroffen wird (s. Tragikomödie). Daneben kann noch Harsdörffer „Die Tragoedia oder das Traurgeschicht" übersetzen oder man erläutert: „ein schawspiel, das ein trawrigs Ende hat" (Duez 1664). Der traurige Schluß bei einem möglicherweise fröhlichen Anfang im Unterschied zum traurigen Anfang und fröhlichen Ende bei der Komödie ist lange das wichtigste Kriterium für Tragödie und T. Danach erst kommt der fürstliche Stand bei histor. Stoff, bzw. der heroische bei mythischem und damit die entsprechende Stilebene (genus gravis). Die Aufhebung dieser sog. „Ständeklausel" und das Phänomen der Stilmischung im bürgerlichen T. des 18. Jh.s bedeuten einen bewußten Gegensatz gegen das heroische T. § 2. Aus der Wortprägung und ihrem Zeitpunkt wird man kaum Schlüsse auf die Definition der Sache oder die Entwicklung der Gattung ziehen können. Schon 1544 z.B. definiert der dt. Ubersetzer des Polydor Vergil: „Traurigkeit ist der Tragedie aigen". Andererseits wird „tragedia" in den Glossaren noch bis ins 16. Jh. als „Lastersanck; schendig, böse liet" u. ä. erläutert, woraus sich mangelnde Vertrautheit nicht nur mit der literar. Gattung,

Trauerspiel sondern auch mit einer Aufführungspraxis erschließen läßt. Das änderte sich allerdings bald und „in Tragoediweis agirn" heißt dann, den Stoff einer Erzählung (z.B. „Die Euangelische Histori" des armen Lazarus) in Dialogen mit Schauspielern auf einer Bühne darstellen (Georg Müntzer, 1575). Auch nach seiner Ausbreitung noch hat der Terminus T. den Mangel, kein Adjektiv zu bilden, wofür ,tragisch' eintreten mußte, das auch substantiviert den Gehalt des ernsten Dramas und metaphorisch den einer Lebenssituation bezeichnet. Erst spät (bei Hegel, dann wohl erst seit Hebbel verbreiteter) wird ein eigenes Substantiv .Tragik' gebildet, das in der Wende zum 20. Jh. geradezu ein Modewort werden sollte und dabei ebenfalls metaphorisch und wohl häufiger auf das Leben oder ein vermeintes Schicksal bezogen wird als auf die literar. Gattung. Die für das geschichtliche Selbstverständnis bedeutende Unterscheidung oder gar Entgegensetzung antiker und moderner Dramatik, die sich im Gefolge der , Querelle des anciens et des modernes' und des historischen Perspektivismus ausprägte, kam ohne eine terminologische Zuordnung aus. Beide konnte man als Tragödie bezeichnen und T . nur einer besonderen Form wie dem bürgerlichen oder nur den dt.sprachigen Werken vorbehalten oder umgekehrt, wie es noch Hölderlin tat, von den „Trauerspielen des Sophokles" sprechen. Der entscheidende Wandel in der Auffassung des Dramas seit dem Ende des 19. J h . , die Mischung und Veränderung früherer Gattungsbestimmungen ließen den Begriff in der aktuellen Theaterlit. seltener werden und nahezu ausschließlich für histor. Formen in Anspruch nehmen. § 3. Eine Skizze der G e s c h i c h t e der Gattung T. kann nicht viel mehr sein als ein Blick auf die in Bewegung geratene Forschung und ihre Probleme sowie auf Werke, an denen ein Begriff der Gattung gebildet werden könnte. Dabei ist die Frage offen zu halten, ob diejenigen Werke der neueren dt. Lit., die — sei es von ihren Autoren, sei es von einer späteren Zeit — T. genannt wurden, wirklich eine Gattung bilden können. Der Begriff meint beides, eine aus der Antike überlieferte und hochgerühmte literar. G a t t u n g , die zunächst keinerlei Beziehung zur

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christlichen und mal. Kultur hat (und diese Zeit nur in Tragödiendefinitionen ohne jegliche Anschauung der Sache überlebte) und eine der M ö g l i c h k e i t e n s z e n i s c h e n S p i e l s , die zunächst und weit in die Neuzeit hinein ohne literar. Ansprüche gepflegt wurde. Somit fällt das T. einerseits in die G e s c h i c h t e d e r A n t i k e n r e z e p t i o n . Die neuere Tragödie „beginnt" deshalb in verdienstvollen und noch keineswegs überholten Darstellungen der Geschichte des Dramas mit einem Werk aus der Zeit, als Dante sein großes Epos „Commedia" nannte. Es ist Albertino M u s satos Ecerinis (1314), das einen zeitgeschichtlichen Stoff — das grausige Wirken des Tyrannen Ezzelino vor zwei Generationen — unter Senecas Einfluß, aber ohne jeden Bezug auf die Bühne in Dialogen zur öffentlichen Vorlesung in Padua und mit aktueller polit. Wendung gegen Cangrande della Scala in Verona vorstellt, wobei zum erstenmal seit der Antike ein historisch-polit. Stoff auf seine ethische Wirkung hin erprobt wird. Dieses noch „halbmythologische" Werk (Jacob Burckhardt) steht aber völlig isoliert und ohne jede weitere Rezeption in der europäischen Literatur. Andererseits gehört das T. in die G e s c h i c h t e der S c h a u s p i e l k u n s t ' , die keineswegs mit der Lit.gesch. des Dramas zusammenfällt. Denn sehr lange und bis weit ins 18. Jh. hinein leben die meist als Wanderbühnen organisierten Schauspielergesellschaften von Bearbeitungen, Ubersetzungen und Bühnenfassungen von Werken, die weder gedruckt sind, noch zur Lit.geschichte gehören, und vom Repertoire einer nicht auf den Text festgelegten, sondern aus der Improvisation erwachsenden schauspielerischen Darstellung. Die literar. Fixierung des Repertoires führt zu bedeutenden Änderungen der Struktur der Theater und der dramat. Darstellung. Neben beidem entwickelt sich eine T h e o r i e der T r a g ö d i e und des T.s, die zwischen der Aristoteles-Auslegung der Poetik und der jeweils zeitgenöss. Theaterpraxis zu vermitteln sucht. Dadurch entwickelt sich zwischen der drámat. Lit. und der schauspielerischen Darstellung eine eigene Gattung der ,Ideologie' dieser Literatur. Sie formuliert, was ein Drama dieser Art sein sollte, wie und auf wen es wirkt und welche Stelle es im Gefüge der gleichzeitigen ethischen, psychologischen und polit. Werte einnimmt.

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§ 4. Dabei ist für alle drei genannten Gesichtspunkte die Herkunft des Stoffes und die Sprache seiner ersten literar. Gestaltung ziemlich gleichgültig. Die Schauspielerhaben nie danach gefragt, in welcher Sprache ein Drama geschrieben wurde, wenn nur eine brauchbare Ubers, oder Bearb. vorlag. Im extremen Fall kann die szenische Aktion sogar auf das Verstehen der Sprache verzichten, es im buchstäblichen Sinne „überspielen", wie es für die engl. Komödianten in den ersten Jahren des 17. Jh.s und auch noch für manche heutige erfolgreiche Gastspielpraxis gilt. Selbst dort, wo die Aktion wesentlich von der Sprache getragen wird, ist es zumeist gleichgültig, ob es sich um ein Original, eine übersetzte oder bearbeitete Fassung handelt, wobei die Angaben der Autoren oder Bearbeiter selbst gewöhnlich sehr unzuverlässig sind. Die Behandlung der ernsten dramat. Lit. einer Nationalsprache innerhalb der europäischen Lit. wird dadurch zumindest fragwürdig, wenn nicht widersinnig. Das literar. Interesse kollidiert dabei mit den Anforderungen eines vielfältigen und erfolgreichen B ü h n e n r e p e r t o i r e s , wobei erst neuere Forschungen den Kontrast aufzeigen, der zwischen den Aufführungslisten der Bühnen und den traditionellen literarhistor. Darstellungen besteht, auch noch in einer Zeit entwickelter dramatischer Produktion. So drängen nicht nur überragende Ü b e r s e t z u n g e n bedeutender dramat. Werke die Aufführungen der eigenen Lit. in den Hintergrund, wie es z. B. in Deutschland allen anderen zuvor Shakespeares Dramen in A. W. Schlegels Übersetzung taten, aber zwischenzeitlich auch Voltaire und andere franz. und engl. Autoren, sondern über lange Zeit können die Aufführungslisten der Bühnen von Werken dominiert werden, die in der Lit.gesch. bisher kaum auftreten, weil sie zur Trivialliteratur (s. d.) gezählt werden oder nur als Kuriosum Erwähnung finden, wie einige der vielleicht doch eher zufällig gedruckten frühen dt. Fassungen der Stücke der englischen Komödianten (s. d.). Horizontal sowohl wie vertikal ist das Blickfeld der überkommenen literaturgeschichtlichen Darstellung verzerrt. Versäumnisse bei der Erforschung der B ü h n e n w i r k l i c h k e i t , der Repertoires und der Praxis der schauspielerischen Darstellung, wobei etwa die sehr geringe quantitative Bedeutung des Trauerspiels im Vergleich zum Lustspiel zu berück-

sichtigen ist, lassen sich nachholen, soweit das archivalisch und mit den überwiegend schriftlichen Quellen überhaupt möglich ist. Größerer Anstrengungen bedarf es, die Werke in ihrer geschichtlichen Situation und im Wirkungszusammenhang der europäischen Lit. allererst wahrzunehmen und literaturwissenschaftlich nach Kategorien der Poetik ihrer Gattung und ihrem geschichtsphilosophischen Gehalt zu bearbeiten. Daneben steht die vielleicht noch wichtigere Berichtigung bisheriger Ansichten durch gelungene W i e d e r b e l e b u n g e n histor. Dars t e l l u n g s s t i l e auf der Bühne selbst. Denn von einem nur durch die Aufführungspraxis zu dokumentierenden belebten und erneuerten Verständnis der Gattung, wie es für die gleichzeitige alte Musik in weit höherem Maße und bei einzelnen Beispielen totgesagter Werke, wie etwa Händeis ital. Opern seit den 20er Jahren dieses Jh.s wieder gilt, kann noch keine Rede sein. Die bisherigen Wiederbelebungsversuche blieben jeweils vereinzelt auch dort, wo sie einen Achtungserfolg erzielten. Auch hat sich trotz Neudrucken und zahlreichen Editionen kein Lesepublikum gebildet, und die Tatsache, daß aus der Epoche von Shakespeare über Calderon und Racine bis zu Goldoni kein dt.sprachiges Werk ins allgemeine Bewußtsein zu dringen vermochte, bestimmt die Rezeption dieser Literatur bis hin zur völligen Unsicherheit auch der professionalen Kritik bei modischen Adaptionen eines Stils, der vor dem 18. Jh. in der dt. Lit. liegt. § 5. Diese Situation bestimmt weitgehend auch die wiss. D i s k u s s i o n , besonders nach den Kontinuitätsbrüchen der jüngeren Vergangenheit. Bei einer gewaltigen quantitativen Vermehrung der Sekundärl. und der Möglichkeit, einzelne Erscheinungen monographisch zu behandeln, ist doch nur selten ein Fortschritt der Interpretation festzustellen, der die klass. Darstellungen etwa von Hermann Hettner, Wilhelm Creizenach und Eduard Devrient im 19. Jh. und engagierte, philosophisch geprägte Arbeiten wie Georg Lukäcs frühe Studie über das Trauerspiel und Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels auch nur fortsetzen oder diesen Stand der Argumentation aufzuarbeiten in der Lage wäre. Die Untersuchungen splittern sich auf nach partikulären Gesichtspunkten, und weil manches forcierte Urteil der älteren Generationen

Trauerspiel nach damaligen ästhetischen und moralischen Normen obsolet geworden ist, hat eine allgemeine Urteilslosigkeit um sich gegriffen, die sich selbst für histor. Objektivität zu halten geneigt ist. Auch in Arbeiten, die gewissenhaft referieren möchten und eigene interpretatorische Ambitionen haben, ist Walter Benjamins Ansatz doch unverstanden geblieben. Seine Absicht war nicht, die vorhandenen dt. T . e des Barock aufzuwerten, sondern aufgrund der Kunstmittel und Denkweisen des Zeitalters und am Maßstab dessen, was Shakespeare und Calderón gelungen war, die Idee dessen anzudeuten, was unter anderen Umständen hätte geschaffen werden können im Gegensatz zu dem, was faktisch erreicht wurde. Es handelt sich dabei um ein spekulatives geschichtsphilosophisches Vorgehen, das sich zwar auf philologische Einsicht gründet, sie aber doch überschreitet, und auf das gewiß keine literarhistor. Disziplin zu verpflichten ist. Aber daß viele der neueren Arbeiten schon daran scheitern, dieses Verfahren auch nur zu referieren und selbst, statt Einsichten in das literar. Werk zu geben, in der Theologie und neuerdings in der Sozialgeschichte dilettieren, ohne deren Arbeitsweisen und Grundbegriffe sich erarbeitet zu haben, erschwert es ungemein, einen Forschungsstand als Ausgangspunkt für neue Untersuchungen darzustellen. Zwischen den archivalischen und bibliographischen Funden auf der einen Seite und den feuilletonistischen Deutungen auf der anderen klafft ein Abgrund, den der germanist. Diskurs zu überbrücken sich vergebens bemüht. So begegnet es häufig, daß Erscheinungen, die ein ganzes Jh. prägen, wie der Neostoizismus oder die nach einer zumindest in den roman. Ländern säkularen Epoche der Geschichtsdeutung im Barock glanzvoll repristinierte Heilsgeschichte, der erbauliche Charakter, der fast alle Gattungen durchzieht, mit dem Stolz des glücklichen Entdeckers in jedem einzelnen Stück wieder präsentiert werden. Das literar. Werk ist so nur Beweisstück dessen, was man immer schon wußte, statt daß die Zeit, die es erkennt, und das ist die unsere, an der Zeit, die es schuf, zur Anschauung ihrer selbst gebracht würde. Häufig ist es ein Mangel an Begriffsbildung, wie besonders bei Darstellungen des bürgerlichen T.s (s. d.), der durch keinen philologischen Eifer wettzumachen ist. Wo man sich als unfähig erweist, zwischen dem Verabre-

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dungsbegriff einer älteren Forschung und der Selbstbezeichnung der Autoren sinnvoll zu unterscheiden, flüchtet man sich in die Scholastik eines Epithetons. Aus der extrem geringen Zahl von Werken, die die Bezeichnung „bürgerliches T . " selbst tragen und, da nicht zwischen Rezeption und bloßem Einfluß unterschieden wird, auch nur innerhalb dt.sprachiger Literatur, soll eine eigene Gattung konstituiert oder eskamotiert werden. Das geschieht mit Werken, die im weiten Umkreis erzählerischer und publizistischer, didaktischer und polit. Lit. in Deutschland und Europa und häufig noch nicht zwischen starr gezogenen Gattungsgrenzen entstanden sind, auf welche sich doch alle das Adjektiv „bürgerlich" in einem deutlich zu bestimmenden höheren oder geringeren Grade sinnvoll anwenden läßt. Oft kann eine Forschungsdiskussion noch gar nicht wieder stattfinden, da Arbeiten etwa sozialgeschichtlicher Interpretation, wie sie Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jh.s begonnen wurden, weder fortgesetzt noch berichtigt wurden und die mangelnde Vertrautheit mit Fragestellung und Methode einem Unverständnis und der nur daraus zu erklärenden Polemik begegnet, die entscheidende Fragen nicht weitergeführt, sondern lediglich verunklärt hat. Auf diesem Felde ist die Last des Nationalsozialismus und der darauf folgenden restaurativen Innerlichkeit noch keineswegs abgetragen. § 6. Das 16. J h . in der dt. Lit. des Dramas ist geprägt von Bühnenfassungen biblischer Erzählungen und Stoffen der röm. Geschichte aus Livius, die höchstens nach dem äußerlichen Gesichtspunkt, ob sie unglücklich oder glücklich enden, in Tragödien und Komödien geschieden werden. Da Wiederbelebungen des antiken Theaters an Universitäten mit Stücken von Terenz allein mit einigem Erfolg geschehen, sind Hinweise auf die Tragödie sehr vereinzelt. Konrad C e l t i s rühmt sich in seiner Ausgabe der Biga Tragoediarum (Senecas Hercules für ens und Coena Thyestis, Leipzig 1487), den Deutschen ein „novum litterarum genus" vorzustellen, das den Untergang von Königen und Fürsten darstelle. Er schreibt der Tragödie höchsten moralischen Nutzen zu, der sich jedoch vom humanist. Lob der Geschichtsschreibung nicht unterscheidet, daß sie die Tatkraft befeuere und zu gutem und glückseligem Leben ermuntere (Hans Rupprich, Der Brief-

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Wechsel des Konrad Celtis, 1934, S. 12f. (Nr. 5, 13. 2. 1487). Von einem Verständnis des Gattungsunterschieds zwischen Tragödie und Komödie nach der Art ihres Stoffes oder der Handlungsführung kann bei den Autoren keine Rede sein. Bei Hans S a c h s , der Dutzende biblischer Stoffe dramatisierte, läuft allein nach dem Kriterium des Ausgangs der Hiob als Comedia, Absolon als Tragedia, und bei der Comedia / die Judith wird es dem Verfasser selbst zweifelhaft: „ U n d haben allhie fürgenommen / Zuhalten ein geistlich comedi / Doch schier fast gleich einer tragedi". Jacob

Ayrers Opus theatricum, Dreißig Außbündtige schöne Comedien und Tragedien behilft sich ebenfalls mit diesem Kriterium und führt „die schön Histori vom Verdruß" als Tragedi, „ Ein Histori ohne verdruß" als Comedi (Nürnberg 1618, S. 1, 35). Bei all diesen Fragen darf nicht vergessen werden, daß auch für Autoren, die sich wesentlich stärker an Vorbildern der Antike orientierten, die Definitionen und der Streit der Theoretiker keinerlei Bedeutung hatte. Wichtig ist nicht nur, daß der Mythos, den die antike Tragödie zur Vorlage hatte, unzugänglich war, sondern vor allem, daß der Konflikt von Rechtsordnungen, die Verhandlung eines Streitfalls und der agonale Charakter des antiken Dramas noch lange außerhalb jeder Vorstellung lagen. Man behandelte epische Stoffe, aus der Bibel, aus Livius oder Novellensammlungen, deren moralische Absicht gar nicht zur Debatte stehen konnte. Mit einigem Recht beginnt zu dieser Zeit die Gattung T . , weil ihr Stoff einerseits aus der G e s c h i c h t e stammt, wobei es gleichgültig bleiben kann, ob aus der öffentlichen oder der privaten, und weil andererseits die Geschichte mit jedem ihrer Ereignisse einer ihr vorgängigen m o r a l i s c h e n W e r t u n g unterliegt. Diese prinzipielle Moralisierung der Geschichte erstreckt sich nicht auf alle Literaturgattungen. Gerade die große Geschichtsschreibung und histor. Theorie — Machiavelli und Guicciardini zu dieser Zeit, Bodin und Retz, Milton, Montesquieu, Voltaire und Hume — unterliegen ihr nicht. Aber die Art der Geschichtsauffassung trennt Autor und Publikum des Trauerspiels von einer Umwelt, in welcher auch in der Neuzeit die Tragödie möglich wurde. Die Tragödie setzt die Fähigkeit voraus, die Spannung eines unausgleichbaren Gegensatzes

auszuhalten und die gegenwirkenden Kräfte zu gestalten. Eine moralische Vorentscheidung für eine von beiden macht den Konflikt unmöglich und kann allenfalls ein schreckliches Geschehen ablaufen lassen. Auch ein christl. Zeitalter kann Tragödien haben, die sich in wesentlichen Einzelheiten und im ganzen Charakter von denen der Antike unterscheiden, was aber erst so spät ins Bewußtsein getreten ist, daß die Verkennung dieses Unterschiedes eine nicht genug hervorzuhebende Bedingung des Selbstverständnisses vergangener Epochen ist. W o sich die Dramen nicht zur vollen Individualität der Charaktere, zur Autonomie der Leidenschaften und zum bewußten Wollen des verhängten Schicksals erheben, verfehlen sie die Würde der Tragödie oder des hohen, des ,heroischen' Trauerspiels. Ist T . eine Gattung, so ist diese nicht durch formale Bestimmungen greifbar, sondern bedarf qualitativer Merkmale, die sich zugleich als geschichtsphilosophische interpretieren lassen. Die Erfüllung oder das Scheitern an diesen Merkmalen ist ein Gradmesser, der nicht eine abstrakte Rangfolge von Literaturen festlegt, aber erkennen läßt, ob die wesentlichen Interessen eines Zeitalters, die sich auch historisch-politisch bestimmen lassen müssen, in den Werken dieser Lit. Gestalt gewonnen haben. Ganze Epochen bringen keine Werke hervor, die eine solche Spannung auszutragen vermöchten. Histor. Dramen nähern sich dann, wie S c h i l l e r das einsichtsvoll bei Gelegenheit seines Wallenstein diskutiert hat, der Satire, welche „die Wirklichkeit als Mangel, dem Ideal als der höchsten Realität gegenüber" stellt, ohne daß das Ideal „ausgesprochen" werden muß ( Ü b e r naive und sentimentalische Dichtung, in: Schiller, Werke. Nationalausg. Bd. 20, 1962, S. 442.) Nicht die christl. Weltdeutung ist es also, denn wohl gab es christl. Tragödien wie bei Calderon oder doch Tragödien von Christen wie Racine und andererseits im Bereich des paganen Humanismus keine Tragödie, sondern es ist die einseitige Zuerkennung von Schuld und das vorgängige moralische Urteil, das die Tragödie aufhebt. Nicht ohne Bewußtsein davon ist schon Thomas N a o g e o r g , dessen Werke, vor allem der Pammachius der Durchsetzung konfessioneller, antipäpstlicher Ziele dienen, nicht an der Tragödie der Antike, sondern an Aristophanes orientiert sind und die Vorläufigkeit „dieser W e l t " einkalkulieren, deren Fürsten, dem

Trauerspiel Satan, die Tragoedia zugeordnet ist: „ N e c sperandum humanis consiliis res fore / Meliores, nisi Deus istius Tragoediae / Finem fecerit adventu Filii sui" ( P a m m a c h i u s , 1539, Epilo-

ge)Der vorläufige Charakter dieser Welt, ihr Ende, Gericht und die Erlösung zu einer anderen Welt, die als „geistliche Doppelwelt" noch kaum sichtbar ist und anderen Werten unterliegt, benimmt dieser Ansicht der Geschichte, die in Deutschland das ganze 16. J h . beherrscht und noch lange weiter wirkt, die Möglichkeit der Tragödie. An ihrer statt entwickelt sich ein Trauerspiel, das polemisch oder lehrhaft verfährt und dazu Stoffe verwendet, wie sie auch die Tragödie benutzt.

§ 7. „Spiel vor Traurigen" viel mehr als Spiel, das traurig macht (Benjamin), charakterisiert diese Gattung. Unabhängig von einer Herleitung, die bei einer Vielzahl wirkender Faktoren willkürlich wäre, verbindet etwas das Trauerspiel mit den die für die ital. Renaissancetragödie so wichtigen Trionfi: die gemeinsame Auffassung von Z e i t und V e r g ä n g l i c h k e i t . Es ist die Vorstellung einer alles Irdische verschlingenden und auch auf diesseitige Zukunft bezogen unbestimmten leeren Zeit, wie sie paradigmatisch schon P e t r a r c a s I. Trionfi (entstanden 1351/52 u. 1374) darstellten, im strikten Gegensatz zur Konzeption einer das Irldividuelle und Geschichtliche plastisch und dauerhaft verkörpernden Zeit mit einer erfüllten Zukunft in D a n t e s La Divina Commedia (entstanden 1306/21). Im Gegensatz zu deren figuraler Deutung des Wirklichen erfährt es seit Petrarca und im Humanismus eine Allegorisierung, die im wesentlichen auch für das Barock zutrifft. Die Spannung zwischen Augenblick und Ewigkeit wird stärker, die Antithesen heftiger, aber die Beziehung zur historisch-polit. Welt ist so unterschiedlich, daß auch die Auffassungen von Zeit, Schicksal und Fortuna nicht auf einen gemeinsamen barocken Nenner gebracht werden dürfen, sondern als Funktion der jeweiligen politischen Kultur zu deuten sind. Während S h a k e s p e a r e die engl. Vergangenheit in bedrängende Szenen bannt und die überlieferten Stoffe antiker Politik aus der Erfahrung seiner Gegenwart überzeugend beleben kann, während C a l d e r o n die Heteronomie der Macht zwischen der in ihre eigenen

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Stricke sich verfangenden Arkanpolitik und einem souverän sich durchsetzenden, religiös fundierten Naturrecht zu gestalten vermag und R a c i n e den Abgrund des Gewissens durch den Kalkül einer Machtpolitik der zur höchsten Autonomie gesteigerten Leidenschaften überbrückt, lebt das Schauspiel im dt. Sprachbereich zunächst noch von kümmerlichen Fassungen der Greuelstücke engl. Komödianten oder den pedantischen Adaptationen großer Tragödien bei bürgerlichen Komödiantengesellschaften. Dazwischen steht eine Lit. des T.s, die für die Bühne schon zu ihrer Zeit nur eine ganz geringe Bedeutung gewann, um danach aus den Spielplänen fast völlig zu verschwinden, ohne eine bleibende Spur in der Geschichte des Schauspiels zu hinterlassen, während das drastisch gestaltende J e s u i t e n d r a m a mächtige Wirkungen erzielte (s. Jesuiten) und die Opera seria als legitime Nachfolgerin der antiken Tragödie auftrat und mit prachtvoller Entfaltung aller Mittel der Musik und Bühnentechnik alle Bewunderung usurpierte (s. Oper). Das gestiegene Interesse der Lit.wiss. am dt. T . des Barock, das sich im wesentlichen wieder auf wenige Dramen von Gryphius und Lohenstein konzentriert, die sie postum in ihren Kanon aufgenommen hat, darf nicht dazu führen, ihre Stelle im europäischen Drama des 17. Jh.s oder gar unter den darstellenden Künsten ihrer Zeit zu verkennen.

§ 8. Das Drama des 17. J h . s ist von dem des vorausgegangenen durch eine tiefe Diskontinuität geschieden. Diedramat. Lit. des lö.Jh.s ließ ihrerseits keine Entwicklung erkennen. Alles künstlerisch Neuartige blieb vereinzelt und ohne Erfolg. Die religiösen Bewegungen des Zeitalters banden hier das Bewußtsein stärker an die mal. Elemente. Und ebenso wie es für die histor. Lit. gilt, widersetzte sich das Luthertum einer autonomen Kultivierung des Weltlichen, die eine wesentliche Bedingung des neueren Dramas ist. Das dt. Reformationsdrama (s. Reformationsliteratur) hat keine Beziehung zur Renaissance, aber es hat natürlich die moraltheologischen Absichten, die an den frühen Kirchenvätern geschulte Haltung zur Welt, die sich mit der stoischen verbinden kann, und die erbauliche Wirkung der ,consolatio', durch welche sie sich nicht vom barocken Drama untercheidet.

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D e r künstlerische Neubeginn des dt. Dramas im Barock hat nicht zuletzt lit.polit. Anlässe. Wie die immer erneuten und häufig mißglückten Versuche eines großen Epos, so verdanken auch manche heroischen T . e ihre Entstehung nationalem Ehrgeiz und dem Bedürfnis, etwas nachzuholen, das seit der Antike höchsten Ruhm versprach. Dazu kommen zeitgeschichtliche Ubereinstimmungen, die O p i t z bewogen haben mögen, bei den ersten Ubersetzungen antiker Dramen ins Deutsche Senecas Trojanerinnen (1625) als Darstellung des Kriegsleids und die als Märtyrertragödie gedeutete Antigone des Sophokles (1636) zu wählen. In diesen Zusammenhang gehört auch das s t o f f l i c h e M i ß v e r s t e h e n des Dramas, das die erst von dem mal. Grammatiker Diomedes stammende sog. „Ständeklausel" kurzschließt mit den vor allem in der griech. Tragödie nicht erforderlichen inhaltlichen Bestimmungen durch Greueltaten in der Definition der Deutschen Poeterey (1624): „ D i e Tragedie ist an der maiestet dem Heroischen getichte gemese / ohne das sie selten leidet / das man geringen standes personen vnd schlechte Sachen einführe: weil sie nur von Königlichem willen / Todtschlägen / verzweiffelungen / Kinder- und Vätermörden / brande / blutschanden / kriege vnd auffruhr / klagen / heulen / seuffzen vnd dergleichen handelt." Diese Definition gibt natürlich vor, sich auf Aristoteles zu stützen, der über Heinsius und Scaliger rezipiert wird. Auch Harsdörffer, der der ital. und franz. Tragödientheorie näher steht und auch auf Erfordernisse der Bühne eingeht, unterscheidet sich doch darin nicht von Opitz, und beiden ist ferner gemeinsam, daß ihnen das ältere dt. Drama fast völlig unbekannt ist und sie auch beide selbst kein Trauerspiel schrieben. Ein Mißverständnis, das aus der nationalen Erneuerung der Poesie stammt, ist Harsdörffers Empfehlung, „ s o sol der Teutsche die Teutschen Händel auf den Schauplatz führen / welcher Umstände unsren Sitten / Redarten und Gewonheit viel gemässer sind / als jene Aussländische." (zu Klaj Herodes, Nürnberg 1645, S. 58; Neudr. Klaj, Redeoratorien. Hg. v. Conrad Wiedemann 1965, S. 194). U n d das nicht nur, weil den dt. Staaten eine literarisch verfügbare gemeinsame geschichtliche Tradition fehlt, sondern weil eine fast exotische Distanz zu den Bedingungen des Kunstdramas zu gehören scheint, während

sich das histor. Drama aus Gründen der Darstellung der Wirklichkeit der gemischten Gattung nähert. Bei den dt. Theoretikern bleibt S c a l i g e r s aus der rhetor. Tradition stammende ethische Intention nicht voll erhalten. E r wollte die Tragödie, wie es der Historie entspricht, als Schule der Könige ansehen, als Beobachtungsfeld der Affekte, die im öffentlichen und polit. Bereich wirksam sind. Beim Wechsel des Tragödienstoffes vom Mythos zur Geschichte ging das Bewußtsein gleichberechtigter streitender Rechtsordnungen verloren, was nicht am geschichtlichen Stoff, sondern an seiner Legitimierungsabsicht liegt. Im dt. 17. J h . fehlt im lutherischen Einflußgebiet zumal im Vergleich mit Scaliger, die Möglichkeit eines alternativen Denkens oder die Frage der Legitimität des fürstlichen Handelns. Bei der durchgehenden Moralisierung ist es nicht einmal mehr das Schicksal des Helden, das Furcht oder Mitleid erwecken soll, sondern seine Tugend oder sein Laster, die zum schrecklichen Ende führen. Die Steigerung und Kultivierung einer Leidenschaft und ein aus ,1a cour et la ville', dem Hofadel und Besitzbürgertum neu und einig in deren Genuß sich bildendes Publikum erlaubten es R a c i n e , die Tragödie fast unabhängig vom Stoff zu konzipieren als das Erzielen einer erhabenen Stimmung, der ,tristesse majestueuse' ( B é r é n i c e , 1670, Préface). Shakes p e a r e wählt gar keine besonderen Stoffe, wie Goethe erkannte, „sondern er legt einen Begriff in den Mittelpunkt und bezieht auf diesen die Welt und das Universum" ( S h a k e s p e a r e und kein Ende, 1815). Eine vergleichbare A n schauung des Individuums und der Geschichte ist im T . ebenso wie in der zeitgenöss. Historiographie in Deutschland gar nicht denkbar. Dazu gehört auch die weit über die bloße Metapher hinausgehende Identifikation des histor. Geschehens selbst mit dem Trauerspiel. So G r y p h i u s in der Catharina von Georgien (1657): „ . . . In wenig Zeit verfill / D e ß Adels schönste Blum / durch fremde Trauerspill / Man schaute nichts als Mord 7 als Jammer Weh und Thranen / Als Leichen / Kercker / Beil / als hochbestürzte Sehnen" (I, 556). § 9. Die Auffassung der Geschichte verändert die S t e l l u n g des H e l d e n . Gewöhnlich ist es ein S o u v e r ä n , der in allegorischer

Trauerspiel Beziehung nicht nur sein Land repräsentiert, sondern für das geschichtl. Handeln selbst steht. Seine Rolle in der Politik, aber auch im Staatsrecht und in der dieser Epoche besonders zugehörigen politischen Theologie' ist aus den unterschiedlichsten Elementen zusammengesetzt, dennoch kommt sie vor allem den Wünschen der Dramaturgie des dt. Barock entgegen. Der Souverän ist hier das subordinierende und integrierende Prinzip der Komposition, die Verkörperung eines absoluten, keiner Macht und keinem Gesetz unterworfenen Bewußtseins, das nur seinem eigenen Willen folgt. Diese A l l m a c h t des H a n d e l n s ist jedoch in beständiger Gefahr, in O h n m a c h t umzuschlagen. Da nichts ihn an den gegebenen Befehl bindet, kann der Souverän ihn auch sofort zurücknehmen, sich dagegen entscheiden oder schwanken und in ein lähmendes Grübeln verfallen. Diese Lage liefert den Herrn der Gewalt seinen eigenen ,Affekten' aus, die ihn packen, bald in diese, bald in jene Richtung hetzen und ebenso plötzlich fallenlassen. Die D a r s t e l l u n g der A f f e k t e , das Spiel ihrer wechselvollen Herrschaft sind der eigentliche Gegenstand des T.s, und dadurch daß die Affekte sich nicht zu einer beherrschenden Leidenschaft zu steigern oder eine Welt von Beziehungen zu organisieren vermögen, unterscheidet sich das dt. T. von Shakespeare, Calderon oder Racine. Man wird auch weder das .Schicksal' eines Helden noch die Entwicklung einer Handlung suchen dürfen, sondern eine — auch in der Gebärdensprache — hochentwickelte Stilisierung des Ausdrucks dieser wechselnden und umschlagenden Affekte, die mit naturwiss. Neugier beobachtet, klassifiziert und kalkuliert wurden. Das ideale Beobachtungsfeld bildet der souveräne Wille, handelnd als Tyrann, leidend als Märtyrer. Das T. des T y r a n n e n und das des M ä r t y r e r s sind nicht nur aufeinander bezogen oder das eine die Umkehrung des anderen, sondern stehen oft in einem Stück gegeneinander. Zwei unbeugsame Willen, die keiner Wandlung oder Entwicklung fähig sind, vernichten einander oder wenn einer es überlebt, so wird er doch bald Beute der Zeit. Gerade das dt. protestant. T. steht so fern wie nur möglich dem antiken Tragödienende, das eine neue Rechtsordnung begründet und auch dem Shakespeares oder Calderons, wo nach dem Opfer tragischer Selbstzerstörung oder Selbsterniedrigung eine erneuerte Ordnung beschwo-

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ren wird. Die lutherischen Barockdichter verschärfen noch die mal. Auffassung des Irdischen durch Suspension der „Werke" und des freien Willens, steigern im Politischen den Untertanengehorsam ebenso wie die Herrscherstellung und verinnerlichen die moralische Verantwortung in einer Welt, die heilsgeschichtlich so weit wie möglich entwertet ist. Es handelt sich deshalb nicht um einen besonderen Untergang des heroischen Helden wie in der Tragödie, sondern um ein Beispiel des allgemeinen aller kreatürlichen Vergänglichkeit. Den zeitweiligen Helden, der eine Ordnung verletzte, läßt das dt. Trauerspiel untergehen, und fern der figuralen Deutung, bei welcher beide ,figurae', die andeutende wie die erfüllende erst eine heilsgeschichtliche Zukunft stiften, vermag auch das Martyrium nur I mit atio einer Passion zu sein. Als vergangene wird sie emblematisch inszeniert, wo und weil sie noch nicht, wie es in der franz. Tragödie sich anbahnt, autonome ,passion' im Sinne bewußter Leidenschaft geworden ist. Auch dort geschieht es nur, weil sich ein Publikum zu bilden beginnt, das unabhängig von materieller Sorge, ökonomisch parasitär und politisch einflußreich, ohne selbst zu handeln, in der Kultivierung einer zum Erhabenen gesteigerten Leidenschaft und ihrer Darstellung einen Inhalt seines Lebens sehen will. Ein zeitgeschichtliches Ereignis wie der engl. Königsprozeß, den Milton publizistisch mit stärkeren Argumenten und überlegener sprachlicher Gewalt verteidigt, konnte in Frankreich wohl die Pamphletliteratur erregen und dabei die royalistische Partei zu Racherufen hinreißen, niemals aber Gegenstand einer Tragödie werden. G r y p h i u s in seinem lutherischen Verständnis der Obrigkeit ist am Ende eines verheerenden Krieges im eigenen Lande davon betroffen, und die Folge der Ereignisse entspricht in ihrer royalistischen Deutung einem „Trauerspiel". Dabei bereitet sich der Carolas Stuardus (1650) seinen Untergang weder durch Erhabenheit noch durch eigene Schuld, sondern er erscheint den Empörern gegenüber soweit als Märtyrer, daß er in dieser Rolle verklärt werden kann. Bei anderen Dramen nimmt Gryphius Stoffe aus der Geschichte der östlichen Kirche, wobei er frühere kathol. Deutungen revidiert und umwertet, oder er greift in die röm. Tyrannengeschichte. Die Stoffe sind denen der konfes-

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Trauerspiel

sionellen oder moralischen Kolportageliteratur nicht fern und verdanken ihren literar. Rang gewiß weder der Fabel noch der Moral. Die historisch-polit. Welt, die er gestaltet, ist eine Welt, in der das äußere Geschehen nur die Folie für die im Untergang siegende Ehre und Tugend bildet. N u r zu deren Probe taugt diese Welt. Ein positiveres Verständnis der Politik blieb ihm unerreichbar und das setzte auch seiner Wirkung enge Grenzen. § 10. Die bei aller Heftigkeit der Affektenstürme dramaturgisch schwerfälligen Dramen des dt. Barock veräußern ihren Gehalt in einem allegorischen Verfahren in die S e n t e n z e n . Uber die redende Person hinaus und vergleichsweise unbesorgt um die Motivierung gipfelt der Dialog in diesen Sentenzen, die aus der ethischen, polit. oder emblemat. Lit. solcher ,Apophthegmata' stammen und sich auch wieder aus dem Drama lösen lassen. Ist man bereit, dies als Eigenart gelten zu lassen und nicht lediglich als Mangel zu deuten, so erübrigten sich die bemühten psychologischen Charakteristiken, aus denen traditionell die Drameninterpretation zu einem großen Teil besteht. Die allegorische Person des dt. Trauerspiels zeigt nicht nur im Vergleich zu späteren Anforderungen, sondern auch zu dem, was bei Shakespeare oder Calderon allegorisch gestaltet ist, einen Mangel der Konstruktion, der durch ein Ubermaß dekorativer Elemente verdeckt wird. So kann es auch willkürlich und ungerecht innerhalb der Ökonomie des Stückes erscheinen, wem die Tugend zugesprochen wird, z . B . Masanissa in L o h e n s t e i n s Sophonisbe (1669; IV, Reyen). Hier kann dem Autor selbst oder um der einer ,translatio imperii' vergleichbaren Anknüpfung an die Zeitgeschichte willen der bloß Uberlebende auf Kosten des oder der Interessanteren ausgezeichnet werden. Dabei sind L o h e n s t e i n s Personen und seine Heldinnen zumal ausgeprägtere und widerspruchsvollere Charaktere, nur wird man den Kalkül der Affekte nicht für Psychologie halten, die Auflösung von Gestalten in Requisite, von Gefühlen in steife Metaphern nicht für Charakterisierung und die antithet. Sentenzen nicht für Reflexion. Eine solche Auffassung hat das dt. Drama des Barock für zwei Jh.e zur bloßen Kuriosität gemacht und jede künstlerische Anknüpfung an seine Form verhindert. Es bedurfte einer Auflösung der

später entwickelten klassizist. und realist. Formen, um überhaupt die Gesetzlichkeit dieser Darstellungsweise wahrzunehmen. Vor historist. Urteilslosigkeit oder Uberschätzung dieser Werke kann der notwendige Zusammenhang mit den anderen europäischen Literaturen bewahren. Nicht deren Einflüsse oder ihre Rezeption sind entscheidend, sondern die Möglichkeit, gerade aus dem, was dem dt. Drama nicht gelungen ist, die Bedingungen dieser Kunstform und die des histor. und polit. Bewußtseins seiner Autoren und ihrer Zeit herauszuarbeiten. Und weiter als das begrenzte Interesse, einzelne Kostbarkeiten vor dem Vergessen zu retten, reicht das allgemeinere, das Elend dieser Zeit und die Misere einer nicht mehr und noch nicht, auch in der Konkurrenz der Sprachen im eigenen Lande, zu ihrem eigenen Ausdruck entwickelten Lit.sprache zu dokumentieren. § 11. Wenn G o t t s c h e d 1732 zu seinem

Sterbenden

Cato, ein Trauerspiel

schreiben

kann: „Ich unterstehe mich eine Tragödie in Versen drucken zu lassen, und zwar zu einer solchen Zeit, da diese Art von Gedichten in Deutschland, seit dreyßig und mehr Jahren, ganz ins Vergessen gerathen", so weist er auf eine geschichtliche Tatsache. Wie zwischen dem Reformationsdrama und dem barocken Kunstdrama, so besteht auch zwischen den T.en der schlesischen Dichter (s. Schlesische Schulen) und denen im 18. Jh. eine tiefe Diskontinuität, die sich nicht einmal als Gegensatz oder Bruch mit einer Entwicklung deuten läßt. Auch der Bezug auf Tragödiendefinitionen, die sich ähneln, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich wieder um einen Neubeginn handelt, der nicht einmal die Atmosphäre, eine lokale Tradition oder die Institution des Theaters mit dem früheren gemeinsam hat. Die Schlesier hatten den Weg in die Repertoires der Wanderbühnen nicht gefunden. Dafür hatte Gottsched wenigstens etwas, wogegen er sich-wenden konnte, das Schauspiel der Dresdner privilegierten Hofkomödianten: „Lauter schwülstige und mit Harlekins Lustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsactionen . . .". Zugleich fand er etwas vor, das er nachahmen konnte, den „ C i d des Corneille, die Merope des H r n . Maffei . . . Herrn Addisons Cato". Dazu kommt seine Uberzeugung von der Ethik der Wölfischen Schulphilosophie

Trauerspiel

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und das ihr entsprechende Verständnis des Aristoteles. Als „regelmäßiger Held zur Tragödie" ist sein Cato zwar „sehr tugendhaft", aber er hat auch einen Fehler: „ e r treibt seine Liebe zur Freyheit so hoch, daß sie sich gar in einen Eigensinn verwandelt. Dazu kömmt seine stoische Meynung von dem erlaubten Selbstmorde. Und also begeht er einen Fehler, wird unglücklich und stirbt: wodurch er denn das Mitleiden seiner Zuhörer erwecket, ja Schrecken und Erstaunen zuwege bringet" (Vorrede zu Cato).

durch den Anblick solcher schweren Fälle der Großen dieser Welt, zu ihren eigenen Trübsalen vorbereiten" (ebd., S. 606).

Gottsched schreibt mit überwältigender Ehrlichkeit und deshalb formuliert er deutlicher eine Auffassung, die sich als Theorie der Tragödie lange halten konnte, wie sehr man ihn auch „überwunden" zu haben glaubte. Die Doktrin einer moralischen Schuld und ihrer Sühne, die der Antike und dem Barockdrama fremd war, wird als selbstverständlich vorausgesetzt und auch in alle histor. Tragödien hineingelesen. Seine Deutung des Sophokleischen ödipus ist als Mißverständnis berühmt, aber wenige Deutungen enthüllen so klar, was sein J h . lange und mehrheitlich dachte, auch wenn diese Auffassung langsam von der Ästhetik desavouiert wurde und sich nur noch in der Trivialliteratur, dort aber um so zäher hielt.

Gedanken von der Tragödie, in: Johann Christoph Gottsched, Sterbender Cato. Ein Trauerspiel, 3. Aufl. Leipzig 1741, S. 89-102). Diese lange wiederholten Einwände, die man oft als dt. Kritik an der franz. Tragödie ausgab, die aber zunächst eine innere franz. Angelegenheit betreffen und die zugleich eine polit. Kritik am Publikum der Romane und Tragödien und ihrem Genuß der autonomen Leidenschaft und der davon getragenen Hofkultur bedeuten, bereiten den Boden für eine Form des T . s , die so sehr in die Defensive geriet, daß zu ihrer Verteidigung sich eine eigene Theorie entwickelte, die sich von der traditionellen Aristoteles-Auslegung abhebt.

W o der antike Mythos ein Verhängnis zeigt, das den ereilt, der ihm entflieht, und zwar gerade durch das zur Rettung ersonnene Mittel, dort sieht Gottscheds M o r a l , die eine Vorschrift nur als allgemeine denken kann, seinen Fehler: „ D e n n hätte er nur-niemanden erschlagen, so wäre alles übrige nicht erfolget. Er hätte sich aber billig vor allen Todtschlägen hüten sollen: nachdem ihm das Orakel eine so deutliche Weissagung gegeben hatte. Denn er sollte billig allezeit gedacht haben: Wie? wenn dieß etwa mein Vater wäre!" (Versuch

einer

Critischen

Dichtkunst,

4. Aufl. 1751,

S. 607). Es ist das Verfahren, zu einem .moralischen Lehrsatz' eine allgemeine Fabel' zu ersinnen, deren Personen man in der .Historie' sucht. Bei dieser Auffassung einer Gestalt oder eines Ereigniszusammenhanges als bloßem E x e m p e l kann kein geschichtlicher Gehalt erkannt werden, bei der Konzeption des Inhalts als exemplarischer Bestrafung eines Lasters unterscheidet es sich nur durch das ,klägliche Ende' vom Lustspiel und durch den Rang der Helden, wobei die Wirkung noch ganz wie im 17. J h . gedacht ist: „die Zuschauer,

§ 12. Diese Auffassung des T.s wurde zunächst obsolet aus Gründen, die Gottsched noch für seine eigenen hätte halten können, oder die doch F é n e l o n s Gedanken von der Tragödie weitgehend entsprachen (Lettre à

l'Académie française sur la grammaire, la rhétorique, la poétique et l'histoire; Des Erzbischoffs von Cambray, De la Motte (!) Fénelon,

Das b ü r g e r l i c h e T r a u e r s p i e l , das in England Vorläufer in der ,domestic tragedy' hat, beginnt mit George L i l l o s The London Merchant (1731). Die Tatsache, daß es nicht eine Selbstdarstellung der ihrer polit. Bedeutung bewußten Londoner Kaufmannschaft und deren moralischer Haltung blieb, sondern etwa in Frankreich höchste Aufmerksamkeit erregte, läßt die überkommene literaturgeschichtl. Behandlung eines solchen Gegenstandes zuschanden werden. Nicht zufällig ist es ein Paradebeispiel für die Literatursoziologie, zumal Lillo ihm ein Vorwort beigegeben hat, das sich auch als polit. Manifest lesen läßt. Im Vergleich zum entwickelten franz. Kunstdrama ist der London Merchant ästhetisch äußerst bescheiden, in der Sprache sowohl wie in der Handlungsführung und gar in der Moral. Trotzdem bedeutet er eine Revolution auf dem Theater, deren Wirkung ebenso wie die Franz. Revolution einen Bankrott voraussetzt, nicht den der Staatsfinanzen, sondern den einer Kunstform, die ihre Kunstmittel erschöpft, ihr Publikum ermüdet hat und ihre Darsteller nicht mehr zu inspirieren vermag. Die Wahrscheinlichkeit, die man lange in der Einheit der Handlung und des Schauplatzes

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Trauerspiel

gesehen hat, verwandelte sich in die des Stoffes, und die ersehnte Identifikation galt nicht länger einer großen Leidenschaft, sondern einer Gefühlslage und einem Stand, mit dem man sich zu identifizieren bereit war. Dabei ist das Adjektiv ,bürgerlich', ,,la mauvaise epithete de bourgoise" (Melchior Grimm, Correspondance Litteraire, Jg. 1768, zit. nach Eloesser, S. 35) kein geeigneter Ausgangspunkt für die Untersuchung dieser Gattung. Literarisch ist es zunächst lediglich Gegenbegriff zum heroischen Trauerspiel' und bezeichnet ebensowenig wie dieses eine soziale Wirklichkeit. Mit der gleichen Anfechtbarkeit, die Laster oder Schwäche für einen Bürger ebenso wie für einen'Fürsten haben, begründet Lillo seinen Schritt, den Bereich der tragischen Dichtung zu erweitern, wobei er nur dem Ziel der Tragödie, der Verbesserung der erregten Leidenschaften, treuer und bei der größeren Zahl der Betroffenen wirkungsvoller dienen will. Bei Lillo, Moore und Diderot hat der bürgerliche Charakter des T.s nichts mit einer Adelskritik zu tun. Diese Dramen geben keine Absicht kund, die bestehende Ordnung der Gesellschaft zu ändern, aber sie haben die auf der Bühne dargestellte Wirklichkeit verwandelt, und das ist ein polit. Faktum. Das Geschick eines Menschen innerhalb seiner Standesgrenzen, gleichgültig, ob er Bürger oder Angehöriger des Adels ist, repräsentiert m e n s c h l i c h e s G e s c h i c k schlechthin an einem Ort, wo dies Heroen und Königen vorbehalten war. Stellvertretend zur Darstellung gebracht wird auch der Bürger, weil die konkreten, jedem Zuschauer nachvollziehbaren Bedingungen seiner Verstrickung und seines Scheiterns eine neue Welt zur Anschauung und zum Genuß bringen: die Welt häuslicher, familiärer und beruflicher Werte. Dabei ist das T. nur eine sekundäre Erscheinung zu den engl. Familienromanen wie denen Richardsons, die auf alle Gattungen der Lit. großen Einfluß ausübten, der ebensowenig allein ästhetisch zu deuten ist. Das T. hat den Vorzug, durch die Bühne ein Publikum räumlich zu vereinigen und damit die Wirkung zu steigern: „Mehr als tausend Menschen nach und nach zu einem Zwecke gestimmt, in Thränen des Wohlwollens für eine gute Sache . . . zu erblicken — das ist ein herzerhebendes Gefühl" (Iffland). Dabei verbinden sich zwei Elemente, die „bürgerliche Welt- und Lebensanschauung"

(Groethuysen), das Berufsethos, das sich in den bürgerl. Mittelschichten ausprägt, in denen aber auch eine langsam ihrer selbst bewußt werdende Empfindung kultiviert wird. Beides ist bürgerlich, und die moralischen Wochenschriften (s.d.), die wesentlich den neuen Geschmack eines erst sich bildenden Publikums bestimmen, versuchen beides zu vereinen. Erst nach der stürmischen Entwicklung des öffentlichen Bewußtseins und der Lit. im Gefolge des 7jähr. Krieges kann sich das empfindsame Element emanzipieren und damit den Eindruck des Pathologischen erwecken. Erst zu dieser Zeit wird der ständische Frieden zwischen Bürgertum und Adel auf dem Theater problematisch. § 13. Die erste Phase des bürgerl. T.s ist gekennzeichnet durch das Schaffen eines privaten R a u m e s , der sich dadurch vom öffentlichen abhebt, daß er zugleich mit der Entwicklung der Gefühle, die an der Stelle autonomer Leidenschaften oder widerstreitender Rechtsordnungen den Gehalt des T.s bilden, die Werte der Öffentlichkeit verinnerlicht. Daraus entsteht die außerordentliche und für das Bewußtsein anderer Zeiten lächerliche Tugendhaftigkeit der Helden. Verführung, Verführbarkeit auch nur als Möglichkeit, die Unfähigkeit einer empfindenden Seele, sich in die Welt zu finden, genügen als stofflicher Vorwurf. Faktisches Handeln bleibt oft schemenhaft, ist kaum genügend motiviert oder verfehlt seine volle Wirkung auf die Personen des Stückes, die von ihren Gefühlen überwältigt werden. So sind die Sünden der Tochter in Lessings Miß Sara Sampson (1755) vor allem dazu da, dem verwitweten zärtlichen Vater die „große Wollust" des gerührten Verzeihens zu bereiten (III, 3). Damit ist schon das erste bürgerl. T. in Deutschland über das bloß Lehrhafte und das Bessern eines moralischen Fehlers hinaus. Ein Publikum zerfließt in R ü h r u n g bei Genuß der aufs heftigste und mehr noch durch die leidenden als die handelnden Personen erregten Gefühle. Lessing behauptet: „Und nur diese Tränen des Mitleids und der sich fühlenden Menschlichkeit, sind die Absicht des Trauerspiels, oder es kann gar keine haben" (Thomson-Vorrede). Um das zu beweisen, identifiziert er die Furcht, welche die Tragödie nach Aristoteles auch erwecken soll, mit dem Mitleid, das er mit Mendelssohn für das grund-

Trauerspiel legende, Menschlichkeit konstituierende Gefühl hält: „diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid" (Hamburg. Dramaturgie, 74.-78. Stück, zit. 75.). Früh hatte Lessing auch schon die Wirkung des T.s weit über die Rührung hinaus auf den Begriff gebracht, „daß wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größern Grads unsrer Realität bewußt sind, und daß dieses Bewußtsein nicht anders als angenehm sein kann" (an Mendelssohn 2. 2. 1757). Damit ist aber ein Gesetz formuliert, das nicht nur für das bürgert. T. gilt und das mit der Shakespeare-Rezeption und dem T. seit dem Sturm und Drang (s.d.) von ganz anderem Inhalt erfüllt wird. Dieses steigende Bewußtsein seiner selbst, das Lessings Charaktere so weit über die seiner Zeitgenossen erhebt, fand doch in seinen Trauerspielen bei aller Kunst des dramat. Aufbaus weder eine ihm gemäße Welt noch ein Schicksal, so daß diese Stücke von kläglichen Intrigen bewegt werden und ein Ende finden, das schon seine Zeitgenossen unbefriedigt ließ. Ist das Tragische ein Phänomen der Geschichte, das man in der Heteronomie des Handelns erblicken kann, so gibt es doch nur wenige Epochen, die sich zum Bewußtsein des Tragischen erheben und deren Lit. an ihm nicht scheitert. Wie das wirkliche histor. Denken und die Geschichtsschreibung setzt es ein Bewußtsein von Freiheit, Öffentlichkeit der Politik und das Austragen der inneren Gegensätze voraus. Wie selten das und unter welchen Bedingungen nur der Fall gewesen ist, sich zu vergegenwärtigen, ist eine der Leistungen der zusammen mit der Theorie der Tragödie sich entwickelnden G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e . Was einzelne weitblickende Zeitgenossen an Lessing im Vergleich mit der antiken Tragödie, Shakespeare und Racine tadelten, das sollte der folgenden Generation schon zur geschichtsphilosophischen Einsicht werden, daß es zu seiner Zeit in der Jämmerlichkeit der polit. Zustände und bei der Enge des kulturellen Lebens nicht möglich gewesen ist. Das T. gerät von nun an in der dt. Lit. in bewußte Konkurrenz zur Möglichkeit seiner Verwirklichung. Als exponierteste Kunstform wird sie nicht nur nach de'r Stilhöhe und der Durchführung beurteilt, sondern sie muß aus der Geschichte oder dem Mythos glücklich einen Stoff wählen, der in der Lage ist, wesentlichen Gehalt zu tragen. Dabei ist

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nicht die Bedeutung des Ereignisses oder die Konstellation des Verhängnisses allein entscheidend, sondern die Kraft der Charaktere, unser Interesse zu gewinnen und durch Folgerichtigkeit ihres Handelns, selbst wenn die Umstände sie zu Scheusalen bildeten wie Richard III., zu erhalten. Daran ist noch Schiller häufig gescheitert. § 14. Der unaufgelöste Widerspruch in Lessings Emilia Galotti (1772), eine röm. Virginia ohne alles ,Staatsinteresse' zu schreiben, die öffentliche Verantwortung selbstzerstörerisch zu verinnerlichen, führte zu einer Besonderheit des dt. bürgerl. T.s. Blieb wie schon in Christians Leberecht Martinis Rhynsolt und Sapphira (1755) der Fürst selbst vom Vorwurf frei, der auf den Intriganten und Amtsträger geladen wurde, so zog man doch den Adel nunmehr als Stand vor das Tribunal der Szene. In England war das Bürgertum etwa der Londoner Kaufmannschaft viel zu selbstbewußt und auch zu mächtig sowie der Primogenitur wegen nicht vom Adel abgeschlossen (dessen jüngere Söhne durchaus Held in Lillos Drama hätten sein können), um die Standesgrenze zu thematisieren. In Frankreich hatte sich ebenfalls durch die Noblesse de robe, die keinen geringen Teil des Theaterpublikums bildete, ein Adel aus dem Bürgertum gebildet. In Deutschland führten die ökonomische Unbeweglichkeit und die polit. Kleinstaaterei zu einer fast neurotischen F i x i e r u n g auf den Adel. Die Liebe eines Fürsten oder Adligen zu einem Bürgermädchen konnte als Schicksal gelten, die Intrige oder Verführbarkeit als Verhängnis, und selbst da, wo man die Zustände anklagt, entspringt daraus keine polit. Erkenntnis und Einsicht in die soziale Wirklichkeit der Zeit, nicht einmal künstlerisch, auch nicht in Schillers Kabale und Liebe (1784), nach Erich Auerbach (Mimesis, S. 408 f.) ein „demagogisches Stück" und „ein melodramatischer Reißer", sofern Schiller sich auf die Wirklichkeit einläßt. Daß gerade dieses Stück unabhängig davon einen Überschuß uneingelöster theologischer und utopischer Motive hat, die seine Deutung lohnend machen, ändert daran nichts und realisiert tragische Größe so wenig wie Gesellschaftskritik. Erst das Drama des Sturm und D r a n g (s.d.) versucht, gegen die Verinnerlichung der öffentlichen Werte auszubrechen, soziales Elend und Erniedrigung in ihren Entstehungs-

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Bedingungen zu zeigen und Kritik geltend zu machen. Wo es ihm gelingt, der sozialen Wirklichkeit habhaft zu werden, hebt es aber auch die Voraussetzung des bürgerl. T.s auf. Die heftig behauptete eigene Biederkeit der polternden Väter, die Tugend der rasch empörten Jünglinge und die Unschuld der verführbaren Töchter, bedroht von adligen Schurken und Bösewichtern einerseits, und zum anderen von Kokotten, die, verletzt, zu rasenden Medeen werden — das ergibt kein Bild der Wirklichkeit. Lenz, der im Hofmeister (1774) zu einer Kritik der bürgerlichen Würdelosigkeit gelangt, braucht zu seiner Darstellung eine neue Gattung (s. Tragikomödie). Inzwischen war mit Macht der Einfluß R o u s s e a u s auf die jüngere Generation ausgegangen und hatte den Richardsons verdrängt. Die simple Berufsethik, die bürgerliche Gemütsruhe als höchstes Ziel waren ebenso unglaubwürdig geworden wie eine aristokratische Kultur und ihr verweichlichender Luxus. Ein V e r l a n g e n nach Größe wurde spürbar, das sich in einer Neuentdeckung der Antike ebenso manifestierte wie in einer Idealisierung der polit. Auseinandersetzung der Franz. Revolution und nicht weniger in einer veränderten Anschauung der Natur. Auf alle drei wurde eine Betrachtungsweise angewandt, die Kant teleologisch nannte und deren Maßstab nicht das Nützliche, politisch Kluge, Erfreuliche oder selbst das Schöne ist, sondern das Erhabene. Das sollte auch die Ansprüche ändern, die man an tragische Dichtung stellte. § 15. Zugleich differenziert sich der Begriff von T. und die normative Bestimmung der T r a g ö d i e . So kann Goethe schreiben: „Ich kenne mich zwar nicht selbst genug, um zu wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte, ich erschrecke aber bloß vor dem Unternehmen und bin beinahe übefzeugt, daß ich mich durch den bloßen Versuch zerstören könnte" (an Schiller 9. 12. 1797). Gleichzeitig ist S c h i l l e r überzeugt, in allen Dichtungen Goethes „die ganze tragische Gewalt und Tiefe, wie sie zu einem vollkommenen Trauerspiel hinreichen würde", zu finden (an Goethe 12. 12. 1797). Eine Welt hat sich verändert, vor allem ist der Poesie die moralische Fundierung, ihre Unterordnung unter die Vernunft genommen; stattdessen wird sie auf die „Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Men-

schen gegründet" (Goethe an Schiller 25.11. 1797). Mit einem in der dt. Lit. vorher ungekannten Ernst und einer Einsicht in das Bedrohliche, ja Vernichtende einer Kunstform, im Vergleich mit welcher das barocke Trauerspiel, das aus der Zerstörung des Irdischen Trost schöpft, harmlos erscheint, wird eine Gattung eher bestimmt als künstlerisch verwirklicht. Damit entsteht eine P h i l o s o p h i e des T r a g i s c h e n . Sie ist ein spezifisch dt. Produkt, erwachsen nicht aus der Kunstkritik oder der Reflexion der Autoren, sondern aus jener Ästhetik, die als Lehre von dem niederen Erkenntnisvermögen begann und über die Theorie der Empfindungen, des Gefühls des Schönen und Erhabenen zur Kritik der Urteilskraft wurde, die sich nicht auf die begrenzten Werke der Kunst beschränkt, sondern Teleologie der Natur und schließlich Geschichtsphilosophie wird. Ihr höchster Gegenstand ist die Tragödie und, ebenfalls über das Werk hinaus, ,das Tragische' des Menschen und seiner Geschichte. Damit ist ein Maßstab gesetzt, an dem jede fernere Philosophie selbst tragisch scheitern kann. Zugleich bricht eine Kluft auf zwischen dem w a h r h a f t T r a g i s c h e n , das man nur in wenigen höchsten Werken der Poesie — und kaum bei einem einzelnen ganz unbestritten — verwirklicht sieht, und den Bed ü r f n i s s e n einer Lit. sowie den F o r d e r u n gen der Bühne nach theatergerechten Dramen. Etwas Selbstzerstörerisches ist damit in die Entwicklung einer Lit. geraten, die sich Unerreichbares zum Ziel setzt und entweder überspannte und verstiegene Produktionen liefert, die auf der Bühne nicht heimisch werden können, oder in den größeren Gestalten sich die Arbeit für das tragische Theater versagt und dessen Gehalt in anderen Gattungen verwirklicht, und zugleich das Publikum mit literar. Machwerken abspeist. § 16. So läßt es sich vielleicht deuten, daß Goethe vor dem Tragischen im Drama zurückschreckte, es aber in den Wahlverwandtschaften (1809) Gestalt gewinnen ließ und im Kontrast zum zeitgenöss. Theater so weit ging, Shakespeares Werke für Lesedramen zu erklären. So wenig dies für die Elisabethanische Zeit zutrifft, hätte doch ihre angemessene Realisierung die Konvention der Bühnensprache ebenso überfordert wie eine volle

Trauerspiel szenische Gestaltung von Kleists Penthesilea (1808). Die Grenzen des für ein bestimmtes Publikum und innerhalb eines Theaterstils Möglichen ändern sich, aber sie sind zuzeiten sehr eng, und die Lit.gesch. schleppt zu viele unhistor. Urteile und Wunschvorstellungen einer Nachwelt mit sich, die schon das Bewußtsein jener Schranken verloren hatte. Der Kontrast zwischen dem zu einer bestimmten Zeit Möglichen und der theoretischen Überforderung einer Kunstform erklärt die große und heikle Rolle von Schillers Dramen in der dt. Lit. und die Tatsache, daß sie keinerlei europäische Wirkung auszuüben vermochten. Bei aller dramat. Kraft hat der Griff in die Geschichte die fatale Folge, daß das, was sowieso geschieht, ideologisch gerechtfertigt wird und daß die tragische Selbstzerstörung des Helden, die weder eine neue Ordnung zu begründen vermag, wie es im Mythos möglich ist, noch die Werte einer jenseitigen Welt behauptet wie im Märtyrerdrama, als sittlich notwendig oder als Fehler im polit. Kalkül erscheint. Die Geschichte der Neuzeit, die Schiller vergegenwärtigt, hatte einen Prozeß durchgemacht, aus dem sie rationaler hervorging, als daß ihre Idealisierung glaubhaft werden könnte. Die Fixierung auf die Psychologie der Individuen, die schon den Historiker Schiller selbst bei einem so glänzend begonnenen Werk wie der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (1792) in Schwierigkeiten bringt, beschränkt die Gestaltung eines historischen Stoffes, wenn sie auch viel Realität in sich aufnimmt. Selbst ein Begriff wie der des Fortschritts, für dessen Kampf der weiterblickende einzelne einer stumpfen Masse unterläge, ermangelte der Tragik, da er sich auf eine verfehlte Zweck-Mittel-Relation zurückführen ließe. Neben Helden, die sich allenfalls so deuten ließen, stehen andere, die um eines dramat. Reizes willen regressiv in ein Geheimnis gehüllt werden. Schiller verkannte, daß weder die Geschichte eines noch genuin christl. Zeitalters noch die der modernen Welt der Tragik fähig ist. Selbst ihre Idealisierung stößt an die Grenzen einer bloßen Kollision von Pflicht und Neigung wie bei Corneille, die nur durch den Rigorismus der Kantischen Ethik noch verschärft wird. Die Tragik alles geschichtlichen Handelns aber entzieht sich dort der Darstellung, wo der histor. Prozeß i n d i v i d u e l l e n S u b j e k t e n aufgebürdet wird zu einer Zeit, da der Reprä-

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sentationsgedanke der polit. Theologie nicht länger glaubwürdig ist. Die Programmatik des bürgerl. T.s rächt sich, so wenig ihm eine Verkörperung der polit. Wirklichkeit gelang, am Rückfall in eine geschichtliche Situation und ihre Kunstform, die ihre Wahrheit verloren haben. Die polit. Tragödie scheitert an der Motivierung des Zufälligen, an der Individualisierung des Allgemeinen, an der Rechtfertigung schuldvollen Handelns durch seine Ideologie. Und der Tod eines einzelnen kann in der Geschichte nicht die Bedeutung haben, die ihm der Mythos zu verleihen vermochte. Deshalb verwandelt sich die Gattung, in welcher die Tragödie von Handlungsträgern der Geschichte, die zu ihren Opfern werden, glaubhaft zu realisieren ist. Das Ereignis der Franz. Revolution findet in Deutschland erst in B ü c h n e r s Dantons Tod (1835) eine Gestaltung und nicht ohne vergleichbare eigene polit. Erfahrungen. Dem klassischen dt. Drama gelingt ganz anderes, die Entwicklung einer Verssprache, eines hohen tragischen Stils und eines dramatischen Kalküls. Der dramat. Kalkül selbst kann wiederum eine Gefährdung des Tragischen bedeuten durch seine Ubermotivierung. H ö l d e r l i n hat dies an Sophokles Antigone erkannt, daß die Seele „auf dem höchsten Bewußtsein dem Bewußtsein ausweicht, und ehe sie wirklich der gegenwärtige Gott e r g r e i f t , mit kühnem, oft blasphemischem Worte diesem begegnet" (Die Trauerspiele des Sophokles, 1804). Der tragische Held beweist eine Freiheit jenseits aller Zwecke, auf welche in der historischpolit. Welt nicht zu verzichten ist. § 17. Die Mängel der rational gewordenen Geschichte als Dramenvorwurf versuchte die S c h i c k s a l s t r a g ö d i e (s. d.) zu vermeiden, um dabei jedoch, in einer fast tragisch zu nennenden Weise, auf selbstzerstörerische Abwege zu geraten. Absurde Zwangsmotivationen von Träumen über wahrsagende Zigeunerinnen und Prophezeiungen bis zu fatalen Requisiten und gespensterhaftem Spuk verdarben, bei manchem poet. Zug im einzelnen, eine ganze Gattung. Zugleich handelt es sich um eine Uberkompensierung dessen, was der polit. Tragödie nicht gelungen war. Was sich rational nicht begründen ließ, sollte in einem Ubermaß von Unvernunft und Aberglauben seine dramat. Logik finden. Diese Stücke, von vergessenen

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Trauerspiel

und von berühmten Autoren, taten ihre Wirkung. In der künstlichen Welt der Bühne vermögen sie eine bezwingende Logik und Folgerichtigkeit zu gewinnen. Ihr am besten durchgeführtes Beispiel ist wohl Kleists Familie Schroffenstein (1803). Die Konsequenz der tragischen Konzeption, in der noch jedes Element und Requisit, das zur Rettung dienen soll, die Vernichtung beschleunigt, kontrastiert dem poet. Werk, das nur scheitern kann. Aufs Äußerste steigert sich hier das pathologische Element. Aber es verengt sich auf Zwangshandlungen, statt den Helden jener Freiheit auszusetzen, welche die Tragödie charakterisiert. Statt die Grenzen des bürgerl. T.s zu erweitern, schließt sich die Schicksalstragödie in ihren eigenen Kreis ein, den sie nicht zu durchbrechen vermag. § 18. Die Dialektik des Tragischen macht nicht vor der Geschichte der Gattung des Trauerspiels Halt. Eloessers Auffassung, daß das bürgerl. T. „einst ein Organ des Emanzipationskampfes" sich erst mit H e b b e l s Maria. Magdalene (1844) „gegen das Bürgertum selbst gekehrt habe" ist historisch zu naiv. So gesehen, hätte das schon für Emilia Galotti und Kabale und Liebe gelten müssen. Nicht der gesellschaftliche Stand des Bürgers wurde dort emanzipiert, sondern eine Wirklichkeit des Gefühls, die sich äußert in moralischen Regungen des Wohlwollens und der Schuld, in der verinnerlichten Selbstbeschuldigung und dem Verzeihen, schließlich in der Wollust einer moralisch vermeintlich gerechtfertigten Selbstzerstörung: Werten einer gegen das ö f fentliche sich erst bildenden privaten Sphäre. Für den Historiker besteht kein Anlaß, inzwischen geschichtlich gewordenen Zuständen gegenüber ein gutes Gewissen zu zeigen und es für einen Fortschritt zu halten, wenn literarisch beklagte Vorgänge entweder nicht mehr möglich oder nicht mehr literaturfähig sind. Das Bürgertum des 19. Jh.s war über den Konflikt der Maria Magdalene noch lange nicht hinaus und erkannte sich in ihm wieder. Das ändert nichts daran, daß der Konflikt dieses bedeutenden und eindringlichen „Trauerspiels" nicht tragisch ist, sondern jämmerlich. Der „Irrwahn", welchen Karl Kraus ihm vorwirft, „daß die Ehre der Welt vermindert wird, wenn sie ihre Freude vermehrt" (Die

Büchse der Pandora,

1905, in: Dt. Lit. Kritik

im 20. Jh. Hg. v. Hans Mayer, 1965, S. 137),

ist nicht allein ein literarischer. Nur hat sich der Gegner geändert, den zu projizieren möglich und literarisch glaubwürdig war. In der griech. Tragödie empörte der Mensch sich gegen seine Götter, um dabei zu erkennen, daß er besser ist als sie. Im bürgerl. T. des 18. Jh.s empörte der Bürger sich — wenn auch nur zeitweise und in Deutschland ausgeprägter, während es in anderen Ländern in anderen Gattungen geschah — gegen den Adel als Amtsträger, um dabei das Gefühl zu emanzipieren, daß er besser sei als jener. Den Wandel des modernen Dramas als inhaltlich zu deuten, als sei es ihm um die Entdeckung und Emanzipation neuer und bisher unterdrückter Bereiche der Gesellschaft und seiner selbst zu tun, ist ein Fehlschluß. Das „ s o z i a l e " Drama bringt den ausgebeuteten Proletarier auf die Bühne, das b ü r g e r l . P r o b l e m s t ü c k die unverstandene Frau, die unterdrückte Sinnlichkeit, Opfer, Resignation und Selbstbetrug einer Welt zivilisatorischer „Errungenschaften" auf Kosten des „Lebens", die Entlarvung der zuvor idealisierten Werte bürgerlicher Sittlichkeit, das Aufzeigen einer Hölle in Ehe und Familie, die zerstörerische Sexualität des Weibes und schließlich des Kindes in der bürgerl. Welt. All das sind keine Entdeckungen der Dramatiker, und die Theater haben am wenigsten dazu beigetragen, die gesellschaftl. Wirklichkeit zu verwandeln. Das Drama ist auch nicht dadurch in die Krise geraten, daß es seine Fiktion, den freien zwischenmenschlichen Bezug, selbst thematisiert und auflöst und in seinen Personen das wollende und handelnde Individuum als bloßen Träger kollektiver Prozesse denunziert. Das haben die anderen Gattungen der Lit. auch getan, und das Schauspiel ist dabei vergleichsweise am meisten der Tradition verhaftet geblieben. Nicht die Inhalte haben das Drama verwandelt, und wo es so erscheint, ist es der Mangel der Instrumente der Interpretation. Die M i t t e l der D a r s t e l l u n g haben sich verändert und auch die G a t t u n g s grenzen bestimmen sich jeweils neu. Die Autoren behaupten meist gar nicht mehr, das Tragische verwirklicht zu haben, und sie nennen ihre Stücke auch nicht mehr Trauerspiel. Dabei könnten, so oft auch das Tragische nicht erfüllt würde, viele Dramen der Moderne „Trauerspiel" heißen, Spiel vor Traurigen, Selbstdarstellung des unglücklichen Bewußtseins, das in sich den Gegensatz sucht, um

Trauerspiel ihn nach außen zu projizieren, oder umgekehrt ein äußeres, objektiv anderes verinnerlicht. Dabei ist das m o d e r n e D r a m a ebenso der Rührseligkeit, der inneren Verlogenheit und der Verkennung der sozialen Wirklichkeit ausgesetzt wie seine Vorgänger, und nirgends mehr als dort, w o es sich mit seinem Publikum über die gemeinsamen Werte einig ist und w o ein Ausgleich des unausgleichbaren Gegensatzes möglich w i r d , sei es durch Idealisierung des Realen, durch Rechtfertigung der Geschichte oder V o r w e g n a h m e einer harmonischen Zukunft, sei es durch einfache Negation und Verweigerung dessen. Das T. ist eine Form des Dramas, die wesentlich der Vergangenheit angehört. Es dokumentiert aber gerade durch die M ö g l i c h k e i t , es v o n d e r T r a g ö d i e a b z u h e b e n , Eigenschaften, die unter veränderten U m s t ä n den auch an Dramen dieses Jh.s wahrgenommen werden können. Scheitert es an der Gestaltung einer dialektischen Einsicht, die sich nicht nur innerhalb der Fiktion des Handlungsablaufs zu bewähren hat, sondern auch vor den gesellschaftl. Zuständen, auf die es sich bezieht, so versagt es trotz möglicher Erfolge. Die künstlerische Verantwortung eines Werkes gegenüber seiner Zeit ist von Deutungsmustern der geschichtlichen Wirklichkeit bedroht, welche nicht die Spannung streitender Wertordnungen auszuhalten vermöchten. Die Schemenhaftigkeit, allegorische Zerstückelung und heilsgeschichtliche Entwirklichung der Welt das eine Mal, die Verinnerlichung des öffentlichen Handlungsraums und Sentimentalisierung privater Tugend zum anderen, die Mechanik der Intrige, die Verrechnung von Schuld und Sühne, die vorgängige Deutung der Welt sind bei veränderten Kunstmitteln wiederkehrende Erscheinungen. Sie verwehren es dem T . , Tragödie zu werden oder Komödie oder sich zum Drama zu objektivieren. M a n tut dem T. nicht U n recht, wenn man es bis zu einem gewissen Grade als Manifestation eines künstlerischen Mangels ansieht, der es z . T . gerade deshalb für die histor. Erkenntnis zu einem Gegenstand hohen Ranges erhebt. Denn nicht das, w a s ein A u t o r wollte oder zu tun vermeinte, und auch nicht das, was ein Publikum begeisterte, ist der Gegenstand der Lit.gesch., sondern der Wahrheitsgehalt eines Werkes, das an ihm noch Unvergangene. Das T. kann auch mit seinen eigenen Mitteln aufgehoben

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werden. Ist , S c h a u s p i e l ' traditionell der noch nicht spezifizierte allgem. Begriff szenischer Darstellung, der innerhalb einer Trilogie wie dem Wallenstein (1800), w o „das letzte die eigentliche Tragödie, . . . die Piccolomini . . . nur ein Schauspiel, der Prolog ein Lustspiel heißen" kann (Schiller an Körner 30. 9. 1798), das mittlere Stück bezeichnen mag, in welchem die Katastrophe noch fern ist, so kann Kleist den Begriff in ganz eigenem Sinne verwenden. Er nennt Prinz Friedrich von Homburg (entstanden 1809/11) „ein Schauspiel", weil in diesem Stück die drohende Katastrophe gebannt w i r d . Die Gefahr für das Land durch eine rettende Tat, die gegen den Befehl verstößt, die Gefahr für den Kurfürsten durch den Tausch der Pferde, die Gefahr für H o m burg schließlich, welcher den totgeglaubten Kurfürsten für Natalie zumindest ersetzen will, dadurch daß er das Gesetz in sich aufnimmt, sich selbst verurteilt und damit der Gnade würdig w i r d . Der Begriff der ,Versöhnung', der dabei gebraucht wird, ist nicht zuletzt an seiner Volksetymologie orientiert, denn es wird weniger eine Schuld gesühnt oder ein Gegensatz ausgeglichen, als daß das väterliche Gesetz nach dem Verstoß verinnerlicht w i r d . Weit über alle histor. Wirklichkeit hinaus wird ein Ideal polit. Harmonie beschworen und die Möglichkeit einer Katharsis ohne Katastrophe. Reinhart Meyer, Das dt. Trauerspiel d. 18. Jh.s. E. Bibliographie (1977). — Eduard Devrient, Gesch. d. Schauspielkunst. 4 Bde (1848-1861). In 2 Bdn neu hg. v. Rolf Kabel u. Christoph Trilse (1967). Hermann Hettner, Das moderne Drama (1852). Hg. v. Paul Alfred Merbach (1924; DLD. 151); auch in: Hettner, Schriften z. Lit. Hg. v. Jürgen Jahn (1959) S. 169-265. Wilhelm Creizenach, Gesch. d. neueren Dramas. 5 Bde (1893-1916; Bde 1-3: 2. Aufl. 1911-1923). Alfred Eloesser, Das bürgerliche Drama. Seine Gesch. im 18. u. 19. Jh. (1898). Georg Lukäcs, Zur Soziologie d. modernen Dramas (1914), wiederh. in: Lukäcs, Schriften zur Literatursoziologie. Ausgew. u. eingel. v. Peter Ludz (1961; Soziolog. Texte 9). Bernhard Groethuysen, Die Entstehung d. bürgerl. Welt- u. Lebensanschauung in Frankreich. 2 Bde (1927-1930; Philos. u. Geisteswiss. Buchr. 4/5). Walter Benjamin, Ursprung d. dt. Trauerspiels (1928; rev. Ausg. bes. von R. Tiedemann 1963), wiederh. in: Benjamin, Schriften. Bd. 1 (1955) S. 141-356. Erich Auerbach, Dargestellte Wirklichkeitin d. abendländischen Lit. (1946; 3. Aufl. 1964; Samml. Dalp 90). Friedrich Sengle, Das dt.

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Trauerspiel — Trivialliteratur

Geschichtsdrama (1952); 2. Aufl. u. d. T . : Das historische Drama in Deutschland. Gesch. e. literar. Mythos (1969). Arnold H a u s e r , Sozialgeschichte d. Kunst u. Lit. 2 Bde (1953; 2. Aufl. 1958). Heinz K i n d e r m a n n , Theatergesch. Europas. Bd. 1 .ff. (1957ff.). Reinhart K o s e l l e c k , Kritik u. Krise. E. Beitr. z. Pathographie d. bürgerl. Welt (1959; 2. Aufl. 1969; neue Ausg. 1973; SuhrkTbWiss. 36). Peter S z o n d i , Versuch üherd. Tragische (1961), wiederh. in: Szondi, Schriften. Bd. 1 (1978). Kurt v. F r i t z , Antike u. moderne Tragödie (1962). Richard D a u n ich t , Die Entstehung d. bürgerl. Trauerspiels in Deutschland (1963; 2. Aufl. 1965; Q F . 132). Albrecht S c h ö n e , Emblematik ». Drama im Zeitalter d. Barock (1964; 2., Überarb. u. erg. Aufl. 1968). Walter H i n c k , Das dt. Lustspiel d. 17. u. 18. Jh.s u. d. ital. Komödie (1965; Germanist. Abh. 8). Wolf H. F r i e d r i c h , Vorbild u. Neugestaltung. Sechs Kapitel z. Gesch. d. Tragödie (1967; Kl. Vandenhoeck-R. 249). Hans-Joachim S c h i n g s , Consolatio Tragoediae. Zur Theorie d. barocken Trauerspiels, in: Dt. Dramentheorien. Beiträge zu e. histor. Poetik d. Dramas in Deutschland. Hg. v. Reinhold Grimm (1971 ; 2., unveränd. Nachdr. 1978) S. 1-44. Karl S. G u t h k e , Das dt. bürgerl. Trauerspiel (1972; 3., durchges. u. erw. Aufl. 1980; Samml. Metzler 116). Peter S z o n d i , Die Theorie d. bürgerl. Trauerspiels im 18. Jh. Hg. v. Gert Mattenklott, in: Szondi, Studienausgabe d. Vorlesungen. Bd. 1 (1973; SuhrkTbWiss. 15.) Knud W i l l e n b e r g , Tat u. Reflexion. Zur Konstitution d. bürgerl. Helden d. 18. Jh.s (1975; Stuttgarter Arb. z. Germ. 3). Elida M. S z a r o t a , Gesch., Politik u. Gesellschaft im Drama d. 17. Jh.s (1976). Brigitte K a h l - P a n t i s , Bauformen d. bürgerl. Trauerspiels (1977; EuroHS. I, 201). L o t h a r P i k u l i k , Bürgerl. Trauerspielu. Empfindsamkeit (1977; Lit. u. Leben. NF. 9). Horst G ü n t h e r , Freiheit, Herrschaft u. Gesch. (1979). Otto R e g e n b o g e n , Schmerz u. Tod in d. Tragödien Senecas, in: Regenbogen, Kleine Schriften. Hg. v. Franz Dirlmeier (1961); auch Sonderdr. 1963 (Libelli 102). — Gerhard K a i s e r (Hg.), Die Dramen d. Andreas Gryphius. E. Sammlung v. Einzelinterpretationen (1968). Harald S t e i n h a g e n , Wirklichkeit ». Handeln im barocken Drama. Histor.-ästhet. Studien zum Trauerspiel d. Andreas Gryphius (1977; Studien z. dt. Lit. 51), dort auch die wichtigste Lit. zum dt. barocken Trauerspiel. Lucien G o l d m a n n , Der verborgene Gott. Studien über d. tragische Weltanschauung in den 'Pensées' Pascals u. im Theater Racines (1973; Soziolog. Texte 87), zuerst franz. u. d. T . : Le Dieu caché (Paris 1955). Max K o m m e r e l l , Lessing ». Aristoteles (1940).

Horst

Günther

Trivialliteratur § 1. Das W o r t T . ist im D W b . erstmals für 1855 nachgewiesen. In der Lit.geschichtsschreibung, die zunächst am Stoff orientierte Einzelbezeichnungen wie R i t t e r - , R ä u b e r - und Schauerromane vorzog (vgl. J o h . W i l h . Appell,

Die Ritter-, Räuber- u. Schauerromantik. Gesch. d. dt. Unterhaltungslit., Müller-Fraureuth, Die Ritter-

Zur

1859, und Carl u. Räuberro-

mane. E. Beitr. z. Bildungsgesch. d. dt. Volkes,

1894), ist T . gebräuchlich, seit Marianne T h a l m a n n 1923 die Zusammensetzung 'Trivialr o m a n ' als Fachterminus benutzte ( D e r Tri-

vialroman d. 18. Jh.s u. d. romant. Roman. E. Beitr. z. Entwicklungsgesch. d. Geheimbundmystik,

1923).

In der B e z e i c h n u n g T . schwingen nur schwer entschlüsselbare, kulturell eingeschliffene Vorurteilsstrukturen mit, die einem analyt. G e b r a u c h des Begriffes im W e g e stehen. So ist immer wieder versucht w o r d e n , das W o r t durch ein anderes zu ersetzen und somit Assoziationen wie „ p l a t t " , „ b a n a l " , „ g e s c h m a c k l o s " zu verhindern. Walter N u t z schlug 1962 „ K o n f o r m l i t e r a t u r " vor und verstand darunter jene L i t . , die „sich ganz dem W u n s c h d e n k e n " der Leser „ a n s c h m i e g t " und „die in Aufmachung, Inhalt, Stil und D i k t i o n die ihm adäquate F o r m resolut berücksichtigt

und einhält" (Der Trivialroman, seine Formen u. seine Hersteller. E. Beitr. z. Literatursoziolo-

gie, 1962, S. 18). A n d e r e Gegenvorschläge waren: Massen-, Infra-, Subliteratur, populäre Lesestoffe, Populärlit. und Gebrauchsliteratur. Leif Ludwig Albertsen hat die Palette der G e genvorschlägejüngst durch „ E p h e m e r l i t e r a t u r " erweitert, w o r u n t e r er jene L i t . versteht, „deren L e b e n über den Verschleiß der ersten Auflage nicht hinausreicht". E r will damit ästhetische Wertungen durch sozialhistorische ersetzen: „ w a s wiedergebraucht wurde, ist interessanter, als was ephemer blieb. [. . .] D e r einzelne T e x t ist ausgespannt zwischen den Polen der Ephemerlit. und der Wiedergebrauchslit., letztere (nach Lausberg) verstanden als das Textmaterial kultischer und juristischer, später auch historischer und künstlerischer Provenienz, das eine spezifische K u l t u r konstituierte, auswendig gelernt und früh niedergeschrieben w u r d e " ( D i e Eintagslit. in d. Goethe-

zeit, 1975, S. 59).

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Trivialliteratur § 2. B e g r i f f s g e s c h i c h t e . Durch derart radikale Begriffsveränderungen könnten zahlreiche Definitionsschwierigkeiten eliminiert werden. Es fragt sich jedoch, ob der „Kreistanz um den Begriff" (Joachim Bark, Der Kreistanz ums Triviale, in: A. Rucktäschel u. H . D . Zimmermann, Trivialliteratur, 1976, S. 10) wissenschaftlich überhaupt notwendig bzw. sinnvoll ist und ob das Akzeptieren des Terminus nicht gerade einer historisch-hermeneut. Wiss. auch Chancen bieten kann. Diese ist immer schon in Wertungen (s. Wertung) verstrickt, die durch krit. Bewußtsein, das „aus der Reflexion der Entstehungsgeschichte des Bewußtseins erst hervorgeht" (J. Habermas, Erkenntnis u. Interesse, 1968, S. 27), erhellt werden müssen. Die Reflexion auf die Begriffsgeschichte von T . hat in der Tat dazu beigetragen, Vorurteilsstrukturen, die nicht nur die Beschäftigung mit mindergewerteter, sondern mit jeder Art von Lit. geprägt haben, freizulegen. Die Begriffsgeschichte setzt, lange vor der sprachlichen Verkörperung des Begriffs durch T . , in der 2. H . des 18. Jh.s ein. Damals bereits hat sich ein „Zweischichtenschema der literar. Wertung" (Kreuzer) ausgebildet, das alle jene begrifflichen Bestimmungen von „ U n k u n s t " enthielt, wie sie bis in die späten 60er Jahre unseres Jh.s für T . allgemein akzeptiert wurden. Dazu zählten Wertungsgegensätze wie Architektonik und Kumulation, Reflexion und sinnlicher Reiz, ästhetische Distanz und Distanzlosigkeit, Originalität und Klischee, Kriterien, die in der Regel als deskriptive mißverstanden wurden. Das im Begriff Gemeinte ist vor seiner schließlichen Verkörperung durch T . durch wechselnde Ausdrücke sprachlich umschrieben worden (Unkunst, Schund, Nichtkunst, Dilettantismus u. a.). V o m Ausgang des 19. Jh.s an setzen sich dann zwei sprachliche Verkörperungen durch: T . und „Kitsch". Unter begriffsgeschichtlichem Aspekt waren diese beiden Termini lange Zeit austauschbar, obwohl Kitsch umgangssprachlich Sentimentalität assoziiert und immer schon gesehen wurde, daß es nicht nur sentimentale T . gibt. § 3. H i s t o r i s i e r e n d e B e g r i f f s d e f i n i t i o n e n . Die relativ feste Verknüpfung von Wort und Begriff der T . im oben angezeigten Sinne löste sich seit den späten 60er Jahren zunehmend auf. 1967 erschien der richtungweisende und die T.-Forschung nachhaltig beeinflussen-

de Essay von Helmut Kreuzer T. als

problem.

Forschungs-

Zur Kritik d. dt. Trivialromans

seit

der Aufklärung (wiederabgedruckt in: Kreuzer, Veränderungen d. Lit.begriffs, 1975, S. 7-26), der sich vehement gegen „die Annahme einer objektiven Dichotomie - ja Antinomie von Kunst und Unkunst, Kunst und Kitsch, Dichtung und Trivialliteratur" wandte (S. 10). Kreuzer wies - in einer Kritik zweier Arbeiten von Walter Killy und Dorothee Bayer - darauf hin, daß die üblichen Trivialitätskriterien Kriterien „der formen- und stilgeschichtlichen Zugehörigkeit" sind und daß allenfalls „die Art und das Niveau ihrer Verwendung" etwas über „das Maß ihrer Trivialität" aussagen kann (S. Aus diesen und ähnlichen Überlegungen heraus funktionierte Kreuzer den T.-Begriff „aus einem unmittelbar ästhetischen zu einem unmittelbar historischen" um. Er definierte T . „als Bezeichnung des Lit.komplexes, den die dominierenden Geschmacksträger einer Zeitgenossenschaft ästhetisch diskrimieren" (S. 17). T.-Forschung wird unter dieser Perspektive zumindest teilweise zu einer Disziplin, die es nicht mehr mit einem ahistorisch-systematisch definierbaren Textkorpus, sondern mit der Begriffsgeschichte subjektiver Rezeptionsphänomene, bzw. mit empirischer Wirkungsforschung und Geschmacksgeschichte zu tun hat. Nach Kreuzer sollte es „nicht mehr die T . als Gegenstand der Stilistik oder systematischen Ästhetik geben, sondern Trivialliteraturen als historisch vorfindbare Epochenphänomene" (S. 17). Gegen spätere Adaptionen seines Ansatzes, „den Gegenstand der T.-Forschung als die in bestimmten histor. Situationen mindergewerteten Lit.mengen festzulegen" (G. Fetzer u. J . Schönert, Zur T.forschung 1964-1976, in: Intern. Arch. f. Sozialgesch. d. dt. Lit. 2, 1977, S. 7f.), ist daran zu erinnern, daß Kreuzers Angriff systematisch-ästhetische Wertentscheidungen, wie sie in der traditionellen T.-Forschung als essentialistisch-ahistorische Urteile üblich waren, im Auge hatte. Davon zu trennen ist der kommunikative Gehalt der Lit.: „Eine historische Untersuchung dieser T.en setzt daher voraus, daß nicht die abgelösten Werke als objektivierte ästhetische Wertträger untersucht werden, sondern die Lit. als Information, als Botschaft aufgefaßt wird" (S. 23). Im Nachwort zum Wiederabdruck heißt es noch entschiedener: „Die Vorzüge und Mängel eines

564

Trivialliteratur

bestimmten W e r k e s für ein bestimmtes Publikum in einer bestimmten geschichtlichen Situation aufzuweisen, ist f ö r d e r l i c h " (S. 25). Es hat lange Zeit an historisch-konkreten Analysen einzelner W e r k e der T . gefehlt. Erst in den 70er Jahren sind mehrere Einzelanalysen vorgelegt worden, so von H . - J . Neuschäfer (1971 u. 1976), J . Schulte-Sasse und R . W e r n e r (1977), J . L i n k (1979), K . K o c k s und K . Lange ( 1 9 7 9 ) [vgl. § 7], die nicht nur, wie bis dahin üblich, wenige inhaltliche M o m e n t e der T . isolierten, sondern deren „ B o t s c h a f t " in den Verhaltensweisen literar. Figuren, in Konfigurationen und Handlungsstrukturen verankerten und die den Kommunikationsbeitrag literar. W e r k e in bezug auf ihren Zeitkontext diskutierten. D a b e i stellte sich heraus, daß Verzerrungen der K o m m u n i k a t i o n und Verkürzungen in der Weltabbildungsfunktion literar. Modelle, bezogen auf die jeweilige Lebenswelt, für die sie als A n t w o r t e n entworfen wurden, durchaus rational analysiert und diskutiert werden k ö n n e n . W e n n die kommunikative F u n k t i o n des E i n z e l w e r k s ideologiekritisch erhellt und bewertet werden kann, dann hat T . auch als (heuristische) Bezeichnung eines größeren T e x t k o r p u s eine Berechtigung. H i s t o r . F o r schung zeigt, daß W e r k e desselben A u t o r s und derselben Zeit - unter dem A s p e k t ihrer kommunikativen F u n k t i o n - zusammengefaßt werden k ö n n e n , ja müssen. T . gewinnt so eine Bezeichnungsfunktion für ein historisch-konkret eingrenzbares T e x t k o r p u s ; die Definition des Begriffes ist damit histor. (und, in bezug auf verschiedene soziale G r u p p e n : soziologischem) Wandel unterworfen und richtet sich weder an einer ahistorischen n o c h an einer rein stilistischästhetischen Diskriminierung, sondern an der (den obsoleten Gegensatz von Inhalt und F p r m in sich aufhebenden [vgl. § 12]) k o m m u n i k a tiven Qualität von W e r k e n und Werkgruppen aus. D i e sich hier anschließenden Wertungsprobleme sind solche der historisch-hermeneut. Wissenschaften insgesamt, nicht nur der T . - F o r s c h u n g (vgl. dazu § 13). T . - D e f i n i t i o n e n k ö n n e n - das wird heute allgemein akzeptiert - keine ahistorische und systematische Gültigkeit beanspruchen. D e r U m f a n g eines T e x t k o r p u s ' , dessen Merkmale eine s p e z i f i s c h e T . - D e f i n i t i o n rechtfertigen (ob es das G e s a m t w e r k eines A u t o r s , eines Genres, einer E p o c h e , eines J h . s sein darf), läßt sich a priori nicht bestimmen. M a x H o r k h e i m e r

und T h e o d o r W . A d o r n o sind in ihrer Analyse der Kulturindustrie von einer H o m o g e n i t ä t zumindest der spätkapitalist. Massenkultur ausgegangen. Innerhalb dieser soll der T . die F u n k tion z u k o m m e n , die Massen ideologisch ins System einzubinden und zu 'befrieden'. „ U n weigerlich reproduziert jede einzelne Manifestation der Kulturindustrie die Menschen als das, w o z u die ganze sie gemacht h a t " ( D i a l e k t i k der Aufklärung, 1947, S. 152). A u f der G r u n d lage ihrer pessimistischen Einschätzung des Spätkapitalismus (sie sehen keine sozialen K r ä f te, die den Teufelskreis totaler Vergesellschaftung aufbrechen k ö n n t e n , und schätzen die krit. Negationen von Gesellschaft in „ e c h t e r " K u n s t als Rückzugsgefechte ein) sind in den 70er J a h ren zahlreiche T . - A n a l y s e n erschienen, die die gegenwärtige T . als h o m o g e n betrachteten und sich auf den A s p e k t der Systemstabilisierung durch T . konzentrierten. T . versöhnt in dieser Perspektive „positiv mit den für den einzelnen unausweichlichen N o r m e n , Forderungen und Zwängen der Gesellschaft, indem sie in allem Aufbau von Kontrastwelten doch seine tatsächliche Lebenswelt wiederholt und affirmiert, nämlich seine Leistungen als wichtig, seine Versagungen als notwendig, seine V e r haltensnormen als richtig bestätigt, indem sie also den einzelnen in seine soziale B e z u g s gruppe ein- und an ihre N o r m e n anpaßt und ihm in dieser sozial-integrativen F u n k t i o n diejenige Sinnorientierung und Sicherheit gibt, deren vor allem der Unterprivilegierte nach A r t seiner Arbeitsleistung und seines sozialen Status b e d a r f " ( G ü n t e r W a l d m a n n , Theorie u.

Didaktik d. T. kussion-Literar.

Modellanalysen-DidaktikdisWertung, 1973, S. 13; vgl.

auch Christa Bürger, Textanalyse

giekritik. Zur Rezeption zeitgenöss. tungslit.

als

Ideolo-

Unterhal-

1973).

W i e umfassend die jeweilige Definition auch angesetzt wird, sie muß sich auf ein eingrenzbares T e x t k o r p u s beziehen und sich durch historisch-konkrete Analysen des Sinns dieses T e x t k o r p u s , sowie seiner sozialpsychologischen F u n k t i o n auszeichnen. D i e dabei anzustrebende Intersubjektivität zielt nicht auf aufgehobene Vorurteilsstrukturen, sondern auf größtmögliche Reflexivität und N a c h v o l l z i e h barkeit des ,letzten Restes' an Wertentscheidungen (vgl. dazu § 13). Vgl. zu den hier skizzierten Problemen die Gesamtdarstellung von Günther Fetzer, Wer-

Trivialliteratur tungsprobleme in der T.forschung, 1980, mit umfassender Bibliographie, S. 156-185.

§ 4. F o r s c h u n g s l a g e . Vereinzelt hat es immer schon Arbeiten über T. gegeben (z.B. die in § 1 genannten Bücher von Appell, Müller-Fraureuth und Thalmann). Von einer nennenswerten T.-Forschung kann jedoch erst seit Beginn der 60er Jahre die Rede sein, mit 1963/64 und 1973 als besonderen Einschnittmarken. 1963/64 erschienen u.a. die Bücher von D. Bayer, W. Langenbucher und M. Beaujean sowie der Sammelband Trivialliteratur des Literarischen Colloquiums Berlin; 1973 u. a. die Arbeiten von Chr. Bürger, G. Waldmann und G. Ueding. Die Anfang der 60 er Jahre ansteigende Beschäftigung mit T. hatte die offensichtliche Funktion, sich der unsicher gewordenen Wertmaßstäbe und damit eines Begriffs von „hoher Dichtung" zu versichern: „ohne den trivialen Weg aus dem Muffigen und Dumpfen ins Leere gäbe es nicht den anderen Weg aus dem Dunkel zur Klarheit. Wegen dieser Korrespondenz ist auch der Blick auf die Schatten lehrreich und notwendig" (Martin Greiner, Die Entstehung d. modernen Unterhaltungsliteratur. Studien z. Trivialroman d. 18. Jh.s, 1964, S. 81). Die Publikationen dieser Jahre waren ,essentialistisch' ausgerichtet, d.h. sie wollten eine für alle Zeiten gültige T.-Definition finden. Obwohl die meisten dieser Versuche an der Oberfläche stilistisch-ästhetisch argumentierten (oder T. aus der Lit.wiss. ausgliederten und als Zeitdokument der Soziologie zuschlugen), waren sie in der Regel von ontologisch-anthropologischen Vorentscheidungen über das Wesen des Menschen und die Rangstufen des Menschseins geprägt. T. ist in dieser Sicht Anpassung an die Bequemlichkeit des Lesers, der sein Menschsein verfehlt. Die historisch-gesellschaftl. Bedingtheit von Normen und Urteilen geriet hier nicht in den Blick; ,Humanität' und .Wert' wurden aus persönlichen Entscheidungen abgeleitet. Die ideologiekrit. Aufarbeitung dieser Forschungsrichtung ist abgeschlossen (vgl. die Arbeiten von Mecklenburg, 1972, Waldmann, 1973, Chr. Bürger, 1973, Ueding, 1973 und SchulteSasse, 1976). Seit 1967/68 wandte sich die Forschung der sozialhistor. und begriffsgeschichtl. Aufarbeitung jener Denkformen zu, die als unreflektierte Werturteilsstrukturen bis dahin die Ana-

565

lyse der T. bestimmt hatten (vgl. neben der in § 1 genannten Arbeit von Kreuzer: Jochen Schulte-Sasse, Die Kritik an d. T. seit d. Aufklärung, 1971). Die anfängliche Konzentration auf das Problem der Historizität und Relativität von Werturteilskategorien war forschungsgeschichtlich nötig, um die bildungsbürgerlich-elitären, sozialgeschichtlich erklärbaren Voraussetzungen von T.-Urteilen durchsichtig werden zu lassen. Die jüngst zu beobachtende Tendenz, nur noch von der Relativität der Kategorien zu handeln, würde die zentrale Aufgabe historisch-hermeneut. Wissenschaften aufgeben, intersubjektive Verständigung über Sinn- und Wertorientierungen zu fördern (vgl. §13). Seit 1973 überwiegen ideologiekrit. Arbeiten, die bemüht sind, T. als Mittel der Steuerung von Bewußtsein zu analysieren. Daß T. mit Herrschaft und Gesellschaftspolitik zu tun hat und u.a. Verkrümmungen menschlicher Existenz in arbeitsteiligen Gesellschaften kompensiert, fiel auch jenen Interpreten auf, die mit ganz anderen Prämissen und Erkenntnisinteressen an ihr Untersuchungsobjekt herangetreten waren. Bereits im Resümee des Arbeitskreises um W. H ö l l e r e r waren Einsichten enthalten, die die Interpreten von persönlichen Anlastungen und Vorwürfen abrücken ließen: „Jedes Insistieren [. . .] auf persönlicher und nirgendwo geliehener Kraft unklischierten Denkens, jedes Insistieren solcher Art zum Zwecke der Bewertung, der Unterscheidung von T. zu hoher Literatur, beruht auf Täuschung. Die Auseinandersetzung mit T. gewinnt damit im weitesten Sinne einen gesellschaftlichen-polit. Aspekt insofern, als die Grundlagen der Meinungsbildung und der Übernahme von Leitbildern berührt werden" (W. Höllerer, Uber Ergebnisse d. Arbeitskreise Untersuchungen zur 7V an der TU Berlin, in: Studien zur T., hg. von H. O. Burger, 1968, S. 56). In der Arbeitskreispublikation selbst Trivialliteratur. Aufsätze. (Hg. v. G. Schmidt-Henkel u.a., 1964) war das Heldenbild der T. bereits als Ausdruck der „Spezifikation und Subordination der arbeitsteiligen Gesellschaft" (S. 22) analysiert worden.

Hier kündigten sich Einsichten an, deren Verfolg die T.Forschung zur Provokation im Gesamtbereich der Lit.wiss. haben werden lassen. Sie kann noch weniger als andere Teilbereiche der Lit.wiss. auf Interdisziplinarität verzichten (sie ist u.a. auf Zusammenarbeit mit Geschichtswissenschaft, Soziologie und Psychologie angewiesen), und ihr Gegenstand ist ohne Gesellschaftstheorie nicht angemessen zu deuten. T.-Forschung ist nicht zuletzt aus

566

Trivialliteratur

diesem G r u n d e durch einen relativ unausgebildeten Stand charakterisiert und hat sich zudem mit den Vorurteilen, ja Diffamierungen von Fachkollegen auseinanderzusetzen. D e r S t a t u s von T . - F o r s c h u n g innerhalb der L i t . wiss. ist u . a . wissenssoziologisch zu erklären; T . - F o r s c h e r n , deren individuelle Motivation, sich mit Lit. zu beschäftigen, weitab von der Fragestellung liegt: „ W a s spielt sich in der G e sellschaft im Bereich nicht selegierter literar. K o m m u n i k a t i o n an Einstellungsvermittlung, K o m p e n s a t i o n , Bedürfnisbefriedigung, n o r mativer R e p r o d u k t i o n usw. a b ? " , geht es eher um Legitimation eigener kultureller Interessen (und damit auch um soziale A b g r e n z u n g ) als u m das Verständnis massenmedialer Prozesse. Norbert M e c k l e n b u r g , Krit. Interpretieren. Untersuchungen zur Theorie d. Lit.kritik (1972; Slg. Dialog 63). Gert U e d i n g , Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch u. Kolportage (1973; EdSuhrk. 622). Zu den übrigen abgekürzt zitierten Titeln vgl. die §§ 7 - 9 u. 13. § 5. D i c h o t o m i e . T . - F o r s c h u n g hat es einerseits mit der Geltungsgeschichte normativer D e n k f o r m e n ( d . h . mit deren sozial-, rezeptions- und begriffsgeschichtl. Erhellung), andererseits mit (vom heutigen sozialgeschichtl. und m e t h o d o l o g . Reflexionsniveau aus) zu analysierenden Textgruppen zu tun. D i e B e rechtigung b e i d e r Ansätze wird häufig angezweifelt; es wird über die falsche Alternative gestritten, o b die Zweiteilung von T . und , h o h e r ' Lit. a u s s c h l i e ß l i c h ein historischrelatives D e n k m o d e l l ist oder einer objektiven D i c h o t o m i e von K u n s t und Massenkultur entspricht. D i e Leugnung j e d e r objektiven D i c h o tomie, gleich zu welcher Zeit, ist paradoxerweise von der Kategorie der Zeitlosigkeit befangen, gegen die sie sich angeblich wendet: „ E i n e Grenzlinie zwischen K u n s t und U n k u n s t läßt sich generell nicht ziehen. D i e D i c h o tomie ist nicht der M e t h o d e vorauszusetzen, sondern methodisch a u f z u h e b e n " ( G . SchmidtH e n k e l , Die T. im Kanon der Lit.wiss., in: Sprache im techn. Zeitalter. H . 4 4 , 1972, S. 2 6 0 ) . D ü r f t e die D i c h o t o m i e nicht einmal mehr als heuristisch zu handhabendes, literar. Wirklichkeit erschließendes M o d e l l auf einzelne E p o c h e n angewendet werden, dann läge es in der T a t nahe, den Gegenstand der T . F o r s c h u n g radikal auf „ T . - E n t s c h e i d u n g e n verschiedener histor. Situationen" (Schönert/ F e t z e r [vgl. § 1], S. 12) einzuschränken. Das

führte forschungspraktisch dazu, zwar W e r t entscheidungen der E p o c h e n selbst, nicht aber Gehalte von T . (einem Urteil, das von einem h e u t i g e n Standpunkt aus historisch-konkret zu legitimieren wäre) wissenschaftlich zu erhellen. D i e auf H o r k h e i m e r s und A d o r n o s Kritik der Kulturindustrie basierenden Gegenpositionen halten zwar an der Einsicht fest, daß sich die Zweiteilung von Kunst und Massenkultur nicht mit ä s t h e t i s c h e n Kategorien begründen lasse, daß aber die „Spaltung selbst [. . .] die W a h r h e i t " sei ( H o r k h e i m e r / A d o r n o , S. 161): „ D i e [. . .] D i c h o t o m i e von ernster und leichter Kunst drückt die Wahrheit, die Negativität der herrschenden Gesellschaft aus. [. . .] A u f zuheben ist jener Widerspruch nicht durch Angleichung der Kulturen, sondern durch eine Realität, in der die bürgerliche Gesellschaft die Verheißungen, mit denen sie in die G e schichte eingetreten ist, e i n l ö s t e . " (Christa Bürger, Textanalyse als Ideologiekritik, 1973, S. 12). G . F e t z e r hat gegen Bürgers A n n a h m e , die literar. D i c h o t o m i e sei A b b i l d der sozialen, ins Feld geführt, das k ö n n e nur bedeuten, der literarischen entspreche die soziologische D i c h o t o m i e von herrschender und beherrschter Klasse, eine solche H o m o l o g i e werde aber nicht durch empirische D a t e n abgestützt (Wertungsprobleme in der T.forschung, 1980, S. 38). D e r Einwand mag für Bürgers Arbeit noch richtig sein, gilt aber inzwischen nur noch bedingt (vgl. § 6). , D i c h o t o m i e ' läßt sich, hier m u ß an Bürger festgehalten werden, nicht nur als historisch relatives Werturteilsmuster thematisieren. Schon K r e u z e r hatte „die Entgegensetzung von ästhetisch autonomer, vom Publikumsgeschmack emanzipierter D i c h t u n g und angepaßter Publikumslit. eine reale Spannung des literar. Lebens seit der zweiten Hälfte des 18. J h . s " genannt (S. 1 3 f . ) . D a ß auf D i c h o t o mie' als deskriptiver Kategorie nicht zu verzichten ist, hängt 1. mit den Gegebenheiten der von A d o r n o analysierten , Kulturindustrie' zusammen und 2. mit der ästhetizistisch-esoterischen Institutionalisierung von K u n s t seit der Klassik (vgl. § 6), die nicht nur Vorstellungen geformt, sondern auf die Wirklichkeit des literar. Lebens selbst zurückgewirkt hat. D i e Wirkungsgeschichte der in Deutschland seit Klassik und R o m a n t i k üblichen radikalen Z w e i teilung von K u n s t und U n k u n s t hat U r s a c h e n ,

Trivialliteratur die sich erst einer Sozialgeschichte des dt. Bildungsdenkens eröffnen (vgl. z . B . Das wilhel-

minische

Bildungsbürgertum.

geschichte seiner dung, 1976).

Ideen,

Zur

Sozial-

hg. von Klaus V o n -

Vgl. zusätzlich zur zitierten Lit.: J . B a r k , T.Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion. Sprache im techn. Zeitalter. H. 41 (1972) S. 52 -65. Albert K l e i n u. Heinz H e c k e r , Trivialliteratur (1977; Grundstudium Lit.wiss. 10).

§ 6. Z u r G e s c h i c h t e d e r D i c h o t o m i e als D e n k m o d e l l . 1. Z a h l e n z u r A u s w e i t u n g d e s B u c h m a r k t e s . U m 1 7 7 0 / 1 7 8 0 ändern sich die sozialgeschichtl. Voraussetzungen einer öffentlichen F u n k t i o n der Schriftstellerei in D e u t s c h land. Gingen die Literaten bis dahin von einer geistigen Entwicklungsfähigkeit und Erziehbarkeit der Öffentlichkeit aus, entwarfen sie Pläne einer kontinuierlichen Verbesserung der Gesellschaft durch das B u c h , d . h . durch die Veröffentlichung und Verbreitung von G e d a n ken, so ließ die Kapitalisierung des B u c h marktes diesen O p t i m i s m u s ab 1770 zerbröckeln (s. a. Verlagsbuchhandel). Die gesamte, nicht nach Fachgebieten unterteilte B u c h p r o d u k t i o n stieg in der 2. H. d. 18. Jh.s gewaltig an. Nach Rudolf Jentzsch (Der dt.-lat. Büchermarkt nach den Leipziger Ostermeßkatalogen von 1740, 1770 und 1800 in seiner Gliederung u. Wandlung, 1912) erschienen 1740 insgesamt 754 neue Produktionstitel auf dem Markt, 1770 dagegen waren es 1144 und 1800 1544. Fielen 1740 noch 2 7 , 7 % auf lat. Titel, so waren es 1800 nurmehr 3 , 9 7 % . Diese Zahlen betreffen jedoch nur die auf der Messe tatsächlich g e h a n d e l t e n Bücher. So sind z . B . in sämtlichen Meßkatalogen des Jahres 1780 (d.h. nicht nur im Leipziger) 2095 Titel verzeichnet. Der Berliner Buchhändler und Aufklärer Friedrich Nicolai, der für 1780 eine statist. Auswertung aller in Deutschland e r s c h i e n e n e n Bücher versucht hat, kommt auf rund 5000 Buchtitel, das fast 2'/2fache der Jentzsch-Zahl (vgl. Johann Goldfriedrich, Geschichte d. dt. Buchhandels. Bd. 3, 1909, S. 248). Insgesamt hat Engelsing für die 1. H. des 18. Jh.s eine Produktion von 56.100 Titeln, für die 2. von 110.300 Titeln errechnet (Analphabetentum u. Lektüre, 1973, S. 63). Statistisch fällt auch die Steigerung der Auflagenhöhe ins Gewicht. Das Journal von und für Deutschland gab 1785 an, die um 1750 übliche Auflagenhöhe von 400—600 Stück sei innerhalb von 35 Jahren auf 1000-2000 Stück gestiegen. Berücksichtigt man die Steigerung der absoluten Produktionsziffern, der Auflagenhöhe und der Leserzahl

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pro Buch, die durch Leihbibliotheken und Lesegesellschaften im Schnitt auf 10 bis 20 stieg, so läßt sich davon ausgehen, daß in der 2. H. des 18. Jh.s rund 60mal so viel gelesen wurde wie kaum fünfzig Jahre zuvor. Für die Geschichte des belletristischen Marktes sind Zahlen, die das rapide Anwachsen der Dramenund Romanproduktion belegen, noch aussagekräftiger. Im Jahrzehnt von 1750 bis 1760 erschienen 73 neue Romanpublikationen auf dem Markt, 1771-1780 waren es 413 und 1791-1800 1.623 (nach Marion Beaujean, Der Trivialroman in der zweiten H. d. 18. Jh.s, 1964). Dieser Anstieg läßt sich partiell dadurch erklären, daß sich der Roman im 18. Jh. als Gattung erst durchzusetzen begann. Daß dies jedoch nicht der eigentliche Grund des Produktionsanstiegs ist, zeigt ein Vergleich mit der Dramenproduktion: 1751-1760 125 neue Schauspiele, 1771-1780 1.069; danach bleibt die Dramenproduktion relativ konstant (nach Jochen Schulte-Sasse, Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung, 1971). Der belletristische Markt hat damit weit höhere Steigerungsraten zu verzeichnen als der Buchmarkt insgesamt; der Spekulationsgeist der Verleger, die hier die höchsten Gewinne vermuten, konzentrierte sich vor allem auf diesen Markt. „Auf der Messe war man gewöhnt, daß der eine Kollege nichts Medizinisches, der andere nichts Theologisches, der dritte nichts Juristisches, der vierte nichts Philosophisches gebrauchen konnte - nach Romanen und ,lüsterner Lektüre' fragten alle" (Goldfriedrich, S. 274). Der Marktanteil der Belletristik stieg nach Jentzsch von 5 , 2 % im Jahre 1740 über 13,4% 1770 auf 16,5% im Jahre 1800. Diese Zahlen sind speziell dann interessant, wenn sie mit der rapiden Abnahme theologischer Erbauungsliteratur (s.d.) verglichen werden. Hatte letztere 1735 noch einen Marktanteil von 4 0 , 5 % , so sank er bis 1800 auf dürftige 6 % . D i e Zahlen sind Reflex eines raschen S ä k u l a r i s i e r u n g s p r o z e s s e s . Z w a r m u ß bedacht werden, daß auch R o m a n e religiöse Inhalte hatten und nicht in gleichem M a ß e von einer inhaltlichen Säkularisierung geredet werden kann, wie es berechtigt ist, von einer Säkularisierung des Mediums b z w . der F o r m zu reden. D o c h ist dieser Wandel nicht zu unterschätzen: der Gehalt wird im M e d i u m des G e s c h i c h t e n erzählens nicht mehr direkt ausgesprochen, begrifflich besprochen, sondern hinter literar. Figuren, Figurenkonstellationen und H a n d lungsstrukturen , verborgen'. Im Vollzug dieser Verlagerung entsteht ein Charakteristikum der Kulturindustrie, das H a b e r m a s im A n s c h l u ß an A d o r n o analysiert hat: die I d e o logie der K o n s u m k u l t u r besteht nicht m e h r „aus einem in sich stimmigen Zusammenhang von Vorstellungen, sondern aus einem von

568

Trivialliteratur

Verhaltensweisen" (Strukturwandel der fentlichkeit, 4. Aufl., 1969, S. 236).

Öf-

Die F i k t i o n a l i s i e r u n g von E r b a u u n g s lit. vollzieht sich im späten 18. Jh. allerdings nicht für alle Stände gleich. Die traditionelle Erbauungslit. blieb bis weit ins 19. Jh. hinein die Unterhaltungslit. der unteren Stände. Walter Wittmann hat 1934 die Nachlaßinventare des Frankfurter Stadtarchivs ausgewertet und festgestellt: „Die Hauptträger der ,Schönen Literatur' um 1800 sind die Kaufleute und die oberen Stände: höhere Beamte, Juristen, Ärzte u . ä . " (Beruf u. Buch im 18. Jh., 1934, S. 40). Ähnliche Verteilungen sind inzwischen auch für andere Städte und Regionen nachgewiesen worden. Wäre die (relative) Zweiteilung der Lit. in eine „anspruchsvolle" und eine marktorientierte (eine Entwicklung, die mit der Kapitalisierung des Buchmarkts im späten 18. Jh. beginnt) mit einer sozialen Zweiteilung der Leserschichten einhergegangen, dann hätte die literar. Intelligenz Deutschlands auf diesen Prozeß nicht so verletzt und gereizt reagiert. Entscheidend ist, daß ein bürgerliches Publikum sich aufzuspalten begann. Die Rede von der im späten 18. Jh. einsetzenden Zweiteilung der Lit. übersieht zu leicht, daß das Lesepublikum sich in drei Schichten differenzierte. Der „Bodensatz der grobem Volkslitteratur" (Goldfriedrich, S. 273) blieb der gleiche, der er gewesen war. Daß im Bereich der b ü r g e r l i c h e n Lit. eine Dichotomisierung zu beobachten war, empfanden die Zeitgenossen als das eigentlich Bedrohliche; denn die Entwicklung bedrohte die geschichtsphilosophisch begründete Hoffnung der Aufklärer, eine homogene bürgerl. Öffentlichkeit auf hohem geistigen Niveau herzustellen. 2. E n t s t e h u n g des D e n k m o d e l l s der D i c h o t o m i e . Wesentliche Züge des poetologisch-ästhet. Denkens von Klassik und Romantik, und damit ihrer fast 2. Jh.e akzeptierten Wertkriterien, sind als Reaktion auf die V e r ä n d e r u n g e n des M a r k t e s , bzw. die ihnen zugrundeliegenden sozial- und wirtschaftsgeschichtl. Prozesse, zu interpretieren. Kaum etwas charakterisiert die intellektuelle Atmosphäre des Jh.endes so sehr wie die Polemik gegen das kommerzialisierte Buchwesen und die angebliche „Lesesucht" der Zeitgenossen (vgl. dazu die Arbeiten von Schulte-Sasse, Kiesel/Münch, Winckler, Bürger u. Frels).

Im Zuge der Auseinandersetzungen mit dem Markt entstanden die dichotomischen Denkmuster ,Architektonik' vs. ,Kumulation', .ästhetische Distanz' vs. ,distanzloser Genuß', ,Geist' vs. Sinnlichkeit', ,Innovation' vs. ,Redundanz' usw. Schulte-Sasse hat auf ästhetische Theorien vor der Ausbreitung des Buchmarktes hingewiesen, die Stilzüge wie Kumulation durchaus positiv bewerteten. Moses M e n d e l s s o h n etwa schrieb 1757: „es giebt Stücke, die, im Ganzen betrachtet, tadelhaft sind, und sich, gleichsam der Kritik zum Trotze, durch unzählige Vorstellungen im Beifall erhalten. Wenn dieses geschieht, so müssen die Situationen so außerordentlich rührend seyn, daß sie die untern Seelenkräfte allezeit beschäftigen, und uns niemals Zeit lassen, an das Ganze zu denken. Der Kunstrichter hat sich in diesem Falle vor dem sehr schädlichen Vorurtheile zu hüten, als wenn die Regeln des Ganzen allezeit das Vornehmste wären. Hat der Dichter Genie genug, die Fehler der Anlage durch die Gewalt der Leidenschaften, die er erregt, unserer Bemerkung zu entziehen, so macht sich der Kunstrichter lächerlich, wenn er seine Empfindungen verläugnet" (Gesammelte Schriften, hg. von G. B. Mendelssohn, 1844, Bd. 1, S. 148). Im Vergleich zu derartigen Theoremen reintellektualisierten Klassik und R o m a n t i k Kunst und Kunstrezeption in dem Bemühen, sich der Vermarktung von Lit. zu entziehen. Die Angst vor der manipulativen Kraft identifikatorischer Lektüre führte so zur Entwicklung des Kriteriums der ästhetischen Distanz und der Reflexivität. Im Teutschen Merkur heißt es 1796: „Um deine Lektüre vernünftig zu machen, mache ich sie Dir verdächtig [. . .] Denke zugleich und urteile selbst nach aller deiner Kraft. Hierin liegt das Geheimnis des höchsten Genusses und der Kunst, deinem schlauen Autor die geheime Gewalt über dich zu nehmen, wodurch er Dich mißbraucht" (S. 242 u. 244; vgl. dazu Christa Bürger, Literar. Markt u. Öffentlichkeit am Ausgang d. 18. Jh.s in Deutschland, in: Aufklärung u. literar. Öffentlichkeit, hg. v. Chr. Bürger u.a., 1980, S. 162f. u. 177f.). Auch die gegenwärtige T.Forschung hält daran fest, „die Ausdehnung des Publikums auf Leser mit geringer Kennerschaft" habe dazu geführt, „die Wirkungsästhetik hinfällig" werden zu lassen. Gute, d.h. innovative Lit. „scheint ohne Reflexion nicht möglich. Wo die Reflexion fehlt, ist der

Trivialliteratur Schematismus [Vf. nennt alle T. .SchemaLiteratur'] nahe" (Hans Dieter Zimmermann,

Schema-Literatur,

1979, S. 51 u. 69).

Vor einer allzu rigiden qualitativen Deutung der im 18. Jh. sich abzeichnenden Dichotomisierung muß jedoch gewarnt werden. Faktisch ist zur Zeit der Kapitalisierung des Buchmarktes und der Entwicklung der Dichotomie als Werturteilskategorie eine objektive Zweiteilung der Lit. nur in einer Hinsicht (die nichts mit Qualitätsunterschieden zu tun hat) feststellbar: „Der Prozeß der Ausgrenzung eines Teils der bürgerlichen Lit. als trivial ist im Zusammenhang zu sehen mit der Auseinandersetzung zweier am Ende des 18. Jh.s miteinander konkurrierender Institutionalisierungen [von Lit.], der bürgerlich-aufklärerischen und der autonomen" (Christa Bürger,

„Das menschliche Elend oder der Himmel auf Erden". Zur Dichotomisierung von hoher u. niederer Lit. am Ende d. 18. Jh.s in

Deutschland, in: Sprachkunst 9, 1978, S. 206). Bürgerlich-aufklärerische Lit. hält an leb e n s p r a k t i s c h e n Funktionen von Lit. fest. Sie bedient das Informationsverlangen des Publikums durch die narrative Präsentation lebenspraktisch wichtiger N o r m e n ; sie übt am Verhalten fiktiver Helden in die Normen der neuen Arbeitsmoral und in das emotional-sentimentale Rollenverhalten der Kleinfamilie ein, das von instrumenteller Vernunft und dem „Eigennutz" im Arbeitsleben entlastet (vgl. § 7). Die ,autonome' Lit. der Klassik dagegen geht von einer Trennung von Kunst und Leben aus und verzichtet auf jeden unmittelbaren Eingriff in die gesellschaftliche Praxis. „Die Mehrheit der bürgerlichen Leser hält an bürgerlich-aufklärerischen Lit. Vorstellungen fest und wendet sich von der autonomen Kunst ab; denn die von dieser nicht beantworteten Bedürfnisse des Publikums nach Normendiskussion und Orientierung in Fragen der Lebenspraxis verlangen nach Befriedigung" (Christa Bürger, Literar. Markt und Öffent-

lichkeit am Ausgang d. 18. Jh.s in

Deutschland,

S. 171). Die Lit., der sich die Leser während dieser institutionellen Auseinandersetzung zuwandten, mag heute als Unterhaltungslit. oder T. gelten, ursprünglich entscheidend waren nicht Qualitätsunterschiede, sondern differierende Vorstellungen von dem, was Lit. zu leisten hat. T. sollte auch in ihrer weiteren Geschichte, im Unterschied zur „hohen" Lit., das Verlangen eines breiten Publikums nach

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Diskussion und anschaulicher Präsentation von S i n n - und Wertorientierungen bedienen (worin ihr kommunikativer Gebrauchswert liegt, vgl. §11). Daß der autonome Kunstbegriff der Klassik gegen die Identifikation in ästhetischer Rezeption Stellung bezog, hat mit sozialgeschichtl. Veränderungen zu tun, die kurz benannt werden müssen. Auf die Manipulations- und Vermarktungsangst der literar. Intelligenz wurde bereits hingewiesen. Hinzu tritt ein W a n d e l des L e s e v e r h a l t e n s selbst; Rolf Engelsing hat ihn als Übergang vom intensiven zum extensiven Lesen beschrieben. War es zuvor üblich, ein Buch (1.) mehrfach (2.) im Familien- oder Freundeskreis laut vorzulesen, so entwickelt sich parallel zur Kapitalisierung des Buchmarktes ein Leseverhalten, das nach immer neuen Büchern, die in der Einsamkeit des eigenen Zimmers verschlungen werden, greifen läßt. Der Prozeß zerstört sowohl den geselligen als auch den räsonierenden Umgang mit Lit., der bis dahin weit verbreitet war, zu dem auch der Wechsel zwischen eigener schriftstellerischer Tätigkeit und bloßer Rezeption zählte. „Werde aus einer Leserinn zu einer Schriftstellerinn", riet noch Christian Garve. Der skizzierte Wandel bedingte u.a. den Aufstieg des Romans zur zentralen Gattung der T.: „Der Roman erlaubt die am meisten isolierende, extrem private und individuelle Rezeption von Lit., er setzt keine gesellige oder gesellschaftliche Zusammenkunft voraus" (Martin Greiner, Die Entstehung d. modernen

Unterhaltungslit.,

1964, S. 21).

Der Rückzug der Lektüre in die isolierte Privatsphäre veränderte u. a. auch die Qualität der empfindsamen Darstellung von Gefühlen; erst jetzt konnte sentimentale Literatur kompensatorisch wirken. Da die einsame Lektüre eines isolierten Lesers immer neue Nahrung braucht, hat Leif Ludwig Albertsen jene Lit., die dem neuen Leseverhalten entgegenkommt, Ephemer-Literatur genannt (vgl. § 1). Nach Albertsen stemmen sich Klassiker und Romantiker gegen den Lektürewandel, indem sie ihre eigene Lit. als Wiedergebrauchslit. propagieren und sich ein kleines, aber gut zahlendes Publikum erobern, das Lit. kauft und sammelt und den Schreiber seiner Lit. zu hohen Ehren emporhebt. War ,Dichotomie' im 18. Jh. zunächst eher ein Denkmodell als objektiver Tatbestand -

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Trivialliteratur

eine Vorstellung, mit der sich ein Teil der literar. Intelligenz gegen die Vermarktung ihrer Produkte zu wehren suchte (deshalb die polemische Verve, mit der dichotomische Vorstellungen vorgetragen wurden) - so schlägt sie mit dem Kampf um divergente Institutionalisierungen von Lit. in eine t a t s ä c h l i c h e Zweiteilung des literar. Lebens selbst um. Die Masse der Schriftsteller schreibt für den Markt und unterwirft sich den Bedingungen des Marktes, d. h. dem durchaus legitimen Verlangen des Publikums nach einem lebensprakt. Gebrauchswert seiner Literatur. Klassiker und Romantiker dagegen propagieren sich selbst als Marktwert und ihre Lit. als Gebrauchsrede: „Die Dichter treten zu Schulen zusammen, zu Interessenorganisationen. Entscheidend ist nicht ausschließlich die gemeinsame Ideologie (was haben Goethe und Schiller gemeinsam?), auch können sich Dichter derselben Ideologie aus ganz praktischen Gründen bekriegen (Arnim und Loeben). Die Interessenorganisationen bilden sich vielmehr als Gruppen für die gegenseitige Unterstützung; die gemeinsamen Anschauungen kommen hinterher als nachträglicher Uberbau. [. . .] Das damals erstmalige Auftreten der Kulturfunktionäre hat für die Nachwelt die Hierarchisierung der Lit. bedingt; für die Zeitgenossen waren die direkteren ökonomischen Bedingungen entscheidender" (L. L. Albertsen, Internationaler Zeitfaktor Kotzebue, in: Sprachkunst 9, 1978, S. 228f.). Albertsen und vor allem Christa Bürger haben die Konsequenzen dieser Ausgangskonstellation bis in Verästelungen klassisch-romant. Kunstbegriffe hinein verfolgt. Zusätzlich zur zitierten Literatur: 1. Zur Entwicklung des Marktes: Rolf E n g e l s i n g , Analphabetentum u. Lektüre. Zur Sozialgesch. d. Lesens in Deutschland zwischen feudaleru. industrieller Gesellschaft (1973). Ders., Der Bürger als Leser. Lesergesch, in Deutschland 1500-1800 (1974). Lutz W i n c k l e r , Entstehung u. Funktion d. literar. Marktes, in: Winckler, Kulturwarenproduktion. Aufsätze z. Lit.- u. Sprachsoziologie (1973; EdSuhrk. 628) S. 12-75. Helmuth K i e s e l u. Paul M ü n c h , Gesellschaft u. Lit. im 18. Jh. Voraussetzungen u. Entstehung d. literar. Markts in Deutschland (1977; Beck'sche Elementarbücher 42). 2. Zur Dichotomie als Denkmotiv: Jochen S c h u l t e - S a s s e , Die Kritik an d. T. seit d. Aufklärung. Studien z. Gesch. d. modernen Kitschhegriffs (1971; Bochumer Arb. z. Sprach-

u. Lit.wiss. 6). Ders., Literar. Markt u. ästhet. Denkform. Analysen u. Thesen zur Gesch. ihres Zusammenhangs. LiLi 2 (1972) S. 11-31. Leif Ludwig A l b e r t s e n , [Einleitung zu:] Die Eintagsliteratur in der Goethezeit. Proben aus den Werken von Julius von Voß (1975; Regensburger Beitr. z. dt. Sprach- u. Lit.wiss A,2), S. 9-229. Christa B ü r g e r , Der Ursprung d. bürgerl. Institution Kunst. Literatursoziolog. Untersuchungen zum klassischen Goethe (1977) [Im folgenden Bd. v.a. die Aufsätze von Schulte-Sasse, Bürger, Frels u. Lindner:] Aufklärung u. literar. Öffentlichkeit, hg. v. Christa Bürger, Peter Bürger u. Jochen Schulte-Sasse (1980; EdSuhrk. 1040).

§ 7. Z u r G e s c h i c h t e der T . im 18. u n d 19. J h . Die histor. Aufarbeitung der T. hat kaum begonnen; auch ihre Geschichte müßte nach ihren Genres (Kolportagelit., Feuilletonlit., Kriminallit., Science Fiction, ComicStrips, Wildwest- u. Abenteuerlit., Ritter- u. Räuberlit., Schauerlit., Heimatlit. usw.). differenziert werden. Was die Germanistik bisher als T. thematisiert hat, ist bildungsbürgerl. Unterhaltungslit. und rangiert, worauf Rudolf Schenda in mehreren Publikationen insistiert hat, weit oberhalb der „wahren" T. fürs „Volk": „Die ,T.' der Germanistik ist keine solche. Freilich: die Germanistik irrt sich in ihrem Gegenstand nicht von ungefähr: Ihre Beschäftigung mit der T. ist nur scheinbar ein Aufbrechen des elitären Lit.kanons, nur ein halbherziges Einbeziehen der,niederen' Lit. in die ,höhere' Wissenschaft. ,T.'-Forschung hat Alibi-Funktion: sie schützt den Literaturwissenschaftler der Oberschicht vor dem nichtliterar.,Schmutz und Schund' des .geistigen Proletariats' und vor den polit. Konsequenzen, die aus einer solchen Beschäftigung zu ziehen wären" (Die Lesestoffe der Kleinen Leute, 1976, S. 124). Allgemein wird anerkannt, daß von T. erst seit der 2. H . des 18. Jh.s gesprochen werden kann und daß die Entstehung dichotomischer Lit.Vorstellungen zu dieser Zeit nicht ganz unbegründet ist. Mit „der Entstehung der bürgerl. Gesellschaft" koppelte sich „das ökonomische und das polit. System vom kulturellen" ab; die Künste wurden „aus dem rituellen Gebrauchszusammenhang entlassen" (Jürgen Habermas, Kultur u. Kritik, 1973, S. 316 f.). Damit wurde nicht nur der Weg bereitet für eine „autonome Kunst", sondern auch für ein partielles Festhalten am ,Nutzen' in der Konsumkultur. Erst die „Uberlagerung von soziologischen (Massenhaftigkeit) und geistes-

Trivialliteratur geschichtlichen Momenten (Abwertung einer spezifischen Literatursorte)" erlaubt es, „in einem einigermaßen präzisierbaren Sinn von Trivialliteratur zu sprechen" (Günther Fetzer, Wertungsprobleme in der T.forschung, 1980, S. 17). Solange grundsätzlich alle Lit. in den gesellschaftlichen Gebrauchszusammenhang integriert blieb, konnte von T. im heutigen Sinne keine Rede sein. Soweit die Geschichte der T. bisher überhaupt erforscht ist, zeichnet sich ab, daß T. mit erstaunlicher Konstanz Modernisierungsängste meist kleinbürgerl. Schichten kompensiert und die mit der Entwicklung des Kapitalismus einhergehende Spaltung des Menschen in den , B o u r g e o i s ' und den , C i t o y e n ' , in konkurrenzorientierten „Eigennutz" (ein Zentralwort des 18. Jh.s, um das Verhalten des ,Bourgeois' zu kennzeichnen) und liebevollen Gemeinsinn ideologisch bzw. fiktiv aufzuheben versucht hat, eine konsolative Funktion, die nicht a priori trivial ist. Wieland wies noch 1773 der Dichtung generell die Aufgabe zu, „uns den Werth der häuslichen Glückseligkeit und den Reiz der Privattugenden, die uns derselben fähig machen, in rührenden Gemählden vorzustellen; uns den Geist des Friedens, der Duldung, der Wohlthätigkeit und allgemeinen Geselligkeit einzuflössen, den Menschen durch die Allmacht des Gefühls einzuprägen, daß sie Brüder sind und nur durch Vereinigung und Zusammenstimmung glücklich seyn können" (Teutscher Merkur, Mai 1773, S. 184f.). Das ist eine genaue Beschreibung des ,Citoyen'-Ideals. Solange Schriftstellerei von dem wirkungsästhetischen Optimismus getragen war, Dichtung könne Menschen in Richtung auf dieses Ideal hin bessern, blieb dieser Inhalt auch für „hohe" Lit. akzeptabel. T. wurde anders als die „hohe" Lit. auch fortan in dieser Tradition geschrieben und restituierte die Harmonie von .Bourgeois' und , Citoyen' gegen ihren Zerfall in der Wirklichkeit. Über den Frauenroman der Gegenwart etwa schreibt Nusser: „Die Jagd nach Geld und Prestige um ihrer selbst willen ist Kennzeichen der outgroup" (Romane für die Unterschicht, 1973, S. 41), wogegen die „ingroup" durch „Träume voller Zärtlichkeit und Geborgenheit" charakterisiert sei. Der gleiche Gegensatz von „outgroup" (Bourgeois) und „ingroup" (Citoyen) bestimmt bereits die T. des späten 18. Jh.s. Man vgl. z. B. in Lafontaines Roman Isidore: „Es gibt ein Glück, aber ein einfaches,

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das eigene Haus, die geliebte, treue, unschuldige Frau, der Haufen blühender Kinder und ists zu erreichen - der Freund! Freundschaft und Liebe: der kleine Hausalter! die stille Hütte, in die der Tumult der Welt nicht dringt, das kleine Paradies, dessen Türe das Weib, die Freundinn, die Mutter, die Treue, die Unschuld, die Liebe wie ein Cherub bewacht. — Die Welt ist des Mannes Ziel, das Haus sein Glück!" Sozialpsychologisch scheint T. in ihrer Gesch. ähnliche Reproduktions- und Konsolationsfunktionen übernommen zu haben, wie sie auch der K l e i n f a m i l i e in der arbeitsteiligen kapitalist. Gesellschaft zufielen. Wenn T. zu Beginn ihrer Gesch. im 18. Jh. mit Vorliebe Modelle der Empfindsamkeit übernahm, so verschleppte sie nicht einfach aus Gründen profitabler Verwertbarkeit auf dem Markt ein gerade modisches , Empfindsamkeitsfieber der Deutschen' (Appell); ihre Sentimentalität teilte vielmehr, wenn auch reduziert, den antiwirtschaftsbürgerl. Protestgehalt von Gefühl in der Hochaufklärung (vgl. dazu Hansers Sozialgeschichte der dt. Lit. Bd. 3. Dt. Aufklärung bis zur Franz. Revolution 1680-1789, hg. v. Rolf Grimminger, 1980, S. 318-326, 443-449, 474-477 u.ö.); sie richtete sich gegen die Vorherrschaft von Tauschwertgesichtspunkten, Eigennutz und instrumenteller Vernunft. T. entlastete vom Zwang zu Rationalität und konkurrenzbewußter Identität. Formulierungen wie „Das süßeste Gefühl ging in das seligste Unbewußtsein über; das zärtlichste Bewußtsein verlor sich im süßesten Nichtgefühl" (aus Vulpius' Rinaldo Rinaldini) sind Ausdruck der Sehnsucht nach Aufhebung von vereinzelter, konkurrenzorientierter Identität. Protest- und Kompensationsmomente gehen dabei eine unauflösliche Verbindung ein. Gleiches gilt von Anfang an für A b e n teuer- und G e i s t e r r o m a n e . Ober die Ritter-, Räuber- und Geisterromane des ausgehenden 18. Jh.s schreibt Greiner, die „Illusion der Freiheit und Ungebundenheit", in die diese Romane ihre Leser wiegen, seien „Möglichkeiten und Ventile, den Unmut, das Unbehagen und die Unzufriedenheit auf eine harmlose und unschädliche Weise abzureagieren" (S. 80), sie seien „Sehnsucht nach dem starken Mann, dem Kerl, der man selbst nicht ist und sein darf, [. . .] Zivilisationsmüdigkeit und ein zugleich vitales [. . .] Verlangen dieses pädagogischen Jahrhunderts, sich von allem Wissensqualm

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Trivialliteratur

und Bildungszwang zu entladen" (S. 103) wobei er allerdings das Protestmoment dieser Lit. unterbewertet. Bleibt in bezug auf das 18. Jh. noch überaus viel zu tun, profilieren sich die sozialgeschichtl. Konturen der T . des 1 9 . J h . immer schärfer (vgl. die Arbeiten von R . Schenda, H . - J . Neuschäfer, M . Kienzle, J . Schulte-Sasse u. R.. Werner sowie V. Klotz). Zahlenmaterial zur statist. Ausbreitung des Buchmarktes als Voraussetzung der T.-Geschichte: Im 19. Jh. breitet sich die Lesefähigkeit der Bevölkerung in einem Maße aus, daß T. zum ersten Mal als Lesestoff aller sozialen Schichten in Frage kommt. Nach einer Schätzung Schendas (Volk ohne Buch, S. 444f.) kamen 1770 erst 15%, 1800 2 5 % , 1830 4 0 % , 1870 75% und 1900 90% der Bevölkerung über 6 Jahre als potentielle Leser in Betracht *Die 1812 erfundene Hochdruckmaschine, die den billigeren Schnellpressendruck ermöglichte, senkte ab den 40er Jahren den Buch- und Zeitungspreis (mit weitreichenden Folgen für den Feuilletonroman). In der 2. H. des Jh.s führt eine Reihe weiterer Entwicklungen und Entdeckungen (1860 Entwicklung des Holzzellstoffs, 1863 Einführung der Komplettgießmaschine, 1873 der Rotationsdruckmaschine, 1884 der Setzmaschine und 1890 der Falzmaschine) zu nochmaligen Preissenkungen. Sowohl die Entwicklung der Technik als auch des Schulsystems bedingen einen rapiden Anstieg der Titelproduktion: Wurden nach Nicolai 1780 5000 Titel im Jahr gedruckt, so stieg die Buchproduktion zwischen 1850 und 1908 von 9053 auf 30317 Jahrestitel (vgl. u.a. Klaus Ziermann, Romane vom Fließband, 1969, S. 47 f.). Gleichzeitig stieg die Zahl der Leihbibliotheken zwischen 1865 und 1890 von 779 auf 2629 an. Erst jetzt kann ohne Einschränkungen von „Massenkultur" gesprochen werden. In den 60er Jahren galt als gesichert, daß die Massenlit. dieses Zeitraums zwar oberflächliche Bezüge zur zeitgenöss. Realität aufweise, damit aber nur zeitlose Wünsche, Träume und uralte Märchenmotive verdecke (vgl. etwa Walther Killys Versuch über den literar. Kitsch, 1961, 8. Aufl. 1978). So weit derartige Charakterisierungen überhaupt richtig sind, sind sie sekundär. N a c h H o r s t H o l z e r kann als Grundsatz der Massenkommunikation gelten: „Massenmediale Angebote werden dann positiv beurteilt, wenn sie Dissonanzen kognitiver und/oder emotiver A r t bei einem Individuum, einer Gruppe reduzieren oder kompensieren; sie werden negativ (oder zumindest indifferent) beurteilt, wenn sie die Dissonanzen nicht beachten oder sogar verstärken" (Gescheiterte

Aufklärung?, 1971, S. 212). Genau dies geschieht in der Massenlit. des 19. J h . s auf präzis angebbare Weise. Die Leser dieses J h . s waren durch den sozialen Wandel, u. a. durch Industrialisierung, durch sozialen Abstieg (Proletarisierung) als Folge der Industrialisierung und durch die Veränderung öffentlicher U m gangsformen parallel zum Siegeszug des Tauschwertstandpunkts verunsichert. Die Massenlit. bot in dieser Situation fiktive Problemlösungsstrategien (bzw. -modelle) an; ihr E r folg war gesichert, so lange das Publikum die angebotenen Modelle als Lösungsvorschläge auf seine konkrete Lebenssituation beziehen konnte - so ideologisch falsch diese Lösungen gewesen sein mochten. Neuschäfer hat den sozialpolit. A n t w o r t charakter populärer Lit. in bezug auf den franz. Feuilletonroman der 40er Jahre, Volker Klotz am Abenteuerroman des ganzen J h . s , Jochen Schulte-Sasse und Renate Werner an einem paradigmatischen Roman der ersten dt. Massenliteratin, E . Marlitt, und Jochen SchulteSasse an den Romanen Karl Mays analysiert. Nach N e u s c h ä f e r spekulieren die Populärromane des 19. Jh.s auf das „Sicherheits- und Beschwichtigungsbedürfnis" des Kleinbürgertums. Dies gelte „insbesondere für den Grafen von Montecristo [Dumas pere, 1846], in dem u.a. die von der Verelendung bedrohten Kleinbürger getröstet werden, die sich in der Welt des liberalen Wirtschaftskapitalismus nicht mehr zurecht finden" (S. 26). Der Comte de Montecristo gestaltet wie so viele Trivialromane dieses Jh.s den Konflikt zwischen dem Eigennutz des ,Bourgeois' und dem Gemeinsinn des ,Citoyen', wobei in der dargestellten Gesellschaft der ,Bourgeois'-Typ dominiert, bis der ,Citoyen'-Held ihn unschädlich macht. Daß die drei Schurken des Montecristo in die Spitzen der Gesellschaft aufgestiegen sind (der eine ist Bankier, der zweite Generalstaatsanwalt, der dritte General), zeigt, wie das kleinbürgerl. Publikum die Gesellschaft seiner Zeit erlebt und wodurch seine Suche nach Problemlösungen bedingt ist: „Das Auf und Ab der Börse, Spekulationsgewinne und -Verluste, märchenhafter Aufstieg und unehrenhafter Bankrott (dies alles in Dumas' Roman reichlich vertreten) brachten zusätzliche Unruhe: Mobilität ersetzte Stabilität" (S. 39). Die „verteufelten Bösewichter" des Romans verkörpern „den Geist eines schrankenlosen Liberalismus und der ungezügelten freien Konkurrenz" (S. 52). Ideologisch greift der Roman, indem der .Citoyen'Held alle gesellschaftlichen Übel eliminiert, auf die Aufklärung zurück: er personalisiert die Übel, vertraut der Kraft des moralischen Arguments und der moralischen Tat ui)d hält an der harmonischen

Trivialliteratur Verträglichkeit von Gemeinsinn und Eigennutz fest, wenn auch nur in einer auf Kleinbetriebe zurückzuschraubenden Industrie. Volker K l o t z hat betont, in welches Dilemma die Anonymität des Kapitalismus sowohl die Lit., die als Darstellungsmedium auf handelnde Individuen angewiesen ist, als auch die Psyche und die Verstehensmöglichkeiten der vom Kapitalismus betroffenen Leser stürzen mußte: „Das Wesen kapitalistischer Verkehrsformen verbirgt sich. Es läßt sich nur abstrahieren. Das heißt, aus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung herauslösen" (S. 23). Wie die „hohe" Lit. auf diese Herausforderung reagiert, hat Klotz anhand des Romananfangs von Zolas Germinal illustriert. Die T. ihrerseits versinnlicht bzw. personalisiert die anonymen gesellschaftlichen Verkehrsformen, im Gegensatz zur,hohen' Lit., absolut. Damit gerät die Widerspiegelung zeitgenöss. Realität in eine für die T. eigenartige Ambivalenz: ,, Die eigennützigen Ziele ,Geld, Machtposition, öffentliches Ansehen', erkämpft oder erschlichen durch wechselseitiges Ubervorteilen, entsprechen zwar der zeitgenössischen Wirklichkeit [. . .] Zwangsläufig falsch wird die Erklärung aber dann, wenn sie diese Verhältnisse auf persönliche Charakterfehler abartiger Schurken zurückführt" (Klotz, S. 28). So ist Ferrand, Hauptschurke von Sues Die Geheimnisse von Paris, zwar eine typische Inkarnation des Wirtschaftsbürgers, sein Verhalten wird aber nicht aus gesellschaftlichen Verkehrsformen, sondern aus individueller, psychisch-moralischer ,Entartung' abgeleitet.

F ü r Deutschland sind gleiche Wirklichkeitsbezüge bisher u . a . an den R o m a n e n von E . Marlitt und Karl M a y nachgewiesen worden. In M a r l i t t s Im Hause des Kommerzienrates etwa fliegt schließlich ein T u r m , der - als H o r t von Aktien - den Kapitalismus symbolisch repräsentiert, in die L u f t . Ü b r i g bleibt eine Gesellschaft mit mittelständischen Kleinbetrieben, die die sozialen Harmonieideale von Wilhelm Heinrich Riehl ( 1 8 2 3 - 1 8 9 7 ) verwirklicht hat. In Karl M a y s Abenteuerromanen (sie wurden ursprünglich für erwachsene Leser geschrieben und von ihnen gelesen) wird kapitalist. Gesinnung als die Jagd der Schurken nach G o l d symbolisiert, während die G u t e n sich im antikapitalist. Verzicht üben. D i e Zeitgenossen haben derartige M o t i v e sehr genau als aktuelle Problemlösungen erkannt. Ludwig Gurlitt schrieb: Karl M a y „ m a c h t auch den Klassenhaß und die Machtpolitik der Staaten nicht mit, sondern predigt N ä c h s t e n liebe, brüderlichen Sinn aller zu allen, freundlichen Machtausgleich der V ö l k e r [. . .].

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E r tritt nicht ein für die Ziele der freien Wirtschaft und des Imperialismus, für R e i c h tum und M a c h t des Einzelnen mit ihren verderblichen W i r k u n g e n : W e t t k a m p f der V ö l k e r um den E r w e r b von R o h s t o f f e n , Absatzgebieten, E i n f l u ß [. . .] er lehrt uns, alle G ü t e r des H i m m e l s und der Erde im Geiste gegenseitiger Hilfestellung und Fürsorge ausz u t a u s c h e n " (Ludwig G u r l i t t , Gerechtigkeit

für Karl May!, 1919, S. 139). Ähnliche Züge lassen sich in R o m a n e n G a n g h o f e r s wie generell im H e i m a t r o m a n nachweisen (s.a. Heimatkunst). In ihnen wird die G r o ß s t a d t , die T e c h n i k , die Industrie, das Rationale und Intellektuelle (im Sinne von instrumenteller Vernunft) der heimatlichen G e b o r g e n h e i t gegenübergestellt, auch dies eine Verarbeitung des Konflikts von G e b r a u c h s wert- und Tauschwertstandpunkt in m o d e r n e r Gesellschaft. G a n g h o f e r z. B . entwickelte eine Staatsutopie, die viel über die sozialpolit. Intentionen seiner eigenen R o m a n e wie über die von T . des 19. J h . insgesamt auszusagen vermag und in der es um den Sieg von Geborgenheit b z w . Bruderliebe in kapitalist. Gesellschaft geht. „ E i g e n e r G r u n d und B o den, eigenes H a u s und G a r t e n , ,eigenes D a c h und feste H e i m a t ' , auch für .jeden Arbeiter und jeden kleinen B e a m t e n ' [. . .] bildet die Ausgangsforderung [. . .]. Das M i n i m u m des Lebensbedarfes habe der Staat zu garantieren, damit der , K a m p f ums Dasein aus dem Menschenleben a u s s c h e i d e t ' " (Schwerte, S. 182). Kleinbürgerl. Verunsicherungen durch Industrialisierung und Kapitalisierung werden hier utopisch aufgefangen. Blut und B o d e n , H e i m a t , Bauerntum werden zu genrespezifischen Chiffren der Geborgenheit während einer epochalen Modernisierungskrise (vgl. dazu schon den frühen Aufsatz von Michael Wegener). Gleiches gilt für W i l d w e s t r o m a n e : D i e latente Homosexualität, die an den M ä n n e r b e ziehungen dieses Genres analysiert wurde (vgl. vor allem A r n o Schmidts K a r l - M a y - I n t e r pretationen), sind „Substitute für die Sehnsucht, die aus dem K o n k u r r e n z k a m p f ums Dasein resultierende Isolation, wie sie die männliche , R o l l e ' weithin bestimmt, in eine A r t emotionaler Solidarität a u f z u b r e c h e n " (Wolfgang F r i t z H a u g , Kritik der Warenästhetik, 2. Aufl, 1972, S. 157). D e r K o n f l i k t von . B o u r g e o i s ' und , C i t o y e n ' wird in der Verherrlichung von Männerfreundschaften fik-

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tiv eliminiert bzw. durch klare Aufteilung auf Freund-Feind-Verhältnisse bereinigt. Die Problemlösungsstrategien von Abenteuer- bzw. Wildwestromanen, von Heimatliteratur und von Liebes- bzw. Familienromanen rücken damit zusammen. Die F a m i l i e gilt literarisch als sozialpolitisches Symbol von Gemeinsinn; sie bietet dem Bürger (Bourgeois) „beim fortschreitenden Konkurrenzkampf aller gegen alle einen Hort zwischenmenschlichen Zusammenhalts. Wo der Bürger im Berufsleben zwangsläufig seine Selbstsucht auf Kosten anderer durchsetzen muß, kann ihm die Familie auch noch das Gewissen erleichtern" (Klotz, S. 4 0 f . ) . Die Gesch. der T . a n d e r e r L ä n d e r ist mit der deutschen immer dann vergleichbar, wenn sie Resultat ähnlicher sozialgeschichtlicher Konstellationen ist. Der Konflikt zwischen ,Bourgeois' und ,Citoyen' ist ein genereller Konflikt industrialisierter Gesellschaften. Deshalb kann die a m e r i k a n . T . diesen Konflikt ebenso ins Zentrum rücken wie die deutsche (vgl. die vorzügliche sozialgeschichtliche Deutung von Ludwig Fischer). Doch gibt es Unterschiede: die kleinbürgerlich-antikapitalist. Verve und die rückwärtsgewandten Lösungsvorschläge dt. T . entsprechen der rasanten Industrialisierung Deutschlands, die - im Gegensatz zu westlichen Industrienationen einen konservativen Antikapitalismus freigesetzt hat. Bei dem amerikan. Erfolgsautor Horatio Alger steigen die Helden regelmäßig durch „luck, pluck and decency" zu Millionärswohlstand auf - zu einer Zeit, als dt. Helden ihre Moralität nur durch krassen „Antimaterialismus" unter Beweis stellen konnten. Funktioniert das gesamtgesellschaftlich ins Hintertreffen geratende ,Citoyen'-Verhalten im Familienroman als Liebe, so im Abenteuerroman als Harmonie des Helden mit seinem Aktionsraum (,Ich kenne die Gegend wie meine Hosentasche', vgl. Piwitt, S. 26) und als Männerbündnis. Uberblickt man die Ideologie- und Sozialgeschichte der T. im 19. J h . , so läßt sich die T . dieses Zeitraums sicher nicht als „Bestätigungslit. in Massenproduktion" (so Walter Höllerer 1968) definieren. Sie strebt auch keine „gewollte Manipulation oder arglistige Täuschung" an, sondern hat einen sozialpsycholog. G e b r a u c h s w e r t (vgl. § 11), so sehr ihre Erklärungsmuster die eigentlichen Probleme

verharmlosen. Neuschäfer konnte die Interpretationsarbeit des T.-Forschers deshalb mit der des Psychoanalytikers vergleichen, da „er unter den scheinbar stimmigen Rationalisierungen seines Patienten [hier des Kleinbürgertums] die verschlüsselte Botschaft einer verdrängten Krise entdeckt, die dieser nicht wahrhaben will" (S. 27). Anders als die T . der Gegenwart, die die bestehende Gesellschaft akzeptiert und - im Vergleich zur T . des 19. in leicht veränderter Weise - kompensiert (vgl. §§ 8 u. 9), entwarf die T . der Vergangenheit rückwärtsgewandte Utopien als Gegenbilder gegen die Realität. In der Beschreibung zeitgenöss. Wirklichkeit gestaltete sie sehr präzis den Konflikt zwischen Gemeinsinn und Eigennutz und machte dafür die „Industrie" bzw. den „Materialismus" der Zeit verantwortlich. Die T . des 20. Jh.s hat diese Kapitalfeindlichkeit aufgegeben. Mit ihrer Zeitbezogenheit ist sie im übrigen nicht so weit von der ,hohen' Lit. entfernt, wie häufig behauptet wird. Es wurde bisher nur nicht „ernsthaft der Versuch unternommen, in der Hochlit. ganz ähnliche I d e o l o g e m e , im hochgebildeten Leser ähnliche S o z i a l n e u r o sen nachzuweisen, wie sie die Subliteratur und ihre Konsumenten kennzeichnen" (Rudolf Schenda, Die Lesestoffe der Kleinen Leute, 1976, S. 125). In der Arbeit von Klotz gibt es gelegentliche Vergleiche der psychologischen Romane (PR) des 19. Jh.s mit den Abenteuerromanen (AR) derselben Zeit: „Was die PR und ihre Helden beklemmt, bringt die A R und ihre Helden in Schwung. Genau diese umgekehrte Verarbeitung der gleichen Erfahrungen ist bemerkenswert." Der historische Rückblick lasse erkennen, „daß PR und A R , jenseits aller Absicht, komplementär zueinander stehen. [. . .] Während sich der eine zunehmend auf verinnerlichte Vergeblichkeitsgeflechte handlungsbehinderter Außenseiter verlegt, hält sich der andere an handfeste Aktionen von Übermenschen, die der Umwelt ihren Stempel aufdrücken" (S. 219f.). Die Verarbeitung derselben Probleme in der Hochliteratur mag eine Passage aus Heinrich Manns Novelle Der Vater (1917, später u. d. T . : Der Sohn) illustrieren: „Draußen scharf wachen, den Gegnern auf die Schliche kommen, seine Haut ihnen nicht lassen und lieber Riemen schneiden aus der ihren. Zu Hause dann gesicherter Friede, anständiges Menschentum, lauteres Wohlwollen von allen zu allen. Man wechselte

Trivialliteratur den R o c k , wusch sich - und sah, ein heiteres Z i m m e r betretend, in Gesichter voll G ü t e und Zutrauen, voll Erwartung, W u n s c h und D a n k . Sein eigenes G e s i c h t , diese beiden [Frau und K i n d ] sahen es nie anders. E r hielt darauf, es ihnen niemals so zeigen, wie es draußen ,im L e b e n ' w o h l aussehen k o n n t e . Sein Luxus und seine A r t von innerer E r h e b u n g war es, das Gesicht des Lebens vor diesen beruhigt und verklärt zu b e w a h r e n . " Allerdings greift T . dieses T h e m a nicht einfach auf, sie entwirft Handlungsabläufe, die die bei H . M a n n geschilderten Widersprüche fiktional ü b e r w i n den. M. W e g e n e r , Die Heimat u. die Dichtkunst, in: Gerhard Schmidt-Henkel u.a. (Hg.), Trivialliteratur. Aufsätze (1964) S. 53-62. H. P. P i w i t t , Atavismus u. Utopie d. ,ganzen Menschen'. Zum Wildwestroman. Ebda, S. 23-30. H. S c h w e r t e , Ganghofers Gesundung. E. Versuch über sendungsbewußte T., in: H. O. Burger (Hg.), Studien zur T. (1968; Studien z. Philosophie u. Lit. d. 19. Jh.s 1) S. 154-208. Michael K i e n z l e , Der Erfolgsroman. Zur Kritik s. poet. Ökonomie bei G. Freytag u. E. Marlitt (1975). Hans-Jörg N e u s c h ä f e r , Populärromane im 19. Jh. Von Dumas bis Zola (1976; U T B . 524). R. S c h e n d a , Sozialproblematischer Erwartungsraum u. Autorenlenkung. Der Rezeptionsprozeß d. ideologiekonformen ,populären' Romans. ZfVk. 72 (1976) S. 62-73. J. S c h u h e - S a s s e , Karl Mays AmerikaExotik u. dt. Wirklichkeit. Zur sozialpsychologischen Funktion vonT. im wilhelminischen Deutschland, in: Helmut Kreuzer (Hg.), Lit. für viele. Bd. 2 (1976; LiLi, Beih. 2), S. 123-145. Ders. u. R. W e r n e r , E. Marlitts ,1m Hause des Kommerzienrates'. Analyse e. Trivialromans in paradigmatischer Absicht. [Anhang zu:] E. M a r l i t t , Im Hause des Kommerzienrates (1977) S. 389-434. Volker K l o t z , Abenteuer-Romane. Sue, Dumas, Terry, Retcliffe, May, Verne (1979). Ludwig F i s c h e r , Die wiederholte Verwandlung d. Bürgers in d. natürlichen Menschen u. umgekehrt, in: A. Rucktäschel u. H. D. Zimmermann, T. (1976) S. 2 9 6 - 3 3 8 . § 8. T . d e r G e g e n w a r t . Als paradigmatisch soll hier die , H e f t c h e n l i t e r a t u r ' herausgegriffen werden. In der Bundesrepublik werden jährlich rund 370 Mill. Exemplare dieser Lit. auf den M a r k t geworfen. Allerdings scheint der prozentuale Anteil ihrer Leser rückläufig. „ I m J a h r e 1967 lasen 3 7 % aller Erwachsenen (ab 16 J a h r e n ) in der Bundesrepublik mehr oder minder regelmäßig H e f t r o m a n e . 1975 waren es nur noch 2 7 % " (P. N u s s e r , Zur Rezeption

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von Heftromanen, in: T., hg. v. A . Rucktäschel u. H . D . Z i m m e r m a n n , 1976, S. 61). D e r kommerzielle E r f o l g dieser Lit. wäre nicht erklärlich, würde sie nicht, im Sinne H o l z e r s , „ D i s s o n a n z e n kognitiver und/oder emotiver A r t bei einem Individuum, einer G r u p p e reduzieren oder k o m p e n s i e r e n " . W a r die T . des 19. J h . s durch den G e g e n s a t z von Tauschwertstandpunkt und Gemeinschaftssinn gekennzeichnet (das ,happy end' e l i m i n i e r t e den Tausch wertstandpunkt in der Regel), so harmonisiert die T . der Gegenwart Tauschwertstandpunkt und M e n s c h lichkeit' im ,happy end', in dem der H e l d nicht nur Geborgenheit in der Gemeinschaft findet, sondern auch seinen Tauschwert ( u . a . durch Geldbesitz) erhöht hat. D i e v e r i n n e r l i c h t e T a u s c h a b s t r a k t i o n beherrscht die gegenwärtige T . absolut. In der A u t o r e n - A n w e i s u n g eines T . - V e r l a g e s heißt es: „ E s wäre verkehrt, wenn etwa ein Erfolgsroman so enden würde, daß der S o h n eines reichen Vaters eine unbegüterte kleine Angestellte nur aus Liebe heiratet und auf den R e i c h t u m des Vaters verzichtet. M i t einer solchen Lösung würde das W u n s c h d e n k e n der Leserin gestört, denn sie weiß selbst, welch eine große Rolle das G e l d in ihrem eigenen L e b e n spielt, wie wichtig es ist, G e l d zu besitzen. Liebe allein ist für sie nicht alles." (zitiert nach W e r n s i n g / W u c h e r p f e n n i g , S. 12). E i n R e s t von nicht versöhntem .Bourgeois'-Standpunkt wird durch das Verhalten und das Aussehen von outgroup-Angehörigen versinnlicht (,eiskalte A u g e n ' , f r i e r e n der B l i c k ' ) . „ W ä h r e n d es den wahren Helden in ihrer Beziehung zur Heldin nur u m , L i e b e ' geht, suchen die Gegenspieler R e i c h t u m , Sex und K a r r i e r e " ( R u l o f f - H ä n y , S. 1 9 f . ) . N a c h Nussers B e o b a c h t u n g ( R o m a n e für die Unterschicht, S. 39) ist die im Frauenroman der Gegenwart porträtierte Liebe „besitzergreifend und vermischt Zärtlichkeit mit Egoismus und H e r r s c h a f t s a n s p r u c h " , sie habe einen „egoistischen G r u n d z u g " . D a r i n spiegelt sich die forcierte Harmonisierung eines die M e n s c h e n auf sich selbst zurückwerfenden T a u s c h w e r t standpunkts mit dem das Selbst übersteigenden Geborgenheitsverlangen: „ D u bist mein Glück, mein L e b e n . [. . .] W i r lieben uns, und doch fürchte ich um deinen B e s i t z . " (zit. bei N u s s e r , S. 39). I m Liebesroman geht es nicht, wie man meinen k ö n n t e , um Bestätigung konventioneller N o r m e n (wie z. B . Unantastbarkeit der E h e ) , sondern um Geborgenheit (ideologiege-

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schichtlich ein Derivat des ,Citoyen'-Aspektes), d. h. um die fiktive, kompensatorische Erfüllung eines Wunsches, dessen faktische Realisierung in kapitalist. Gesellschaften bedroht ist; es geht um die Akzeptierung einer Person um ihrer selbst willen (Gleiches gilt für die Normendarstellung anderer Genres). Ein zweiter Aspekt der modernen T. hängt mit jener Zurichtung der m e n s c h l i c h e n N a t u r durch die Entwicklung technologischer Vernunft zusammen, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung analysiert haben; danach ist die instrumenteile Vernunft als „Ratio des Kapitals" stets von den „Mächten der Auflösung" in menschlicher Natur, d. h. von Wünschen nach Entgrenzung, bedroht. Die menschliche Natur habe deshalb im Zuge der Wirtschaftsentwicklung verändert werden müssen: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart" {Dialektik der Aufklärung, 1968, S. 47). Kompensatorische Entlastung von den zivilisatorischen Zwängen instrumenteller Vernunft und konkurrenzorientierter Identität bietet T. vor allem mit ihren s e n t i m e n t a l e n G e n r e s an. Sozialgeschichtlich und -psychologisch konkretisiert, behalten in diesem Zusammenhang auch die Ergebnisse älterer T.-Forschung ihren Wert: „sinnliches Begehren und Edelmut vereinen sich zu einer lyrisierenden Stimmung, die den Leser gefangennimmt und der er sich gern und wohlig überläßt. [. . .] Man bewahrt keinen Abstand mehr wie bei der Aufnahme von Dichtung, sondern läßt sich gleichsam fallen, um nur noch passiv zu genießen - diese Schönheit, diese Sinnlichkeit, diesen Rausch" (D. Bayer, Falsche Innerlichkeit, S. 231). Wenn es in einem Roman heißt: „Ihre Blicke sanken ineinander [. . .] Er schloß sie in seine Arme und bedeckte ihren lechzenden Mund mit Küssen, die sie heiß erwiderte" (Muschler), so ist das nicht nur schwüle Erotik, sondern auch Identitätsaufhebung und Machtentlastung im Sinne Horkheimers und Adornos, die sozialgeschichtlich begriffen werden müssen, bevor T.-Forschung sie beurteilen kann.

Wernsing/Wucherpfennig haben die Wirkung der T. mit der der W e r b u n g und dem durch sie beeinflußten Kaufakt verglichen. Der kompensatorische Charakter von T. wird dadurch einsichtiger: die von der Werbung suggerierten Wünsche, deren reale Befriedigung auf den Kaufakt umgelenkt wird, sind „unbefriedigte Wünsche nach lustvollen zwischenmenschlichen Beziehungen [. . .], nach sexuellem Genuß, nach Harmonie und Geborgenheit oder nach Selbstbestätigung." (S. 90) Das Werbebeispiel, das Wernsing/Wucherpfennig analysieren, teilt in Text und Bild die Stimmungsqualität von T. Die Verbindung zwischen den beiden Medien ist aber noch enger: der .Tauschwert' gegenwärtiger T.-Helden wird durch den Besitz von Waren systematisch erhöht (vgl. Nusser, Zur Rezeption von Heftromanen, S. 72). Durch Einladung zur Identifikation mit Figuren, die ihre eigenen Geborgenheitswünsche auf Kaufakte umgeleitet haben, leistet T. eine ähnlich problematische Versöhnung von verinnerlichter Tauschabstraktion und Menschlichkeit, von Vereinzelung und Geborgenheit wie Werbung. Sie hilft, emotive Dissonanzen zu reduzieren, die die Leser von T. so lange bedrohen, so lange sie sich „als Warenbesitzer ihrer Tauschwerte vereinzelt gegenüberstehen". § 9. S o z i o l o g i s c h e A d ä q u a n z von T. und T . - L e s e r n . Über die Korrespondenz der Ideologie der Texte (bzw. der in ihnen nachweisbaren Wirkungsintentionen) und tatsächlichen Leserhaltungen gibt es keine empirischen Untersuchungen. Zwar wird immer wieder von der „Evidenz dieses Zusammenhangs" gesprochen, die „von den Ergebnissen der empirischen Kommunikationsforschung" bestätigt werde, die lit.wiss. T.-Forschung aber geht „hermeneutisch" vor (vgl. dazu Nusser, Zur Rezeption von Heftromanen, S. 62), d. h. sie bemüht sich „um den [generellen] Nachweis der Adäquanz ganz bestimmter, psychologisch und soziologisch erklärbarer Orientierungsmuster von Lesern und ganz bestimmter lit.wiss. beschreibbarer Merkmale der Heftromanliteratur" (S. 64). N u s s e r selbst hatte 1973 versucht, Homologien zwischen der ideologischen Struktur von Heftromanen und den empirisch erforschten Sozialbeziehungen und Orientierungsmustern sozialer Unterschichten nachzuweisen. Er ging dabei von der sog. F r u s t r a t i o n s - A g r e s s i o n s - T h e o r i e aus, die Ag-

Trivialliteratur gressivität zwar nicht generell, doch eine spezifische Form von ihr, die bei der Rezeption von T. eine Rolle zu spielen scheint, zu erklären unternimmt. Aggressivität dieser Art antwortet auf Frustrationen, d. h. sie „wird stets als eine Reaktion auf Durchkreuzungen ich-besetzter Ziele und Wünsche, auf unbefriedigte Bedürfnisse oder Bedrohungen der eigenen Sicherheit verstanden" (Romane für die Unterschicht, S. 84). Groschenhefte greifen nicht nur Frustrationen ihrer Leser auf und befriedigen sie scheinhaft, sie nehmen auch jene Aggressivität in Dienst, mit der Leser bereits in der Realität auf Frustrationen reagieren, und verstärken sie im lustvollen, fiktiven Ausleben gegen die von T. angebotenen personalen Ursachen frustrierender Zustände. Die Unsicherheit der Leser, die aus der Undurchschaubarkeit der Verhältnisse resultiert, ist dabei Voraussetzung für die reibungslose Akzeptierung der Sündenböcke. „Die Aggression entlädt sich gegen Ersatzobjekte (displacement), die eigentlichen oder wichtigsten Urheber der Frustration bleiben ungeschoren. Die Ersatzobjekte sind häufig gerade solche Figuren, die von ihren Voraussetzungen her den Herrschaftsapparat, dessen Gefangene die Leser sind, relativieren könnten: Intellektuelle, politisch Andersdenkende, Ungehorsame, Außenseiter usw." (S. 86). Damit setzt die Heftchenlit. eine Tradition fort, die für T. seit dem späten 18. Jh. gilt: gesellschaftliche Kräfte und Antagonismen werden „nicht nur zwischen Guten und Bösen ausgetragen, sondern auch in diesen begründet" (Albert Klein).

Nach Nusser kommen P e r s o n a l i s i e r u n gen von Konflikten der Vorstellungsweise von Unterschichtenangehörigen entgegen, „vor allem ihrem begrenzten Erfahrungshorizont, ihrer gehemmten Erkenntnismöglichkeit differenzierter struktureller Zusammenhänge und ihrer schwach ausgeprägten Neugierde, ihrem Bedürfnis nach Sicherheit" (S. 29). Nussers Ergebnisse sind von Wernsing und Wucherpfennig mit überzeugenden Gründen angezweifelt und z. T. widerlegt worden. Der Sinn der Personalisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit in T. liegt, wie Nusser 1976 selbst betont hat, „auch darin, über den Vorgang der Identifikation [vgl. dazu § 10] ganz bestimmte [. . .] Ideologiegehalte besonders wirksam zu introjizieren." (Zur Rezeption von Heftromanen, S. 69). In seinem Buch von 1973 bleibt Nusser jedoch bei der Erklärung allgemeiner Charakteristika von T. (wie Personalisierung, Typisierung, Polarisierung) aus der Arbeitssituation von Unterschichten stehen. Indem Wernsing und Wucherpfennig sich auf k o n k r e t e r e Sinn- und Wertorientierungen einlassen, (sie leiten u. a. folgende, in T. dominant

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auftretende Normen aus der Sozialgeschichte zunächst des Bürgertums, dann des Kleinbürgertums und aus empirisch-soziologischen Erhebungen zum Mittelstand ab: Sauberkeit, Ordnung, Selbstbeherrschung, Pflichterfüllung, Dankbarkeit, Sparsamkeit, Treue, Bescheidenheit) gelingt ihnen eine mehr oder weniger lückenlose Korrelierung ideologischer Strukturen zeitgenöss. T. mit der Angestelltenbzw. Mittelstandsmentalität. Der typische Held des A g e n t e n r o m a n s etwa sei nicht mehr der autonom agierende Held des Abenteuerromans des 19. Jh.s (s. Abenteuerroman), er sei nunmehr „zugleich Einzelkämpfer und Befehlsempfänger" (S. 59), seine Organisation „eine Expertenhierarchie", in der Entscheidungen akzeptiert werden, „weil sie ihnen von Fachleuten vorgeschrieben wurden" (S. 77). Der Glaube der Angestellten, in dieser Expertenhierarchie aufsteigen zu können, spiegelt sich im A b e n t e u e r h e f t unmittelbar wieder: „Denn die großen Bosse zeigten sich stets erkenntlich, wenn jemand ordentliche Arbeit leistete. Das wußte er", so in einem der Romane. Das daraus resultierende Konkurrenzbewußtsein der Abenteuerromane trägt sozialdarwinistische Züge; seine „Helden verwirklichen sich im Vernichtungskampf": „Ja, er liebte das Leben, schön und gewaltig in seiner Unerbittlichkeit. Dem Schwachen floß es dahin wie ein majestätischer Strom. Wer nicht schwimmen konnte, wenn es nötig war auch gegen die Strömung, gegen Stromschnellen und in Wirbeln, der war verloren. [. . .] Aber der freie, der starke, der harte Mensch, der war Herr des Lebens." (zit. nach Wernsing/Wucherpfennig, S. 55). Dadurch wird dem Leser nicht nur der Schein des .ganzen Menschen' als ästhet. Genuß angeboten, wie Wernsing und Wucherpfennig meinen. In dem Maße, in dem T. in ihrer neueren Geschichte affirmativer wird, wird sie auch sozialdarwinistischer und führt den versagten Erfolg auf vitale bzw. biologische Unzulänglichkeiten zurück (vgl. dazu K. Kocks u. K. Lange, Literar. Destruktion u. Konstruktion von Ideologie, in: J . SchulteSasse, Literar. Kitsch, 1979, S. 156-198). Dorothee Bayer, Der triviale Familien- u. Liebesroman im 20. Jh. (1963; Volksleben 1). Dies., Falsche Innerlichkeit, in: G. Schmidt-Henkel u. a. (Hg.), Trivialliteratur (1964) S. 2 1 8 - 2 4 3 . Peter Nusser, Romane für d. Unterschicht. Groschenhefte u. ihre Leser {1973; Texte Metzler 27). Ders.,

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Z«r Rezeption von Heftromanen, in: Annamaria Rucktäschel u. Hans Dieter Zimmermann (Hg.), Trivialliteratur (1976; UTB. 637). Arnim Volker W e r n s i n g u . Wolf W u c h e r p f e n n i g , Die „Groschenhefte". Individualität als Ware (1976). Franziska R u l o f f - H ä n y , Liebe u. Geld. Der moderne Trivialroman u. s. Struktur (1976; Zürcher Beitr. z. dt. Lit.- u. Geistesgesch. 45). Im übrigen vgl. die in § 1 erwähnte Bibliographie von Fetzer.

unabdingbare Voraussetzung jeder Ichbildung. Die ersten Identifizierungen (mit Mutter und Vater) führen zum Ausbau „einer besonderen Instanz" im Ich, die sich „als Uber-Ich dem Ich entgegen[zu]stellen" beginnt, „während das erstarkte Ich sich späterhin gegen solche Identifizierungseinflüsse resistenter verhalten mag" (S. 277).

§ 10. I d e n t i f i k a t i o n . In der Marktkalkulation von T.-Verlagen spielt der sog. „I-Wert" (Identifikationswert) eine Rolle. T . , deren Verkäuflichkeit geprüft werden soll, wird Testlesern vorgelegt, um zu erkunden, wie sehr diese sich mit dem T.-Helden zu identifizieren vermögen (vgl. Wolfgang R. Langenbucher, Der aktuelle Unterhaltungsroman, 1964, S. 97 u. 225ff.). O b die Voraussetzungen dieser Marktanalyse (wie auch der meisten Forschungsarbeiten zur T.) richtig sind, daß nämlich das fiktive Normensystem mittels Identifikation von realen Personen .verinnerlicht' und damit handlungsrelevant wird, könnte nur eine empirische Untersuchung beweisen, die es nicht gibt. In der T.-Forschung schwankt das Urteil über den vermuteten Effekt von Identifikationen. Christa Bürger warnt, es sei augenblicklich üblich, „die Gefahr solcher Identifikationsmechanismen herunterzuspielen" (Textanalyse als Ideologiekritik, S. 22). Wernsing und Wucherpfennig betonen mit Rekurs auf Freud, „auch und gerade die Lit., die den Leser zur Analyse seiner Lage anleiten will" komme „nicht aus ohne Leseridentifikation" (S. 95), sehen allerdings eine Gefahr in den von T. ausgelösten Identifikationsmechanismen: „Dem Helden, mit dem zusammen man sich seine Wünsche erfüllen zu können glaubte, folgt man unter das Joch zwingender Rollen, der glücklich liebenden Frau in die geschlechtsspezifische Eherolle, dem selbständigen freien Mann in den hierarchischen Befehlsapparat. Mittels Identifikation wird die scheinbare Wunscherfüllung zu einer Einübung in Unterwerfung" (S. 96).

F r e u d selbst wandte dieses Modell bereits auf die E n t s t e h u n g v o n L i t . an: der „erste epische Dichter" müsse sich entschlossen haben, „sich von der Masse loszulösen und sich in die Rolle des Vaters zu versetzen. [. . .] Wie der Vater das erste Ideal des Knaben gewesen war, so schuf jetzt der Dichter im Heros, der den Vater ersetzen will, das erste Ichideal. [. . .] Die Hörer aber verstehen den Dichter, sie können sich auf Grund der nämlichen sehnsüchtigen Beziehung zum Urvater mit dem Heros identifizieren" (S. 152f.). Er fand seine Überlegungen auch durch die P o p u l ä r r o m a n e der G e g e n w a r t bestätigt: „suchen wir uns für unsere Vergleichung nicht gerade jene Dichter aus, die von der Kritik am höchsten geschätzt werden, sondern die ansprüchsloseren Erzähler von Romanen, Novellen und Geschichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und Leserinnen finden. [. . .] sie alle haben einen Helden, der im Mittelpunkt des Interesses steht, für den der Dichter unsere Sympathie mit allen Mitteln zu gewinnen sucht, und den er wie mit einer besonderen Vorsehung zu beschützen scheint. [. . .] Ich meine aber, an diesem verräterischen Merkmal der Unverletzlichkeit [des fiktiven Helden] erkennt man ohne Mühe - Seine Majestät das Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane" (Bd. 7, S. 219f.).

Daß N o r m e n v e r m i t t l u n g durch Lit. stattfindet und über Identifikationen verläuft, dafür gibt die Psychoanalyse Hinweise. Freud nennt die Identifizierung die „früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person" (Gesammelte Werke. Bd. 13, London 1940, S. 115). Sie strebe danach, „das eigene Ich ähnlich zu gestalten wie das andere zum ,Vorbild' genommene" (S. 116), und sei

Eine Analyse und qualitative Einschätzung literar. Identifikationsmechanismen ist für T.Forschung gegenwärtig besonders wichtig. Die undialektische Polarisierung von rationalem Diskurs und emotionaler Manipulation, wie sie mitunter in ideologiekritischen Arbeiten zur T. begegnet, wird der Wirkungsweise von Lit. ganz generell nicht gerecht. Die O p p o s i t i o n von i d e n t i f i k a t o r i s c h e r und reflexiver Lektüre, die weitgehend mit der von T. und ,hoher' Literatur gleichgesetzt wird, ist eine historisch-relative und das Ergebnis sozialgeschichtlicher Konstellationen der letzten zwei Jh.e (vgl. § 4). Sie gilt zudem auch für die ,hohe' Literatur dieser Zeit, selbst für Autoren wie Brecht, nur relativ (vgl. Wernsing/Wucherpfennig, S. 95 f.). Nach Freud geht der „eigentliche Genuß des Dichtwerks aus der Befreiung von Spannungen in unserer Seele" hervor (Bd. 7, S. 223), eine Entlastung, die Voraussetzung für herrschaftsfreie Kommunikation zu

Trivialliteratur sein vermag. Auch T. verliert dieses Moment nicht. Die „Funktion der Bipolarität der durch die Romanfiguren vertretenen Positionen" eröffnet dem Leser u. a. „auch die Möglichkeit, unterdrückte oder verdrängte .unsoziale Strebungen' projektiv in negativ gezeichnete Figuren hineinfließen zu lassen und trägt so zu seiner affektiven Entlastung bei" (Nusser, Romane für die Unterschicht, S. 31). Hinzu tritt die E n t l a s t u n g , die Identifikation an sich zu leisten vermag (sie ist u.a. ein kathartischer Affekt). Identifikation nur als manipulatives Mittel zur Einübung in (herrschaftskonforme) Normen zu sehen, unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Qualitäten von Identifikation. Identifikation an sich (ihre „transzendentale" Form) ist Entlastung von Identitäts- und Herrschaftszwang. Nach Freud muß jeder Erzähler eine „Uberwindung jener Abstoßung" zwischen Individuen erreichen, „die gewiß mit den Schranken zu tun hat, welche sich zwischen jedem einzelnen Ich und den anderen erheben" (Bd. 7, S. 223). Sie richtet sich damit gegen die Zurichtung der menschlichen Natur durch die „Ratio des Kapitals" (Horkheimer u. Adorno, vgl. § 6). Ihre gelegentliche Aktivierung ist schließlich auch triebökonomisch notwendig; denn sie wurde ursprünglich „auf regressivem Wege zum Ersatz für eine libidinöse Objektbindung" an die Mutter (Freud Bd. 13, S. 121). Das aber heißt, daß die einst durch Objektbindung abgesättigten Triebe nunmehr durch Identifikation zur Abfuhr gebracht bzw. durch sie gebunden werden und damit im Alltag nicht hemmend wirken. Auch dies eine Voraussetzung für herrschaftsfreie Kommunikation. § 11. Der „ k o m m u n i k a t i v e G e b r a u c h s w e r t " von T. Ebenso wie die ästhet. Identifikation eine positiv-negative Doppelfunktion hat (wobei in der herrschenden Kulturindustrie der negative Aspekt faktisch überwiegt), hat T. als „Botschaft" (was keine logozentrische Reduktion auf plane Bedeutung meint; vgl. dazu Kocks/Lange, a.a.O. [§ 7], S. 159ff.), aller möglichen Ideologiekritik zum Trotz, immer schon einé positive Funktion. Das hängt ganz allgemein damit zusammen, daß der für den Verleger primäre Tauschwert der T. nur dann realisierbar ist, wenn die Ware auf ein wie immer geartetes Bedürfnis antwortet.

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Zwar hat sich J. Bark 1972 mit Recht gegen die Vorstellung gewandt, „daß T. auf konstante Bedürfnisse bestimmter Lesergruppen antworte" (T .-Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion, in: Sprache im techn. Zeitalter, H. 41, 1972, S. 54); auch trifft seine Formel vom durch Produktion „produzierten Leser" Richtiges (vgl. S. 59f.), doch darf dabei die Dialektik von Bedürfnisbefriedigung und Bedürfnisproduktion, von Positivität und Negativität nicht verschüttet werden: „Die Massen werden manipuliert in Verfolgung ihres Interesses. Manipulative Phänomene sprechen daher immer noch die Sprache wirklicher Interessen, wenn auch gleichsam als Fremdsprache der bis zur Unkenntlichkeit verzerrten und entfremdeten Interessen" (W. F. Haug, Zur Ästhetik von Manipulation, in: Das Argument 5, 1963, Nr. 25, S. 25). Zu den positiven Momenten der T. zählt es, v,Dissonanzen kognitiver und/oder emotiver Art" zu reduzieren. Der Wunsch der Leser nach Verständnis von Welt, nach Sinn- und Wertorientierungen, „ihr Verlangen, bei allen Unsicherheiten und Ängsten doch auf der , richtigen Seite' zu stehen und sich auch politisch und ideologisch geborgen zu fühlen" (Nusser, Zur Rezeption von Heftromanen, S. 72), ist nicht nur negativ zu bewerten. Seine Bedienung ist für das seelische Gleichgewicht des Lesers wichtig (vgl. dazu Günter Waldmann, Kommunikationsästhetik Bd. 1, 1976, S. 232). Forschungsgeschichtlich hat bisher eine undialektische Isolation der beiden Aspekte (und damit eine absolut positive oder ebenso negative Einschätzung der T.) vorgeherrscht: „Setzt die strukturell-funktionale Forschung den individuellen Aspekt der Bedürfniserfüllung absolut, so negieren ideologiekritische Arbeiten diesen Zusammenhang und erliegen dabei in vielen Fällen der naheliegenden Versuchung, unter anderen Vorzeichen ,das ehedem ästhetische Autodafé' [A. Klein] über T. erneut zu veranstalten" (Günther Fetzer, Wertungsprobleme in der T.forschung, 1980, S. 127). § 12. I d e o l o g i e k r i t i k und die K a t e g o rie der A f f i r m a t i o n . Ideologiekritik in der Lit.wiss. greift in der Regel auf den Ideologiebegriff der religionskrit. Schriften des frühen Marx zurück. Für Marx ist Ideologie „der Geist als Rechtfertigungszusammenhang einer

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Gesellschaft, die dieser Rechtfertigung bedarf, in dieser Rechtfertigung jedoch notwendig ihre eigene Wahrheit verfehlt, wenn sie ihre Faktizitäten (tatsächlichen Gegebenheiten) unbefragt als N o r m und Erfüllung legitimiert" ( H . J .

Lieber, Ideologie,

in: Staat u. Politik. Hg. v. E.

Fraenkel u. K . D . Bracher. 1971, FischerLexikon. 2 , S. 1 3 6 - 1 4 0 ) . Wenn Marx Ideologie als gesellschaftlich notwendiges falsches Bewußtsein faßt, so meint er damit keinen „naturgesetzlichen Zwang zum falschen Bewußtsein, sondern eine objektive Nötigung, die von der Organisation der Gesellschaft selbst ausgeht" und letztlich „auf den Widerstreit zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zurückverweist" ( H . Schnädelbach, Was ist

Ideologie?

Versuch einer Begriffserklärung,

in:

Das Argument. H . 50, 1969, S. 83 f.). Ideologiekritik in der T . - F o r s c h u n g stößt, wenn sie sich zu eng an den Marxschen Ideologiebegriff anschließt, auf Schwierigkeiten. Diese resultieren daraus, daß Marx die gesellschaftskrit. und aufklärende Funktion des Ideologiebegriffs beschnitt und der öffentlichen Diskussion von Ideologie keine gesellschaftskritische, verändernde Kraft mehr zuschrieb. Der Begriff war für ihn „Instrument der Selbstverständigung einer revolutionären G r u p p e " , nicht auch Instrument öffentlich zu verhandelnder und zu überwindender Verkürzungen des Geistes. Als lit.wiss. T u n ist Ideologiekritik jedoch „nur sinnvoll, wenn sie auf das Interesse der Theorie an der Veränderung der gesellschaftlichen Struktur, an einer Aufhebung der ,blinden Widersprüche' (Adorno) gesellschaftlicher Wirklichkeit, bezogen bleibt" (Albert Klein u. Heinz Hecker, Trivialliteratur, 1977, S. 73). Ideologiekritik der T . greift an dieser Stelle, aus Gründen der Legitimation des eigenen Tuns, auf die krit. Theorie der Frankfurter Schule, speziell auf H a b e r m a s zurück, der das Erbe der Aufklärung (Ideologie als etwas durch Aufklärung grundsätzlich zu Überwindendes) mit der materialist. Einsicht in die sozialen Bedingtheiten von Ideologien zu vermitteln sucht. Widersprüche der Gesellschaft können nach Habermas durch Nachweis und Kritik bewußt gemacht und überwunden werden. Emanzipation ist für ihn „durch krit. Einsicht in Gewaltverhältnisse" zu sichern, „deren Objektivität allein daher rührt, daß sie nicht durchschaut sind" (Theorie u. Praxis, 1963, S. 231); er vertraut darauf, „daß die Information über Gesetzes-

zusammenhänge im Bewußtsein des Betroffenen selber einen Vorgang der Reflexion ausl ö s t " , durch den „die Stufe unreflektierten Bewußtseins, die zu den Ausgangsbedingungen solcher Gesetze gehört, verändert werden" könne ( T e c h n i k u. Wissenschaft als ,Ideologie', 4. Aufl., 1970, S. 158f.) Erst wenn diese Voraussetzung akzeptiert ist, gilt: „ D i e Auseinandersetzung mit T . als gesellschaftl. Phänomen läßt das Wesen und die Mechanismen gesellschaftl. Wirklichkeit in nicht herrschaftsfreier Gesellschaft aufdecken und kann die ,Dogmatik der Lebenspraxis' (J. Habermas) erschüttern" (Klein/Hecker, S. 57). Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich aus der ,Verhüllung' von Ideologie in Literatur. Denn Geist als Ideologie drückt sich in ihr nicht direkt (begrifflich) aus: „Auch triviale Texte haben [. . .] in literaturtheoretischer Sicht G e bildecharakter [. . .], so daß Ideologiekritik eher an Strukturen und Formen, Techniken und Gattungen als nur an blanken Inhaltsmomenten anzusetzen hätte" (Fetzer, S. 70). Diesem „Gebildecharakter" wird besonders die Analyse von Figuren, Figurenkonstellationen und Handlungsstrukturen gerecht: Die einzelne Figur setzt sich semantisch aus einem Bündel ideologischer Merkmale zusammen, die sie als Träger von Ideologie konstituieren. D o c h zerschlägt die interpretatorische Isolation von Ideologemen die Anschaulichkeit figuraler Strukturen. Diese Anschaulichkeit ist - auch semantisch - immer mehr als die Summe ihrer ideologischen Merkmale; die Figuren eines Werks stehen außerdem nicht unverbunden nebeneinander, d . h . die semantische Wertigkeit literar. Figuren resultiert auch aus „ihrer Beziehung zur semantischen Anlage der anderen Figuren; die einzelne Figur ist nur auf dem Hintergrund ihrer Differenz zu den übrigen existent. Das Beziehungsgeflecht der Figuren bildet die Konfiguration eines T e x t e s " (Kocks/Lange, S. 174). Identifikation (vgl. § 8) findet u . a . auch mit ideologischen Merkmalen von Figuren statt. In bezug auf diese Art von Identifikation ist Ideologiekritik gerechtfertigt, nachdem der ideologische Gehalt der Einzelmerkmale im Rahmen einer gegebenen Gesellschaft diskutiert und nachgewiesen worden ist. Identifikation wird in diesem Falle zum Mittel ideologischer Indoktrination. Ideologiekritik, die sich generell gegen Identifikation wendet, müßte sich gegen das Wesen von Identifikation

Trivialliteratur richten. Das aber entzieht sich ihrer Aufgabe per definitionem, da Ideologie immer nur den geistigen Rechtfertigungszusammenhang einer Gesellschaft meinen kann. Da Lit. nicht logozentrisch zum Träger von „Botschaften" reduziert werden kann, betreibt Ideologiekritik immer auch Destruktion von Anschaulichkeit, bevor sie greifen kann. Die plane Formulierung eines Ideologems ist qualitativ etwas anderes als die Repräsentation dieses Ideologems als Verhaltensweise (vgl. hierzu neben den in § 7 genannten Arbeiten von Kocks/Lange u. Schulte-Sasse/Werner: J . Link, Von „Kabale u. Liebe" zur „Love Story" - zur Evolutionsgesetzlichkeit e. bürgerlichen Geschichtentyps, in: J . Schulte-Sasse [Hg.], Uterar. Kitsch, 1979, S. 121-155). BehältT.-Forschung dieseDif f e r e n z q u a l i tät im Auge, so ist es durchaus legitim, einzelne Figurenmerkmale auf dem Hintergrund sowohl des Textes (seiner Konfiguration) als auch der Zeit (ihrer Ideologie) ideologiekritisch zu analysieren. Wenn positiven Männergestalten in Frauenromanen folgende Merkmale zugeschrieben werden: „markantes Männergesicht", „starker Männerarm", „stahlgraue Männeraugen", „herrischer Mund", „eine zwingende Macht ging von seinem durchdringenden Blick aus, ein harter stummer Befehl, gegen den es kein Auflehnen mehr gab" (alle Zitate nach Ruloff-Häny, S. 18f.), so sind solche Merkmale sowohl im Hinblick auf die ideologische Geschlossenheit des Textes als auch auf gesellschaftl. Widersprüche zu diskutieren. In ihnen wird der Widerspruch von Geborgenheitssehnsucht sichtbar, nämlich einerseits ein menschliches Bedürfnis zu sein, dessen Befriedigung durch die Verinnerlichung des Tauschwertstandpunkts und durch die technologisch-instrumentelle Zurichtung unserer Natur bedroht ist, andererseits jedoch Fluchtreflex zu sein, der aus der Undurchschaubarkeit der Verhältnisse resultiert und zur irrationalen (und nicht nur für den Frauenroman typischen) Anerkennung von Führergestalten führt (vgl. dazu die Ergebnisse von 'Neuschäfer, S. 52f., der zeigt, wie die Handlungsautonomie trivialer Helden die- positiven Möglichkeiten des Liberalismus „im autoritären Protektionismus" aufhebt). Marx hatte in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie geschrieben: „Das religiöse Elend [Religion war für Marx die prototypische Form von Ideologie] ist in

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einem der 'Ausdruck' des wirklichen Elendes und in einem die 'Protestaktion' gegen das wirkliche Elend" (Marx/Engels, Werke. Bd. 1, 1961, S. 378). Im Zuge der Anlehnung ideologiekrit. T.-Forschung an Adornos Analyse spätkapitalist. Kulturindustrie ist das Wahrheitsmoment an T. der Gegenwart wiederholt abgestritten worden: „Charakteristisch für das ideologische System der T. ist es - und hierin unterscheidet dieses sich von dem der Religion, das Marx beschrieben hat - , daß das Moment des Protestes vollständig eliminiert ist." (Christa Bürger, S. 26) Eine solche Einschätzung deckt sich mit Adornos pessimistischfatalistischer Sicht des Reformpotentials spätkapitalistischer Gesellschaften, die für ihn durch eine „zunehmende Integrationstendenz des kapitalist. Systems" gekennzeichnet sind und „dessen Momente zu einem stets vollständigeren Funktionszusammenhang sich verschlingen" (Negative Dialektik, 1970, S. 166). Im Zusammenhang derartiger Gedankengänge ist die These entwickelt worden, die Funktion von T. erschöpfe sich in der A f f i r m a t i o n herrschender Zustände. Doch vermag die Kategorie der Affirmation der Dialektik von Bedürfnisbefriedigung, -Verfälschung und -modellierung nicht .gerecht zu werden: „Soll der Konsum dieser Ware nicht stagnieren, müssen die , Widersprüche' der Rezipienten - die aufgrund der Verhältnisse gar nicht ganz eingeebnet werden können - gerade am Leben gehalten werden, aber als solchermaßen bearbeitete, daß ihre Ursachen nicht bewußt werden und ihre Umleitung auf das Konsumbedürfnis zu bewerkstelligen ist" (L. Fischer, Die wiederholte Verwandlung des Bürgers in den natürlichen Menschen u. umgekehrt. In: A. Rucktäschel u. H. D. Zimmermann, Trivialliteratur, 1976, S. 236). Erschöpfte sich T. tatsächlich in Affirmation, könnte sie kaum das leisten, was nach Holzer alle massenmedialen Angebote zu leisten haben, wollen sie erfolgreich sein: „Dissonanzen kognitiver und/oder emotiver Art" angesichts gesellschaftlicher Widersprüche für den Einzelnen oder für Gruppen zu reduzieren oder zu kompensieren. § 13. T. und literar. Wertung. Für Jörg S c h ö n e r t ist T. eine wissenschaftlich unergiebige, wertende Klassifizierung, die jeweils „von sozial dominanten Gruppen zur Wahrung ihrer kulturellen Interessen in bestimmten historischen Situationen getroffen und

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Trivialliteratur

durchgesetzt" wird {Literar. Wertung u. T.Forschung, S. 349). Sinnvoll sei dagegen eine sozialgeschichtlich orientierte Geschmacksgeschichte (vgl. §§ 3 u. 5). Den Aufgabenbereich literar. Wertung grenzt er davon folgendermaßen ab: „Im Gegensatz zu antithetischen Wertungsentscheidungen im Sinne von trivial, die sich auf den Gesamtbereich [. . .] von Lit. beziehen [. . .], hat literar. Wertung als wissenschaftlich reflektierter Umgang mit Texten den Anspruch, die Texte ,als solche' zu bewerten, das heißt, die Werturteile am analytisch zu ermittelnden ,Sinn', an den Intentionen des Textes oder an seinen historischen, wirkungsgeschichtlichen und aktuellen Funktionen festzumachen" (S. 349). Ziel einer solchermaßen verstandenen literar. Wertung ist die „Rangordnung von Texten innerhalb des Gesamtbereiches poetischer T e x t e " (S. 350). An Schönerts Ansatz ist für zukünftige Forschung zweierlei festzuhalten: 1. sollte es in der Tat obsolet sein, wissenschaftl. Energie „zur Legitimation kultureller Praxis" einer sozialen Gruppe einzusetzen (jede ahistorischsystematische Definitionsbemühung um T . scheint dieses Ziel zu haben), 2. sollte sich eine Historisierung des T.-Begriffs endgültig durchgesetzt haben. In anderen Punkten sind an der Fruchtbarkeit von Schönens Abgrenzungen jedoch Zweifel angebracht. Wenn „literar. Wertung" auf die Suche nach einer Rangordnung von Texten eingeschränkt wird, so verändert das 1. die bisherige Gegenstandsfestsetzung und führt 2. eine Beschäftigung ein, deren wissenschaftlicher Wert begrenzt ist. Welchen Erkenntnisgewinn soll eine penible Rangordnung, sofern sie sich überhaupt aufstellen läßt, bringen? Die Bezeichnung T . ist immer dort sinnvoll, wo sie sich auf ein historisch-konkretes T e x t k o r p u s bezieht, dessen analytisch ermittelte F u n k t i o n mit Bezug auf seinen W i r k u n g s kontext rational diskutiert wird (vgl. § 3). Ein derartiger Ansatz führt zu h i s t o r i s c h - k o n k r e t e n Wertungen, z. B . von konservativantikapitalist.T. in der 2. H . des 19. Jh.s und nicht von T. an s i c h . „ D a jedoch Wertungen wissenschaftlich nur insofern relevant sind, als sie sich - kraft welcher Mechanismen auch immer - intersubjektive Geltung verschafft haben oder Anspruch darauf erheben" (Fetzer, S. 120), müssen die den analytisch zu ermittelnden Sinn übersteigenden Teile des Werturteils stets aufs neue einer rationalen und nach inter-

subjektiver Anerkennung strebenden Diskussion unterworfen werden. Der partiell ahistorische Anspruch, den ein Werturteil zu haben scheint, das 1. die Reduktion von Herrschaft, sozialen Zwängen usf. für positiv hält, 2. Lit. auf ihren Anteil an der Aufrechterhaltung oder Befreiung von Zwängen prüfen will und daraus 3. z . B . den Schluß zieht, den negativen Anteil kleinbürgerlicher T . des späten 19. Jh.s an der Verhinderung von Emanzipation dieser Klasse wie an der Entwicklung zivilisationsfeindlicher, schließlich faschistischer Ideologien zu brandmarken, wird durch eine nicht aufzuhebende, immer neu nachzukommende Verpflichtung zu rationaler Legitimation dynamisiert und historisiert. Die historisch-hermeneutischen Wissenschaften erschließen nach J . H a b e r m a s „die Wirklichkeit unter dem leitenden Interesse an der Erhaltung und der Erweiterung der Intersubjektivität möglicher handlungsorientierender Verständigung", ohne die eine Kultur allenfalls unter aufgezwungenen Gewaltverhältnissen existieren kann (Technik u. Wissenschaft als ,Ideologie4. Aufl., 1970, S. 158). Interpretationen von Texten sollen „eine Orientierung des Handelns unter gemeinsamen Traditionen ermöglichen" (S. 162). Gegenwärtige Kultur neigt dazu, „die Lebenspraxis ausschließlich in den Funktionskreis instrumentalen Handelns" zu entrücken, d . h . Sinn- und Wertorientierungen nicht öffentlich zu diskutieren, sondern dem „Fachmann" zu überlassen: „Die Dimension, in der die handelnden Subjekte über Ziele und Zwecke sich rational verständigen könnten, wird so der Finsternis der bloßen Dezision zwischen verdinglichten Wertordnungen und uneinsichtigen Glaubensmächten überantwortet" (S. 166). T.-Forschung gewinnt hier eine k r i t i s c h e und ö f f e n t l i c h e Funktion. Im Zwang zur Wertungsreflexion rettet sie etwas an öffentlicher Verhandlung von handlungsrelevanten Normen. In der histor. Aufarbeitung von T . untersucht sie u . a . , wie T . historisch gewirkt und Kommunikation deformiert hat, wie das Verhältnis von Herrschaft und Lit. beschaffen und inwiefern Lit. ein „Mittel der Steuerung und Unterdrückung von Bewußtsein" ist, wie Lit. als ,kritische Potenz' wirken könnte und wie diese in T . 'degeneriert' (vgl. dazu Klein/ Hecker, S. 60). Sie trägt als histor. Wissenschaft zu einem kritisch reflektierten Traditionsbewußtsein bei und wendet ihre Erkennt-

Trivialliteratur nisse auf die Massenkommunikation der Gegenwart an. Jochen S c h u h e - S a s s e , Literar. Wertung (2. Aufl. 1976; Samml. Metzler 98). G. F e t z e r u. J. S c h ö n e r t , Zur T.forschung 1964-1976 [s. § 3], J. S c h ö n e r t , Literar. Wertung u. T.forschung.

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Krit. Bemerkungen u. systematische Überlegungen zur 2. Auflage von Jochen Schulte-Sasses ,Literarischer Wertung'. Sprachkunst 9 (1978), S. 340-356. Jochen Schulte-Sasse

u und Kommunikationsformen mit den meisten Wirklichkeitsbereichen aufgenommen hat. § 1. I n t e r k u l t u r e l l e r und i n t e r t e x t u - Daher darf die Ü. nicht nur lit.wiss. oder gar eller Austausch. nur lit.historisch behandelt werden. 1.2. Historisch gesehen hat die Ü. zeitweise 1.1. Montaigne stellt in seinem Essai 111,13 alle möglichen, später als selbständig angefest: „Es gibt mehr Bücher über Bücher als sehenen Textsorten in sich gebunden. Aus der über andere Gegenstände: Wir kommentieren Vielzahl seien nur einige herausgegriffen: uns nur noch wechselseitig." Auch die Ü. ist in Adaptation, Anmerkung, Auslegung . . ^Illudiesem Sinne Meta-Literatur; sie ist Antwort stration, Imitation, Interpretation . . ., Paraauf Lit. wie eine Interpretation oder eben Dichtung über Dichtung (Holmes 1970). Sie phrase, Pastiche, Plagiat . . ., Zusammenfassung. Insgesamt ist festzustellen, daß am Anist manifest aktive Rezeption und verarbeitet fang einer literar. Entwicklung die Unterscheidas Original auf spezifische Weise (Durisin dung zwischen reproduktiver und originaler 1972, Wienold, Popovic 1976). In den Definitionsversuchen ist man sich einig, daß Sinn und Textproduktion kaum zu vollziehen ist (van Gorp 1978, Levy 1969). Viele Texte, die sich Bedeutung des Originals als Teil der Ausgangs„Ubersetzung" nannten, wären in dem engen kultur und -literatur für den neuen Kontext heutigen Verständnis ganz anders zu bezeich(Zielkultur, -literatur und -spräche) erhalten bleiben müssen. Was jedoch damit gemeint ist, . nen - viele andere, die als „Original" rezipiert wurden, sind U.en. Die U. muß sowohl in der unterliegt extremen Schwankungen (s.u. 1.2. histor. Vielfalt der Formen des Kulturkontakund §§ 2 und 3). tes betrachtet werden wie auch in der Weite Die U. hat als das wichtigste Mittel des Kulihrer Problematik, die erst dann sichtbar wird, turkontaktes in den letzten Jahrzehnten einen wenn man die eurozentrische Ausrichtung verungeheuren Umfang angenommen: der Anteil läßt. Dazu gehört es, daß man die unstatthafte der U.en an der internationalen BuchprodukReduktion auf Sprachprobleme aufgibt. Will tion ist gewachsen, mehr Sprachen sind Ausman den Begriff Sprache nicht überdehnen, so gangs- und Zielpunkt von U.en, mehr Textmuß man verschiedene Dimensionen des Uberformen werden integriert: die Bibliographien setzens unterscheiden. Wenn G. Grass in seizur U., die allgemeinen und speziellen Zeitnem Butt die Zeitangabe macht: „Gegen Ende schriften sowie die Widerspiegelung der Konder Jungsteinzeit, [. . .] rund zweitausend gresse in Sammelpublikationen zeigen die internationale Einheit des Interesses und der Jahre vor der Fleischwerdung des Herrn, als das Rohe und Gekochte in Mythen geschieden verschiedenen Ansätze (s.u. 1.1. u. 2.). Entwurde", dann müßte für einen afrikanischen sprechend hat die Reflexion die Bereiche Kulturbereich erst der kulturelle Anspielungsder alten Philologien längst überschritten: gehalt rekonstruiert werden; die sprachlichen Linguistik, Ethnologie, Kultursemiotik und Entsprechungen i . E . würden sich daraus erst andere humanwissenschaftl. Disziplinen traergeben. Daher sind die qualitativ zu untergen zur Entwicklung einer U.swissenschaft bei scheidenden U.sleistungen erst einmal allge(Mounin 1963, Nida 1964, Holmes 1975). Die mein im Hinblick auf fünf Dimensionen zu literar. U., von der allein hier die Rede sein trennen, die natürlich in der konkreten Übersoll, ist nur eine Form des Dolmetschens und setzung wieder eins werden. Übersetzens (Koller 1979). Auch wenn man sie gemäß dem Sonderstatus der „schönen 1.) Es kann in einer Kultur oder zwischen Literatur" im Europa der Moderne aussondert, zwei (mehr oder weniger weit entfernten) beinhaltet sie doch auch die meisten außerliteKulturen übersetzt werden. Auf einer Skala rar. Ü.sprobleme, weil diese Lit. alle Textkann man sich die relativ intrakulturelle U.

Übersetzung

Übersetzung eines franz.-schweizer Textes in eine ital.schweizer Form auf dem einen Pol und von altchines. Lit. ins Deutsche als interkulturelle Leistung im anderen Extrem vorstellen. Das Maß der Ferne liegt nicht ein für allemal fest, denn durch vielfältige Kulturvermittlung wird das fremde System mehr und mehr in das eigene integriert. So wird das griech. Erbe Teil der lat. Kultur. Diese ist wiederum in verschiedenem Maße bildend für die mitteleuropäische (z.B. italienische) oder die osteuropäische Kultur (z.B. die polnische). So vermittelt sich das Griechische über Byzanz durch die altbulgarischen (-kirchenslavischen) U.en ins Bulgarische, Serbokroatische, Russische. So wird der span. und portugies. Einfluß in Lateinamerika im 19. Jh. durch franz. U.en und im 20. Jh. durch amerikan. Einfluß überlagert. Die Geschichte der Bibelübersetzung (s.d.) zeigt besonders deutlich, daß am Anfang eines Kontaktes sogar Entsprechungen für Dinge, vorstellbare Orte, Verarbeitung von Zeit, elementare gesellschaftliche Institutionen gefunden werden müssen. Dies gilt historisch für die ersten Bibelübersetzungen in unsere mitteleuropäischen Sprachen wie im 20. Jh. für U.en beispielsweise in die afrikan. Verkehrssprache Swaheli (Nida 1964, Nida & Taber 1969, Dammann 1972, Traduzione 1973). 2.) Aus dieser Unterscheidung zwischen intra- und interkultureller Übersetzung ist eine zweite herauszulösen und zwar danach, ob etwas mit dem gleichen oder mit einem anderen Zeichensystem wiedergegeben werden muß. Ein Gebäude, das im Original eine bestimmte Form von Reichtum und Selbstverständnis konnotiert, findet gegebenenfalls in einer anderen Kultur Entsprechung in einer bestimmten Form des Sichkleidens. Der „Inhalt" kann nicht intra-, er muß intersemiotisch übersetzt werden. Auch wenn die Sprache hier das Vehikel ist, zeigt nicht nur der Film als Medium anschaulich, daß oftmals auch ohne die Sprache semiotische Systeme ersetzt werden müssen: Fernöstliches, wortloses gestisches Grüßen findet in Mitteleuropa leichter sprachlich eine Entsprechung. Dasselbe kann für viele, mit dem alltäglichen Gebrauch verbundene zeichenhafte Dinge - Tische, Betten, Wände - , Tätigkeiten wie Gehen, Blicken, Essen und vor allem Institutionen gelten. Es kann von größter Bedeutung sein, das Herz als den Sitz des Lebens zu übersetzen in das Organ oder den Körperteil, der dort die ent-

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sprechende Funktion hat: Bauch, Leber oder Kehle (Levy 1969 , 73). Metaphern- und Symbolfelder sind solche kulturspezifischen Formen des Wirklichkeitsentwurfes, die sich verschiedener semiotischer Systeme bedienen können. 3.) Definiert man Ü. als Übertragung eines Inhaltes von einer Sprache in eine andere, so verkennt man leicht, daß auch innerhalb des einen komplexen Systems von Systemen wie der dt. Sprache übersetzt wird: zwischen Dialekten, zwischen Funktionssprachen, zwischen historischen, sozialen oder stilist. Varianten. Diese intralingualen U.en sind oftmals schwieriger als die interlinguale Ü. eines technischen Textes vom Holländischen ins Deutsche. Interlingual muß weiterhin unterschieden werden, ob zwischen nahe verwandten Sprachen wie den skandinavischen oder nur zwischen großen Sprachfamilien (romanische, germanische, slavische . . . Sprachen) oder gar zwischen inner- und außereuropäischen Sprachen übersetzt wird. 4.) Die bislang skizzierten Dimensionen des Ü.sproblems werden durch zwei weitere ergänzt, wenn wir die histor. Distanz von Ausgangs- und Zieltext, sowie weiterhin auch die Stellung der jeweiligen Adressatengruppen in ihrer Gesellschaft betrachten. Ist der U.sweg zwischen einem mhd. lyrischen Text und seiner heutigen dt. Entsprechung nicht weiter als der eines Gedichtes von Prevert zu uns? Weil U.en in der Renaissance Italiens meist nicht für die obere Bildungsschicht angefertigt wurden, die ohnehin mehrsprachig war, kann die Ü. der Bibel oder die von klassischer oder wissenschaftl. Lit. für solche Zeiten nur als „Vulgarisierung" verstanden werden (Folena 1973). 5.) Was U. jeweils bedeutet, ist nicht nur abhängig von dem Ausmaß des zu Ubersetzenden im Sinn der bislang skizzierten vier Dimensionen, sondern auch vom Platz, den die Ü . im jeweiligen literar. „Polysystem" einnimmt. Die nach Tynjanov von Even-Zohar (1978, 1980) entwickelte Konzeption besagt, daß Lit. als System von Systemen zu betrachten ist, deren eines die übersetzte Lit. ist (s. u. 2.2 und 3.2.). Die U . kann den Rang einer untergeordneten Stütze, einer philologischen Leistung oder eines originalen Werkes haben. Entsprechend wird das Ubersetzen als Broterwerb, als Zeitvertreib, Handwerk, Wissenschaft oder Kunst angesehen (Italiaander 1965,

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Ubersetzung

Mounin 1967, Savory 1957, Broeck 1972 u.a. einf. Werke). Eine einzelne Ubersetzung kann epochal einen neuen Kulturraum eröffnen, sie kann nur kleiner, aber wichtiger Knotenpunkt im eigenen Netz kultureller Beziehungen sein. Sie kann Kultur erwecken oder zerstören, wie man dies in vielen Ländern der Dritten Welt beobachten kann. 1.1. Bibliographien: Karl-Richard Bausch, Joseph Klegraf u. Wolfram Wilss, The Science of Translation. An Analytical Bibliography. 2 Vol. (1970-1972; Tübinger Beitr. z. Linguistik. 21.33). Henry van Hoof, Internationale Bibliographie d. Ü. (1973; Handb. d. intern. Dokumentation u. Information 11). Vgl. Brower 1959, S. 271-297 (1.2.), Holmes u.a. (Hg.) 1978 (1.2.), Kloepfer 1968 (1.2.), Nida 1964 (1.2.) sowie die laufenden Bibliographien Index translationum (Paris 1932 ff.), Chartotheca translationum alphabetica (1956ff.) sowie in Babel. Revue internationale de la Traduction. (Budapest), Le Bulletin signalétique du CNRS (Paris), Masterstvo perevoda (Moskau) und M LA International Bibliography of Books and Articles in the Modern Languages and Literatures (New York). 1.2. Ubersichtswerke: Raymond van den Broeck, Inleiding tot de vertaalwetenschap (Leuven 1972). Reuben A. Brower (Hg.), On Translation (Cambridge. Mass. 1959; Harvard Studies in comp. lit. 23). Ernst Damman, Die Ü. d. Bibel in afrikanische Sprachen (1972; Abhandlgn. d. Marburger Gelehrten. Ges. 1972,3). Dionys Durisin, Vergleichende Lit.forschung (1972). EvenZohar (s.u. 2.2). F. Folena, ,Volgarizzare' e ,tradurre'. Idea e terminologia della traduzione dal medio evo italiano e romanzo all'umanesimo europeo, in: La Traduzione (s.u.) S. 59-155. Hendrik van Gorp, La traduction littéraire parmi les autres métatextes, in: Holmes u. a. (Hg.) 1978, S. 101-116. James S. Holmes, Formes of Verse Translation and the Translation of Verse, in: Holmes u.a. (Hg.) 1970, S. 91-105. Ders., The Name and Nature of Translation Studies (Amsterdam 1975). James S. Holmes u.a. (Hg.), The Nature of Translation. Essays on the Theory and Practice of Literary Translation (The Hague/ Bratislava 1970; Approaches to translation Studies 1). Ders. u. a. (Hg.), Literature and Translation (Leuven 1978). Rolf Italiaander (Hg.), Übersetzen. Vorträge u. Beitr. vom Intern. Kongreß Literar. Übersetzer in Hamburg (1965). Rolf Kloepfer, Die Theorie d. literar. Ü. (1967; Freiburger Schriften z. roman. Philologie 12). Ders., Intra- and Intercultural Translation, in: Even-Zohar u. G. Toury (Hg.) s. 2.2. Werner Koller, Einführung in d. Üs.Wissenschaft (1979; UTB 819). Jean-René Ladmiral (Hg.), La traduction (Paris 1972; Langages 28). Jiri Levy,

Die literar. Ü. Theorie e. Kunstgattung (1969). Georges Mounin, Les problèmes théoriques de la traduction (Paris 1963; Bibl. des Idées 31). Ders., Die Übersetzung (1967; Slg. Dialog 20). Eugene A. Nida, Towards a Science of Translating (Leiden 1964). Ders., Language Structure and Translation. Essays (Standford. Ca. 1975). Ders. u. Charles R. Taber, The Theory and Practice of Translation (Leiden 1969; Helps for translators 8). Clemens Podewils (Hg.), Die Kunst d. Übersetzung (1963; Gestalt u. Gedanke 8). Seweryn Pollak (Hg.), Przeklad artystyczny. O sztuce Üumaczenia ksiçga druga (Wroclaw 1975). Anton Popovic, Poetika umeleckého prekladu (Bratislava 1971); 2. Aufl. u. d. T.: Teória umeleckého prekladu (1975). Theodore H. Savory, The Art of Translation (London 1957; Neuaufl. Boston 1968). La Traduzione. Saggi e studi (Trieste 1973). Paolo Valesio, The Virtues of Traducement. Sketch of a Theory of Translation (The Hague 1976). Götz Wienold, Semiotik d. Lit. (1972). § 2. G e s c h i c h t e und S y s t e m . 2.1. Die Geschichte der U . wird in der Regel entweder als Abfolge von Leistungen individueller Autoren oder von Schulen bzw. U . s typen geschrieben. Hieronymus und Luther, Ficino und L . Bruni, Amyot oder Voss, 2ukovskij oder Schlegel werden in ihrem Kontext beschrieben sowie die Schule von Toledo (Dunlop 1962), die Belles infidèles genannten franz. U.en des 17. und 18. Jh.s, die „Moskauer Schule" unter Peter dem Großen. Hierbei werden oftmals die Reflexionen der übersetzenden Autoren unmittelbar mit dem histor. Effekt über U.en verbunden. Dies ist bedingt richtig, denn die Konzeptionen prägen meist die U.stechniken und -ziele. Große Ubersetzer waren oft Teil der Avantgarde ihrer Zeit. Eine chronologische Skizze von U.en und begleitenden „Theorien" kann aufzeigen, wie eng oftmals die Ü . mit dem jeweiligen kulturellen Leben verbunden war. Sie ist allerdings noch keine Geschichte der Ubersetzung (s.u. 2.2.). Die übersetzungstheoretischen Überlegungen der A n t i k e sind bereits kritische Stellungnahmen zu vorangegangenen U.en, so im Lateinischen zu den noch relativ unbeholfenen Übertragungen aus dem Griechischen durch Ennius. Sie beginnen im 1. J h . n. Chr. mit Cicero {De oratore 1.34.154ff. ; De finibus bonorum I I I . 4 . 1 5 ; Academicae quaestiones, post. 10), der gegen die Wort-für-Wort-Ü. die Übertragung von „Gedanken, Formen, Figuren" in Berücksichtigung von „Stilart und

Übersetzung Bedeutung" setzt (De optimo genere oratorum V.). Horaz (De arte poética 11.133-134), der jüngere Plinius (Epístola VII.9) und Quintilian (Institutiones oratoriae X.5.2.ff.) sehen Ü. als Mittel der Bereicherung der eigenen Kultur, als Wettstreit mit dem Original, das zu eigenen Taten anregen soll, als „Gefangennahme fremder Sinngehalte", die mit dem „Recht des Siegers" in die eigene Sprache geführt werden (wie Hieronymus diese Konzeption zusammenfaßt [s.u.]). U.en sind Teil der Findung einer röm. Kulturidentität gegenüber dem griech. Erbe (Reiff 1959, Ahrens 1961). Ganz anders die als Rechtfertigung gedachten Vorworte, Briefe und allgemeinen Schriften der Kirchenväter, mit denen die ebenso einflußreiche Tradition der Reflexion zur Bibelübersetzung beginnt. Hieronymus (57. Brief an Pammachius sowie der 107. Brief und die einzelnen Vorworte) und Augustinus (De doctrina christiana III. 1.1., 24.34 und 27.38 sowie De civitate Dei 18.42) sind die wichtigsten Vermittler, wobei der Übersetzer trotz enormen Einflusses lange mißverstanden worden ist (Kloepfer 1967, 28-35), und der Philosoph durch seine, von der U. ausgehenden, Theorie der Sprache einen weitreichenden Einfluß auf die Entwicklung der Sprachtheorie bis zur Moderne gewonnen hat (Larbaud 1946. Courcelle 1948, Kelly 1973 und 1976). Das MA. setzt zwar die Tradition der Bibelübersetzung fort (Walter 1889, Hattenhauser 1964, Hudson 1975), gibt aber wenig „Theorie". Im Gegensatz dazu steht die R e n a i s s a n c e , die zu verschiedenen Zeitpunkten in allen europäischen Ländern eine Fülle von U.en und „Theorien" erbrachte, wobei bald zur Rezeption der „heiligen" und „profanen" Antike die U. von ,vulgär'sprachlichen Schriften der Gegenwart kam. Bereits Dante hatte an die antike Tradition angeknüpft (Convivio 1.7.14), allerdings schuf er die einheitliche ital. Literatursprache durch das Originalwerk La Divina Commedia, das in sich vielsprachig ist. Leonardo Bruni gibt als erster eine neue Zusammenfassung der Diskussion in De interpretatione recta (1420). Bei Erasmus von Rotterdam kommen beide Traditionen zusammen und zwar in seinem langen Brief an William Warham (24. 1. 1506) über zwei übersetzte Stücke von Eurípides, sowie in den Anmerkungen zu den Ü.en des Neuen Testamentes (Traduzione 1973, Schwarz 1977). Insbesondere in Frankreich ist die Heraus-

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bildung der Nationallit. von U.en und Theorien begleitet: E. Dolet (La manière de bien traduire . . . 1540), Th. Sebillet und J . Peletier du Mans sowie Du Beilay (in seiner Défence et illustration (1,5-8) mit Vorworten) stehen der ital. Tradition imperialer Einverleibung fremder Texte nahe. Du Bellay's „Theorie" ist streckenweise nichts anderes als Ü. aus Sperone Speroni. Typologisch gesehen entwickelt sich in der Renaissance neben der „primitiven Wörtlichkeit", die meist am Anfang einer U.stradition steht, eine aus der Antike übernommene Auseinandersetzung zwischen „freier Ubersetzung" und „treuer Ubersetzung". Eine Ausnahme bilden die ersten slav. Ü.en aus dem Griechischen, die in der Handhabung ihrer Vorlage eine bemerkenswerte Beherrschung beider Sprachen und sprachschöpferische Freiheit zeigen (Trost 1978). Die Auseinandersetzung zwischen „freier" und „treuer Übersetzung" läßt sich bis zur Gegenwart verfolgen (Kloepfer 1967). So steht in der dt. Tradition (Störig 1963, Lefèvre 1978) Luther mit seinem Sendbrief und vielen anderen Schriften in der „treuen" Richtung des Hieronymus, während der dt. Humanismus zweiter Hand die „freie" Linie in Variationen zu De Beilay oder den antiken Autoren verfolgt: So etwa Opitz in der Deutschen Poeterey (1624, am Ende des III. Kap.), Schottelius, der sich fragt, Wie man recht verdeutschen soll (1663), und ganz ähnlich später noch Friedrich der Große in seiner Schrift De la littérature allemande (1780). Ebenso lassen sich im franz. und engl. 17. Jh. sowohl die Entwicklung zu den Belles infidèles feststellen, wie Versuche, den Begriff der „Treue" zu entwickeln: die Ubersetzer der neu gegründeten Académie Française (Giry, Guez de Balzac, Du Ryer, P. D'Ablancourt) dienen der Entwicklung der klass. Lit.doktrin durch Aneignung sowohl der Kirchenväter (Tertullian, Ambrosius und Augustinus) wie der antiken Schriften (Piaton, Sokrates, Tacitus). Ähnlich verfährt P. Corneille in seiner Ü. der Imitatio Christi des Thomas a Kempis (Zuber 1968). Dem stehen P. D. Huet (De interpretatione libri duo (1961)) und Saint-Èvrement mit seinen Réflexions sur nos traducteurs (1673) gegenüber (v. Stackelberg 1972). In England erscheinen etwas später J . Drydens Ovid and the Art of Translation und andere Vorworte sowie der einflußreiche Essay on Translated Verse von W. Dillon (Bruce 1961, Steiner 1970

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Ubersetzung

und 1975). Das 18. J h . ist - was die Quantität der Ü . und der Reflexionen betrifft - enorm fruchtbar. Alle Rhetoriken und Poetiken entsprechen dem allgemeinen Interesse an der U . und unterstreichen ihren Wert für die Entwicklung der erwachenden Nationalliteraturen. Ebenso wie Luther mit seiner Bibelübersetzung ist die U . im Rußland Peters des Großen das Mittel zur Schaffung der einheitlichen, alle Gebiete (von den artes liberales über die Wissenschaften bis zur schönen Lit.) umfassenden Schriftsprache. Es gab amtliche Ubersetzer wie Tred'jakövskij, der nicht zufällig in der neu geschaffenen „Rossischen Gesellschaft" über „Die Reinheit der rassischen Sprache" nach dem Vorbild Vaugelas' redet und seine Triumph-Ode anläßlich der Ubergabe Danzigs (1734) in freier Paraphrase nach Boileaus Ode sur la prise de Namur von 1694 schafft (Stender-Petersen 1957, 330ff., Matl 1964, 173 ff. zur Moskauer Schule des Magister Werner Paus, Levin/Fedorov 1960). Uberall waren die Bibel und andere religiöse Schriften sowie die klass. griech. und lat. Lit. erstes Ziel der übersetzerischen Bemühungen. Ganz typisch stehen beispielsweise im England des 18. Jh.s neben U.en mit entsprechenden Vorworten zu den Evangelien (G. Campell 1789) Senecas Tragödien (E. Sherburne 1702), die Ilias (A. Pope 1715), Ciceros Reden (W. Guthrie), Terenz (G. Colman), Sallust (Th. Gordon) und Horaz (Ch. Smart; vgl. A. F. Tytlers Essay on the Principles of Translation von 1791 oder Samuel Johnsons Angaben über Dryden und Pope in den Lives of the Poets von 1774; s. Steiner 1975). Gottsched, Breitinger, Bodmer wie Batteux, d'Alembert, Mme Dacier und M . H . Saint-Simon (Vorwort zu seinem Essai de traduction littérale et énergique (1771)) stehen vor der Schwelle zur modernen U.stheorie (Huber 1968, Senger 1971 und West 1932, Kelly 1957). Auf die sehr spezifischen Entwicklungen in Polen und die reiche tschech. Tradition seit der Renaissance soll hier nur verwiesen werden (Ziçtarska 1969 und Levy 1957). Die Wende zur dritten und bislang letzten Stufe der Reflexion zur Ü.stheorie kann man bei Diderot und Hamann ansetzen, bei denen nicht zufällig der Anspruch an die Leistung der U . wieder auf das größtmögliche Maß gehoben wird (Kloepfer 1967, 46ff.). Dies führt insbesondere in der dt. Romantik zum Höhepunkt der U.spraxis, die teilweise ohne expli-

zite Theorie (beispielsweise Voss' Homer), teilweise aber von einer Theorie auf höchstem Niveau begleitet ist, so bei dem ShakespeareÜbersetzer A. W. Schlegel, bei dem PlatoÜbersetzer Schleiermacher, bei dem GracianUbersetzer Schopenhauer. Nicht zufällig finden wir bei allen großen Literaten seit Lessing, Herder und Goethe bis hin zu Nietzsche Reflexionen zur Ubersetzung, die bei Humboldt wiederum entscheidenden Einfluß auf die Sprachtheorie gewinnen. Diese reiche Tradition wird im 20. Jh. weitergeführt von so verschiedenen Denkern wie K. Vossler und W . Benjamin, R . Borchardt und F. Rosenzweig, W . Schadewaldt und H . G . Gadamer (s. Störig, Lefévre 1978, Kloepfer 1967). 2.2. Diese impressionistische Skizze könnte erst dann zu einer Geschichte der Ü . erweitert werden, wenn wir den Platz der jeweiligen U.slit. im literar. Polysystem der Epochen bestimmt und die Entwicklung dieses ganzen Systems beschrieben hätten. Dies gilt allerdings für die gesamte Lit.geschichtsschreibung. Im Sinne der Ausführungen zur intra- und interkulturellen U . im Teil I können wir mit Even-Zohar (1978) feststellen: Der Einfluß, den die U.slit. auf die Entwicklung einer Lit. nehmen kann, hängt von ihrer Stellung im System ab. An der vorangegangenen Skizze kann man ablesen, daß es drei S i t u a t i o n e n gibt, in denen die U . im Zentrum des Systems steht und hier innovatorisch, modellbildend und dynamisch wirkt, wobei die führenden Schriftsteller übersetzen: 1. wenn Literaturen „jung" sind, d.h. daß sie am Beginn einer eigenständigen literar. Entwicklung stehen (z. B . die europäischen Literaturen in der Renaissance oder die Literaturen Lateinamerikas bis 1962), 2. wenn sie im Makrosystem der „Weltliteratur" (s.d.) periphär liegen und sich selbst als „schwach" empfinden (z. B . die russ. Lit. im 18. J h . oder die skandinav. Lit. im 19. J h . ) , 3. vor allem aber, wenn sie sich in einer Krise befinden, z. B . dadurch, daß das eigene, hochentwickelte traditionelle System in N o r men erstarrt ist (so z. B . die franz. Lit. an der Wende des 18. Jh.s (s. Yahalom 1980)). Das Umgekehrte ist ebenso zu beobachten, daß nämlich die Ü.sliteratur in einem System periphär ist und kaum Einfluß auf dessen Weiterentwicklung hat, wohl aber zu seiner Stabilisierung so wichtig ist wie alle anderen Formen eher epigonaler Produktion. Die U.en passen sich dann dem jeweilig etablierten

Übersetzung „ G e s c h m a c k " an u n d n e h m e n sich g e g e n ü b e r d e m O r i g i n a l „ F r e i h e i t e n " etc. A n d e r d t . N a c h k r i e g s l i t e r a t u r läßt sich gut b e o b a c h t e n , wie sekundär angesehene Teilsysteme zunächst g a n z d u r c h U . s l i t . ausgefüllt w e r d e n : z . B . Science F i c t i o n (s. d . ) , K r i m i n a l r o m a n , K i n d e r literatur, Comics, pornographische Literatur. I n s g e s a m t läßt sich im e u r o p ä i s c h e n M a k r o s y s t e m zeigen, d a ß es L ä n d e r m i t einer T r a d i t i o n gibt, in d e r Ü . s e k u n d ä r ist (so in d e r f r a n z . u n d in d e r a n g l o - a m e r i k a n . L i t . ) , u n d L ä n d e r , in d e n e n die Ü . ü b e r J h . e eine p r i m ä r e P o s i t i o n einnimmt (skandinav., tschech., poln. Lit.), schließlich solche, in d e n e n p h a s e n w e i s e die Stellung e h e r p r i m ä r o d e r s e k u n d ä r ist (russ. u n d d t . Lit.). I n d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h land d e r 50er J a h r e galt die U . ( a u ß e r v o n f r a n z . u n d engl. Lit.) als „ b r o t l o s e K u n s t " , w ä h r e n d E n d e d e r 60er J a h r e d e r E i n f l u ß v o n Ü . e n aus d e m slav. u n d l a t e i n a m e r i k a n . Bereich s t ä n d i g z u n i m m t . ( D u r i s i n 1972, T o u r y 1980, s. die v e r s c h i e d e n e n Beiträge in E v e n - Z o h a r / T o u r y [ed. 1980 b z w . 1981]). 2.1. Übersetzungsgeschichte: James S. H o l mes, Historical Translation Theory. A Basic Bibliography (Amsterdam 1977). Herbert A h r e n s , Cicero als Übersetzer epischer u. tragischer Dichtung d. Griechen. (Masch, vervielf.) Diss. Hamburg 1961. Frederick Fyvie B r u c e , The English Bible. A History of Translation (London 1961). Pierre C o u r c e l l e , Les lettres grecques en Occident de Macrobe à Cassiodore. Nouv. éd. Paris 1948; Bibl. des écoles franç. d'Athènes et de Rome 159). D. M. D u n l o p , The Work of Translation at Toledo. Babel 4 (1960) S. 55-59. W a l t e r F r ä n z e l , Gesch. d. Übersetzens im 18. Jh. (1914; Beitr. z. Kultur- u. Universaigesch. 25). Hugo F r i e d r i c h , Zur Frage der Ü.skunst (1965; SBAK Heidelb. 1965, 3). H . H a t t e n h a u e r , Zum Ü.sproblem im hohen MA. Zs. d. Savigny-Stiftung 81 (1964) S. 341-358. A. H u d s o n , The Debate on Bible Translation. English Historical Review 90 (1975), N r . 354, S. 1-18. Thomas H u b e r , Studien z. Theorie d. Übersetzens im Zeitalter d. dt. Außlärung 1730-70 (1968; Dt. Studien 7). Andreas H u y s s e n , Die frühromant. Konzeption von Ü. u. Aneignung. Studien zur frühromant. Utopie e. dt. Weltlit. (1969; Zürcher Beitr. z. dt. Lit.- u. Geistesgesch. 33). Roland K e l l y , L'évolution de la théorie de la traduction en France au XVIII' siècle. Thèse Lyon 1957. K l o e p f e r (s. 1.2.). Valéry L a r b a u d , Sankt Hieronymus. Schutzpatron d. Übersetzer (1956). André L e f è v r e , Translating Literature. The German Tradition from Luther to Rosenzweig (Assen/Amsterdam 1977; Approaches to translation Studies 4).

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Übersetzung

en cas de crise: Contacts intersystemiques et comportement traductionnel, in: Even-Zohar/ Toury (ed.). § 3. A u f g a b e u n d W e r t . 3 . 1 . W a s Ü . sein kann, hängt - wie wir gesehen haben - von vielen Faktoren ab. Bei der Beurteilung und Erforschung ist die Tradition originalorientiert und fragt: W a s leistet eine U . für das Original? Hierbei sind viele T h e o r e t i k e r auf die Schwierigkeiten mit der Originalsprache ausgerichtet (bspw. G i p per 1966, N e u b e r t 1970 u. 1973, Reis 1971 u. 1976), wenige auf das originale literar. System, die meisten konkreten Analysen jedoch auf den originalen T e x t ( s . u . B i b l . 3 . 1 . ) . Erst in neuester Zeit gibt es eine Orientierung auf die Zielsprache, das literar. System der Zielliteratur und vor allem den entsprechenden T e x t ( H o l m e s 1970, P o p o v i c 1970 u. 1976, E v e n Z o h a r 1978 u. 1980, T o u r y 1980, Yahalom 1980). D i e N o t w e n d i g k e i t dieser N e u o r i e n t i e rung wird einsichtig, wenn man bedenkt, daß schon die Tatsache, daß ein T e x t als U . gelesen wird, von der angestrebten Stellung im Zielsystem abhängig ist. Dies gilt für alle N o r m e n und W e r t e von U . e n : W e l c h e T e x t e sind der U . wert? Welches ist der gültige Ü.sstil für die bestimmte T e x t f o r m ? W a s wird als Äquivalent anerkannt? M i t welchen anderen T e x t e n steht der U . s t e x t in K o n k u r r e n z ? Insbesondere im H i n b l i c k auf „ Ä q u i v a l e n z " - ein Begriff, der früher statisch benutzt wurde - setzt sich nun ein funktional-dynamischer G e b r a u c h durch. Entsprechend fragt man weniger: Ist der U . s t e x t ein Äquivalent für das Original? sondern: W e l c h e r T y p und welcher G r a d an Ä q u i valenz wird hier verwirklicht? A n die Stelle des Vergleichs isolierter O b j e k t e tritt die systematische Betrachtung sprachlicher, literar. und kultureller K o n t a k t e mit der Vielzahl möglicher Interferenzen. Dies läßt sich am P r o b l e m der U . von V e r s d i c h t u n g gut illustrieren, das von jeher großes Interesse auf sich gezogen hat (Levy 1969, H o l m e s 1970). N i c h t s kann eigentlich unübersetzt bleiben: eine E u p h o n i e mit gleichen Lauten hat durch die unterschiedliche F r e q u e n z in zwei Sprachen einen jeweils verschiedenen Status: ein Alexandriner ist je nach Basis des Verses (syllabisch, syllabotonisch etc.) etwas Verschiedenes; der R e i m ist im engeren Repertoire des Englischen etwas anderes als im R a h m e n des unterschiedlich

großen Vorrats an Möglichkeiten im Italienischen, Französischen, Russischen oder D e u t schen. Dasselbe gilt für die semantische D i c h t e , für die mögliche K o m p l e x i o n der Syntax (die in roman. D i c h t u n g ein distinktives M e r k m a l für die L y r i k war) und ganz grundsätzlich für die T h e m e n , die in einer Lit. zur Versdichtung, in einer anderen aber ausgesprochen zur Prosa gehören. O b es Äquivalente für eine metrische F o r m gibt, hängt ebenso v o m System der Zielliteratur ab wie die Möglichkeit der mimetischen N a c h - oder Neubildung. D i e Bereitschaft zu lernen, das eigene metrische, wie überhaupt alle Teilsysteme des kulturellen K o d e mit der Sprache zu erweitern, fordert die U . zur Innovation heraus; dies steht im krassen Gegensatz zur ebenso oft erhobenen F o r d e r u n g , daß Sinnangebot und Anstrengung des Rezipienten analog zu denjenigen des ursprünglichen Lesers sein sollen. In der Tradition finden sich solche Unterscheidungen bei den wertenden Feststellungen, etwa: D e r neue T e x t liest sich „als O r i g i n a l " oder „ w i e ein O r i g i n a l " oder „als Ü b e r s e t z u n g " . Übersetzungsprobleme gibt es auf allen E b e n e n : von der Lautung, über die N a m e n bis zu den Institutionen ( s . o . § 1). E s liegt auch gar nicht von vornherein fest, welches die zu übersetzende Einheit ist im H i n b l i c k auf ein G a n z e s : der Klang als Teil eines R e i m w o r t e s , W o r t oder W e n d u n g als Teil eines Satzes, Sätze wie Sprichwörter als Teil einer Aussage, autonome T e x t f o r m e n etc. (Lefevre 1978). B e d e n k t man die zusätzlichen P r o b l e m e bei R o m a n und D r a m a , so kann leicht die Aufgabe unendlich erscheinen: Es gilt z. B . bei D o n Q u i j o t e , funktionale Sprachen, Dialekte und genrespezifische Sageweisen ebenso zu übersetzen wie die Systeme von Anspielungen auf fremde oder vergangene Kultursysteme (Kloepfer 1980). W a s jeweils für die U . relevant und daher zu bewahren ist, hängt v o m jeweiligen Platz in der Hierarchie der F u n k t i o n e n ab, die mit einem T e x t gegeben sind. B e i dem ästhetisch begabten „ W i e s e l auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel" Morgensterns hat das k o n k r e t e T i e r relativ wenig Relevanz, w o h l aber die Figur der paradoxen Auswahl. Dasselbe gilt für viele P r o b l e m e , die man isoliert eigentlich nicht behandeln k a n n : archaische Ausdrücke k ö n n e n etwa in einem R o m a n T h o m a s Manns relevante Signalfunktion haben, in anderen wiederum relativ unwichtiger S c h m u c k sein oder Indiz für

Übersetzung „Alter", das auch durch andere Formen ersetzt werden kann (versetztes Äquivalent). Eine weitere Problemdimension ist mit der polyfunktionalen Nutzung relevanter Elemente gegeben. Ein Begriff Baudelaires (wie „Ennui"), der schon isoliert Ü.sprobleme für das Deutsche bietet, kann gleichzeitig Teil einer relevanten Lautkette, einer grammatikalischen Figur, einer semantischen Ambiguität und dazu noch Teil eines Stilbruchs mit Zitatcharakter sein. Die Monographien zu U.en sind voll von solchen Problemen, wobei gerade der Vergleich verschiedener Ü.en theoretisch aufschlußreich sein kann (Dewitz 1971, Engler 1974, Fröland 1975, Gebhardt 1970, Gipper 1966, Keller 1974 Kloepfer 1967, Lefevre 1974, Meynieux 1962, Pohl 1962). Das Maß der Einsicht in die Schwierigkeiten des Übersetzens wächst mit dem der zunehmenden Kenntnis der semiotischen Teilsysteme in den zu vergleichenden Literaturen und Kulturen. Hierbei wird oftmals übersehen, daß die theoretische Durchdringung nicht gleichbedeutend ist mit der Fähigkeit, die Texte tatsächlich übersetzen zu können. Forderte man vom Ubersetzer von Anbeginn seiner Tätigkeit nicht nur die gänzlich unbewußte und unreflektierte Kenntnis von Ausgangs- und Zielsprache und -kultur, von Thema und Kontext und eine große, kreative Schreibkompetenz in der Zielsprache, sondern auch einen systematischen Einblick in die Schwierigkeiten des U.sprozesses, so nähme man ihm sicher die Motivation für die große Aufgabe (Nida 1976). 3.2. Die vielfältigen Forschungen zur U. haben Einsicht in die Schwierigkeiten des Geschäftes erbracht und gezeigt, daß diese Arbeit im Grenzbereich zwischen reproduzierendem Handwerk, kreativer Eigenleistung und angewandter Wissenschaft meist zu schlecht bezahlt und auch sonst zu wenig anerkannt wird. Der Ubersetzer erscheint kaum in der Titelei, die literar. Kritik beachtet ihn selten, die universitäre Forschung hat bisher kaum erkannt, daß Ü. ein außerordentlich geeignetes Mittel ist zur Bestimmung von Normen und Möglichkeiten zweier sprachlicher und allgemein kultureller Systeme. Entsprechend gibt es keine Ausbildung für literar. Ubersetzer; soweit überhaupt, werden die konkreten Probleme meist vorwiegend von der Sprachwissenschaft erforscht (Wandruszka 1969, 1971, Popovic 1973, Reiss 1971/78). Nur ausnahmsweise kümmert sich die Lit.wiss.

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nicht nur historisch, sondern auch systematisch um dies „literar. Nebengleis" (Widmer 1959). Dies hat - außer der Verkennung des literar. Polysystems - vor allem drei Gründe: 1. die Unterschätzung der Möglichkeiten eines zur Originalproduktion analogen Verhaltens, 2. ein unangemessenes Ideal von Verstehen und Ubersetzen und schließlich - aus diesem folgend oder es begründend - 3. ein durch „Babel" geprägtes Kulturideal. - Zum ersten gibt es die annähernd zweitausend Jahre alte Klage von der Unmöglichkeit der Ubersetzung. Die originalorientierte Blickweise will nur das als „Übersetzung im wahren Sinn des Wortes" anerkennen, was als Eins-zu-eins-Entsprechung bestehen kann (Mounin 1963, Güttinger 1963, Levy 1969, 88). Hierbei wird übersehen, daß es auch in keiner rein intrakulturellen, -semiotischen und -lingualen Kommunikation diese Form des totalen Informationsaustausches gibt, außer bei manchen monofunktionalen Texten des praktischen und wissenschaftl. Gebrauchs (Nida 1976). Ebenso wie bei allen anderen Formen von „Wiedergebrauchstexten" die Unabschließbarkeit des Verstehens als Wert schon bei der Produktion gesucht wird, muß bei der U. angenommen werden, daß sie eine histor. Phase der Textverarbeitung repräsentiert. Sie kann - wie manche U.en zeigen - ebenso reich wie das Original oder sogar reicher sein und ihrerseits Anlaß vielfältiger Verarbeitungsprozesse werden. Die Ü. kann den Verstehensprozeß nur abschließen, wenn es nichts mehr zu verstehen gibt. Zweitens kann man feststellen, daß viele Ü.sprobleme schon im originalen Rezeptionsprozeß gegeben sind. Große Lit. greift über die für ihre Rezipienten gegebene Kultur, über die semiotischen Einzelsysteme und die Sprachnorm hinaus, sei es durch Raffinement und zusätzliche, regelgeleitete Sinndifferenzierung ermöglichende Restriktionen (s. klassisches Drama und die Lyrik „strenger" Epochen), sei es durch Erneuerung und die Einführung anderer „Sprachen". Die enge Verbindung von metasprachlicher und poetischer Funktion ermöglicht es dem Autor, das Neue mit seiner Konstitution im System des Textganzen zu lehren. Die Mehrfachkodierung ist das wichtigste Verfahren dieser „autodidaktischen" Sicherung der Kommunikationsmöglichkeiten über Raum und Zeit (s. Lotman 1972, Kloepfer 1975 u. 1980). Wenn sich auch das Original im Prozeß der „Sprachfindung" i.w.S. „übersetzt", dann

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Übersetzung — Urkunden

muß die wirkliche U . auch dieses Metasystem übersetzen, ja sie hat damit die Möglichkeit, die neuen, mit ihr zu konstituierenden „Sprac h e n " zu lehren. Ü . ist somit nicht nur ebenso möglich (und schwierig) wie originale Produktion, sie hat auch die gleiche Chance, die eigene Kultur (mit allen semiotischen Systemen und Sprachmöglichkeiten) weiterzuentwickeln, gerade wenn sie „ t r e u " ist. Dieser Gedanke wird von Valéry aus einer Tradition seit Renaissance und Romantik aufgenommen: „ D a s Schreiben von was auch immer, wenn es nur der Reflexion bedarf, ist eine Ü.sarbeit, die gänzlich der zu vergleichen ist, die bei der Transmutation eines Textes von einer Sprache in eine andere stattfindet" (1957, 22). Entsprechend betont gegen die These der Unübersetzbarkeit die Tradition seit Humboldt, daß der latente Reichtum aller Sprachen - auch der sogenannten primitiven - sogar die Wiedergabe literar. Genres- und Stilvielfalt ermögliche (Nida/Taber 1969). So hängt der Grad an Übersetzbarkeit oft weniger vom Original ab, als von der Bereitschaft der Zielkultur, die eigenen Möglichkeiten der Sprach- und Semiosefähigkeit durch Ü.sliteratur zu nutzen. Hierbei ist drittens von entscheidender Wichtigkeit, ob die jeweilige Kultur die Vielsprachigkeit als Ärgernis, Strafe oder Hindernis betrachtet und davon ausgeht, daß man die Welt von diesem „ B a b e l " durch die Herausbildung einer Mittler- oder Universalsprache oder zumindest die Reduktion auf wenige Weltsprachen befreien muß (Porzig 1971, Koller 1979), oder ob der Wert der U . umgekehrt darin besteht, die dialogische Vielfalt der Kulturen vermittelnd zu erhalten, zu bejahen und als gleichzeitige Förderung der fremden und der eigenen Vielfalt zu entwickeln. 3.1. Übersetzungsprozeß: Hans-Georg D e w i t z , 'Dante Deutsch'. Studien zu Rudolf Borchardts Übertragungen d. 'Divina Commedia' (1971; GöppArbGerm. 36). Balz E n g l e r , Rudolf Alexander Schröders Ü. en von Shakespeares Dramen (Bern 1974; The Cooper Monographs on Engl, and Amer. Lang, and Lit. 18). Adolf Ingram F r a n t z , Half a Hundred Thralls to Faust. A Study Based on the British and American Translators of Goethe's Faust (Chapel Hill 1949). Hans F r e y , Dt. Sophoklesübersetzungen. Grenzen u. Möglichkeiten d. Ü.en am Beispiel d. Tragödie 'König Oedipus' d. Sophokles (Winterthur 1964). Ruth F r ö l a n d , Studien z. Ü.sproblematik anhand von fünf Ü.en von Günter Grass' 'Aus dem Tagebuch einer Schnecke' (Stockholm

1975; Schriften d. dt. Inst. d. Univ. Stockholm 5). Peter G e b h a r d t , A. W. Schlegels ShakespeareÜ.en. Untersuchungen zu s. Ü.sverfahren am Beispiel d. 'Hamlet' (1970; Pal. 257). J. S. H o l mes, Forms of Verse Translation and The Translation of Verse, in: Holmes (ed. 1970), S. 91-106. André L e f è v r e , Translating Poetry. Seven Stratégies and a Blueprint (Assen/Amsterdam 1975; Approaches to translation Studies 3). L e v y 1969 (s. 1.2.). Margot M e l e n k , Die Baudelaire-Ü.en Stefan Georges. 'Die Blumen des Bösen', Orig. u. Übers, in vgl. Stilanalyse (1974; Freiburger Schriften z. roman. Philologie 26). André M e y n i e u x , Trois stylistes, traducteurs de Pouchkine: Mérimée, Tourguénev, Flaubert (Paris 1962; Cahiers d'études littéraires 2). N i d a (1975, s. 1.2.). 3.2. (vgl. 1.2. und 2.2.) Rolf K l o e p f e r , Poetik u. Linguistik. Semiotische Instrumente (1975; UTB 366). J. M. L o t m a n , Die Struktur liter. Texte (1972; UTB 103). Walter P o r z i g , Das Wunder d. Sprache (1950, 5., durchges. Aufl. 1971; UTB 32). Katharina R e i s s , Möglichkeiten u. Grenzen d. Ü.skritik. Kategorien u. Kriterien f. e. sachgerechte Beurteilung von Ü.en (1971; Hueber-Hochschulreihe 12). Dies., Texttyp «. Ü.smethode. Der operative Text (1976; Monographien Lit., Sprache, Didaktik 11). Dies. u. G. T h i e l , W. W i l s s , Stand u. Möglichkeiten d. U.swiss. Hg. v. Kirsten Gomard u. Sven-Olaf Poulsen (Aarhus 1978; Acta Jutlandica 52). Mario W a n d r u s z k a , Sprachen, vergleichbar u. unvergleichlich (1969). Ders., Interlinguistik (1971; Serie Piper 14). Rolf

Kloepfer

Urkunden § 1. B e g r i f f u n d F o r m . Eine wesentliche Quelle für frühe dt. Prosa im späteren M A . ist das R e c h t s w e s e n . Dazu gehört an wichtiger Stelle die d t . s p r a c h i g e U r k u n d e . , , U . nennen wir . . . schriftliche, unter Beobachtung bestimmter, wenn auch nach der Verschiedenheit von Person, O r t , Zeit und Sache wechselnder Formen aufgezeichnete Erklärungen, die bestimmt sind, als Zeugnisse über Vorgänge rechtlicher Natur zu dienen" (Bresslau, Handbuch, S. 1); die Definition wird in der Forschung mit jeweiliger Begründung enger oder weiter gefaßt. — D t . U . setzen im 4.Jahrzehnt des 13. J h . s ein. Resultierend aus dem besonderen Interesse ihres ersten Sammlers für solche Sprachzeugnisse, die dem Mhd. der literar. Epoche des 12./13. Jh.s besonders naheliegen, wurde die systematische Erfassung der erhaltenen O r i g i n a l u r k u n d e n i n der Edition Corpus

Urkunden der Altdeutschen Originalurkunden auf das Ende des Jahres 1299 begrenzt. Diese ersten Jahrzehnte dt. Beurkundung überliefern U. von öffentlicher Gesetzeskraft wie Landfrieden, Stadtrechte, Stadtrechtsverleihungen und -bestätigungen u.a., sowie „Privaturkunden" von weitestgespannter inhaltlicher Verschiedenheit; s.u. Das mhd. W o r t für unseren Begriff der Urk. ist brief; der brief wird ausgestellt zu einem urkünde ( = Zeugnis, Beweis) der in ihm beschriebenen rechtserheblichen Festsetzung oder Abmachung. Neben brief ist der Terminus mhd. hantveste im Gebrauch. Während im Protokoll der Urk. (etwa Allen den die disen brief sehent . . . tuon ich N . kunt . . . o.ä.) sowie in der Corroboratio (etwa . . . henke ich min ingesigel an disen brief o.ä.) hantveste selten, brief die Regel ist, wird innerhalb der Urk. von hantvesten gesprochen, wo im Kontext auf andere, ältere U. Bezug genommen wird, oder wo vom gegenwärtig ausgestellten brief in seiner etwaigen Verwendung als Instrument rechtl. Beweiskraft die Rede ist. Im Unterschied zu anderen Rechtstexten, z. B. Rechtsbüchern, Urbaren, Zinsrodeln u. ä. als Bekundungen rechtl. Normen oder Befindlichkeiten, zeichnet sich der brief als Bekundung eines rechtl. Vorgangs (der Vorgang kann auch allein in der Ausstellung des brieves selbst bestehen) durch zwei im allg. notwendige Bestandteile aus: die verbindliche Formelhaftigkeit des Aufbaus, bedingt durch ein grundrißartiges U.formular, und die durch Zeugennennung und Besiegelung oder nur durch Besiegelung vollzogene Beglaubigung. Über das U . f o r m u l a r geben die systemat. Darstellungen des U.wesens Auskunft (bes. für den Germanisten hilfreich: A. v. Brandt S. 81—98). Die U.lehre orientiert sich entsprechend der Geschichte der Urk. von der Antike und Spätantike zum MA. zunächst an der lat. Urkunde; sie ist in erster Linie das Feld des Historikers und des Rechtshistorikers. Den Germanisten interessiert, auf welche Weise und in welchem Umfang Bestandteile des lat. U.formulars in der dt. Urk. verwirklicht sind. Die rd. 4 1 /2tausend U. des Corpus der Altdeutschen Originalurkunden weisen eine erhebliche Variationsbreite der formularischen Gestaltung auf, in zweierlei Hinsicht: in der Anwendung der einzelnen Formeln und in deren jeweiliger sprachlicher Ausführung. — Das Formelschema des „klassischen" U.formulars des

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großen Diploms, welches von Inhabern öffentlicher Gewalt (z.B. dem König) ausgestellt wird und die Verleihung von Privilegien, Belehnungen, Schenkungen u. dergl. beinhaltet, ist in der lat. Urk. erheblich reduziert, wofern der beurkundete Rechtsakt von eingeschränkter Bedeutsamkeit ist: man spricht vom Typus der „Geschäftsurkunde". In der dt. Urk. ist ein paralleler Sachverhalt zu beobachten. Den Geschäftsurkunden entspricht im Typ des reduzierten Formulars die Masse der dt. Privaturkunden („jedoch muß betont werden, daß der Begriff ,Privaturkunden' für das Hoch- und Spätma. ein reiner Verabredungsbegriff mit im wesentlichen negativem Inhalt ist (nichtpäpstliche und nichtkönigliche U.), der rechtlich sehr verschiedene U.typen in sich begreift" v. Brandt S. 90). Von den drei Formeln des P r o t o k o l l s des klass. Formulars: Invocatio, Intitulatio, Inscriptio (v. Brandt setzt auch die Arenga hierher) enthält der dt. U.eingang selten mehr als ein bis zwei Formeln. Die I n v o c a t i o (z.B. In gotes namen amen, oft trotz des folgenden dt. Wortlautes In nomine domini amen) fehlt überwiegend. Die Eröffnung der Urk. durch die I n t i t u l a tio, d. h. die Nennung des Ausstellers oder der Aussteller (z. B. Ich bruder N. derkommendür von N.), ist am häufigsten. — Die I n s c r i p t i o , die Nennung des Empfängers, in Verbindung mit einer Salutatio, ist nur in wenigen besonders gewichtigen dt. Diplomen anzutreffen, z . B . in Königsurkunden. Meist jedoch geht die Intitulatio sogleich in die Promulgatio oder Publicatio, die Bekanntmachungsformel über: Ich N. tun kunt allen . . . Die Reihenfolge kann auch umgekehrt sein: der Publicatio folgt die Intitulatio: Allen die disen brief sehent oder hörent lesen künden wir N. . . . Die Nennung des U.empfängers folgt zwar alsbald im Kontext der Urk., aber zunächst nur in seiner Eigenschaft als am Rechtsgeschäft beteiligte Partei; als Empfänger wird er erst apostrophiert in der Datumformel der Corroboratio: geben wir im disen brief versigelten . . . — Rd. 2 % der Corpus-U. haben eine Arenga, eine Art feierlichen Proömiums (s. Fichtenau). Ihre motivliche Gestaltung führt I. Reiffenstein

(Deutschsprachige Arengen des 13. Jh.s) vor: man

finde „in den dt.sprachigen Arengen die gleichen Gedanken wie in ihren lat. Entsprechungen, die altüberlieferten Topoi von der Hinfälligkeit alles Irdischen, insbesondere des menschlichen Erinnerungsvermögens, und der daraus resultierenden Notwen-

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Urkunden

digkeit, Rechtshandlungen durch schriftliche Aufzeichnung dagegen abzusichern, sie dadurch aus dem Fluß der Zeit gewissermaßen herauszunehmen und ihnen Dauer und Gültigkeit zu verleihen" (S. 181). Reiffenstein stellt seine Untersuchung in den größeren Zusammenhang der Formularanalyse, deren Ergiebigkeit für die Zuweisung von U. zu bestimmten Kanzleien er betont. Seine Fragestellung nach dem Verhältnis der Arenga zur Narratio und der Stellung innerhalb des gesamten Formulars führt ihn zur Ermittlung einer gründlichen Änderung von Stellung und Funktion der dt. Arenga gegenüber dem „klassischen Formular": „Was ursprünglich den von Protokoll und Eschatokoll eingerahmten Text eröffnet hatte und auf ihn, wie allgemein auch immer, bezogen war, das stand nun als allgemeiner Vorspruch am Anfang der Urkunde" (S. 190). Diese Trennung von Arenga und Urkundentext komme auch darin zum Ausdruck, daß einige Arengen in Reimpaaren geschrieben sind (Corpus Nr. 1293, 1339, 3439, N371). „Jede Arenga kann vor jeder Urkunde stehen, ihre Verwendung sagt mehr über die ausstellende Kanzlei als über den Charakter der Urkunde aus" (S. 191 u. 192). Den eigentlichen Inhalt der U r k . , d . h . das konkrete Rechtsgeschäft, enthält der T e x t oder K o n t e x t : die N a r r a t i o (Bericht über bisherige die Sache betreffende Vorgänge) und die D i s p o s i t i o (Festsetzung der nunmehrigen rechtlichen Abmachung). In diesem Teil darf man erwarten, daß der jeweilige konkrete Sonderfall der zu verbriefenden Rechtsabmachung den T e x t weitgehend bestimmt. Inwieweit Formelhaftigkeit auch hier Eingang findet, ist zu untersuchen. Das gilt — vielleicht in abgeschwächtem Maße — auch für die S a n c t i o , die Androhung von Maßnahmen bei Verstoß gegen die Abmachung. Die anschließende C o r r o b o r a t i o enthält den Hinweis auf die Beglaubigung durch das oder die Siegel. Sie wird bes. im letzten Drittel des 13. J h . s erweitert um die sichtlich an Bedeutung und Häufigkeit zunehmende Datumformel: wir oder ich han gegeben oder gib ich, geben wir (im disen brief versigelten . . .) (de B o o r , Actum et Datum S. 96). Die Reihenfolge des klassischen Formulars mit der C o r r o b o r a t i o als Schluß des Kontextes sowie der Z e u g e n n e n n u n g und der D a t i e r u n g , den beiden Formeln des E s c h a t o k o l l s oder Schlußprotokolls, ist in den dt. U . nicht immer eingehalten. Überdies kann die Zeugenliste fehlen. Das Gebiet des dt. U.formulars ist noch wenig erforscht. — Die Anwendung der akribischen Analyse dt. U.formulare zum Zwecke der genauen Datierung

einer Urk. innerhalb des dt. U.corpus eines Schreibers hat 1963 D. H a a c k e in seinen Methodischen Überlegungen erfolgreich erprobt. Um die von R e x r o t h aus paläograph. Gründen vorgenommene Datierung einer vom Konstanzer Stadtschreiber Heinrich Celi falsch datierten Urk. zu überprüfen, untersuchte Haacke die sprachliche Gestaltung einiger Formularteile (Invocatio, Publicatio, Corroboratio, Datierung, Zeugenliste) durch den Schreiber; es ergab sich, daß aufgrund ihrer formularischen Gestaltung die fehldatierte Urk. nur an einer bestimmten chronologischen Stelle der U. Celis eingeordnet werden kann. Das Ergebnis konnte Haacke durch eine entsprechende Untersuchung der orthograph. Gewohnheiten des Schreibers bestätigen, in die die fragliche Urk. an eben der Stelle eingepaßt werden mußte, die die Formularuntersuchung angegeben hatte. — Auf anderer Materialgrundlage — allein derjenigen der Datierungszeile, jedoch im gesamten hd. Urkundsgebiet des 13. Jh.s — und mit anderer Fragestellung errichtete H. de B o o r sein Formeluntersuchungswerk Actum et Datum. Die genaue Analyse aller zeitlichen und örtlichen Varianten der Datierungsformel ermöglicht ihm für das Ende des 13. Jh.s die Aufstellung zweier „Idealschemata": „alemannisch: dis geschach, do man zalte von gotes gebürte zwelf hundert und niun und niunzig jar. bayrisch-österreichisch: ditz ist geschehen, do ez waren von Christes geburt tousent zwaihundert und darnach in dem niun unde niunzegisten jare." (S. 93). Hier handele es sich nicht um einen mundartlichen Gegensatz, sondern „um eine durchgehende Verschiedenheit des Urkundenstils" (ebd.). Die variantenreichen Einzelausformungen dieser Idealschemata erweisen, daß die Datumzeile der dt. U. der der lat. im Grundriß zwar folgt, aber in Wortwahl und Syntax von Anfang an selbständig ist; daß der Wortlaut nicht starr ist; daß die Varianten nicht beliebig auswechselbar sind; bes. aber, „daß die Verwendung der Grundvarianten nicht dem einzelnen Schreiber überlassen war". Weiterhin modifiziert de Boor erkennbar die in der U.forschung stark betonte eigenständige, wo nicht gar prägende Rolle des Schreibers: „Schreibuntersuchungen sind erwünscht und nützlich, wo sie sich auf paläographische und — schon mit Vorsicht — auf orthographische Beobachtungen stützen. Sie können für Analysen wie die vorliegende besonders dort hilfreich sein, wo einzelne Urkunden oder Urkundengruppen vom verbindlichen Formulargebrauch abweichen. Aber über das Formular entscheiden andere Instanzen als der einzelne Schreiber. Wir stoßen auf Ansätze eines naturgemäß noch kleinräumigen fürstlichen und städtischen Kanzleiwesens, das sich der deutschen Urkunde annimmt" (S. 92). Die Verlagerung der die U.form gestaltenden Kraft von der Schreiberpersönlichkeit auf „andere Instanzen", die „entscheiden", leitet den Verfasser auf grundsätzliche Fragen, mit denen er Ziel und Wegweiser für künftige Untersuchungen aufrichten will. Da An-

Urkunden Stöße zur Gestaltung des Formulars von der gleichen Landschaft ausgehen und nach O s t e n fortwirken, von der auch die dt. U r k . ihren Ausgang nahm, stellt er die Frage, ob dies gar „ein Symptom einer allgemeinen Kulturströmung ist", und die weitere Frage, „in welcher Weise die rasche Ausbreitung einer N e u e r u n g sich vollzog, wie ihr oft fast gleichzeitiges Auftreten in weiten Gebieten erklärbar ist" (S. 98). „ D a s gleichzeitige Umlernen an zahlreichen O r t e n zugleich ist das Unerwartete" (S. 99). D e r sichere Eindruck, „daß die Sprache der U . auf einer Schreibnorm beruht, die von der gesprochenen Sprache der mündlichen Verhandlungen wesentlich abweicht", f ü h r t den Verfasser schließlich zu der Frage, „wie und w o dieses Schreiben gelernt w u r d e " : „es muß doch zum mindesten Schreibstuben oder lokale Kanzleien gegeben haben, die als vorbildlich galten, deren Erzeugnisse überregional beachtet und als vorbildliche Muster verwendet w u r d e n " (S. 99f.). H a r r y B r e s s l a u , Handbuch d. U.lehre. 2. Aufl. Bd. 2, hg. v. Hans-Walter Klewitz (1931). Ahasver v. B r a n d t , Werkzeug d. Historikers (7. Aufl. 1973), mit wichtigen Lit.angaben S . 1 8 1 - 1 8 4 . Karl K r o e s c h e l l , Dt. Rechtsgeschichte. Bd. 1 (bis 1250), Bd. 2 (1250-1650), (1972 u. 1973; R o r o r o Studium 8.9). Zur Urk.bes. I, S. 1 5 3 - 1 5 6 . Heinrich F i c h t e n a u , Arenga. Spätantike u. MA. (1957; Mittlgn. d. im Spiegel von U.formeln österr. Inst. f. Geschichtsforschg. Erg.-Bd. 18). Corpus d. Altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, Bd. 1 hg. v. Friedr. W i l h e l m (1932); Bd. 2, hg. v. Friedr. W i l h e l m u. Rieh. N e w a l d (1943); Bd. 3 u. 4 hg. v. Helmut d e B o o r u. Diether H a a c k e (1957 u. 1963); Bd. 5 hg. v. Helmuth d e B o o r , Diether H a a c k e u. Bettina K i r s c h s t e i n (1963ff.), zitiert als Corpus. Wichtige Lit.angaben Bd. 4, S. I X f . Es ist bes. hinzuweisen auf die Vorreden zu den einzelnen Corp«j-Bdn. Programmatisch f ü r die sprachliche Erforschung der U . ist die Vorrede zu Bd. 3 (1956) von H . d e B o o r und D . H a a c k e . Verfasser späterer Arbeiten beziehen sich auf sie, die Vorrede ihrerseits bezieht die inhaltlichen u. methodischen Leistungen der bis Anfang 1956 erschienenen Arbeiten von philologischer sowie histor. u. rechtshistor. Seite ein u. wertet sie in gründlicher Erörterung f ü r die Formulierung künftiger Aufgaben der U.forschung aus. — Für weitere U.editionen, von Historikern veranstaltet u. vorwiegend Historikern dienlich, s. das Verzeichnis der Abkürzungen u. abgekürzt angeführten Lit. zum Corpus unter „ U B " (Urkundenbuch) u n d „ U r k k " (Urkunden). I. R e i f f e n s t e i n , Dt.sprachige Arengen d. 13. Jh.s, in: Festschr. für Max Spindler (1969) S. 1 7 7 - 1 9 2 . D . H a a c k e , Methodische Überlegungen z. Datierung e. dtsprachigen Konstanzer Urk. d. 13. Jh.s. PBB. 85 (Tüb. 1963) S. 1 0 7 - 1 4 6 . Bruno B o e s c h , Dt. U. d. 13. Jh.s (Bern 1957; AdtUbtexte 15), mit Bibl.

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S. 56—62 zu den Themen: U.lehre; A u f k o m m e n der dt. U.sprache; M h d . Schriftsprache u. Prosa; D t . U. Sprache; U. spräche u. Mundart; Wortschatz; Rechtsquellen; Rechtssprache u. Rechtswortgeographie; Rechtssymbolik, rechtliche Volkskunde. H . S p a r m a n n , Beobachtungen zu d. Formeln in d. mhd. U.sprache. PBB. 85 (Halle 1963) S.369 —371. Karl Heinrich R e x r o t h , Die Entstehung d. städt. Kanzlei in Konstanz. Unters, zum dt. sprachigen U.wesen d. 13. Jh.s (1960; Konstanzer Geschichts- u. Rechtsquellen 12). H . G . L a n g e r , U.sprache u. U.formeln in Kurtrier um d. Mitte d. 14. Jh.s T. 1 u. 2 Arch. f. Diplomatik 16 (1970) u. 17 (1971) S. 3 5 0 - 5 0 5 b z w . S. 3 4 8 - 4 3 6 . H . de B o o r , Actum et Datum. E. Unters, zur Formelsprached. dt. U. im 13. Jh. (1975;SBAkMünchen, Phil.-hist. Kl. 1975, 4). E. D i t t m e r , Untersuchungen zum Formelschatz d. frühen dt. U. im Verhältnis zum Lat. Die Formel minne oder reht. Sprachwiss. 4 (1979) S. 2 4 - 5 2 .

§ 2. A u f k o m m e n u n d V e r b r e i t u n g . Vorbemerkung: Die im Ahd. Lesebuch von Wilhelm B r a u n e unter dem Titel „ U r k u n d e n " gedruckten Schenkungsurkunden enthalten an dt. Wortmaterial nur N a m e n , die f ü r sprachwiss. Auswertung bedeutsam sind, aber nicht veranlassen, die Texte deshalb unter „deutschen U r k u n d e n " zu behandeln. Dasselbe gilt für die St. Galler U . (s. Stefan S o n d e r e g g e r , Das Ahd. der Vorakte der älteren St. Galler Urkunden. E. Beitr. zum Problem d. U.sprache in ahd. Zeit, in: Z f M d a . 28, 1961, S. 251 —286). Die im Ahd. Lesebuch ebd. gedruckten Hamelburger und Würzburger Markbeschreibungen ( = MSD. N r . 63 u. 64) sind ebenfalls per definitionem keine U . , sondern in lat. U . eingefügte volkssprachige Textabschnitte. Als solche sind sie — mutatis mutandis — vielleicht den dt. Einfügungen in lat. U . auch des 13. Jh.s vergleichbar.

Dt. sprachige U. treten zuerst im Südwesten des hd. Sprachgebietes auf. Vom alem./oberrhein. Bereich mit den Schreiborten Konstanz, Zürich, Basel, Straßburg, Freiburg u.a. ausgehend, wo dt. U. bes. ab etwa 1260 zahlenmäßig sehr stark zunehmen, verbreitet sich die dt. Beurkundung rasch auch ins Bayrischösterreichische, sehr viel zögernder nach Norden und Nordosten hin. Insgesamt bleibt während des 13. Jh.s der obd. Raum das Hauptüberlieferungsgebiet dt. U., damit wird es auch für diesen Zeitraum zum bevorzugten Gebiet der U.forschung. Im md. Gebiet ist die volkssprachige Urk. im 13. Jh. sehr viel seltener; das Corpus bietet nur etwa 120 dt. Originale (ausschließlich des ripuarischen Bereichs mit Köln). Bei dieser Quellenlage mußte z.B. U. Schulze für ihre Studien zur Ortho-

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Urkunden

graphie und Lautung der Dentalspiranten s und z für das ostmd. Sprachgebiet die erste Hälfte des 14. J h . s miteinbeziehen, weil erst in dieser Zeit dort eine etwa gleiche Materialmenge an dt. U . verfügbar wird, wie sie vor 1300 in den südlich angrenzenden Bereichen des Nordbair./Ostfränk. anzutreffen ist. Die zeitliche Verschiebung des Auftretens dt. U . weist, wie das Md., so erst recht das Ndd. auf; s . u . — Das westmd. Gebiet bietet im Ripuarischen mit dem lebhaft dt. urkundenden Köln etwa von der Mitte des 13. Jh.s an zunächst reichliches Material, um dann schon 1264 wieder zum Lat. zurückzukehren; nur die Gräfin Mechthild v. Sayn urkundet weiter (bis 1284) in der Volkssprache, wie sie seit über 20 Jahren zu tun pflegte. — Innerhalb der genannten Bereiche verstärkt sich das zahlenmäßige Auftreten von dt. U . im allg. ziemlich kontinuierlich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Der 1. Bd. des Corpus bietet 564 U . für den Zeitraum von (1200; zutreffender:) 1235 - 1 2 8 2 ; der 4. Bd. dagegen bietet 1039 U . für einen Zeitraum von nur 4 Jahren (1297—1300). Jenseits der J h . wende wächst die Zahl weiter. Es ist festzuhalten, daß im Zuge der Verschriftlichung des Rechtslebens nicht nur die dt., sondern auch die lat. U.produktion zunimmt. Auch in der 2. Hälfte des 13. Jh.s, in der die dt. Urk. ständig an Boden gewinnt, überwiegen die lat. U . ; das trifft auch für das süddt. und südwestdt. Sprachgebiet zu. Die U . Sammlung des Corpus wird eröffnet mit zwei Rechtstexten gerade aus den Bereichen, die notorisch in der Einführung der dt. Beurkundung einen zeitlichen Rückstand aufweisen: mit der Erfurter Eidformel der Juden aus dem Ostmd. und dem ndd. sog. O t t o nianum, dem Braunschweigischen Stadtrecht von 1227 (?). Die N r . 3 ist keine echte dt. U r k . , sondern ein in der Form einer Urk. gestaltetes Stück Literatur: die Göttin Venus läßt die Ritter zur Turnierfahrt aufbieten. Dieser Herausforderungsbrief Ulrichs v. Lichtenstein kann nur indirekt und mittelbar Zeugnis für die Geschichte der dt. Urk. sein. — Am Anfang der dt. Urkundsgeschichte steht in Wahrheit die große Landfriedensurk. Kaiser Friedrichs II. von 1235; dieses Reichsgesetz wurde in dt. und lat. Sprache erlassen. Das könnte den Eindruck erwecken, als sei der Impuls zur dt. Urk. von der königlichen Kanzlei ausgegangen. Das ist nicht der Fall. Der Mainzer Landfriede ist die einzige Urk. Friedrichs II.

im Corpus. Rudolf v. Habsburg urkundet ziemlich häufig und frühzeitig bes. in der Schweiz und im Elsaß deutsch. Fr. Wilhelm äußert sich in seinem Entwurf einer Vorrede zu Corpus Bd. II (abgedruckt v. Newald ebd. S. X X V I I ) respektvoll über die „Stellung, die er (Rudolf) der dt. Sprache im amtlichen Geschäftsverkehr, beim Hofgericht und in Schlichtungsurteilen zugestand . . . mit Rudolfs Regierung sind die Hofgerichtsurkunden ausschließlich in dt. Sprache abgefaßt. Allerdings sind auch nur wenige Originale erhalten, und von einer auf die Verwendung der dt. Sprache bezüglichen Anordnung für solche U . ist gleichfalls nichts überliefert oder erhalten". Der o . g . Vorgang der V e r s c h r i f t l i c h u n g muß zunächst nicht unmittelbar mit dem Aufkommen der volkssprachigen Urk. verbunden werden; er beruht allgemein, auch für die lat. U r k . , auf einer Änderung des U.wesens. Die ältere Form einer schriftl. Fixierung hatte darin bestanden, daß über eine mündlichrechtssymbolisch vollzogene Rechtshandlung eine Notitia angefertigt wurde, die die Zeugen festhielt, die notwendigenfalls jene Rechtshandlung bezeugen konnten. Dieses Schriftstück erlangte späterhin die Kraft eines zusätzlich zur mündlich ausgeübten Rechtshandlung hinzutretenden Beweismittels. D e r Wert einer solchen „Beweisurkunde" führte dazu, daß schließlich die Ausstellung dieser Urk. selbst an die Stelle der mündlich vollzogenen Rechtshandlung trat: die Ausfertigung der beglaubigten U r k . , der „dispositiven U r k . " , wurde zum Rechtsakt, der neues Recht stiftete. Der zuletztgenannte Vorgang findet im 13. J h . statt. Das A u f t r e t e n der V o l k s s p r a c h e in den U . hat verschiedene Erklärungsversuche herausgefordert. An die Entwicklung mündlichen Rechts zur Schriftlichkeit knüpft H. G. K i r c h h o f f in seiner Arbeit Zur dt.sprachigen Urk. d. 13. Jh.s an. Nicht in sozialen Gegebenheiten sieht er den Anstoß, sondern in einem rechtshistor. Prozeß: im Ubergang von der Notitia über den Zeugenbeweis zur vollgültigen dispositiven Urk., die an die Stelle der Zeugen trete. Hier zeige sich, wie in den Rechtsbüchern, die Entwicklung des dt. Rechts zur Schriftlichkeit. Sie spiegele sich in der Form der Urk., im Verfall der Arenga und der Zeugenliste und vor allem im Ubergang zur dt. Sprache. Das auslösende Moment dafür sei die öffentliche Verlesung der Urk., die nur Sinn habe, wenn die Urk. entweder aus dem Lat. übersetzt oder überhaupt in der Volkssprache

Urkunden abgefaßt worden sei (S. 86). Deutliches Merkmal dieses neuen Verfahrens sei die Veränderung der Publicatio in der dt. U r k . , wo es nunmehr „hören und lesen" heiße, während in der lat. Urk. die audire-Forme\ die Ausnahme sei. In der Besprechung der Kirchhoffschen Arbeit in der Vorrede zu Corpus Bd. III geben de B o o r / H a a c k e dazu zu bedenken, daß nicht nur die dt., sondern auch die lat. Urk. im 13. Jh. unerhört zunimmt; und man fragt sich, wieso die lat. Urkundstradition im Widerstand gegen den gänzlichen Ubergang zur dt. Urk. so erfolgreich war. de Boor/Haacke modifizieren die These Kirchhoffs so: „Auch wenn der Anstoß zur dt. Urk. von veränderten Verhältnissen des Rechtsverfahrens ausgeht, bleibt es möglich, sogar wahrscheinlich, daß bestimmte ständische Gruppen diesen Anstoß besonders aufgenommen und gefördert haben, daß also ein reziprokes Verhältnis zwischen der Wandlung im Gerichtsverfahren und dem Bedürfnis sozial im Vormarsch befindlicher Gruppen nach der dt. Urk. besteht" (S. XXXVII). Auch dem Argument Kirchhoffs, daß die Zeugen seit etwa 1300 aus den U . verschwinden oder doch ihre rechtliche Bedeutung verlieren, begegnen de Boor/Haacke mit Vorsicht: sie führen aus dem Altenburger Urkundenbuch für die Jahre 1300-1325 ein Verhältnis von 96 dt. und lat. U. mit Zeugenlisten zu 20 dt. und lat. U. ohne solche an; und sie weisen darauf hin, daß jedenfalls im ganzen Corpus Zeugenlisten eine große Rolle spielen. Für den n d d . B e r e i c h hat C o r d e s ( a . a . O . S. 67f.) die Entstehungsthese Kirchhoffs an dt. und lat. U. geprüft. Der Formularwandel zur „hörenFormel" wird in der lat. Urk. auf ndd. Sprachgebiet vollzogen, ohne daß damit zugleich auch der Übergang zur Volkssprache vollzogen wird. Damit verliert die Kausalverknüpfung zwischen der Verlesung der Urk. als Rechtshandlung (verbunden mit dem Ubergang zur „hören-Formel") und dem Ubergang zur Volkssprache an Sicherheit. Für das Aufkommen oder für die Ausbreitung dt. U.sprache wird in der Forschung wiederholt eine Erklärung aus s o z i a l e n G e g e b e n h e i t e n vorgebracht. Einen Bericht über solche Forschungsmeinungen gibtK. H. R e x r o t h S . 96ff. Einige Beispiele: als bewegende Kräfte zugunsten volkssprachiger U. werden angesehen das Laientum (Fr. W i l h e l m ) , die niedere Ministerialität (F. M e r k e l ) , die Neubelebung des Urkundenwesens seit dem Investiturstreit sowie ein Aufstieg der unteren Bevölkerungsschichten mit einer Erhöhung ihrer Rechtsfähigkeit (H. H i r s c h ) ; Rexroth teilt das Ergebnis seiner eigenen Untersuchung mit: „In Konstanz hat die ausschließlich deutsch urkundende städtische Kanzlei der nationalsprachlichen Urk. zum Siege verholfen" (S. 95), ein konkretes Ergebnis, welches der Verf. später verallgemeinernd ausweitet: es müsse „gesagt werden, daß die Entstehung der städtischen Kanzleien in den süddt. Städten, die in diesem Zeitraum politisch und wirtschaftlich aufblühen, die wichtigste

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Ursache für das Aufkommen der dt.sprachigen Urkunde ist" (S. 107).

Die Verschiedenheit dieser Erklärungen, zu denen andere — vorab die rechtsgeschichtliche von Kirchhoff- treten, macht deutlich, daß das Aufkommen der Volkssprache in den U. nicht monokausal zu begründen ist. Sicher steht die Frage nach der T r ä g e r s c h a f t dt.sprachiger U. in enger Verbindung mit dem sozialgeschichtl. Aspekt ihres Einsetzens. Daher wird von Schreibort zu Schreibort gesondert untersucht werden müssen (wie es z. T. mustergültig bereits geschehen ist, s. Boesch, Stolzenberg, Rexroth u.a.), w e r überhaupt urkundet und wer d e u t s c h urkundet, welche Rolle der Partner des Rechtsverfahrens bei der Sprachwahl spielt, ob und welche Einflüsse und Konstellationen sonst zu beobachten sind. Aber es muß wohl damit gerechnet werden, daß das W i e des Prozesses in ausgewählten geographischen und/oder institutionellen Bereichen (Orden, Klöster, Stifte, Rat und Bürgergemeinden usw.) zwar verfolgt werden, das W a r u m dennoch schwerlich allgemeingültig beantwortet werden kann. - Entgegen der meist vertretenen Ansicht von einer führenden Rolle des n i e d e r e n A d e l s als Trägerschaft der dt. Urk. konstatiert I. S t o l z e n b e r g einen maßgeblichen Anteil des hohen A d e l s . Zwar entfielen verhältnismäßig viele und frühe U. auf Ministeriale; „eigentlich wegbereitend wirkten vor allem aber Angehörige des hohen Adels" (Urkundsparteien u. U.sprache, S. 248). Insbesondere wird die Rolle der Grafen von Freiburg hervorgehoben, die den Anstoß zur Verwendung der Volkssprache (allerdings keinesfalls ihrer a l l e i n i g e n Verwendung) gaben. Ihrem Vorbild folgt die Stadt Freiburg; die Gemeinde urkundet in der 2. H. des 13. Jh.s überwiegend deutsch; an ihren ersten dt.sprachigen U. war der Graf beteiligt, auch Hochadel aus der Umgebung Freiburgs. Auf eine ebensolche Rolle von Mitgliedern des höheren Adels bei der Durchsetzung dt.sprachiger Beurkundung weist I. Stolzenberg für das mfränk. Gebiet hin: hier sind es die Grafen von Jülich und Berg sowie die Gräfin von Sayn, die schon bald nach der Jh.mitte volkssprachige U. ausstellen lassen. - Die aus Freiburg und seinem Umkreis kommenden Adelsurkunden sind vornehmlich volkssprachig abgefaßte polit. Vereinbarungen, während bei den einzelnen Bürgern die Geschäftsurkunden überwiegen.

Urkunden

598

Zur Frage nach der R o l l e v o n G e i s t l i c h k e i t bzw. L a i e n s c h a f t bemerkt I. S t o l z e n b e r g : die Volkssprache habe zuerst und überwiegend für U . Verwendung gefunden, deren Partner Laien, Einzelpersonen wie Korporationen, gewesen seien, während die zwischen geistlichen Partnern ausgefertigten U . in der Regel am Lat. festhielten (nach dem Ergebnis-Kap. Die Rezeption der dt. Sprache

in den Freiburger und Straßburger

U., a. a. O .

S. 247ff.). Die Beobachtung des Festhaltens geistlicher Institutionen, vornehmlich der alten Orden, am Latein machte u. a. auch B . B o e s c h ( A l e m . U.spräche) und fand das im traditionswahrenden Wirken eines festgefügten Kanzleiwesens begründet. - Während sich hier die Institution „ K a n z l e i " als hemmend darstellt, wurde die gleiche Institution „Kanzlei" von R e x r o t h als Förderer der dt. Urk. angetroffen; ein erneuter Hinweis, daß die Summe von Einzelbeobachtungen eher der Erfassung der Vorgänge dienlich sein dürfte als summarische Gesamterklärungen. B . B o e s c h

(Die dt. Urkundensprache.

Probleme ihrer Er-

forschung im dt. Südwesten) formuliert: „Die Komplexität des Vorgangs ist zweifellos für jeden Schreibort gesondert zu entwirren und die Schwerpunkte können jeweils anders liegen; aber unverkennbar geht es hier um eine gesamteuropäische Erscheinung des Übergangs zur Volkssprache. . . " (S. 4). Man hat den hiervon Boesch genannten Aspekt, der den Übergang der U.sprache von der lat. zur dt. in einen bildungs geschichtlichen Zusammenh a n g stellt, verschiedentlich geltend gemacht. So sagte z. B. N e w a l d (Das erste Auftreten der dt. Urk. in der Schweiz)-. „Die Ausbildung und Bewährung der Volkssprache in der Dichtung mußte auch ihre Anwendung in der Urkunde begünstigen" (S. 501). H . de B o o r

(Das Corpus der altdeutschen

Originalurkun-

den) hebt die „beachtliche geistige und schöpferische Leistung" hervor, die die U.schreiber bei der „Umsetzung der mündlichen Rechtsrede in eine geprägte schriftliche F o r m " vollbrachten, und verweist darauf, daß die U.schreiber sich für die Bewältigung ihrer Aufgabe, einen klaren, verständlichen und gut lesbaren Text zu schreiben, auf die lange Tradition dt. Schreibens literar. Texte stützen konnten (S. 207). Dagegen findet U . S c h u l z e (Lat.-Dt. Parallelurkunden): „Die Gewandtheit der Sprachgestaltung, die sich in mehr als einem Jahrhundert des Umgangs mit geistlicher

und weltlicher mhd. Dichtung entwickelt hatte, findet im Bereich der Urkundensprache nirgendwo deutlichen Niederschlag"; entscheidend dafür sei gewesen, „daß als Träger der Literatursprache einerseits und der Rechtssprache andererseits verschiedene Personenkreise anzunehmen sind" (S. 12). Auf andere Ansichten zur Sache wird ebd. Anm. 22 hingewiesen. Der Versuch, den Ubergang zur dt. Sprache aus der Unzulänglichkeit der lat. zu erklären, ist in der Forschung auf wenig Gegenliebe gestoßen. Solche Mangelhaftigkeit der lat. Sprache, „Alltägliches mit der nötigen klaren Eindeutigkeit auszudrücken", die auf eine „Ermüdung" des Idioms zurückgeführt wird, konstatiert A. L h o t s k y (Zur Frühgeschichte der Wiener Hofbibliothek, in: Mittlgn d. Inst. f. österr. Geschichtsfschg 59, 1951, S. 338). Eine ähnliche Tendenz, das Aufkommen dt. Beurkundung mit einer Überlegenheit der dt. über die lat. Sprache in Verbindung zu bringen, findet sich bei H . H a t t e n h a u e r (Zum Übersetzungsproblem im hohen MA., in: SavZfRG., Germ. Abt. 81, 1964, S. 341-358). - Dagegen ist aber auf die auch nach dem Einsetzen dt. U . noch jh.elang bewährte Leistungsfähigkeit lat. U.sprache hinzuweisen, die übrigens auch im 13. J h . verschiedentlich in lat. Parallelausfertigungen zu dt. U . zur Geltung kommt. Die dt. Urk. ist n i c h t dadurch entstanden, daß lat. U . in die dt. Sprache ü b e r s e t z t wurden. Das Erstaunliche ist, daß die dt. Urk. vom Beginn ihres Auftretens an „fertig" ist. Die dt. U.sprache durchläuft keine Entwicklung von „Anfängen" zur „Vollendung", von stümperhaften Niederschriften zu splendiden Prachtausfertigungen. Solche Unterschiede im überlieferten Bestand gibt es, aber sie haben andere Gründe. - Die Annahme eines Ubersetzungsvorganges oder einer eng an die lat. Urk. sich anlehnenden Nachbildung zur Schaffung eines dt. U.textes lag wegen der vorausgehenden lat. Urkundstradition nahe. V a n c s a meinte nachgewiesen zu haben, „wie die Formeln der dt. U . sich von ursprünglich sklavischen und unbeholfenen Ubersetzungen zu einem immer freieren und selbständigeren U.stil entwickeln" (zit. bei Fr. Wilhelm, Corpus Bd. I, S. X X I I I ) . Die Vorstellung, daß die dt. Urk. als frühes Zeugnis dt. Übersetzungsliteratur in Prosa anzusehen sei, findet sich auch bei Fr. W i l h e l m und leitete ihn zu der Erwartung, „daß zu mancher in diesem

Urkunden Corpus veröffentlichten Originalurkunde in dt. Sprache noch eine entsprechende Originalurkunde in lat. Sprache aufgefunden werden w i r d " (a. a. O . S. X L V I ) . Längst indessen weiß m a n : es gibt „ k e i n e sklavische Abhängigkeit v o m Latein. Die dt. U . s p r a c h e braucht keine Entwicklung zu ihrer Mündigkeit zu durchlaufen; wenigstens lassen die erhaltenen U . des 13. J h . s einen solchen W e g nicht erkennen. O f f e n b a r war die Sprache der mündlichen dt. Rechtspflege flexibel genug, u m unmittelbar den Schritt zur Schriftlichkeit bewältigen zu k ö n n e n " ( R e i f f e n s t e i n a . a . O . , S. 1 8 3 f . ) . Bei der dt. Arenga hält er Einflüsse der dt. Predigtsprache für möglich. - „ E i n e freie N a c h f o r m u n g , keine genaue N a c h a h m u n g der lat. V o r l a g e " streben die dt. U . an, erweist die Analyse der Datumzeile durch de B o o r ( A c t u m et Datum, S. 3). D i e dt. U . folgen dem lat. Muster „in dem grundlegenden Aufbau, machen sich aber von dem lat. Wortlaut frei und suchen eigene Lösungen in W o r t w a h l und syntaktischem G e f ü g e " (ebd. S. 4). D i e Eigenständigkeit der sprachl. Prägungen in den dt. U . weist immer wieder auf eine dahinterstehende durchgebildete dt. R e c h t s - und Gerichtssprache.

Lit. bei B. B o e s c h , s. § 1; Vorrede Corpus Bd. 4, S. X . — R. S c h ü t z e i c h e l , U.sprache u. Mundart am Mittelrhein. ZfdPh 75 (1956) S. 7 3 - 8 2 . Hans Georg K i r c h h o f f , Zur dt.sprachigen Urk. d. 13. Jh.s. (Masch.) Diss. Köln 1955. Max V a n c s a , Das erste Auftreten d. dt. Sprachein d. U. (1895). Felix M e r k e l , Das Außommen d. dt. Sprache in d. städt. Kanzleien d. ausgehenden MA.s (1930; Beiträge z. Kulturgesch. d. MA.s u. d. Ren. 45). H. H i r s c h , Zur Frage d. Auftretens d. dt. Sprache in d. U. u. d. Ausg. dt. U.texte. Mittlgn. d. Inst. f. österr. Geschichtsfschg. 52 (1938) S. 227-242. Bruno B o e s c h , Untersuchungen z. alem. U.sprache d. 13. Jh.s. Laut- u. Formenlehre (Bern 1946). Ders., Die dt. U.sprache. Probleme ihrer Erforschung im dt. Südwesten. Rhein. Vjbll. 32 (1968) S. 1-28. I. S t o l z e n b e r g , Urkundsparteien u. U.sprache. E. Beitr. zur Frage d. Aufkommens d. dt.sprachigen Urk. am Oberrhein. T. 1 u. 2. = Arch. f. Diplomatik 7 (1961) S. 214-289 u. 8 (1962) S. 147-269. R. N e w a l d , Das erste Auftreten d. dt. Urk. in d. Schweiz. Zs. f. Schweiz. Gesch. 22 (1942) S. 489-507. H. de B o o r , Das Corpus d. altdt. Originalurkunden. Jb.f. Intern. Germanistik 3 (1971) S. 199-217. G . C o r d e s , Zur Erforschung d. U.sprache. Nddjb. 82 (1959) S. 63-79. Ursula S c h u l z e , Lat.-Dt. Parallelurkunden, d. 13. Jh.s.

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E. Beitr. zur Syntax d. mhd. U.sprache (1975; Medium aevum 30), mit Bibl. § 3. S p r a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e A u s w e r t u n g . D e r Rechtshistoriker Karl v. A m i r a (im Kap. Rechtsdenkmäler seines Artikels Recht) sagt: „ U n t e r Rechtsdenkmälern verstehen wir diejenigen Quellen rechtsgeschichtlicher E r kenntnis, die zugleich O b j e k t e der letzteren s i n d " (S. 57). In der Vorrede von H . de B o o r und D . H a a c k e z u m dritten Band des Corpus (S. X X ) heißt es: „ D e m Germanisten ist die dt. U r k . ein sprachliches D e n k m a l , für dessen sprachgeschichtl. Auswertung die möglichste Genauigkeit der Wiedergabe des Schriftbildes eine Grundvoraussetzung i s t " . Die G e g e n ü b e r stellung spricht für sich. D i e „ G e n a u i g k e i t der W i e d e r g a b e " erstreckt sich bis auf den A b d r u c k von v und u, rundem s und langem s, in den ersten vier B d n . des Corpus z. B . auch auf die Wiedergabe von im Wortinneren gesetzten Majuskeln (deshalb ist das Corpus von histor. Seite angefochten w o r d e n , während andererseits U.editionen von Historikerseite für den Philologen oft wegen ihres „ n o r m a l i s i e r e n d e n " Verfahrens nicht verwertbar sind). Dies und anderes liegt im Grenzgebiet zwischen der „ G r a p h i e f r a g e " und der Paläographie, ebenso wie die Setzung der Satzzeichen des Originals im D r u c k ; über manche Entscheidungen z u m Wiedergabeverfahren kann man streiten, zumal dort, w o bestimmte Fragestellungen an die U . ohnehin die Zuziehung des Originals erforderlich machen würden, und manche Fragen der „genauen W i e d e r g a b e " sind sogar innerhalb des G e s a m t verlaufs der C o r p « j - E d i t i o n mit verschiedener Entscheidung hin- und hergewendet worden. Indessen bleiben solche Nuancen der Wiedergabetechnik unterhalb jener Schwelle, w o bei der Edition von literar. H s s . , die in aller Regel nicht Originale sind, die T e x t k r i t i k einsetzen würde. D i e Originalurkunden sind eben nicht durch die Hände - vielleicht mehrerer Abschreiber gegangen; damit entfallen R ü c k sichten auf Sprachmischungen u. dergl. Eine A r t „ A b s c h r i f t " liegt nur vor innerhalb der zu früheren U . ausgefertigten erneuten Bestätigungen, den „ V i d i m u s - " und den „ T r a n s s u m p t u r k u n d e n . " In diesem U . t y p ist der erneut zu bestätigende oder zu beglaubigende T e x t als „ I n s e r t " abschriftlich eingefügt. I m Sinn des sprachl. Quellenzeugnisses nahm Wilhelm auch diese U . des 13. J h . s als

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Urkunden

Originalurkunden und druckte sie im Corpus ab. U. haben den Vorzug einer genauen zeitlichen Datierung. Es gibt wenige undatierte U.; die Masse ist auf Jahr und Tag, nur ein Bruchteil allein auf das Jahr datiert. Die Erforschung ihrer Sprache umgreift abgesehen von der Frage des Formulars - die Gebiete der Graphie (von Ortho-Graphie kann eigentlich nur gesprochen werden, wo eine Urk. einer prägenden Schreibnorm, etwa der einer Schreibstube oder Kanzlei, verpflichtet ist, die usuell aufweist, was „richtig" ist), der Lautung, des Formengebrauches, des Wortschatzes, der Syntax, der Semantik. Insoweit besteht kein Unterschied zu sonstiger mal. Sprachforschung. Es sind die genannten Faktoren, die wir - wenigstens zu einem maßgeblichen Teil - kennen müssen, um eine Urk. als Dokument einer M u n d a r t ansprechen zu können. Zwischen der geschriebenen Urk. und der Sprache, d. h. im MA. der Mundart, gibt es aber mehrere Faktoren, die die unmittelbare Auswertbarkeit erschweren und die Urk. z . T . erheblich von der Sprache/Mundart abrücken. Diese Faktoren heißen: Schreiber Schreibstube/Kanzlei - Schreibort - Schreibnorm, -tradition - U.dialekt/Schriftdialekt. Sie bestimmen und repräsentieren im einzelnen oder zusammen das, was wir mit weitem Oberbegriff „ U r k u n d e n s p r a c h e " nennen. Die Prüfung und Erfassung dieser Komponenten macht recht eigentlich die Schwierigkeit germanist. U.forschung aus. Zunächst bedarf die Erwähnung des S c h r e i b o r t s als einer der problematischen Faktoren der Erläuterung. - Nicht wenige U. nennen in der Datum- und Actumzeile den A u s s t e l l u n g s o r t . Bei der Mehrzahl derjenigen U., die das nicht tun, ermöglichen die Namen von Ausstellern, Empfängern, weiteren Beteiligten und Zeugen und von etwa im Kontext vorkommenden örtlichkeiten eine Zuweisung der Urk. wenn nicht zu einem Ort, so doch zu einer begrenzbaren Landschaft. Natürlich macht die U.forschung von diesen Lokalisierungsmöglichkeiten legitimen Gebrauch. Aber eine Urk. ist ein Kunstprodukt - das der Schreibkunst ihres Schreibers. Dieser Schreiber kann „aus der Gegend" sein, er muß es aber nicht. Ausschlaggebend ist letztlich, wo er schreiben gelernt hat und welchen graphischen Gepflogenheiten oder Normen er folgt. D . h . die Begriffe „Ausstellungsort" und „Schreib-

ort" sind nicht identisch. - Ferner: Die Parteien der Urk. können sich zu Verhandlung und U.ausstellung an einem Ort treffen, wo sie nicht ansässig sind; sie können einen ortsansässigen Schreiber beauftragen, sie können aber auch einen eigenen Schreiber mitgebracht haben. Es ist auch zu prüfen, ob eine Aussteller- oder Empfängerurk. vorliegt, d.h. welche der Parteien die Verfertigung des Schriftstückes durch Stellung des Schreibers übernommen hat: bei U. zwischen einem weltl. Partner und einer geistl. Institution z. B. wird das die letztere sein, da sie über die notwendigen Voraussetzungen: Beurkundungserfahrung und Schreiber, verfügt. Der Aussteller ist dann allein durch den Akt der Beglaubigung beteiligt: er bringt sein Siegel an oder bittet angesehene Personen oder Institutionen, statt seiner - oder auch zusätzlich - das ihrige anzubringen. Der sprachwissenschaftl. Auswertung einer Urk. hat also die Erarbeitung der Kriterien vorauszugehen, die zu ihrer richtigen Einordnung verhelfen. Dazu werden Vergleiche hilfreich sein mit U. gleichen Schreibverfahrens, also vom selben Schreiber oder aus derselben Schreibstube oder - der Terminus ist mit Vorsicht aufzunehmen - der gleichen Schreiblandschaft. Diese Notwendigkeit, U. stets in größeren Überlieferungszusammenhängen zu untersuchen, wobei sogar andere sprachliche Hervorbringungen der Schreibstuben oder Kanzleien mit eingeschlossen sein sollen, ist wiederholt betont worden, u. a. in der CorpusVorrede zum 3. Bd., von Cordes, Boesch, U. Schulze. Für die Vorarbeit an der einzelnen Urk. werden unterschiedliche Untersuchungsziele genannt: zum einen die Feststellung der S c h r e i b e r p e r s ö n l i c h k e i t (so z . B . der Hrsg. des Freiburger UB F. Hefele), zum anderen die Feststellung der ö r t l i c h e n H e r k u n f t . - Die grundsätzliche Feststellung eines jeden Schreibers als Vorbedingung der sprachl. Auswertung wird schwer möglich sein; sie bleibt der begrüßenswerte Sonderfall dort, wo das objektiv möglich ist und ein Fachmann diese Aufgabe auf sich genommen hat (wie Hefele, Rexroth, Haacke). Objektiv nicht möglich ist die Ermittlung einer Schreiberpersönlichkeit bei U., die sich als Einzelstücke darstellen, so daß wir mangels Vergleichsmaterials annehmen müssen, daß ein „Gelegenheitsschreiber" am Werk war. Solche U. sind zwar oft besonders

Urkunden ungelenk in Formulierung und Graphie, lassen andererseits aber gerade deswegen eine unmittelbarere Orientierung an der gesprochenen Sprache durchblicken. - Der Weg zur beschreibenden Erfassung der U.sprache eines Schreibers, einer Schreibstube, einer Landschaft wird wesentlich vom Material mitbestimmt sein müssen; das Ziel der Untersuchung ist hier zugleich immer auch der Weg. Der Schritt von der Beschreibung der U.sprache zur Mundart berührt das Verhältnis von Orthographie und Lautung. (Zum Problem der Divergenz von U.sprache und Mundart vgl. Corpus Bd. 3 Vorrede S. X X X , mit Hinweisen auf wichtige Untersuchungen zur Sache.) Bekanntlich ist Orthographie konservativ: die Darstellung hinkt der Entwicklung der gesprochenen Sprache nach. Grundsätzlich gilt: wird eine lautgeschichtlich korrekte Schreibung an einer oder einigen Stellen durchbrochen und durch eine veränderte Schreibweise ersetzt, so muß eine lautliche Veränderung stattgefunden haben. Falls dann im gleichen Gebiet wieder die alte „korrekte" Schreibung konsequent durchgeführt wird, ist das nicht als Zeugnis eines lautlichen Befundes, sondern als Akt konsequenter Anwendung einer Schreibtradition anzusehen. Verdeutlicht werden diesbezügliche methodische Voraussetzungen bei Kliemann; U. Schulze, Dentalspiranten. - Oft aber sind Graphien kaum zu durchschauen; man denke nur an die Crux der übergeschriebenen Buchstaben und Zeichen und die Frage der Umlautbezeichnungen! Von der Schreibstube des 13. Jh.s führt die Entwicklung zum Kanzleiwesen des 14. und späterer Jh.e. Die zunehmende Menge der U. und sonstigen Kanzleiprodukte erfordert die Tätigkeit mehrerer Kanzleiangehöriger: Vorsteher, Schreiber, Gehilfen, und befördert die zunehmende Verfestigung von Schreibtraditionen. Es bilden sich „Kanzleisprachen". Sie sind Forschungsgegenstand sowohl um ihrer selbst willen als auch wegen ihrer Bedeutung für die Ausbildung frühnhd. Schreibsprachen. Für die Grammatikbereiche der U.sprache, die bereits Untersuchungen erfahren haben, wird auf die Bibliographie verwiesen; sie betreffen - oder implizieren wenigstens - so gut wie alle Kapitel der klass. mhd. Grammatik. Eine Ausnahme bilden Wortschatz und Semantik. Beide sollen lexikographisch erfaßt

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werden in einem Wörterbuch zum Corpus. Dieses wird, neben der üblichen semantischen Aufschließung des Wortmaterials durch Kontextzitate, eine betont grammatische Komponente aufweisen: außer der Berücksichtigung aller syntaktischen Bezüge eines Wortes im Abschnitt der Kontextzitate wird es Vorkommen, Schreibung und Formenbestand jedes Lemmas mitteilen; dadurch soll ein Uberblick ermöglicht und die weitere Einzeluntersuchung angeregt, nicht ersetzt werden. Die Auswertung des reichen Namenmaterials der U. steht noch aus. Das Corpus bietet in jeder der fast 4500 U. ein Mehrfaches an Orts- und Personen-, z. T. auch Flurnamen. Bei den Personennennungen ist in diesem Jh. der aufkommenden Familiennamen oft nicht einfach feststellbar, ob ein Zusatz zum Personennamen noch als Appellativum oder schon als festgewordener Name zu verstehen ist. Das Verhältnis von Graphie und Lautung wird hier zusätzlich kompliziert durch die Frage, wie sich die Schreibung der Namen zu der der Urk., in der sie auftreten, verhält; ob sie etwa konservativere Schreibung als der übrige Wortlaut der Urk. aufweisen (für seinen Untersuchungsbereich findet Kliemann, s. Bibl., keine Abweichung der Namenentwicklung von derjenigen anderer Wörter). - Die namenkundliche Auswertung des Materials ist noch so ungetan wie die sprachgeschichtliche. Karl v. A m i r a , Recht, in: Grundriß der German. Philologie. Bd.3 (2. Aufl. 1900). D. H a a c k e , Schreiherprobleme. Zugleich e. Beitr. zur Erforschung d. Nürnberger dt. U. d. 13. Jh.s. PBB. 86 (Tüb. 1964) S. 107-141. Ders., Studien zur Orthographie u. Lautung d. dt. sprachigen Originalurkunden. 1: Die Kürzungszeichen für das/daz. PBB. 84 (Tüb. 1962) S. 184-244. Ursula S c h u l z e , Studien zur Orthographie u. Lautung d. Dentalspiranten s und z im späten 13. u. frühen 14. Jh. durchgeführt auf Grund d. ältesten dt.sprachigen U. im nordbair.-ostfränk. u. thür.-obersächs. Sprachgebiet (1967; Hermaea N F . 19). Dies., Bemerkungen zur Orthographie von diutisch in den dt.sprachigen U. d. 13. Jh.s. u. zum Ubergang d. Lautgruppe sk>sch. PBB. 86 (Tüb. 1964) S. 301-321. B. B o e s c h , Alem. U.sprache, s. § 2. Peter K l i e m a n n , Studien zur dt. Urk. in Bayern u. Osterreich im 13. Jh. Versuch e. sprachwiss. Auswertung am Beisp. der Diphthongierung von i, ü und iu sowie ihres Verhältnisses vornehmlich zu germ. ai und germ. au. (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1958. H . de B o o r , Elliu-Alliu-Alle in

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Urkunden

d. dt. U. d. 13. Jh.s., in: Kr it. Bewahrung. Beiträge z. dt. Philologie. Festschr. f. Werner Schröder (1974) S. 118-139. Ders., Die Flexionsformen von Haben in d. dt. U. d. 13. Jh.s. Sprachwiss. 1 (1976) S. 119-143. Ders., Das Pronomen „dieser" in d. dt. U. d. 13. Jh.s. PBB. 98 (Tüb. 1976) S. 1-31. E. Skala, Die Entwicklung d. Kanzleisprache in Eger. PBB. 86 (Halle 1964) S. 35-68. R. Grosse, Zur sprachgeschichtl. Unters, d. spätmal. Rechtsdenkmäler. FschgnFortschr. 38 (1964) S. 56-60. Rudolf Schützeichel, Mundart, U.Sprache u. Schriftsprache. Studien z. Sprachgesch. am Mittelrhein (2., stark erw. Aufl. 1974; Rhein. Arch. 54). G. Meissburger, Urk. u. Mundart, in: Vorarbeiten u. Studien zur Vertiefung d. südwestdt. Sprachgeschichte, hg. v. Friedr. Maurer (2., neubearb. Aufl. 1965; Fschgn. z. oberrhein. Landesgesch. 17) S. 47-103. Walter Henzen, Schriftsprache u. Mundarten (1954; Bibliotheca Germanica 5). H. Sparmann, Das Verbum „sein" in der mhd. U.sprache. PBB. 90 (Halle 1968) S. 425-433. U. Goebel u. W. McDonald, Urkundl. Beitr. zu den mhd. Wörterbüchern. Amsterdamer Beitr. z. älteren Germanistik 5 (1973) S. 119-139. G. de Smet, „Ehefrau" in d. altdt. Originalurkunden bis zum Jahre 1300. E. historisch-wortgeographische Skizze, in: Festschr. f. Karl Bischof (1975) S. 27-39. L.-E. Ahlsson, Die U.sprache Hamelns. NddMitt. 23 (1967) S. 63-97. K. Hyldgaard-Jensen, Zur Erforschung d. west- u. nordmndd. Rechtssprache. NddMitt. 22 (1966) S. 115-131.

§ 4. G e g e n s t ä n d e u n d I n h a l t e der volkssprachigen U . fallen, nicht anders als die der lat. U . , streng genommen nicht in den fachlichen Gegenstandsbereich des Philologen, sondern des Historikers und Rechtshistorikers. Da aber die U . im Grenzgebiet sich überschneidender Fachinteressen angesiedelt sind, seien einige knappe Hinweise erlaubt. Es ist vorauszuschicken, daß es eine Monographie darüber, welche Inhalte die dt.sprachigen U. aufweisen, wahrscheinlich deshalb nicht gibt, weil ein Abweichen von denen der lat. U. nicht erwartet wird. Ein endgültiges Urteil über die Frage einer inhaltlichen Differenzierung zwischen lat. und volkssprachigen U. ließe sich erst nach einer Untersuchung fällen, die die lat. U. einbezieht. Das ist, wenn überhaupt, wie jede U.forschung nur innerhalb regional oder institutionell abzugrenzender Untersuchungsbereiche möglich. Die Verquickung mit der Frage nach den Urkundsparteien ist offensichtlich. Den G e g e n s t a n d zu benennen, ohne den konkreten Inhalt einzubeziehen, ist nur mög-

lich beim Typ des D i p l o m s , das einen hervorragenden Geltungswert beansprucht, indem es überindividuell geltendes Recht stiftet. (Die im folg. angegebenen Nrn. weisen auf Beispiele im Corpus hin.) Das Corpus bietet Landfriedensgesetze ( = Reichsgesetze) z. B . Nr. 3, 494, 879; Rechtsverleihungen (Privilegien; hier: Stadtrechtsverleihungen) z. B . N r . 2, 95; 248, 392, 606, 1797, 1695, 3452, 3068; Aufzeichnung eines Stadtrechts (ohne den Akt urkundlicher Privilegierung) z. B . N r . 51, 2265; Verleihung besonderer Privilegien an Städte z. B . Nr. 173, 226, 312, 1798; von einer Stadt selbst gesetztes Recht z. B . 1295; Stadtrechtsergänzung z. B . N r . 829. Für das inhaltliche Verständnis dieser U . braucht der Philologe noch mehr als bei den unten gen. Urkundstypen die Aufklärung durch den Rechtshistoriker. Die Abgrenzung des Diploms als R e c h t s v e r l e i h u n g s u r k . (wobei die Abgrenzung soeben mehr durch den Inhalt als durch das Formular vorgenommen wurde) von der „ G e s c h ä f t s - " und „ P r i v a t u r k u n d e " ist bei den dt. U . nicht eindeutig. Es durchkreuzen sich verschiedene Möglichkeiten zur Charakterisierung einer Urk. je nach Maßgabe des Ausstellers, des Formulars oder des Inhalts: es kann z. B . durchaus ein „Privatmann" in Form einer „Geschäftsurk." eine Schenkungsurk. (ein Privileg) ausstellen. Die Anwendung der von der U.lehre bereitgestellten Begriffe auf die dt. Urk. des 13. Jh.s ist ein Problem. Eine i n h a l t l i c h e Benennung der U . des Corpus zeigt etwa folgende Typen (mit Hilfe des Regesten-Bds. des Corpus sind Beispiele dafür leicht auffindbar): Friedensverträge. Waffenstillstands Verträge. Schieds-, Schlichtungsurk. Kaufverträge. Handels-, Marktordnungen. Zunftordnungen. (Eidliche) Verpflichtungen, etwas bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Pfandsetzungen. Nachlaß Verfügungen. Heiratsverlöbnisse. Wittumsregelungen. Bestätigungen betr. Einhaltung bereits eingegangener Verpflichtungen, z. B . Zahlungsverpflichtungen . Bürgschaftsverpflichtungen. Nutzungsverträge. Belehnungen. Schenkungen. Stiftungen (bes. Seelgerätsstiftungen) u . a . ; Beistandsverpflichtungen sind öfters Bestandteile anderer Vertragsinhalte, wie natürlich überhaupt eine vertragliche Abmachung inhaltlich verschiedene Punkte enthalten kann. Weitere Urkundsinhalte lassen sich kaum als typisch begreifen. Wegen ihrer besonderen

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Urkunden Interessantheit seien aber die U . des Straßburger Bischofs W a l t h e r v . G e r o l d s e c k erwähnt, der sich in den Auseinandersetzungen der Jahre 1261-1266 (dem „Waltherkrieg") zwischen ihm und der Straßburger Bürgerschaft, die sich im Aufstand gegen ihren bischöflichen Stadtherren die Behauptung ihrer Freiheitsrechte erkämpfte, mit raffinierter Argumentationskunst an diejenigen Bürger wendet, die mit diseme gewalte niht vmbe gant, um zu seinen Gunsten Zwiespalt zu schaffen, indem er Versprechungen macht und jedes

eigene Verschulden von sich weist (zur Sache: Corpusregesten N r . N l f f . ; I. S t o l z e n b e r g a. a. O . S. 234; U . Schulze, Die frühesten dtschsprachigen U. aus Straßburg als Kampfinstrument im Waltherkrieg, in: Festschrift f. H . M . Heinrichs, 1978). Die ersten dt. U . in Straßburg wurden damit durch inhaltliche, d. h. hier politische, Gründe hervorgerufen. Bettina

Kirschstein

Utopie s. Science Fiction, Staatsroman.

V Vereine, literarische § 1. Allgemeines. Der literar. V. gehört zu den Ideal-V.en. Daneben gibt es die sog. Wirtschafts-V.e, die auf materiellen Gewinn für ihre Mitglieder ausgerichtet sind. Zweck des literar. V.s ist die rezeptive Beschäftigung mit der schönen Lit., wobei nach Dichtern benannte V.e sich je nach V.szweck ausschließlich, hauptsächlich oder nur u. a. mit deren Werk befassen. Das geschieht in Form von Vortrags- u. Diskussionsabenden, Ausstellungen, Exkursionen, Gedenkfeiern, Dichterlesungen, Theaterbesuchen, Errichtung von Denkmälern und Gedenktafeln, Herausgabe von histor.-krit. oder ,für die einfachen Leser bearb.' Werkausgaben u. Einzelwerken, Periodika u. sonstigem Schrifttum. Das Spektrum der literar. V.e reicht von der kleinen popularisierenden , Gemeinde' bis zur rein wiss. Institution, z . B . der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel oder dem Adalbert-Stifterlnstitut in Linz/Donau mit ausschließlich ernannten ordentl. u. korrespond. Mitgliedern. Als Beispiel für die erstgenannte Gruppe mag einerseits die 1921 von Studienräten gebildete Bayreuther Jean-Paul-Gemeinde dienen, die sich in der Abgeschiedenheit eines kleinen Kränzchens wohlfühlte und den Plan zur Errichtung einer überregionalen Jean-Paul-Ges. mit Abneigung verfolgte; nachdem ihr aber eine ansehnliche Vertretung in der V.sführung zugesichert war, hat sie sich integrieren lassen und bildete im übrigen den ersten einer Reihe nach und nach entstehender Orts-V.e. Demgegenüber ist die Adalbert-Stifter-Gemeinschaft Leichlingen ein Beispiel für eine durch ihre Mitglieder, großenteils Lehrer, von denen mehrere Stifter-Schulausgaben herausgegeben haben, durch Werkheft, Dia-Serien u.a.m. auf Breitenwirkung bedachte 'Gemeinde'. Literar. V.e haben eo ipso auch eine pädagogische Zielsetzung, sowohl der allg. wie der Dichter-V., der den von ihm Verehrten in der Regel nicht nur als lit. vorbildlich ansieht. Seit dem 19. Jh. gibt es aber auch ausschließlich der

Volksbildung verpflichtete literar. V.e, die oft auf Betreiben führender Persönlichkeiten und Institutionen des öffentlichen Lebens entstanden. Neuerdings wird diese Tradition fortgesetzt in der 1976 wesentlich auf Betreiben des Börsenvereins gegr. Dt. Leseges., einer reinen Leseförderungsges. ohne weitergehende Bildungsabsichten. Schon 1961 war die z . T . vergleichbare österr. Ges. für Lit. errichtet worden. Zahlreicher sind heute Vereinigungen zur Förderung guter Jugendliteratur. Ursprünglich war der literar. V. lokal begrenzt. Er führte die literarisch Interessierten einer Stadt zusammen (Literar. V. Hamburg, Literar. V. Hof, die Naumburger Litteraria u. a.). War da ein allg. Interesse an der Lit. wie am geselligen Leben überhaupt treibende Kraft, so sind die lokal begrenzten Dichter-V.e eher eine Sonderform des Heimat-V.s. Man pflegt ein Geburts-, Wohn- oder Sterbehaus und andere im Leben des Verehrten bedeutsame Stätten und wird erst sekundär zum Lit.freund, oft nur der Schriften dieses einen Dichters. Während örtl. begrenzte V.e ihren Zweck im regelmäßigen Beisammensein und in der Pflege des materiellen Nachlasses eines Dichters sehen, beschäftigen die überregionalen V.e sich vor allem mit der Erschließung des lit. Werkes. Dazu wird ein Lit.archiv aufgebaut, dann werden die Werke herausgegeben, der wiss. Kontakt unter den Mitgliedern wird durch Tagungen u. Zeitschriften gepflegt. Viele überregionale V.e haben sich aus lokalen entwickelt; als bedeutendstes Beispiel ist die Dt. Schillerges. zu nennen, die, 1835 als Marbacher SchillerDenkmal-V. gegr., nach der Denkmalerrichtung als Marbacher Schiller-V. weiterlebte, 1895 in einen Schwab. Schiller-V. umgewandelt u. nach dem Zweiten Weltkrieg als Dt. Schillerges. wiedererrichtet wurde. Die Lebenskraft eines literar. V.s beruht entweder auf lokalen Interessen oder auf wiss. Zielsetzung. Wo beides fehlt und die Gemeinschaft nur auf einer Gemütsverfassung der Mitglieder basiert oder ein einmal begonnener Übergang von der einen zur anderen V.sform

Vereine (literarische) nicht voll gelingt, ist kaum mit längerem Bestehen des V.s zu rechnen. § 2. G e s c h i c h t e des V . s w e s e n s . Humanist. Sodalitäten (s. Akademien), barocke Sprachgesellschaften (s. d.), Deutsche Gesellschaften (s. d.) waren Zusammenschlüsse meist selbst schreibender Gelehrter und Dichter. Seit aber der aufgeklärte Bürger des 18. Jh.s die traditionellen familiären und berufsständ. Bande lockerte und im Verein mit Gleichgesinnten mehr Wissen erstrebte, das er am besten aus der zur selben Zeit aufblühenden bürgernahen Lit. gewinnen konnte, entstanden reine R e z i p i e n t e n - V e r e i n i g u n g e n ; gemeinsam ließ sich die teure Lektüre leichter erwerben. Bald gab es auch Zusammenschlüsse, deren Zweck neben der Lektüre die Diskussion über das Gelesene war. Man pflegte die ganze Skala der polit.-pragmat. Aufklärungslit., und es wurden eigens auf diesen Leserkreis zielende Schriften und Periodika herausgegeben. Lesegesellschaften dienten, anders als die zeitgenössischen, nach außen wirkenden Patriotischgemeinnützigen Gesellschaften, der Befriedigung der Interessen ihrer Mitglieder und deren eigener Vervollkommnung. Neben das Streben nach Belehrung trat nach und nach das nach Unterhaltung; es war im 19. Jh. oft einziger Zweck des V.s, vor allem, weil die anfangs vielerorts wohlgesinnte Staatsmacht reichsweit hinter diesen eigenständigen Bürgereinrichtungen zusehends geheimbündlerische, polit.revolutionäre Vereinigungen nach Pariser Vorbild sah. Nach Ausbruch der Franz. Revolution hatte das aufgrund der Machtergreifung durch die Mainzer Klubbisten nach dem Fall der Stadt 1793 per Reichsgesetz erlassene Klubverbot die Entfaltung der V.e vorübergehend fast zum Stillstand gebracht. Seit 1800 gab es wieder zahlreiche Neugründungen. Schon um 1610 bestand in Kitzingen ein L e s e z i r k e l . Er wurde an einigen Orten nachgeahmt. Der 30jähr. Krieg beendete diese Entwicklung. 1683 entstand dann in Wien das erste Kaffeehaus, Keimzelle der späteren Lektürekabinette. Das erste Pariser Lesekabinett läßt sich bis 1701 zurückverfolgen. 1726 wurde in Edinburgh die erste engl. Lesebibliothek, subscription library, gegründet. Die ersten literar. Vereinigungen in Deutschland waren Gemeinschaftsabonnements einiger weniger Personen zum Bezug einer Zeitschrift, woraus sich seit ca. 1750 Lesezirkel mit mehr Mitgliedern und

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reichhaltigerem Lektürebestand entwickelten. Weiter entstanden Lesebibliotheken (in Berlin schon seit Anf. des 18. Jh.s), Lesekabinette, ländl. Aufklärungs-Lesegesellschaften, Clubs und meist buchhändl. Museen-, daneben blühten zahlreiche private Zirkel. Bis 1820 sind rund 600 teils kurzlebige Gesellschaften in Deutschland nachweisbar. - Mitgliedschaft und Benutzung waren meistens fest geregelt. Die Mitglieder kamen aus dem gehobenen Bürgerstand. Die Statuten waren durchweg betont demokratisch. Schöne Lit. fehlte im Lektüreplan zunächst fast ganz. Erst in dem Maß, wie die V.e zu geselligen Kreisen wurden, denen nun auch Frauen angehörten, gewann die B e l l e t r i s t i k an Bedeutung. Es entstanden erste literar. Gesellschaften im engeren Sinne, die einem intimen Freundschaftskult huldigten und sich nur noch der Dichtung und den schönen Künsten widmeten. Schließlich kam es zu den geselligen V.en der Restaurationszeit, die, den Mangel staatl. Einheit beklagend, sich um so begeisterter dem Kult der ideellen hingaben, die sich ihnen in dem neu entstehenden Kanon klass. dt. Dichter und Dichtungen manifestierte. Dies dokumentierte man durch Errichtung von Denkmälern; es entstanden eigene (insbesondere Schiller- und Goethe-)DenkmalV.e. Fürs gesellige Leben benötigte man nun ganze Häuser mit Salons, Ballsälen etc. Die V.sgebäude wurden Mittelpunkt des V.slebens, oft des gesellschaftl. Lebens einer Stadt. Eine nicht unbeträchtliche Zahl dieser V.e besteht noch heute, manche wohl nur insofern, als sie sich nicht ausdrücklich aufgelöst haben. Neben den geselligen V.en, den Museen, Harmonien, Casinos, Liederkränzen etc. entstanden rein literar.-künstler. V.e. Spätestens seit Anfang des 20. Jh.s gibt es kaum eine Stadt ohne V. Große Städte hatten bald mehrere literar. V.e nebeneinander, z . B . Dresden (Literar. V., gegr. 1863; Ges. für Herren u. Damen, 1881; Literar. Ges., 1886; Ges. für Lit. u. Kunst, 1888), Straßburg (Histor.-literar. Zweig-V. des Vogesen-Clubs, 1884; Alsabund, 1893; Ges. für Elsäss. Lit., 1912), Frankfurt a. M. (Freie literar. Ges., 1901; Jüdisch-literar. Ges., 1901; Ges. für ästhet. Kultur, 1901). Berlin weist allein für die Zeit zwischen 1870 und 1914 über 15 Neugründungen auf, Wien 10. In kleinen Städten versuchte meist ein einziger V., allen möglichen schöngeistigen Interessen zu dienen, als Philo-

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Vereine (literarische)

mathie, Wissenschaftl. oder Wissenschaftl.literar. V., Ges. f . Kunst und Wissenschaft o. ä. Eine andere Gruppe bilden die um 1848 vor allem in Prag und Berlin entstandenen akademisch-literar. V.e. Die meisten existierten nur kurz, doch entstanden bis zum 1. Weltkrieg an Universitätsstädten immer wieder neue, auch akademisch-dramatische. Neben die letzteren treten seit der Jh.wende überall die ausschließlich rezeptiven Volksbühnen u. Theatergemeinden. Im Rahmen der in ihren Anfängen ins frühe 19. Jh. zurückreichenden V o l k s b i l d u n g s bewegung waren verschiedenartige, u.a. literar.-pädagog. V.e entstanden. Schon 1830 hatten die bayer. Bischöfe eine Ges. zur Verbreitung guter Bücher ins Leben gerufen, in Wien war ein V. zur Verbreitung guter kath. Bücher entstanden, 1845 wurde der noch heute aktive Borromäus-V. errichtet. Evang. V.sgründungen folgten wenig später. Ein V. ohne konfessionelle Bindung war z . B . der Zwickauer Volksschriften-V. von 1841. Später, 1889, wurde in Weimar ein V. zur Massenverbreitung guter Lit. gegründet, 1892 ein V. zur Verbreitung guter volkstüml. Schriften mit Sitz in Berlin, in Hamburg 1910 ein V. zur Verbreitung guter Jugendschriften. 1832 waren durch Bundesbeschluß alle polit. V.e verboten worden. Daher verhielten sich diese V.e ausgesprochen unpolitisch. Nach 1848, mehr noch seit 1870/ 71 sahen sie eine ihrer Hauptaufgaben darin, der Politisierung der Arbeiter entgegenzuwirken, indem sie sie zu ideellen Schönheiten u. Werten hinführten. Seit der polit. Einigung Deutschlands und den Gründerjahren sehnte auch der Bildungsbürger selbst sich nach einer von Alltagsquerelen reinen Kunstwelt. Dieses Verlangen gipfelte im 1902 gegr. Dürerbund, der eine völlige „Loslösung ästhetischer aus der Verquickung mit anderen Fragen" propagierte. Daneben gab es b e r u f s s t ä n d i s c h e V.e. Vorläufer waren die ökonomischen und Patriotischen V.e des 18. Jh.s; Vorbild waren außerdem die Handwerker-Vereinigungen in England und den USA. Ihnen ging es nicht um Schöngeisterei, sondern um das, was ihren Mitgliedern im Alltag von Nutzen sein konnte. Da die Kenntnis der klass. dt. Lit. zum Bildungskonzept der Zeit gehörte, galt es als nützlich, sich auch damit zu beschäftigen. So wurden innerhalb dieser Vereinigungen gern literar. Sektionen eingerichtet. Ein 1859

in Hamburg gegr. kaufmänn. V. mit einer derartigen Sektion nannte sich unter dem Eindruck der Schiller-Säkular-Feiern des Jahres gar Schiller-V. Uberhaupt spielte Schiller als Heros der dt. Einheit zu dieser Zeit fürs V.sleben eine wichtige Rolle und wurde früher als andere Dichter Namenspatron mancher V.e, und zwar solcher, die nicht spezifisch literarisch interessiert waren. Allmählich folgten weitere Dichtern gewidmete V.e, so 1863 ein Lessing-V. in Kamenz zur Pflege der klass. Lit., 1868 ein Literar. Klub Anastasius Grün in Wien, 1872 ein Klopstock-V. in Quedlinburg, 1874 ein Grillparzer-V. in Wien. 1878 wurde der 1867 gegr. Wiss. Klub in Wien in Goethe-V. umbenannt. Es waren bildungsbürgerl. V.e, die sich im Lichte des Verehrten sonnen und einen Beitrag zu seiner Popularisierung leisten wollten. Seit dem Ende des Jh.s sprießen solche V.e immer zahlreicher hervor. 1859 war anläßlich des Schiller-Säkulums im Frankfurter Goethehaus das Freie Deutsche Hochstift als nationales Zentrum „für alle freie Tätigkeit in Wissenschaft, Kunst und allgemeinen Bildungseinrichtungen" gegründet worden. Die ersten rein wiss. dt. V.e zur Erforschung eines bestimmten Dichters und seines Werkes waren die 1864 gegr. Shakespeare- und die 1865 gegr. Dante-Gesellschaft. Die Geschichte der nach einem Dichter benannten wiss. V. e beginnt also mit fremdsprachigen Autoren. Die Verehrung der dt. Autoren war noch zu sehr mit sachfremden Funktionen belastet. Erst 1885 folgte die Gründung der Weimarer GoetheGes., wobei zufällige äußere Anlässe (Tod des letzten Goethe-Enkels, Vererbung des Nachlasses an die Großherzogin von SachsenWeimar) mit wissenschaftl. Interessen an der Errichtung eines Goethe-Archivs zusammentrafen. Nach dem Vorbild dieser Ges. mit Archiv, Plan zur Herausgabe einer histor.krit. Gesamtausgabe, eigenen Periodika und wiss. Veranstaltungen wurde 1889 in Wien die Grillparzer-Ges. gegründet. Als letzter großer V. des 19. Jh.s folgte 1895 der Schwäbische Schiller-V. Die Entstehung und Entwicklung der wiss. D i c h t e r - V . e hängt mit dem Positivismus und der Etablierung ausschließlich lit.wiss. Abteilungen in den Philologien zusammen. In denselben wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang gehören die nur zur Herausgabe von Publikationen gegründeten V.e wie die

Vereine (literarische) Ges. für german. Philologie (1877, Berlin) und die Ges. für Roman. Lit. (1902, Dresden), auch die 1891 in Berlin gegr. LiteraturarchivGes. - Während die kleineren V.e durch Propagierung des Verehrten eine Existenzberechtigung von nationaler Wichtigkeit zu beweisen trachteten, wurden umgekehrt die großen V.e von staatl. Repräsentanten umworben. Dennoch konnten gerade sie sich weitgehend von polit.-ideologischen Verstrickungen freihalten. Sie suchten nach 1918/19 die sich ausbreitende nationale Depression aufzufangen, indem sie das Volk unter Hinweis auf die Ideale der von ihnen verehrten Dichter aufforderten, die Ursache für den Verfall in der eigenen Entwicklung zu suchen und Konsequenzen zu ziehen. Der Kernsatz des Aufrufs der 1920 gegr. KleistGes. (Febr. 1922) lautete: „Zu Kleist stehen heißt deutsch sein!". Dagegen übten sich die kleineren V.e in Klagen über das vaterländische Los und meinten, in Abkapselung von der Außenwelt wenigstens den Vereinsmitgliedern inneres Glück und Frieden verschaffen zu können. Statt sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, ersehnte man ein in die Welt des Verehrten projiziertes Ideal - und hing schließlich dem Nationalsozialismus an, dem angeblichen Vorkämpfer für verlorene nationale Errungenschaften und Tugenden. Darum gehörten gerade die in den 20er Jahren gegründeten V.e bald zu den überzeugtesten Anhängern des Dritten Reichs. Die großen älteren V.e versuchten viel länger, an eigenen, im Lauf der V.sgeschichte erworbenen Erfahrungen und Überzeugungen festzuhalten. Ursprünglich sollte durch das B G B die staatliche K o n t r o l l e über das V.swesen begünstigt werden. Diese Tendenz wurde rasch fallengelassen. Eine zentrale Registrierung aller V.e fehlte sowieso. Es gab nur private Initiativen zur Zusammenarbeit gleichgearteter V.e, z . B . den Verband dt. literar. Gesellschaften (1896, Berlin), regional begrenzt etwa den Verband der literar. Gesellschaften rhein. Städte (1907, Düsseldorf). Erst im Dritten Reich wurde von staatl. Seite der Versuch unternommen, das V.swesen im Rahmen der berufsständischen Gliederung des Volkes zentral zu erfassen, wenn auch in der für jene Herrschaftsform typischen Zersplitterung von Zuständigkeiten. Am 22. Dez. 1933 wurde eine Arbeitsgemeinschaft der literar. V.e und Vortragsveranstalter als korporatives Mitglied der Reichsschrifttumskammer (RSK) gegründet.

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Am 5. Jan. 1938 wurde sie als Abt. IV der RSK eingegliedert. Jedoch traten nicht alle V.e bei. Die kulturpolit. Führung lag beim Reichspropagandaministerium. Jede geplante Veranstaltung mußte dem zuständigen Propagandaamt angezeigt werden. Seit dem 25. Juli 1939 konnten die V.e aufgefordert werden, sich mit anderen V.en im Reichswerk Buch u. Volk zusammenzuschließen und dies auch im V.snamen auszudrücken: Reichswerk Buch u. Volk. NN-Ges. Aber nur wenige V.e wurden eingegliedert. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs endeten diese Zentralisierungsversuche. N a c h dem 2. Weltkrieg entwickelte sich der 1945 gegr. gesamtdt. Kulturbund zur demokrat. Erneuerung Deutschlands, im Westen später teilweise verboten, als Dt. Kulturbund (seit 1958) zu einer halbstaatl. zentralen Organisation des gesamten (nicht nur literar.) V.swesens in der D D R . Es gibt in der D D R außerhalb des Dt. Kulturbundes (DKB) nur noch wenige eigenständige V.e. Der D K B ist in Bezirks-, Kreis-, Orts- u. Hochschulgruppen gegliedert. Zentrale Kommissionen für die verschiedenen Sparten, z.B. für Lit., geben den regionalen Arbeitskreisen Anleitungen. Der zentralen Leitung weniger fest untergeordnet sind die Freundeskreise im DKB als Gemeinschaften von Kunst- u. Lit.freunden. Im Westen gibt es seit Kriegsende keine zentrale staatl. Erfassung mehr; eine Arbeitsgemeinschaft kultur. Organisationen z . B . besteht seit 1959 in Düsseldorf. Nach Aufhebung des von den Besatzungsmächten erlassenen Verbots jeglicher V.stätigkeit hatten viele V.e versucht, das darniederliegende V.sleben zu reaktivieren, andere nahmen regelrechte Neugründungen vor. Nach wie vor spiegelt die Geschichte des literar. V.swesens die polit. Geschichte, so z.B. in der 1946 von Max Stefl vollzogenen Gründung der Münchner Adalbert-Stifter-Ges. zusätzlich zu der seit Jahren als Zentrum der Stifterforschung u. -Verehrung fungierenden Wiener Ges., und zwar ausdrücklich mit deren Wissen und Billigung, weil der zur Aufrechterhaltung der breiten Ges.sarbeit notwendige Kontakt zwischen den dt. Zonen u. Wien auf Jahre unterbrochen war, so in der 1960 vollzogenen Westberliner Gründung der Kleist-Ges., die sich nicht als Rechtsnachfolgerin der alten, polit. diskreditierten KleistGes. versteht, so in der allmählich, seit 1964 endgültig vollzogenen Spaltung der Shakespeare-Ges. in eine östliche u. eine westliche,

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a b e r a u c h in d e r I n t e r n a t i o n a l i s i e r u n g d e r W e i m a r e r Goethe-Ges., die ihr die Teilung ers p a r t e , a u c h in d e r G r ü n d u n g d e r Förderges. für die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe 1976 als W i d e r p a r t z u r Stuttgarter Ausgabe, die von der mit einer berüchtigten nationalsozialist. Entstehungsgeschichte belasteten FriedrichHölderlin-Ges. g e f ö r d e r t w o r d e n ist. Als n e u e F o r m der V e r m i t t l u n g literar. T e x t e k ö n n e n d i e Literar. Foren, Lyrischen Studios o . ä. o h n e f e s t e n M i t g l i e d e r k r e i s a n g e sehen werden. D a werden Dichterlesungen, V o r t r a g s a b e n d e e t c . v o n p r i v a t e r Seite, v o r nehmlich von Buchhändlern, organisiert. B u c h h ä n d l e r w a r e n es a u c h , d i e i m 18. J h . L e k t ü r e k a b i n e t t e z u r V e r f ü g u n g gestellt u n d damit die E n t s t e h u n g der literar. V.e entscheidend gefördert haben. Abgeschlossene Verzeichnisse: H a n s Adam S t o e h r , Allgem. Dt. Vereins-Handbuch. Statist. Repertorium d. Gelehrten Ges. u. Wiss.-gemeinnützigen V.e d. Staaten d. dermaligen Dt. Reiches, des österr.-Ungar. Reiches u. der Schweiz. Hg. vom Freien D t . Hochstifte. T . 1 (1873). Johannes M ü l l e r , Die wiss. V.e u. Gesellschaften Deutschlands im 19. Jh. Bibliographie ihrer Veröffentlichungen. 2 Bde (1883-1917; N a c h d r . 1965). Friedrich D o m a y , Handbuch d. dt. wiss. Gesellschaften einschl. zahlreicher Forschungsinst. in der Bundesrep. Deutschland u. Arb.gem.en (1964). Johannes H a n s e l , Personalbibliographie z. dt. Lit.geschickte. 2., neubearb. u. erg. Aufl. v. Carl Paschek (1974). H a n s F. P r o k o p , Osterreich. Lit.handbuch (1974). Laufende Verzeichnisse oder V.smitteilungen: Kürschners Dt. Lit.kalender l f f . (1879ff.). Das lit. Echo. Halbmonatsschrift f . Lit.freunde. 1-42 (1898/99-1939/40); ab 26 (1923/24) u . d . T . : Die Literatur. Jb. f . Internat. Germanistik. 1 ff. 1969 ff. Umfassendere Darstellungen: Handbuch d. Bibliothekswiss. Begr. v. Fritz M i l k a u . 2. Aufl. hg. v. Georg L e y h , Bd. 3,2: Gesch. d. Bibliotheken (1957). Handbuch d. Büchereiwesens. H g . v. Johannes L a n g f e l d t , 1,1 (1975). Jürgen H a b e r m a s , Strukturwandel d. Öffentlichkeit. Unters, zu e. Kategorie d. bürgert. Ges. (4. Aufl. 1969; Politica 4). H e l m u t J a n s o n , 45 Lesegesellschaften um 1800 bis heute. Harmonie-Alm. (1963). Joseph L e f i t z , Die gelehrten u. literar. Gesellschaften im Elsaß vor 1870 (1931; Schriften d. Elsaß-Lothring. Wiss. Ges. A , 6). — Günter E r n i n g , Das Lesen u. die Lesewut. Beitr. zu Fragen der Lesergesch., dargest. am Beispiel der Schwab. Provinz (1974). Einzelne V.sgruppen: Heinrich Cunow, Polit. Kaffeehäuser. Pariser Silhouetten aus der

großen franz. Rev. (1925). Alois J e s i n g e r , Wiener Lekturkabinette (Wien 1928; Ges. d. Bibliophilen 15,2). Rolf E n g e l s i n g , Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500-1800 (1974). K. F e l s k e , Aus d. Gesch. d. Lesezirkel, in: 50 Jahre Verband Dt. Lesezirkel e.V. 1908-1958 (1958) S. 19-33. Johann G o l d f r i e d r i c h , Geschichte des Dt. Buchhandels. Bd. 3 (1909) S. 251-264. Josef H a n s e n , Quellen zur Geschichte d. Rheinlandes im Zeitalter d. franz. Rev. 1780-1801. 4. Bde. (1931-38; Publikationen d. Ges. f ü r rhein. Gesch.künde 42). H a n s H u b r i g , Die patriot. Gesellschaften d. 18. Jh.s (1957; Göttinger Studien zur Pädagogik 36). G . L e y h , in: D L Z . 78 (1957) Sp. 481-486. M. P r ü s e n e r , Lesegesellschaften im 18. Jh. E. Beitr. zur Lesergeschichte. Archiv f ü r Gesch. d. Buchwesens 13 (1973) Sp. 369-594. O . D a r i n , Die Ges. der dt. Spätaufklärung im Spiegel ihrer Leseges.en, in: Buchhandelsgesch. Eine Beil. der Hist. K o m m , des Börsenvereins 23 (1977) S. B 441-B 449. Ingeborg D r e w i t z , Berliner Salons. Ges. u. Lit. zwischen Aufklärung u. Industriezeitalter (1965; Berlinische Reminiszenzen 7). Zürichs literar. Zirkel. Tradition u. Gegenwart. N e u e Zürcher Ztg., 2. 5. 1975, S. 41. F. A v e n a r i u s , Literar. V.e. Der Kunstwart 16,1 (1902/03) S. 49-53. R. M a y , Die großen literar. Gesellschaften. Die lit. Ges. 1 (1915), H . 1, S. 28-31; H . 2, S. 21-25. — A. O . S t o l z e , Vom Sinn lit. Gesellschaften. Welt u. W o r t 1,3 (1946) S. 95. E. H a r t l , Diese Lit.gesellschaften! Die Presse, Wien, 20./21. 7. 1974, S. 7. — E. T i s c h e r , Literar. Ges.en. Zur Diskussion. Heine-Jb. 15 (1976) S. 183-186. Z u m 3. Reich: Handbuch d. Reichsschrifttumskammer. H g . v. Wilhelm I h d e unter Mitw. v. G ü n t h e r G e n t z (1942). Das Recht der Reichskulturkammer. Sammlung der für den Kulturstand geltenden Gesetze u. Verordnungen. Bd. 1.2. (1943; Guttentagsche Samml. D t . Reichsgesetze. Kommentare u. erl. Textausgaben. 225). Virgilio R o l l e r i , Der Führergrundsatz im V.srecht (1936). § 3 . V . s r e c h t . D a s d t . V . s w e s e n ist e r s t d u r c h d a s a m 1. J a n . 1900 in K r a f t g e t r e t e n e B G B j u r i s t i s c h g e r e g e l t w o r d e n , n a c h d e m es v o r h e r s c h o n in e i n z e l n e n L a n d e s r e c h t e n w i e in P r e u ß e n u n d B a d e n b e s o n d e r e B e s t i m m u n g e n g e g e b e n h a t t e . - L a u t G G ( A r t . 9) h a b e n „alle D e u t s c h e n das Recht, V . e u n d Gesells c h a f t e n z u b i l d e n " , s o w e i t sie n i c h t g e g e n d i e Gesetze, „die verfassungsmäßige O r d n u n g oder den Gedanken der Völkerverständigung v e r s t o ß e n " . V . i m j u r i s t . S i n n ist „ j e d e V e r e i n i g u n g , z u d e r sich e i n e M e h r h e i t n a t ü r l . o d e r jurist. P e r s o n e n f ü r längere Zeit z u einem gemeinsamen Z w e c k freiwillig z u s a m m e n g e -

Vereine (literarische) schlössen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat" (V.sgesetz vom 5. 8. 1964, §2). U m rechtsfähig zu werden, beantragt ein V. die Eintragung ins V.sregister des Amtsgerichts, in dessen Geltungsbereich er seinen Sitz nimmt. Das V.sregister legt die rechtlichen und faktischen Verhältnisse des V.s offen und kann von jedem eingesehen werden. Für die Eintragung müssen bestimmte N o r m e n erfüllt werden, die für den privatrechtl. Bereich durch BGB §§ 21-79, f ü r den öffentl.-rechtl. Bereich durch das an die Stelle älterer Gesetze getretene V.sgesetz vom 5. Aug. 1964 geregelt sind. Der e.V. ist selbständiges Rechtssubjekt mit Verfassung, N a m e n , Zweck, eignen Organen und v.seignem Vermögen. Als jurist. Person ist er auch gegenüber seinen Mitgliedern selbständig. N a m e , Sitz, Zweck und Organe werden durch die Satzung festgelegt. Notwendige Organe sind der Vorstand und die Mitgliederversammlung. D e r Vorstand wird in der Regel von der Mitgliederversammlung gewählt. Er führt die Geschäfte und vertritt den V. rechtsverbindlich nach außen. Er beruft die Mitgliederversammlung ein, das oberste Organ des V.s. Sofern die Satzung nichts anderes bestimmt, kann sie über alle V.sangelegenheiten entscheiden. Allen Mitgliedern stehen die allgem. Mitgliederrechte in gleicher Weise zu; darüber hinaus können einzelnen Sonderrechte erteilt werden. Mitglied können natürl. und jurist. Personen, aber auch nicht rechtsfähige V.e sein. Ein V. kann regionale Untergliederungen bilden, Landes-, Bezirks-, Ortsgruppen. Sie sind nicht rechtsfähig und können nur stellvertretend für den Haupt-V. tätig werden. Auch wenn sie sich eine besondere Satzung geben und satzungsmäßige Sonderrechte für ihre Mitglieder erwerben, bleiben sie rechtl. Bestandteil des Haupt-V.s. Doch sind da verschiedene Abstufungen möglich. Der nicht eingetragene V. wird rechtl. wie eine Gesellschaft des bürgerl. Rechts behandelt: Seine Mitglieder sind „ z u r gesamten H a n d " Träger aller Verpflichtungen des V.s. Trotzdem ist er keine solche Gesellschaft, sondern wie der e.V. körperschaftl. organisiert. O h n e Eintragung ins V.sregister ist er aber nicht rechtsfähig. Die offizielle rechtliche Regelung durch das BGB der D D R entspricht, abgesehen von einigen Verbotsgründen, durchweg der bun-

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desdeutschen. Zuständig für die Registrierung sind seit der Verordnung vom 9. N o v . 1967 nicht mehr die jeweiligen Amtsgerichte, sondern je nach Tätigkeitsbreite des V.s der Kreisrat, Bezirksrat oder das Innenministerium. Im Ö s t e r r e i c h . Allg. BGB hält sich bis heute die sonst veraltete Formulierung der „erlaubten G e s . " für den e.V. Das V.srecht vom 15. N o v . 1867 in der Wiederverlautbarung vom 28. Aug. 1951 mit Änderungsgesetz vom 4. April 1962 schreibt als Meldestelle den jeweiligen Landeshauptmann, bei den V.en, die sich über mehr als ein Bundesland erstrecken, das Innenministerium vor. Der Behörde sind alle Versammlungen vorher anzuzeigen, sie kann einen Abgeordneten mit Vetorecht schicken. Die Versammelten müssen nach Abschluß der Versammlung sogleich auseinandergehen. Hier klingen deutlich noch die Vorbehalte der Staatsmacht aus der Entstehungszeit des V.s-Gesetzes nach. U m so freizügiger verfährt das s c h w e i z e r i s c h e Z G B von 1907. Für ideelle V.e ist keine staatl. Registrierung erforderlich; sie werden jurist. Persönlichkeit, „sobald der Wille, als Körperschaft zu bestehen, aus den Statuten ersichtlich ist" (§ 60). Für die Abfassung der Statuten gelten dem BGB entsprechende Vorschriften. Paul Altmann, Handbuch d. dt. V.srechtes. Zugl. e. Beitr. zu d. Lehre von d. jurist. Personen (1905). Bernhard Reichert, Franz J. D a n n ecker u. Christian Kühr, Handbuch d. V.s- u. Verbandsrechts (1970). Eugen Sauter u. Gerhard Schweyer, Der eingetragene V. Eine gemeinverständl. Erl. d. V.srechts unter bes. Berücks. d. neuesten Rechtsprechung (8. Aufl. 1972). Richard Breitbach, Nicht rechtsf. V.e u. Körperschaften. E. rechtstatsächl. Unters, über Umfang u. Grenzen d. Gleichstellung von nicht rechtsf. V.en u. Körperschaften (1930; Studien zur Erl. d. bürgerl. Rechts 44). Der bürgerl.-rechtl. V. im neuen Staat. Aus Entscheidungen dt. Gerichte. Dt. Justiz 35 (1933) S. 662-663. — Bundesrep. Deutschland: BGB u. zugehörige Gesetze. Textausg. mit Verweisungen u. Sachverz. (92. Aufl. 1972). Gesetz z. Regelung d. öffentl. V.srechts (Vereinsgesetz). Vom 5. Aug. 1964, in: BGBl. I (1964) S. 593. Thomas Vormbaum, Die Rechtsfähigkeit d. V.e im 19. Jh. E. Beitr. zur Entstehungsgesch. d. BGB (1976; Münstersche Beiträge zur Rechts- u. Staatswiss. 21). — DDR: Die Verfassung d. Dt. Demokrat. Rep. Vom 6. April 1968, in: GBl. der DDR I (1968) S. 199, Art. 29. BGB mit wichtigen Nebengesetzen. Textausg. mit

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Anm. u. Sachreg. Hg. vom Min. d. Justiz [ = DDR] (1967). Verordn. zur Registrierung von Vereinigungen vom 9. Nov. 1967, in: GBl. der DDR II (1967) S. 861-862. Georg Brunner, Einf. in d. Recht d. DDR (2. neubearb. u. erw. Aufl. 1979; Schriftenr. d. Jurist. Schulung 19). Österreich: Das Allg. BGB samt d. einscbläg. Gesetzen u. Verordnungen, [. . .] Hg. v. Hans Kapfer (29. Aufl. 1972; Manzsche Ausg. d. Österreich. Gesetze. Große Ausg. II). Kundmachung d. Bundesreg. vom 28. Aug. 1951 über d. Wiederverlautbarung des Gesetzes vom Ii. Nov. 1867, RGBl. Nr. 134, über das V.srecbt, in: BGBl, für die Rep. Österreich 1951, Nr. 233, S. 903-906. Bundesgesetz vom 4. April 1962, mit dem das V.sgesetz 1951 abgeändert u. erg. wird, in: BGBl. f. d. Rep. Österreich 1962, Nr. 102, S. 571. — Schweiz: Schweizerisches Zivilgesetzbuch mit Obligationenrecht. Textausg. mit Einl., Anm., Ausführungsvorschriften u. Gesamtreg. v. W. S c h ö n b e r g e r (1948).

§ 4. Derzeit bestehende literar. V.e. Allgem. und lokale literar. V.e: Aachen: Club Aachener Casino, gegr. 1805; Amriswil: Schweizer. Vortragsverband, 1911; Basel: Allgem. Lese-Ges., 1787, V. schweizer. Lit.freunde Basel, 1917, Literar. Forum Basel, 1969; Berlin-, Dt. Kulturgemeinschaft Urania Berlin, 1888, Ges. f. Theatergesch., 1902, Sophie-Charlotte-Club zu Berlin u. Klopstock-Ges., 1917 (vereinigt 1929), Dt. Kulturbund der DDR, 1945, Dramaturg. Ges., 1956, Literar. Colloquium Berlin, 1963, Verein zur Förderung des guten Jugendbuches, 1971, Neue Ges. für Lit., 1973; Bern: Schweizer. Bund für Jugendlit., 1954; Biel: Literar. Ges. Biel, 1941; Bochum: Ges. Harmonie, 1917; Bonn: Lese- u. Erholungs-Ges., 1787, Borromäus-V., 1845, Lyrisches Studio Bonn, 1966, Dt. Ges. für Allgem. und Vgl. Lit.Wissenschaft, 1969, Dt. Leseges., 1976; Borken: Societät, 1804; Braunschweig: Literar. Vereinigung B., 1945; Bremen: Club zu B., 1774, Literar. Ges., 1870; Chicago: Literar. Ges., 1916; Coesfeld: Verein, 1821; Darmstadt: Freie literar. Ges., 1956, Ges. Hess. Lit.freunde, 1960; Dortmund: Ges. Casino, 1812; Düsseldorf: Ges. ,Zur Ludwigsburg', 1833, Arb.gem. kultur. Organisationen, 1959; Duisburg: Ges. Societät, 1774, V. für Lit. u. Kunst, 1908; Erlangen: Neue Ges. für Lit. E., 1976; Essen: Geselliger V., 1828; Eutin: E. literar. Ges., 1804; Frankfurt/M.: Dt. Jugendschriftenwerk, 1956, F. Ges. für Theaterwiss., 1959, F. Forum für Lit., 1965, Internat. Forschungs-Ges. für Kinder- u. Jugendlit., 1970; Freiburg/Br.: Museums-Ges. F., 1807; Gelsenkirchen: Literar. Werkstatt G., 1967; Genf: G. Ges. für dt. Kunst u. Lit., 1923; Göttingen: Vereinigung zur Pflege dt. Dichtung, 1918, Arb.kreis für Dt. Dichtung, 1967; Gräfelfing:

Literar. Ges. G., 1921; Hagen: Ges. Concordia, 1808; Hamburg: Ges. Harmonie, 1789, Quickborn. Vereinigung für nd. Sprache u. nd. Schrifttum, 1904, Neue Literar. Ges. H., 1966; Hamm: Klub-Ges. H., 1811, Harmonie-Ges., 1816; Hannover: Literar. Ges., 1918; Hildesheim: H. Club, 1789; Innsbruck: Der Turmbund. Ges. für Lit. u. Kunst, 1951 (vereinigt 1948 aus: Serles u. Collegium poeticum, beide 1946); Karlsruhe: K. KulturForum, 1962, Liter. Vereinigung, 1965; Kassel: Casino-Ges., 1803; Koblenz: Casino zu C., 1808; Köln: Casino-Ges., 1809, Literar. Ges., 1893; Krefeld: Ges. Verein, 1821; K.-Uerdingen: Casinoges., 1809; Landau: Literar. V. der Pfalz, 1878; Langenberg: Vereinigte Ges., 1798; Linz/Donau: Club der Begegnung, 1969, Poesie. Ges. zur Pflege klass. u. volksnaher Gedichtformen, 1972; Ludwigsburg: Museums-Ges., 1822; Mainz: Casino ,Hof zum Gutenberg', 1808; Mannheim: Harmonie-Ges., 1803; Meisenheim/Glan: M. Freundeskreis, 1948; Mödling: Literar. Ges. in M., 1934; Moers: Ges. Societät, 1780; München: Literar. Ges. ,Die Barke', 1932, Wangener Kreis. Ges. für Lit. u. Kunst ,Der Osten', 1950, Arb.kreis f. Jugendlit. 1955; Münster: Civil-Club, 1775, Ges. ,Zwei-Löwen-Club', 1796; New York: Literar. V., 1905; Niederems/Taunus: Arb.kreis für dt. Dichtung, 1957; Nürnberg: Pegnes. Blumenorden, 1644 (1874 verein, mit Literar. V., 1839), Ges. Museum, 1810; Paderborn: Lit.klub P., 1971; Ravensburg: R. Kreis, 1949; Rheine: Ges. zur Pflege des Märchengutes der europ. Völker, 1956; Saarbrücken: Literar. Union, 1956, Saarländ. Kulturkreis, 1961; Saarburg: Casino-Ges., 1829; Salzburg: Die Leselampe. S. Lit.forum, 1966; Schaffhausen: Lese-Ges., 1783/86; Schweinfurt: Harmonie-Ges., 1827, Vereinigung zur Pflege kulturellen Schrifttums, 1918; Soest: Ges. Ressource, 1803; Stuttgart: Literar. V. St., 1839; Trier: Casino-Ges., 1818; Tübingen: Museums-Ges., 1821; Unna: Ges. Societät, 1792, Ges. für dt. u. fremdsprachige Lyrik, 1963; Wädenswil: Lese-Ges. W., 1790; Wattwil: Vortrags- u. Lese-Ges. Toggenburg, 1941 (vorher: Literar. Ges. im T., 1828); Wien: Kulturgemeinschaft ,Der Kreis', 1932, Wiener Ges. für Theaterforschung, 1942, Ges. der Förderer österr. neuer Dramatiker, 1946, W. Kulturkreis, 1948, Arb.gemeinschaft Lit. im Niederösterreich. Bildungs- u. Heimatwerk, 1957, Österreich. Ges. für Lit, 1961, Wespennest. V. für Lit., Ästhetik u. Kulturpolitik, 1972; Wiesbaden: Casino-Ges., 1815; Winterthur: Literar. Vereinigung W., 1917; Wolfenbüttel: Dt. Ges. zur Erforschung des 18. Jh.s, 1975; Würzburg: Harmonie-Ges., 1802; Wuppertal-Barmen: Ges. Concordia, 1801; Zürich: Lesezirkel Hottingen. Literar. Ges. in Zürich, 1882, Ges. für dt. Sprache u. Lit. Z., 1893.

b. NN-V.e. Anzengruber-Ges., 1941, Sitz: Wien; Ernst-Barlach-Ges., 1946, Bendestorf; Arb.kreis Johannes R.

Vereine (literarische) Becher im Dt. Kulturbund, 1968, Berlin; Richard Beer-Hofmann-Ges., 1946, New York; Ges. zur Förderung des Werkes von Hans Friedrich Blunck, 1963, Plön; Friedrich Bödecker-Kreis, 1953, Hannover; Jacob Böhme-Soc., New York; Rudolf Borchardt-Ges., 1954, Bremen; Arbeitskreis Bertolt Brecht, 1960, Köln; Internat. Brecht-Ges., 1968, Milwaukee/Wisc.; Georg Büchner-Ges., 1979, Marburg/Lahn; Hermann Burte-Ges., 1960, Lörrach; Wilhelm Busch-Ges., 1930/1949, Hannover; Matthias Claudius-Ges., 1948, Hamburg-Wandsbeck; Neue dt. Dante-Ges., 1865, 1914, Weimar; Max Dauthendey-Ges., 1934, Würzburg; Annette von Droste-Ges., 1928, Münster; Ferdinand Ebner-Ges., 1950, Wien; Eichendorff-Ges., 1931/1952, Würzburg; Dt. Eichendorff-Stiftung e.V. EichendorffEmst-Ges., Bund, 1952 (1931 resp. 1924); Paul 1933/1956, Düsseldorf; Forschungsgemeinschaft ,Paul Ernst u. seine Zeit', 1948, Graz; Ges. der Freunde u. Förderer der Erwin von Steinbach Stiftung, 1919, Filderstadt; Freundeskreis Till Eulenspiegels, 1950, Schöppenstedt (angeschlossen: Freundeskreis der Eulenspiegelstädte in Flandern u. Deutschland); Faust-Ges. Europ. Studiengemeinschaft, 1966, Knittlingen; Fehrs-Gilde, 1916, Hamburg; Franz-Michael Felder-Verein ( = Vorarlberger Literar. Ges.), 1969, Bregenz; Ludwig FinckhFreundeskreis, 1955, Boll/Kr. Göppingen; Kreis der Freunde Fontanes, 1963, Potsdam; FreundenthalGes., 1948, Rotenburg/Wümme; Dt. Gustav Freytag-Ges., 1907/1953, Wiesbaden; Dt. GanghoferGes., 1955, Bad Wiessee; Freies Dt. Hochstift/ Goethe-Museum, 1859, Frankfurt/M.; Goethe-V., 1878, Wien; Goethe-Ges., 1885, Weimar; English Goethe-Soc., 1886, London; Goethe-Ges. in Japan, 1931/1958, Kyoto; Goethe-Ges., 1931, Washington; Australian Goethe-Soc., Melbourne; Emil Gött-Ges., 1957, Freiburg/Br.; Göizforschungs-V. Lemia, 1952, Oelde/Westf. ; Götz von BerlichingenAcademie zur Erforschung u. Pflege des schwäb. Grußes, 1961, Tübingen; Grahbe-Ges., 1937, Detmold; Maria Grengg-Ges., 1966, Krems/Donau; Grillparzer-Ges., 1889/1949, Wien; GrillparzerForum-Forchtenstein, 1962, Mörbisch a. See; Grillparzer-Ges., 1966, Osaka; Brüder Grimm-Ges., 1897/1942, Kassel; Klaus Groth-Ges., 1949, Heide/ Holst.; Gruber-Mohr-Ges., 1952, Salzburg; MaxHalbe-Ges., 1953, München; Knut Hamsun-Ges., 1955, Mölln; Heinrich Hansjakob-Ges., 1954, Freiburg/Br.; Halkyonische Akademie für unangewandte Wissenschaften zu Salò [O. E. Hartleben], 1903, Regensburg; Gerhart Hauptmann-Ges., 1952, Berlin; Hebbel-Ges., 1926/39, Wesselburen/Holst.; Friedrich Hebbel-Ges., 1957, Wien; Heinrich HeineGei., 1907-33/1956, Hamburg; Heinrich HeineGes., 1956, Düsseldorf; Friedrich Wilhelm HelleGes., 1959, Bökenförde/Lippstadt; Hermann HesseV., 1968, Hiroshima; Friedrich Hölderlin-Ges., 1943/1946, Tübingen; Förderges. für die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, 1976, Frankfurt a. M.;

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E. T. A. Hoffmann-Ges., 1938, Bamberg; Hoffmann von Fallersleben-Ges., 1937, Fallersleben; Hugo von Hofmannsthal-Ges., 1949, Salzburg; Hugo von Hofmannsthal-Ges., 1968, Basel; Wilhelm Holzamer-Bund, 1929, Nieder-Olm; Jean PaulGes., 1925/50, Bayreuth; Erich Kästner-Ges., 1975, München; Weinviertier Koloman Kaiser-Rund, 1965, G r o ß r u ß b a c h / N ö . ; Rudolf Kassner-Ges., 1961, Wien; Gottfried Keller-Ges., 1931, Zürich; Justinus Kemer-V., 1905, Weinsberg; Heinrich von KleistGes., 1920/1960, Berlin; Kolbenheyer-Ges., 1951, Nürnberg; Kolbenheyer-Ges., 1958, Salzburg; Wilhelm Kotzde-Kottenrodt-Gemeinde, 1951, Rheine; Kralik-Ges., 1935, Wien; Ges. zur Hrsge der Schriften von August Kuhn-Foelix, 1956, Traunstein; Ges. der Freunde Arthur Kutschers, 1953, München; Internat. Lenau-Ges., 1964, Wien; Internat. LessingGes., 1966, Cincinnati/Ohio; Lessing-Akademie, 1971, Wolfenbüttel; Detlev von Liliencron-Ges., 1922/1946, Hamburg; Hermann Löns-Kreis, 1961, Hannover; Josef August ¿«x-Lit.kreis, 1950, Salzburg; Heinrich Mann-Ges. für zeitgen. Dichtung, 1950, Lohhof/München ; Arb. kreis Heinrich Mann, 1960, Frankfurt/M.; Thomas Mann-Ges., 1956, Zürich; Thomas Mann-Ges. in Lübeck, 1965; Karl May-Ges., 1969, Hamburg; Josef A/i'sion-Bund, 1953, Mühlbach a. Manhartsberg/Nö.; Ges. der Mönkeheunde, 1920, Ludwigsburg; Walter von Molo-Ges., 1955, München; Vereinigung Robert Musti-Archiv Klagenfurt, 1961; Internat. R o b e n Musil-Ges., 1974, Wien; Bund der Nestroy-Vreunde, 1926, Wien; Schweizer. Paracelsus-Ges., 1942, Einsiedeln (vorher: P.-Ges., 1929-33, München); Internat. Paracelsus-Ges., 1950, Salzburg; Kärtner Paracelsus-Kreis, 1953, Klagenfurt u. Villach; Josef Friedrich Perkonig-Ges., 1963, Klagenfurt; Wilhelm Raabe-Ges., 1911/1946, Braunschweig; RaimundGes., 1925, Wien; Ges. für Mix-Reinhardt-Forschung, 1966, Salzburg; Fritz Reuter-Ges., 1960, Lübeck; Rilke-Ges., 1971, Saas-Fee; Kirl-RöttgerGes., 1947, Düsseldorf; Ges. der Freunde Romain Rollands in Deutschland, 1951, Erlangen; Roseggerbund .Waldheimat', 1926, Krieglach/Steierm.; Fördererkreis der Ä«c&ert-Forschung, 1964, Schweinfurt; Schaukal-Ges., 1929, Wien; Literar. Ges. (Scheffelbund), 1890/1924/1953/1972, Karlsruhe; Ges. der Freunde René Schickeies, 1949, Badenweiler; René-Schickele-Kreis, Straßburg; Marbacher Schiller-V., 1835, Marbach/N.; Dt. Schiller-Ges., 1895/1947, Stuttgart u. Marbach/N.; Carl SchirrenGes., 1932, Lüneburg; Arno Schmidt-HechiHriersyndikat, 1970, München; Reinhold Schneider-Ges., 1970, Freiburg; Internat. Arthur Schnitzler Research Association, 1961, Binghamton/New York; Wilhelm von Scholz-Ges., 1974, Konstanz; Rudolf Alexander Schröder-Ges., 1947, München; Charles SealsfieldGes., 1964, Stuttgart; Dt. Shakespeare-Ges., 1864, Weimar; Dt. Shakespeare-Ges.-West, 1946/64, Bochum; Heinrich Sohnrey-Ges., 1949, Hann.Münden; Stelzhamerbund der Freunde oö. Mundart-

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Vereine (literarische)

Dichtung, 1882, Linz/Donau; Adalbert Stifter-Ges., 1918, Wien; Adalbert Stifter-V., 1947, München; Adalbert Stifter-Institut des Landes O ö . , 1950, Linz/Donau; Theodor Storm-Ges., 1948, Husum; Kurt Tucholsky-Kreis, 1955, Kiel; Fritz von Unruh-Ges., 1953, Gießen; Christian WagnerGes., Warmbronn; Hans Watzlik-Gemeinde, 1961, Wien; Josef Weinheber-Ges., 1956, Wien; Anton Wildgans-Ges., 1933, Mödling; Wolfram von Eschenbach-Ges., 1935, Tübingen; Carl ZuckmayerGes., 1972, Mainz; Internat. Stefan Zweig-Ges., 1957, Wien. Mehrere V.e: Barney Martin Milstein, Eight Eighteenth Century Reading Societies. A Sociological Contribution to the History of German Literature (1972; German Studies in America 11). Dt. Dichtergesellschaften. Jb. f. Intern. Germanistik 6 (1974) S. 141-166; 8 (1976) S. 131-179. Klaus Walter Littger, Einige literar. V.e u. ihre Veröffentlichungen: Dt. Schiller-Ges., Jean-PaulGes., Adalbert-Stifter-Vereinigung. (Masch.) Bibl.-Ass.-Arbeit. Köln, Bibl.-Lehrinst. 1975. Einzelne V.e. (Die meiste Lit. zu einzelnen V.en findet sich in den jeweiligen v.seigenen Periodika. Dort Erschienenes wird irr^ folgenden nicht aufgeführt): Uberregionale V.e: Zehn Jahre Arbeitsgemeinschaft kultur. Organisationen, Düsseldorf, hg. v. Gottfried Hedler (1969; Arbeitsgem. kultur. Organisationen 4). — M. Pfeiffer, Dt. Lit.-Ges. Literar. Warte 2 (1900/01) S. 509-511. — H. Steinberg, Leseges.: Wie es die Engländer machen. „Below and above the line." Börsenbl. d. dt. Buchhandels 32 (1976), H. 56, S. 1037-1038. J. Seelbach, In Bonn stellte sich die Dt. Leseges. vor. „• • • weil mehr gelesen werden muß". Börsenbl. d. dt. Buchhandels 33 (1977), H. 7, S. 7-9. A. U. Martens, Was will d. Dt. Leseges.? Mehr Bücher lesen durch prakt. Ratschläge. Frankf. Allgem. Ztg. 28. 1. 1977, S. 21. — Fritz Adler, Freies Dt. Hochstift. Seine Geschichte. T. 1:1859-1885 (1959). — Horst Dräger, Die Ges. f . Volksbildung. E. histor.-problemgeschichtl. Darstellung. Von 1871-1914 (1975). — Kulturbund rührt sich. Blick zurück u. heutige Aktivitäten. Frankf. Rundschau 5. 4. 1974. Harald Bühl, Dieter Heinze, Hans Koch u.Fred Staufenbiel (Hg.), Kulturpolit. Wörterbuch (2. Aufl. 1978, Berlin-Ost). — Wilh. D i l t h e y , Archive für Literatur. DRs. 58 (1889) S. 360-375. — W. Kraus, Zwischenbilanz. Aus d. Rede d. Leiters d. österr. Ges. für Lit. Wort in der Zeit 9 (1964) S. 2-4. L. de E l i a s - B l a n c o , Zehn Jahre österr. Ges. f . Lit. Wien wird Lit.Stadt. Die Furche 22. 1. 1972, S. 15. Regionale V.e: 10 Jahre Literar. Ges. Augsburg (1932). — Ch. Muschter, Schöne Lit. im Haus. Hinter d. Kulissen d. Kultur. (VI): Das Literar. Forum Basel. Nationalztg. Basel 2. 9. 1972, S. 41. — B. Mewes, Die Entw. d. Literar. Vereinigung

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Verfremdung Schaft mit Ad. Stifter. Land an Wupper u. Rhein. Heimatkalender 1968, S. 204-207.

Klaus Walter Littger Verfremdung § 1. D i e Verbreitung des B e g r i f f e s .Verfremdung ' und seine Bedeutung für die L i t . wiss. sind untrennbar mit dem W e r k Bertolt B r e c h t s ( 1 8 9 8 - 1 9 5 6 ) verbunden. Das W o r t taucht in seinen theoret. Schriften erst um 1936 herum als Bezeichnung eines P h ä n o m e n s auf, das B r e c h t freilich schon lange vorher in seinen Stücken — aber auch in seiner L y r i k und Prosa — angewandt hat. Das DWb. (Bd. 12, 1. Abt., 1886-1956) kennt den Begriff noch nicht. Es verzeichnet bloß das Verbum .verfremden' und gibt als Bedeutung an: „zu einem fremden werden" (Sp. 353). In diesem Sinne scheint es zuerst von Berthold Auerbach in seinem Roman Neues Leben (1842) gebraucht worden zu sein. Dort kommen sich Eltern .verfremdet' und tiefverletzt vor, weil ihre Kinder in ihrer Gegenwart französisch sprechen. In neueren Wörterbüchern wird .Verfremdung' als Neologismus angegeben (A. Herberth, Neue Wörter. Neologismen in der deutschen Sprache seit 194i, Wien 1977, S. 224) und mit Brecht in Verbindung gebracht (vgl. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, hg. R. Klappenbach und W. Steinitz, Berlin 1976, S. 4046). N a c h neuesten Erkenntnissen der T e x t edition findet sich Brechts erste Definition des Begriffes in der Beschreibung der Kopenhagener Uraufführung seines Stückes Die Rund-

köpfe und die Spitzköpfe

vom 4. Nov. 1936.

D o r t heißt es unter der Kapitelüberschrift Verfremdung-, „ B e s t i m m t e Vorgänge des Stükkes sollten — durch Inschriften, Geräuschoder Musikkulissen und die Spielweise der Schauspieler — als in sich geschlossene Szenen aus dem B e z i r k des Alltäglichen, Selbstverständlichen, Erwarteten gehoben (verfremdet) w e r d e n " ( G W 17, S. 1087). In einem vor Mitgliedern der Studentenbühne S t o c k h o l m gehaltenen V o r t r a g (datiert vom 4. Mai 1939) erklärt er: „ E i n e n Vorgang oder einen C h a rakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem C h a r a k t e r das Selbstverständliche, B e k a n n t e , Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu e r z e u g e n " ( G W 15, S. 301). Dieses „ z u n ä c h s t " ist wichtig; denn die V . , wie sie Brecht verstand und in jenen Jahren praktizierte, blieb nicht beim bloßen F r e m d -

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machen stehen; dieses hatten vor ihm schon die R o m a n t i k und der Surrealismus versucht. Das B e k a n n t e , das als ein Unerkanntes unter uns weilt, soll nicht nur zu einem F r e m d e n auffällig gemacht werden, sondern darüber hinaus zu einem E r k a n n t e n : das Ziel der Brechtschen V. ist kein bloß ästhetisches. Das E r k a n n t e legt seine Entstehungs- und Daseinsbedingungen frei; es werden Kausalzusammenhänge sichtbar, die es dem Zuschauer erlauben, das Vertraute nicht mehr nur hinzunehmen, sondern kritisch zu prüfen und zu verändern. Gerade den W u n s c h nach Veränderung der als unerträglich erkannten Zustände sollte V. aber im Publikum bewirken. § 2. U b e r den U r s p r u n g des Begriffes V. herrscht in der F o r s c h u n g noch Unklarheit. D a er in Brechts theoret. Schriften erst nach seinem — zweiten — Aufenthalt in der Sowjetunion (1935) festgestellt werden kann und wie eine U b e r s , eines Zentralbegriffs des russ. F o r malismus klingt {priem ostranenija, „Verfahren der V . " ; Striedter, 1969, S. X X I I ) , wurde früher allgemein angenommen (von Willett, G r i m m , D e b i e l , H o l t h u s e n , Heselhaus und Striedter vor allem), B r e c h t habe in M o s k a u die hauptsächlichsten Schriften der Formalisten studiert und den Ausdruck von V i k t o r Sklovskij, der ihn 1917 geprägt hat, ü b e r n o m m e n und ins Deutsche übertragen (vgl. Striedter, S. 15). Dagegen ist zweierlei einzuwenden: Erstens gehen Brechts Bemühungen um ein T h e a t e r , das dem Natürlichen „das M o m e n t des A u f fälligen" verleiht ( G W 15, S. 265) auf die Zeit v o r 1935 zurück. Zweitens meint das formalist. priem ostranenija ein F r e m d - und Seltsammachen, das ein ursprüngliches, naives Sehen der W e l t lehren, keines, das zur Veränderung dieser W e l t anleiten soll. Insofern es sich an ein , E m p f i n d e n ' , an ein , G e f ü h l ' wendet, ist es der Brechtschen V., die an die R a t i o des Publikums appelliert und außerästhetische Ziele verfolgt, diametral entgegengesetzt (vgl. den Aufsatz V i k t o r Sklovskijs Die Kunst als Verfahren, 1917 in: Striedter, S. 5 - 3 5 , bes. S. 15). § 3. Es ist kein Zufall, daß der G e b r a u c h des Begriffes V. in die Mitte der 30er J a h r e fällt und in seiner ersten Ausprägung bei B r e c h t n o c h als , E n t f r e m d u n g ' erscheint ( G W 15, S. 2 6 5 ) . W a s V. letztlich b e z w e c k t , k o n n t e erst nach einem eingehenden Studium des

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Verfremdung

Marxismus, das Brecht seit dem Ende der 20er Jahre eingehend trieb, deutlich gemacht werden. Die bis dahin als bloßes T e c h n i k u m angewandte Verhinderung der Einfühlung konnte unter dem Eindruck Marx' zur M e t h o d e entwickelt werden. Das Theater der V. sollte fortan dem Zuschauer „die Welt [. . .] zum Zugriff [vorlegen]" (GW 15, S. 303), ihn zu einer aktiven Kritik der sozialen Verhältnisse anleiten: „Die Kritik der Gesellschaft ist die Revolution. Das ist zu Ende gedachte, exekutive Kritik" (GW 15, S. 378). Diese Sätze zeigen die p h i l o s o p h i s c h e n — und politischen — I m p l i k a t i o n e n des Begriffes V. Sie reichen, wie die anfängliche Unsicherheit in der Bezeichnung beweist, über Marx bis auf Hegel zurück. Als das „Große an der Hegeischen Phänomenologie und ihrem Endresultat — der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip" bezeichnete es Marx, daß damit „Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, [. . .] als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er [. . .] den gegenständlichen Menschen [. . .] als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift" (K. Marx, Pariser Manuskripte, 1966, S. 113; rororo 209/210). Da aber der Mensch bei Hegel „nur als a b s t r a k t e s d e n k e n d e s W e s e n , als Selbstbewußtsein" erscheint, gelte der von ihm erkannte Prozeß in seiner „abstrakten Form als Dialektik [. . .] daher als das w a h r h a f t m e n s c h l i c h e L e b e n " (ebda., S. 123), was Marx als eine „entfremdete Einsicht in die w i r k l i c h e V e r g e g e n s t ä n d l i c h u n g des Menschen, in die wirkliche Aneignung seines gegenständlichen Wesens durch die Vernichtung der e n t f r e m d e t e n Bestimmung der gegenständlichen Welt [. . .]" (ebda., S. 122) nennt. Diese „Vernichtung" käme konsequenterweise einer Veränderung der Welt gleich, wie sie auch Brecht mit den Mitteln der V. auf dem Theater anstrebt. Der von Hegel noch durchaus positiv gefaßte Begriff der Entäußerung (oder Entfremdung) wurde von Feuerbach erstmals negativ um die Komponente der Selbstentfremdung erweitert. Der Mensch entäußere alle seine „anthropologischen Schätze an und in ein Jenseits, einen Himmel. [. . .] Marx nahm diesen Sinn von Selbstentfremdung auf, doch statt Himmel setzte er die Ausbeutung, wonach vom Menschen, der sich verkaufen muß, nur

der ausgepowerte Arbeiter zurückbleibt." (E. Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 9, S. 277). Marx forderte daher, daß die Dialektik Hegels umgestülpt werde, „um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken." In ihrer rationellen Gestalt sei die Dialektik „ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär" (Marx, Das Kapital, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, hg. v. Inst. f. Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 1962, S. 27f.). Den Zusammenhang von ,umgestülpter', revolutionärer Dialektik Hegeischen Ursprungs und der eigenen, auf eine Veränderung der Welt zielenden V. hat Brecht sehr wohl gesehen, wie seine Thesen zu Dialektik und Verfremdung beweisen (GW 15, S. 360f.). Schaefer ist daher durchaus berechtigt, zu folgendem Schluß zu gelangen: „Die Methode der Brecht'schen V.stechnik kann [. . .] als eine Dialektik der V., und näher, — in Anbetracht ihrer marxist. Grundlagen und deren Abhängigkeit von der Hegeischen Dialektik — , als eine Dialektik der .Verfremdung' der E n t fremdung' determiniert werden" (Schaefer, S. 94). D . h . , die bisher vom Menschen nicht gewahrte Entfremdung kann durch V. erkannt und aufgehoben werden. § 4. Die A n f ä n g e der V. liegen — lange vor ihrer begrifflichen Festlegung — in den Theaterkritiken des Augsburger Schülers und Studenten Brecht. In ihnen kommt eine heftige Ablehnung des überkommenen Theaters und die Suche nach einem neuen, dem „wissenschaftlichen Zeitalter" gemäßen Drama zum Ausdruck. Die Ablehnung erfaßte gleichermaßen das Schauspiel Schillers wie jenes der Expressionisten und mündete in den 20er Jahren einerseits in eigene Versuche mit dem ,antiaristotelischen' Drama, andererseits in theoret. Darlegungen meist betont polemischen Charakters (vgl. GW 15, S. 71-121, auch S. 123225). ,Anti-aristotelisch' waren Brechts frühe Stücke und seine programmât. Äußerungen insofern, als sie sich mit Nachdruck gegen die Einfühlung des Publikums in das Bühnengeschehen, gegen Mitleid und Identifikation mit den Figuren wandten. Daß dabei das ,aristotelische' Drama in seiner besonderen Vermittlung durch Lessing verstanden wurde und für Brecht sowohl die Tragödie Shakespeares wie das Milieudrama des Naturalismus um-

Verfremdung faßte, erwies sich als ein fruchtbarer Ansatz zum eigenen dramat. Schaffen. Das Drama der V. ist aus der Absage und der Abgrenzung, aus dem Gegenwurf (Baal) entstanden. Statt Illusion Distanz, statt Einfühlung krit. Beobachten, statt Identifikation Auseinandersetzung: dies sind die Prämissen des , epischen Theaters', deren Kernstück das später V. genannte Verfahren ist. In ihrer ersten Phase ist V. noch vorwiegend technischer Natur. Sie verfolgt hauptsächlich zwei Ziele: die Desillusion der Zuschauer und die Distanzierung des Schauspielers von seiner Rolle. § 5. Die D e s i l l u s i o n des Publikums bedient sich zunächst der Enttäuschung von Erwartungen. Am einfachsten und zugleich am sinnfälligsten geschieht dies bereits in Brechts dramat. Erstling Baal (1918; 1919, gedruckt 1922). Hier wird Bekanntes umgestülpt, konsequent ins Gegenteil verkehrt. Das Stück ist als Gegenwurf zu Hanns Johsts GrabbeDrama Der Einsame (1917) konzipiert. Dem genialischen Dichter Grabbe, den Johst am Unverständnis seiner Mitbürger scheitern läßt, wird bei Brecht der genialische Genießer Baal gegenübergestellt, der an der eigenen Asozialität zerbricht. Die pathetisch-hohltönende Sprache des Johstschen Dichters wird durch eine ursprünglich-vitale, derb-sinnliche, gewalttätige Sprache in Baal ersetzt. Eingeschobene Lieder und Gedichte, die in den beiden ersten Fassungen des Stücks nur lose mit dem Dramenganzen verbunden scheinen, dienen dem Kontrast, dem die späteren Songs Brechts in viel höherem Maße und differenzierter verpflichtet sind. Der Gegenwurf zu Johsts Grabbe-Drama ,verfremdet' die den Expressionisten teure Vorstellung vom , neuen Menschen' und rechnet mit ihm ab. Die Ummontierung des Pakkers Galy Gay in dem 1924-26 entstandenen „Lustspiel" Mann ist Mann entmystifiziert das Individuum; die dem Publikum geltende Aufforderung „Glotzt nicht so romantisch", die für die Uraufführung von Trommeln in der Nacht (23. 9. 1922) im Saal angebracht war, sollte die andächtige Konsumierhaltung der Zuschauer verhindern. Allein Brecht hatte noch keine Konzeption, die über die Negation hinausgeführt hätte. Die eingesetzten V.stechniken — Lieder und Gedichte im Baal, Songs und Zitate in Dickicht der Städte (1923 urauf-

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geführt), in Mann ist Mann und in der Dreigroschenoper (1928), ferner die mit Anglizismen, Archaismen und Slang durchsetzte, rhythmisch gebrochene Sprache — sollten bloß befremden; Brecht blieb im Desillusionieren stecken. § 6. Die Verhinderung der Einfühlung durch Illusionszerstörung bedurfte auch einer neuen, der Identifikation des Zuschauers mit der Figur entgegenwirkenden S p i e l w e i s e der Schauspieler. Der Darsteller des anti-aristotelischen Theaters solle, um eine distanzierte Haltung des Publikums zum Dargebotenen zu bewirken, selbst in Distanz zu seiner Rolle gehen. In einem Dialog über die Schauspielkunst vom 17. Februar 1929 formuliert Brecht, wie er sich den neuen Schauspieler vorstellt: Sein Wissen über die „menschlichen Beziehungen", „Haltungen" und „Kräfte" zeigend, und zwar „bewußt darbietend", „schildernd", wie es sich für eine Darbietung vor dem „Publikum des wissenschaftlichen Zeitalters" gehört (GW 15, S. 188). Typisches Merkmal dieser neuen Schauspielkunst soll das „Auffällige" sein; durch die Spielweise sollen Zustände und Vorgänge auf der Bühne merkwürdig gemacht werden. Brecht spricht von einer „Technik der Schauspielkunst", die eine „Technik des V e r f r e m d u n g s e f f e k t s " (V-Effekts) ist. Voraussetzung dafür aber ist, „daß der Schauspieler das, was er zu zeigen hat, mit dem deutlichen Gestus des Zeigens versieht" (GW 15, S. 341). Dadurch entfällt zugleich auch die Illusion von der .vierten Wand' des Zuschauerraumes. Der Schauspieler verwandelt sich nicht selbst in die von ihm gespielte Figur, er ist „nicht Lear, Harpagon, Schwejk, er zeigt diese Leute" (ebda., S. 344). Er tut das so, daß jeweils eine mögliche Variante ihres Verhaltens vorgestellt wird und die Alternativen sichtbar bleiben. Brecht nennt dieses Verfahren das „ F i x i e r e n des N i c h t - S o n d e r n " (ebda.). Der Schauspieler, der sich mit der dargestellten Figur nicht zu identifizieren braucht, „bringt [. . .] seinen Text nicht wie eine Improvisation, sondern wie ein Zitat" (ebda., S. 344). Am umfassendsten hat Brecht seine Vorstellungen in dem Fragment gebliebenen „Viergespräch über eine neue Art, Theater zu spielen" (GW 16, Anm. S. 1) mit der Uberschrift Der Messingkauf (ebda., S. 499-657) entwikkelt; in der darin enthaltenen Straßenszene,

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dem „Grundmodell einer Szene des epischen Theaters" (ebda., S. 546) sowie in den Übungsstückein] für Schauspieler ( G W 7, S.3003-3038) führte Brecht die später als Spielpraxis kanonisierte neue Schauspielkunst — in deren „Mitte der V-Effekt" — „mit Experiment und Exerzitium" ( G W 16, Anm. S. 1) beispielhaft vor. § 7. Der Gestus des Zeigens und des Zitats deuten auf eine Verwandtschaft mit dem c h i n e s i s c h e n T h e a t e r hin, die Brecht auch nie geleugnet hat (vgl. z . B . G W 15, S. 272), insofern der V-Effekt als ein „transportables Technikum" begriffen wird ( G W 17, S. 626). Eine direkte Beeinflussung hingegen hat er stets bestritten ( G W 16, S. 627). Brecht lernte das chines. Theater 1935 in Moskau kennen, wo der damals bekannteste chinesische Schauspieler Mei Lan-Fang gastierte. Unter dem Eindruck seiner Darbietungen verfaßte Brecht den Aufsatz V.seffekte in der chinesischen Schauspielkunst (GW 16, S. 619-631), dessen erste kürzere Fassung (u. d. T. The fourth wall of China. An essay on the effect of disillusion in the Chinese Theatre. Transí, by Eric Walter White) bereits im Winter 1936 in der Zeitschrift Life and Letters to-day, London (Vol. 15, No 6, S. 116-123) erschien. Brechts Beschäftigung mit der fernöstlichen Kunst ist freilich älteren Datums, wie die Geschichte Die höflichen Chinesen (1925) und das Zwischenspiel Das Elefantenkalb (veröff. 1927), das zu Mann ist Mann gehört, beweisen. Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Lehrstücke z. B. war die Begegnung mit dem japan. Nö-Spiel, das Brecht in den 20er Jahren in der engl. Ubersetzung Arthur Waleys kennenlernte und möglicherweise anläßlich japan. Gastspiele in Berlin (1930/31) aufgeführt sah (vgl. Tschong Dae Kim, B. Brecht und die Geisteswelt des Femen Ostens, Diss. Heidelberg 1969, S. 15ff.; auch S. 95 ff.). Am chines. Theater beeindruckte Brecht das Festhalten an symbolischen Mustern und Techniken. Dieses hat zur Folge, daß einerseits die Schauspielkunst aus einem mühevollen Erlernen tradierter Gesten besteht, daß andererseits das Publikum mit der Konvention der Spielweise vertraut ist und sich während der Vorstellung ganz auf die Darbietung der Künstler konzentrieren kann. Zwischen Schauspieler und Zuschauer besteht ein stillschweigendes Einvernehmen: der Schauspieler weiß sich beobachtet und geprüft und strebt daher das vollkommene Zeigen seiner Rolle an, das Publikum seinerseits weiß, daß der Dar-

steller seinen Part (meist einen bestimmten Typus, den er ein Leben lang vorstellt) nach genau vorgeschriebenem Zeichensystem zu spielen hat; es kann daher niemals der Illusion verfallen, einem improvisierten Vorgang oder einer tatsächlichen Begebenheit beizuwohnen. Dieses Verhalten von Schauspieler und Publikum stimmt aber mit Brechts eigenen Vorstellungen vom Theater der V. überein: „ D e r Artist wünscht, dem Zuschauer fremd, ja befremdlich zu erscheinen. Er erreicht das dadurch, daß er sich selbst und seine Darbietungen mit Fremdheit betrachtet. So bekommen die Dinge, die er vorführt, etwas Erstaunliches. Alltägliche Dinge werden durch diese Kunst aus dem Bereich des Selbstverständlichen gehoben" ( G W 16, S. 621). Der chines. Schauspieler „spielt so, daß fast nach jedem Satz ein Urteil des Publikums erfolgen könnte, daß beinahe jede Geste der Begutachtung des Publikums unterworfen wird" (ebda., S. 625). Der Gegensatz zwischen Brechts .epischem Theater' mit seinem V-Effekt und dem chinesischen darf allerdings nicht außer acht gelassen werden. Er läßt sich wohl am deutlichsten an der krit. Haltung des Publikums fassen. Die Kritik des Zuschauers im epischen Theater soll eine doppelte sein: „Sie betrifft die Darstellung des Schauspielers (hat er recht mit seiner Darstellung?) und die Welt, die er darstellt (soll sie so bleiben?)" ( G W 15, S. 377). Auch im chines. Theater ist der Zuschauer durchaus in der Lage, die Leistung des Schauspielers zu begutachten, aber eine In-FrageStellung der Welt ist damit nicht verbunden; die Kritik bleibt auf die Darbietung beschränkt. Daher kann Brecht bei aller Bewunderung doch von „einer primitiven Technik, einer Urstufe der Wissenschaft" ( G W 16, S. 627) sprechen. Denn die Technik muß erst noch zur Methode veredelt werden: „Tatsächlich können nur diejenigen ein Technikum wie den V-Effekt der chines. Schauspielkunst mit Gewinn studieren, die ein solches Technikum für ganz bestimmte gesellschaftliche Zwecke benötigen" (ebda.). Bei seiner Suche nach einem Darstellungsstil, der in den Dienst der V. gestellt werden könnte, hat Brecht auch in den Schriften der französischen Aufklärer Denis Diderot und Francesco Riccoboni Anregung und Bestätigung gefunden. Sowohl Riccoboni (L'Art du Théâtre, 1750) wie Diderot, der sich in seinem Paradoxe sur le comédien (1770-78 entstanden) auf ihn beruft, fordern, daß der Darsteller

Verfremdung das Publikum nicht darüber zu täuschen habe, daß er mit der von ihm verkörperten Figur nicht identisch sei. D i e Verhinderung der Einfühlung auf der B ü h n e soll freilich — anders als bei Brecht — die Einfühlung im Zuschauerraum erst recht ermöglichen.

§ 8. Brecht erhielt schon früh Gelegenheit, seine Vorstellungen von einem neuen Theater auch in der Praxis auszuprobieren. So konnte er 1924 für seine Bearbeitung von Marlowes Edward II (Leben Eduards des Zweiten von England, 1923/24) an den Münchener Kammerspielen selbst Regie führen. Die I n s z e n i e r u n g des Stücks wird heute als die eigentliche Geburtsstunde des epischen Theaters angesehen. Der .durchkühlte' Darstellungsstil konnte ein erstes Mal praktiziert werden. Eine Anregung Karl V a l e n t i n s brachte Brecht auf die Idee, Emotionen zu exteriorisieren, ein Verfahren, das er auch später immer wieder angewandt hat: die Gestalten der Soldaten in der Schlacht wurden mit Kalk belegt: äußeres Zeichen ihrer inneren Furcht (mitgeteilt von W. Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt 1966, S. 129). Bis 1933, als ihn die Machtübernahme der Nationalsozialisten ins Exil trieb, hatte Brecht wiederholt Gelegenheit — nicht zuletzt unter dem Einfluß des Regisseurs Erwin P i s c a t o r (1893-1966) — V.stechniken der Inszenierung weiterzuentwickeln. Er behielt sie im wesentlichen auch dann bei, als ihm nach dem Kriege in Ostberlin ein eigenes Theater zur Verfügung stand. Alle diese T e c h n i k e n hatten wiederum das Ziel, dem Zuschauer die Illusion zu nehmen, unbemerkter Beobachter von Menschenschicksalen, wie sie sich Hier und Jetzt, ,im Leben' ereignen, beizuwohnen. Sie sollten ihm umgekehrt das Gemachte und Gewollte der Aufführung aufs deutlichste vor Augen führen, um seine Aufmerksamkeit um so nachhaltiger auf die auffällig gemachten Vorgänge auf der Bühne, auf ihren exemplarischen Charakter und ihre — seit dem Ende der 20er Jahre immer unmißverständlichere — außerästhetische Zielsetzung zu lenken: Scheinwerfer hingen ostentativ im Saal, Bühnenhaus und Bühnenmaschinerie durften sichtbar bleiben; Einblendungen von Filmmaterial, Projektionen, Plakate, Schrifttafeln, Zeichnungen und Zeitungsausschnitte wurden der V.sabsicht dienstbar gemacht: sie kommentierten das Geschehen, meist durch den entlarvenden Kontrast. Zu diesen mehr technischen Mitteln

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kamen später Verfeinerungen hinzu. So konnte das , Arrangement' der Personen auf der Bühne ihre Beziehungen zueinander sowie die Beschaffenheit und die Widersprüchlichkeit der Vorgänge aufdecken. Die V. der einzelnen Figur konnte z. B . durch scheinbar unpassende Besetzung der Rolle (ein junger Schauspieler soll einen alten Mann darstellen), durch realistische Details' (exakte Arbeitsvorgänge, histor. Requisiten), durch Beiseitesprechen, Pausen, gelenkten Handlungs- und Sprechrhythmus, durch den Gebrauch von Dialekten usw. erreicht werden. Zum Gesamteffekt dieser Inszenierungen trugen

auch die „Schwesterkünste" (vgl. Kleines Organon für das Theater, 1948, §§ 70-74, GW 16, S. 696ff.) bei, namentlich Beiden k o m m t rende Funktion schehen, indem decken.

das Bühnenbild und die Musik. im epischen Theater kommentiezu: sie verfremden T e x t und G e sie ihre Widersprüchlichkeit auf-

§ 9. Nach dem Studium des Marxismus entwickelte Brecht die im Frühwerk noch als Technik begriffene V. zu einer künstler. Methode, mit Hilfe derer „die gesellschaftlichen Zustände als Prozesse [. . .] in ihrer Widersprüchlichkeit" gezeigt werden können ( G W 16, S. 682). Rülicke-Weiler unterscheidet vier Bereiche, in denen Verfremdung i m S t ü c k wirksam ist: in der Führung der Fabel, in den ,sozialen Gesten', in den Figuren und in der Sprache (vgl. K . Rülicke-Weiler, S. 57). Zur „Führung der Fabel" muß allerdings die Struktur des Stücks im engeren Sinn des Wortes hinzugerechnet werden: 1. D i e F ü h r u n g d e r F a b e l . V. geschieht durch die Verlegung einer vorgegebenen Fabel auf einen für sie scheinbar unpassenden O r t ( z . B . die Verlegung der Geschichte von der Heiligen Johanna auf die Schlachthöfe von Chicago). Zwei Zeitebenen, Präsens und Vergangenheit, Geschichte und Gegenwart verfremden sich in der Gegenüberstellung von Traum und Realität gegenseitig ( D i e Geschichte der Simone Machard). 2. D i e S t r u k t u r d e s S t ü c k s . Strukturelle V.en ergeben sich aus der Verwendung von Prologen ( z . B . in Herr Puntila und sein Knecht Matti), Epilogen ( D e r gute Mensch von Sezuan) und Zwischensprüchen ( z . B . schon in Mann ist Mann), die die Spielhandlung verfremden. Das Stück wird als Theater durch

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Verfremdung

Prolog und Epilog gekennzeichnet und gegenüber der Realität abgegrenzt, wobei der Epilog den Zuschauer ermuntern kann, über das Vorgeführte in seinem täglichen Leben nachzudenken, die Parabel (s.d.) zu verwirklichen. Dies kann aber auch durch direkte Ansprachen an das Publikum erzielt werden, durch die Einführung eines allwissenden Erzählers, der das Geschehen kommentiert (Der kaukasische Kreidekreis) oder durch Szenen, deren exemplarischer Charakter dem Zuschauer als Vorbild dienen soll (Die Maßnahme). 3. D i e s o z i a l e n G e s t e n . Ein Vorgang wird dadurch verfremdet, daß er von einem völlig gegenteiligen Dialog begleitet wird (oder umgekehrt), wodurch entweder der Text oder die Handlung entlarvt wird. Oft entsteht dabei ein komischer Effekt, denn die Diskrepanz zwischen Wort und Tat gehört wesensmäßig ins Reich der Komödie. 4. D i e F i g u r e n . Sie tragen oftmals einen inneren Widerspruch, der sie verfremdet. So ist Pierpont Mauler (Die heilige Johanna der Schlachthöfe) Fleischkönig u n d Philanthropist in einem. Auch der Gutsbesitzer Puntila hat einen Januskopf: Im Trunk zeigt er sein menschliches, in der Nüchternheit sein unmenschliches Gesicht. Am weitesten ist diese Spaltung in Der gute Mensch von Sezuan gediehen, wo sich Shen Te und Shui Ta als Ausprägungen ein und derselben Person gegenseitig verfremden. 5. D i e S p r a c h e . Sie hat die Aufgabe, einen Vorgang nicht nur zu beschreiben, sondern zugleich auch zu kommentieren, wobei sich Beschreibung und Stellungnahme, Bericht und Handlung gegenseitig verfremden. Hierher gehört auch der deutlich markierte Wechsel von Prosa zu Vers, von Dialog zu Song oder auch der überraschende Gebrauch des Verses in einem völlig unpoetischen Kontext. So wirken die Pierpont Mauler in den Mund gelegten Jamben in hohem Maße verfremdend; sie entlarven sein Spekulantentum und seinen skrupellosen Merkantilismus schlagartig. Demselben Ziel dienen auch Bilder, Sprichwörter und Zitate sowie ungewohnte Wortzusammenstellungen. Dabei greift Brecht sowohl auf die Bibel als auch auf die Klassiker zurück, etwa wenn er Hölderlins Verse aus Hyperions Schicksalslied zur Beschreibung des Preiszerfalls an der Börse gebraucht (Die heilige Johanna der Schlachthöfe). Im Grenzbereich zwischen Struktur und

Sprache sind Zitate größerer „vorgegebener Muster" (Grimm, Brecht: Struktur, S. 46ff.) anzusiedeln wie z.B. der Doppelspaziergang im Garten aus Goethes Faust I oder die Brautwerbungsszene aus Shakespeares Richard III in Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. § 10. Wenn Brecht schreibt, daß „rein technisch gesehen auch das Theater vergangener Epochen schon künstlerische Wirkungen mit V.seffekten erzielt [hat]" und dabei nebst dem chines. (s.o. § 7) das klassische span. Theater, das volkstümliche Theater der Breughelzeit und das elisabethanische Theater nennt (GW 15, S. 305), so gibt er selbst konkrete Hinweise auf d i e T r a d i t i o n , i n die er sein eigenes dramat. Schaffen eingebettet sieht. An anderem Ort bekräftigt er, daß in „stilistischer Hinsicht" das epische Theater „nichts besonders Neues" sei und führt nebst den oben erwähnten Vorläufern auch die lehrhaften Tendenzen des mal. Mysterienspiels an (GW 15, S. 2/2). Das mal. Spiel (s.d.) kennt die lockere Szenenfolge, wie sie Brecht seit Baal stets benutzt hat, um den aristotelischen logischen Handlungsverlauf durch die relative Verselbständigung der einzelnen Szene oder Episode zu ersetzen. Ähnlich wie im mal. Spiel wird auch bei Brecht eine Geschichte in episodischem Nebeneinander erzählt; dabei werden die , Knoten' der Verknüpfung auffällig gemacht (vgl. Kleines Organon § 67, GW 16, S. 694). Die Teile der Fabel bekommen dadurch Eigenwert und haben eine eigene Struktur, die „eines Stückchens im Stück" (ebda.). Da der mal. Zuschauer meist einen Ausschnitt aus einem ihm bekannten biblischen oder heilsgeschichtlichen Stoff zu sehen bekam, war er auch weniger an dem „Was" als vielmehr an dem „Wie" der Aufführung, Gestaltung und dramatischen Präsentation interessiert. Auch mal. Spiele verwenden oft den von Brecht geliebten Rahmen des Spiels (Prolog und Epilog), in dem Inhalt und Absicht dargelegt werden. Der abschließende Teil entläßt die Zuschauer nicht selten mit einer moralischen Belehrung und mit der Aufforderung, die Moral im täglichen Leben anzuwenden. Hierin sowie in der Verwendung kommentierender Einlagen, direkter Ansprachen an das Publikum und häufig einer eigens dafür geschaffenen Figur, dem Erzähler, treffen sich mal. Theater, das D r a m a d e r R e f o r m a t i o n s z e i t , das O r d e n s d r a m a d e r J e s u i -

Verfremdung t e n und Brechts eigene Stücke. Durch die Abgrenzung von Kommentar und Spiel entsteht eine V. der dargestellten Begebenheiten und Vorgänge, die an die krit. Aufmerksamkeit des Zuschauers appelliert und eine didaktische Intention verrät (s. Drama [Neuzeit],

Frühneuhochdeutsche literatur).

Literatur,

Reformations-

Gemeinsame Merkmale der V. in Brechts epischem Theater und im — vorab weltlichen — mal. Spiel ergeben sich ferner aus der Stellung des Schauspielers; dieser bleibt im M A — für alle Anwesenden erkennbar — der Zunftgeselle, der für die Dauer des Spiels eine Rolle übernimmt. E r geht in ihr nicht auf, sondern zeigt sie nur: die Tatsache des Spiels wird keineswegs verwischt. Häufig traten die Darsteller unter Leitung eines Sprechers auf, der dem Publikum Titel und Inhalt des Spiels bekanntgab. Eine Parallele hierzu findet sich in Brechts Der kaukasische Kreidekreis. In Die Rundköpfe und die Spitzköpfe ziehen die Spieler zunächst auf und übernehmen erst auf der Bühne ihre Rollen. In der Maßnahme schließlich erscheinen zu Beginn vier Agitatoren auf dem Podium, um sich vor dem Gericht — und vor dem Publikum — zu rechtfertigen. In allen diesen Fällen entsteht die verfremdende Wirkung dadurch, daß der Schauspieler zunächst als Mensch vor uns tritt (genauer: zu treten vorgibt) und erst später eine besondere Aufgabe, die Darstellung einer Rolle, übernimmt. Die dadurch erreichte Illusionszerstörung war aber im mal. Spiel die Regel; sie mußte nicht — wie im epischen Theater Brechts — als solche besonders hervorgehoben werden, da Illusionserzeugung nicht beabsichtigt war (vgl. Hinck, S. 141 ff.). Auch das von Brecht so bewunderte e l i s a b e t h a n i s c h e T h e a t e r — insbesondere die Komödie, wie sie S h a k e s p e a r e handhabt — enthält Merkmale, die Handlung und Personen ,verfremden'. Das Komische an sich hat dadurch, daß es Menschen und Situationen zeigt, die ,auffallen', d . h . den Maßstäben eines normierten Verhaltens nicht entsprechen, äußere Verwandtschaft mit der von Brecht intendierten V. des Alltäglichen (Kaufmann; Giese). Wenn auch die Prämissen seines Theaters sozialkrit. Art sind, kann die Ähnlichkeit mit der elisabethanischen oder der ital. Komödie nicht außer acht gelassen werden: Verkleidung und Verstellung, Verwechslung und Verirrung verfremden dort sowohl die betroffene Figur

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selbst wie die Umgebung, in die sie gerät. Sie ermöglichen dem Publikum jene Distanz zum Geschehen, die nötig ist, um es kritisch — wenn auch heiter — zu prüfen. So kann die als Page verkleidete Frauengestalt ( z . B . Viola in Shakespeares Was Ihr wollt oder Rosalinde in Wie es Euch gefällt) ,typisch männliche' Verhaltensweisen bloßstellen und geläufige Verhaltensmuster ihrer Unechtheit überführen. Rosalinde .verfremdet' die Liebe etwa dadurch, daß sie deren angebliche Auswirkungen auf das Äußere des Verliebten beschreibt, wodurch sie als modischer Affekt entlarvt wird {Wie es Euch gefällt, I I I . 2 . 3 5 9 - 7 5 ) . .Verfremdend' wirkt auch der für die Komödie bezeichnende Wechsel der Perspektive. D i e von verschiedenen Seiten her gesehene und von mehreren Personen beurteilte Figur verliert ihre Eindeutigkeit und damit auch ihre Selbstverständlichkeit. „Verfremdet' und befremdlich erscheint dem nichtsahnenden Antipholus von Ephesus die ihm so vertraute Umwelt, als er sich — durch die Verwechslungen, die das Erscheinen seines Zwillingsbruders verursacht hat — vom hochgeachteten Mitbürger und geliebten Ehegatten zum Betrüger und Ehebrecher degradiert sieht ( K o m ö d i e der Irrungen, bes. I I I . l , IV. 1). Gerade dieses Lustspiel weist durch seine Quelle, Plautus' Menaechmi, auf die Ursprünge solcher der V. Brechts verwandter Techniken und Verfahren zurück, die in der antiken Komödie liegen. Auch die Illusionszerstörung im D r a m a d e r R o m a n t i k deutet auf Brecht voraus. Ludwig T i e c k erzielt sie namentlich dadurch, daß er Figuren in Distanz zu sich selbst treten läßt ( D e r gestiefelte Kater, 1797; Die verkehrte

Welt, 1798; Prinz Zerhino oder die Reise nach dem guten Geschmack, 1798). In Der gestie-

felte Kater läßt Tieck ,Zuschauer' vor, während und nach der Aufführung des Stücks dieses kommentieren. Zwischenrufe aus dem .Publikum' unterbrechen die Spielhandlung und zwingen die Figuren, mit den Störern ins Gespräch zu treten (so unterhält sich z . B . der Hanswurst, aus seiner Rolle fallend, über diese Rolle, über das Stück und über die Aufführung mit dem ,Publikum'). Eine Figur kann sich bei Tieck auch in dramatis persona und in den Darsteller derselben spalten (Hanswurst, Nathaniel im Gestiefelten Kater). In den genannten Fällen treten Figuren in Distanz zu sich selber. Allein dieses Aus-der-Rolle-Fallen bleibt im Spiel integriert, ist Teil des Spiels und

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Verfremdung

spielerisch: Die Zwischenrufer, die den Handlungsverlauf unterbrechen, erweisen sich als ,unechte' Zuschauer, als vom Dramatiker vorgeschriebene Figuren, deren Part es ist, Z u schauer' im Saal zu mimen. Damit, daß die dramatis personae auf der Bühne mit ihnen ins Gespräch kommen, wird zwar die Illusion der Bühnenvorgänge als Realität zerstört, aber nur, um sie durch eine weitere künstliche Realität zu erhöhen: es entsteht eine Vermehrung des Spielmäßigen durch ein zusätzliches Spiel. Brechts Illusionszerstörung mit den Mitteln der V. sieht im Bereich der Schauspielkunst dem romantisch-ironischen Aus-der-RolleFallen ähnlich. Auch sie bewirkt, daß die auf der Bühne vorgeführten Ereignisse nicht als geschlossenes Ganzes, als ,Wirklichkeit' erlebt werden. Auch seine Figuren setzen sich über die Realität der Spielhandlung hinweg und treten — z . B . in Prolog und Epilog — in direkten Kontakt mit dem Publikum. Aber sie tun es in bezug auf ein reales Publikum und mit belehrender Absicht: die Distanz zur Rolle ermöglicht jene erwünschte Distanz des Zuschauers zu den dargestellten Vorgängen, die sie als veränderbare erscheinen läßt und seinem Zugriff eröffnet. Das romantische Aus-derRolle-Fallen ist bei Brecht durch ein Nebender-Rolle-Stehen (Nef, S. 204) des dadurch stets als solcher erkennbaren Schauspielers ersetzt. Tritt dann eine Figur aus der Rolle, z. B. wenn sie zum Publikum hin einen kommentierenden Text spricht oder einen Song singt, so wird das grundsätzliche Neben-der-RolleStehen nur noch dramaturgisch akzentuiert.

in durchnumerierten Einzeilern das Elend der Welt aufzählt (Liturgie vom Hauch). Dadurch, daß der Hungertod eines alten Weibes vom Kehrreim des Goetheschen „Über allen Gipfeln/Ist Ruh . . . " begleitet und gleichsam abgesegnet wird, wird zweierlei deutlich: Einmal die Unmöglichkeit, angesichts der Zustände dieser Welt von den Vöglein im Walde zu dichten, zum andern die Erkenntnis, daß ,Goethesche Lyrik' im 20. Jh. wohl nur dazu dienen kann, diese Zustände zu verharmlosen oder zu verdecken. Die hier wirksame V. zielt also sowohl auf die ,klassischen' lyrischen Gegenstände und ihre poet. Wiedergabe als auch auf die im eigenen Gedicht beschriebenen Mißstände: eingebettet in die beschaulichen Verse des Klassikers offenbaren sie um so deutlicher ihre Ungeheuerlichkeit. Nicht wesentlich anders verfährt der junge Brecht in seiner frühen Ballade Legende der Dirne Evlyn Roe. In charakteristischer Umkehrung des neutestamentlichen Stoffes von der großen Büßerin Maria Magdalena wird in der Legende nicht von der gewährten Erlösung und Verzeihung durch Christus berichtet, sondern umgekehrt von dem hoffnungslosen Alleinsein und dem Untergang des naiv-gläubigen Menschen in einer Welt ohne Gott. Die V. bewirkt wiederum zweierlei: sie trifft den biblischen Stoff, und sie holt in die Sphäre lyr. Sprechens Gestalten und Themen herauf, die dort bislang keinen Einlaß hatten. Damit aber zerstört sie die Erwartungen des Lesers, der statt Erbauung Ernüchterung und statt harmonischem Klang Dissonanzen vorgesetzt bekommt.

Nicht minder kraß dient auch die Wahl der Sonettform dem Zweck, Erwartungen zu enttäuschen. Das Sonett — in langer Tradition das § 1 1 . Bisher war von V. auf dem Theater Liebesgedicht schlechthin — dient bei Brecht die Rede; sie ist dort von Brecht, der sich selbst der Entlarvung des Gefühls, der Entmystifiziein erster Linie als „Stückeschreiber" begriff, rung der Liebe. Besungen wird nicht mehr in am weitesten entwickelt und angewandt worpetrarkistischer Hingabe die Unerreichbare, den. Als dramaturgisches Verfahren ist V. denn die Inkarnation des Verlangens und der Leiauch populär geworden. Allein ihre Wirkungsdenschaft, sondern umgekehrt die in ihrer weise ist auch in der Lyrik und in der Prosa Alltäglichkeit und Vertauschbarkeit Zufällige, Brechts sichtbar. das Reale und Unromantische der Begegnung, Eine der ursprünglichsten Formen von V. die Vergänglichkeit des intimen Moments, die in der L y r i k ist das seines Kontexts beraubte Kürze der Emotion, die äußerer Zeichen beZitat (s. d.). Aus der Ebene der ,hohen Poesie' oder — noch häufiger — der Bibel in die thema- darf, um nicht völlig in Vergessenheit zu geraten (vgl. z . B . das Sonett Was ich von frütischen Niederungen Brechtscher Lyrik herabher her noch kannte . . .). geholt, gerinnt es zur Parodie (s.d.) einer zähen, langlebigen Auffassung von DichtIn der Hauspostille (1927) verkündet bereits kunst. Berühmte Verse Goethes zum Beispiel die Einteilung der Gedichtsammlung die V.serscheinen auf einmal in einem ,Gedicht', das absicht: jede Abteilung (bzw. „Lektion") trägt

Verfremdung eine Überschrift, die Erwartungen erbaulichen Inhalts weckt, welche von den Gedichten nicht erfüllt werden. Die didaktische Absicht, wie sie in der „Anleitung zum Gebrauch der Lektionen" zum Ausdruck kommt, enthüllt sich bald einmal als eine ironische: während die „Bittgänge" (erste Lektion) sich an das Gefühl des Lesers wenden, der ganz gesund sein soll, richten sich die „Exerzitien" (zweite Lektion) „mehr an den Verstand", wobei für die Lektüre empfohlen wird, daß sie „langsam und wiederholt, niemals ohne Einfalt" zu erfolgen habe und gelegentlich von „Zungenschnalzer[n]" zu begleiten sei. Liefert also bereits die „Anleitung" die gewünschte Distanz zum lyr. Gegenstand, so wird diese in den einzelnen Gedichten konsequent eingehalten. Die verfremdende Wirkung geht hier zunächst einmal von der Stoffwahl aus: Mord (Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde, Von der Kindsmörderin Marie Farrar) und Unkeuschheit (Lied von der verderbten Unschuld beim Wäschefalten, Von der Willfährigkeit der Natur) werden zum .lyrischen' Thema, oder die zynische Lebenserfahrung, die sich verfremdeter Figuren bedient (Bericht vom Zeck, Orges Wunschliste, Vom armen B. B.). Verfall, Verwesung und die Sehnsucht nach dem großen Entrinnen, das sich in den Gestalten von Räubern, Seefahrern und Abenteurern kristallisiert (Ballade von den Abenteurern, Von des Cortez Leuten, Ballade von den Seeräubern, Ballade von Mazeppa) durchziehen die Hauspostille. Wirkt die Stoffwahl der Gedichtsammlung verfremdend im Großen, so gehen auch vom einzelnen Gedicht verfremdende Effekte aus: die Sprache bedient sich eines Gemisches aus Lutherdeutsch, derbem Kolloquialismus und didaktischem Tonfall. Dabei vollbringt Brecht das Kunststück, dem tradierten Potential europäischer — speziell deutscher — Lyrik zu neuer Frische und Wirkung zu verhelfen. Bei näherem Besehen entdeckt man, daß auch dies weitgehend dank einer V.stechnik möglich wird. Besonders deutlich wird das an den beiden Gedichten Vom Klettern in Bäumen und Vom Schwimmen in Seen und Flüssen. Der Effekt unverbrauchter lyrischer Mitteilung wird hier paradoxerweise gerade dadurch erreicht, daß an die Stelle unmittelbarer Anschauung und spontaner Ergriffenheit vermittelte Naturerfahrung getreten ist. .Verfremdet' wird das Naturerlebnis vom abendlichen Klettern in Bäumen durch die wissenschaft-

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lich anmutende Anleitung: der Dichter gibt an, wie und u n t e r w e l c h e n U m s t ä n d e n der beschriebene Vorgang nachzuvollziehen wäre, wobei am Schluß deutlich wird, daß die gewünschten günstigen Konstellationen sich wohl kaum je einstellen können und die Anleitung zwar zwecklos — weil undurchführbar —, aber durch die Vermittlung genuin lyrisch ist. Unter dem Eindruck seiner marxist. Studien und der aufkommenden Katastrophe in Deutschland wandeln sich die Themen von Brechts Gedichten. Allein die Technik der V. — nunmehr politisch-ideologisch ausgerichtet — bleibt auch in der Lyrik der 30er und 40er Jahre wirksam. Die von ihr angestrebte Entlarvung ist nunmehr mit einer Didaxe verbunden, die nicht mehr zu einem Naturerlebnis verhelfen will, sondern zu einem besseren Verstehen der Welt und zu ihrer aktiven Veränderung, ganz im Sinne von Brechts gleichzeitiger dramat. Produktion. Wie in dieser schafft V. auch in der Lyrik des Exils und der Nachkriegszeit jene krit. Distanz zum besprochenen Gegenstand, der diesen auffällig macht und ein prüfendes Denken und Vollenden seitens des Lesers erfordert. Häufig wird in diesen Gedichten die Schlußfolgerung dem Leser anheimgestellt (z.B. 1940, Antwort des Dialektikers . . .), oder es werden in dialektischer Umkehrung geschichtliche Ereignisse gezeigt, die man bloß von ihrer glanzvollen Seite her kennt {Fragen eines lesenden Arbeiters) oder deren verheerende Folgen man in momentaner Verblendung nicht zu erkennen vermag (Das Lied vom Anstreicher Hitler, Hitler-Choräle, Eine Voraussage usw.). Andererseits kann V. eintreten, um einen als bedeutend erkannten Vorgang oder eine besondere Leistung als solche hervorzuheben, etwa wenn Brecht antike Hexameter wählt, um das Kommunistische Manifest von 1848 in Verse zu übertragen (Das Manifest). Das gravitätische Metrum macht den Inhalt erst recht bedeutend und zwingt den Leser dazu, beim einzelnen Vers zu verweilen: modernes, revolutionäres Gedankengut wird in der epischen Kleidung antiker Heldengesänge verfremdet.

§ 12. Am Beispiel des Romanfragments Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar (1938/39) soll die Anwendung der Methode der V. in der P r o s a Brechts gezeigt werden.

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Verfremdung

Bereits die Überschrift des Romans kündigt die Intention des Autors an: eine große polit. Figur soll als einfacher Bürger, der Geschäfte tätigt, gesehen werden. Den Blickwinkel bestimmt nicht die histor. Leistung Caesars, sondern dessen von der Geschichtsschreibung ausgesparte Privatsphäre als Karrierist, der von den sozialen Spannungen und Kämpfen der Zeit persönlichen Profit geschlagen habe: Die V. ist hier gegen die wissenschaftliche Mythologisierung gerichtet und hat bewußt die Demontage des Feldherrn und Politikers zum Ziel. Sie bedient sich einmal zweier verschiedener Erzählebenen und -Zeiten, der Gegenwart des Biographen, der 20 Jahre nach Caesars T o d auf die Aufzeichnungen seines Privatsekretärs Rarus stößt, und der Gegenwart dieser Tagebücher selber, die die Ereignisse der Jahre 63-60 v. Chr. festhalten. Sie bedient sich ferner einer subtilen Spiegelungstechnik, indem Caesar selbst nie als handelnde Person in Dialog und Aktion auftritt, sondern stets vermittelt durch die Notizen Rarus' und aus der Komplementärperspektive seiner Zeitgenossen. Dabei erfährt die histor. Verklärung des Diktators, die bereits kurz nach seinem T o d eingesetzt hat und die die Erwartungen des Biographen zu Beginn des Romans beherrscht, sowohl durch die Tagebücher, die Caesars unrühmliche Verwicklung in die Politik festhalten ( „ D e r Catilinaputsch war kein G e s c h ä f t " , konstatiert Rarus einmal trocken, G W 14, S. 1310), als auch durch die einander ergänzenden Berichte des Bankiers Spicer, eines alten Legionärs, eines Juristen und eines Dichters, erhebliche Korrekturen. Caesar erscheint nach und nach als ein Mann, der den polit. Einsatz als käuflich betrachtet und der nicht zögert, die Fronten zu wechseln, wenn sich das als einträglich erweist.

Allein Brechts Absicht geht noch weiter: er will nicht bloß die Heldengestalt ankratzen, „sondern die Aktion des Helden in das Gesamtbild der gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Verhältnisse" einordnen (Mayer, Tradition, S. 95). Dabei hat Brechts Methode der V. — wie auch schon im Drama — die Aufgabe, am vorgeführten Modell Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die auch noch für die Gegenwart des Schreibers Gültigkeit haben. Daher verwendet Brecht gern Anachronismen („City", „Clubs", „Firmen", „Aktien", „Börse" usw.), die die Verhältnisse im antiken Rom verfremden und gerade dadurch aktualisieren. Bekannte histor. Ereignisse werden mit den Augen des ,kleinen Mannes' gesehen. Sie werden oft

beiläufig erwähnt und in den privaten Kontext des Schreibers Rarus (eines Sklaven) eingebettet, der ihre Tragweite nicht erkennt. Ciceros berühmter Auftritt gegen Catilina etwa erscheint im Bericht des desinteressierten Sklaven so: „ C i c e r o hat eine Rede im Senat gehalten, in der er die Mordpläne Catilinas aufdeckte. Es regnet." (ebda., S. 1239). D i e Bloßstellung geschichtlicher Figuren wird systematisch betrieben und konzentriert sich auf Caesar. Für Rarus steht z . B . fest, daß sein Herr kein „Politiker großen F o r m a t s " ist: „ E r hat weder den Charakter dazu noch die Idee. Er macht Politik, weil ihm sonst nichts übrigbleibt. Er ist eben keine Führernatur." (ebda., S. 1309). Daß sich der Sklave darin letzten Endes doch getäuscht hat, ändert nichts an der Tatsache, daß Caesars Werdegang zum großen Politiker völlig entmystifiziert wird und als eine Kette geschäftlicher Spekulationen entlarvt wird, derer Caesar nicht einmal selber Herr ist: sie werden weitgehend von übergreifenden, überindividuellen Machtinteressen ermöglicht — denen des aristokratischen Senats und der gewinnsüchtigen „ C i t y " .

Dem mit Schulwissen ausgerüsteten modernen Leser soll es offenbar so ergehen, wie dem idealistischen jungen Biographen im Roman, der die verfremdete Idolfigur nur widerstrebend aufgibt (vgl. ebda., S. 1335). Am Schluß des Romans hätte er völlig desillusioniert sein sollen, und wenn das Werk fragmentarisch geblieben ist, so doch wohl, weil Brecht immer mehr „die Unvergleichbarkeit der ökonomischen Widersprüche der röm. Gesellschaft mit der des entwickelten Kapitalismus" (Claas, S. 170) erkennen mußte. Die verfremdende Intention, das Hinterfragen scheinbar notwendiger und gesetzmäßiger histor. Prozesse und geschichtlicher Größen bleibt davon jedoch unangetastet. Sie ist im Caesar-Roman ebenso am Werk wie in dem Gedicht Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters (1938) oder im Hörspiel Das Verhör des Lukttllus (1939). § 13. E r g e b n i s s e . V. ist entstanden aus dem ursprünglichen Bedürfnis Brechts nach Illusionszerstörung. Sie ist im Drama, in der Lyrik und in der Prosa Brechts nachweisbar. Als Mittel zur Zerstörung der Illusion und zur parodist. Verdrehung (Zitat) ist sie in eine lange literar. Tradition eingebettet (s.o. § 10) und rechnet mit dem Vorwissen des Zuschauers und Lesers, damit der ästhetische Reiz der Parodie (s.d.) um so wirksamer sei. Dies gilt in hohem Maße für die frühe Lyrik Brechts, in der durch die konsequente Verkehrung von Bekanntem ins Gegenteil, durch Entstellung

Verfremdung u n d E n t t ä u s c h u n g v o n E r w a r t u n g e n der K o n t r a f a k t u r , der V - E f f e k t erzielt w i r d . D a b e i darf allerdings nicht ü b e r s e h e n w e r d e n , daß vieles im J u g e n d w e r k eher B ü r g e r s c h r e c k - A t t i t ü d e als b e w u ß t e V. ist. D i e T e c h n i k der Desillusionierung u n d D i s t a n z i e r u n g , als die V. in ihrer ersten Phase a u f t r i t t , ist b e s o n d e r s d e m D r a m a des jungen Brecht eigen. F r ü h in die beiden deutlich gegeneinander abgegrenzten E b e n e n v o n Spiel u n d K o m m e n t a r s t r u k t u r i e r t , enthalten Brechts Stücke V - E f f e k t e , die ihre W i r k u n g aus einem Zusammenhang von Tradition, Konvention u n d I n n o v a t i o n beziehen. U n t e r d e m E i n d r u c k seiner philosophischen Studien (Marxismus) entwickelt Brecht die bis dahin als bloßes T e c h n i k u m v e r w a n d t e V. z u einer künstlerischen M e t h o d e , die — w i e w o h l sie das ästhetische V e r g n ü g e n am Artistischen ausdrücklich bejaht — letztlich außerästhetische Ziele verfolgt (vgl. W . Rasch, „ B e r t o l t Brechts marxistischer Lehrer", in: Rasch, Zur dt. Lit. d. Jh.wende, 1967, S. 243-273; vgl. auch K n o p f , S. 149-164). D a die begriffliche Festlegung u n d B e g r ü n d u n g ( s . o . ) des V - E f f e k t s z u einem Z e i t p u n k t erfolgt ist, als sich das P h ä n o m e n der Illusionsz e r s t ö r u n g in d e n drei Bereichen der D r a maturgie, der D a r s t e l l u n g s k u n s t u n d d e r I n szenierung z u einer ideologisch gerichteten künstler. M e t h o d e gewandelt hat, ist es, genaug e n o m m e n , unzulässig, V. v o n ihren p h i l o s o phischen u n d polit. Prämissen z u t r e n n e n u n d als bloßes „ t r a n s p o r t a b l e s T e c h n i k u m " ( s . o . § 7) z u b e t r a c h t e n . W a s der Begriff V., wie er in die Lit.geschiehte eingegangen ist, m e i n t , ist an Brechts D e f i n i t i o n des T e r m i n u s g e b u n d e n u n d n u r verständlich aus den spezifischen Bedingungen u n d ideologischen Zielen seines W e r k s im allgemeinen u n d seiner D r a m a t i k im besonderen. Bertolt B r e c h t , Gesammelte Werkein 20 Bdn (1967), zit.: GW. Jan K n o p f , Bertolt Brecht. E. krit. Forschungsbericht. Fragwürdiges in d. Brecht-Forschung (1974; Athenäum-Tb. 2028), bes. S. 15-60. - Volker K l o t z , B.B. Versuch über d. Werk (1957; 3. Aufl. 1967). Martin E s s l i n , B. A Choice of Evils; a Critical Study of the Man, his Work and his Opinions (London 1959; dt. u. d. T.: Das Paradox d. polit. Dichters, 1962). Reinhold G r i m m , B.B. Die Struktur s. Werkes (1959; 5. Aufl. 1968; Erlanger Beitr. z. Sprach- u. Kunstwiss. 5). Hans M a y e r , Anmerkungen zu B. (1965; EdSuhrk. 143). Klaus

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Verfremdung — Vergleichende Literaturwissenschaft

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Daphinoff

Vergleichende Literaturwissenschaft § 1. Z u m A u f g a b e n b e r e i c h . Als Teilgebiet d e r L i t . w i s s . b e f a ß t sich die Vergleichende Literaturwissenschaft oder Komparatistik ( f r a n z . Littérature comparée, engl. Comparative Literature, russ. Sravnitel'noe literaturovedenie) v o r allem m i t d e r E r f o r s c h u n g jener E r s c h e i n u n g e n , die im L a u f e i h r e r h i s t o r . Entwicklung oder überhaupt ihrem Wesen n a c h d e n R a h m e n einer N a t i o n a l l i t e r a t u r (eines S y s t e m s m o n o l i t e r a r . Z u s a m m e n h ä n g e ) ü b e r s c h r e i t e n . Solche E r s c h e i n u n g e n lassen sich e n t w e d e r aus einer a n d e r e n Lit. ableiten ( m a n spricht d a h e r a u c h v o n g e n e t i s c h e n B e z i e h u n g e n ) , o d e r sie s t i m m e n m i t ä h n lichen E r s c h e i n u n g e n in einer f r e m d e n Lit. ü b e r e i n , obgleich keinerlei genetische Bezieh u n g e n belegt w e r d e n k ö n n e n u n d aller W a h r scheinlichkeit n a c h a u c h ü b e r h a u p t n i c h t b e stehen ( t y p o l o g i s c h e A n a l o g i e n ) . O f f e n bleiben bei dieser ersten B e g r i f f s b e s t i m m u n g einige p e r i p h e r e F r a g e n : Soll sich die Vgl. L w . mit Schriftstellern u n d D i c h t e r n b e f a s s e n , die z w a r in d e r gleichen S p r a c h e s c h r e i b e n , aber v e r s c h i e d e n e r N a t i o n a l i t ä t sind, o d e r d e r gleichen N a t i o n a n g e h ö r e n , j e d o c h in vers c h i e d e n e n S p r a c h e n s c h r e i b e n ? G e h ö r e n die U n t e r s c h i e d e z w i s c h e n d e r engl, u n d d e r a m e r i k a n . L i t e r a t u r z u m Beispiel, z w i s c h e n d e r d t . u n d der österr. etc. z u m A u f g a b e n g e b i e t d e r K o m p a r a t i s t i k ? I n w i e w e i t ist u n t e r a n d e r e m die vgl. B e t r a c h t u n g der slaw. o d e r d e r r o m a n .

Vergleichende Literaturwissenschaft Literaturen Teil der Komparatistik oder der Slawistik bzw. Romanistik? — u.a.m. Neben solchen Untersuchungen von Beziehungen zwischen einzelnen Literaturen (der i n t e r l i t e r a r i s c h e n W e c h s e l s e i t i g k e i t ) und von Ähnlichkeiten in den Erscheinungen (der i n t e r l i t e r a r i s c h e n P a r a l l e l i t ä t ) , die man als traditionelle Problemkreise der Vgl. Lw. bezeichnen könnte, wird zusehends auch die Sphäre der im literar. Werk oftmals vorhandenen Verbindungen mit anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit — der Kunst, Philosophie, Psychologie usw. — zum Forschungsbereich der Komparatistik ( i n t e r d i s z i p l i n ä r e B e r ü h r u n g e n und V e r k n ü p f u n gen). In den Gesamtbereich der Vergi. Lw. werden ferner noch miteinbezogen: U b e r s e t z u n g und N a c h d i c h t u n g , die l i t e r a r i s c h e V e r m i t t l u n g sowie die I m a g e und M i r a g e f o r s c h u n g . Darüber hinaus wird auch auf die Notwendigkeit einer V e r g l e i c h e n d e n M e t h o d e n f o r s c h u n g hingewiesen, während V e r g l e i c h e n d e F o l k l o r e und V e r g l e i c h e n d e S t i l i s t i k in gleichem Maße der Ethnologie bzw. der Vergleichenden Sprachwissenschaft zugerechnet werden. Im Mittelpunkt der Diskussion um das grundlegende Verhältnis der Vgl. Lw. zur Lit.Wissenschaft insgesamt steht die Frage nach einer eigenen Theorie und Methode der Komparatistik. René W e l l e k vertritt die Auffassung, daß es nur eine gemeinsame Lit.theorie geben kann, so wie es auch nur eine Lit. gibt (The Concepì of Comp. Lit., in: Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 2, 1953, S. 1-5; dt. u. d. Tit. Die Theorie der Vgl. Lw., in: Vgl. Lw., hg. v. Hans Norbert F ü g e n , 1973, S. 101107). Erwin K o p p e n stimmt bei, daß die „Komparatistik zwar keine eigene literar. Theorie hat, wohl aber über eine eigene Methodologie . . . verfügt" (Hat die Vgl. Lw. eine eigene Theorief in: Zur Theorie der Vgl. Lw., hg. v. Horst R ü d i g e r , 1971; Komp. Studien. Beih. zur 'arcadia' Bd. 1, S. 62), während Henry H. H. R e m a k der Meinung ist, daß die Vgl. Lw. „keine eigene, nur ihr allein vorbehaltene Methodologie" besitzt und auch nicht benötigt (Comp. Lit. — Its Definition and Function, in: Comp. Lit. — Method and Perspective, hg. v. Newton P. S t a l l k n e c h t und Horst F r e n z , 1961, 2. Aufl. 1973; dt. Ubers.: Definition u. Funktion d. Vgl. Lw., in: Komparatistik. Aufgaben u.

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Methoden, hg. v. Horst Rüdiger, 1973, Sprache und Lit. 85, S. 26). Demgegenüber wiederum wirkt z . B . Ulrich W e i s s t e i n s Einführung in die Vgl. Lw. (1968; Sprache u. Lit. 50) wie ein Versuch, die Vgl. Lw. als geschlossenes theoret. System und auch in Form einer allgemein gültigen methodischen Anweisung darzustellen, und das gleiche gilt wohl auch für alle anderen, sehr zahlreichen 'Einführungen1 in dieses Fach. Zu bemerken wäre jedenfalls, daß es auch bedeutende Vertreter der komparatist. Forschung gibt, die, wie Haskeil M. B l o c k , vor theoret. Exkursen warnen (Nouvelles tendances en litt, comp., Paris 1970, S. 52), oder, wie Horst R ü d i g e r , anstelle des „akademischen Spiels" mit der Lit.theorie (Grenzen und Aufgaben d. Vgl. Lw., in: Zur Theorie der Vgl. Lw., a. a. O . , S. 2) die Werke von Friedrich G u n d o l f (Shakespeare und der deutsche Geist, 1911, 11. Aufl. 1959), Mario P r a z (La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica, Milano, Roma 1930; 2. ed. accr. Torino 1942) oder Ernst Robert C u r t i u s (Europäische Lit. u. lat. MA., 1948) als Vorbild empfehlen (weil sie paradigmatisch — jeweils auf ihre Weise — Theorie und Methodologie in Praxis umgesetzt haben). Das Problem scheint in einer noch nicht klaren Abgrenzung zwischen Vgl. Lw. und Allgem. Lit.wiss. zu liegen, da die aus der vergleichenden Feststellung von Gemeinsamkeiten gewonnenen Einsichten letztlich dem Erkenntnisziel der Allgem. Lit.wiss. zugeführt werden. Da aber der Sinn jeder systematisch betriebenen Wissenschaft in der Bildung von Theorie liegt und in dieser Theoriebildung sowohl das Bemühen nach wissenschaftlich zusammenfassenden einheitlichen Erklärungen von Phänomenkomplexen als auch das systematische Ziel, eine geregelte Ordnung zusammenhängender Gegenstände herzustellen, enthalten ist, so wird sich eine Theorie der Vgl. Lw. am ehesten in der Verallgemeinerung von Erkenntnissen der Erforschung sowohl der genetischen Beziehungen als auch der typologischen Analogien und der Verknüpfungen vom literar. Werk zu allen übrigen Künsten und Tätigkeiten verwirklichen. Einen neuen Gesichtspunkt in diese Diskussion führt Hugo D y s e r i n c k (Komparatistik. E. Einführung, 1977; Aachener Beiträge zur Komparatistik 1) ein, der einleitend im Vorwort die Komparatistik „als supranationale Beschäftigung mit Literatur" deutet (S. 9). Eine

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Vergleichende Literaturwissenschaft

solche Beschäftigung ist an keinen einzelliterar. Bereich gebunden, sondern auf den „besonderen Charakter einer multinationalen Einheit diverser Literaturen ausgerichtet" (S. 13). Daraus ließe sich wohl auch eine Schlußfolgerung auf die Frage der Methode entnehmen. So wird sich mit der z . B . von Armin A r n o l d empfohlenen Methode der 'vergleichenden Interpretation' allein — dem einfachen Herausgreifen und Nebeneinanderstellen von zwei oder mehreren Werken aus verschiedenen Sprachgebieten (Friedrich Dürrenmatt und Mark Twain. Zur Methode der vergleichenden Interpretation, in: Actes du IVe Congrès de l'AILC, II, S. 1097-1104) - die Komparatistik nicht begnügen dürfen. Auch die völlige Ubereinstimmung zweier Phänomene kann nämlich in unterschiedlichen Zusammenhängen völlig unterschiedliche Vergleichswerte aufweisen. Daher auch der Ausspruch des franz. Literaturwissenschaftlers Jean-Marie C a r é e im Vorwort zu Marius-François G u y a r d s Einführung La littérature comparée (Paris 1951; Que sais-je? 499): „La littérature comparée n'est pas la comparaison littéraire." Carée sieht die Aufgabe der Vgl. Lw. in der Untersuchung der internationalen geistigen Beziehungen und der Veränderungen des Übernommenen. Das Vergleichen, meint Horst R ü d i g e r , zurückgehend auf Goethes Auffassung vom Besonderen und vom Allgemeinen, „kann erst dann beanspruchen, eine Methode zu sein, wenn es reflektiert — wenn das Vergleichen so verfeinert wird, daß es dem Kritiker die Möglichkeit gibt, das Besondere, Einmalige, Individuelle, das Charakteristische und Spezifische eines bestimmten literar. Vorganges zu erkennen und zu beschreiben" (Grenzen und Aufgaben der Vgl. Lw., a . a . O . , S. 8-9). Auch für Wolfgang H o l d he im ist der Vergleich nur Ausgangspunkt, um reflektierend zu einer Tiefendimension vorzudringen, „in der das Nationale nur noch ein einziges, in seiner Bedeutung von Fall zu Fall verschiedenes Moment unter anderen ist" (Komparatistik und Literaturtheorie. arcadia 7, 1972, S. 302). Vgl. Lw. betreiben heißt daher, vorerst größere, über die Grenzen nur einer Nationalliteratur hinausreichende Zusammenhänge festzustellen und vor diesem Hintergrund — reflektierend — die einzelnen Erscheinungen in einem hermeneutischen Zirkel zu untersuchen. Der wahre Inhalt der Vgl. Lw. wäre demnach der r e f l e k t i e r e n d e V e r g l e i c h oder das v e r g l e i -

c h e n d e R e f l e k t i e r e n mit dem Blick auf ein System als Tertium comparationis. Schon allein deswegen ist jedoch die Bezeichnung .Vergleichende Literaturwissenschaft' nicht völlig zutreffend, da diese die so vorherrschende Perspektive des ständigen Suchens und Reflektierens nicht genügend zum Ausdruck bringt, sondern unter einer solchen Bezeichnung eher feststehende Resultate (eine schon festgefügte Gesamttheorie als solche) zu erwarten wären. Jedoch keiner der bisherigen Vorschläge auf Änderung dieser Bezeichnung — etwa 'Weltliteratur-Wissenschaft', 'Wissenschaft von der Weltliteratur' oder einfach 'Literaturwissenschaft' ( B l o c k schlägt für das Englische 'International Literature' vor, weil dieser Terminus eben mehr eine Perspektive als einen Stoff bezeichnet) — vermag vollauf jenen Zwischenraum zu erfassen, der sich von den einzelnen Nationalliteraturen zu einer, alles Literarische umfassenden, als organische Ganzheit verstandenen W e l t l i t e r a t u r (s.d.) und ihrer theoret. Grundlegung, der A l l g e m e i n e n L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t , erstreckt und den die Vgl. Lw. ausfüllen möchte. Zu fragen wäre dabei, ob nicht vielleicht für dieses Suchen die Bezeichnung V e r g l e i c h e n d e L i t e r a t u r f o r s c h u n g am entsprechendsten wäre und der Begriff 'Allgemeine Literaturwissenschaft' durch L i t e r a t u r t h e o r i e ersetzt werden könnte (wie es bei den Amerikanern schon der Fall ist: T h e o r y of L i t e r a ture). Die vgl. Lit.betrachtung zeigt sich jedenfalls als sehr nützlich bei den z.Z. vom Strukturalismus (s. d.), der Kybernetik und der Semiotik ausgehenden aktuellen methodologischen Anregungen zur Erforschung von Systemen und Strukturen, von Modellen und Zeichen. So wird es bei der Bestimmung von Erwartungshorizonten des Leserpublikums (in der Rezeptionsästhetik) oder eines Kontextes (in der Kommunikationstheorie) kaum möglich sein, sich ausschließlich in den Grenzen nur einer Nationalliteratur zu bewegen. Auch die allerknappste Darstellung der Vgl. Lw., wie sie hier gegeben werden soll, wird daher am besten verfahren, wenn sie den Stand der Vgl. Lw. sowohl in einer Rückbesinnung auf die bisherige Entwicklung als auch in einer Reihe von grundsätzlichen Klarstellungen des sich in Entwicklung befindlichen Gesamtgebietes zu erfassen versucht. Sie wird in ihrem Bemühen um eine dynamische, flexible und ergänzungsfähige Annäherung an dieses Gebiet von bisher

Vergleichende Literaturwissenschaft Geleistetem ausgehen und aus der histor. Entwicklung und den gegenwärtigen Richtungen auch den spezifischen Inhalt der 'komparatist. Schlüsselbegriffe', der 'Aufgabengebiete der Komparatistik', der möglichen 'Ausgangspunkte komparatistischer Betrachtung' und ihrer besonderen Themen (Übersetzung und Nachdichtung — Literarische Vermittlung — Image- und Mirageforschung — Vergleichende Methodenforschung — Vergleichende Folklore — Vergleichende Stilistik) in den verschiedenen Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten sowie in den sich eröffnenden Verallgemeinerungen und sich daraus ergebenden Grundprinzipien gleichmäßig überprüfen. Bei einer solchen Darstellung, die zugleich vertikal und horizontal vorgeht, dabei aber völlig offen bleibt, wird man wohl am ehesten feststellen können, wie man sich des Gegenstandes einer komparatist. Untersuchung bemächtigt, welche Probleme dabei auftauchen und mit welchen Mitteln man arbeiten muß, um Lösungen für diese Probleme zu finden. Trotz gewisser Unbestimmtheiten und beträchtlicher Unterschiede in den Auffassungen (vor allem zwischen derfranz. und der a m e r i k a n . S c h u l e ) ist es der Vgl. Lw. doch gelungen, sich mit Erfolg als autonomes Forschungs- und Lehrgebiet, von Bedeutung sowohl für das histor. Verständnis als auch für die ästhetische Wertung von Lit. und somit auch für das Verständnis der Wechselwirkung zwischen Ästhetischem und Geschichtlichem, zu profilieren und zu bewähren. Einblick in das gegenwärtige Selbstverständnis der Vgl. Lw. bieten vor allem: René W e l l e k , Comp. Lit. today. C o m p . Lit. 17 (1965) S. 3253 6 2 ; dt. Ü b e r s . : Vgl. Lw. heute, in: Wellek, Grenzziehungen. Beiträge z. Lit.kritik (1972; Sprache u. Lit. 75) S. 31-43. Ders., The Name and Nature of Comp. Lit., in: Comparatists at Work, hg. v. Stephen G. Nichols Jr. u. Richard B. Vowles (Waltham, Mass. 1968) S. 3 - 7 ; dt. Ü b e r s . : Name u. Wesen d. Vgl. Lw., in: Grenzziehungen, a . a . O . , S. 9 - 3 0 . H e n r y H . H . R e m a k , Comparative Literature — Its Definition and Function, a . a . O . H o r s t R ü d i g e r , Grenzen u. Aufgaben d. Vgl. Lw., a . a . O . ; die Diskussionsbeiträge des Colloque méthodologique de littérature comparée (veröff. in: Neohelicon 1-2, 1973, darunter vor allem der Beitrag von Robert W e i m a n n , History and Value in Comp. Study, S. 2 7 - 3 3 ) . D o u w e W . F o k k e m a , Method and Programme of Comp. Lit. Synthesis 1 (1974) S. 51-62. G y ö r g y M . V a j d a , Present Perspec-

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tives of Comp. Lit. Neohelicon 1 (1977) S. 267283. Zoran K o n s t a n t i n o v i c , Der reflektierende Vergleich. E. Beitr. z. Methodendiskussion in d. Komparatistik, in: Konzepte d. Komparatistik = Mainzer Komparatist. Hefte 2 (1978) S. 6 - 1 4 . H u g o D y s e r i n c k , Üher Möglichkeiten u. Grenzen d. Komparatistik. Ebda, S. 15-25. Erwin K o p p e n , Die vgl. Lit.wiss. als akademisches Fach. Ebda, S. 2 6 - 3 8 . Méthodes d'analyse. Actes du VII e Congrès d ' A I C L . MontrealOttawa 1973 (Stuttgart 1979) S. 2 1 9 - 4 2 6 . Adrian M a r i n o , Repenser la littérature comparée. Synthesis 7 (1980) S. 9 - 3 8 . Theodore Z i o l k o w s k i , Zur Unentbehrlichkeit e. Vgl. Lw. f. d. Studium d. dt. Lit. in: Fremdsprache Deutsch, hg. v. Alois Wierlacher. Bd. 2 ( 1 9 8 0 ; U T B 913) S. 4 8 6 - 5 0 6 . Armand N i v e l l e , Wozu Vergleichende Literaturwissenschaft? in: Manfred Schmeling (Hg.), Vgl. Lw. Theorie u. Praxis (1981) S. 175-186. S. a. die einzelnen Einführungen unter § 9 (Bibliographie).

§ 2. H i s t o r i s c h e r R ü c k b l i c k . Der literar. Vergleich ließe sich wahrscheinlich bis zur ersten Berührung zweier unterschiedlicher Kulturen und bis zum ersten Wissen vom Bestehen zweier sprachlich unterschiedlicher Werke zurückverfolgen. Von den uns bekannten ältesten Texten der Menschheitsgeschichte enthält schon das altägypt. Totenbuch, das man den Gestorbenen in Rollenform in die Gräber mitgab, literar. Vergleiche. Solche sind aus den ältesten Literaturen auch in den Talmud der Hebräer eingegangen. Für unseren Kulturkreis vergleicht erstmals C i c e r o ausführlich Autoren und Werke, die eine Wirkung ausübten. H o r a z fordert in der Ars poetica die röm. Dichter auf, sich an das Vorbild der Griechen zu halten („Vos exemplaria Graeca, nocturna versate manu, versate diurna") und lehrt sie, Ausdruck, Rhythmus und Farbe vor allem bei H o m e r zu suchen. Für die zahlreichen Poetiken der Renaissance und des Barock bildete daraufhin die als Einheit verstandene griechisch-röm. Antike einen unerschütterlichen Bezugspunkt und Maßstab der Wertung. Einen zeitgenöss. Autor oder ein neues Werk auf diese Weise mit der Antike zu vergleichen, bedeutete demnach vor allem eine Anerkennung und Aufwertung (Francis M e r e s , A

Comparative Discourse of Our English Poets with the Greeke, Latine and Italian Poets, 1598). Diese Forderung, ausschließlich die Muster der Antike nachzuahmen ( i m i t a t i o ) und nur an ihnen vergleichend zu messen, wurde erstmals durch Charles P e r r a u l t

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Vergleichende Literaturwissenschaft

(Parallèles des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, 1688-97) und den von ihm entfesselten Lit.streit ernsthaft in Frage gestellt. Zwei Wege führen von da an allmählich zu einer Wissenschaft der vgl. Lit.Betrachtung: der Weg über die aufkommenden Naturwissenschaften und der Weg über das Gedankengut des Kosmopolitismus. D i e Naturwissenschaften, vor allem die Anatomie und die Physiologie, trugen dadurch dazu bei, daß sie sich der vergleichenden Methode zu bedienen begannen (Nehemiah G r e w , The Comparative Anatomy of Truncks, 1675) und daraus — vor allem durch das Werk von Georges C u v i e r , Anatomie comparée, 18001805 — die Grundlagen einer idealist. Naturphilosophie entwickelten, die über die Ästhetik auch das Verhältnis der schönen Künste ( b e a u x a r t s ) zur Lit. miteinbezog (Jean François S o b r y , Poétique des arts, ou Cours de peinture et de littérature comparée, 1810). Unmittelbare Anregungen für eine umfassende vgl. Lit.betrachtung mußten auf diesem Wege auch über die Sprachwissenschaft kommen, wo es François R a y n o u a r d mit dem 6. Band der Choix des poésies originales des troubadours (1821) gelungen war, das histor. Studium der Sprachen gleichfalls auf der Grundlage der vgl. Methode zu erneuern. Von diesen durch die Naturwissenschaften angeregten Vergleichen hatte schon V o l t a i r e die Verbindung zu jenem intensiven und weitreichenden literar. Interesse hergestellt, das durch den Kosmopolitismus des 18. J h . s befruchtet wurde. „II en est de ces parallèles comme de l'anatomie comparée, qui fait connaître la nature", vermerkt er in seinen Conseils à un journaliste sur la philosophie, l'histoire, le théâtre, les pièces de poésie, les mélanges de littérature, les langues et le style, 1737 (in: Oeuvres de Voltaire, 1834-40, Bd. X X X V I I , S. 382) und unterstreicht den großen Wert des übernationalen Vergleichs. Mit seinen programmatischen Äußerungen wurde Voltaire auch zu einem der wesentlichsten Anreger und Wegbereiter der. Komparatistik. In Deutschland war Johann Elias S c h l e g e l der erste Kritiker, der literar. Werke aus verschiedenen Nationen abwägend und ohne Vorurteile miteinander verglich (Vergleichung Shakespears und Andreas Gryphs bey Gelegenheit des Vergleichs einer gebundenen Uebersetzung vom Tode des Julius Cäsar, aus den Englischen Werken des Shakespear, 1741). Für L e s s i n g ist der Vergleich ein Grund-

prinzip der literar. Kritik. „Wir wollen dabei mit allem Fleiße diejenigen Stücke und Stellen aufsuchen, welche die neueren Dichter von diesen [den Alten] geborgt haben. Wir werden daraus nothwendig einsehen lernen, welches die wahre und falsche Art, nachzuahmen sey, und den Vorzug der Alten vor den Neuern, oder, in gewissen Stücken, dieser vor jenen, daraus feste setzen k ö n n e n " ( B e y träge zur Historie und Aufnahme des Theaters, 1750, in: Schriften, 1889, IV, S. 47). H e r d e r , vielfach als einer der Begründer und geistigen Väter der Vergl. Lw. betrachtet, legt in seinen Abhandlungen, vor allem in Homer und Ossian (in: D i e Hören 10 [1795] S. 86-107) die konkreten Unterschiede des individuellen Genies der Völker dar, und von seinen vielen programmatischen Äußerungen gilt als die bestimmendste: „ J e mehr Kunstwerke aus verschiedenen Völkern und Zeiten uns zur Vergleichung dastehen, desto heller sehen wir, was jedem mangelt, worin Dies und Jenes vorzüglich glänzet . . . " ( A d r a s t e a , 1801-1803, in: Sämtl. Werke, 1877-1913, X X I I I , S. 73). Wesentliche Impulse für die entstehende K o m paratistik gingen auch von Anne Louise Germaine N e c k e r d e S t a ë l - H o l s t e i n aus, vor allem von ihrem Buch De l'Allemagne (Neuausgabe 1813). Sie zieht auch außerliterar. Feststellungen — Klima und polit. System — in die Betrachtung ein, während sich August Wilhelm S c h l e g e l in seiner Schrift Comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d'Euripides (1807) den Weg zum Vergleich über die mit äußerster Akribie betriebene philologische Analyse bahnt, um in den Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1808) wie kein anderer Kritiker vor ihm das Zusammenwirken der europäischen Literaturen zu erhellen. Diese Erkenntnisse finden ihren Höhepunkt sowohl in dem von Friedrich S c h l e g e l entworfenen philosophischen Gedanken einer progressiven Universalpoesie' als auch in dem von Goethe geprägten Begriff der ,Weltliteratur' als ständigem Kommunikationsprozeß. D i e Bezeichnung littérature comparée' verwendeten in der Zwischenzeit erstmals François N o ë l und Guislain de P l a c e für ihre 1816 erschienene Anthologie mustergültiger franz. Prosatexte Cours de littérature comparée. Leçons françaises de littérature et de morale, denen dann 1825 ital. Texte folgten. Gedacht war offensichtlich an eine vielbändige Sammlung von Texten aus

Vergleichende L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t mehreren Literaturen. Z u r Wissenschaft wird die Vgl. Lit.betrachtung jedoch erst, indem sie versucht, zu Synthesen vorzudringen. D i e erste synthetische komparatistische Arbeit dürfte von dem Niederländer Willem d e C l e r c q stammen, der 1824 seine preisgekrönte Studie über den Einfluß der ausländischen Literaturen auf das niederländ. Schrifttum veröffentlichte ( Verhandeling van den Heer Willem de Clercq ter beantwoording der vraag: welken invloed heeft vreemde letterkunde, inzonderheid de Italiaansche, Spaansche, Fransche en Duitsche, gebad op de Nederlandsche taal- en letterkunde, sints het begin der vijftiende eeuw tot op onze dagen). J e d o c h als eigentliche Begründung der Komparatistik als einer akademischen, universitären Disziplin werden allgemein die Vorlesungen an der S o r b o n n e von À b e l - F r a n ç o i s V i l l e m a i n ( 1 8 2 7 - 1 8 3 0 ) und dessen N a c h f o l g e r J e a n - J a c q u e s A m p è r e betrachtet, wobei sowohl für Villemain als auch für A m p è r e die franz. Lit. als Ausstrahlungspunkt von Einflüssen auf die übrige europäische Lit. im Mittelpunkt stand. In England spricht erstmals Matthew A r n o l d 1848 von einer der franz. littérature comparée entsprechenden Comparative Literature, und bei den Deutschen beginnt sich 1854 bei M o r i z C a r r i e r e die Vorstellung von einer v e r g l e i c h e n d e n L i t e r a t u r g e s c h i c h t e abzuzeichnen. I m gleichen J a h r entwirft M o r i z H a u p t in seiner Antrittsvorlesung v o r der Berliner Akademie der Wiss. den G e d a n k e n einer analogen Betrachtung der epischen D i c h t u n g bei den verschiedenen V ö l k e r n , und in der folgenden Zeit setzt sich dann Wilhelm S c h e r e r des öfteren mit der Idee einer v e r g l e i c h e n d e n P o e t i k auseinander. In England wertet H u t cheson M . P o s n e t t die Lit.geschichte als einen Zweig der Soziologie, jedoch gebührt ihm das Verdienst, als erster die Vgl. Lw. als akademische Disziplin umfassend dargestellt zu haben ( C o m p a r a t i v e Literature, 1886). F ü r die dt. Komparatistik erweisen sich rückblikkend vor allem zwei Zeitschriften als sehr bedeutsam. D i e erste wurde 1877-88 von H u g o M e l t z l d e L o m n i t z im siebenbürgischen Klausenburg herausgegeben, enthielt Beiträge in den verschiedensten Sprachen und variierte in fünf Sprachen — ungarisch, deutsch, französisch, italienisch und spanisch — den Titel Zeitschrift für vergleichende Litteratur, der dann 1879 in Acta Comparationis Litterarum Universarum ( A C L U ) umgewandelt

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wurde; die zweite wurde in Berlin von M a x K o c h begründet und erschien von 1 8 8 7 - 1 9 1 0 unter dem Titel Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte (zeitweilig, 1889-1891, auch unter dem erweiterten Titel Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte und Renaissancelitteratur), dazu als E r g ä n z u n g : 19011909, die Studien zur vergleichenden Litteraturgeschichte. U m sich abzugrenzen, werden die Acta Comparationis, vom Erscheinen von K o c h s Zeitschrift an, im dt. Titel zur Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft erweitert. Meltzls Zeitschrift war international ausgerichtet, verdient als originelles U n t e r fangen hervorgehoben zu werden, blieb aber in ihrer W i r k u n g beschränkt. K o c h s Zeitschrift stützte sich dagegen auf die Mitarbeit der bekanntesten dt. Literarhistoriker jener Zeit und bedeutet ein epochemachendes Ereignis in der G e s c h i c h t e der Komparatistik. J e d o c h wie Villemain und A m p è r e die franz. L i t . in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt hatten, glaubte auch K o c h , vgl. Untersuchungen ausschließlich in den Dienst der dt. L i t . h i s t o r i o graphie stellen zu müssen. Das Bedürfnis, eine Komparatistik zu entwickeln, die mit R e c h t diesen N a m e n tragen k ö n n t e , indem sie nicht nur eine Hilfswissenschaft für die eigene Nationalliteratur wäre, sondern sich in gleichem M a ß e auch um die literar. Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Literaturen zu bemühen hätte, scheint mit der A b k e h r vom Positivismus gegeben. Aus diesen Bestrebungen heraus haben sich inzwischen eigene Schulen und Richtungen entwickelt. D e r entsprechende Pluralismus in den Ansichten und Meinungen ist kennzeichnend für die gegenwärtige Situation in der Vgl. Lw. Harold S. J a n t z , The Fathers of Comparative Literature. Books Abroad 10 (1936) S. 401-403. Hildegard S c h l o c k e r - S c h m i d t , Jean-Jacques Ampère, e. Begründer d. Komparatismus in Frankreich. Diss. Zürich 1961. Robert S. M a y o , Herder and the Beginnings of Comparative Literature (Chapel Hill 1969; Univ. of North Carolina. Studies in Comp. Lit. 18). Hans-Joachim Schulz, Max Koch and Germany's First Journals of Comparative Literature. Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 21 (1972) S. 23-30. György Michäly Vajda, Acta Comparationis Litterarum Universarum. Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 14 (1965) S. 37-45. Arno Kappler, Der literar. Vergleich. Beiträge zu e. Vorgeschichte d. Komparatistik (1976; EuroHS XVIII, 8).

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Vergleichende Literaturwissenschaft

§ 3. S c h u l e n u n d R i c h t u n g e n . D e r bestehende Unterschied in den Ansichten und Meinungen kommt vor allem im Gegensatz zwischen der traditionsreichen f r a n z ö s i s c h e n und der noch jungen, jedoch sehr intensiv arbeitenden a m e r i k a n i s c h e n S c h u l e zum Ausdruck. Die d e u t s c h e K o m p a r a t i s t i k nimmt dabei eine Zwischenstellung ein. Starkes Interesse bekundet auch die m a r x i s t i s c h e L i t . W i s s e n s c h a f t , die den Schwerpunkt komparatist. Untersuchungen auf gesellschaftliche Inhalte, geschichtliche Bedingtheiten und wirkungsgeschichtliche Potenzen legt. F r a n z ö s i s c h e S c h u l e . In der allgemeinen Abkehr vom Positivismus lehnte auch Fernand B a l d e n s p e r g e r , einer der verdienstvollsten Verfechter der Komparatistik in unserem Jahrhundert, in seinem programmatischen Aufsatz zur ersten N u m m e r der Zeitschrift Revue de

Littérature comparée (Littérature comparée: le

mot et la chose, 1921, S. 5-29; dt. Ü b e r s . : Das Wort und die Sache, in : Hans Norbert F ü g e n , a . a . O . , S. 19-39) für die vergleichende Lit.betrachtung den Leitgedanken Hippolyte T a i n e s und Ferdinand B r u n e t i è r e s von der einflußbedingten Abhängigkeit aller Entwicklung ab sowie die damit verbundenen, rein stoffgeschichtlich orientierten Untersuchungen, die übertriebene Parallelenjagd und das einseitige Aufspüren von Quellen. Anstelle dessen empfiehlt er, die Entwicklungen im Rahmen der Rezeption literar. Erscheinungen zu untersuchen ( m é t h o d e g é n é t i q u e oder m o r p h o l o g i e a r t i s t i q u e ) , wobei er besonders die Bedeutung der m o b i l i t é , der großen Beweglichkeit in der Wechselseitigkeit des literar. Austausches unterstreicht. In Fortsetzung dieser Gedanken bot Paul van T i e g h e m mit seinem Buch La littérature comparée (Paris 1931; Coll. Armand Colin 144; 4. verb. Aufl. 1951) als erster ein zwar kleines, jedoch systematisch konzipiertes Handbuch der Vgl. Lw. und darin auch die Definition: „ L ' o b j e t de la littérature comparée est essentiellement d'étudier les œuvres des diverses littératures dans leurs rapports les unes avec les autres" (S. 57), womit auch die gesamte Ausrichtung der franz. Schule in der Vgl. Lw. bestimmt war. Es geht demnach ausschließlich um die „rapports binaires entre deux éléments seulement" (S. 170), um die Untersuchung von Einzelerscheinungen im Rahmen von nur zwei Literaturen, während es Aufgabe der A l l g e m e i -

n e n L i t . W i s s e n s c h a f t (Littérature générale) sei, die „faits communs à plusieurs littératures" (S. 174) zu erhellen, so daß in diesem Sinne L i t t é r a t u r e g é n é r a l e gleichbedeutend wäre mit L i t . t h e o r i e (Theory of Literature). (Eine Untersuchung der Einwirkungen Byrons auf Heine z . B . fällt demnach in das Aufgabengebiet der Vgl. Lw., während Vergleiche über zwei Literaturen hinaus sowie der Byronismus als gesamteuropäische Erscheinung der Allgem. Lit.wiss. zuzuzählen wären.) Sehr stark soziologisch untermauert, setzt sich eine solche Ausrichtung auch nach dem 2. Weltkrieg fort. Jean-Marie C a r é e sieht in der Vgl. Lw. „une branche de l'histoire littéraire" und bezeichnet sie als „l'étude des relations spirituelles internationales, des rapports de fait qui ont existé entre Byron et Pouchkin, Goethe et Carlyle, Walter Scott et Vigny, entre les œuvres, les inspirations, voire les vies d'écrivains appartenant à plusieurs littératures" (Vorw. z. 1. Aufl. v. M . - F . Guyard, La littérature comparée, 1851, S. 3). Das Schlüsselwort dieser Definition bilden die , rapports de fait', am ehesten zu übersetzen als ,eindeutig bestimmbare Zusammenhänge'. Die durch Carée erfolgte Weiterführung von Baldenspergers und Van Tieghems Faktualismus der .rapports de fait' mündete letztlich in eine Art vergleichender nationaler Psychologie, in die Erforschung der i m a g e s , jener Leitbilder, die in der Lit. eines Volkes von einem anderen bestehen, auch sehr lange hindurch als festgefügte Vorstellungen zu wirken vermögen und doch sehr leicht nur m i r a g e s (Scheinbilder) sind. Jedenfalls mit den Begriffen ,rapports binaires' und ,rapports de fait', mit den sich ausschließlich auf bilaterale und eindeutig bestimmbare Zusammenhänge zwischen , émissaire', intermédiaire' und ,récepteur' beschränkenden Untersuchungen, sind auch die Grenzen der franz. Komparatistik gezogen. Sie anerkennt nur genetische, historisch ableitbare Beziehungen, und in dieser Tradition stehen auch die bedeutendsten Vertreter der franz. Schule: Claude P i c h o i s , André-M. R o u s s e a u , Simon J e u n e , Jacques V o i s i n e , Robert E s c a r p i t , René E t i e m b l e und Marcel B a t a i l l o n , trotz gewisser Differenzierungen in den Ansichten und vereinzelter Aufforderungen zur Umstellung. So meint Marcel Bataillon „ . . . il est temps, grand temps, de noter que nos hâtives réflexions, malgré le désir d'embrasser les diverses tendances, ont suivis la vieille méthode génétique.

Vergleichende Literaturwissenschaft Il serait temps d'en sortir . . . ", denn letztlich — „nous ne pouvons pas fermer les yeux à certaines unités qui se dessinent dans le temps et dans l'espace" {Pour une bibliographie internationale. RLC. 30, 1956, S. 142). Jacques Body, Les comparatismes vus de France. Neohelicon 1-2 (1973) S. 354-359. A m e r i k a n i s c h e S c h u l e . Gegen die franz. Schule, vor allem gegen Guyard und Carée, meldete sich René W e l l e k , bedeutender Vermittler zwischen Formalismus und New Criticism, sehr polemisch zu Wort, erstmals in seinem Beitrag The Concept of Comparative Literature (a.a.O.). Wellek sieht in der Ausrichtung der franz. Schule die Gefahr des Rückfalls zum faktensammelnden Positivismus und befürchtet, daß eine solche Komparatistik aus Mangel an theoret. Reflexion nur auf die Auswirkung der franz. Nationallit. beschränkt bleibt, während das Gemeinsame doch im spezifisch Literarischen vorgegeben sei. Schon in seinem bekannten Werk Theory of Literature (New York 1949; dt. Ausg. 1959), in dem er die Theorie der Lit.gesch. mit einer Theorie der Lit.kritik zu verbinden sucht, hatte Wellek die Forderung erhoben: „Literary history as a synthesis, literary history on a super-national scale, will have to be written again. The study of comparative Literature in this sense . . . asks for a widening of perspectives. Yet literature is one, as art and humanity are one; and in this conception lies the future of historical literary studies" (3. Aufl. 1963, S. 50). Wellek ist daher auch gegen eine methodische Abgrenzung zwischen Allgemeiner und Vergleichender Lit.Wissenschaft. Die Bezeichnung Allgemeine Literaturwissenschaft' hat sich seines Erachtens nach nicht durchgesetzt, wenigstens nicht im ags. Raum, und so bliebe die Vgl. Lw. als Bezeichnung für alles, was über die Betrachtung einer Nationallit. hinausgeht — „any study of literature transcending the limits of one national literature" (The Crisis of Comparative Literature. Proceedings of the Sec. Int. Congress of Comp. Lit., 1959, S. 158, dt. Übers.: Die Krise der Vgl. Lw., in: Komparatistik. Aufgaben und Methoden, a. a. O . , S. 102). Indem sie das Kunstwerk als ein vielseitiges Ganzes, als eine Struktur von Zeichen auffaßt, kritisch betrachtet und analysiert, hätte die Vgl. Lw. die Erkenntnis des spezifisch Literarischen zu einer allgemeinen Theorie der Lit. voranzutreiben. Eine solche

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Theorie wäre zugleich die Grundlage für das Studium der Weltliteratur. Das Hervorheben des spezifisch Literarischen hat bei Wellek allerdings auch zur Folge, daß jede Lit.betrachtung, die nicht beim Formalen stehenbleibt, als literaturfremd und gern als ,soziologisch' abgewertet wird. In seiner Kritik an der franz. Schule und an der marxist. Lit.Wissenschaft spricht er u. a. davon, daß zwischen der Psychologie des Autors und dem Dichtwerk, zwischen Leben und Gesellschaft einerseits und dem ästhetischen Objekt andererseits eine Kluft besteht, die man mit Recht als ,ontologisch' bezeichnen müßte (The Crisis of Comp. Lit., S. 158). Von einem solchen Zugeständnis an die Ontologie distanziert sich die als B l o o m i n g t o n T r e n d bezeichnete Richtung, ohne deswegen den Rahmen einer gemeinsamen amerikan. komparatist. Schule zu sprengen. Henry H . H . R e m a k , zusammen mit Horst F r e n z und Ulrich W e i s s t e i n der bedeutendste Vertreter dieser Richtung, bietet zugleich auch die allerbreiteste Definition der Vgl. Lw. „Comparative Literature is the study of literature beyond the confines of one particular country, and the study of relationships between literature on the one hand and other areas of knowledge and belief, such as the arts (e. g. painting, sculpture, architecture, music), philosophy, history, the social sciences (e. g. politics, economics, sociology), the sciences, religion etc. on the other. In brief, it is the comparison of literature with other spheres of human expression" (Comp. Lit. — Its Definition and Function, a . a . O . , S. 3). In Harvard wiederum pflegt Harry L e v i n die klassische Tradition der literar. Historiographie, deren Wert er in einer großen Zahl von Studien über die amerikan. Lit. und ihre Beziehungen zum Ausland unter Beweis stellt. Sein methodologischer Standpunkt ist in der Studie Comparing the Literature (Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 17, 1968, S. 5-16) dargelegt. Zweifellos ist es aber doch eine Folge der von Wellek vorgezeichneten Unterscheidung und zugleich auch gegenseitigen Durchdringung der beiden möglichen Zugänge zur Literatur (,intrinsic approach' und ,extrinsic approach'), daß die amerikan. Komparatistik in ihrer Methode völlig offen ist, weswegen sie in der Praxis auch sehr eklektisch verfahren kann und auch ihre Themen äußerst weit, völlig international und unter Einbeziehung aller Gebiete der menschlichen Tätigkeit wählt.

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Michael E. M o r i a r t y , Comparatism in the United States: an Impression. Neohelicon 1-2 (1973) S. 359-367. Marxistische Betrachtungsweisen. Die komparatist. Arbeiten der marxistisch ausgerichteten Lit.Wissenschaftler lassen eine Vielzahl von Nuancierungen erkennen, vom strikten Dogmatismus der Widerspiegelungstheorie bis zu den verschiedensten Verknüpfungen mit aktuellen Methoden der westlichen Welt (Phänomenologie, Strukturalismus, R e zeptionsästhetik u . a . m . ) . V o n den westdt. Bestimmungen der Komparatistik bezieht in diesem Pluralismus marxist. Auffassungen diejenige von Gerhard B a u e r die extremste Position ( T h e o r i e der Literatur in der Allge-

meinen und Vgl. Lit.wiss., in: Zur Theorie der Vgl. Lw., a . a . O . , S. 15-40). O h n e eine neue Definition des Ästhetischen zu geben, denn dieses ist für ihn das Museale, das übrig bleibt, wenn das Kunstwerk nicht mehr lebt, sieht Bauer die Aufgabe der Vgl. Lw. darin, das aufzudecken, „was die Vergangenheit oder andere Völker oder heute verkannte Gruppen an Befreiung, an Strategien zur Wahrung berechtigter Bedürfnisse zu bieten haben" (S. 40). Die vielseitigen wiss. Bemühungen jedoch, eine marxist. Komparatistik aufzubauen, können auf Ansätze noch im vorigen J h . zurückgreifen, auf gewisse Erkenntnisse des russ. Literarhistorikers Alexander V e s e l o v s k i j . Teilweise auch von Friedrich E n g e l s beeinflußt, konnte Veselovskij in seinen Untersuchungen folklorist. Texte feststellen, daß es Motive gibt, die nicht durch Kontakte oder das Bestehen einer gemeinsamen Tradition erklärt werden können, sondern offensichtlich ähnlichen sozio-psychischen Situationen entstammen. Als dann die russ. Formalisten, um ihr theoret. System zu beweisen, den Blick auch auf den weiteren, europäischen Kontext der russ. Lit. ausweiteten, entdeckten sie andererseits, daß wörtliche Ubereinstimmungen in verschiedenen Literaturen nicht die gleichen ästhetischen Werte hervorbringen müssen. Aus der formalist. Schule kam auch Viktor Z i r m u n s k i j , ein Schüler Veselovskijs, der mit seiner Arbeit Sravnitel'noe literaturovede-

nie i prohlema literaturnych vlijanij (Izvestija A N SSSR. Otdelenie obscestvennych nauk 3, 1937, S. 383-403) erstmals in der Sowjetunion die theoret. Grundlagen einer komparatist. Lit.betrachtung erörterte. Die bestimmenden

Gedanken seiner Ausführungen werden im Beitrag Methodologische Probleme der marxi-

stischen historisch-vergleichenden Literaturforschung (in: Aktuelle Probleme der vgl. Lit.forschung, hg. v. Gerhard Z i e g e n g e i s t , 1968, D t . Akad. d. Wiss. zu Berlin. Veröff. d. Inst. f. Slawistik 49, S. 1-16) wiederholt. Für Zirmunskij ist der Vergleich, ,,d. h. die Feststellung von Ähnlichkeiten historischer Erscheinungen und ihre histor. Erklärung ein obligater Bestandteil jeder histor. Untersuchung" (S. 1). Ausgehend vom grundlegenden Gedanken der marxist. Weltanschauung, daß die gesellschaftl. Entwicklung gesetzmäßig verläuft und Kunst und Lit. im Rahmen einer solchen Entwicklung ideologische Uberbauerscheinungen sind, definiert er Ähnlichkeiten in der Literatur, die als Folge solcher Prozesse entstehen, als ,historisch-typologische Ähnlichkeiten' oder ,historisch-typologische Analogien'. Sie kommen im ideellen Gehalt, in den Motiven und Sujets, in den poet. Bildern und Situationen, im kompositioneilen Bau der Gattungen und in den Besonderheiten des künstlerischen Stils zum Ausdruck. Bei einer gleichmäßigen Entwicklung der Produktionsmittel auf der ganzen Welt gäbe es demnach in der Lit. nur Analogien. Erst dadurch, daß auch recht erhebliche, durch unterschiedliche geschichtliche Entwicklung bedingte Divergenzen auftreten, ist es überhaupt möglich, die genetischen Beziehungen zu erklären. Die ,historisch-typologischen Analogien' stehen daher mit den ,literar. Wechselwirkungen' in einem dialektischen Zusammenhang. Diese Gedanken Zirmunskijs, unterstrichen durch einen starken polemischen Einschlag gegenüber der franz. und der amerikan. komparatistischen Schule, bilden den Ausgangspunkt auch für die gesamte gegenwärtige sowjetische Vgl. Lw. (Michail P. A l e k s e e v , Irina G . N e u p o k o e v a , Boris G . R e i z o v , Michail B . Hrapcenko, Dmitrij F. M a r k o v , Pavel N . B e r k o v u . a . ) . Anfang der 60er Jahre begann sich auch in der D D R Interesse an der vgl. Lit.betrachtung zu bekunden. Das Zeichen dazu gab Werner K r a u s ( P r o b l e m e der ver-

gleichenden

Literaturgeschichte,

in:

Confé-

rence de Littérature Comparée; Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 5, 1962, S. 298-306, s. a. S B A k B l n . 1963, 1). Klaus T r ä g e r zufolge scheint sich die Vgl. Lw. in der D D R sehr stark der Rezeptionsästhetik zu nähern, denn ihre Aufgabe ist „die Erfor-

Vergleichende Literaturwissenschaft schung und Darstellung der allgemeinen G e setzmäßigkeit der literar. Produktion, K o m munikation und Konsumation, wie sie sich aus den — schon J h . e lang währenden — Wechselbeziehungen der Literaturen untereinander ergeben . . . " , jedoch „zu dem Zwecke, diese Erkenntnisse als Mittel bei der Steuerung von Bewußtseinsprozessen einzusetzen" (Zum Ge-

genstand und Integrationsbereich der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissen-

schaft. Weim. Beitr. 1, 1969, S. 94-95). Besonders verdienstvoll für die Entwicklung der Komparatistik in Osteuropa sind die ungarischen Literaturwissenschaftler. Kennzeichnend für ihr Bemühen ist der Versuch, literar. Assimilations- und Innovationsprozesse im histor. Ablauf und den dialektischen Bezügen zu definieren und in umfassenden Synthesen darzustellen. Ein solches Vorgehen bietet die Möglichkeit, auch den Beitrag kleinerer Völker zur Weltliteratur gerechter zu beurteilen (Istvän S ö t e r , Comparaison — confrontation. Acta Litt. Acad. Scient. Hung. 1-4, 1971, S. 463-474; G y ö r g y Mihäly V a j d a , World

Literature

and the Comparative

Analysis of

Literatures. Acta Litt. Acad. Scient. Hung. 3 - 4 , 1974, S. 287-293). D e r slowak. Literaturwissenschaftler D i o n y z D u r i s i n hat seinerseits mit dem Versuch, Marxismus und Strukturalismus zu verbinden, beträchtliches Interesse hervorgerufen ( P r o b l e m y literarnej komparatistiky, Bratislava 1967, dt. U b e r s . : Vergleichende Literaturforschung, 1972, 2. Aufl. 1976). Durisin unterscheidet zwischen .schöpferischen' und , nichtschöpferischen' Formen im literar. Kunstwerk, die dann in ihren verschiedenen Beziehungen und Zusammenhängen untersucht werden. Für die komparatist. Forschung insgesamt bedeutsam sind zweifellos die marxistischen Erhellungen der D i a l e k tik von Nationalem und Internationalem' in der Lit. sowie die Anregungen zur Erforschung von Typologien. Ralph E. Matlaw, Comparative Literature in Eastem Europe. Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 13 (1964) S. 49-56. Borbäla H. L u k ä c s , Recent Comparative Research in Soviet Union. Neohelicon 1-2 (1973) S. 367-375. Dionyz Öurisin, Zu aktuellen Problemen d. marxistischleninist. Theorie d. vgl. Lit.forschung. Weim. Beitr. 21 (1975), H. 2, S. 5-22. Rainer R o s e n berg, Marxistische Literaturtheorie und Komparatistik. Slavistik 4 (1976) S. 469-481. Gerhard R. Kaiser, Tendenzen vgl. Lit.forschung in d.

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sozialist. Landern, arcadia 13 (1978) S. 286-300. Ders., Vgl. Lit.forschung in d. sozialist. Ländern 1963-1979 (1980). § 4 . D e u t s c h e K o m p a r a t i s t i k . Im Vorwort zur ersten N u m m e r der Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte (1887) gibt Max K o c h einen Rückblick auf die komparatistisch ausgerichtete dt. Lit.kritik und Lit.geschichtsschreibung von Kaspar Daniel M o r h o f (in dessen Werken er auch den ersten Ansatz zu einer Komparatistik bei den Deutschen zu erkennen glaubt) bis Theodor B e n f e y und Karl G o e d e k e (S. 1-10). Daran schließt sich eine Aufzählung von Aufgabengebieten an, die als Programm dieses Organs gedacht sind (S. 11-12). Angeführt werden die Kunst des Ubersetzens, die F o r m - und Stoffgeschichte sowie das Studium übernationaler Einflüsse, die Ideengeschichte, der „Zusammenhang zwischen Litteratur und bildender Kunst, philosophischer und litterarischer E n t wicklung u s w . " und dazu noch „die inzwischen selbständig hervorgetretene Wissenschaft der Folklore". Im Unterschied zur herrschenden positivist. Einstellung, die streng auf eine zeitliche Distanz zu den zu untersuchenden Erscheinungen beharrt, erkennt Koch auch die „neueste Litteratur" als Gegenstand der Forschung an, „soweit sie eben im Zusammenhang der geschichtl. Entwicklung sich betrachten läßt . . ., denn jede histor. Forschung auf welchem Gebiet sie sich auch bewegt, hat das Recht und die Pflicht: durch Erkenntnis der Vergangenheit und ihrer Entwicklung das Verständnis für die Gegenwart und die in ihr wirkenden Kräfte verbreiten und ihre berechtigten Bestrebungen fördern zu helfen". Zugleich wird jedoch die Forderung gestellt, „die deutsche Litteratur und die Förderung ihrer histor. Erkenntnis soll den Ausgangs- und Mittelpunkt der in der Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte geförderten Bestrebungen bilden". Schon die Titel der ersten Beiträge beweisen, daß die Zeitschrift redlich bemüht war, ihrem weitgestreckten Aufgabengebiet zu entsprechen, und sich dabei immerhin nicht nur auf die dt. Lit. als ausschließlichen Bezugspunkt beschränkte (s. z . B . O t t o H a r n a c k , Puschkin und Byron, ZfvglLitg. N F . Bd. 1, 1887/88, S. 397-411). Die alsbald einsetzende Abkehr vom Positivismus und die sich auf den dt. Lehrstühlen vollziehende Hinwendung zur geistesgeschichtl. Methode, so

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wie sie für die Komparatistik theoretisch bestimmend erstmals mit dem Beitrag von Julius P e t e r s e n , Nationale oder Vergleichende Literaturgeschichte? ( D V L G . 6, 1928, S. 36-61) zum Ausdruck k o m m t , bedeutete für die Vgl. Lw. in Deutschland — im Unterschied zur methodologischen Entwicklung in anderen Ländern — eine starke Einschränkung der Blickrichtung. Petersen forderte nämlich noch gezielter als K o c h , die vgl. Betrachtung in den Dienst der Erforschung ausschließlich der dt. Nationalliteratur zu stellen, weil erst der Vergleich den nationalen Charakter sichtbar mache. E r empfiehlt sogar, die vgl. Methode auch auf größere Zusammenhänge ausschließlich innerhalb der dt. Lit. anzuwenden ( z . B . die Klassik mit der Romantik zu vergleichen und zwar nicht in Form eines entwicklungsgeschichtlichen Vergleichs, sondern durch unmittelbares Nebeneinanderstellen dieser beiden Bewegungen). Kurt W a i s spitzt dann in seiner Abhandlung Zeitgeist und Volksgeist in der vergleichenden Literaturgeschichte (GRM. 22, 1934, S. 291-307) diese Gedanken den damaligen Umständen entsprechend in dem Sinne zu, daß die vgl. Lit.betrachtung als Hilfswiss. zur Ergründung des Volksgeistes, der „wahren Quelle echter Dichtung", zu dienen habe. Anderslaufende Bestrebungen aus der Zeit der Weimarer Republik (Eduard v o n Jan, Franz. Lit.gesch. u. Vgl. Literaturbetrachtung. G R M . 15, 1927, S. 305-317) werden zurückgedrängt. Nach dem 2. Weltkrieg fällt dann vorerst Friedrich H i r t h die Rolle zu, unter den veränderten Bedingungen die Aufgaben und Ziele einer dt. Komparatistik zu definieren ( V o m Geiste der vergleichenden Literaturwissenschaft. Universitas 2, 1947, S. 1301-1319). Diese Definition ist sich jedoch noch immer nicht der histor. Grundlage und des internationalen Charakters der Vgl. Lw. vollauf bewußt. Zu den frühen Versuchen nach dem 2. Weltkrieg, der dt. Komparatistik eine Ausrichtung zu geben, gehört auch ein Beitrag von Walter H o l l e r e r ( M e t h o d e n u. Probleme d. Vgl. Lit.Wissenschaft. G R M . N F . 2, 1951/52, S. 116-131), wonach — offensichtlich im Sinne H e i d e g g e r s — die Vgl. Lw. „das Unsägliche, das in der Dichtung jeweils gesagt wird, auszuschreiten, durch Vergleich innere Zusammenhänge und feinste Veränderungen der abendländischen Lit. sichtbar zu machen" habe (S. 130). Das gemeinsame Abendländische (eine Rechtfertigung übrigens auch für die

Vorherrschaft der eurozentrischen Betrachtung in der Vgl. Lw.) stellt nun gleichfalls Kurt W a i s dem Volksgeist gegenüber und spricht von „einem vergleichenden Gesamtbild der europäischen oder Weltliteratur, der Literatur des zentripetalen und zentrifugalen Europas, das ebenso viele Kräfte auf ein betontes Nebeneinander wie auf ein betontes Ineinander verwendet hat und darum des Vergleichs nicht entraten k a n n " ( V e r g l e i c h e n d e Literaturbetrachtung, in: Forschungsprobleme der vgl. Lit.gesch. 1, 1951, S. 11). Jedoch der richtungsweisende Neugestalter und eigentliche Begründer einer modernen dt. Komparatistik, der es alsbald gelingt, auch internationale Anerkennung zu finden, ist Horst R ü d i g e r . Seine Auffassungen finden wir vorerst in zwei Beiträgen dargelegt: Möglichkeiten und Grenzen der literar. Begriffsbildung (Schweizer Monatshefte 41, 1961, S. 806-810) und Nationalliteratur und europäische Literatur. Methoden und Ziele der Vergleichenden Literaturwissenschaft (ebda. 42, 1962, S. 195-211). Mit einer das Aufgabengebiet der Komparatistik umreißenden Einleitung beginnt auch die 1966 von Rüdiger begründete und geleitete Zeitschrift arcadia zu erscheinen. Sie trägt im Untertitel die Bezeichnung Zeitschrift für Vgl. Lit.wiss., und damit scheint sich der Terminus ,Vgl. Lit.wiss.' endgültig im dt. Sprachraum eingebürgert zu haben. Rüdigers theoret. Ansichten werden dann in der Arbeit Die Begriffe 'Literatur und 'Weltliteratur' in der modernen Komparatistik (Schweizer Monatshefte 51, 1971, S. 32-47) noch eingehender dargelegt und — in der Einleitung zum Ertrag des ersten Symposiums der 1969 gegründeten ,Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vgl. Lit. wiss.' — unter dem Titel Grenzen und Aufgaben der Vergleichenden Literaturwissenschaft ( a . a . O . ) programmatisch festgelegt. Literatur, in welcher Sprache sie auch geschrieben sein mag, ist für Rüdiger nicht nur räumlich, sondern auch historisch eines und unteilbar, sie ist Weltliteratur. Die Komparatistik kennt keine Einschränkungen in der Betrachtung, muß sich jedoch im klaren sein, daß sie bei dem Ausmaß des Stoffes sowohl im regionalen Querschnitt als auch im historischen Längsschnitt nur paradigmatisch verfahren kann. D e r Unmöglichkeit, eine Vollständigkeit zu erzielen, stellt sie daher eine Auswahl heuristisch fruchtbarer Gesichtspunkte gegenüber. Demzufolge ist die Komparatistik weder eine lit.wiss. Superdiszi-

Vergleichende L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t plin noch E r s a t z für ein ,Studium universale', das eine gedrängte Ubersicht über die großen Werke der Weltlit. oder einen oberflächlichen Überblick über die Geschichte der Weltlit. zu geben versucht. Sie soll vergleichend kleinere und größere literar. Elemente und F o r m e n untersuchen. D e n n während Sprachen die Lit. in Literaturen aufspalten, verbinden die literar. Elemente und F o r m e n die Literaturen zur Literatur, so daß die Vgl. Lw. in diesem Falle der Allgem. Lit.wiss. nahesteht oder mit ihr identisch sein kann. D a aber diese Elemente historisch und unter bestimmten gesellschaftl. Voraussetzungen entstanden sind und sich entwickelt haben, kann es keine Komparatistik ohne vgl. Lit.gesch. geben, und darin unterscheidet sich die Vgl. Lw. von der Allgem. Lit.Wissenschaft. D i e komparatist. Untersuchungen werden sich daher nach Rüdigers Meinung mit Vorliebe im Rahmen von E p o chen oder Themen bewegen, in denen die kosmopolit. A u f f a s s u n g selbstverständlich war oder Phänomene auftauchen, die mehreren Nationalliteraturen gemeinsam sind (im Rahmen des M A . s , des Barocks, der Aufklärung, der Klassik und Romantik, des Symbolismus und des Fin de siècle sowie der jüngsten, z u m Universalen drängenden Entwicklung der Literatur — oder des E p o s , der Lyrik, des D r a m a s , des R o m a n s , des Petrarkismus, der Bukolik, der Autobiographie usw.). D a s gleiche gilt auch für diejenigen Autoren, die ästhetisch und gedanklich allgemein Gültiges aussprechen. Als A n s a t z jeder Betrachtung sieht Rüdiger den reflektierenden Vergleich, und als ihr Ziel, das Besondere, Einmalige, Individuelle, das Charakteristische und Spezifische eines bestimmten literar. Werkes zu erkennen und zu beschreiben. — Insgesamt betrachtet wäre demnach die dt. Komparatistik eher der amerikan. Schule und vor allem den Auffassungen Welleks verwandt. Andererseits aber warnt Rüdiger vor der Uberschätzung der Fiktion durch den N e w Criticism. N i c h t nur das Wort des Dichters, des ,vates', das ästhetisch Geglückte, sondern das Wort eines jeden A u t o r s , der seinen Gegenstand in angemessene F o r m zu bringen vermag, hat Anspruch darauf, als literar. Kunstwerk zu gelten; nicht nur das E p o s , das Gedicht, das D r a m a , der R o m a n , die Novelle, sondern auch der Essay, der theologische und philosophische Traktat, die Biographie, die Geschichtsschreibung, die Fachprosa usw. können literar. Kunstwerke sein

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und müssen als solche von der Lit.wiss. ernstgenommen werden. Rüdiger rät sogar zum Studium der Trivialliteraturen, allerdings nur im Ausnahmefall im Zuge der Wirkungsforschung. D i e dt. Komparatistik hat demnach, womöglich auch unbewußt, gleichlaufend zu jener Ausdehnung des Begriffes und der Funktion .Literatur', wie dies in jüngster Zeit allgemein f ü r die dt. Lit.wiss. festgestellt werden kann (s. Peter Wapnewskis Sonderbeitrag Literatur, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon 15, 1975, S. 155-159), auch ihr Interesse weiterentwickelt, wobei sie nicht unbeeinflußt von den neuesten Bestrebungen der R e z e p tionsästhetik (die ihrerseits die zu einem Zeitpunkt vorherrschenden Elemente und F o r m e n in der Lit. als bestimmend für den ,Erwartungshorizont' betrachtet) bleiben konnte. Auf diese Weise nimmt die dt. Komparatistik mit ihren Zielsetzungen z. Z. gewissermaßen eine Mittlerstellung zwischen der franz. und der amerikan. Schule ein. Ein Mittelpunkt der komparatist. Forschung in der Bundesrepublik ist die Universität B o n n , Lehrstühle bestehen in Aachen, Bayreuth, Berlin ( F U ) , B o c h u m , Mainz, München, Münster, Saarbrücken und Tübingen, in der Schweiz in Zürich, in Österreich in Innsbruck und — als jüngster komparatist. Lehrstuhl im dt. Sprachraum — in Wien. A n anderen Universitäten wird komparatist. Forschung oft in sehr starkem Maße an den einzelnen Philologien betrieben: Berlin ( F U ) , Erlangen, F r a n k f u r t / M . , Giessen, G ö t tingen, Freiburg, Kassel und Essen. N a t u r gegeben k o m m t es dabei zu einzelnen Schwerpunktbildungen (Mainz: Dt.-franz. Beziehungen; Göttingen: Dt.-slaw. und interslaw. Beziehungen; Aachen: Dt.-niederländ. Beziehungen; Innsbruck: Südosteuropäische Lit.beziehungen). Horst R ü d i g e r , Comp. Lit. in Germany. Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 20 (1971) S. 15-20. Susanne S c h r o e d e r , Dt. Komparatistik im Wilhelminischen Zeitalter 1871-1891 (1979; Aachener Beitr. z. Komparatistik 4). Über eine voll ausgebaute Dokumentationsstelle zur Geschichte des Faches verfügt der Lehrstuhl in Aachen. § 5 . S c h l ü s s e l b e g r i f f e : Im G e f o l g e des Positivismus und dessen A u f f a s s u n g von der kausalen Abhängigkeit aller Erscheinungen bildete auch für die vgl. Lit.betrachtung der E i n f l u ß lange Zeit hindurch den Schlüssel-

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begriff zur Erforschung von Zusammenhängen und Entwicklungen. Indem man, von einer solchen Meinung ausgehend, die Möglichkeit verneinte, etwas völlig Neues und Originelles zu schaffen, wurde auch das Kunstwerk, mechanistisch und quantitativ, ausschließlich als ein Produkt von Einflüssen betrachtet. Im Mittelpunkt der zahlreichen Einfluß-Studien stand dabei der Nachweis von Vorbildern und Quellen. Trotz starker Modifizierungen solcher Ansichten (Claudio G u i 1 len z . B . sieht den Einfluß als psychologischen Prozeß des Fließens und bringt ihn damit in die Nähe der Inspiration, während Alfred O. A l d r i d g e und Ihab H. H a s s a n alle Einflüsse dem Bereich der Tradition und Konvention zuordnen, womit besagt wird, daß z . B . der Petrarkismus des 16. und 17. Jh.s nicht etwa eine Summe von Einflüssen darstellte, sondern ein zur Konvention und sogar zur Tradition gewordenes System erotischer Metaphern und Bilder, das sich an Petrarca orientierte) war die mechanistische Einflußforschung sogar noch in den 60er Jahren sehr stark vertreten (F. H. O p p e n h e i m , Der Einfluß der franz. Lit. auf die deutsche. Stammler Aufr. III, 2. Aufl. 1962, S. 1-106; Horst O p p e l , Der Einfluß der engl. Lit. auf die deutsche, ebda, S. 201308; Jan van D a m , Der Einfluß der niederländ. Lit. auf die deutsche, ebda, S. 419) und auch Versuche, das Wort , Einfluß' durch ,Einwirkung' zu ersetzen (Hellmuth P e t r i c o n i und Walter P a b s t , Einwirkungen der italien. auf die dt. Literatur, ebda, S. 108-145; Edmund S c h r a m m , Die Einwirkungen der span. Lit. auf die deutsche, ebda, S. 148-200), bedeuteten keine wesentliche Änderung in der Einstellung, so daß sich Henry H. H. R e m a k mit Recht genötigt fühlen konnte, darauf aufmerksam zu machen, daß „unsere Disziplin Vgl. Lit.Wissenschaft' und nicht,Wissenschaft von literar. Einflüssen' heißt" (Definition und Funktion der Vergl. Lw., a . a . O . , S. 3). In gewissem Sinne wird aber der ,Einfluß' auch weiterhin ein für die Vgl. Lw. notwendiger Begriff bleiben müssen, und zwar in der Bedeutung von .individueller Erfahrung' (Haskell M. B l o c k , The Concept of Influence in Comp. Lit., in: Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 7, 1958, S. 30-37), als Kennzeichnung des individuellen Vorganges der Einwirkung eines Werkes oder Dichters auf einen anderen Dichter bis zum Augenblick, in dem sich in diesem Dichter schöpferische Kräfte in Bewegung zu

setzen beginnen. Eine Möglichkeit zur Uberwindung der einseitigen Auffassung,Einfluß — Nachahmung' zeigte andererseits schon die Literatursoziologie (Levin S c h ü c k i n g , Soziologie und literarische Geschmackshildung, 1931), indem sie — zwar noch rein statistisch — auf den E r f o l g (fortune, succès) literar. Werke hinwies und dieses Moment in den Kontext der Geschmacksbildung des Publikums stellte. Ein bedeutendes Verdienst jedoch haben sich auch in diesem Falle wiederum die russ. Formalisten erworben. Vor allem war Jurij N. T y n j a n o v gegen die „einflußsuchende Methode" aufgestanden, die im Werk „eine Summe von Einflüssen" und im Dichter „einen psychologischen Schwamm" sehen möchte, der« „von allen Seiten Einflüsse aufsaugt" (Archaisty i novatory, Leningrad 1929, S. 297). Am Beispiel einer fast wörtlichen Übereinstimmung in der dichterischen Charakterisierung Napoleons bei Heine und dem russischen Romantiker Fedor I. Tjutcev z . B . gelangte Tynjanov zur bahnbrechenden Erkenntnis, daß aus der Unterschiedlichkeit der literar. Tradition, und vor allem der Stiltradition, auch unterschiedliche ästhetische Qualitäten entstehen: bei Tjutcev wirkt die angeführte Stelle archaisierend pathetisch, bei Heine ausgesprochen komisch (S. 391). Das literar. Werk, folgert demnach Tynjanov, müßte vor allem in seinem Verhältnis zur herrschenden Norm, einem bestehenden Kanon oder einer vorherrschenden Art der gesellschaftl. Funktion von Lit. untersucht werden. In Fortsetzung dieser Erkenntnis haben dann die Strukturalisten der P r a g e r U n g u i s t . S c h u l e das literar. Werk als ein Zeichensystem mit ästhetischer Funktion in interliterar. Systeme gestellt und damit der Komparatistik die Aufgabe zugewiesen, die entsprechenden Veränderungen der ästhetischen Werte und Qualitäten zu untersuchen (s. René Wellek, Die Literaturtheorie und Ästhetik der Prager Schule, in: Grenzziehungen. Beiträge zur Literaturkritik, 1972, Sprache u. Lit. 75, S. 125-143). Davon ausgehend lehrte Felix V o d i c k a , daß wir erst durch den Vergleich mit vorangegangenen Werken die in einem Werk aktualisierten ästhetischen Werte, die Veränderungen der literar. Strukturen und die Vervollkommnung künstler. Verfahrensweisen zu erkennen vermögen, während Jan M u k a r o v s k y den Unterschied zwischen dem traditionellen und dem strukturellen Vergleich

Vergleichende Literaturwissenschaft darin erblickte, daß der Strukturalismus auf eine Rekonstruktion der Ubereinstimmungen und Unterschiede sowohl beim rezipierten als auch beim rezipierenden Phänomen ausgeht. Einzelphänomene sollen dabei nicht als unabhängige Werte analysiert und verglichen, sondern als repräsentativ für literar. Strukturen betrachtet werden, in die solche Erscheinungen eingebettet sind. Diese Übereinstimmungen und Unterschiede ändern dann im Laufe der Entwicklung ihren Stellenwert, so daß die strukturalist. vergleichende Forschung vor allem die Gesetze der Entwicklung aufzudecken hätte, die dem literar. Prozeß eigen sind. Auch in der gegenwärtig aktuellen W i r k u n g s - und Rezeptionsästhetik haben ähnliche Gedanken Aufnahme gefunden, denn diese ist bestrebt, die Normen der Vergangenheit und Gegenwart, der Entstehung und der Aufnahme eines Werkes zu verschiedenen Zeiten in ihrer Einheit und in ihrer Gegensätzlichkeit zu erforschen. Im Prozeß dieser Aufnahme versteht Hans Robert J a u ß neuerdings unter ,Wirkung' die vom Text bedingte, unter ,Rezeption' die vom Adressaten bedingte Konkretisation im literar. Kommunikationsprozeß (Rezeptionsästhetik — Zwischenbilanz. Poetica 3-4, 1975, S. 338). In ähnlicher Weise bezieht das Autorenkollektiv um Manfred N a u m a n n (Gesellschaft — Literatur — Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, 1973) Rezeption' auf den Leser, ,Wirkung' auf die vom Werk ausgehenden Kräfte. In der Vgl. Lw. jedoch hat sich eine etwas andere Unterscheidung als notwendig und nützlich erwiesen. Gegen die Einflußforschung war besonders René W e l l e k aufgestanden, und in seinem auf dem I. Kongreß der AILC 1958 gehaltenen Referat bezeichnete er sie als die Sackgasse, in die die Lit.Wissenschaft geraten war (The Crisis of Comp. Lit., a . a . O . , S. 150). Auch Horst R ü d i g e r meinte in einer seiner ersten programmatischen komparatist. Arbeiten : „Mit der Darstellung von Einflüssen scheint es nun freilich nicht mehr getan. Wenn wir statt dessen den Ausdruck Wirkung gebrauchen, so gießen wir nicht einfach neuen Wein in alte Schläuche, sondern meinen etwas prinzipiell anderes. Wirkungen gehen von Kräften aus — von lebendigen Kräften, denen die Fähigkeit eigen ist, eine Verwandlung hervorzurufen" (Nationalliteratur und europäische Literatur. Methoden und Ziele der Vergi. Lw., a . a . O . , S. 206).

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Den entsprechenden terminologischen Unterschied scheint jedoch als erster Erich K u n z e festgelegt zu haben. In der Einleitung zu seiner Darstellung der Wirkungsgeschichte der finnischen Dichtung (Stammler Aufr. III, 2. Aufl. 1960, Sp. 408) entwickelt er den programmatischen Gedanken: „,Wirkung' einer fremdsprachigen Nationalliteratur auf die deutsche will hier nicht in der Begriffsverengung verstanden werden, die H. F r o m m (Finnische Literatur, Reallex. 1,462) eine Wirkung der finnischen leugnen läßt, sondern wird überall dort erblickt, wo passive Rezeption in aktive umschlägt und im empfangenden Teil einen Niederschlag findet". Passive Rezeption oder einfach Rezeption könnte demnach die Phase des Urteilens und der Kritik über ein Werk sein, während unter aktiver Rezeption oder Wirkung der daraufhin einsetzende, literarisch produktive Schaffensprozeß zu verstehen wäre. Eine solche Abgrenzung scheint die vgl. Lit.betrachtung in neuester Zeit auch vollauf akzeptiert zu haben. So enthält Manfred D u r z a k s Buch Die dt. Lit. d. Gegenwart (1971) mehrere Beiträge von kompetenten Fachleuten, die jeweils die ,Rezeption' der deutschen Literatur nach 1945 in verschiedenen Ländern (Frankreich, England, USA, Italien und Skandinavien) erörtern, und der Sammelband von Dietrich P a p e n f u ß und Jürgen S ö r i n g trägt in ähnlicher Weise den Titel Rezeption der deutschen Gegenwartsliteratur im Ausland (1976). Beide Werke gehen offensichtlich von der Annahme aus, daß es noch zu früh wäre, von einer Wirkung der neuesten dt. Lit. zu sprechen. Anders kann z . B . Hans Bernd H ä r d e r verfahren, der in seinem Werk Schiller in Rußland. Materialien zu einer Wirkungsgeschichte 1789-1814 (1969; Frankfurter Abhandlgn z. Slavistik 6) rückblickend die Möglichkeit besitzt, die Entwicklung von der ersten, mehr oder weniger zufälligen Erwähnung Schillers 1789 in der russ. Lit. in K a r a m z i n s Reisebriefen, bis zu den ersten russ. Ubersetzungen von Schillers Jugendwerken um 1802 zu verfolgen und festzustellen, daß man diese Ubersetzungen als Aufgabe auffaßte, um die russ. Lit. der europäischen näherzubringen. Im Rahmen der Untersuchungen von Wirkungen zeichnet sich dann die , N a c h l e b e n forschung' als besonderes Thema der Vgl. Lw. ab. Die Wichtigkeit einer solchen Forschung haben besonders Harry L e v i n und Horst

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R ü d i g e r in ihren Arbeiten unterstrichen. Der Begriff ,Nachleben' wird dabei hauptsächlich für zwei Problemkreise angewandt: für das Nachleben der B i b e l und für das Nachleben der A n t i k e . Die Fülle der diesbezüglichen, kontinuierlich sich fortsetzenden Arbeiten ist nur in Bibliographien und Forschungsberichten überschaubar (z.B. Abraham A. A v n i , The Influence of the Bible on European Literatures: a Review of Research from 1955 to 1965, Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 19, 1970, S. 39-58; The Bible as a Periodizing Factor in Comp. Lit., Actes du VII e Congrès d'AILC, 1979, S. 73-76; Wolfgang Bernard F l e i s c h m a n n , Studies on the Graeco-Roman Background of Occidental Literature since the Renaissance, 1950-1960, Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 10, 1961, S. 22-32). Vom Nachleben kann schon allein deswegen gesprochen werden, weil jede Epoche ihre Wert- und Bildungsmaßstäbe im Verhältnis zu diesen beiden Problemkreisen neu bestimmt. So wurde z . B . durch den Existentialismus das Problem des Nachlebens der tragischen Gestalten aus der antiken Tragödie auf eigene Weise aktuell (Käte H a m b u r g e r , Von Sophokles zu Sartre. Griechische Dramenfiguren antik und modern, 3. Aufl. 1965; Sprache u. Lit. 1). Christoph T r i l s e , Antike u. Theater heute (1979). Die tiefgehendste Form der Wirkung eines Dichters oder Schriftstellers jedoch in einer fremden Mitte ist die A n e i g n u n g . Für viele slaw. Völker ist z . B . S c h i l l e r zum ureigensten Dichter ihrer nationalen Wiedergeburt geworden und sein Werk Anweisung geblieben zum ethischen Handeln und nationalen Denken (Pero S l i j e p c e v i c , SilerkodJugoslovena, Skoplje 1937). Ein klassisches Beispiel ist die Aneignung S h a k e s p e a r e s durch die Deutschen (Friedrich G u n d o l f , Shakespeare und der deutsche Geist, 1911, 11. Aufl. 1959), wo Hamlet in letzter Konsequenz zur Selbstvorstellung des Deutschen wurde (Hans Jürg L ü t h i , Das dt. Hamletbild seit Goethe, 1951; SprDchtg. 74) — im völligen Gegensatz z . B . zu den Franzosen, wo sich das Verhältnis zu Shakespeare in der von V o l t a i r e begründeten Tradition der Ablehnung aller Formlosigkeit und Verteidigung der Formgesetze des romanischen Mittelmeers bewegte. Anna Balakian, Influence and Literary Fortune. Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 11 (1962) S. 24-31. Zoran Konstantinovic, Hans Robert

Jauss, Manfred Naumann, Literar. Kommunikation u. Rezeption (Innsbruck 1980; Actes du IXe Congrès de l'AILC, II). Karl Robert Mandelkow, Probleme d. Wirkungsgeschichte. JblntGerm. 2 (1970) S. 71-84. Ulrich Weisstein, Influences and Parallels — The Place and Function of Analogy Studies in Comp. Lit., in: Teilnahme und Spiegelung. Festschr. f. Horst Rüdiger, hg. v. Erwin Koppen und Beda Allemann (1975) S. 593-610. Rien T. Sagens, Some Implications of,Rezeptionsästhetik'. Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 24 (1975) S. 15-23. Göran Hermerén, Influence in Art and Literature (1975). Termes et notions littéraires: Imitation, Influence, Originalité, in: Actes du IVe Congrès de l'AILC, Fribourg 1964 (The Hague-Paris 1966) Bd. 2, S. 697-1403. Maria Moog-Grünewald, Einfluß u. Rezeptionsforschung, in: Manfred Schmeling (Hg.), Vgl. Lw. Theorie «. Praxis (1981) S. 49-72. § 6. K o m p a r a t i s t i s c h e A u f g a b e n g e b i e t e . Unter voller Berücksichtigung der verschiedenen Definitionen der Vgl. Lw. könnte man demnach im allerbreitesten Sinne von drei großen Aufgabengebieten der komparatist. Forschung sprechen: 1) den genetisch erklärbaren Erscheinungen, 2) den typologischen Analogien und 3) den interdisziplinären Berührungen und Verknüpfungen der Lit. mit anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit. Genetisch erklärbare Erscheinungen. Die bekanntesten Formen der genetisch erklärbaren Erscheinungen sind die .Reminiszenz', der ,Impuls', die ,Kongruenz' und die .Filiation'. Die R e m i n i s z e n z , das SichBerufen auf ein bestimmtes künstlerisches Verfahren, auf ein Motiv, auf Gedanken und literar. Gestalten anerkannter Autoritäten der Weltlit. ist eine der am leichtesten zu identifizierenden genetisch erklärbaren Erscheinungen in den Beziehungen zwischen zwei Literaturen und meistens auch keine entwickelte Beziehungsform, sondern lediglich eine klar artikulierte Assoziation zu einer bestimmten Komponente der Vorlage. Am häufigsten erfolgt sie durch direkte Anführung, Zitieren (s.a. Zitat) der Vorlage oder des Autors der Vorlage (grundlegend dargestellt von Herman Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans, 1961). Geläufig ist jedoch auch die ohne unmittelbare Anführung eines Autors oder eines Werkes verwirklichte Reminiszenz (die ,versteckte Reminiszenz', die Anspielung'). Diese tritt zumeist bei Vorlagen auf, die völlig in das literar. Bewußtsein eingedrun-

Vergleichende Literaturwissenschaft gen sind, so daß das zitierte Element auf dem Hintergrund eines bestimmten literar. K o n textes als allgemein bekannt angenommen werden kann. D i e Reminiszenz kann auch im Titel eines Werkes anwesend sein, während das M o t t o schon für sich eine Reminiszenz darstellt. Viel kompliziertere und widersprüchlichere Probleme werfen die literar. I m p u l s e auf, die im Vergleich zur Reminiszenz eine höhere Form der genetisch ableitbaren Erscheinungen darstellen und tiefer in einzelne K o m ponenten eines Werkes oder in das Werk als Ganzes eingreifen. Es geht der Komparatistik dabei vor allem um die Bestimmung von Intensität und Ausmaß eines literar. Impulses. Die literar. K o n g r u e n z wiederum ist die Folge einer unmittelbaren Übernahme literar. Elemente in die Struktur des rezipierenden Werkes und kann sich in Form einer literar. E n t lehnung', ,Imitation', .Adaption',,Nachgestaltung', ,Variation' oder ,Paraphrasie' äußern. Im Unterschied zum Impuls kann man Kongruenzen in der Weise feststellen, daß man einzelne Abschnitte der zu vergleichenden Werke unmittelbar einander gegenüberstellt und dabei die angewandten Verfahren vergleichend analysiert. Die Lit.geschichte bietet im Rahmen der Kongruenz-Forschung zahlreiche Beispiele literar. E n t l e h n u n g e n . Sie betreffen die verschiedensten Formen der Übernahme von Themen, von künstler. Bildern, von einzelnen künstler. Verfahren u . a . m . aus einer anderen Literatur. U b e r die passive Entlehnung kann es jedoch auch zu einer aktiven Weiterentwicklung, zur originellen und allseitigen Umarbeitung literar. Werte kommen. Während bei der Entlehnung nur einige mehr oder weniger isolierte Elemente aus dem Kunstwerk übernommen werden, ohne daß dieses als Ganzes berücksichtigt wird, weist die I m i t a t i o n eine umfassendere Beziehung zum künstlerischen Vorbild auf, die Stil, Wortgebrauch, Metrik, Figuren und Bilder umfassen kann. Für die Komparatistik bedeutsam ist das histor. Wissen, daß in vergangenen Epochen die Imitation nicht immer als etwas Unerlaubtes betrachtet wurde. N o c h im Barock empfiehlt O p i t z die Imitation fremder Dichter, und Harsdörffer nennt das ,Abborgen' einen rühmlichen Diebstahl. Bei der A d a p t i o n können wir zwei Hauptformen unterscheiden: die U m g e s t a l t u n g und die U m f u n k t i o n i e r u n g . Ein Beispiel künstlerischer Umgestaltung wären die vielen Verarbeitungen des Exegi monumentum

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von H o r a z in der Weltliteratur. Hauptanliegen der Umgestaltung ist, die zeitlose Gültigkeit einer Dichtung herauszuarbeiten. Beispiel für eine Umfunktionierung wäre Brechts Bearbeitung der Antigone. Durch Änderung vor allem des Schlusses erhält das Stück bewußt einen neuen weltanschaulichen Inhalt. Die N a c h g e s t a l t u n g übernimmt mit Absicht gewisse Aufbauelemente der Vorlage, um ein in einer bestimmten Periode einengendes Verfahren zu überwinden, bzw. um einzelne Formen und Gattungsdifferenzierungen zu fördern. Sie kann auch in der Absicht erfolgen, die Aufnahme in einer bestimmten Zeit, einem bestimmten Land oder bei einem bestimmten Publikum (z. B . Jugend) zu fördern. D i e N a c h gestaltung nimmt also eine positive Beziehung zur Vorlage ein. Als Beispiel könnten die vielen Nachgestaltungen aus der Volksdichtung besonders bei Völkern, wo das folkloristische Element noch stark vorhanden ist, oder aus der mal. Dichtung angeführt werden. Nachgestaltet werden aber auch Werke solcher Autoren, die innerhalb einer bestimmten Tradition einen hervorragenden Platz einnahmen. Für die V a r i a t i o n liefert die Weltlit. ebenfalls zahlreiche Beispiele ( z . B . Variationen zu einzelnen Themen und Motiven: Variationen zu Goethes Gedicht Mignon bzw. zum MignonMotiv überhaupt usw.). Die F i l i a t i o n — bei Jean-Jacques Ampère noch äußerst breit als Verwandtschaft, Verbindung und Folge aufgefaßt — wird von Öurisin mehr auf Erscheinungen im Rahmen ethnisch verwandter oder aus einer gemeinsamen Tradition sich entwickelnden Literaturen angewandt, wo außer der unmittelbaren Wirkung noch bestimmte Dispositionen gegeben sind. Die D o n JuanGestalt z . B . entwickelte sich vor allem im Rahmen der Romania, von Spanien über Italien nach Frankreich; die Gestalt des D o k t o r Faustus wanderte aus dem dt. Volksbuch über das Drama Christopher Marlowes, über das Volksschauspiel und das Puppenspiel ( s . d . ) zu Goethe. Zur Zeit scheint sich überhaupt der Begriff Filiation auf die Verwandtschaft literar. Gestalten zu ihren literar. Vorbildern zu beschränken. Benjamin C o n s t a n t s Adolphe z . B . stünde demzufolge in Filiation zu Samuel R i c h a r d s o n s Lovelace ( s . a . : Jean Q u e n o n ,

Die Filiation

der dramatischen

Figuren

bei

Max Frisch, 1975). Für zuviel Filiation prägte Theodore Ziolkowski den Ausdruck „Figuren auf P u m p " . Ähnlichkeiten im Rahmen einer

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Vergleichende Literaturwissenschaft

Filiation sind jedoch nicht i m m e r genetisch erklärbar, sondern bewegen sich oft schon an der G r e n z e zu den typologischen Analogien. Aufgabe der Vgl. Lw. wäre es jedenfalls, aus der Vielzahl von konkreten Einzeluntersuchungen zu allgemein gültigen theoretischen Abstraktionen der verschiedenen genetischen Beziehungen zu gelangen. Dionyz £) u r i s i n, Vergleichende Lit.forschung, a . a . O . (Genetische Beziehungen — Kontaktbeziehungen, S. 50-89); Svjaz' mezdu komparativistikoj i genealogiej. Neohelicon 3-4 (1976) S. 93-110. T y p o l o g i s c h e A n a l o g i e n . D e r kausalen Bedingtheit nach kann es sich bei literar. A n a logien entweder um gesellschaftlich-typologische, strukturell-typologische, psychologisch-typologische oder klimatisch typologische Analogien handeln. Alle vier M ö g lichkeiten sind jedoch sehr eng miteinander verbunden und überschneiden sich meistens, w o b e i die gesellschaftlich-typolog. Analogien eine tragende F u n k t i o n besitzen: D i e U n t e r scheidung typolog. Analogien ermöglicht es, die besonderen und die allgemeinen K o m p o nenten histor. monoliterar. Zusammenhänge präziser zu bestimmen. So steht es außer Zweifel, daß sich Gemeinsamkeiten des gesellschaftl. Bewußtseins besonders ausgeprägt in der Lit. niederschlagen und gesellschaftlichtypologische Analogien hervorrufen. Der B y r o n i s m u s in R u ß l a n d z . B . kann nicht allein auf B y r o n s E i n f l u ß oder auf den für ihn typischen Helden zurückgeführt werden, sondern ist — zusammen mit dem T y p des ,überflüssigen M e n s c h e n ' in der russ. Lit. des 19. J h . s — auch gesellschaftlich bedingt. Ä h n lich ist es beim histor. R o m a n und bei den histor. Gattungsformen der europäischen R o m a n t i k überhaupt, beim realistischen Gesellschaftsroman und vielen anderen Erscheinungen. A b e r ebenso wie Gemeinsamkeiten der gesellschaftl. E n t w i c k l u n g bestimmte A n a logien hervorbringen k ö n n e n , handelt es sich auch bei den literar. G a t t u n g e n , Richtungen oder T y p e n von W e r k e n gleichfalls um R a h mengebilde, die ausschließlich aus ihrer Struktur heraus zu ähnlichen Erscheinungen zwischen den Literaturen führen k ö n n e n , o h n e daß es vorher zu einer unmittelbaren B e r ü h rung hätte k o m m e n müssen. So enthält z . B . der genealogische R o m a n bestimmte M e r k male, die bei diesem T y p in allen Literaturen

vorhanden sind. In der Weltlit. sind zudem auch viele Beispiele bekannt, daß A u t o r e n in einer ähnlichen psychischen Situation ähnliche T h e m e n und M o t i v e gewählt haben und daß ihre W e r k e daher auch gewisse Analogien aufweisen k ö n n e n . G o e t h e s Weither und C h a t e a u b r i a n d s René beruhen letztlich auch auf ähnlichen persönlichen Erfahrungen ihrer A u t o r e n : G o e t h e litt an der polit. D i s kriminierung des Bürgertums und an der Begrenztheit der Möglichkeiten, sich als A n g e höriger der jungen bürgerl. Generation frei zu entfalten; Chateaubriand empfand als Emigrant ein ähnliches G e f ü h l der Vereinsamung und des U n b e h a g e n s , seine Kräfte nicht voll entfalten zu k ö n n e n . D i e sogenannte Klimatheorie wiederum, der G e d a n k e , daß Lit. auch klimatisch bedingt ist, spielte besonders in den Auffassungen des 17. u. 18. J h . s eine wichtige R o l l e (Waldemar Z a c h a r a s i e w i c z , Die

Klimatheorie

in der engl. Lit. u. Lit.kritik

von

18. Jh., W i e n d. Mitte d. 16. bis zum frühen 1 9 7 7 ; W i e n e r Beiträge zur engl. Philologie 78) und wird dann von H i p p o l y t e T a i n e in der Einleitung zur Histoire de la littérature anglaise ( 1 8 6 3 ) in seine deterministische Lit.betrachtung eingebaut, wobei z . B . der C h a rakter der G e r m a n e n durch ihre „pays froids et h u m i d e s " erklärt wird. Michail B. C h r a p c e n k o , Tipologiceskoe izuienie literatury i ego principy. Voprosy literatury 2 (1968) S. 93-110; dt. Übers.: Typologische Lit.forschung u. ihre Prinzipien, in: Aktuelle Probleme d. Vgl. Lit.forschung, a . a . O . , S. 17-46. Dionyz Ö u r i s i n , Vgl. Lit.forschung, a . a . O . , (Typologische Zusammenhänge, S. 90-109). Zoran K o n s t a n t i n o v i c , Zur Lit.typologie d. europäischen Zwischenfeldes, in: Festschr. f. Hellmuth Himmel (1979) S. 29-38. Interdisziplinäre Berührungen V e r k n ü p f u n g e n ( s . a . Lit. u. Ästhetik,

u. bildende schichte, lex. I I ,

und Lit.

Kunst, Lit. u. Film, Lit. u. Ge-

Lit. u. Musik, Lit. u. Recht, i n : RealS. 7 9 - 1 9 5 und Literaturwissenschaft

§ 4: Werk - Dichter - Gesellschaft,

S. 201-

2 0 4 , darin auch den Abschnitt über die psychologische E r k u n d u n g , S. 2 0 2 ; außerdem: Philosophie und Dichtung, Reallex. I I I , S. 83103). Schon M a x K o c h forderte 1887 als einen P r o g r a m m p u n k t der Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte, den „ Z u s a m menhang zwischen Litteratur und bildender K u n s t , philosophischer und literar. E n t w i c k lung u s w . " zu erforschen. Dementsprechend

Vergleichende Literaturwissenschaft finden wir gleich im ersten Jahrgang dieser Zeitschrift auch einen Beitrag von Joseph K o h l er, Ästhetik, Philosophie und vergleichende Literaturgeschichte, und von Rochus von L i l i e n c r o n , Aus dem Grenzgebiet der Literatur und Musik. Offensichtlich konzentrierten sich aber im weiteren Verlauf unter dem Einfluß von Heinrich W ö l f f l i n s Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen (1915) solche Betrachtungen vorwiegend auf das Verhältnis von Lit. und Kunst, wofür Oskar W a l z e l mit dem Titel seines Vortrages Wechselseitige Erhellung der Künste — ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe (1917) auch den entsprechenden Terminus schuf. Für die geistesgeschichtl. Methode bedeutete dann die wechselseitige Erhellung vor allem eine völlige Durchdringung von Lit. und Philosophie. Ausdruck einer solchen Verbindung ist auch das Hauptwerk von Fritz S t r i c h , Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit (1922), woran sich in den folgenden 20er und 30er Jahren viele gleichgeartete Darstellungen anschlössen, so daß Fritz M e d i c u s den Versuch unternehmen konnte, das Problem der „vergleichenden Geschichte der Künste" im Abriß darzustellen (in: Philosophie der Literaturwissenschaft, hg. v. Emil E r m a t i n g e r , 1936. Nachdr. 1966, S. 188-239). In neuester Zeit wird jedoch der Gedanke von einer wechselseitigen Erhellung der Künste' als zu vereinfachter formanalytischer Vergleich in Frage gestellt und dafür die Vorstellung von einem historisch-sozial bestimmten gemeinsamen Stilwillen, der jeweils eine Epoche kennzeichnet, geltend gemacht (Beate P i n k e r n e i l , Selbstproduktion als Verfahren. Zur Methodologie und Problematik der sogenannten ,Wechselseitigen Erhellung der Künste', in: Zur Kritik lit.wiss. Methodologie, hg. v. Viktor Z m e g a c und Zdenko S k r e b , 1973, Fischer Athenäum Tb 2026, S. 95-114). Durch die Definition von Henry H . H . R e m ak wurde das Aufgabengebiet der Komparatistik auf das „Studium der Beziehungen zwischen Literaturen einerseits und anderen Wissens- und Glaubensbereichen andererseits,so etwa der Kunst (z.B. Malerei, Plastik, Architektur, Musik), der Philosophie, der Geschichte, der Sozialwissenschaften (z. B. Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie), den Naturwissenschaften, der Religion usw." (Definition und Funktion der Vgl. Lw., a . a . O . , S. 11) ausgedehnt und die Unterscheidung zwischen

643

Kunst und den übrigen Tätigkeiten weitgehend fallengelassen. Dies jedoch unter der Voraussetzung, daß systematisch vorgegangen wird: Ausgangspunkt ist das literar. Werk, und in die Erforschung der gegenseitigen Berührungen und Verknüpfungen kann nur eine „in sich geschlossene Disziplin außerhalb der Literatur" (S. 15) einbezogen werden. Die Vgl. Lw. wird daher bei dem Versuch, das Gebiet der interdisziplinären Berührungen und Verknüpfungen für die theoretische Grundlagenforschung zu erschließen, den entsprechenden Einzelarbeiten vorerst gemeinsame Schemata entnehmen. So sieht Steven Paul S c h e r (Literature and Music: Comparative or Interdisciplinary Study? Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 24, 1975, S. 37-39) drei mögliche Verhältnisse für die Beziehung zwischen Musik und Lit.: 1) Musik und Lit. stehen in einem gleichwertigen Verhältnis (z.B. in der Oper; s.a. Gary S c h m i d g a l l , Literature as Opera, 1977 u. Karl-Friedrich D ü r r , Opern nach literar. Vorlagen, 1979); 2) Lit. ist anwesend in der Musik, was nach Scher zum Aufgabengebiet der Musikwiss. gehört, wobei jedoch das Libretto sicherlich auch eine literar. Gattung darstellt (s. Klaus-Dieter L i n k , Literar. Perspektiven d. Opernlibrettos. Studien zur ital. Oper von 1850 bis 1920, 1975; Karen A c h b e r g e r , Lit. als Libretto. Das dt. Opernbuch seit 1945, 1980) und 3) Musik ist anwesend in der Lit., indem der Autor a) Musik nachahmt und in diesem Fall sein Werk zu einem Medium der Musik macht (Lautmalereien), b) den Text gewissen musikal. Formen anzugleichen versucht (Sonate: Thomas Manns Tonio Kröger; Fuge: Paul Celans Todesfuge; Rondo: James Joyces Ulysses), oder sein Werk c) zum großen Teil mit dem Erleben von Musik durchdrungen ist (wie z . B . bei Thomas Mann) (s. ergänzend zu Reallex. Bd. 2, S. 143-163: Günther S c h n i t z ler, Dichtung u. Musik, 1979). Für die Beziehung zwischen bildender Kunst und Dichtung ist Jost T r i e r von einer grundsätzlichen Zweigleisigkeit ausgegangen: Dichtung regt bildende Kunst an und auch umgekehrt (Architekturphantasien in d. mal. Dichtung, GRM. 8, 1920, S. 21). Einen Überblick über die Anregungen durch Kunstwerke der Malerei geben Gisbert K r a n z (Gedichte auf Bilder. Anthologie und Galerie, 1975; dtv. 1086) und Jeffrey M a y e r s (Painting and Novel, 1975). Das Verhältnis der Lit. zu den Naturwissenschaften

644

Vergleichende Literaturwissenschaft

hat besonders Joachim M e t z n e r in den einleitenden Betrachtungen zu seinem Beitrag Die Bedeutung der physikalischen Sätze für die Literatur ( D V L G . 53, 1979, S. 1-34) herausgearbeitet (s.a. Paul Konrad K u r z , Lit. u. Naturwissenschaft, in: Kurz, Ober moderne Lit. Standorte und Deutungen, 1967). D e r philosophische Gedanke in der Lit. (s. Reallex. I I I , S. 83-103) wird im einzelnen Werk, in der geistigen Struktur des Dichters und in größeren Zusammenhängen (Bewegung, Epoche usw.) zu suchen sein (s. ergänzend zu Reallex. II, S. 111-143: Roland M o r t i e r , Littérature et histoire. Synthesis 6, 1978, S. 7-15). Auch Soziologie und Psychologie werden sich in gleicher Weise dem literar. Werk, dem Dichter und seiner Mitte als O b j e k t e n ihrer Untersuchung zuwenden können (Reallex. I I , S. 201-204). Beim Dichter wird die Psychologie dessen Neurosen und Psychosen, beim Werk die darin enthaltenen Komplexe (Ödipuskomplex u . ä . m.), beim Publikum als aufnehmender Mitte die bestehenden Prädispositionen und erkennbaren Veränderungen beobachten (Peter v. M a t t , Lit.wiss. u. Psychoanalyse, 1972, hochschulpaperback 44 ; Norbert G r o e b e n , Lit.psychologie, 1972, Sprache u. Lit. 80). Unmittelbarer Gegenstand der Betrachtung für die Lit. und damit auch für die Vgl. Lw. ist aber doch das Werk, und das gleiche gilt nicht nur für literaturpsychologische, sondern auch für literatursoziologische Betrachtungen (s. R . W e l l e k , Lit. u. Gesellschaft, in: Theorie d. Lit., a . a . O . , S. 103-122). In neuester Zeit sind auch theoretische Verallgemeinerungen bei Fragen der Adaption literar. Werke für Bühne, Film und Fernsehen aktuelle Diskussionsthemen (s. ergänzend zu Reallex. II, S. 103-111: Alfred E s t e r m a n n , Die Verfilmung literar. Werke, 1965, Abhdlgn zu Kunst-, Musik- u. Lit.wiss. 33; Helmut O . B e r g , Die Transformation von Erzählwerken in Fernsehspielen, 1968, Lit. in d. Gesellschaft 2 ; Rolf B u s c h , Über Verfilmung von Lit., Akzente 4, 1973, S . 3 0 9 - 3 1 0 ; Christian M e t z , Sprache u. Film, 1973, Wiss. Paperbacks Lit.wiss. 24; Helmut K r e u z e r , Femsehen als Gegenstand d. Lit.wiss., in: Kreuzer, Veränderungen d. Lit. begriff es, 1975, Kl. Vandenhoeck-R. 1398, S. 2 7 - 4 0 ; Klaus B e l i n g , Fernsehspiel u. epische Vorlage, 1976; Jack J o r g e n s , Shakespeare on Film, B l o o m ington 1977; Bernard F. D i c k , Authors, Actors and Adaptions: Literature as Film —

Film as Literature. Yearbook o f C o m p , and Gen. Lit. 27, 1978, S. 7 2 - 7 7 ; Klaus K a n z o g [Hg.], Erzählstrukturen — Filmstrukturen. Erzählungen H. v. Kleists u. ihre filmische Realisation, 1981). Andererseits berühren die jüngsten Entwicklungen in den Auffassungen des Struktur-, Text-, Stil- oder Metaphernbegriffes in gleichem Maße die Linguistik, die Lit.theorie und die Vgl. Lw. (Sprache u. Dichtung): Douwe F o k k e m a , The Linguistic Classification of Texts and the Study of Value Systems as Complementary Aspects of Comparative Literature (Proceedings of the 7th Congr. of the I C L A , 1979, S. 307-314). Ulrich W e i s s t e i n , Zur wechselseitigen Erhellung d. Künste, in: Komparatistik. Aufgaben u. Methoden, a . a . O . , S. 152-165. Claus C l ü v e r , Teaching Comparative Arts. Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 23 (1974) S. 79-92. Mario Praz, Mnemosyne: The Parallel Between Literature and the Visual Arts (Princeton 1970; 2. ed. 1974). Jean-Pierre B a r i c e l l i , Comparative Literature and Interdisciplinary Studies. Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 24 (1975) S. 36-37. André-Michel R o u s s e a u , Arts et littérature: un état présent et quelques réflexions. Synthesis 4 (1977) S. 35-51. Ulrich W e i s s t e i n , Die wechselseitige Erhellung von Literatur und Musik. Neohelicon 1 (1977) S. 93-125. Dionyz Ô u r i s i n , Comparative Investigations in Literature and in Art, ebd., S. 125-141. Pierre D u f o u r , La relation peinturelittérature, ebd., S. 141-190. Wolfgang Max F a u s t , Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst u. Lit. (1977; Lit. als Kunst 27). S. a. Literature and Other Arts, das dem gleichnamigen Symposium gewidmete Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 27 (1978). Mojmir Grygar, La sémiologie et l'analyse comparative des arts. Proceedings of the 7th Congr. of the ICLA (1979) S. 307-314. S.a. Bd. 3 der Proceedings of the 9th Congr. of the ICLA (Literatur u. d. anderen Künste, Innsbruck 1981). Franz S c h m i t t v o n M ü h l e n f e l s , Lit. u. andere Künste, in: Manfred Schmeling (Hg.), Vgl. Lw. Theorie u. Praxis (1981) S. 157-174.

§ 7. A u s g a n g s p u n k t e d e r k o m p a r a t i s t . B e t r a c h t u n g . Akzeptiert man Horst R ü d i g e r s Meinung, daß die vorwiegende Aufgabe der vgl. Betrachtung „das Studium der kleineren und größeren literar. Elemente, der rhetorischen und stilistischen Figuren, der Topoi und Metaphern, der Verse und Strophen, der Stoffe und Motive, der Bauformen, Gattungen und Naturformen der Dichtung, der Allegorien und S y m b o l e " umfaßt ( G r e n z e n

Vergleichende Literaturwissenschaft und Aufgaben der Vgl. Lw., a . a . O . , S. 7), und achtet man dabei auch auf die Notwendigkeit, solche Vergleiche im Rahmen eines Systems von Zusammenhängen durchzuführen, so lassen sich die entsprechenden Betrachtungen sowohl im histor. Längsschnitt (diachronisch) als auch im horizontalen Querschnitt (synchronisch) durchführen; die einzelnen Erscheinungen können sowohl ihnen vorhergehenden als auch gleichzeitig mit ihnen vorsichgehenden gegenübergestellt werden. Die entsprechenden heurist. Ausgangspunkte dazu ließen sich am ehesten nach folgenden lit.wiss. Begriffsbestimmungen gliedern: a) Elemente, Formen, dargestellte Gegenständlichkeiten und die Qualitäten des literar. Werkes; b) das Werk als Ganzheit; c) Dichter und Schriftsteller im Gesamtausmaß ihrer Persönlichkeit; d) größere literar. Systeme (Gattungen, Perioden, Epochen, Strömungen, Bewegungen und geschlossene monoliterar. Zusammenhänge). Bei den Elementen und Formen des literar. Werkes wäre zwischen sprachlichen und lautlichen Bauformen zu unterscheiden. Die Vgl. Lw. befaßt sich dabei nur mit jenen Eigentümlichkeiten, die das Besondere der „dichterischen" Sprache formen (es sind die sogenannten M i k r o s t r u k t u r e n ) , und grenzt sich somit von der Vgl. Grammatik als Teil der Vgl. Sprachwissenschaft und auch von der Phonologie ab. Zu den sprachlichen Elementen und Formen gehören u. a. Metapher, Symbol, Topos, Wortspiel, Erzählhaltung u . a . m . Bei den lautlichen Elementen und Formen führen die entsprechenden Ausgangspunkte zu vgl. Untersuchungen der Klangmalerei, Lautsymbolik, der Vers- und Prosarhythmen, aber auch der einzelnen Strophen- und Gedichtformen (Terzine, Stanze, Sonett, Madrigal usw.). Beispielhaft für die Erforschung der Gruppe sprachlicher Bauformen sind Rüdigers Beiträge zur Untersuchung der Herz-Metapher und der Allegorie von der Göttin Gelegenheit ( D i e Metapher

vom Herzen Umkreis

in der Lit.,

des Denkens,

Gelegenheit.

in: Das Herz

1969, S. 87-135;

Gestaltwandel

einer

im

Göttin

Allegorie.

arcadia 1, 1966, S. 121-166). Sie zeigen zugleich, wie das In-die-Tiefe-Dringen der komparatist. Betrachtung die Brücke zur Allgem. Lit.wiss. bildet. Auch Vergleiche der Lautung sind Gegenstand synthetischer Studien (Rowena F o w l e r , Comparative Metrics and Comparative Literature. Comp. Lit. Oregon

645

4, 1977, S. 289-299). Der Vergleich von dargestellten Gegenständlichkeiten (Gestalten und Dingen, aber auch ihrer Beziehungen miteinander bis zur gesamten Handlung) ist eine seit jeher schon angewandte Form der literar. Betrachtung. Die Gegenständlichkeit des literar. Werkes entspringt auch dem gewählten Stoff, Thema und Motiv (s. Stoff-u. Motivgeschichte). Die komparatist. Forschung hat bisher Wesentliches zur theoret. Grundlegung der Stoff-, Themen- und Motivforschung geleistet (Manfred B e l l e r , Von der Stoffgeschichte zurThe-

matologie.

E. Beitr. zur komparatist.

Metho-

denlehre. arcadia 5, 1970, S. 1-38; François J o s t , Grundbegriffe der Thematologie, in:

Theorie und Kritik. Zur vgl. u. neueren dt. Literatur. Festschr. für Gerhard Loose, 1974,

5. 15-46). Aber auch Elisabeth F r e n . z e l s Quellensammlungen ( S t o f f e der Weltliteratur, 4. Aufl. 1976, und Motive der Weltliteratur, 1976) und ihre Zusammenfassung ( V o m Inhalt

der

Literatur.

Stoff,

Motiv,

Thema,

1980)

können als Handbücher der Komparatistik zu diesem Fragenkomplex betrachtet werden (s.d. weiterlaufende Arbeiten wie: Roger B o r d e r i e u. Henri R o u s e , Don Juan, 1978, Anegret D i n t e r , Der Pygmalion-Stoff

in der

europäischen

Literatur.

Rezeptions-

gesch. e. Ovid-Fabel, 1979 oder Ernst O s t e r k a m p , Lucifer. Stationen eines Motivs, 1979). Falls man zwischen Handlung als Ablauf eines Geschehens und Sujet als künstler. Gliederung dieses Geschehens unterscheidet, ergibt sich auch die Möglichkeit einer vgl. Sujetforschung und darüber hinaus — Stoff, Thema, Motiv, Handlung und Sujet zusammenfassend — einer vgl. Kompositionsforschung. Neueren Datums, vor allem unter dem Einfluß der Phänomenologie (Roman I n g a r d e n ) , ist die komparatist. Untersuchung der ,Qualitäten' des literar. Werkes (manchmal auch als metaphysische Eigenschaften' bezeichnet). Es ist jeweils jene Eigentümlichkeit des Tragischen, Komischen, Grotesken, Humorvollen, aber auch Romantischen u . ä . m . , die im Laufe einer harmonischen Konstituierung aller Schichten des literar. Werkes als dessen wesenhafte Fundierung zum Ausdruck kommt. Zu diesen Fundierungen gehören auch Zeit und Raum (ein besonders seit Marcel Proust und James Joyce beliebtes Thema des Vergleichs, der über die von Kant geprägte Eindimensionalität dieser Begriffe vorzudringen versucht). Beim Vergleich von Werken als Ganzheiten ist der

646

Vergleichende Literaturwissenschaft

Ausgangspunkt gewöhnlich ein angenommenes Abhängigkeitsverhältnis. Henry H. H . R e m a k empfiehlt jedoch auch den Vergleich von Werken, die in keinem Einflußverhältnis zueinander stehen ( D e f i n i t i o n und Funktion der Vgl. Lw., S. 12). Es kann aber auch ein Werk im Längsschnitt seiner Rezeption in einer anderen Mitte betrachtet werden (Johannes H ö s l e , Die franz. Werther-Rezeption. arcadia 11, 1976, S. 113-125) oder in der Perspektive seiner Wirkung (Jane K. B r o w n , Die Wahlverwandtschaften and the English Novel of Manners. Comp. Lit. 2, 1976, S. 97108). Für den Vergleich von Autoren bestehen gleichfalls die unterschiedlichsten Ausgangspunkte: die Bedeutung einzelner Schriftsteller oder Dichter für eine literar. Bewegung (Goethes und Racines, Schillers und Corneilles jeweils für die dt. bzw. franz. Klassik: Ernst M e r i a n - G e n a s t , Goethe u. Racine. ArchfNSprLit. 168 (1935) 197-225; Corneille u. Schiller. G R M 26 (1938) S. 117-203); ihre gegenseitige Berührung und Beeinflussung (Karl H o l l , Goethes Vollendung in ihrer Beziehung zu Byron und Carlyle. G R M 9 (1921) S. 75-87); ihr Interesse für einzelne Erscheinungen (geschichtliche und kulturelle Ereignisse, Länder und Völker); ihre Verfahrensweisen (Thematik, Stoffwahl, Kompositionstechnik, Art der Schilderung, Erzählhaltung u. ä. m.) und überhaupt ihr gesamter Schaffensprozeß wie auch ihr Leben. Zusammenfassend kann der Dichter dann in einen Gesamtzusammenhang zu einer fremden Lit. gestellt werden (Roland M o r t i e r , Diderot in Deutschland, 1967; Jacques B o d y , Giraudoux et l'Allemagne, Paris 1975; Peter B r o c k m e i e r , Roland D e s n e r , Jürgen V o s s , Voltaire u. Deutschland, 1979; Jacques M o u n i e r , La réception de Jean-Jacques Rousseau dans la littérature allemande, Paris 1980). Am nützlichsten erweist sich die Vgl. Lw., wenn sie im Laufe solcher Untersuchungen die Entwicklung eines Schriftstellers von der Beeinflussung und Abhängigkeit bis zur verwirklichten Originalität zu erhellen vermag (John M c C o r m i c k , James Joyce and Hermann Broch: from Influence to Originality. Actes du I V e Congrès de l ' A I L C , II, S. 1344-1352), oder die Impulse aufdeckt, die von ihm ausgegangen sind (z. B . die Impulse, die Proust dem modernen Roman gegeben hat: Jaroslav F r y c e r , Proust et le roman moderne. Neohelicon 3-4, 1974, S. 219-236). Zu den größeren literar.

Systemen (auch M a k r o s t r u k t u r e n , die das einzelne Werk und den einzelnen Autor bestimmen) — der Epoche, Periode, Generation und Bewegung — haben Viktor M. Z i r m u n s k i j (Die literar. Strömungen als internationale Erscheinungen, in: Komparatistik. Aufgaben und Methoden, a . a . O . , S. 104-126), Hubertus Paul Hans T e e s i n g ( D i e Bedeutung d. vgl. Lit.gesch. f . d. literarhistor. Periodisierung, in: Forschungsprobleme der vgl. Lit.geschickte, hg. v. Kurt Wais, I, S. 13-20) und Alexander D i m a (Périodes et courants littéraires. Neohelicon 1-2, 1973, S. 223-229, s . d . a . die übrigen Beiträge des Symposiums , Courants littéraires — époques littéraires', S. 177-336) wertvolle methodologische Hinweise für die komparatist. Forschung erarbeitet. Die Frage der literar. Gattungen aus komparatist. Sicht war das Thema der 2. wissenschaftlichen Tagung der ,Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vgl. Lw. ( D i e Gattungen in der Vergl. Lw., hg. v. Horst R ü d i g e r , 1974, Komp. Studien 4, mit Beiträgen von Jörg-Ulrich F e c h n e r , Gerhard R. K a i s e r und Willy R . B e r g e r ) . Die Antwort wurde in einem Ausblick sowohl auf eine vgl. Gattungspoetik als auch vgl. Gattungsforschung gefunden, die in der Praxis nicht isoliert betrieben werden sollten, da sich lit. theoretische und lit.soziologische Probleme sowie Probleme der lit.historischen Epochenbildung ständig durchkreuzen. Zusammenfassende Überblicke über die Beziehungen geschlossener monoliterar. Systeme (also ganzer Literaturen) miteinander oder auch des Orients, Indiens und Ostasiens mit Europa besitzen wir in: Stammler Aufr. a. a. O . (s.a. Reallex. I, S. 353-372: Einwirkungen der engl. Lit. auf die deutsche; III, S. 519-557: Romanische Literaturen. Einfluß auf die deutsche). Solche Überblicke werden zu umfangreichen Nachschlagewerken ausgeweitet (Horst O p p e l , Englisch-dt. Lit.beziehungen, 2 Bde, 1971), in Einzelarbeiten auf den neuesten Stand der Dinge gebracht (Norbert H o n s z a , Literarische Wechselbeziehungen zwischen Deutschland und Polen, in: Rezeption der dt. Gegenwartsliteratur im Ausland, a . a . O . , 1976) oder in ihrem Gesamtumfang ergänzt (Hans G a l i n s k y , Amerikanisch-dt. Sprachund Lit.beziehungen. Systemat. Übersicht u. Forschungsbericht 1945-1970, 1972). Wertvoll sind solche Arbeiten dort, wo sie auf Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung hinweisen und jene Bausteine vorbereiten, die es ermöglichen

Vergleichende L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t sollen, eine ,Allgemeine Geschichte der interliterarischen Wechselseitigkeit' (worum sich die ,Association International de Littérature C o m p a r é e ' bemüht) als Standardwerk zu verwirklichen; ein V o r h a b e n , das auch den m o n o literar. Standpunkt der traditionellen europäischen Lit.geschiehtsschreibung überwinden und ein allertiefstes Verständnis der Weltlit. vermitteln k ö n n t e . Eine von diesen vielen Ausgangspunkten ansetzende komparatist. Arbeit weist demnach, zugleich auch auf die Möglichkeiten zu einer entsprechenden Ausweitung hin. D e n n der Vergleich von nur zwei derartigen Gegebenheiten bedeutet zugleich auch einen Beitrag zur lit.wiss. Theoriebildung im R a h m e n von vgl. Forschungen aller M i k r o und Makrostrukturen (also z . B . Vgl. T o p o i forschung oder Vgl. R h y t h m e n f o r s c h u n g bis zur Vgl. Gattungsforschung oder Vgl. F o r schung literar. Bewegungen und letztlich bis zur Vgl. F o r s c h u n g von Nationalliteraturen im R a h m e n der gesamten Weltlit.). Fridrun Rinner, Die komparatist. Arbeiten in der ,German.-roman. Monatsschrift' (Innsbruck 1977) S. 14-17 (Vergleiche des Inhalts [Stoff, Motiv, Symbol, Thema, Metapher und Topos]), 22-26 (Die literar. Gattung), 35-68 (Übernationale Strukturen), 81-83 (West-östliche Befruchtung), 135-143 (Komparatist. Bezugspunkte). Les courants littéraires en tant que phénomènes internationaux. Actes du Ve Congrès de l'AILC, Belgrad 1967 (Amsterdam 1969) S. 3-342. Les littératures slaves et leurs interprétations dans les autres littératures. Actes du Ve Congrès de l'AILC, Belgrad 1967 (Amsterdam 1969) S. 539-744. Lapériodisation et l'articulation de l'histoire littéraire. Actes du VIIe Congrès de l'AILC, MontréalOttawa 1973 (Stuttgart 1979) S. 21-218. Les relations littéraires Europe—Afrique. Actes du VIe Congrès de l'AICL, Bordeaux 1970 (Stuttgart 1975) S. 617-653. Les relations littéraires OrientOccident. Ebda, S. 663-718. § 8. S p e z i f i s c h e T h e m e n d e r R o m paratistik. Henry H. H. R e m a k beansprucht die Untersuchungen von U b e r s e t z u n g e n und N a c h d i c h t u n g e n völlig für die Vgl. L w . , und zwar mit der Begründung: „ D i e K o n v e r g e n z oder die gegenseitige D u r c h dringung verschiedener Kulturen und Traditionen verlangt eine sprachliche und kulturelle Vorbereitung und Vielseitigkeit, die der g e wöhnliche' Literarhistoriker nicht benötigt und über die er in der Regel auch nicht verf ü g t " (Definition und Funktion der Vgl. Lw.,

647

a . a . O . , S. 2 6 ) . J e d e U b e r s e t z u n g ( s . d . ) ist zugleich eine F o r m der Adaption eines literar. W e r k e s . D e r Ü b e r s e t z e r steht dabei vor der schwer lösbaren Aufgabe, im P r o z e ß der sprachlichen Umgestaltung sowohl die G e d a n ken und den Inhalt zu wahren, als auch die Ausdrucksweisen wiederzugeben und derart insgesamt die ästhetischen Qualitäten eines Werkes zu übertragen. M a n spricht von einer ä s t h e t i s c h e n T r a n s p o s i t i o n . Kurt W a i s verlangt von einer solchen Tätigkeit ebensoviel Sprach- und Versmächtigkeit wie von jeder echten D i c h t u n g überhaupt ( Ü b e r s e t z u n g und

Nachdichtung,

in: Komparatistik.

Aufgaben u.

Methoden, a . a . O . , S. 1 4 5 - 1 5 1 ) . D i e Weltlit. kennt aber auch Beispiele, w o zweifellos die Nachdichtung den ästhetischen W e r t des O r i ginals übertrifft ( z . B . Coleridges Hymn before Sunrise verglichen mit dem Original von F r i e dericke B r u n ) . D i e Vgl. Lw. wird in ihrem Versuch, Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und Verallgemeinerungen durchzuführen, auch auf diesem G e b i e t paradigmatisch verfahren müssen und v o r allem von Meisterleistungen der Ubersetzung ausgehen: z . B . von L e r m o n t o v s Nachdichtung von G o e t h e s Wanderers Nachtlied, Christian Morgensterns Übertragung von Ibsens Peer Gynt, H a n s Wollschlägers dt. Fassung des Ulysses von J a m e s J o y c e u . a . m . Eingehende phänomenologische A n a l y s e n , die vergleichend die Schicht der Lautung, der B e deutungen, der dargestellten Gegenständlichkeiten und der damit verbundenen Assoziationen untersuchen, werden an einem einzigen Beispiel zur Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten gelangen k ö n n e n . D i e Vgl. Lw. ist aber an dieser Problematik auch kulturgeschichtlich interessiert. Sie untersucht die vermittelnde R o l l e einer Ubersetzung oder des Übersetzers in der literar. Begegnung zweier Völker. W e r k und Ü b e r s e t z e r wirken in der F u n k t i o n von , l i t e r a r i s c h e n V e r m i t t l e r n ' (Paul C h a v y : „ L a traduction est le plus important de ces véhicules" — gemeint sind: „lecture des œuvres originales, rencontres personnelles, rapport de voyageurs, compte-rendus de la critique, e t c . " — und C h a v y schlägt sogar eine Periodisierung der Literatur nach Übersetzungen vor, nach dem Prinzip: „ D i s - m o i qui tu traduis (et c o m ment tu traduis), je te dirai qui tu e s ! " — in: N e o h e l i c o n 1 - 2 , 1973, S. 3 2 3 ) . D a r ü b e r h i n a u s können nicht nur Einzelpersonen, oft sogar unbewußt, oder einzelne W e r k e , sondern auch G r u p p e n und Institutionen, die Presse, Zeit-

648

Vergleichende Literaturwissenschaft

Schriften, Massenmedien, aber auch Verlage zu Vermittlern werden, indem sie Ideen, Stoffe, Bilder, ganze Werke oder Fragmente von Nation zu Nation tragen. Diese Vermittlung findet zwischen der eigentlichen Schöpfung und der geistigen Aufnahme, zwischen Produktion und Konsumation statt. D e r Vermittler steht zwischen dem Schriftsteller oder dem produzierenden Land — dem ,Aussender' — und dem aufnehmenden Schriftsteller oder dem konsumierenden Land — dem .Empfänger'. Weitaus häufiger etwa als im monoliterar. Zusammenhang, im Rahmen nur einer Nationalliteratur, wird im Verkehr zwischen den einzelnen Literaturen, im interliterar. Kontakt, das Bild eines Autors und seines Werkes durch einen Vermittler fixiert, und damit der Einfluß oftmals vorprogrammiert. (In Deutschland las man Calderón jahrzehntelang mit den Augen der Brüder Schlegel, in Frankreich die Autoren der dt. Klassik und Romantik über die Darstellung der Madame de Staël.) Neben Ubersetzungen und dem ausschlaggebenden Urteil eines einflußreichen Lit.kritikers spielten auch Reisebeschreibungen eine bedeutende Rolle als Vermittler und sind daher ein beliebtes Thema der Vgl. Lw. Aber auch ganze Länder, Städte, Universitäten, Akademien, Gesellschaften, Wandertruppen, Salons, Buchhandlungen, Lesegesellschaften, Bühnen u. ä. m. konnten und können Umschlagplatz literar. Gedanken sein. Solche Gedanken bestimmen letztlich auch das Bild eines Volkes in der Vorstellung eines anderen Volkes. Besonders die franz. Komparatistik befaßt sich gerne mit diesem Thema, schon aus der Tradition der Wirkung des Deutschlandbuches der Madame de Staël, und sie konnte dabei feststellen, daß ein solches Bild ( i m a g e ) regelmäßig zum Scheinbild ( m i r a g e ) tendiert, da entweder idealisierende oder karikierende Züge über die emotionsfreie Darstellung dominieren, je nach Sympathie oder Antipathie der Autoren. Im Hintergrund wirkt oft auch die Faszination durch das Fremde überhaupt, vorwiegend in Gestalt des Weiblichen, das meistens zur Verklärung des Bildes beiträgt. Die dt. Komparatistik (vor allem Horst R ü d i g e r ) ist daher der Meinung, daß solche Untersuchungen die Kompetenz der Literaturwissenschaft überschreiten und besser der Psychologie, Soziologie oder Politologie überlassen bleiben sollten. In neuester Zeit beginnt sich auch die Notwendigkeit einer Vergleichenden Methodenbetrachtung

abzuzeichnen (erstmals von Joseph S t r e l k a erörtert, und zwar mit dem Yearbook of C o m parative Criticism, 1970ff., und mit der Schrift Vergleichende Literaturkritik, Bern 1970), um über die erste Feststellung von Methoden, wie sie in den einzelnen Lit.Wissenschaften angewandt werden ( L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t und Literaturkritik im 20. Jahrhundert, hg. v. Felix Philipp I n g o l d ) , hinauszugelangen und die Verbindungen vor allem in den neueren Betrachtungsweisen, von der Phänomenologie z. B . zu den russ. Formalisten, zur werkimmanenten Methode der Göttinger Schule, zum N e w Criticism (s. Ewa T h o m p s o n , Russian

Formalism

and Anglo-American

New

Crit-

icism, T h e Hague-Paris 1971), v aber auch zu den Strukturalisten verschiedener Prägung herauszuarbeiten (Robert D e t w e i l e r , Story,

Sign and Seif. Phenomenology and Structuralism as Literary Critical Methods, Missoula, Montana, 1978). Ein anderes Arbeitsgebiet, die V e r g l e i c h e n d e F o l k l o r e , berührt sich mit der Vgl. Lit.wiss. im gemeinsamen Interesse für den zunächst mündlichen Lieder-, Märchen-, Sagen- und Sprichwörterschatz der Völker. ,Spoken Literature and Written Literature' war eines der äußerst ergiebig behandelten Rahmenthemen des Belgrader Komparatistenkongresses 1967. Vergleichende Folklore wird besonders in Räumen gepflegt, wo dieser Schatz noch lebendig ist und wo mehrere Völker zusammen leben, wie z . B . im europäischen Südosten (s.d. Arbeiten von Gerhard G e s e m a n n , Alois S c h m a u s , Josef M a t l ) . Die V e r g l e i c h e n d e S t i l i s t i k wiederum zeichnet sich ab als Arbeitsgebiet, das von den grundlegenden Darstellungen von Karl V o ß l e r , Viktor V. V i n o g r a d o v , Leo S p i t z e r und Herbert S e i d l e r (s. Stil) ausgeht und bis zur strukturalen Stilistik von Michael R i f f a t e r r e reicht. Für eine solche v e r g l e i c h e n d e S t i l f o r s c h u n g bedeutet das Kapitel Methodisches zur Stiluntersuchung in Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk am Beispiel deutscher, französischer und portugiesischer Gedichte einen ersten Hinweis. Eine Vielzahl von komparatist. Arbeiten, die sprachliche Eigentümlichkeiten, Metaphern, Symbole, Topoi, Wortspiele, Klangmalereien, Rhythmen u. ä. m. vergleichen, bieten sich als Grundlage für eine schematische Erfassung der Vergleichenden Stilistik an. So scheint das Arbeitsgebiet der komparatist. Forschung nutzbar und ausweitbar in vieler Hinsicht. Es umfaßt

Vergleichende Literaturwissenschaft sowohl den Vergleich der kleinsten Einheiten im literar. W e r k als auch der allerumfassendsten literar. Systeme; es erstreckt sich zeitlich v o m Vergleich frühester M y t h e n bis zu den Erscheinungen unserer Zeit; es beinhaltet nicht nur die Betrachtung von Literatur, sondern auch die Beziehung von Lit. zu allen anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit. Indem sie, unmittelbar von den P h ä n o m e n e n ausgehend, analysiert und wertet, das Analysierte und Gewertete daraufhin jedoch zu Synthesen verbindet, überwindet die Komparatistik immer m e h r die Inkohärenz ihres riesigen Aufgabengebietes. Last but not least: dadurch, daß sie immer wieder auf das Verbindende hinweist, ist sie ganz besonders berufen, die humanistischen und völkerverbindenden Bestrebungen unserer Zeit zu fördern. Stephen O w e n , The Limits of Translation. Yearbook of Comp, and Gen. Lit. 24 (1975) S. 83-92. Dionyz ß u r i s i n , Perevod kak forma mezdunarodnych svjazej [Die Ubersetzung als Form der internationalen Beziehungen], in: Sravnitel'noe izucenie literatur. Sbomik statej k 80letiju M. P. Alekseeva (1976) S. 493-498. Wolfram W i l s s , Übersetzungswissenschaft. Probleme ». Methoden (1977). Jürgen v. S t a c k e l b e r g , Weltlit. in dt. Übersetzung. Vergleichende Analysen (1978). Hudozestvenyj perevod i vzaimodestvie literatur [Die künstler. Ubersetzung und das Zusammenwirken von Literaturen], in: Vosprosy literatury (1979) S. 3-26 (Diskussionsbeiträge von S. Baruzvin, J . Levin, L. Ozerov, J . Andreev und I. Sajtov). Erwin K o p p e n , Die literar. Übersetzung, in: Manfred Schmeling (Hg.), Vgl. Lw. Theorie u. Praxis (1981) S. 125156. H u g o D y s e r i n c k , Zum Problem der,images' und,mirages' und ihrer Untersuchung im Rahmen derVergl. Lw., arcadia 1 (1966) S. 107-120. Claude P i c h o i s u. André M. R o u s s e a u , Internationaler literar. Austausch, in: Vergleichende Literaturwissenschaft. E. Einf. in d. Geschichte, d. Methoden u. Probleme d. Komparatistik (1971) S. 54-97. Jürgen H a u f f [u.a.], Methodendiskussion. Arbeitsbuch z. Lit.wiss. (1972; Schwerpunkte Germanistik 5). André J o l i e s , Einfache Formen, 1929, 2. Aufl. 1956 (Analyse des volkstüml. Erzählgutes: Sage, Märchen, Schwank, Legende, Mythos usw.); Claude L é v i - S t r a u s s , Anthropologie structurale (Paris 1958; dt. Ubers. 1967). Franz H ampi u. Ingomar W e i l e r , Vgl. Sagenforschung, in: Vgl. Geschichtswissenschaft, hg. v. F. Hampl u. I. Weiler (1978; Erträge d. Fschg. 88) S. 132-179. Vladimir M. ¿ i r m u n s k i , Les problèmes de la stylistique comparée. Acta litteraria acad. scient. Hungaricae 5 (1962) S. 77-87. Jean Paul V i n a y u. Jean D a r b e l n e t , Stylistique com-

649

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650

Vergleichende L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t — V e r l a g s b u c h h a n d e l

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Konstantinovic

Verlagsbuchhandel §

1.

Der

V.,

Terminologie

in

der

genauer

buchhändlerischen als

„herstellender

B u c h h a n d e l " bezeichnet, bedarf zur n o t w e n digen Ergänzung des „verbreitenden B u c h handels" und bildet erst mit diesem zusammen das der Lit.Vermittlung dienende System „ B u c h h a n d e l " . D a s W o r t „ v e r l e g e n " bedeutet seit dem 15. J h . - in diesem Bereich G e l d für die Herstellung eines D r u c k w e r k s auslegen, d . h . es bezeichnet zugleich die Tatsache, daß der Verleger (im allgemeinen) das mit der Buchherstellung verbundene geschäftliche R i siko auf sich nimmt. J e d o c h gehört es tendenziell zum W e s e n des Verlegers, mit ö k o n o mischen Mitteln m e t a ö k o n o m i s c h e Ziele zu verfolgen. Infolgedessen werden im V . - wohl als einzigem Wirtschaftszweig - bewußt auch Verlustkalkulationen (und manchmal in erheblichem M a ß ) von vornherein in Kauf g e n o m m e n . E i n e Aufgabe des Verlegers besteht mithin darin, durch sog. „innerbetriebliche S u b v e n t i o n " gewinn- und verlustbringende B ü c h e r in der nötigen Relation zu einander zu halten ( s . a . M e y e r - D o h m 1 9 5 9 , S. 4 1 5 ) . E i n spekulatives E l e m e n t ist im V . enthalten. W e n n die F u n k t i o n des Verlages im einzelnen im Auswählen, Herstellen (meist in seinem Auftrag durch andere) und Verbreiten besteht, wobei jeder dieser Tätigkeiten eigengestalterische Merkmale z u k o m m e n k ö n n e n , so ist der Verlag der F a k t o r , der den komplizierten Mechanismus der Lit.Vermittlung in G a n g setzt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn - wie vor allem im Bereich der w i s s . P r o d u k tion häufig - Anregungen oder auch ausgearbeitete Pläne für B ü c h e r , B u c h r e i h e n , Sammelwerke, Zeitschriften von Verlegern stammen (s. Hiller 1966). D i e F u n k t i o n des Verlags ist so ausgeprägt, daß man sie auch theoretisch zu fassen versucht hat (Banaschewski 1933). D i e geistige, kommerzielle, gesellschaftl. D e terminiertheit des Verlags wird seit dem 18. J h . bis zur Gegenwart im Buchhandel ständig reflektiert (s. § 9). D a B ü c h e r nur hergestellt werden, um verbreitet zu werden, und da dieser Z w e c k jedes Verleger. Verhalten mitbestimmen m u ß , ist eine isolierte Betrachtung des V . s nicht möglich. In der folgenden U b e r s i c h t soll deshalb zwar der H a u p t a k z e n t auf dem - vorgegebenen - Stichwort und der A u t o r - V e r l e g e r - B e z i e h u n g liegen, doch m u ß der literar. Vermittlungsprozeß insgesamt ständig mit berücksichtigt werden. D i e Legitimation zur Einbeziehung dieses Prozesses in die literarhistor. Betrachtung ergibt sich aus der Tatsache, daß jegliche Lit.

Verlagsbuchhandel vermittelte Lit. ist, daß die Vermittlung durch das gedruckte Wort in Buchform aber — auch heute noch - nicht nur die weitaus häufigste, sondern auch die vielfältigste und vor allem die dauerhafteste Vermittlungsweise darstellt. Daß aber nicht nur das Medium Buch (oder Zeitschrift) selbst von einem wie groß oder klein auch immer anzusetzenden Einfluß auf seine „Botschaft", die Literatur, ist, sondern daß die Vermittlungsbedingungen und -Vorgänge mit ihren technischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, juristischen, polit., organisatorischen, also mit ihren jeweiligen histor. Determinanten nicht nur die Rezeption, sondern bereits die Produktion von Lit. mitbestimmen, ist einleuchtend. Wenn diese Gesichtspunkte in der Vergangenheit - von einigen Ansätzen bei Prutz, Scherer, Marholz, Merker, Vietor u. a. abgesehen - vernachlässigt worden sind und erst in jüngerer Zeit mehr und mehr beachtet werden, so ist das - neben anderem - auch eine Folge der neuen Medien mit ihren großen Möglichkeiten der Massenbeeinflussung (s. a. § 7). Um sie handelt sich's im allgemeinen, wenn - auch in der Lit.wiss. oder im Deutschunterricht - von „Medienkunde", „Mediendidaktik" u.ä. die Rede ist, und es ist wohl nur die Selbstverständlichkeit des gewohnten Mediums Buch, wenn dieses hierbei oft geringere oder gar keine Beachtung findet. Dennoch gehört es - mit seinem gesamten Umfeld - in einer Medienkunde, und nicht nur aus histor. Gründen, an erste Stelle. In den folgenden Ausführungen bleibt die mal. Buchproduktion bis zur Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg (ca. 1440) unberücksichtigt. Zwar wurden auch in jener Zeit Bücher - handschriftlich - hergestellt (in Klöstern, an Höfen, später an Universitäten, in kommerziell arbeitenden Schreibstuben, z.B. Dietrich Lauber, durch die Brüder vom Gemeinsamen Leben), ausgetauscht und ausgeliehen, später auch gehandelt, aber die eng begrenzte Produktion diente ausschließlich der Deckung eines bekannten Bedarfs innerhalb genau übersehbarer Interessentenkreise bzw. der Ausführung von festen Bestellungen, und weder war die nach ihrer Anzahl völlig variable hsl. Buchherstellung mit nennenswerten finanziellen Risiken noch die Bücherverbreitung mit organisator. oder informator. Problemen belastet; erst seit der mit sehr hohen Kosten verbundenen, in einer stets spekulativen Mindestanzahl nötigen technischen Produktion von

651

Büchern ist das Buch auch ein Marktobjekt mit den alsbald auftretenden Absatzproblemen, und erst seitdem kann von Buchhandel im modernen Sinn, mithin von Verlegern und auch von einem Autor-Verleger-Verhältnis gesprochen werden. Jedoch hielt sich auch die hsl. Buchherstellung bis ins 16. Jh. D. B e t t m a n n , Verlagsbuchhandel. Reallex. 1. Aufl. 3. Bd. (1928/29) S. 442-464. Oskar K ö h l e r u. Sigfred T a u b e r t , Buchhandel u. Verlag. Staatslexikon, hg. v. d. Görresges. (6. Aufl. 1958) Sp. 183-194. Peter M e y e r - D o h m , Buchhandel. Handwörterbuch d. Sozialwiss. Bd. 2 (1959) S. 415-427. Herbert G. G ö p f e r t , Buchhandel, Handlexikon zur Lit.wiss., hg. v. Diether Krywalski (2. Aufl. 1974) S. 83-89 (auch in: Göpfert, Vom Autor . . ., S. 19-29). Peter M e y e r - D o h m u. Wolfgang R. L a n g e n b u c h e r , Der Verlagsbuchhandel. Handbuch d. Buchhandels. Bd. 2 (1975) S. 31-41. Handbuch des Buchhandels in vier Bänden. Hg. v. Peter M e y e r - D o h m u. Wolfgang S t r a u ß . Bd. 1: Allgemeines. Hg.: Horst Machill (1974), Bd. 2: Verlagsbuchhandel. H g . : Ehrhardt Heinold (1975), Bd. 3: Sortimentsbuchhandel. Hg.: Franz Hinze (2. Aufl. 1974), Bd. 4: Übrige Formen d. BucheinzelhandelsZwischenbuchhandel u. Buchgemeinschaft. Hg.: Friedrich-Wilh. Schaper (1977). Helmut H i l l e r , Der Verlagsbuchhandel, in: Der dt. Buchhandel, hg. v. Helmut Hiller u. Wolfgang Strauß (5. Aufl. 1975) S. 52-161. — E d m u n d J. A. B a n a s c h e w s ki, Theorie d. Verlages. E. Beitr. zur Typo-Soziologie d. Verlagswesens (1933). Peter M e y e r D o h m , Buchhandel als kulturwirtschaftliche Aufgabe (1967; Schriften z. Buchmarkt-Forschung 11). Lexikon des Buchwesens. Hg. v. Joachim K i r c h n e r . 4 Bde. (1952-1956; Neuausg. in Vorber.). Helmut H i l l er, Wörterbuch des Buches (4., neubearb. Aufl. 1980). — Robert P r u t z , Die dt. Belletristik u. d. Publikum, in: Prutz, Die dt. Lit. d. Gegenwart. Bd. 2 (1858). Wilhelm S c h e r e r , Poetik (1888; Neuausg. 1977). Georg W i t k o w s k i , Das Buchgewerbe u. d. Lit., in: Das Buchgewerbe u. d. Kultur. (1907; Aus Natur u. Geisteswelt 182) S. 17-34. Paul M e r k e r , Neue Aufgaben d. dt. Lit.gesch. (1921; ZfDtK., Erg.-H. 16). Werner M a h r h o l z , Lit.gesch. u. Lit.wiss. 2., erw. Aufl., durchges. u. mit e. Nachw. v. Franz Schultz (1932; Kröners Taschenausg. 88). Karl V i e t o r , Programm e. Lit.Soziologie, Volk im Werden 2 (1934) S. 35-44. Wolfgang K a y s e r , Das literar. Leben d. Gegenwart, in: Dt. Lit. in unserer Zeit (1959; Kl. Vandenhoeck-R. 73/74) S. 5-31. Hans W i d m a n n , Buchhandel als Gegenstand geschichtl. Forschung, in: Buchhandel u. Wissenschaft. Hg. v. Friedrich Uhlig (1965) S. 5-28. Herbert G. G ö p f e r t , Buchhandel u. Wissen-

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Verlagsbuchhandel

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§ 2. a) In der F r i i h z e i t des B u c h d r u c k s (,,Frühdruck"-Zeit bis ca. 1530-50) dominiert die Betriebsform des D r u c k e r Verlegers. Neben hauptsächlich für den regionalen Bedarf arbeitenden Firmen entwickelten sich etwa ab 1480 Unternehmen, die - vor allem durch Editionen (Kirchenväter, antike Klassiker) - die Bedürfnisse der Theologen und Humanisten in allen erreichbaren Ländern zu befriedigen suchten und hierfür z.T. internationale Vertriebsorganisationen aufbauten. Doch gab es schon in der ,,Inkunabel"-Zeit (bis 1500) (s. Wiegendruck) auch Verleger, die - wie heute meist - keine eigenen Druckereien besaßen, sondern ihre Aufträge vergaben (z.B. Johann Rynmann in

Verlagsbuchhandel Augsburg, später die Brüder Alantsee in Wien). Bezeichnend für die Zeit ist es, daß einige V e r l e g e r diesen - neuen - Bereich auf fast ¡dealtypische Weise erfüllten, wie etwa die Amerbachs und Johann Froben in Basel, Christoph Froschauer in Zürich, Thomas Anshelm in Hagenau im Elsaß u. a. Patriarchalische Betriebsführung und ein geistig konservatives Verlagsprogramm kennzeichnen Anton Koberger in Nürnberg; jedoch kommt es auch zu ernsthaften Konflikten in Ausstattungs- und Textfragen zwischen dem angesehenen Straßburger Drucker-Verleger Johann Grüninger und Pirckheimer sowie in Druckereien zu den ersten Arbeitskämpfen. Die Drucker-Verleger waren z. T. hochgelehrte Männer, Humanisten wie Erasmus, Eobanus Hesse, Sebastian Brant verkehrten mit ihnen wie mit ihresgleichen, ihre Offizinen bildeten z . T . Zentren geistigen Lebens, sie planten, regten an, ließen sich anregen, waren im modernen Wortsinn Unternehmer, sie waren als Gelehrte aber auch auf größtmögliche Genauigkeit und Fehlerlosigkeit ihrer Bücher bedacht, desgleichen auf möglichst guten und schönen Satz und Druck, für den Buchschmuck zogen sie beste Künstler heran. Verleger und Autoren verschiedener Länder trafen sich auf den Messen in Frankfurt/Main, über die es fast hymnische Berichte gibt (Estienne). Man spürt den Schwung der Zeit des Humanismus, aber auch das Verantwortungsgefühl bei der Verwendung des neuen Mediums gegenüber den Texten, den Lesern, den Autoren. Viele der regional begrenzten Verleger arbeiteten jedoch mehr oder weniger im Auftrag, etwa von Magistraten, oder waren auf Darlehen oder Teilhaberschaften anderer angewiesen (wie z . B . die Zainers in Ulm). Bei großen Investitionen gab es auch Kooperationen, z . T . von Firmen am Ort ( z . B . in Basel), aber auch von räumlich auseinanderliegenden Firmen. Zeugnisse für den Rang verlegerischer Tätigkeit sind etwa die Briefe von Erasmus an und über Froben oder der Amerbach-Briefwechsel. Bezeichnend für die Arbeitsweise mancher Verleger in jener Zeit ist ein Brief des Nürnberger Mathematikers Johann Werner an Lukas Alantsee von 1522: „ D u sorgst für die Literatur und durchstöberst die Bibliotheken, ob nicht vielleicht noch wertvolle Werke der Alten im Verborgenen ruhen. Aber auch die Schriftsteller, die vor kurzem gelebt haben, betreust du, nicht minder die noch lebenden.

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Es muß wunderbar erscheinen, daß du, wenn dir zu Ohren kommt, daß in irgendeinem Winkel Deutschlands ein dir gar nicht bekannter Mensch in seinen Mußestunden sich ein wenig mit philosophischen Dingen beschäftigt, dein Haus im Stich läßt und den Mann aufsuchst. So bist du auch zu mir gekommen, um dich nach meinen Arbeiten umzusehen" (Schottenloher 1951, S. 161). Nicht selten bestand ein enges persönliches Verhältnis zwischen Verlegern und Autoren; als Berater, Kontigastoren, Korrektoren wurden die Autoren honoriert, aber auch, wenngleich nicht immer, für eigene Werke und Editionen, häufig in Form von Büchern. Die immer wieder zu lesende Behauptung, es sei für einen Autor unehrenhaft gewesen, H o n o rar (s. d.) zu nehmen, beruht auf einer unzulässigen Verallgemeinerung einer Stelle aus der Polemik zwischen Hutten und Erasmus: nur für eine persönliche Streitschrift sich bezahlen zu lassen, wie Hutten fälschlich vorgeworfen wurde, wäre unehrenhaft gewesen; jedoch resultiert aus dieser Stelle gerade, daß sonst Honorare häufig waren. Sie dürften sich meist auf wiss. Werke bezogen haben, aber belegt ist es auch, daß Thomas Murner 1519 für die Geuchmatt von Mathias Hupfuff in Straßburg Honorar erhielt. Der Polyhistor Konrad Geßner in Zürich behauptete, er sei genötigt, um das tägliche Brot zu schreiben. Doch war allen Beteiligten klar, daß mit dem Honorar nicht die eigentliche geistige Leistung vergolten werden konnte, sondern daß es nur ein begrenzter Ehrensold für die aufgewendete „Mühe und Arbeit" war (s. Widmann 1969, Göpfert 1977). Die Höhe der A u f l a g e n mußte sich naturgemäß nach der Größe der bücherkaufenden Leserschicht richten. Bei den der Zahl nach weit überwiegenden lat. Werken für die humanistisch Gebildeten oder bei den theologischen und für den Kirchengebrauch hergestellten Werken nimmt man in der Frühzeit 200 bis 300 Exemplare als üblich an, doch kamen auch Auflagen bis 1000 und mehr vor. Die Bücher in dt. Sprache erschienen fast alle in relativ hohen Auflagen, zumal das Bedürfnis nach Lektüre groß war. Früh finden sich Spezialisierungen in der Produktion der Verlage. So ist bei den Zainers in Ulm das Verhältnis von lat. zu dt. Büchern bis um 1500 etwa 100:30, wobei zu berücksichtigen ist, daß ein Teil der dt. sprachigen Produktion auf einen der besten

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dt. Autoren der Zeit, Heinrich Steinhöwel, entfiel, der zudem finanziell an dem Unternehmen beteiligt war. Bei Conrad Dinkmuth, der insgesamt eine wesentlich kleinere Produktion hatte, überwogen hingegen die dt. Titel bei weitem. Anton Sorg in Augsburg veröffentlichte nur dt. Bücher, vor allem Volksbücher, doch verlangte das neue, still gelesene Medium Buch nunmehr nach Prosafassungen. So umfang- und traditionsreich die Lit. über die Frühdruckzeit ist, mit dem Inhalt, der thematischen Charakterisierung der Buchproduktion und deren Leserpublikum beginnen sich erst neuerdings einzelne Forscher zu befassen. b) Sehr bald zeigten sich einige Begleit- und Folgeerscheinungen des Buchdrucks, die vor allem in späterer Zeit zu teilweise bedrängenden Problemen für die Buchproduktion und die literar. Vermittlung anwuchsen. Zu ihnen gehörte der N a c h d r u c k . Zur Zeit der handschriftlichen Verbreitung von Lit. war es für die Schreiberwerkstatt materiell belanglos gewesen, ob einer ihrer Texte auch von anderen Schreibern oder Werkstätten abgeschrieben und verbreitet wurde, das konnte im Gegenteil sogar zusätzliches Ansehen bringen. Diese jurist. und moralische Indifferenz muß als Ausgangssituation für die Praxis - und die Bewertung - das Nachdrucks gesehen werden. Es lag allein an den hohen Investitionen, daß es für den Verleger nachteilig werden konnte, wenn ein anderer ein Buch nachdruckte und billiger verkaufte; Konkurrenzdenken stellte sich ein. Der Autor konnte vom Nachdruck in doppelter Weise betroffen sein: der Text erschien ohne seine Kontrolle und konnte unkorrekt oder gar verderbt sein (hiergegen protestierten z . B . Luther und Sebastian Brant), außerdem konnten ihm die Möglichkeit weiterer Auflagen, evtl. auch Honorare entgehen. Doch waren in erster Linie die Verleger betroffen; so empfand es z . B . noch Grimmelshausen im Schlußgedicht zu seinem Wunder-Geschichten-Kalender (1671). Eine gesetzliche Regelung hierfür gab es weder im Deutschen noch im Römischen Recht. Es hat bis ins 19. J h . - in England nur bis zum Anfang, in Frankreich bis zum Ende des 18. J h . s - gedauert, bis der Begriff des Urheberrechts erkannt, formuliert und als Gesetz realisiert wurde, und zwar als das primäre Recht, aus dem das Verlagsrecht abgeleitet wird.

Bis zu dieser gesetzlichen Regelung befand sich die Buchproduktion, also die Literatur, juristisch gesehen im Ausnahmezustand, sie existierte unter P r i v i l e g i e n . Bereits 1469 erteilte die Signoria von Venedig dem aus Deutschland gekommenen Drucker Johann von Speyer ein Privileg auf seine gesamte Produktion. Die Wirkung der Privilegien war abhängig von der Macht der sie erteilenden Institutionen. Erteilt wurden Privilegien entweder dem Verleger (Drucker) oder dem Autor für eine begrenzte Frist, höchstens auf 10 Jahre. Sie sollten schützen gegen jeglichen Nachdruck, gegen Plagiate (s. Plagiat), gegen Einfuhr illegaler Drucke aus dem Ausland und dergl. bei hohen Strafen, etwa 10 Pfund „lötigen Goldes". Nach Ablauf der Frist konnten die Privilegien erneuert werden. Für die Erteilung wurden z . T . Gebühren, stets Freiexemplare gefordert. Wohl das erste Privileg für ein literar. Werk in Deutschland wurde vom Reichsregiment 1501 Konrad Celtis für seine Hrotsvitha-Ausgabe erteilt. Privilegien erteilten der Kaiser, zusätzlich - oder auch nur - der zuständige Landesherr (als die Messe sich mehr und mehr in Leipzig konzentrierte, vor allem der Kurfürst von Sachsen), aber auch Räte von Städten. Der Wert der Kaiserlichen Privilegien wurde im Lauf der Zeit, infolge des zunehmenden Partikularismus im Reich, mehr und mehr relativiert, und sie galten nur noch in den Reichsstädten, im 18. J h . noch nicht einmal mehr in den Kaiserlichen Erblanden j ein vollständiger Privilegienschutz war schon bald nicht mehr möglich. Die prinzipiellen Unterschiede zur heutigen Urheberrechtsregelung bestehen darin, daß es sich beim Privileg nicht primär um den Schutz des g e i s t i g e n Eigentums, sondern der gedruckten Bücher, also der materiellen Erscheinungsform geistiger Leistungen handelte, wodurch allein es erklärlich ist, daß Privilegien sowohl Autoren wie Verlegern erteilt und von diesen sogar weiterverkauft werden konnten, und daß der Schutz nicht automatisch einsetzte, sondern nur auf Antrag gewährt wurde. Da die Privilegien mit Kosten verbunden waren, wurden sie nur für solche Bücher beantragt, die durch Nachdruck besonders gefährdet waren, im übrigen wurden nicht alle Anträge erfüllt. c) Das Privilegienwesen war jedoch nicht identisch mit der B ü c h e r z e n s u r (s.a. Zensur), die sich ebenfalls als Folge der techni-

Verlagsbuchhandel sehen Produzierbarkeit von Büchern schon sehr bald ergab. Sie beschränkte sich zunächst auf den kirchlichen Bereich. Das früheste Zensuredikt stammt von 1479: Papst Sixtus VI. erteilte der Universität Köln das Recht, gegen Drucker, Käufer und Leser häretischer Schriften einzuschreiten. 1485 erläßt der Erzbischof von Mainz, Berthold von Henneberg, ein Zensuredikt für seine gesamte Erzdiözese (Vorzensur für neue, Nachzensur für bereits erschienene Werke), 1487 erläßt Innozenz VIII. für die gesamte Christenheit eine alle den kath. Glauben betreffende Schriften erfassende Zensur-Bulle, in der u.a. Verbrennung indizierter Bücher vorgesehen wird. Im allgemeinen war Zensur Angelegenheit der Territorien. Die Reformation hatte zunächst eine Erneuerung und Verschärfung der Zensurbestimmungen (Laterankonzil von 1515) zur Folge, dann aber auch ein Einschreiten der weltlichen Macht im Wormser Edikt Kaiser Karls V. von 1521, das in mehreren Reichstagsabschieden erneuert wurde. Die kirchlichen Zensurbestimmungen führten zu der 1559 auf dem Konzil von Trient beschlossenen Institution des Index librorum prohibitorum, der - ständig erneuert und ergänzt - bis 1966 existierte. Der Kaiser setzte - nach Vorformen seit 1567 - für den Messeplatz Frankfurt die „Kaiserliche Bücherkommission" ein, die - später mit dem Reichskammergericht in Wetzlar verbunden bis zum Untergang des Reiches 1806 bestand. Sie hatte im wesentlichen Kontrollfunktionen, die zeitweise, vor allem im 18. Jh., sehr streng ausgeübt wurden. 1569 wurde die Kursächsische Bücherkommission eingesetzt, die infolge der zunehmenden Bedeutung der Leipziger Messe im Laufe des 17. Jh.s die Kaiserliche Bücherkommission an Einfluß weit übertraf. Generell galt - spätestens seit dem Reichstagsabschied von 1570 - u.a., daß Druckereien (und folglich auch Verlage) nur in Residenz-, Universitäts- und „ansehnlichen" Reichsstädten arbeiten durften, daß Drucker unter Eid und unter Vermeidung hoher Strafe nur durch die Vorzensur der Obrigkeit erlaubte Schriften mit Angaben von Namen des Autors, Drukkers und Verlegers sowie von Ort und Jahr drucken durften. Buchhändler und Käufer durften bei Strafandrohung sogen. „Schmähschriften" und dergl. weder verkaufen noch erwerben. Hierunter fielen auch alle Schriften, die den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens nicht entsprachen. Da bei der

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Zensur oft eine regionale wie zeitliche Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis besteht, wäre für eine Darstellung der Gesamtgeschichte der Zensur die Kenntnis der wichtigsten Regionalgeschichten eine Voraussetzung - erst dann ließen sich ihr Einfluß auf den Buchhandel und Reaktionen und Umgehungsversuche des Buchhandels insgesamt feststellen. Albrecht K i r c h h o f f , Die Handschriftenhändler d. MA.s (2. Ausg. 1853; Neudr. 1966). Ders., Weitere Beiträge z. Gesch. d. Handschriftenhandels im MA. (1855; Neudr. 1966). H . N o t t a r p , Die Brüder vom gemeinsamen Lehen. SavZfRG., Kan. Abt. 32. (1943) S. 191-299. Wolfgang O e s e r , Die Brüder des gemeinsamen Lehens in Münster als Bücherschreiber. AGB 5 (1964) Sp. 197-398. Zu a) Aloys R u p p e l , Johannes Gutenberg (3. Aufl. 1968 = Neudr. d. 2. Aufl. 1947). Friedrich Adolf S c h m i d t - K ü n s e m ü l l e r , Die Erfindung d. Buchdrucks, als techn. Phänomen (1951; Kl. Druck d. Gutenberg-Ges. 48). Hans L ü l f i n g , Johannes Gutenberg u. d. Buchwesen d. 14. u. Ii. Jh.s (1969). Der gegenwärtige Stand d. Gutenberg-Forschung. Hg. v. Hans W i d m a n n (1972; Bibl. d. Buchwesens 1). Friedrich Adolf S c h m i d t - K ü n s e m ü l l e r , Gutenbergs Schritt in die Technik, in: Dergegenw. Standd. GutenbergForschung (1972) S. 122-147. Hans W i d m a n n , Vom Nutzen u. Nachteil d. Erfindung d. Buchdrucks - aus d. Sicht d. Zeitgenossen d. Erfinders (1973; Kl. Druck d. Gutenberg-Ges. 92). — Konrad H a e b l e r , Ein f . in d. Inkunabelkunde (1925; 2. Aufl. 1928, unveränd. Nachdr. 1966). Manfred S a u e r , Die dt. Inkunabeln, ihre histor. Merkmale u. ihr Publikum (1957). Karl S c h o t t e n l o h e r , Das alte Buch (3. Aufl. 1956; Bibl. f. Kunst- und Antiquitäten-Freunde. 14). Ferdinand G e l d n e r , Die dt. Inkunabeldrucker. E. Handb. d. dt. Buchdrucker d. 15. Jh.s nach Druckorten. Bd 1: Das dt. Sprachgebiet (1968), Bd 2: Die dt. Drucker d. Auslands (1970). Karl D a c h s u. Wieland S c h m i d t , Wieviele Inkunabelausgaben gibt es wirklich? Bibliotheksforum Bayern 2 (1974) S. 83-95. Gottfried Z e d i e r , Über d. Preise u. Auflagenhöhe unserer ältesten Drucke, in: Beiträge z. Bibliotheksu. Buchwesen. Paul Schwanke gewidm.. (1913) S. 267-288. Oscar v. H a s e , Die Koberger (2. Aufl. 1885; Neudr. 1967). Die Amerbachkorrespondenz. Im Auftr. d. Komm. f. d. ö f f e n t l . Bibl. d. Univ. Basel bearb. u. hg. v. Alfred H a r t m a n n . Bd. 1-5. (1942-1958). Bd. 6 u. 7 hg. v. Beat Rudolf Jenny (1967-1974). Wilhelm H . L a n g e , Buchdruck, Buchverlag, Buchvertrieb. Beitr. z. Wirtschaftl. u. geistigen Situation d. Ii. u. 16. Jh.s, in: Buch u. Papier. Buchkundl. u. papiergeschichtl. Arbeiten Hans H. Bockwitz z. 65. Geb. dargebr. (1949) S. 55-74.

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Zu c) Albrecht K i r c h h o f f , Beiträge z. Gesch. d. Preßmaßregelungen u. d. Verkehrs auf d. Büchermessen im 16. u. 17. Jh. AGDB 2 (1879) S. 33-67. Ders., Zur Gesch. d. kaiserl. BücherCommission in Frankfurt a.M. AGDB 4 (1879) S. 96-137. Adolf B u f f , Die ältesten Augsburger Censuranordnungen. AGDB 6 (1881) S. 251-252. Friedr. K a p p , Die preuß. Preßgesetzgebung unter Friedrich Wilhelm III (1815-1840). Nach d. Akten im Königl. Preuß. Geh. Staatsarchiv. AGDB 6 (1881) S. 185-249. Albrecht K i r c h h o f f , Die kurf. sächs. Bücher-Commission zu Leipzig. I. Bis zum Abschluß ihrer Organisation. Mit Nachtrag. AGDB 9 (1884) S. 47-176 u. 255-257. Joseph H i l g e r s , Der Index d. verbotenen Bücher. In s. neuen Fassung dargelegt u. rechtlich-historisch gewürdigt (1904) S. 4 f. Rudolf H i r s c h , Pre-Reformation Censorship of Printed Books. The Library Chronicle 21 (1955) S. 100-105. GeorgMay, Die Außebungd. kirchl. Bücherverbote, in: Ecclesia et lus. Festg. f . Audomar Scheurmann z. 60. Geb. (1968) S. 547571. Ulrich E i s e n h a r d t , Die kaiserl. Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel u. Presse im Hl. Rom. Reich dt. Nation (1496 bis 1806) (1970; Studien u. Quellen z. Gesch. d. dt. Verfassungsrechts. A. 3), Rez.: Hans W i d m a n n , in: Aus dem Antiquariat, Börsenbl. (Frankf.) 26 (1970) A. 371373. Hilger F r e u n d , Die Bücher- u. Pressezensur im Kurfürstentum Mainz von 1486-1797 (1971; Studien u. Quellen z. Gesch. d. dt. Verfassungsrechts. A.6). § 3. a) Daß die R e f o r m a t i o n ohne den Buchdruck nicht so rasch, intensiv und weit sich hätte ausbreiten können, daß der Buchhandel andererseits durch die Reformation - auch durch das nun stark anwachsende Schulwesen (Melanchthons Schulordnung von 1529) einen starken Aufschwung erhielt, ist bekannt. Das Buch wurde jetzt zum Massenmedium, Luthers B i b e l ü b e r s e t z u n g e n (s.d.) und seine Schriften wurden zu Bestsellern. Vom Neuen Testament z . B . erschienen zu Luthers Lebzeiten über 100000 Exemplare. Bücher, vor allem Flugschriften, finden Eingang in neue Leserkreise, die Zunahme des dt.sprachigen Anteils an der Buchproduktion zeigt das. Auch auf das Buchformat wirkt sich das aus, Bücher in handlicheren Formaten nehmen zu. Nach Melchior Lotther war - ab 1534 - Hans Lufft Luthers wichtigster Drucker in Wittenberg; den Verlag der Lutherschen Vollbibel (1534), also Finanzierung und Vertrieb, übernahm ein Konsortium von drei Wittenberger Buchhändlern, anders war diese Aufgabe finanziell offenbar nicht zu bewältigen. Wenn Luther

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sich gegen den starken Nachdruck seiner Veröffentlichungen wandte, so vor allem wegen der Textverderbnisse, sodann - aber nur gegen allzu raschen Nachdruck - auch im Interesse seines Verlegers, aber nicht im eigenen Interesse, da er kein Honorar nahm. Daß von seiner Übers, des Neuen Testaments (1522) innerhalb von zwei Jahren 66 Nachdrucke erschienen, konnte ihm als Faktum nur recht sein. Andererseits wurde infolge der Reformation ein großer Teil der bisherigen theologischen und religiösen Schriften, teils wegen zu hoher Auflagen oder Fortfalls der bisherigen Interessentenkreise (Klöster), unverkäuflich - wiederum ein Phänomen, das es zur Handschriftenzeit nicht gegeben hätte.

bei Weidmann, später bei anderen Verlegern, erst ab 1820 aber mit Angaben von Ladenpreisen. Diese Kataloge enthalten jedoch manche nicht in dem betreffenden Jahr oder überhaupt nicht erschienene Bücher, hingegen fehlt in ihnen ein großer Teil der erschienenen Produktion, wie z. B. die nur auf Jahrmärkten und dergl. angebotene Volksliteratur. Die in den Meßkatalogen angegebenen Zahlen entsprachen also nie der tatsächlichen gesamten Buchproduktion. Für die Buchinteressenten, in erster Linie die Gelehrten, stellte der Meßkatalog jedoch lange Zeit das einzige, aber auch noch nach dem Aufkommen von Zeitungen und Zeitschriften ein wichtiges Informationsmittel dar.

Die Möglichkeit des Buchdrucks zu rascher Produktion wirkte sich bei der sehr stark anwachsenden F l u g s c h r i f t e n l i t e r a t u r (s. Flugschrift) des von Auseinandersetzungen vieler Art geschüttelten 16. Jh.s aus: der Verleger, zur Zeit des Humanismus vorzugsweise mit sorgfältigen Editionen befaßt, wird jetzt vom aktuellen Zeitgeschehen beansprucht. Die Buchqualität läßt sehr nach, Nachdrucke sind nun überall an der Tagesordnung. Zu den noch qualitätsbewußt arbeitenden Verlegern gehört etwa Sigmund Feyerabend in Frankfurt am Main. Sorglos hergestellte Massenerzeugnisse, Sendschreiben, Traktate und dergl., in oft volkstümlicher dt. Sprache häufen sich. Verlegerpersönlichkeiten von der Bedeutung Frobens, der Amerbachs, Kobergers, mit entsprechendem Einfluß auf das literar. Leben sind in den beiden letzten Dritteln des 16. Jh.s nicht zu finden, doch ist der Verlagsbuchhandel des späteren 16. und weithin auch des 17. Jh.s unter solchen Gesichtspunkten noch nicht erforscht.

c) Von fundamentaler Bedeutung für die Arbeits- und Wirkungsmöglichkeit des Verlagsbuchhandels sind die D i s t r i b u t i o n s f o r men, also die Organisation des verbreitenden Buchhandels. Verbreitet wurden die Bücher zunächst durch ,,Buchführer", teils ambulant als Kolportagebuchhändler im Auftrag eines oder mehrerer Verlage, teils später mehr und mehr in Weiterbildung der schon in der Handschriftenzeit in geeigneten Städten, oft nahe bei den Kirchen, handelnden stationarii als Sortimentsbuchhändler, im Prinzip heutiger Art. Diese Buchhändler bezogen anfangs die Bücher auf den Messen bar oder zu halbjährlicher Abrechnung. Doch kam auch schon Büchertausch, Bogen gegen Bogen vor, ein verständliches Verfahren angesichts des immer knappen baren Geldes und der vielen Währungen mit der Gefahr des Wechselverlusts. Nach der Mitte des 16. Jh.s nahm der Tausch verkehr wohl in Folge der steigenden Buch- und Schriftenproduktion und der wirtschaftlich unsicheren Zeiten zu und wurde bald die übliche, wenn auch nicht die einzige Form des Buch-Handelsverkehrs und blieb es bis über die Mitte des 18. Jh.s. Voraussetzung war, daß Tausch- und Gebrauchswert der in Frage kommenden Bücher sich ungefähr glichen. Als Folge ergab sich jedoch der Wunsch, ja die Notwendigkeit für viele Sortimenter, sich selbst auch als Verleger zu betätigen, um Tauschware zu haben.

b) I n f o r m a t i o n e n über neu erschienene Bücher erhielten die Interessenten zunächst durch Mitteilungen der Buchhändler, aber auch durch Kataloge der Verleger unmittelbar. Im Jahr 1564 ließ der Augsburger Buchhändler Georg Willer erstmals einen Katalog mit den von ihm auf der Frankfurter Herbstmesse erworbenen Büchern drucken, diese Kataloge erschienen bis 1627 zu jeder Messe, also jährlich zweimal. Ab 1598 begannen amtliche Meßkataloge der Stadt Frankfurt zu erscheinen (bis Ostern 1750), in Leipzig gab der erfolgreiche Verleger Henning Grosse ab 1594 jährlich zweimal Kataloge mit den Titeln der dortigen Messen heraus, von 1759 an (bis 1860) erschien der Leipziger Messekatalog, zunächst

Zu a) Peter B l o c h , Entstehung u. Entwicklung d. Ladenpreises (1923). Wilh. S t i e d a , Der Büchermarkt an d. Hochschulen Erfurt, Wittenberg u. Halle in d. Vergangenheit (1934). Otto C l e m e n , Die lutherische Reformation und der Buchdruck (1939; SchrVerReformgesch. Nr.

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Verlagsbuchhandel

167). Hans V o l z , Bibel u. Bibeldruck in Deutschland im 15. «. 16. Jb. (1960; Kl. Druck d. Gutenberg-Ges. 70). Josef B e n z i n g , Der Buchdruck d. 16. u. 17. Jh.s im dt. Sprachgebiet (1963; Beitr. zum Buch- und Bibl.wesen. 12). Hans-Joachim K o p p i t z , Zur Verbreitung unterhaltsamer u. belehrender dt. Lit. durch d. Buchhandel in der zweiten H. d. 16. Jh.s. JblntGerm. 7 (1975) H. 2, S. 20—35. Josef B e n z i n g , Die dt. Verleger d. 16. u. 17. Jh.s; e. Neubearbeitung. A G B 18 (1977) Sp. 1077-1322. Zu b) Codex nundinarius Germaniae literatae bisecularis. Meß-Jahrhücher d. dt. Buchhandels von d. Erscheinen d. ersten Meß-Kataloges im Jahre 1564 bis zur Gründung d. ersten Buchhändler-Vereins im Jahre 1765. Mit e. Einl. v. Gustav S c h w e t s c h k e (1850). Fortsetzung, die Jahre 1766 bis einschl. 1846 umfassend. Mit e. Vorw. v. Gustav S c h w e t s c h k e (1877). Martin F o n t i u s , Die literarhistor. Bedeutung d. Meßkataloge. Weimarer Beitr. 7 (1961) S. 607-616. Günter R i c h t e r , Die Sammlung von Drucker-, Verleger- und Buchführerkatalogen in den Akten der Kaiserlichen Bücherkommission, in: Festschr. f. Josef Benzing (1964) S. 317-372. Günter R i c h t e r , Bibliographische Beiträge z. Geschichte buchhändler. Kataloge im 16. u. 17. Jh. in: Beiträge z. Gesch. d. Buches u. s. Funktion in d. Gesellschaft. Festschr. f. Hans Widmann (1974) S. 183-229. Graham P o l l a r d and Albert E h r m a n , The Distribution of Books by Catalogue from the Invention of Printing to A.D. 1800, Based on Material in the Broxboume Library (Cambridge 1965; Publ. of the Roxburghe Club 129). Bernhard W e n d t , Der Versteigerungs- u. Antiquariats-Katalog im Wandel von vier Jh.en. A G B 9 (1968) Sp. 1-88. Zu c) Peter B e y e r , Leipzig u. Frankfurt am Main. Leipzigs Aufstieg zur ersten Messestadt. Jb. f. Regionalgeschichte 2 (1967) S. 62-86.

§ 4 . V o m 1 7 . J a h r h u n d e r t an wurde die Betriebsform des Sortimenter-Verlegers, b z w . des Verleger-Sortimenters zur Regel. D i e wirtschaftsgeschichtlich anachronistisch wirkende F o r m des T a u s c h h a n d e l s ist jedoch nicht nur negativ zu bewerten, sie war zunächst vielmehr die einzige Möglichkeit des Buchhandels in der Zeit der immer zunehmenden polit. und wirtschaftl. partikularistischen Tendenzen vor allem nach 1648 - , die Lit.Versorgung im Reichsgebiet und über die G r e n z e n hinweg überhaupt zu ermöglichen und zu gewährleisten. D e r Tauschverkehr führte jedoch auch dazu, o h n e genügende Beachtung des inneren Wertes des B u c h e s und o h n e genügende B e rücksichtigung der jeweiligen Interessenten-

kreise Tauschware um jeden Preis zu produzieren. Das hatte eine z . T . verhängnisvolle Steigerung der ohnehin seit dem B u c h d r u c k von Anfang an gegebenen U b e r p r o d u k t i o n und ein M i ß k e n n e n der eigentlichen M a r k t b e dürfnisse mit der G e f a h r unangemessener D o m i n a n z des Handels über die geistige P r o d u k t i o n zur Folge. Diese Praxis bewirkte weiter, daß die B u c h produktion sich auf eine sehr große Zahl oft kleiner und unbedeutender, aber scharf miteinander konkurrierender F i r m e n verteilte, unter denen Verlage wie z . B . der E n d t e r , der F e l ß e c k e r , J o h a n n H o f f m a n n s in N ü r n b e r g , der F r i t s c h , G r o s s e und M o r i t z Georg W e i d m a n n in Leipzig herausragen. E s fehlt jedoch auch hier noch an profilierenden D a r stellungen des Verlagswesens dieses J h . s . S o wissen wir kaum noch etwas über Esaias Fellgiebel in Breslau, einen der Verleger von O p i t z , G r y p h i u s , Lohenstein, Hofmannswaldau, nichts über den für diese A u t o r e n nicht weniger wichtigen Breslauer Verleger G r ü n d e r . G e n a u e Einblicke haben wir lediglich in Kalkulation und Verbreitung der B ü c h e r der Fürstlichen Druckerei zu K o t h e n , die w o h l der erste programmatische Schulbuchverlag, danach der Verlag der Fruchtbringenden Gesellschaft war. Ironisch äußert sich Grimmelshausen über den B e t r i e b eines Kalenderbuchverlages in der ersten Continuatio seines Simplicissimus (1670). Fast durchweg negativ urteilt Leibniz über Buchhandel und Verlagswesen seiner Zeit, der - planend und anregend auch hier - sich sein L e b e n lang, zuletzt mit dem Vorschlag einer wissenschaftl. Buchgemeinschaft, um Verbesserung der literar. P r o d u k t i o n , Information und Vermittlung bemüht hat. A n n e h m e n kann man, daß, wie schon seit E n d e des 15. J h . s , die „ V e r e h r u n g e n " (meist Geldzuwendungen) hochgestellter Persönlichkeiten, auch von Magistraten, denen B ü c h e r mit Vorreden gewidmet wurden, an die A u t o r e n die H o n o r a r e ersetzen mußten oder daß insbesondere bei belletristischen W e r k e n leistungsfähige „ P a t r o n e " (was Baltzer Siegmund von Stosch 1665 in seinem G r y p h i u s N a c h r u f andeutet) den D r u c k ihrer W e r k e zumindest gegen Verluste des Verlegers sicherten. Bis ins 18. J h . lebte die Lit. weitgehend von solchen M ä z e n e n , allerdings entartete das D e d i k a t i o n s w e s e n oft auch zu lästiger Bettelei. I m 17. J h . k a m es vor, daß

Verlagsbuchhandel Verleger und Autor sich um diese „Verehrungen" stritten. Im 17. J h . hatte sich die L e s e r s c h a f t im Vergleich zum 16. noch nicht wesentlich geändert. Sie beschränkte sich für die hohe Lit. auf die „Gelehrten" - man hat ihre Zahl für das 17. J h . einmal mit ca. 30000 angenommen - , daneben stand die wohl auch in Handwerkerkreise reichende Schicht der Leser volkstümlicher Lit., darunter die Leserschicht der billigen Jahrmarktslit., der Famosschriften und dergl. In der Lit. für die Gelehrten nahm die lateinisch geschriebene zugunsten der dt. sprachigen immer mehr ab, um 1700 verzeichnet der Meßkatalog erstmals etwa gleich viel deutsche wie anderssprachige Titel, von da an nimmt die Zahl der dt.sprachigen Titel ständig zu. Insgesamt sank die Buchproduktion infolge des Dreißigjährigen Krieges stark: verzeichneten die Meßkataloge 16101619 im Jahresdurchschnitt 1239 an dt. Orten erschienene Bücher, so waren es 1632-1641 im Durchschnitt nur 470, und erst um 1750 wurde die Vorkriegszahl wieder erreicht. Zu den Büchern tritt gegen Ende des 17. Jh.s als neues Medium die Z e i t s c h r i f t (s.d.), zunächst als krit. Informationsorgan über neue Bücher, bezeichnenderweise stellt nebenMenkkes Acta eruditorum (1682) bald Thomasius seine flott geschriebenen dt. Monatsgespräche (1688). Man hat gesagt, mit der Zeitschrift sei der Buchdruck noch einmal erfunden worden; in der Tat setzt das thematisch ausgerichtete Periodicum ständige Interessiertheit einer ausreichend großen Leserschicht voraus. Friedr. O l d e n b o u r g , Die Endter (1911). Manfred K o s c h l i g , Grimmelshausen u.s. Verleger. Untersuchungen Uber d, Chronologie s. Schriften u. d. Echtheitscharakter d. frühen Ausgaben (1939; Pal. 2 1 8 ; Neudr. N e w Y o r k , London 1967). Simplicius Simplicissimus u. s. Zeit. Westfäl. Landesmuseum f. Kunst u. Kulturgesch. Münster. Ausst. u. Katalog: Peter B e r g h a u s , Günther W e y d t (1976) S. 9 5 - 9 9 u. 160 f. Hans W i d m a n n , Leibniz u.s. Plan zu e. „Nucleus librarius". A G B 4 (1963) Sp. 6 2 1 - 6 3 6 . Thomas W o i t k o w i t s c h , Thomasius' ,Monatsgespräche'. E. Charakteristik. A G B 10 (1970) Sp. 6 5 5 - 6 7 8 . Peter D ü s t e r d i e c k , Buchproduktion im 17. Jh. E. Analyse d. Meßkataloge f. d. Jahre 1637 u. 1658. A G B 14 (1974) Sp. 163-220. Christian W a g e n k n e c h t , Buchwesen u. Lit. im 17. Jh., in: Stadt - Schule - Universität - Buchwesen u. d. dt. Lit. im 17. Jh. H g . v. Albrecht Schöne (1976) S. 4 6 1 - 4 6 9 . Gerh. D ü n n h a u p t , Die Fürstliche

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Druckerei zu Kothen. A G B 20 (1979) Sp. 8 9 5 - 9 5 0 . Annegret S t e i n , Leibniz u. d. Buchhandel (in Vorher, für A G B ) .

§ 5. a) Im 18. J a h r h u n d e r t war der Buchhandel im Vergleich zu den vorhergehenden Jh.en erstmals vor neue Aufgaben gestellt. Die durch Aufklärung und bürgerl. Gefühlskultur geweckten Bedürfnisse nach Lektüre verschiedener Art in der stark anwachsenden L e s e r s c h a f t mußten befriedigt werden, neue Lesergruppen kamen hinzu: Frauen, Jugendliche, Kinder. Die neue dt. „Nationalliteratur" brauchte ihre Vermittler. Die Zahl der Zeitschriften - vor allem der neuen „Moralischen Wochenschriften" (s.d.) - wächst in ungeahntem Maße an. Gegen Ende des Jh.s verlangt die „Volksaufklärung" ihre eigene Buchproduktion. Ein Symptom für das Lese- und Bildungsbedürfnis sind die „Lesegesellschaften" verschiedenen Typs, die sich seit den 60er Jahren zu hunderten bilden, desgl. die Leihbibliotheken. Das Leseverhalten insgesamt verändert sich. Die neuen Zeitströmungen, die zumindest passive Teilhabe an den polit. Ereignissen machen rasche, vielfältige Information nötig, die Zahl der Bücher und Zeitschriften steigt beständig - um 1800 zeigt der Meßkatalog 3906 Titel - Zeitungen kommen hinzu, der Trivialroman entsteht. Das bisherige intensive („Wiederholungs"-) Lesen macht einem extensiven, raschen, vielfältigen Lesen Platz: der Vorgang ist so einschneidend, daß man von einem „Lesefieber", das alle Volkskreise befallen habe, sprach. Innerhalb der Buchproduktion dominiert nunmehr stark die dt.sprachige Lit., innerhalb der Sachgruppen standen bald statt der theologischen und Erbauungsliteratur (s.d.) im Lauf des Jh.s pädagogische, popularphilosophische Schriften und vor allem Belletristik an der ersten Stelle. In dem immer anwachsenden und immer anonymer werdenden Buchmarkt zeigen nunmehr die unzureichende Rechtsordnung im Buchwesen sowie die anachronistische Vertriebsweise des Tauschverkehrs ihre negativen Auswirkungen deutlich: die fehlende politisch-wirtschaftliche Einheit des Reichs kann in dieser Situation durch keine Behelfe mehr überspielt werden. b) Infolge der vor allem in den norddt. Staaten, insbesondere in Preußen und Sachsen, sich entwickelnden Aufklärungslit. ergab sich ein für den Buchhandel spürbares N o r d - S ü d -

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G e f ä l l e dadurch, daß die sogenannten „Reichsbuchhändler" ihren norddt. Kollegen keine im Tauschwert gleiche Ware auf den Messen mehr anzubieten hatten. Damit war die wichtigste Voraussetzung für diese Verkehrsart hinfällig geworden. Die vor allem in Leipzig und Berlin ansässigen großen norddt. Verleger sahen keinen Grund mehr, die für sie uninteressant gewordene Frankfurter Messe zu besuchen, 1764 sagten sie sich unter Führung des Inhabers der Weidmannschen Buchhandlung in Leipzig, Philipp Erasmus Reich, nicht nur von der ohnehin im Niedergang begriffenen Frankfurter Messe los, sondern erklärten auch, in Zukunft auf der Leipziger Messe als geschlossene Genossenschaft nur noch gegen Barzahlung handeln zu wollen. Wurden diese rigorosen Absichten auch nicht voll verwirklicht, so wurde 1773 jedoch durch ein „Kursächsisches Mandat", das im Prinzip freilich nur frühere Reglements erneuerte, jeglicher Handel mit Nachdrucken auf der Leipziger Messe verboten. Im Zeitalter der merkantilist. Wirtschaftsdoktrin - die (unter dem Namen Kameralismus) im partikularist. Deutschland sich ganz anders auswirken mußte als in ihrem zentralist. Ursprungsland Frankreich - war ein auf monetären „Außenhandel" zwischen den Staaten des Reichs angewiesener Buchhandel unmöglich, und da bares Geld so wenig wie möglich ins „ A u s l a n d " fließen, hingegen so viele Waren wie möglich im jeweiligen Inland erzeugt werden sollten, war der Nachdruck der begehrten norddt. Bücher, zumal diese oft sehr teuer waren, Ausweg wie Gegenschlag des Reichsbuchhandels. Seitdem wurde in Süddeutschland, Österreich, Teilen Westdeutschlands und in der Schweiz die wichtigste moderne Lit. bis ins 19. Jh. hinein größtenteils in den - natürlich viel billigeren - Nachdrukken und nicht in den originalen Ausgaben rezipiert. In manchen Ländern, so in Baden (Schmieder) und in Österreich (Trattner) wurden die dort hergestellten Nachdrucke sogar privilegiert, und es ist bemerkenswert, daß ein Nachdrucker wie Trattner, der jedoch auch eine nennenswerte originale Buchproduktion aufbaute, der erste aus dem Buchhandel hervorgegangene Unternehmer großen Stils wurde. c) Als buchhändlerische Handelsform setzte sich im Lauf der Zeit der K o n d i t i o n s v e r k e h r durch. Die Verleger versandten ihre

Neuerscheinungen an die Sortimenter mit Rückgaberecht, abgerechnet wurde auf den Messen, nicht selten wurde die Rückgabemöglichkeit um ein bis zwei Meßtermine verlängert. Zwischen den Messen wurde der Verkehr durch Kommissionäre abgewickelt. Diese bis gegen 1900 praktizierte Verkehrsform hatte für den Buchinteressenten den Vorteil der - für den Sortimenter risikolosen - Präsenz vieler neuer Bücher, für den Verleger den Nachteil oft langer Ungewißheit über deren tatsächlichen Verkauf. Für Sortimenter und Verleger war jedoch bei ständig steigender Buchproduktion dieses Abrechnungs- und Rückgabeverfahren zu beschwerlich, so daß es im allgemeinen dem heute üblichen Barverkehr bei Lieferung der im voraus fest bestellten Bücher gewichen ist. Eine wichtige Folge des Konditionsverkehrs war, daß die ohnehin problematische Betriebsform des Verlegersortimenters nicht mehr nötig und sinnvoll war, sondern daß sich reiner Verlags- und reiner Sortimentsbuchhandel entwickelten. Auch die Größenordnung der Verlage nahm häufig erheblich zu. d) Die unklare R e c h t s s i t u a t i o n der Autoren schuf weitere Beunruhigung. Wenn, wie nunmehr, Autoren von den Verlegern benötigt wurden, um das starke Bedürfnis nach Lektüre zu befriedigen, erstrebten sie auch in verstärktem Maße wirtschaftliche Erträge aus ihrer Arbeit. Jetzt wurde auch der beiletrist. Autor dem literar. Wirtschaftsprozeß unterworfen. Die Tendenz zum freien Schriftsteller ist zu spüren. Lessing hat die Existenzform als einer der ersten zeitweise praktiziert. Jetzt erstmals konnte der Autor auf die geschäftl. Fähigkeiten seines Verlegers angewiesen sein. Differenzen gab es über die Höhe des Honorars (es wurde durchwegs nach Bogen im voraus bezahlt), über Honorare bei Neuauflagen, über die Erlaubnis von Neuauflagen, über die Dauer des Verlagsrechts - es gab eine Lehre von dem durch Zahlung des Honorars als „Verlagseigentum" erworbenen Werk - , über die Situation bei veränderten Ausgaben, über Gesamtausgaben und dergl. Dazu kam die Undurchsichtigkeit der Bücherkalkulation, des Vertriebs in dem nun buchhändlerisch zweigeteilten Deutschland, häufige Unzufriedenheit mit der Buchausstattung, deren Qualität z . T . stark gesunken war, Mißtrauen einigen recht wohlhabenden Verlegern gegenüber. Das veranlaßte eine B e w e -

Verlagsbuchhandel gung zum Selbstverlag unter vielen Autoren, darunter auch namhaften wie Klopstock, Lessing, Wieland. In brieflichen und theoretischen Äußerungen wurde das Thema diskutiert, in einigen Fällen wurde Selbstverlag praktiziert (z. B. Wielands Deutscher Merkur). Die meisten Unternehmen scheiterten an den Distributionsschwierigkeiten; das am längsten existierende, die „Dessauer Buchhandlung der Gelehrten" - eine Art Vertriebsgenossenschaft - , produzierte von 1781 bis 1788 einige hundert Bücher, darunter von maßgebenden Autoren (Schiller erwog, Kabale und Liebe dort erscheinen zu lassen), mußte aber wegen der Unmöglichkeit einer krit. Manuskriptauswahl schließen. Der Versuch der Autoren, sich vom Buchhandel zu emanzipieren, war gescheitert, jedoch erschienen sehr viele Bücher auf Subskription oder Pränumeration, wofür im ganzen dt.sprachigen Gebiet zahlreiche „Kollekteure" aus literarisch interessierten Kreisen Bestellungen sammelten und an Buchhandlungen oder Verlage weitergaben. Selbstverlag ist in späterer Zeit mehrfach, erfolgreich wohl nur noch von Wilhelm Jordan, versucht worden, der seine Bücher allerdings durch einen professionellen Verleger vertreiben ließ. Nachdruck, Selbstverlag, Verlagsrechtsfragen hatten eine Flut von Kontrovers- und zum Teil solider jurist. Lit. im Gefolge, die zur grundsätzlichen Klärung dieser Fragen, soweit sie in dem partikularist. Reich möglich war, beitrugen. Eine erste k o d i f i z i e r t e R e g e lung fanden Verlags- und Urheberrechtsfragen im Preuß. Landrecht von 1794, wodurch u. a. Herstellung und Verbreitung von Nachdrucken in Preußen verboten war. Damit war, zusammen mit dem Kursächsischen Mandat von 1773, wenigstens im norddt. Raum und auch in großen Teilen Mitteldeutschlands erstmals buchhändlerische Rechtssicherheit hergestellt - eine Vorbedingung für die Verbreitung der dt. Lit. in ihrer nun folgenden „Blütezeit". e) Trotz aller Behinderungen hatten sich im 18. Jh. einige Verlagsbuchhandlungen zu nennenswerter, ja großer Bedeutung entwikkelt, manche Verleger hatten gegen Ende des Jh.s die Aufgaben der Zeit erkannt und wahrgenommen. Jetzt bildeten sich erstmals um Verlage literar. Kreise (so um Philipp Erasmus Reich, J . G. Immanuel"Breitkopf). Die Forderung nach einer festen buchhändler. Organisation wurde immer lebhafter. In Berlin wirkte Friedrich N i c o l a i , der Freund Lessings und

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Moses Mendelssohns, zunächst großzügig planend und aufrüttelnd. Er gehörte zu den nicht wenigen Verlegern seiner Zeit, die auch selbst als Autoren hervortraten. Sein eigenes umfangreiches, wenn auch leicht zu kritisierendes Oeuvre scheint bisher eine Würdigung seiner verlegerischen Leistung verhindert zu haben (auch bei Horst Möller); durch ihn aber wurde die damals gefürchtete Berliner Kritik etabliert (Literaturbriefe, das große, imponierende Unternehmen der Allgemeinen Deutschen Bibliothek). In Königsberg waren mit kräftiger Ausstrahlung in den Osten und Nordosten Europas Johann Friedrich H a r t k n o c h , der Verleger Kants, Hamanns und Herders, sowie der Buchhändler Johann Jakob K a n t e r tätig; als Schriftsteller drängte es Johann Heinrich Campe zu verlegerischer Wirkung, in der ,,Braunschweigischen Schulbuchhandlung" stellte er das Modell eines von der Kinderbibliothek bis zum Handbuch für Lehrerbildung durchgegliederten pädagogischen Verlags dar; in Gotha erreichte der Journalist Rudolph Zacharias B e c k e r vor allem mit seinem Nothund Hülfsbüchlein für Bauersleute (1789), das in weit über 500000 Exemplaren verbreitet wurde (die Einwohnerzahl des Reichs betrug 26 Millionen), einen sensationellen Erfolg als Volksaufklärer. Als eine verlegerische Spezialform bildete sich die Waisenhausbuchhandlung in Halle, der andere ähnliche folgten, heraus, jedoch sind wissenschaftliche Stiftungsverlage wie die anglo-amerikanischen University-Presses in Deutschland nicht entstanden. Im Buchhandel kam es insgesamt zu einem vertieften Selbstverständnis des Berufsstandes, was sich in zahlreichen Einzelschriften (z.B. von Göschen und Wilhelm Fleischer in Frankfurt/Main) sowie in den jetzt erstmals aufkommenden Buchhändlerzeitschriften (z.B. Neues Archiv) äußerte. Wenn auch nur sehr wenige Autoren nur von ihren Honoraren lebten (Goethe, Schiller, Jean Paul z . B . nicht), so bedeuteten doch H o n o rare für schriftsteiler. Tätigkeiten für viele seit dem Ende des 18. Jh.s einen erheblichen Anteil ihres Einkommens, zumal die Buch-, z. T. auch die Zeitschriftenhonorare (Schillers Hören) damals wesentlich höher waren als heute. Bei den Verlegern setzte sich die Überzeugung eines m o r a l i s c h e n Anspruchs des Autors auf Honorare durch. Friedrich C o t t a setzte seinen Ehrgeiz darein, die bislang höchsten Honorare gezahlt zu haben, Friedrich Perthes sprach

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sogar von einem Honoraranspruch des Autors an die Gesellschaft, den der Buchhandel, sozusagen stellvertretend, zu erfüllen schuldig sei. Wenn Perthes in seiner berühmten Schrift den dt. Buchhandel als „Bedingung" des Daseins einer dt. Lit. bezeichnete, so war das ganz aus der speziellen dt. partikularistischen Situation mit ihren ungelösten rechtlichen und polit. Fragen heraus gedacht, und mit „Daseyn" ist die äußere Präsenz, nicht etwa die innere Möglichkeit gemeint. Die B e z i e h u n g e n der maßgebenden A u t o r e n zu ihren Verlegern in der zweiten Hälfte des 18. und zu Anfang des 19. Jh.s sind bisher nur zum Teil und meist einseitig untersucht worden: der übergeordnete Gesichtspunkt des Verhältnisses beider Partner gegenüber den sich wandelnden geistigen und gesellschaftlichen Bedingungen im literar. Vermittlungsprozeß wurde noch selten beachtet. Am besten sind wir über Klopstock und Wieland informiert. K l o p s t o c k stellte nach Geltung seines Werkes und Verehrung seiner Person freilich einen Sonderfall dar: es waren nicht nur persönliche, sondern vor allem prinzipielle Gründe, die ihn - am deutlichsten in dem großen Subskriptionsunternehmen der Gelehrtenrepublik 1774 - zur Verwirklichung seines Souveränitätsanspruchs der Lit. veranlaßten. Wieland fehlte es nicht an Kenntnissen der Bedingungen des literar. Marktes, jedoch zeigte sich bei ihm die entscheidende Bedeutung des persönlichen Verhältnisses des Autors zu seinem Verleger: als sein Verleger Philipp Erasmus Reich, der Inhaber der Weidmannschen Verlagsbuchhandlung, gestorben war, wechselte er 1788 mit seiner Gesamtausgabe zu Göschen über. Die „Grundsätze, woraus das merkantilische Verhältnis zwischen Schriftsteller und Verleger bestimmt wird", die er 1791 in dem sich daraufhin ergebenden, durch mehrere Instanzen bis 1796 sich hinziehenden Prozeß zwischen beiden Verlagen formulierte, markieren deutlich das neue Selbstverständnis der Autoren zu jener Zeit. Am realistischsten sah S c h i l l e r die risikoreiche Aufgabe des Verlages, des Buchhandels insgesamt im literar. Vermittlungsprozeß, er hatte allerdings schon in Crusius und Göschen verständnisvolle, vor allem dann in Cotta einen ihm entsprechenden Verleger gefunden. Er wußte, daß „die Verbreitung eines Buches durch die Welt" kein „geringeres Genie" erfordere „als die Verfertigung desselben". Dieser Realismus war

es, der ihn für Goethe als Vermittler so unentbehrlich machte. G o e t h e , obwohl zunächst von einer merkwürdigen Publikationsscheu erfüllt und sich bis 1774 in Anonymität verbergend, war sich aber bald seines Wertes, wie Schiller sagte, voll bewußt, war auf Großzügigkeit seines Verlegers angewiesen, war aber selbst nicht bereit, sich von den „merkantilischen" Bedingungen der Verbreitung von Büchern eine klare Vorstellung zu machen. Einen seinen Ansprüchen genügenden Partner fand er schließlich in C o t t a , doch zeigt noch die Vorgeschichte seiner Werkausgabe 'letzter Hand' (1827), für die er als einziger dt. Autor Privilegien von allen dt. Bundesstaaten zu erhalten verstand, seine unrealistische Einschätzung der realen Situation. Wie schwierig es sein konnte, die richtige verlegerische Verbindung zu finden, erlebte z. B. J e a n Paul - eine Darstellung seiner auch unter dem rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkt wichtigen Verlagsbeziehungen fehlt noch - : nachdem der Berliner Verleger Matzdorff, den ihm nach mehreren anderen Versuchen Karl Philipp Moritz vermittelt, den Jean Paul aber nie geschätzt hatte, seinen Verlag aufgegeben hatte, erschienen seine Werke bei verschiedenen Verlagen, die meisten bei Cotta, die 65bändige Gesamtausgabe jedoch (ab 1826) bei Reimer in Berlin, da Cotta des Risikos wegen Skrupel hatte. Immer deutlicher zeigte sich, von welcher manchmal schicksalhaften Bedeutung die persönliche Stellung des Verlegers zum Autor und seinem Werk nun sein konnte. Das läßt sich wiederum an Cotta, etwa in seiner Beziehung zu Kleist oder auch in dem bekannten Romantikerstreit, der z . T . in Cottas Morgenblatt ausgefochten wurde, beobachten. Von B r o c k h a u s stammt später das selbstbewußte Wort, er glaube, daß die dt. Lit. eher seiner als er ihrer bedürfe. f) Jedoch gehörte nicht nur Cotta, sondern schon Georg Joachim G ö s c h e n (1757-1828) in Leipzig zu den prototypisch wirkenden Verlegern in den Jahrzehnten um die Jh.wende. Seine breite geisteswissenschaftlich-literar. Verlagsproduktion war zwar mehr noch der Mentalität des nun vergehenden Jh.s als der kommenden Zeit zugewandt, Goethe, Schiller konnte er als Autoren nicht halten, aber seine große Wieland-Ausgabe (in vier verschiedenen, jeweils eigens gesetzten Ausgaben gleichzeitig erschienen, davon die einfachste so billig, daß „jeder Ladendiener" sie sich sollte erwerben

Verlagsbuchhandel k ö n n e n ) und seine K l o p s t o c k - A u s g a b e - die ersten Gesamtausgaben in unserer Lit. - gehören zu den literatur- und buchgeschichtl. M o numentalereignissen des J h . s . In G ö s c h e n lebte etwas vom kunsthandwerklichen Geist der frühen Drucker-Verleger. N e b e n Immanuel B r e i t k o p f gehörte er zu den ersten, die die stark gesunkene B u c h k u l t u r zu heben begannen. E r errichtete selbst Pressen, ließ Schriften schneiden, legte auf guten Satz wie auf fehlerlosen D r u c k größten W e r t . A b e r er war auch für den Berufsstand eifrig tätig, seine Gedanken über den Buchhandel wirkten stark. G ö s c h e n empfand oft mit Bitterkeit, daß er z. T . im Schatten des jüngeren J o h a n n Friedrich C o t t a ( 1 7 6 4 - 1 8 3 2 ) stand, des eindeutig dominierenden Verlegers seiner Zeit. C o t t a war ein vielseitiger U n t e r n e h m e r großen Stils, dazu als Liberaler politisch stark engagiert. Seine belletristische P r o d u k t i o n war nur ein Teil seines Verlags, und sein Verlag war nur ein Teil, wenngleich der wichtigste, seines Imperiums. Entscheidend für den Aufstieg seines Verlags war seine Beziehung zu Schiller, die schattenlos blieb bis zum Schluß. D a ß sein Verhältnis zu G o e t h e manchmal bis zum äußersten strapaziert wurde, lag nicht an C o t t a . E n g war auch sein Verhältnis zu Schelling. N i c h t wenige dt. Gelehrte, Schriftsteller und Künstler recht verschiedener A r t wurden von C o t t a mäzenatisch und o h n e Spekulation auf G e w i n n gefördert. Dieser Kapitalist stand unter dem G e s e t z der M o r a l : er habe kein B u c h veröffentlicht, das er nicht voll verantworten könne. Sein Verlag glich einem Magnetfeld mit weitreichender Anziehungskraft. In Fragen der äußeren Buchgestaltung dachte er schwäbischnüchtern: seine G o e t h e - A u s g a b e n sind mit G ö s c h e n s Gesamtausgaben nicht vergleichbar. U m berufsständische Fragen kümmerte er sich wenig, aber auf dem Wiener K o n g r e ß 1815 vertrat er die nationalen Interessen des B u c h handels mit Zähigkeit und N a c h d r u c k . Friedrich P e r t h e s ( 1 7 7 2 - 1 8 4 3 ) , einfachsten H e r k o m m e n s , zunächst der erste moderne „ r e i n e " Sortimenter in H a m b u r g , später „ r e i n e r " Verleger in G o t h a , ist ein Beispiel für die Möglichkeit großen geschäftlichen Erfolges und starker Verleger. W i r k u n g aus innerstem idealistischen Antrieb heraus. Perthes, durch die Erneuerungsbewegung zur Napoleonischen Zeit geprägt, war reiner Gesinnungsverleger o h n e kapitalist. Einschlag. Seine Briefe an seine A u t o r e n - H i s t o r i k e r , Politiker, T h e o l o g e n vor

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allem - sind von ungewöhnlicher Eindringlichkeit; er war ein Mann des W o r t e s . M i t leidenschaftlicher Uberzeugungskraft vertrat er dessen R a t K ö n i g e und Minister erbaten - die N o t w e n d i g k e i t des Buchhandels als einer nationalen Institution. D e r heraufkommenden Zeit des nüchternen Realismus stand er ablehnend gegenüber. Zu a) Rudolf J e n t z s c h , Der dt.-lat. Büchermarkt nach d. Leipziger Ostermeß-Katalogen von 1740,1770 und 1800 in s. Gliederung ». Wandlung (1912; Beitr. z. Kultur- u. Universaigesch. 22). Hans-Joachim K o p p i t z , Zur Bibliographie d. dt. Buchproduktion d. 18.Jh.s. Zs. f. Biblw. u. Bibliogr. 9 (1962) S. 18-30. Helmut K n u f m a n n , Das dt. Übersetzungswesen d. 18. Jh.s im Spiegel von Übersetzer- u. Herausgebervorreden. AGB 9 (1969) Sp. 491-572. Hans W i d m a n n , Zur Gesch. d. Autorenhonorars, in: Das wiss. Buch, hg. v. Peter Meyer-Dohm (1969; Sehr. z. Buchmarktfschg. 16) S. 69-84. Herbert G. G ö p f e r t , Korreferat: Zur Geschichte des Autorenhonorars. Ebda, S. 85-94, wiederh. in: Göpfert, Vom Autor . . ., S. 155-164. Rolf E n g e l s i n g , Die Perioden d. Lesergeschichte in d. Neuzeit. Das statist. Ausmaß u. d. soziokulturelle Bedeutung d. Lektüre. AGB 10 (1970) Sp. 945-1002. Klaus D o d e r e r u. Helmut M ü l l e r (Hg.), Das Bilderbuch. Gesch. u. Entw. d. Bilderbuchs in Deutschland von d. Anfängen bis z. Gegenw. (1973). Jochen G r e v e , Grundzüge e. Sozialgesch. d. Lesens u. d. Lesekultur, in: Lesen. E. Handbuch. Hg. v. Alfred Clemens Baumgartner (1973) S. 117-133. Marlies P r ü s e n e r , Lesegesellschaften im 18. Jh. E. Beitr. z. Lesergesch. AGB 13 (1973) Sp. 369-549. Wolfgang M a r t e n s , Leserezepte fürs Frauenzimmer. Die Frauenzimmerbibliotheken d. dt. 'Moralischen Wochenschriften'. AGB 15 (1975) Sp. 1143-1200. Daniel S p e i c h , Une société de lecture à la fin du 18? et au début au 19 siècle: La 'Allgemeine Lesegesellschaft' de Bâle, 1787-1832. Thèse lettre Bâle 1975. Klaus D o d e r e r u. Helmut M ü l l e r , Kinderbücher u. Jugendschriften, in: Buchkunst u. Lit. in Deutschland 17501850. Hg. v. Ernst L. Hauswedell u. Christian Voigt (1977; Maximilian-Ges., Jahresgabe 1974/ 1975), Bd. 1, S. 196-249; Bd. 2, S. 141-160. Marlies P r ü s e n e r u. Herbert G. G ö p f e r t , Lesegesellschaften. Ebda, Bd. 1, S. 285-303. Paul R a a b e , Zeitschriften u. Almanache. Ebda, Bd. 1, S. 145-195; Bd. 2, S. 107-140. Jörn G ö r e s (Hg.), Lesewuth, Raubdruck u. Bücherluxus. Das Buch in d. Goethe-Zeit. E. Ausstellung d. Goethe-Museums Düsseldorf. Katalog (1977). Helmuth K i e s e l u. Paul M ü n c h , Gesellschaft u. Lit. im 18. Jh. Voraussetzungen u. Entstehung d. literar. Markts in Deutschland (1977; Beck'sche Elementarbücher 42). Wolfgang v. U n g e r n - S t e r n b e r g ,

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Verlagsbuchhandel

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Verlagsbuchhandel Börsenbl. f. d. D t . Buchhandel, Frankf. Ausg. 21. 4. 1972, S. 7 5 6 - 7 6 5 .

§ 6. Die Entwicklung des Verlagsbuchhandels im 19. J a h r h u n d e r t ist vor allem durch organisatorische, juristische, technische, gesellschaftliche und polit. Ereignisse bestimmt. a) Die seinerzeit von Reich in Gang gesetzte, seitdem nie verstummte Debatte um eine o r g a n i s a t o r i s c h e Z u s a m m e n f a s s u n g des Buchhandels, und zwar sowohl des herstellenden wie des verbreitenden, führte schließlich 1825 zur Gründung des „Börsenvereins der Deutschen Buchhändler" in Leipzig, einer länderübergreifenden Organisation noch vor dem „Deutschen Zollverein". Perthes war an dieser Gründung maßgebend beteiligt. Diese zunächst auf den zweimal jährlich während der Messen in der Buchhändlerbörse stattfindenden Abrechnungen aufbauende Organisation gewann bei raschem Wachstum bald zusätzliche Bedeutung: für die Diskussion von Berufsfragen überhaupt, für die Ausbildung des Nachwuchses, für die Behandlung von Rechtsund Wirtschaftsfragen mit den Regierungen des Deutschen Bundes, später des Reiches. In dem Ansehen, das der Börsenverein gewann, zeigte sich, daß man in ihm den Vertreter eines Wirtschaftszweigs besonderer Art sah und respektierte. Gegen Ende des Jh.s hatte der Börsenverein, zu dessen Vorständen jeweils die führenden Köpfe des Buchhandels gehörten und dem auch viele ausländische Firmen sich anschlössen, soviel Autorität gewonnen, daß er 1888 unter dem damaligen Inhaber der Cottaschen Verlagsbuchhandlung, Adolph Kröner, gegen die sogenannte „Preisschleuderei" (Rabattgewährung an Kunden), welche die gleichmäßige Vermittlungsfunktion des Buchhandels ernstlich gefährdete, eine für alle seine Mitglieder bei Strafe des Ausschlusses verbindliche „Verkehrs- und Verkaufsordnung" erlassen konnte. Seitdem ist - trotz eines innerorganisatorisch anderen Modus - bis heute ein einheitlicher Ladenpreis für alle Bücher an allen Orten gewährleistet. Zu einer berufsständischen Organisation fanden im 19. J h . auch die A u t o r e n . Erstmals im Leipziger Literatenverein von 1840, später in mehreren, z . T . konkurrierenden Vereinigungen forderten sie, zuerst zusammen mit den Verlegern, vor allem Zensurfreiheit, später, z. T . in Auseinandersetzung mit den Verlegern,

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vor allem prinzipielle Gleichheit der Honorierungsweise, der Verlagsverträge usw. b) Z e n s u r f r e i h e i t und Sicherstellung der R e c h t e d e r S c h r i f t s t e l l e r und V e r l e g e r waren die Forderungen gewesen, welche die Buchhändlerdeputation - mit Cotta - seit 1814 auf dem Wiener Kongreß zu vertreten hatte. Sie erreichte die Aufnahme einer Bestimmung in die Bundesacte vom 8. Juni 1815, daß die Bundesversammlung (von Gesandten aller dt. Staaten in Frankfurt/Main) sich bei ihrer ersten Zusammenkunft mit der Abfassung diesbezüglicher „gleichförmiger Verfügungen" beschäftigen solle. Durch die nach der Ermordung Kotzebues erlassenen Karlsbader Beschlüsse von 1819 wurde jedoch die Zensur verschärft und mußte in den Ländern, die sie schon aufgehoben hatten, wie z . B . Sachsen-WeimarEisenach, wieder eingeführt werden. Durch das Verbot der Schriften des „Jungen Deutschland" (s.d.) von 1835 wurden die Zensurbestimmungen weiter verschärft, auch das Jahr 1848 brachte nur eine vorübergehende Erleichterung, erst mit der Reichsgründung 1871 wurde die Zensur prinzipiell abgeschafft (s. Zensur). Die Verleger wurden durch die Zensur in schwierige Situationen gebracht; wie sie die Bestimmungen zu umgehen suchten, zeigt u. a. die Taktik Julius Campes zur Durchsetzung der Werke Heines, ähnliches gilt für manche Leipziger Verleger wie z . B . Brockhaus und Wigand. Auch die Regelung der Urheber- und Verlagsrechtsfragen ließ länger auf sich warten. In den vielen, oft kleinlichen Bundestagsverhandlungen, die lange von Württemberg verzögert wurden, ergriff mehrmals Preußen energisch die Führung, auch der Börsenverein griff ein. Schließlich (Einzelheiten s. Widmann 1975, 151-153) wurde am 19. Juni 1845 eine 30jähr. S c h u t z f r i s t gegen Nachdruck nach dem Tod des Verfassers für das Bundesgebiet festgelegt; Werke der Autoren, die am 9. November 1837 nicht mehr am Leben gewesen waren, also der „Klassiker", sollten bis 9. November 1867 geschützt sein. 1870 erließ der Norddeutsche Bund ein Urheberrechtsgesetz, das 1871 Reichsgesetz wurde. Seitdem ist das Urheberrecht mehrfach geändert und ergänzt, für die Bundesrepublik Deutschland sowie für die D D R jeweils neu gefaßt worden, seit 1966 beträgt die Schutzfrist in der Bundesrepublik 70, in der D D R beträgt sie nur 50 Jahre nach dem Tod des Autors. 1902 kam ergänzend das

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Gesetz über das Verlagsrecht hinzu. Nach verschiedenen Einzelvereinbarungen wurde 1886 die erste internationale „Berner Ubereinkunft zum Schutz von Werken der Lit. und Kunst" unterzeichnet, die ebenfalls mehrfach revidiert, durch andere Vereinbarungen ergänzt wurde und jetzt in der Stockholmer Fassung von 1967 gilt. Das Ende des sogenannten „ewigen Verlagsrechts" 1867 hatte eine große Zahl von Klassiker-Ausgaben, die z . T . durch Kolporteure lieferungsweise vertrieben wurden, zur Folge; noch am 9. November dieses Jahres wurde Reclams Universal-Bibliothek mit Goethes Faust / und II als Nr. 1 und 2 begründet. Verlage vorzugsweise für Klassikerproduktion entstanden. Das bedeutendste und großzügigste Unternehmen stellte Gustav Hempels Nationalbibliothek sämtlicher deutscher Klassiker dar. c) Von den t e c h n i s c h e n E r f i n d u n g e n , die das 19. Jh. kennzeichnen, waren einige für die Entwicklung des Buchhandels von größter Bedeutung. Bis Anfang des 19. Jh.s waren Druck und Buchherstellung trotz mancher Verbesserungen prinzipiell noch auf die Gutenbergsche Weise vor sich gegangen. Die Herstellungskapazität hatte sich nur durch Vermehrung von Herstellungsbetrieben vergrößert, nicht durch Änderung der Herstellungsweise. Als „größte Verbesserung auf dem Gebiet des Buchdrucks" bezeichnete der Direktor der Times in London die Erfindung der Zylinder-Druckpresse (Dampfschnellpresse) durch den Deutschen Friedrich König (1811) und verwendete sie seit 1814. Göschen hatte sie abgelehnt, da sie nicht „schöner" drucke, erst Cotta führte sie in Deutschland ein. 1829 wurde die Papierstereotypie erfunden, die sich vor allem der Verlag Tauchnitz für seine billigen Klassikerausgaben zunutze machte. 1838 erfand der Amerikaner Bruce die Handgießmaschine, 1862 ein Engländer die Komplettgießmaschine zur sehr raschen Herstellung gebrauchsfertiger Typen. 1851 wurde eine Falzmaschine, 1884 - von Mergenthaler die Setzmaschine, 1885 die Fadenheftmaschine erfunden. Nachdem schon 1799 ein Franzose die Langsiebpapiermaschine erfunden hatte, mit der endlose Papierbahnen hergestellt werden konnten, wurde 1844 durch die Verwendung von Holzschliff zur Papierherstellung endlich die besonders seit der Produktionssteigerung im 18. Jh. immer fühlbarer

gewordene Papierknappheit weitgehend behoben, völlig beseitigt wurde dieser Engpaß durch die Gewinnung des Holzzellstoffs in den 60er Jahren. Der Stahlstich (1820) als vielverwendetes Tiefdruckverfahren, die Lithographie (Senefelder), später die Galvanoplastik, die Daguerrotypie, das Strichätzungsverfahren, der Lichtdruck, die Autotypie ermöglichten bildliche Reproduktionen in bisher ungeahnter Vielfalt in Büchern und vor allem in Zeitschriften. Erst durch all diese technischen Erfindungen waren die Voraussetzungen für M a s s e n p r o d u k t i o n und damit für die Verbilligung von Druckwerken gegeben. Die Zahl der Titel im Meßkatalog stieg von den 3906 im Jahr 1800 auf 10 808 im Jahr 1840. Ein neues Zeitalter später sprach man von der „Demokratisierung des Buches" - hatte begonnen. Allerdings entstand durch die derart fortschreitende, teure Technisierung auch ein erheblich stärkerer Produktionszwang, die Maschinen durften nicht stillstehen. Zur Bedarfsdeckung kam die Bedarfsweckung. d) Die zunehmende Industrialisierung mit ihren tiefgreifenden sozialgeschichtlichen Folgen, die starke Bevölkerungszunahme im 19. Jh. (1848: 33 Millionen, 1886: 45 Millionen), die günstigen neuen Verkehrsverbindungen durch die Eisenbahn, der Ausbau des Schulwesens, die Verbilligung von Fracht und Post, das stark anwachsende Bedürfnis immer breiterer Volkskreise nach Teilhabe an Bildung, später die Volksbücherei-, Arbeiterbildungs-, Lesehallenbewegungen, der Ausbau der Leihbibliotheken - all das bewirkte neben der raschen Steigerung der Titelproduktion auch die der Auflagenhöhen von Büchern. Unter der Devise „Bildung macht frei" eröffnete z . B . Joseph M e y e r 1826 in Gotha sein „Bibliographisches Institut" (später in Hildburghausen, dann in Leipzig), in dem er u. a. die Miniaturbibliothek der deutschen Klassiker erscheinen ließ, von Konkurrenten verächtlich „ZweiGroschen-Bibliothek" genannt. Er arbeitete mit den neuesten technischen Mitteln und ungewohnten geschäftlichen Methoden, die moderne Buchwerbung beginnt mit ihm. Wie mancher andere Verleger seiner Zeit kam er wegen seiner liberalen Überzeugung mit der Zensur in Konflikt, so auch Ernst Keil in Leipzig, später der Begründer der Gartenlaube, die es von 1853 bis 1875 auf eine Auflage von 382000 Exemplaren brachte. Viele ähn-

Verlagsbuchhandel liehe, auch anspruchsvollere Zeitschriften folgten, z . T . mit großem geschäftlichen Erfolg, etwa bei Hallberger in Stuttgart; eine dieser Zeitschriften, Westermanns Monatshefte, besteht heute noch. Nach Reclams Universalbibliothek, deren Einzelbändchen 20 Pfennig kosteten, brachte das Bibliographische Institut später in Meyers Groschen-Bibliothek Bändchen gleichen Umfangs zu 10 Pfennigen heraus - insgesamt entsteht eine Fülle speziell literar. Buchreihen mit z . T . sehr hohen Auflagen, freilich mit qualitativ unterschiedlicher Produktion, z . T . mit vielen Übersetzungen der ja lange Zeit honorarfrei zu erwerbenden ausländischen Literatur. Hingegen hatte es die anspruchsvollere zeitgenöss. dt. belletristische Lit. schwerer. Hier betrugen die Erstauflagen z . B . von Romanen auch schon bekannter Autoren noch bis Ende des Jh.s selten mehr als 1000, häufig nur um 800 Exemplare. Die sichersten Käufer, auf die sich die Verlage in ihrer Kalkulation in erster Linie stützten, waren die Leihbibliotheken, deren Bedeutung im literar. Leben bis um 1900 kaum überschätzt werden kann. Die Zahl der von privaten Bücherkäufern über die Sortimente erworbenen Exemplare war oft nicht größer als die von Leihbibliotheken bestellten. Für die Autoren spielte jedoch — das war ein Novum - der oft sehr gut honorierte Vorabdruck ihrer Werke in den zahlreichen Familienzeitschriften etwa von der Mitte des J h . s an wirtschaftlich eine große Rolle. Die meisten Werke von Fontane, Heyse, Spielhagen, Storm u. a. sind zuerst auf diese Weise, also auch in hohen Auflagen erschienen. Nur selten erschien anspruchsvollere Lit. in der lange Zeit existierenden Romanzeitung-, die für Deutschland typische Abwertung des Unterhaltungsromans macht sich bemerkbar. Diese Produktion in Büchern und Zeitschriften wurde hervorgebracht von einer ständig wachsenden Zahl von S c h r i f t s t e l l e r n . Nach amtlichen Angaben soll es 1882 nicht weniger als 19380 angeblich hauptberufliche Schriftsteller gegeben haben, zweifellos wie heute noch - überwiegend Zweck- und Gebrauchsschriftsteller. Gute Einblicke in den normalen Lit.betrieb der zweiten Hälfte des 19. J h . s geben B r i e f e v o n A u t o r e n - die Gegenbriefe sind nicht erhalten - an Hermann C o s t e n o b l e in Jena, einen Verleger durchaus mittlerer Qualität. Während Friedrich G e r s t ä c k e r mit welter-

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fahrener Bestimmtheit seine umfangreiche Produktion im wesentlichen nach seinen Wünschen zu gestalten und zu plazieren vermag, ist Friedrich von B o d e n s t e d t ein Beispiel für einen Autor, der einmal (mit Mirza-Schaffy) einen sensationellen Erfolg gehabt hat, der mit seinen weiteren Werken aber die Erwartungen des Verlegers enttäuschte. Karl G u t z k o w hingegen ist das deprimierende Beispiel eines verbissen und verbittert produzierenden Autors, der sich überlebt hat und dem keine Werbebemühungen mehr zum Erfolg verhelfen können. Anders die Situation des Berliner Verlegers Wilhelm H e r t z und seiner Autoren im gleichen Zeitraum, von denen Briefe und Gegenbriefe erhalten sind. Hertz betreute u.a. das Werk Paul H e y s e s , der sich bald zu einem Erfolgsautor entwickelte und der seinem Verleger freundschaftlich verbunden war. Komplizierter war die Beziehung zu Theodor F o n t a n e , dessen frühe Werke, vor allem die erfolgreichen Wanderungen (bis 1881), bei Hertz erschienen, während von dem für Hertz thematisch wohl zu riskanten Roman L'Adultera an der Dichter bei wechselnden Verlegern publizieren mußte, bis er mit seinen letzten Büchern bei seinem Sohn verlegerische Heimat fand. Hingegen war es Wilhelm Hertz, der als vierter Verleger Gottfried K e l l e r s diesem Autor von 1882, dem Sinngedicht an, endlich zum Durchbruch beim Publikum verhalf. Problemlos hingegen verlief die Verlagsgeschichte von Kellers Landsmann Conrad Ferdinand M e y e r , der für sein gesamtes Werk in Hermann H a e s s e l in Leipzig einen verständnisvollen Verleger gefunden hatte. e) Eine neue revolutionäre literar. Bewegung wie der N a t u r a l i s m u s (s.d.) konnte in dem bürgerlich konsolidierten Verlagswesen keine Betreuung finden. Hier waren es zunächst Wilhelm Friedrich in Leipzig, dann S. Fischer in Berlin, die sich mit Uberzeugung zu Vermittlern machten. S. Fischer bezeichnete es einmal als eine Aufgabe, den Lesern Bücher aufzudrängen, die sie nicht haben wollten. Während Wilhelm F r i e d r i c h seinen um das alte Magazin für die Literatur des In- und Auslands gruppierten Verlag in den 90er Jahren aufgab, baute S. F i s c h e r sein Unternehmen zu einem bis in die 20er Jahre des 20. Jh.s führenden Verlag für moderne Lit. aus,

mit der Freien Bühne (später Neue

Rundschau)

als neuem ausstrahlungskräftigen Periodikum.

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Sein Verlag wurde auf eine derart bisher noch nicht dagewesene Weise zu einem Sammelpunkt einander verwandter Persönlichkeiten. Als spezifisch literar. Verlag stellte er - wie andere in dieser Zeit - eine neue, vor allem in Deutschland zu findende Sonderform dar, die sich im Unterschied zu den bisher üblichen recht breit gestreuten Verlagsproduktionen weitgehend auf Belletristik beschränkte. Diese durch die dt. Bildungsgeschichte und entsprechende soziale Voraussetzungen bedingte Verlagsform ist (abgesehen von „Kleinen Verlagen") nach 1945 vor allem durch Einbeziehung wiss. Disziplinen in die Produktion weitgehend wieder verschwunden. U m die Jh.wende wurden mit z . T . unterschiedlichen Zielgruppen als literar. Verlage gegründet u. a. Schuster & Löffler, der aus diesem hervorgegangene Insel Verlag, Meyer & Jessen, Eugen Diederichs, Albert Langen, Georg Müller. Eine Sonderstellung nahm der Verlag von Georg Bondi ein, der allein den Werken von Stefan George und den von diesem gebilligten Büchern von Autoren aus dem Kreis um die Blätter für die Kunst vorbehalten war. Zu a) Friedr. Joh. Frommann, Gesch. d. Börsen-Vereins d. Dt. Buchhändler (1875; Publ. d. Börsen-Ver. d. Dt. Buchh. 3.) August Schürmann, Organisation u. Rechtsgewohnheiten d. dt. Buchhandels. 2 Tie (1880-1881). Ders., Die Rechtsverhältnisse d. Autoren u. Verleger sachlich-historisch (1889). Ders., Der dt. Buchhandel d. Neuzeit u. s. Krisis (1895). Die Reformbewegung im Dt. Buchhandel 1878-1889, hg. v. Vorstand d. Börsenvereins d. Dt. Buchhändler. 2 Bde (1908-1909; Publ. d. Börsenver. d. Dt Buchhändler 11.12). Friedr. Schulze, Der dt. Buchhandel u. d. geistigen Strömungen d. letzten hundert Jahre (1925). Rud. Wilh. Balzer, Aus d. Anfängen schriftsteiler. Interessenverbände. Joseph Kürschner: Autor - Funktionär - Verleger. AGB 16 (1976) Sp. 1457-1648. Wolfgang Steegers, Der Leipziger Literatenverein von 1840. Die erste dt. berufsständ. Schriftstellerorganisation. AGB 19 (1978) Sp. 225-257. Zu b) August Schürmann, Die Arbeiterbewegung u. d. Buchhandel, in: Ges. Aufsätze u. Mittheilungen aus d. Börsenblatt f. d. Dt. Buchhandel (1875; Publ. d. Börsenver. d. Dt. Buchh. 2) S. 148-165. Albert Last, Die Schäden in d. literar. Production Deutschlands. Vortrag (Wien 1879). Samuel Lublinski, Litteratur u. Gesellschaft im 19. Jh. 4 Bde (1899-1900; Am Ende d. Jh.s 12, 13, 16, 17). C. P. Magill, The Development of the Reading Public in Germany Düring the Period 1840-1848. (Masch.) Diss. London

Univ. College 1938. Reinhard Wittmann, Das literar. Leben 1848-1880, in: Realismus u. Gründerzeit. Hg. v. Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger, Reinhard Wittmann. 2 Bde (19751976), Bd. 1, S. 161-257, 292-308; Bd. 2, S. 585683 (Dokumente). Ronald A. Fullerton, The Development of the German Book Market 1815-1888. (Masch.) Diss. Univ. of Wisconsin, Mad. 1975. Edda Ziegler, Julius Campe. Der Verleger Heinrich Heines (1976). Georg Jäger, Die dt. Leihbibliothek im 19. Jh. IASL 2 (1977) S. 96-133. — Eugen Ulmer (Hg.), Urheber- u. Verlagsrecht mit d. intern. Verträgen, d. Recht Österreichs, d. Schweiz u. d. Dt. Demokr. Republik (5. Aufl. 1974; Beck'sche Textausgaben 676). Birgit Sippel-Amon, Die Auswirkungen d. Beendigung d. sog. ewigen Verlagsrechts am 9. 11. 1867 auf d. Edition dt. 'Klassiker'. AGB 14 (1974) Sp. 341-416. Zu c) Claus W. Gerhardt, Beiträge z. Technikgesch. d. Buchwesens. Kleine Schriften 1969-1976 (1976; Kl. Druck d. Gutenberg-Ges. 101). Zu d) Franz J a h n , Der dt. Kolportagebuchhandel (1928). Eva D. Becker, ,,Zeitungen sind doch das Beste". Bürgerl. Realisten u. d. Vorabdruck ihrer Werke in d. periodischen Presse, in: Gestaltungsgesch. u. Gesellschaftsgesch., Fritz Martini z. 60. Geb., hg. v. Helmut Kreuzer (1969) S. 382-408. Rudolf Schenda, Tausend dt. populäre Drucke aus d. 19. Jh. AGB 11 (1971) Sp. 1465-1652. Dieter Barth, Das Familienblatt - e. Phänomen d. Unterhaltungspresse d. 19. Jh.s. Beispiele z. Gründungs- u. Verlagsgesch. AGB 15 (1975) Sp. 121-316. — Heinz Sarkowski, Das Bibliographische Institut. Verlagsgesch. u. Bibliographie. 1826-1976. Die Mannheimer Zeit wurde beschrieben v. Michael Wegner (1976). Aus d. Tagebüchern v. Heinrich Brockhaus. 5 Bde (1884-1887). Heinr. Ed. Brockhaus, Die Firma F. A. Brockhaus . . . 1805-1905 (1905). J. U. Hebsaker (Hg.), Rückblick f . d. Zukunft. Berichte . . . z. 150. Geb. d. Ensslin-Verlages (1968). Bernhard Wendt, E. Beitr. 2. politisch-religiösen Glaubensbekenntnis Ernst Keils, d. Gründers d. Familienblattes 'Die Gartenlaube'. AGB 13 (1973) Sp. 1639-1648. Wolfgang Berg, Der poet. Verlag d. J. G. Cottaschen Buchhandlung unter Georg v. Cotta, 1833-1863. AGB 2 (1960) Sp. 609-715. Annemarie Meiner, Reclam. E. Gesch. d. UniversalBibl. zu ihrem 75jähr. Bestehen (1942; ReclamUB 7539/7540). Dies., Reclam. Gesch. e. Verlages (1958; ReclamUB 8300). Reclam. 100 Jahre Universalbibliothek. E. Almanach (1967). Dietrich Bode (Hg.), 150 Jahre Reclam. Daten, Bilder u. Dokumente z. Verlagsgesch. 1828-1978 (1978). Hundertfünfundzwanzig Jahre Rütten & Lcening 1844-1969. E. Almanach (1969). HansHenning G r o t e u. Lieselotte Piepenbrinck,

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Georg Westermann 1810-1879. Persönlichkeit u. Werk. Ausstellungskat. (1977; Veröff. d. Braunschweig. Landesmuseums 13). Karl G u t z k o w , Briefe an Hermann Costenoble, hg. v. William H . McClain u. Lieselotte E. Kurt-Voigt. A G B 13 (1973) Sp. 1-236. Gerh. F r i e s e n , Karl Gutzkow u. d. Buchhandel: Zu s. Auffassung v. Schriftstellerberuf u. s. Honoraren. A G B 19 (1978) Sp. 1493-1616. Friedr. G e r s t ä c k e r , Briefe an Hermann Costenoble, hg. v. William H. McClain u. Lieselotte E. Kurt-Voigt. A G B 14 (1974) Sp. 1053-1210. Friedr. B o d e n s t e d t , Briefe an Hermann Costenoble, hg. v. dens. A G B 18 (1978) Sp. 799-962. Theodor F o n t a n e , Briefe an Wilhelm u. Hans Hertz 1859-1898, hg. v. Kurt Schreinert, vollendet u.m.e. Einf. vers. v. Gerhard Hay (1972). Michael D a v i d i s , Der Verlag von Wilhelm Hertz. Beiträge . . . inshes. z. Verlagsgesch. v. Paul Heyse, Theodor Fontane u. Gottfried Keller. A G B (in Vorher.) Zu e) Walter H a s e n c l e v e r (Hg.), Dichter u. Verleger., Briefe v. Wilh. Friedrich an Detlev v. Liliencron (1914). Ernst J o h a n n , Die dt. Buchverlage d. Naturalismus u. d. Neuromantik (1935; Lit. u. Leben. 7). Wolfgang G r o t h , Die 'Neue Rundschau' d. Verlages S. Fischer. E. Beitr. z. Publizistik u. Lit.gesch. d. Jahre v. 1890 bis 1925. A G B 4 (1963) Sp. 809-996. Peter de M e n d e l s s o h n , S. Fischer u.s. Verlag (1970). Manfred H e l l g e , Der Verleger Wilh. Friedrich u. d. 'Magazin f. d. Lit. d. In- u. Auslandes'. A G B 16 (1977) Sp. 791-1216 (auch als Sonderausg.).

und dem Briefwechsel Reinhard Pipers deutlich. Der E r s t e W e l t k r i e g brachte einen starken Rückgang der im Jahre 1913 auf 35078 angewachsenen Buchproduktion, die Erschütterungen nach dem Krieg verlangten vor allem in der Inflationszeit bewegliches Reagieren des Verlegers auf den ständig zunehmenden Geldwertverfall. Schon seit langem andauernde Auseinandersetzungen zwischen dem seit 1886 im „Deutschen Verlegerverein" zusammengeschlossenen Teil des herstellenden und den in der 1916 gegründeten „Buchhändlergilde" vereinigten Angehörigen des verbreitenden Buchhandels wurden 1928, in der Zeit einer allgemein empfundenen „Bücherkrise" innerhalb des Börsenvereins beigelegt. Um eine zeitgemäße innere Besinnung des Buchhandels auf seine Grundaufgaben war Eugen Diederichs bemüht, der eine von Idealismus getragene „Jungbuchhändlerbewegung" ins Leben rief. Die Lit. der 20er Jahre fand zum Teil eine Heimat bei Berliner Verlegern wie Ernst Rowohlt, Gustav Kiepenheuer (früher Weimar), Bruno Cassirer. Unter den verschiedenen jetzt stärker zur Geltung kommenden „linken" Verlagen kommt unter literar. Gesichtspunkt dem während des Ersten Weltkriegs mit List gegründeten Malik-Verlag mit seiner internationalen Produktion besondere Bedeutung zu.

§ 7. a) In verschärfter Form zeigte sich die Kontrastierung einer neuen literar. Bewegung mit den herkömmlichen, auf bestimmte Leserkreise ausgerichteten literar. Vermittlungsinstanzen zu Beginn des 20. J a h r h u n d e r t s beim E x p r e s s i o n i s m u s . Diese mit der Tradition brechende künstlerisch-weltanschauliche und z . T . auch polit. Bewegung schuf sich um die Zeitschriften Sturm (hg. v. Herwarth Waiden) und Die Aktion (hg. v. Franz Pfemfert), beide in Berlin, ihre eigenen Verlage mit völliger Identifikation von Verleger und Verlagsproduktion. Für andere, kleinere Verlage wie z . B . von Alfred Richard Meyer („Munkepunke") oder Richard Weißbach in Heidelberg gilt das nicht minder; durch allgemeines Interesse an der Lit. seiner Generation hingegen war Kurt Wolff motiviert, der nach Anfängen mehr bibliophiler Art einen repräsentativen Verlag des Expressionismus aufbaute. Welchen Schwierigkeiten sich Verleger expressionist. Lit. und Kunst gegenübersahen, wird auch aus den Erinnerungen

Enge menschliche und geistige Verbindungen kennzeichnen gerade in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. s nicht wenige A u t o r - V e r l e g e r - B e z i e h u n g e n . Das zeigen manche veröffentlichte B r i e f w e c h s e l , so z . B . von Rilke mit Anton Kippenberg, von Kurt Wolff, Reinhard Piper, Eugen Diederichs mit ihren Autoren. Ein einzigartiges Zeugnis enger Zusammenarbeit ist der Briefwechsel zwischen Hermann Broch und Daniel Brodi und Georg Heinrich Meyer; schwierig - auch durch die Exilsituation - war das Verhältnis zwischen Thomas Mann und Gottfried Bermann-Fischer. Zeugnisse von ungewöhnlich hohem menschlichen Rang sind die Briefe Peter Suhrkamps (vor allem an Hermann Hesse), seine eindringlichen Arbeitsbriefe an verschiedene Autoren zeigen den sonst selten dokumentierten Anteil, den ein Verlag an der endgültigen Gestaltung von Manuskripten haben kann. b) Die völlige „ G l e i c h s c h a l t u n g " des B u c h h a n d e l s nach 1933 mit entsprechender Zwangsorganisation machte ein nennenswertes freies Eigenleben unmöglich. Wenn auch nicht,

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wie Thomas Mann einmal sagte, an allen in jenen Jahren produzierten Büchern „ B l u t und Schande" klebte, sondern manche Autoren und Verlage soweit möglich Gegenbilder gegen den herrschenden Unrechtsstaat aufzustellen versuchten - Peter Suhrkamp kam deshalb ins Konzentrationslager - , so konnten alle diese begrenzten Versuche an der Tatsache der indirekt scharf zensierten Buchproduktion, die von der zeitgenöss. Weltlit. kaum Kenntnis nehmen durfte und thematisch wie formal keine Bewegungsfreiheit hatte, nichts ändern. Bemerkenswert ist die Produktion einiger bis 1938 noch im Ghetto arbeitenden jüdischen Verlage, insbesondere des Schocken Verlages in Berlin, in dem unter Aufsicht der staatlichen Organe eine große Anzahl teilweise hochbedeutender Werke in enger Konzentration und damit als unübersehbare Dokumente erschien. Ein erheblicher Teil der Verleger und Buchhändler sah sich zur Emigration gezwungen, die meisten repräsentativen Autoren, also keineswegs nur die jüdischen, waren emigriert. Die dt. Lit. kam zwar in den verschiedenen Ländern des E x i l s unter schwierigsten Bedingungen - vor allem des Buchvertriebs - zu einer erstaunlich reichen Produktion, doch ist die recht unterschiedliche Tätigkeit der Verlage, die von der Verlagskonstruktion herkömmlicher Art ( z . B . Bermann-Fischer) bis zum Autorenverlag (El libro libre, Mexiko) reichte, noch nicht untersucht. Zu einem ungewöhnlichen Ereignis kam es, als sich 1950 Gottfried Bermann-Fischer (nach seiner Rückkehr aus dem Exil) und Peter Suhrkamp, der den S. Fischer-Verlag verwaltet hatte, trennten: die Autoren wurden vor die Wahl gestellt, welchem der beiden Verlage sie in Zukunft angehören wollten. Andererseits zeigte sich, daß Verlagsrechte handelbar sind, nicht wenige Autoren fanden sich nach 1945 in anderen Verlagen als den ursprünglichen; da manche Verlage aus polit. Gründen vorerst oder überhaupt nicht wieder arbeiten durften, gaben sie ihre Verlagsrechte käuflich oder in Lizenz an andere ab. So sind die Jahre 1933 bis 1945 und die Z w e i t e i l u n g D e u t s c h l a n d s auch für den Buchhandel die einschneidendsten und folgenreichsten Ereignisse dieses Jh.s. Erstmals in der dt. Geschichte ist der dt. Buchhandel nicht mehr die Bedingung des Daseins einer dt. Literatur. Wie sich zwei Literaturen in West und O s t zu entwickeln begannen, so mußten

auch z w e i Buchhandelsorganisationen (zwei „Börsenvereine" mit Sitz in Leipzig und Frankfurt/Main) aufgebaut werden. Doch sind im Vergleich mit sonstigen Kontakten, die zwischen den beiden dt. Staaten gestattet werden, die verlegerischen noch verhältnismäßig zahlreich, sowohl was den gegenseitigen Erwerb von Lizenzen für Buchausgaben wie, besonders auf wiss. Gebiet, Koproduktionen angeht. Neben den großenteils „volkseigenen" oder Staatsbetrieben bestehen in der D D R noch einige Privatverlage. Insgesamt ist das Buchhandelswesen stark reglementiert. Jedoch können Autoren hohes „gesellschaftliches" Ansehen genießen, junge Autoren können intensive Förderung erfahren, die auf den jeweiligen Benutzerkreis ausgerichteten, also meist niedrigen Bücherpreise ermöglichen weite Verbreitung von Büchern. (Vgl. Widmann 1975, S. 206-226.) c) Der Buchhandel im 20. J h . ist zudem von einigen Faktoren mitbestimmt worden, die in seiner fünf Jh.e währenden Geschichte neu sind, zwei innerbuchhändlerischen: den Buchgemeinschaften und dem Taschenbuch, und einem außerbuchhändlerischen: dem Aufkommen neuer Medien zur geistigen Kommunikation. Für die Autoren brachte die neu eingeführte Bibliotheksabgabe Honorarverbesserungen. 1. Die B u c h g e m e i n s c h a f t e n haben sich aus der Übertragung des Prinzips von Reproduktionsabonnements der Kunstvereine im 19. Jh. auf die Lit. entwickelt. Die früheste Buchgemeinschaft war der „Allgemeine Verein für deutsche Literatur" von 1873. Der Gedanke, Bücher für finanziell schwache Kreise auf dem Abonnementswege anzubieten, wurde erstmals wohl 1891 in dem aus dem Gedanken der „Arbeiterbildung" hervorgegangenen „Verein für Bücherfreunde" realisiert. Zu größerer Bedeutung kamen die Buchgemeinschaften in der Notzeit der 20er Jahre unseres Jh.s, und zwar sowohl auf gemeinnütziger wie auf kommerzieller Ebene; zu breiten, mehrere Millionen fassenden Massenorganisationen (1967 etwa 39% der Bücherkäufer) wuchsen sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem in der kargen Zeit am Anfang der 50er Jahre an. Zum weitaus größten Teil besteht die Produktion der Buchgemeinschaften aus spürbar verbilligten Lizenzausgaben von gleichzeitig auch im Sortimentsbuchhandel käuflichen Werken. Die Produktion von selbständig

Verlagsbuchhandel entwickelten Büchern ist demgegenüber gering. Nach anfänglich heftigen und lang andauernden Auseinandersetzungen zwischen Buchgemeinschaften und dem herkömmlichen Buchhandel ist die Zusammenarbeit - unter Einhaltung einer gewissen Karenzzeit für Neuerscheinungen bei den Buchgemeinschaften - seit den 60er Jahren unangefochten. 2. Als Vorformen des T a s c h e n b u c h s können Erscheinungen wie Reclams Universalbibliothek im 19. J h . nur sehr bedingt angesehen werden. Die aus den anglo-amerikanischen Ländern stammenden, bei uns erst nach 1945 - wiederum aus zeitbedingten Gründen - sich einbürgernden Taschenbücher enthielten zunächst nur auf Grund von Lizenzen erworbene Werke, sie erschienen in hoher Auflage, einfacher Ausstattung (zuerst als Rotationsdrucke in kleinem Zeitungsformat, „ r o r o r o " ) , zu sehr niedrigem Preis; dieselben Titel waren in gebundener Form gleichzeitig erheblich teurer im Sortiment erhältlich. Im Lauf der Zeit sind die Taschenbuchverleger in starkem Maße zur Eigenproduktion von z. T . anspruchsvollen Werken übergegangen, wenn auch die lizenzpflichtigen Werke noch überwiegen. Während die Buchgemeinschaften für sich geltend machen, daß sie neue Leserschichten erschlössen, werden Taschenbücher im allgemeinen an Interessenten, die Bücher zu kaufen gewohnt sind, oft zusätzlich, verkauft. Gemeinsam ist beiden Institutionen die Notwendigkeit eines sicheren Absatzes relativ hoher Auflagen, also einer starken Risikobeschränkung im Vergleich zum herkömmlichen Verlag. Bücher können also gleichzeitig auf drei Märkten zu verschiedenen Preisen und in verschiedener Ausstattung erworben werden, als normale Sortimentsausgabe, als Taschenbuch und in Buchgemeinschaften: ein Zeichen dafür, daß 1. mit dem Preis eines Buches nicht der Inhalt, sondern fast nur die jeweilige äußere Materialisation des Inhalts und die Vermittlungsorganisation bezahlt wird und daß 2. die jeweilige Präsentationsform desselben Inhalts eines Buches sich an verschiedene Käuferkreise wenden kann oder zumindest unterschiedliche Bedürfnisse erfüllt. 3. Durch das Aufkommen n e u e r M e d i e n : des Films zu Anfang des J h . s , des Rundfunks in den 20er, des Fernsehens in den 50er Jahren (für das gesprochene Wort in recht begrenztem

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Maße seit Ende des vorigen Jh.s der Schallplatte) sind zum ersten Mal Buch und Zeitschrift nicht mehr das einzige Medium zur Vermittlung von Texten an eine große Zahl von Menschen. Von den neuen Medien hat, und zwar von Anfang an, der Sprechfunk die engste Beziehung zur Lit. gehabt, weil in ihm die Lit. zu ihrer ursprünglichen Form, der Mündlichkeit, zurückkehren kann. Nicht nur wurden und werden gedruckte Texte vorgelesen, sehr bald entstand im Hörspiel (s.d.) eine eigene Funkgattung, die sogar im „Hörspielpreis der Kriegsblinden" ihren eigenen Lit.preis hat. Dagegen spielen Film und Fernsehspiel schon quantitativ, aber auch durch die oft sehr starken Umänderungen, welchen die Texte unterworfen werden, eine geringere, in ihrer Wirkung jedoch oft große und gegebenenfalls finanziell eine erhebliche Rolle. 4. Eine seit Ende des 19. Jh.s erhobene Forderung, die in einigen Ländern schon länger praktiziert wird, wurde 1972 in der Bundesrepublik gesetzlich eingeführt, die B i b l i o t h e k s a b g a b e . Sie wird durch die „Verwertungsgesellschaft W o r t " , die schon lange auch die Funkrechte kontrolliert, erhoben und an Verlage und Autoren verteilt; für Autoren wird aus ihr wie aus den Abgaben beim Kauf von Rundfunk-, Kassetten- und Fotokopiergeräten zusätzlich ein Sonderfonds für Alterssicherung von Schriftstellern sowie ein weiterer zur Subventionierung des Drucks anspruchsvoller wiss. Arbeiten gebildet. d) Der große Bedarf vor allem von Presse und Funk an Texten verschiedenster Art sowie die Verwertungsvielfalt literar. Werke im weitesten Sinn hat das k o m m e r z i e l l e M o m e n t im literar. Leben erheblich verstärkt. Es gibt kaum noch ein literar. Buch, dessen Inhalt nicht ganz oder teilweise zusätzlich durch Abdruck in Zeitungen und Zeitschriften, durch Sendung im Funk, durch Erscheinen in einer Buchgemeinschaft, als Taschenbuch, als Sonderausgabe, durch Teilaufnahme in Anthologien und Sammelbände, durch Übersetzungen weiterverwertet wird, oft noch lange über das Vorhandensein einer Originalausgabe hinaus. Wirtschaftlich gesehen, sind die Einnahmen aus diesen und anderen juristisch jeweils genau kodifizierten Verwertungsrechten für Autoren wie für die - oft zur Hälfte der Einnahme - hieran partizipierenden Verlage bei den meisten Büchern erheblich höher und

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dauern oft auch viel länger an als die Einnahmen aus dem Verkauf der regulären Sorti.mentsausgaben, die dennoch immer die Grundlage für jegliche Weiterverwertung bilden. Mancher Erwerb von oft sehr teuren Ubersetzungsrechten ist Verlagen nur möglich, wenn sie von vornherein - also für noch gar nicht vorliegende Ubersetzungen - Verträge mindestens für Buchgemeinschafts- und Taschenbuchausgaben, für die Verwertung der sogenannten „Nebenrechte", abschließen können. Von diesen zusätzlichen Verwertungen, die ursprünglich aus anderen Gründen sich ergeben hatten, lebt heute zum größten Teil „ d i e Literatur": Autoren, Verlage, Sortimente, auch Leser. Daß die audiovisuellen Medien übrigens, wie man befürchtet hatte, das Buch, das Lesen zurückdrängten, läßt sich auf die Dauer nicht feststellen. Nicht nur erweisen demosko-' pische Erhebungen - und zwar in verschiedenen Ländern - das Gegenteil, auch die ständig steigende Zahl der Buchveröffentlichungen 1978 waren es in der Bundesrepublik Deutschland 43 197 - spricht dagegen, wobei allerdings auch die sich ständig verkürzende Arbeitszeit zu berücksichtigen ist. Die A u t o r e n , von denen der größte Teil mehr oder weniger determinierte Gebrauchstexte schreibt, empfinden sich nur bedingt als Frei-Schaffende, sie werden zwar vom Staat durch die Finanzbehörden - als „Unternehm e r " behandelt, sehen sich aber größtenteils in einem arbeitnehmerähnlichen Zustand und haben sich mit der größten der bestehenden Autorenorganisationen, dem „Verband deutscher Schriftsteller" (VS) der Gewerkschaft „ D r u c k und Papier" angeschlossen. Den zunehmenden Zwang des kommerziellen Moments, das durch die seit dem Ende des 19. Jh.s bestehenden und im 20. Jh. in ihrer Bedeutung stark gewachsenen literar. Agenturen im internationalen Rechtevertrieb oft noch verstärkt wird, verspüren vor allem die Verlage. Die im Vergleich mit den sonstigen Kosten disproportional gestiegenen Personalkosten, Reisekosten, das dichter gewordene Vertreternetz, die wesentlich verstärkte Werbung, teure Automatisationen, zunehmender Produktions! zwang zur Aufrechterhaltung des geschäftlichen Apparates haben die Grundlagen der B u c h k a l k u l a t i o n im Vergleich zu früheren Zeiten wesentlich verändert. Wenn noch Cotta bei der Errechnung des Preises, zu dem er die Bücher an die Buchhandlungen abgab, seine

Geschäftsunkosten mit einem minimalen Betrag veranschlagte (manche Verleger vernachlässigten sie rechnerisch überhaupt), so machen sie heute in der Kalkulation dieser Nettopreise oft über 50% aus. All das hat dazu geführt, daß die Größenordnung der Verlage sich verschoben hat. Die sogenannten mittleren Verlage, früher der Hauptteil vor allem der literar. Verlage, können sowohl im internationalen Rechtehandel, aber oft auch bei den Honorarforderungen besonders begehrter dt. Autoren mit den Groß Verlagen kaum konkurrieren. Diese Tatsache (sowie die im Verlagswesen seit je schwierige Nachfolgefrage) hat seit etwa 1960 zu Konzentrationen von Verlagen zu Verlagsgruppen mit unterschiedlichen Organisationsformen geführt. Zwar sind diese Konzentrationsbewegungen in Deutschland noch wesentlich schwächer als in vielen anderen Ländern (wobei die Kartellgesetzgebung eine Rolle spielt), doch expandieren manche Verlage oder Verlagsgruppen seit den 60er und 70er Jahren ins Ausland. Literar. Verlage sind heute häufiger als früher Abteilungen in Verlagen mit anderer weniger konjunkturanfälliger Produktion, etwa von Fachbüchern und Fachzeitschriften mit ihren ertragreichen Anzeigenteilen. Erschwert wird durch die zunehmende Größe der Verlage die individuelle Arbeit am Buch, für das Buch und mit dem Autor. Auch zeigt sich, daß Risikobereitschaft, etwa schwierigen literar. Aufgaben gegenüber, mit der wachsenden Größe von Verlagen oft abnimmt. In zunehmendem Maße haben sich - auch deshalb - k l e i n e V e r l a g e , oft um kleine Zeitschriften, gebildet, oft kurzlebig, für manchen Autor aber ein Sprungbrett in die Öffentlichkeit. Diese sich bewußt von den großen kommerzialisierten Unternehmungen absetzenden Kleinverlage halten eigene Messen ab und haben sich zu einer eigenen Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. Bewußt nur Erstlingswerke, aber keine Bücher arrivierter Autoren verlegte der fast schon zu einer mythischen Gestalt gewordene V. O . Stomps in seiner Rabenpresse in Sansouris im Taunus. Von der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde die fast völlige Umstellung der S a t z - u n d D r u c k v e r f a h r e n seit dem Ende der 60er Jahre auf - bleilosen - Fotosatz und (Offset-) Flachdruckverfahren. Es handelt sich um die erste totale Revolution im Buchdruck seit Gutenberg, die nur deshalb nach außen kaum

Verlagsbuchhandel in Erscheinung tritt, weil sich der Fotosatz nach wie vor der Schriftformen aus der Bleisatzzeit bedient. Technische und ästhetische Unzulänglichkeiten dieser in rasanter Entwicklung befindlichen Neuerungen scheinen bei entsprechenden Bemühungen weitgehend ausgeglichen werden zu können. Die erhebliche Verbilligung dieser Verfahren im Vergleich zum Bleisatz hat die Bücherpreise, für deren Errechnung die Herstellungskosten nur einen Teil, und zwar nur etwa ein Fünftel bis ein Sechstel darstellen, etwas mäßiger ansteigen lassen, als das sonst der Fall gewesen wäre. Jedoch ist außer Zweifel, daß durch die neuen Techniken bereits von der Manuskriptherstellung an für alle Beteiligten sich auch weitere Zwänge sowie infolge der hohen Investitionen für die technischen Betriebe verstärkte Produktionszwänge ergeben. Zu a) Ernst U m l a u f f , Der dt. Buchhandel bis 1930. Europa-Archiv 2 (1947) S. 889-902. H a n s Ferdinand S c h u l z , Das Schicksal d. Bücher u. d. Buchhandels. System e. Vertriebskunde d. Buches (2., stark erw. u. völlig umgearb. Aufl. 1960). Buchhändlergildeblatt 1 ff. (1916/17ff.) — Walter B o r g i u s , Zur Sozialisierung d. Buchwesens (1919). W . G ö b e l , Sozialisierungstendenzen express. Verlage nach d. ersten Weltkrieg. IASL 1 (1976) S. 178-200. — Lutz F r a n z , Die Konzentrationsbewegungen im dt. Buchhandel (1927). Annemarie M e i n e r , Der dt. Verlegerverein 1886-1935 (1936). — Fritz R e d l i c h , German Literary Expressionism and Its Publishers. H a r vard Library Bulletin 17 (1969) S. 143-168. Rieh. B r i n k m a n n , Expressionismus. Intern. Forschung zu e. intern. Problem (1980; Sonderbd. d. D V L G ) S. 53-57. — William H . W i l k e n i n g , Otto Julius Bierbaum's Relationship with His Publishers (1975; G ö p p A r b G e r m . 148). — Gisela B r u c h n e r , Rudolf Borchardt u. d. Buchhandel. E. Beitr. z. Situation d. dt. Buchhandels in d. letzten Jahren d. Weimarer Republik. A G B 14 (1974) Sp. 285-348. — H e r m a n n B r o c h u. Daniel B r o d y , Briefwechsel 1930-1951. H g . v. Berthold Hack u. Marietta Kleiss, Mit e. Vorbem. v. Herbert G . Göpfert u. e. Broch-Bibliographie v. Klaus W . Jonas. Mit 45 Abbildgn. A G B 12 (1971) Sp. 10651276 (auch als Sonderausg.) — Eugen D i e d e r i c h s , [Autobiographie] (1927; Der dt. Buchhandel in Selbstdarstellungen II, 1). Eugen D i e d e r i c h s , Leben u. Werk. Ausgew. Briefe u. Aufzeichnungen, hg. v. Lulu v. Strauß u. TorneyDiederichs (1936). Ders., Selbstzeugnisse u. Briefe v. Zeitgenossen. H g . v. Ulf Diederichs (1967). — Heinz S a r k o w s k i , Fünfzig Jahre Insel-Bücherei 1912-1962 (1962). Ders.,Der Insel-Verl. E. Bibliographie (1970). Friedr. M i c h a e l (Hg.), Anton

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§ 8. Soviel über den Komplex des Buchwesens im Zusammenhang mit dem literar. Leben auch geforscht worden ist, einige Desiderate bestehen, anderes ist noch kaum zu beurteilen. a) Die Abhängigkeit der Textrezeption sowohl der bewußten wie der unbewußten von der äußeren B u c h - und T e x t g e s t a l t u n g ist bisher kaum untersucht worden, wenngleich sie physiologisch wie ästhetisch evident ist. Kaum untersucht wurde auch der Einfluß der Verlage auf die äußere Präsentation der Bücher, obwohl die Verwandlung eines Manuskripts in ein Buch zu den ureigensten Tätigkeitsmerk-

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malen des Verlegers gehört („Die Auswahl, die der Verleger [aus den Ergebnissen geistiger Arbeit] trifft, und die Gestalt, die er seinen Büchern gibt, sind sein Werk." Carl Hanser, 1978, S. 41). Erst in jüngster Zeit beginnt man sich mit der Buchgestaltung etwa von Verlegern wie Göschen, Unger, Eugen Diederichs unter funktionalem Aspekt zu beschäftigen, wobei auch der Einfluß von Autoren zu berücksichtigen ist. Hingegen liegen immanent ästhetische Darstellungen der Geschichte der Buchgestaltung im ganzen wie in vielen Details vor. b) Ein vielleicht nie einlösbares Desiderat ist eine Geschichte des Einflusses der Verlagsl e k t o r e n auf die Produktion der Verlage und die endgültige Gestalt der Werke. Der Verlagslektor scheint erst um die letzte Jh.wende zu einer festen Institution geworden zu sein. Zwar haben sich Verleger immer schon beraten lassen, so Reich von Zimmermann, Cotta von verschiedenen Autoren, zeitweilig war Rilke als ständiger Berater für Axel Junker tätig, Walter Hasenclever in fester Anstellung für den Kurt Wolff Verlag. Einen großen Einfluß hat Moritz Heimann als Lektor des S. Fischer Verlags bis zu seinem Tod (1925) ausgeübt, er erscheint in manchen Reflexen von Autoren als der Idealtyp des Lektors, als unbestechlicher, uneigennütziger und unermüdlicher Partner der Autoren, die ihm unbedingt vertrauten. Doch ist die Lektorenarbeit insgesamt nur teilweise dokumentiert. Etwaige selbständige oder gemeinsame Eingriffe des Lektors mit dem Autor in das Manuskript, die auch editorisch von Interesse sein könnten, sind nur in Ausnahmefällen noch feststellbar. Häufig findet diese Zusammenarbeit im mündlichen Gespräch statt. Hier besteht für die histor. Forschung eine Dunkelzone innerhalb der Verlagsarbeit, jedoch kann die Bedeutung der Lektorate von der Planung der Verlagsproduktion an (wie z . B . Günther Busch für die Edition Suhrkamp Nr. 1-1000) über die oft auch enge persönliche Beziehung zum Autor, dessen erster Leser der Lektor ja gewöhnlich ist, bis zur endgültigen Manuskriptgestalt und oft auch bis zu den entscheidenden Stichworten für die Werbung, die das Lektorat gibt, heute kaum überschätzt werden. Denn selten kann ein Verleger, wie es Peter Suhrkamp oder Friedrich Witz vom ArtemisVerlag noch taten, angesichts der immer anwachsenden Produktion und der immer vielfältiger werdenden Managementverpflich-

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Verlagsbuchhandel

tungen sich um Manuskripte im Detail kümmern. Noch völlig ununtersucht ist der Einfluß der V e r l a g s v e r t r e t e r , die etwa seit den 20er Jahren unseres Jh.s vor allemfür belletristische Verlage reisen dürften und deren Produktion vor Erscheinen dem Sortiment zum festen Kauf anbieten, auf das literar. Leben, sowie der l i t e r a r . A g e n t u r e n , die für uns vor allem im internationalen Rechtehandel eine Rolle spielen. c) Verfrüht wäre es, über A u t o r e n - V e r l a ge, die sich - nach einigen kurzlebigen Versuchen in den 20er Jahren - hie und da etabliert haben (z.B. Syndikat-Verlag, Frankfurt/Main) zu urteilen. Daß gerade in einer Zeit zunehmender Kommerzialisierung des Verlagswesens 'bei Autoren der Wunsch entstehen muß, selbst über das Programm, den Finanzbereich, die Arbeit in der Öffentlichkeit bestimmen oder mitbestimmen zu können, ist fast eine notwendige Entwicklung. Doch bleibt abzuwarten, ob die unvermeidlichen Interessenkollisionen bei auf das eigene Schaffen fixierten Menschen durch übergeordnete, auch gesamtgesellschaftliche Interessen, aber auch durch die wirtschaftlichen Gegebenheiten ausgeglichen oder aufgehoben werden können. d) Insgesamt gesehen, dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß der Verlagsbuchhandel seine literaturvermittelnde Aufgabe nur dann wird erfüllen können, wenn die angebliche Spannung zwischen Geist und Kommerz, unter der er arbeitet, als eine unzulängliche Vereinfachung seiner Problematik erkannt wird. Hierüber ist innerhalb des Buchhandels seit dem Ende der 70er Jahre eine neue Diskussion in Gang gekommen. Aus ihr ergibt sich, daß die Funktion des Verlagsbuchhandels wie des Buchhandels insgesamt vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner gesellschaftlichen A u f g a b e n gesehen werden muß. Das Problem besteht darin, bei aller Nutzung der technischen Gegebenheiten und bei voller Berücksichtigung kaufmännischer Notwendigkeiten die nötige Freiheit nicht nur im polit. Raum zu behalten, sondern auch im kommerziellen Raum ständig neu zu sichern. Zu a) Roman Tomaszewski, Materialy do bibliografi na temat czytelnosci pism drukarskich. [Material z. Bibliographie z. Thema Lesbarkeit d. Druckschriften], in: Wydawnictwo katalögow i cenniköw (1970) S. 45-138. Eymar Fertig, Forschungsobjekt Buch. Intern. Bibliographie z.

Soziologie u. Psychologie d. Lesens. Hg. v. Heinz Steinberg (1971). Rolf E c k m ö 11 e r, Niels G a 11 ey u. Otto-Joachim Grüsser, Neurobiologische u. nachrichtentechn. Grundlagen d. Lesens, in: Lesen u. Leben. Hg. v. Herbert G. Göpfert [u. a.] (1975) S. 36-81. Hans Peter Willberg, Buchform u. Lesen. E. Beispielreihe zu Problemen d. Buchgestaltung unter d. Aspekt d. Lesens. Börsenblatt f. d. Dt. Buchhandel, Frankfurt/M. v. 28. Dez. 1977 (Nr. 103/104), Beil., S. 1-32. — 20 Jahre Buchkunst. Ergebnissed. Wettbewerbe 1951-1970. Bundesrepublik Deutschland (1971). 5 Jahre Buchkunst. Die Ergebnisse d. Wettbewerbe 19711975 (1976). SOJahre Intern. Buchkunstausstellungen in Leipzig (1976; Neujahrsgabe d. Dt. Bücherei in Leipzig 1977). — Claus-Michael Trapp, KarstenTrzcionkau. Herrn. Glawatz, Der Carl Hanser Verlag 1928-1978. E. Bibliographie. Mit e. geschichtl. Uberblick v. Herbert G. Göpfert(1978). Kurt Georg Schauer, Dt. Buchkunst 1890-1960. Bd. 1: Text, Bd. 2: Abb. u. Bibliogr., zsgest. v. Vorstand d. Maximilian-Ges. (1963; Gaben d. Maximilian-Ges. 102). Rieh. v. Sichowski u. Herrn. Tiemann, Typographie u. Bibliophilie. Aufsätze u. Vorträge über die Kunst d. Buchdrucks aus zwei Jh.en. Ausgew. u. erl. (1971; Jahresgabe d. Maximilian-Ges. 1969). Georg Kurt Schauer, Schrift u. Typographie, in: Buchkunst u. Lit. in Deutschland 1750-1850. Hg. v. Ernst L. Hauswedell u. Christian Voigt (1977; Jahresgabe d. Maximilian-Ges. 1974/75), Bd. 1, S. 7-57, Bd. 2, S. 7-48. — Renate Scharfenberg, Der Beitr. d. Dichters z. Formwandel in d. äußeren Gestalt d. Buches um d. Wendev. 19. z. 20. Jh. (Masch.) Diss. Marburg 1953. Paul Raabe, Schiller u. d. Typographie d. dt. Klassik. Imprimatur NF. 2 (1958/60) S. 152-171. Heinz Sarkowski, Wenn Sie ein Herz für mich u. mein Geisteskind haben. Dichterbriefe z. Buchgestaltung. Ausgew. u. eingel. (1965; Jahresgabe d. Linotype GmbH.). Wolfgang v. Ungern-Sternberg, Schriftstelleremanzipation u. Buchkultur im 18. Jh. JblntGerm. 8 (1976), H. 1, S. 72-98. Siegfried Unseld, Der Marienbader Korb. Über d. Buchgestaltung im Suhrkamp-Verl. Willy Fleckhaus zu ehren (1976). Udo Zöller, Der Verlag Langewiesche-Brandt (in Vorber. für AGB). Zu b) Dirk Baay, Moritz Heimann 1868-1925. Critic and Writer. (Masch.) Diss. Univ. of Michigan 1959. Wilhelm Lehmann (Hg.), Moritz Heimann. E. Einf. in s. Werke u. e. Ausw. (1960; Verschollene u. Vergessene). Norbert Honszau. Karol Koczy, Gerhart Hauptmann-Autographen an Moritz Heimann. Kwartalnik Neofilologizny 11 (1964), H. 3, S. 243-248. — Oskar Loerke, Tagebücher 1907-1941. Hg. v. Hermann Kasack (1955; Veröff. d. Dt. Akad. f. Spr. u. Dichtung Darmstadt 5). — Rainer Maria Rilke, Briefe an Axel Junker. Hg. v. Renate Scharffenberg (1979). — Friedr. Witz, Sprache, Autor u. Verleger (o.

Verlagsbuchhandel — Vers, Verslehre, Vers und Prosa J.; e. Publ. d. 'Schweizer. Werbestelle f. d. Buch'). Zu c) Erhardt Heinold, Derliterar. Agent, in: Literaturbetrieb in Deutschland, hg. v. H. L. Arnold (1971) S. 176-185. Zu d) Heinz Friedrich, Wer druckt was für wen u. warum? Schwierigkeiten beim Versuch e. Verleger. Positionsmeldung, in: Lesen u. Leben. Hg. v. Herbert G. Göpfert [u.a.] (1975) S. 308-319. Michael Schmolke, Der Verleger zw. Tradition u. Innovation (1976; Salzburger Univ. reden 62). Siegfried Unseld, Der Autor u.s. Verleger. Vorlesungen in Mainz u. Austin (1978). Herbert Grundmann, Buchhandel zw. Tradition u. Wandel. Börsenblatt f. d. Dt. Buchhandel, Frankfurt/M. v. 6. Juni 1980 (Nr. 48) S. 1473-1474. Das buchhändler. Selbstverständnis [zahlreiche Beiträge], in: Die Begegnung. Autor, Verleger, Buchhändler, Leser. [Hg. v. Kurt Meurer.] 16. Folge 1980/81 (1980). Nach Redaktionsschluß erschien: Quellen z. Gesch. d. Buchwesens [Repr.] 28 Bde. Hg. v. Reinhard Wittmann (1981). Herbert

G.

Göpfert

Vers, Verslehre, Vers und Prosa V o r b e m e r k u n g : Gemäß der von Wolfgang Mohr für die Darstellung der metrischen Probleme in diesem Lexikon entwickelten Konzeption werden die einzelnen V.maße und Strophenformen, soweit sie gemeinsamen kulturellen Umfeldern zuzuordnen sind, jeweils in eigenen Artikeln zusammengefaßt; neben den dt. V.maßen und Strophenformen (1,231244) stehen die drei großen Formenzentren, an denen sich die dt. V.praxis orientierte: àie antiken (1,70-84), die romanischen (111,557-578) und die orientalischen (11,822-827 u. 828 ff. passim) V.maße und Strophenformen. Uber einige exponierte V.maße wie den Blankvers (1,179-180) und die Freien Rhythmen (1,479-482) und über einige v.geschichtlich bedeutsame Gattungen geben die Artikel Elegie (1,332-334), Epigramm (1,374-379), Hymne (1,736-741), Kunstballade (1,902-909), Ode (11,709-717), Romanze (111,594-600) und Volksballade (IV,723-734) Auskunft ; daneben sind die Lied-Artikel Lied (11,42-62), Kinderlied (1,817-819), Kirchenlied (1,819-852) und Volkslied (IV,761-772) heranzuziehen. Zur Information über Probleme des V.baus stehen die Artikel Akzent (1,16-21), Brechung (1,183-185), Hebung und Senkung (1,623-628), Hiatus (1,653-656), Kadenz (1,803-806), Reim (111,403-420) nebst Reimbrechung (111,420-421) und Reimlexikon (111,421-423) zur Verfügung. Grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Rhythmus, Metrum und Takt werden im Artikel Rhythmus (111,456-475), die der Strophe in einem eigenen Artikel (IV,245-256) behandelt. Zu einzelnen epochenspezifischen V.aspekten sind die

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Artikel Leich (II, speziell 40-41), Meistergesang (11,292-301), Minnesang (II, speziell 307-309), Reimprosa (111,423-424), Reimvers, Altdt. (111,424-431) und Stabreimvers (IV,183-193) zu vergleichen. Der vorliegende Artikel beschränkt sich auf das Wort und den Begriff V. sowie auf Grundzüge der Geschichte der V.lehre und Überlegungen zum zentralen Problem des Verhältnisses von Prosa und Vers. Durch bibliographische Hinweise auf Forschungsschwerpunkte in den vergangenen Jahren soll der Leser vor allem den Anschluß an frühere Artikel gewinnen. § 1. Das W o r t V. bedeutet nach W . Braunes Untersuchungen neben Einzel-V. auch noch .V.gruppe im Lied (Strophe)' und ,V. in der Bibel'. Das „Fremdwort vers ist schon in der ahd. Zeit als Wiedergabe des lat. versus aufgenommen und zwar von Anfang an in dessen zwei verschiedenen Anwendungsweisen, einmal als versus metricus in der lat. gelehrten Dichtung und zweitens als kirchliche Bezeichnung eines biblischen Satzes aus den poetischen Büchern des Alten Testaments; insbesonders sind es die Psalmen (Psalm-V.), deren Gesangsvortrag einen festen Bestandteil des christl. Gottesdienstes bildete, und deren poetische Sätze, gekennzeichnet durch den Parallelismus membrorum, in der Sprache der Kirche als versus bezeichnet wurden (Benediktinerregel des 6. J h . s ) . " Neben seiner ersten Bedeutung als metrisch fest geregelte Zeile ohne Rücksicht auf Gliederung des Satzes und Sinnes erhielt V . nun eine zweite Anwendung für einen lat. vollständigen Satz, der äußerlich Prosa war und nur durch einen abgeschlossenen und gegliederten Sinn zusammengehalten wurde. Diese zweite Anwendung von versus blieb auf die poetischen Bibelstellen, insbesondere die Psalmen, im ganzen M A . bis ins 16. J h . beschränkt. Als in der Mitte des 16. Jh.s die Sätze auch der nicht poetischen biblischen Bücher getrennt und durchgezählt wurden, wurde die Bezeichnung V . , die bisher nur den poetischen Stücken der Bibel eigen war, auch auf die übrigen Bibelsätze prosaischer Art ausgedehnt. Luther gebraucht demgemäß V. nur in der mal. Anwendung von Psalm-V.; „ B i b e l - V . e " aus andern Büchern pflegt Luther mit „dieser Spruch" anzuführen. (Belege für beide Bedeutungen aus ahd. Zeit bei Otfrid und Notker bei Braune S. 19/20. Vielleicht hat Otfrid seine eigenen dt. rhythmischen V.e gemäß seiner Äußerung ad Liutbertum fers genannt.)

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Vers, Verslehre, Vers und Prosa

In der mhd. Zeit galt bis auf Sebastian Brant für den dt. V. ausschließlich das Wort rim. V. kommt im Mhd. in beiden Bedeutungen des lat. versus vor. Aber im Gegensatz zum deutschen rim ist es auf den lat. V. beschränkt. (Belege aus Ottes Eraclius und Hugo von Trimbergs Renner bei Braune, S. 20/21.) Für das 14. und 15. Jh. ist die Anwendung von vers für rim nicht sicher bezeugt, obwohl es an sich denkbar wäre, daß ein lat. Gebildeter einmal diese Verschiebung sich gestattet hätte. Anders wird es im 16. Jh. Zwar ist da auch noch rym, reim das eigentliche und sprachgemäße Wort für den dt. V., vers für den lat. V. Der Humanismus mit seiner Pflege der lat. V.e bringt es mit sich, daß lateingelehrte Dichter ab und zu vers auch für den dt. V. brauchen (Erasmus Alberus). Adam Puschmann (1571) setzt schon öfter zu reim das Synonymon vers. Im 17. Jh. wird mit dem Eintreten der dt. Renaissancedichtung unter Vortritt von M. Opitz das dt. Wort reim allmählich durch das Fremdwort vers verdrängt, für welches nun außer dem lat. versus auch das franz. vers maßgebend wurde. Für die zweite Bedeutung des lat. versus als Psalm-V. gibt es im Mhd. auch zahlreiche Belege bis auf Luther, nach dessen Zeit diese Bedeutung von vers erst auf den allgemeinen „BibelV . " übertragen wurde. Vers = Strophe kommt aber in mhd. oder spätmhd. Zeit nicht vor. V. in der Bedeutung Strophe, Gesätz wird zuerst für die Strophen des Kirchenliedes (s.d.) gebraucht. Hier kommt es durch den Psalmengesang auf und geht auf die zweite Bedeutung des lat. versus = Psalm-V. zurück. An die Stelle des lat. Psalmgesangs wurden nach der Reformation dt. strophische Psalmlieder gesetzt, worin Luther voranging. Nach ihm wurde der ganze Psalter in Kirchenliedform umgedichtet. Die einzelnen Strophen dieser Lieder entsprachen meist einem versus des lat. Psalters; nicht selten sind allerdings auch zwei (oder drei) versus in einer Strophe zusammengefaßt. Vom V.e des Psalters aus wurden nun die entsprechenden Strophen des Psalmliedes auch als V.e bezeichnet. Aus den durchaus vorherrschenden Psalmliedern ging dann der Gebrauch auch auf Kirchenliedstrophen über, die nicht aus dem Psalter stammten, also streng genommen keine „ V . e " waren. Diese Übertragung drang nach der Mitte des 16.Jh.s bei den Kirchenliedern mehr und mehr durch und wurde in der ersten Hälfte des 18. Jh.s vollendet. Aus der Kirchen-

liedpraxis drang dann V. für Gesätz, Strophe schließlich auch in den weltlichen Liedergesang ein (Belege bei Braune S. 25/26). In der Umgangssprache wird der Gebrauch von V. = Strophe kaum geschmälert durch das schriftsprachliche Vordringen von Strophe. Die Übers, des lat versus = „das Umwenden, die (Tanz-)Wendung, die Furche, Reihe, Linie von versum, dem Supinum des lat. Verbums vertere = wenden, kehren, umwenden" (Friedr. Ludw. Karl Weigand, Dt. Wörterbuch. Bd. 2, 4. Aufl. 1882, S. 1004) ist als Grundbedeutung auch für den Wortgebrauch in neuerer Zeit anzusetzen. Wilhelm B r a u n e , Reim und Vers. E.wortgeschichtliche Untersuchung ( 1 9 1 6 ; SBAk Heidelberg 1916, 11). J o h . Baptist H o f m a n n u. Hans R u b e n b a u e r , Wörterbuch d. grammatischen u. metrischen Terminologie ( 1 9 5 0 ; 2. Aufl. 1963).

Paul

Habermann

§ 2 . Die Definitionen des B e g r i f f e s V. knüpfen zunächst an das g r a p h i s c h - o p t i sche P h ä n o m e n des V.es an. So ist V. für Paul Habermann (in der 1. Aufl. des Reallex., Bd. 3, S. 464) „eigentlich eine graphisch-optische Bezeichnung mit ganz unbestimmter rhythmischer Bewertung" und hinsichtlich der Begrenzung „ein durch Reim oder Zeilenende abgeschlossenes Stück gebundener Rede", dessen rhythmischer Wert „immer erst bestimmt werden muß" (F. Saran). Auch Jurij M. Lotman (Die Struktur literar. Texte, S. 260f.) bekennt, daß nach dem .Durchprobieren' aller Möglichkeiten der Merkmalfindung die graphische Form „fast als einziges unbezweifelbares Merkmal des V.es übrigbleibt". Auf Grund dieses Z e i l e n - K r i t e r i u m s haben sich in der Forschung die Bezeichnungen „Kurzzeile" („Kurzvers") und „Langzeile" („Langvers") als praktikabel erwiesen. „ D i e Ausdrücke K u r z z e i l e (Kurzvers) - L a n g z e i l e (Langvers) sind im Gebiet der altdt. Metrik entstanden und von der Schreibgewohnheit der Handschriften hergeleitet. Sie sind dann auch in die andern Teile der V.lehre übergegangen. Unter Kurzzeile versteht man im Bereich der altdt. V.geschichte [in der Terminologie Franz Sarans] alle aus dem orchestischen steigenden Vierer — — — — — — — — durch die mannigfachen Möglichkeiten der Abwandlung dt. V.bildung (Ausfall der Vor- und Binnensenkungen, Auflösung von Hebung und Senkung, verschiedene Kadenzbildung u . a . ) hervorgegangenen V.formen. Als Langzeilen bezeichnet man zwei

Vers, Verslehre, Vers und Prosa durch Alliteration oder Reim miteinander gebundene Kurzzeilen oder auch die Verbindung einer Waise mit einer Kurzzeile, wie z . B . die ,Langzeile' der Nibelungenstrophe" (Paul Habermann a . a . O . , S. 464). Christian Wagenknecht (Dt. Metrik, S. 133) vermeidet die Begriffe „Kurzzeile" und „Kurzvers" und definiert „Langvers ( = Langzeile)" an den Beispielen der Nibelungenzeile und des Alexandriners als „Inbegriff von V.maßen größeren Umfangs und zweiteiliger F o r m " mit der zusätzlichen Erklärung: „Die (meist gleich langen) Teile werden Halbverse genannt. (Auch: An- und Abvers)". Die Unterscheidung zwischen Kurzzeile und Langzeile wurde vor allem für die Analyse freirhythmischer V.e wichtig. So erklärt Dieter Breuer (Dt. Metrik, S. 304): „ D e r Kurzvers ermöglicht, im Widerspiel der syntaktischen Gliederung, selbst bei festem ,trochäisch' oder ,jambisch' alternierendem Metrum, eine lebendigprosanahe Rhythmisierung, die die Distanz der artifiziellen Scheinwelt zurücknimmt".

Die Bedeutung der graphisch-optischen Fixierung der Zeile liegt in ihrer rhetorischen Signalfunktion. Wolf-Dieter Stempel (Texte der Russischen Formalisten, Bd. 2, S. X X X I X ) verweist hier auf den von den Russ. Formalisten, besonders von B. Tomasevskij, gewählten Ansatzpunkt: „Die V.zeile ist offensichtlich als Signal für die rhythmische Intonation, d.h. für die Verteilung der , Atemenergie innerhalb einer einzigen Welle, des V.es' zu verstehen". Aber erst die Feststellung bestimmter rhythmischer Anordnungen innerhalb der einzelnen Zeilen führt zur Identifizierung des vorliegenden Textes als V e r st ext im Gegensatz zum P r o s a t e x t . Dabei sind V.text und Prosatext nicht in allen Fällen leicht abzugrenzen. Folgt man der Definition von Otto Paul und Ingeborg Glier (Dt. Metrik, S. 11), dann scheint es auf den ersten Blick sichere Kriterien zu geben: ,,V. und Prosa, gebundene und ungebundene Rede, unterscheiden sich durch das Maß der Ordnung, das ihre Betonungsverhältnisse bestimmt". Die Schwierigkeiten beginnen jedoch bei Prosatexten mit gewissen rhythmischen Eigentümlichkeiten, die die Zuordnung erschweren, sowie beim Vers Libre, der die V.lehre durch die Preisgabe des strengen Metrums vor neue Aufgaben gestellt hat. Deshalb definiert Dieter Breuer (Dt. Metrik, S. 23) präziser: „V.literatur ist gebundenere Rede, hinsichtlich der Tonstellenverteilung geregelter als die Prosa". Die Identifizierung des Texttypus gehört zu den elementaren Voraussetzungen der Rezeption, denn mit dieser Identifizierung ist das Erkennen der Leseanweisung (Textintention)

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und die ästhetische Wertsetzung verbunden, wobei dem V. konventionellerweise ein höherer Grad an ,Poetizität' zugesprochen wurde und z . T . noch zugesprochen wird. Visuelle Techniken, Gehör, Intuition, musikalisches Empfinden und eine Prädisposition für das Wahrnehmen rhythmischer Signale erleichtern das Verstehen eines V.textes, doch sind sie stets individuell an die Person des Rezipienten gebunden. Materiell objektivierbar und damit definierbar ist der V. nur an Hand des V e r s f u ß e s in der Tradition der antiken Metrik (s. Antike V.maße und Strophenformen). Bei der Vergegenwärtigung der theoretisch möglichen 28 V.füße der antiken Metrik (4 Zweisilber, 8 Dreisilber und 16 Viersilber) ist allerdings zu beachten, daß die antike Terminologie auf die Abfolge langer und kurzer Silben bezogen ist, während die dt. V.lehre, dem Betonungsprinzip der dt. Sprache folgend, nicht von der Tondauer, sondern von der Tonstärke ausgeht und daher zwischen betonten und unbetonten Silben unterscheidet. Auch für die Schreibkonvention der metrischen Notationen kann die antike Metrik als Basis dienen. So stellt Christian Wagenknecht (Dt. Metrik, S. 23) mit Recht fest, „daß die ältere dt. V.lehre nicht schlecht beraten war, als sie die Zeichenschrift der antiken Metrik für ihre Zwecke übernahm". Sie ist nach wie vor dienlich, „sobald nur ein für allemal sichergestellt ist, daß die Symbole der Klassischen Philologie hier noch keine bestimmte Prosodie definieren". Ist der V.fuß als das kleinste Element eines V.es, d. h. der V.zeile, anzusehen, so ergibt die Anzahl der V.füße in der Ordnung der V.fußfolge die V.art mit der Strophe (s.d.) als nächstgrößter Einheit. Im Laufe einer über Jh.e zu verfolgenden produktiven Rezeption von V.Vorbildern haben sich zahlreiche, durch Regeln voneinander zu unterscheidende K o n v e n t i o n e n solcher Ordnungen ( = V.maße) durchgesetzt, deren ästhetischer Reiz durch Systemzwänge erkauft werden mußte, d. h. der Gebrauch eines V.maßes zwingt jeder Sprache zunächst ein ihr fremdes Verfahren auf. Das gilt auch für die griech. Poesie, wie Wolf-H. Friedrich (Über den Hexameter, S. 98) betont: „Man kann dem Hexameter heutzutage nicht mehr nachsagen, daß er .undeutsch' sei, ohne hinzuzufügen: er ist genau so ungriechisch und unlateinisch. Allen drei Sprachen ist er mit einiger List und vielem Fleiß abgewonnen worden". Es ist eine Frage der Sprachkompetenz

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Vers, Verslehre, Vers und Prosa

und der Stilnorm, aber auch des jeweiligen Zeitgeschmacks, ob die Integration des gewählten V.maßes in den sprachlichen Ausdruckswillen als gelungen angesehen wird. An die Stelle der anfangs kultischen Praxis der V.bildung ist der mehr spielerische Umgang mit V.maßen getreten, und die begrenzte Geltungsdauer ideologischer und poetologischer Normen schränkte auch den Gebrauchswert von V.maßen ein, die in Vergessenheit geraten, wieder Interesse gewinnen, modisch werden und schließlich auch verächtlich gemacht werden können. Aus der Annahme des V.fußes als kleinster Einheit ist nicht zu folgern, daß die Steuerung des V . e s vom Metrum, verstanden als Merkmalskomplexion von V.fuß, V.maß und Strophe, ausgeht. In einem V.text können unterschiediche Phänomene in den Vordergrund treten und die Steuerungsfunktion übernehmen. Dabei braucht es nach der Auffassung Wolfgang Möhrs (s. Reallex. Bd. 3, 472) „hinsichtlich des Verhältnisses von Metrum und Rhythmus nicht zu Mißverständnissen zu kommen, wenn man die Aspekte mitversteht, unter denen die Termini zueinander in Beziehung gebracht werden". Die Steuerung des V.es vom Gedanken und der Einheit der Satzfügung, andererseits von Affekten und vom Klang hat zuletzt zur Sprengung der Konventionen im freirhythmischen und im freien V. (siehe § 6) geführt und nahegelegt, die Zeilen stärker von der phonologischen oder der syntaktisch-rhythmischen Seite her zu erfassen. Im Rahmen der R h e t o r i k (s.d.) verstanden, ist die V.rede wie jede Rede auf persuative Wirkung hin angelegt, für die die alte Regel gilt: „qttis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando". Mit der Grundsatzentscheidung des Sprechers für die V e r s i f i k a t i o n fällt zugleich die Entscheidung für eine der Umgangssprache ,fremde' Regulierung, die zureichende Merkmale enthalten muß, um dem Rezipienten die Identifizierung des Textes als V.rede zu ermöglichen, so daß er die Sätze dieses Textes anders als gewohnt liest. Im V e r s i f i z i e r u n g s p r o zeß unterliegen Silben, Worte, Satzgliederund Satzzeichen (die am Zeilenende eines Gedichtes oft ausgespart werden) einem anderen Phrasierungsverfahren mit eigener Kolonsetzung. Für den Sprecher bedeutet die Einstellung auf die Versifikation einen selbstgewählten Regelzwang; er muß im Bereich der intendierten geregelten Verteilung von betonten und unbeton-

ten Silben jedes einzelne Wort über seine semantische Qualität noch genauer als in der Prosarede auf seine ,Tauglichkeit' und ,Schicklichkeit' prüfen. Hier fällt der P r o s o d i e als Lehre einer objektiven Rhythmik der Sprache, eine wichtige Aufgabe zu. Den Unterschied zwischen V.lehre (Metrik) und Prosodie hat Bruno Snell so definiert: „Wenn die Metrik im eigentlichen Sinn zu erforschen sucht, an welchen Stellen eines Gedichtes lange oder kurze Silben erscheinen müssen oder dürfen, wo Wortende gefordert, gesucht oder verboten, wo Hiat statthaft oder unstatthaft ist, lehrt die Prosodie, was eine lange oder kurze Silbe, was Wortende im Sinn der Metrik und was ein Hiat ist" (S. 54). Auch eine Prosarede kann eine, von der Umgangssprache abweichende, durch rhythmische Elemente, Akzentsetzungen und Klangkombinationen hervorgerufene Motorik aufweisen; die E n e r g i e der V.rede beruht nicht nur auf der geregelten Tonstellenverteilung, sondern auch auf der zwischen den Zeilen bestehenden Spannung, die in erster Linie durch die Situierung der Worte (unter Verwendung bewährter Stilfiguren), Zäsuren und Zeilenbrechungen erreicht wird. Die V.lehre hat vordringlich drei Aufgaben zu lösen: die Inventarisierung und Beschreibung aller materiellen Elemente, die die Identifizierung und nähere Bestimmung eines V.textes erlauben (deskriptive Metrik), die Darstellung aller Konventionen und ihrer produktiven Rezeption in geschichtlichen Zusammenhängen und die Erklärung der Paradigmenwechsel (historische Metrik) sowie die Reflexion der bereits gegebenen Begriffsbestimmungen vom Standpunkt des eigenen Erkenntnisinteresses im Hinblick auf den Versuch, Begriff und Phänomen des V.es zu präzisieren und für die Textinterpretation funktionsfähig zu halten (Theoretische Metrik). Das I n t e r e s s e der Dichter an V.konventionen kann gleichermaßen der Ausdruck revolutionärer wie restaurativer Bestrebungen sein; erst die Aussage des V.textes erhellt die Funktion des V.maßes. Die Rekapitulation des Bewährten und der Reiz des Wieder-Neuen halten das Bewußtsein für das V.repertoire wach. Dabei kommt es immer wieder zur Regeneration von V.maßen im Kontext einer neuen Zeit, wenn eine neue Empfindung für das V.maß (auch als Mittel der Kontrafaktur) entstanden ist. Aber auf der Suche nach Aus-

Vers, Verslehre, Vers und Prosa drucksäquivalenten gerät der Dichter ebenso in Opposition zu den Konventionen. Hier muß die V.lehre für Innovationen offen sein. Neben dem in den Unterricht eingeführten Lehrbuch: Otto Paul/Ingeborg Glier, Dt. Metrik (8. Aufl. 1970) liegen jetzt zwei nach unterschiedlichen Gesichtspunkten aufgebaute Einführungen' in die metrischen Probleme sowie in die Geschichte der V.lehre vor: Dieter B r e u e r , Dt. Metrik u. V.geschickte (1981; UTB. 745) und Christian W a g e n k n e c h t , Dt. Metrik. E. histor. Einführung (1981; Beck'sche Elementarbücher); Breuer bietet reicheres Textmaterial und geht stärker auf die histor. Zusammenhänge ein, der Vorteil des Buches von Wagenknecht liegt in den Abgrenzungen Prosodie/Versifikation, der besseren Einprägsamkeit der Beispiele und im terminolog. Register. — Einen guten Zugang zur antiken Metrik ermöglichen: Bruno Snell, Griech. Metrik(3. Aufl. 1962) und Wolf-H. F r i e d r i c h , Über d. Hexameter, in: Geist u. Zeichen. Festschr. f . Arthur Henkel(1977) S. 98-120. - Aus dem Bereich der engl.-amerikan. Forschung ist vor allem das Buch von Seymour Chatm an, A Theory of Meter (The Hague 1965; Janua linguarum, Ser. minor 36) für die V.lehre von allgemeiner Bedeutung; heranzuziehen sind auch: W. K. W i m s a t t jr. u. Monroe C. B e a r d s l e y , The Concept of Meter: An Exercise in Abstraction. PMLA 74 (1959) S. 585598 und John L ö t z , Metrical Typology, in: Style in Language, ed. by Thomas A. Sebeok (Cambridge, Mass. 1960) S. 135-148. - Hingewiesen sei auch auf Leif Ludwig Albertsen, Über die Notwendigkeit, heute auf neuen Wegen wieder V.analyse zu treiben. GRM 23 (1973) S. 11-31.

§ 3. Die G e s c h i c h t e der w i s s e n s c h a f t lichen V.lehre reicht in die Zeit zurück, als die Germanistik sich als Disziplin etablierte (s. Literaturwissenschaft). Wie die Textkritik (s. Edition), so orientierte sich auch die V.lehre zunächst an der Klass. Philologie; sie stand im Bereich der altdt. D i c h t u n g unter starkem Legitimationsdruck, da sie den Kunstcharakter der aus den Hss. edierten ahd. und mhd. Texte durch den Nachweis geregelter metrischer Formen demonstrieren mußte. Es war das Verdienst Karl L a c h m a n n s (seit 1827 o. Prof. in Berlin), die altdt. Metrik auf der Basis der Hss.Edition begründet zu haben. Neben seiner Abhandlung Über die Leiche der dt. Dichter des 12. und 13. ]h.s{1829) waren besonders die drei Akademievorträge Über das Hildebrandslied (1833), Über Singen und Sagen (1833/1835) und Über ahd. Betonung und V.kunst (1831/ 1834), wiederabgedruckt in den Kleinen Schrif-

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ten (Bd. 1, 1876, S. 325-340, 407-448, 461-479 u. 358-406), sowie die erst 1844 vorgelegten kurzgefaßten ,Regeln' (vgl. GermaniaPf. 2, 1857, S. 105-108) lange Zeit richtungsweisend (z.B. für die ,Vierhebungstheorie'), aber auch bald umstritten (so in der Frage der Hebungszählung und der Einsilbigkeit der Senkung). Die V.lehre der nhd. D i c h t u n g war zu diesem Zeitpunkt wie im 17. und 18. Jh. noch eine Angelegenheit der Dichter und Dichtergruppen, wie dem Berliner Tunnel über der Spree (seit 1827) und der Gesellschaft der Krokodile (seit 1854). Ziel der Münchener Gruppe (s. Münchener Dichterkreis) mit Emanuel Geibel (später Paul Heyse) als .Dichterfürsten' war die „sorgfältigste Pflege der Form-Reinheit, die Vorliebe für den hohen Stil, die Schulung durch die Antike und die übrigen Classiker der Weltliteratur" (Felix Dahn, Erinnerungen, Bd. 3, 1893, S. 305). Heines Bestandsaufnahme der dt. Lit. nach Goethes Tod (dem ,Ende der Kunstperiode') in der Romantischen Schule (1833/35) markiert bereits den Wendepunkt, so wenn Heine Ludwig Uhlands gedenkt, in dem „sich die meisten seiner lyrischen Gespiele von der romantischen Schule resümieren" und erklärt: „wir verehren und lieben ihn jetzt vielleicht um so inniger, da wir im Begriffe sind uns auf immer von ihm zu trennen" (Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, 2. Aufl. 1978, S. 492). Schon die Gedichte in Heines Buch der Lieder (von den Einzeldrucken der Gedichte seit 1817 über die Erstausgabe 1827 bis zur Ausgabe letzter Hand 1844) lehren implizit den modifizierten Umgang mit traditionellen Vers- und Strophenformen und zeigen in den Kontrastfakturen und in der Verwendung freier Verse ein neues Verständnis für metrische Funktionen. Als die gelehrten S c h u l m ä n n e r darangingen, Metriken zu verfassen und die dt. Klassiker zu kommentieren, behandelten sie die V.probleme noch immer nach den Maßstäben der Klassischen Philologie, und es überrascht nicht, daß dabei die Frage im Vordergrund stand, wie weit es gelungen sei, nach antiken Metren und Strophenformen dt. V.e zu machen. Friedrich Z a r n c k e (seit 1858 o. Prof. in Leipzig), aus dessen Schule u.a. Eduard Sievers hervorging, verfaßte die erste grundlegende Studie über ein metrisches Problem der nhd. Lit. (Über den fünffüßigen Jambus mit. bes. Rücksicht auf seine Behandlung durch Lessing, Schiller und Goethe, 1865). Die weitere Entwicklung seit der Mitte des

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19. Jh.s wird durch die P o s i t i v i s m u s beeinträchtigt. Hierzu schreibt Paul Habermann in der ersten Auflage des Reallex. (Bd. 2,1926/28, S. 343): „Im Zeitalter des Positivismus empfand es der Metriker hauptsächlich als seine Aufgabe, nach einem allgemeinen, vermeintlich metrischen Schema den V.gebrauch der einzelnen Dichter zu betrachten und zu beschreiben. Maßgebend war dabei vor allem der optische Eindruck des V.es auf dem Papier. Aus dieser Zeit stammt in der Hauptsache die große Zahl der monographischen, im Schema fast überall gleichen Darstellungen des V.gebrauchs bei den einzelnen Dichtern, die sich oft darauf beschränken, Abweichungen vom Schema festzustellen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Naturwissenschaften und ihrer Methoden suchte man dem V. auf experimentellem Wege beizukommen. Zu nennen ist hier besonders Ernst B r ü c k e , der 1871 (Diephysiologischen Grundlagen der nhd. Verskunst) den Versuch machte, den Rhythmus nhd. V.e durch Apparate aufzunehmen. Das Wesentliche war, daß damit der gesprochene, klingende V. zum Gegenstand der V.wiss. gemacht wurde. Die Sprechmelodie wurde in die V.lehre einbezogen; der Begriff des Rhythmus erfuhr umfassende Wandlungen und Vertiefungen. In der Methode schieden sich zwei Wege. Auf der einen Seite verließen sich die Forscher auf ihre Beobachtung durch das Ohr und auf die Wahrnehmung von körperlichen Reaktionen; auf der andefen Seite wurden experimentelle Untersuchungen mit immer verfeinerten Apparaten angestellt. Beide Richtungen beeinflußten sich gegenseitig in starker Weise. Eduard S i e v e r s ging in der ersten Zeit seiner Untersuchungen besonders sprachrhythmischen Fragen nach, zog dann aber mehr und mehr die sprechmelodischen und überhaupt klanglichen Eigenschaften des V.es in den Kreis seiner Forschungen. Entdeckungen, die der Sänger Josef Rutz über den Zusammenhang von Körperhaltung und Sprachklang gemacht hatte, kamen hinzu und führten zur Beobachtung von „klanglichen Konstanten". Im Verlauf seiner ausgedehnten Forschungen wandelte Sievers seine Anschauungen in den Grundzügen ganz wesentlich. Das Gebiet weitete sich immer mehr. Es wurde zu dem umfassenden Begriff ,Schallanalyse'. Besondere Förderung erfuhren die experimentell-phonetischen und psychologischen Untersuchungen zur Sprachmelodie und zum Sprachklang durch die Arbeiten von Felix K r ü g e r u n d W. E. P e t e r s . Die anfänglich sehr hochgespannten Hoffnungen erfüllten sich aber nicht. Man erkannte, daß kein Apparat imstande sei, das aufzunehmen, was das Ohr hört, daß auch der sinnreichste Apparat nichts nützt, wenn der Experimentator nicht vorher weiß, was er als Material an ihn heranbringt, und daß der V. eine aus vielen in sich verklammerten Einzelheiten gefügte Struktur ist. Das

Problem war nicht so sehr philologisch-experimentalphonetischer als psychologischer Art".

Neben Eduard Sievers (seit 1892 o. Prof. in Leipzig), für dessen Lauttheorien sich anfangs auch die Russ. Formalisten interessierten, wurde die g e r m a n i s t i s c h e V . l e h r e nach der Jh.wende durch drei Theoretiker, Jakob Minor, Franz Saran und Andreas Heusler, maßgeblich und z.T. bis in die Gegenwart bestimmt. Jakob M i n o r (seit 1884 o. Prof. in Wien) hat sein 1893 erschienenes und in der 2., umgearb. Aufl. von 1902 zu einem Standardwerk gewordenes Handbuch Nhd. Metrik unmittelbar aus seinen Vorlesungen entwickelt. Unter „Metrik" versteht er „die Lehre von den rhythmischen Formen, die in der Dichtkunst zur Erscheinung kommen," und zugleich „die Lehre von den Prinzipien der V.kunst". Er sieht es „als die erste und unumgängliche Aufgabe einer nhd. Metrik" an, „die Ubereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der natürlichen Quantität und Betonung mit den künstlichen Anforderungen des Rhythmus in bezug auf die Taktdauer und den Accent aufzuzeigen" (Vorwort). Schon der Aufbau des Werkes (Rhythmus, Quantität, Akzent, V.fuß oder Takt, V., Reim, Strophe) lenkt den Blick auf die zentralen Phänomene der V.lehre. Franz Saran (seit 1913 o. Prof. in Erlangen) folgt dagegen mit seiner Dt. V. lehre (1907) dem von Eduard Sievers und dem in der Liedforschung von Rudolph Westphal und Hugo Riemann vorgezeichneten Weg. Er geht dabei von der These aus, „daß nur das vollkommen sinnund stilgemäß vorgetragene, vom Ohr unbefangen aufgefaßte, lebendige Kunstwerk Gegenstand der V.lehre sei"; ein „V.text leistet nichts anderes als das Notenbild einer Sonate" (Vorwort). Dieser Auffassung entspricht die Gliederung des Werkes (Schallform der prosaischen Rede, Schallform der metrischen Rede, Geschichte der dt. V.kunst). Mit der Orientierung an Riemanns Lehre von der musikalischen Phrasierung und dem Versuch, zu einer „sachgemäßen Einteilung und Charakteristik der Gemütsbewegungen" zu gelange, wagt Saran sich dagegen in Grenzbereiche der Philologie. In der Frage der Sprechmelodie und des Rhythmus wie der terminologischen Verwendung des Begriffes ,Takt' bildeten sich daher kaum überraschend zwischen Saran und Heusler kontroverse Standpunkte heraus. Unter dem Ein-

Vers, Verslehre, Vers und Prosa druck der dreibändigen Dt. V.geschickte (19251929; PGrundr. 8,1-3) Heuslers (Bd. 3: Der neudeutsche V.) richtete Saran sein neues Werk Dt. V.kunst (postum 1934) stärker nach systematischen Gesichtspunkten aus. Paul Habermanns Konzept für die Metrik-Artikel der 1. Aufl. des Reallex. beruhte auf Grundanschauungen Sarans, doch ging Habermann ebenso auf Argumente Heuslers ein. Wie Saran so hatte auch Andreas H e u s l e r (seit 1913 o. Prof. in Berlin, seit 1920 in Basel) sein großes Werk durch Einzelstudien, darunter die Studien Über german. V.hau (1894) und Dt. und antiker V. (1917), vorbereitet. Der Untertitel Mit Einschluß des altengl. und altnord. Stabreimverses steckt bereits den Rahmen ab, in dem Heusler seine anfechtbare Theorie eines „germanischen Zeitgefühls" entwickelt. Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung seiner V.lehre liegt in der Geschlossenheit von Theorie und Praxis, die bisher von keiner anderen V.lehre wieder erreicht wurde. Stärker noch als Saran befreite er die V.textanalyse von den Verkrampfungen der bloßen Augenmetrik. Sein Vertrauen auf das Gehör und die Intuition (unter Vernachlässigung der Skansion), seine formale Orientierung an Notenwerten und dem musikalischen Prinzip des Takts stießen naturgemäß auf Widerspruch; Heusler übersah, daß die historische Vortragssituation und Vortragsart nicht zu rekonstruieren sind, und er ging allzu unbekümmert über ungesicherte metrische Uberlieferungen in mhd. Texten hinweg. Doch hat er, unbeschadet vieler Einwände im einzelnen, den Texten die Lebendigkeit des gesprochenen Wortes zurückgegeben. Diese Öffnung der V.lehre zur ,, V.kunst" hat — trotz einiger Abstriche bei der Übertragung musikalischer Zeitwerte, besonders der Auffassung des V.es als „takthaltiger Rede", und der Ablehnung der Taktmetrik — zu einem vertieften V.verständnis geführt. So haben Wolfgang Kay ser, Wolfgang M o h r und Ulrich P r e t z e l in ständiger Auseinandersetzung mit Heuslers V.theorie eigene Standpunkte gewonnen, aber das als richtig Erkannte für die Interpretation genutzt. Noch die beiden in der Bundesrepublik und in der DDR gängigen Metrik-Lehrbücher der Germanistik von Otto Paul und Ingeborg G l i e r (8. Aufl. 1970) und Erwin Arndt (5. Aufl. 1971) greifen vielfach auf Erkenntnisse Heuslers zurück. Die von Heusler aufgeworfenen elementaren Fragen der V.lehre müssen von jeder Generation

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auf Grund neuer emotionaler wie rationaler Bindungen an poetische Texte neu beantwortet werden: Skansion und Rezitation, V.fuß und Wortfuß, Metrum und Rhythmus werden weiterhin die Pole für die V.theorie und V.praxis bleiben. Denn der materialiter überlieferte Text ist nur ein Artefakt;,Leben' gewinnt ein V.text erst durch die Artikulation, bzw. das sublinguale Sprechen im Leseakt. In den 20er Jahren zeichnete sich auch in der Sowjetunion eine neue Richtung der V.lehre ab, die von den R u s s i s c h e n F o r m a l i s t e n bestimmt wurde. Neben V. Zirmunskijs Kompozicija liriceskich stichotvorenij (1921), Rifma, ee istorija iteorija (1923) und Vvedenie v metriku (1925) verdienen Jurij N. Tynjanovs Problema stichotvornogo jazyka (1924) und Osip Briks Aufsatz Ritm i sintaksis (1927) besonderes Interesse. In Deutschland standen der Rezeption der V.theorien der Russ. Formalisten allerdings lange Zeit Sprachbarrieren, aber auch ideologische Gründe (wie in der Sowjetunion selbst) entgegen; da die V.beispiele zudem meist aus slavischen Texten stammen, ist die Brücke zu den dt. Texten schwer zu schlagen. Erst die engl. Übersetzung von Zirmunskijs Vvedenie v metriku (Introduction to Metrics, London, The Haugue, Paris 1966), der von Wolf-Dieter Stempel 1972 hg. Sammelband Texte der Russ. Formalisten Bd. 2: Texte zur Theorie des V.s und der poetischen Sprache (u.a. mit der dt. Ubers, des Aufsatzes von O. Brik) und die dt. Ubersetzung von Tynjanovs Problema stichotvornogo jazyka (Das Problem der V.sprache, 1977) ermöglichten den Zugang zum historischen Verständnis dieser V.theorie sowie zu den noch heute aktuellen Problemen. Die V.theorie T y n j a n o v s hat in erster Linie den Weg für die s t r u k t u r a l i s t i s c h ausgerichtete V.analyse und damit für die Überwindung der isolierten Behandlung von V. und Stil bereitet; sie hat zudem eine Neubewertung des Vers Libre eingeleitet. So sind V. und Prosa für Tynjanov zwei korrelativ aufeinander bezogene Reihen; konstruktiver Faktor der Prosa ist die semantische Gliederung, konstruktiver Faktor des V.es der Rhythmus, der alle übrigen Faktoren des Textmaterials ,unterwirft'. Dieser .deformierende' Einfluß des „Prinzips des Rhythmus auf das Prinzip simultaner Verbindung der Sprachelemente (der Wortgruppen oder Wörter)" führt zur Isolierung von Wörtern (meist in der Endstellung einer Zeile), zur Hervorkehrung bzw. Verdunklung des Grundmusters von Wortbedeutungen, andererseits zur Hervorkehrung von Sekundärmerkmalen. Auf diese Weise „bricht die V.perspektive die Sujet-

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perspektive" (Tynjanovs zentrale Doktrin). Entscheidend für das Verstehen eines V.textes ist, daß der Rezipient das „konstruktive Prinzip der Aufgliederung in äquivalente Reihen" und das „auf der Ebene des Metrums erzeugte progressiv-regressive Verhältnis von Vorhersage und Einlösung" (mit dem Effekt der zusätzlichen Dynamisierung durch NichtEinlösung) erkennt. Es ist von dieser Annahme der Automatisierung' und ,Desautomatisierung' her verständlich, daß Tynjanov nicht den V.fuß, sondern den V. als „Grundelement der V.sprache" ansieht. Fruchtbar für die V.analyse ist vor allem seine Auffassung vom V. als einem „Bedeutungsäquivalent" geworden.

Das Weiterwirken der V.lehre des Russ. Formalisten in den poetologischen Anschauungen der Prager Schule, insbesondere Jan M u k a r o v s k y s , wird am deutlichsten in der starken Aufmerksamkeit für die klanglichen Komponenten des V.es. So stellt Mukarovsky in Anlehnung an Brik, B. M. Ejchenbaum und V. M. Zirmunskij die Intonation und den „ständigen potentiellen Konflikt" zwischen der V.intonation und der Satzintonation {Studien, S. 165) in den Vordergrund. Sein V.Verständnis ist jedoch in seine ,Theorie der ästhetischen Funktionen, Normen und Werte (als soziale Fakten)' eingebettet, die das Problem der Wandelbarkeit der Normen und der Normdurchbrechung auch im Bereich der V.Verwendung neu zu bedenken geben. Es bleibt im einzelnen zu prüfen, ob die „Grenzlinie zwischen der V.dichtung und der Kunstprosa bis zu einem gewissen Maße durch einen stärkeren Anteil der mitteilenden Funktion, also einer außerästhetischen, in der Prosa im Gegensatz zur V.dichtung bestimmt" wird (Kapitel aus der Ästhetik, S. 21). Die Hauptimpulse aus dem Kreis der Prager Strukturalisten gingen schon in den 30er Jahren von den phonologischen Forschungen Jan Mukarovskys, Roman Jakobsons und A. Willem de Groots aus. Sie bewirkten ein Wiederaufleben des Interesses an der Anwendung phonologischer Erkenntnisse auf die V.lehre und eine engere Beziehung zwischen Linguistik und V.lehre, vor allem in der englisch-amerikanischen Forschung. Eine wichtige Vermittlerrolle spielte in dieser Entwicklung, in der auch der Versuch unternommen wurde, Linguistik und Literaturwissenschaft im Rahmen eines strukturalistischen Konzepts in engere Beziehung zu setzen (s. Struktur, Strukturalismus), Roman J a k o b son. Schon in seiner 1921 erschienenen Chleb-

nikov-Studie Die neueste russische Poesie (russ. u.dt. in: Die Russ. Formalisten, Bd. 2, S. 18135) definierte er „Poesie" als „Sprache in ihrer ästhetischen Funktion" (S. 31), zugleich machte er auf die „semantische Deformation in der Poesie" und die „phonologische Deformation des Wortes" sowie den Parallelismus als zentrales Strukturprinzip aufmerksam. 1952 legte er zusammen mit John Lötz die weit über den unmittelbaren Gegenstand hinausreichende Untersuchung Axioms of a Versification System. Exemplified by the Mordwinian Folksong (dt. in: Literaturwissenschaft und Liguistik, Bd. 3, S. 78-85) mit metrischen Regeln für die Konstituenten des metrischen Systems dieses Volkslieds vor. Kanonische Bedeutung erlangte in der Literaturwissenschaft Jakobsons Aufsatz Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht 'Wir sind sie' (1965). Die strukturalistische Auffassung von den symmetrischen Beziehungen poetischer Texte wurde jedoch von Michael Shapiro — wiederum an der Lautstruktur russischer Gedichte — in Frage gestellt. Die in den 60er Jahren — international gesehen — stark ansteigende V.forschung auf den Gebieten der P h o n o l o g i e , der generativen G r a m m a t i k und der I n f o r m a t i o n s t h e o rie fanden in den spezifisch germanistischen Arbeiten bisher nur geringen Niederschlag, obgleich Helmut Kreuzer 1966 (Mathematik und Dichtung) und Jens Ihwe 1972 (Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 3) repräsentative Beiträge vorgestellt haben, um die traditionellen Philologien zur Rezeption zu motivieren. Produktive Ansätze werden nur auf dem Gebiet der vergleichenden V . l e h r sichtbar, so in Walter J o s t s Probleme und Theorien der dt. und engl. V.lehre (1976) und in Beth B j o r k l u n d s Study in Comparative Prosody: English and German Jambic Pentameter (1978). Wie Bjorklund so folgt auch David Chisholm in seiner Knittelvers-Studie der von K. Magnuson und F. Ryder entwickelten Theorie von der Akzentwertigkeit der Silben. Widerstand regte sich erwartungsgemäß gegen die Ansprüche der i n f o r m a t i o n e l l e n M e t r i k , wie sie vor allem von Jiri Levy und Helmut L ü d t k e im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit und den Geltungsanspruch der Bemessungs- und Rechenverfahren erhoben werden. Zum Wortführer der Gegner machte sich Fritz Schlawe, der in seiner Einführung Neudeutsche Metrik (1972) der Vers- und Strophenstatistik durchaus etwas abzugewinnen

Vers, Verslehre, Vers u n d P r o s a vermag und der sein R e p e r t o r i u m Die dt. Strophenformen. Systematisch-chronologische Register znr dt. Lyrik 1600-1950 ( 1 9 7 2 ) nach datentechnischen Grundsätzen (wenn auch allzu stark vereinfacht) eingerichtet hat. Schlawes Kritik richtet sich gegen die Konstitution eines universalen metrischen Prinzips, obgleich er einräumt, „ d a ß den metrischen Erscheinungen tatsächlich etwas Gemeinsames i n n e w o h n t " (S. 2 0 4 ) . E r verurteilt die Reduzierung der V . l e h r e auf das numerische P h ä n o m e n der A b folge betonter u n d unbetonter Silben, die E i n führung der Redundanz als Wertungskriterium und die Vernachlässigung der rhythmischen K o m p o n e n t e des „ S p r a c h k u n s t w e r k s " . Schlawe unterschätzt hier die hilfswissenschaftliche F u n k t i o n solcher quantitativen Verfahren, während die Vertreter der informationellen M e t r i k sie verabsolutieren. Sowenig bisher auch die phonologischen M e t h o d e n und die generative M e t r i k anglistischer Provenienz ( J . C . Beaver, R . F o w l e r , D . C . F r e e m a n , M . H a l l e u. S. J . K e y s e r ) in der germanist. Literaturwissenschaft B o d e n gewinnen k o n n t e n , so zeichnet sich doch im B e reich der s t r u k t u r a l i s t i s c h e n V . t h e o r i e die Möglichkeit einer Einbeziehung in die I n terpretation konkreter Einzeltexte ab. J u r i j M . L o t m a n s G r u n d r i ß Die Struktur literarischer Texte (1972), in dem die Anschauungen des R u s s . Formalismus, der Prager Schule und der Informationstheorie gleichermaßen nachwirken und in ein topologisches Modell der T e x t a nalyse integriert werden, macht die p h o n o l o g i schen, lexikalisch-semantischen, metrischen und rhythmischen Perspektiven des V . e s sowie die Segmentierungsprinzipien einsichtig. V o n hier aus kann der wechselseitige G e b r a u c h strukturaler und historischer M e t h o d e n der V . l e h r e den T e x t e n in verstärktem M a ß e E r kenntnisse abgewinnen. Forschungsberichte: vgl. für die ältere Zeit Paul H a b e r m a n n , Metrik, Reallex. 1. Aufl. Bd. 2 (1926/28) S. 342-351. Für den Gesamtzeitraum bis 1956 die kommentierende Bibliographie in: U. P r e t z e l , Dt. V.kunst (s.u.) Sp. 2521-2546. Für die neuere Zeit: Hans Ludwig S c h e e l , Zur Theorie u. Praxis d. V.forschung. 1: Neuere Arbeiten zur V.theorie u. z. roman. V.forschung. Romanist. Jb. 18 (1967) S. 38-55; 21 (1970) S. 54-74; 22 (1971) S. 34-52. Rolf K l o e p f e r , Vers Libre Freie Dichtung. E. poet. Tradition jenseits von Metrik u. linguist. Poetik? LiLi H. 3 (1971) S. 81106. Donald C. F r e e m a n , Current Trends in Metrics, in: Current Trends in Stilistics. Hg. v. Braj

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B. Kachru u. Herbert F. W. Stahlke (Edmonton/ Champaign 1972; Papers in Linguistics, Monogr. Ser. 2) S. 67-81. Dieter B r e u e r , Dt. Metrik (s. § 2 ) , passim. Hendricus S p a r n a a y , Karl Lachmann als Germanist {Bern 1948) S. 131-142. - Gerold U n g e h e u e r , Die Schallanalyse v. Sievers. ZfMda. 31 (1964) S. 97-124. - Jonas F r a n k e l , Dichtung u. Wissenschaft (1954) S. 247 (zur V.lehre Jakob Minors). — Andreas H e u s l e r , Bespr. d. Dt. V.kunst Franz Sarans. DLZ. 56 (1935) Sp. 636-639. - Julius S c h w i e t e r i n g , Gedächtnisrede auf Andreas Heusler, Jb. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1940, S. 163-167, wiederh. in: Schwietering, Philolog. Schriften (1969) S. 483-486. Theodor S a l f i n g e r , Zur Sprachkunst d. Germanisten Andreas Heusler, in: Festschr. Karl Schwarber z. 60. Geb. (Basel 1949) S. 193-205. Stefan S o n d e r e g g e r , Andreas Heusler u.d. Sprache (Basel 1967; Studien z. Gesch. d. Wiss. in Basel 17), vor allem über H. als Übersetzer. Georg B a e s e k e , Rez. der Di. V.geschichte. G G A . 189 (1927) S. 165ff. u. 192 (1930) S. 297ff. Wolfgang K a y s e r , Kleine dt. V.schule (1946; 5., durchges. Aufl. 1957; Dalp-Taschenbücher 306). Ders., Geschichte d. dt. V.es. Zehn Vorlesungenfür Hörer aller Fakultäten (1960). Alfred K e l l e t a t , Bespr. d. Kl. dt. V.schule. Euph. 47 (1953) S. 224-226. Werner S c h r ö d e r , Bespr. d. Gesch. d. dt. V.es. Euph. 55 (1961) S. 327-332. Wolfgang M o h r : vgl. bes. die Artikel Dt. Versmaße u. Strophenformen und Rhythmus. — Ulrich P r e t z e l , Dt. V.kunst mit e. Beitr. über altdt. Strophik v. H. Thoma. StammlerAufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1962) Sp. 2327-2466. Ders., Kleine Schriften. Hg. v. Wolfgang Bachofer u. Karl Stackmann (1979) S. 295-372. - Erwin A r n d t , Dt. V.lehre. E. Abriß (1958; 5. Aufl. 1971). Otto P a u l , Dt. Metrik 1938; seit d. 4. Aufl. bearb. v. Ingeborg G l i e r ; 8. Aufl. 1970). Wolf-Dieter S t e m p e l (Hg.), Texte d. Russ. Formalisten. Bd. 2: Texte z. Theorie d. V.es u. d. poet. Sprache. Anm. u. Redaktion: Inge Paulmann (1972; Theorie u. Gesch. d. Lit. u. d. schönen Künste. Texte u. Abh. 6,2), Einl. u. neben den Aufsätzen von Osip Brik u. Roman Jakobson vor a l l e m B o r i s T o m a s e v s k i j , V. u. Rhythmus, Jurij T y n j a n o v , Die Ode als oratorisches Genre u. Sergej B e r n s t e j n , Ästhet. Voraussetzungen e. Theorie d. Deklamation. — Viktor Maksimovic Z i r m u n s k i j , Teorija sticha. Hg. v. Nina Aleksandrovna 2irmunskaja (Leningrad 1975), vereinigt die drei genannten Arbeiten zur V.theorie. Jurij N. T y n j a n o v , Das Problem d. V.Sprache. Zur Semantik d. poet. Textes. Mit e. Einl. v. Inge P a u l m a n n (1977; Theorie u. Gesch. d. Lit. u. d. schönen Künste 25). — Jan M u k a r o v s k y , Studien z. strukturalist. Ästhetik u. Poetik (1974), bes. S. 156ff. Ders., Kapitel aus der Ästhetik

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Vers, Verslehre, Vers und Prosa

(1970; ed. Suhrkamp 428). — Roman Jakobson, Der grammatische Bau d. Gedichts von B. Brecht "Wir sind sie', in: Beiträge z. Sprachwiss., Volkskunde u. Lit.forschung. Festschr. f . W. Steinitz (1965) S. 175-189, wiederh. in: Strukturalismus als interprétatives Verfahren, hg. v. Helga Gallas (1972; Samml. Luchterhand 35) S. 35-56. - Michael Shapiro, Asymmetry. An Inquiry into the Linguistic Structure of Poetry (Amsterdam, New York, Oxford 1976; North-Holland Linguistic Ser. 6). — A. Willem de G r o o t , Algemene Versleer (Den Haag 1946; Servire's Encyclopaedic. Afd. Taalkunde 1). - Jens Ih we (Hg.), Literaturwiss. u. Linguistik. Ergehnisse u. Perspektiven. Bd. 3: Zur linguist. Basis d. Lit.wiss. II (1972; Ars poetica. Texte 8,3), darin: Jiri Levy, Die Theorie d. V.es — ihre mathematischen Aspekte (S 17-41), Hans-Joachim Schädlich, Über Phonologie u. Poetik (S. 42-60), Philip A. Luelsdorff, Wiederholung ». Reim in d. generativen Phonologie (S. 61-77), die genannte Untersuchung von R. Jakobson u. John L ö t z (S. 78-65), Morris Halle u. SamuelJayKeyser, Deriamhische Pentameter (S. 86-107) und Joseph C. Beaver, Fortschritte in d. generativen Metrik (S. 108-119). Dazu: Thomas A. Sebeok (Hg.), Style in Language (Cambridge, Mass. 1960). Roger F o w l e r , 'Prose Rhythm' and 'Meter', in: Fowler (Hg.) Essays in Style and Language (London 1966) S. 82-99 und D. C. Freemann, On the Prime of Metrical Style. Language and Style 1 (1968) S. 63-101, beide wiederh. in: Freemann (Hg.), Linguistic and Literary Style (New York 1970) S. 347-365; 448-491. — Helmut Kreuzer (Hg.), Mathematik u. Dichtung. Versuche z. Frage e. exakten Lit.wiss. (1965; 4. Aufl. 1971), darin bes.: Manfred Bierwisch, Poetik ». Linguistik (S. 49-65), Jiri Levy (s.o.) (S. 211 -231 ), Helmut L ü d tke, Der Vergleich metrischer Schemata hinsichtlich ihrer Redundanz (S. 233-242) u. Ivan Fönagy, Der Ausdruck als Inhalt (S. 243-274). Dazu: Miroslav Cervenka, Jiri Levys Comparative Study of Verse. PTL. A Journal for Descriptive Poetics and Theory of Lit. 4 (1979) S. 587-599. Fritz Schlawe, Gegen e. funktionelle Metrik. Euph. 73 (1979) S. 199-205. — Zum Einfluß anglist. Prosodieforschung auf die dt. V.lehre: Karl Magnus on u. Frank C. Ryder, The Study of English Prosody. An Alternative Proposal. College English 31 (1970) S. 789-820. Neben der genannten ArbeitvonB.Bjorklundauch von dems. Verf. Elements of Poetic Rhythm: Stress, Syllabicity, Sound and Sense. Poetics 8 (1979) S. 351-365. David Chisholm, Goethe's Knittelvers. A Prosodie Analysis (1975; Abhdlgn. z. Kunst-, Musik- u. Lit.wiss. 185). § 4 . Die Geschichte der p r o d u k t i v - p o e t o l o g i s c h e n V . l e h r e ist zwar auch Gegenstand der wiss. V.lehre, sie muß aber zugleich

als ein eigener Forschungsgegenstand angesehen werden. Hauptkennzeichen der produktiv-poetologischen V.lehre ist die unlösbare Einheit von Praxis und Theorie: die W e r k e geben über die unmittelbare Wirkung der Texte hinaus Exempel, die durch die Theorie vielfach erst nachträglich gerechtfertigt werden; die T h e o r i e erlaubt die Rezeption dieser Werke (aus der Sicht des Autors), die meist Spuren der Auseinandersetzung mit V.problemen aufweisen und gelegentlich V.probleme verbalisieren; dabei ist die Theorie nicht immer frei von Widersprüchen. Das gemeinsame Erkenntnisinteresse der produktiv-poetologischen und der wiss. V.lehre bildet der V . , doch hinsichtlich der Wirkungsabsicht und des Interesses für den ontologischen Status des V.es teilen sich die Interessen. U m dieses Phänomen der produktiv-poetologischen V.lehre zu vergegenwärtigen, sollen hier nur jene Vertreter genannt werden, bei denen der enge Zusammenhang zwischen Praxis und Theorie am auffälligsten ist und die von der V.forschung in den letzten Jahren besonders ins Auge gefaßt wurden. Als es zu Beginn des 17. Jh.s in Deutschland zu einer neuen Kunstdichtung in dt. Sprache mit weitreichenden Konsequenzen für die V.geschichte kommt, übernimmt Martin O p i t z eine führende Rolle. Seine Autorität und die normative Kraft seiner V.regeln (Buch von der dt. Poeterey, 1624, Kap. 7) und seiner Teutschen Poemata (hg. v. Julius Wilh. Zincgref 1624, in veränderter Gestalt hg. v. M . Opitz 1625) wirkten weit ins 18. J h . hinein. Das produktiv-poetologische Moment wird an der Stellung sichtbar, die das Buch von der dt. Poeterey zwischen der ersten, von Opitz nur z . T . für den Druck vorbereiteten, dann unautorisiert erschienenen Ausgabe und der zweiten, von Opitz überarb. Fass. der Teutschen Poemata einnimmt. Opitz merzte 33 Gedichte aus, beseitigte einige schlesische Dialektizismen und gestaltete die Gedichtsammlung zu einem Musterbuch, während er seinen Standpunkt im Buch von der dt. Poetrerey rechtfertigte. Opitz gewann seine Energie aus der Polemik gegen die Fruchtbringende Gesellschaft (s. Reallex. Bd. 4, S. 123-127), aber diese Energie beruhte auf einem sozialen Trauma: M. Szyrocki, der den jungen Opitz in die Nähe der arianischen Anschauungen von Gleichheit und Brüderlichkeit rückt, sucht die Ursachen des Kampfes um eine neue Poetik in der Opposition gegen die „latinisierte Kultur der herrschenden

Vers, Verslehre, Vers und Prosa Klasse"; deshalb sei für Opitz auch nicht die Dichtung Ronsards und Heinsius' „ v o n entscheidender W i r k u n g " , sondern die „Radikalisierung seiner Weltanschauung" (S. 902). Gleichwohl ist Opitz mit seinem Prinzip, den dt. V. nach prosodischen Grundsätzen zu konstruieren, den Niederländern verpflichtet.

Am folgenreichsten war die Durchsetzung des Alexandriners (s. Reallex. Bd. 3, S. 567f.), der dem dt. V.gefühl besser als der Hexameter (s. Reallex. Bd. 1, S. 81 f.) entsprach und der sich in den antithetischen Argumentationsstrukturen des Epigramms, des Lehrgedichts und des Sonetts, vor allem aber im Drama bewährte. Der Sieg des alternierend akzentuierenden Prinzips, der schon von Heinsius erprobten Aufeinanderfolge von betonter und unbetonter Silbe, setzt generell eine — schließlich auch von der Fruchtbringenden Gesellschaft akzeptierten — neue V.norm. Die Opitzsche Regelpoetik schuf jedoch zugleich neue Begrenzungen, die den Keim späterer Normdurchbrechungen bereits in sich trugen. Die Opposition gegen das Dogma des streng alternierenden V.es (Jambus und Trochäus) regte sich früh und verschaffte dem Anapäst und Daktylos Geltung. Die Vertiefung der Kluft zwischen V. und Prosa, hohem und niederem Stil, wurde im Drama erst durch den Sturm und Drang (mit der eingelösten Forderung nach der .Natürlichkeit' der Sprache im sozialen Kontext der gewählten Themen) überwunden. Die alte Streitfrage der wiss. V.lehre, „ob der ,Renaissancevers' für ,tonbeugend alternierend' oder für ,frei akzentuierend' zu halten sei", wurde von Christian Wagenknecht am Beispiel G. R. Weckherlins dahingehend beantwortet, „daß zu Beginn des 17Jh.snichtmit einem alternierenden Vortrag dt. Renaissanceverse zu rechnen ist". Opitz hat sich „nicht sowohl gegen die ,Tonbeugungen' des romanisch gebildet V.es als vielmehr gegen dessen freie Akzentuierung gewandt. Ihm verdankt die dt. V.geschichte nicht die Restitution des vermeintlich ,deutschen' V.bildungsprinzips, der chimärischen ,Ubereinstimmung von Wort- und V.akzent', sondern nicht mehr und nicht weniger als die alternierende Gleichverteilung der zuvor freier verteilten Wortakzente" (Wagenknecht, S. 3 u. 74). K l o p s t o c k war in erster Linie V.praktiker und im Theoretischen Autodidakt. Seine V.theorie bildete sich im Zuge seiner V.experi-

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mente heraus. So erscheint die programmatische Messias-Vorrede Von der Nachahmung der gnech. Silbenmaße im Deutschen (1755), nachdem die Publikation der ersten drei Gesänge des Messias in den Bremer Beiträgen (s.d.) 1748 den Ruhm des Werkes begründet hatte und auch die ersten Oden bekannt geworden waren, und so geht die Erfindung eigener V.maße seit 1764 mit der Arbeit an der nie vollendeten Abhandlung vom Sylbenmaasse Hand in Hand; ein Teilstück daraus, das Gespräch Vom dt. Hexameter gab er 1768 dem dritten Band des Messias bei. Eine stärker ausgearbeitete Theorie des V.rhythmus erschien erst seit 1779 unter dem gleichen Titel, sechs Jahre nach der Vollendung und in der Phase der Überarbeitung des Messias. Die Konzeption der Abhandlung in Dialogform unterstreicht das kommunikative Moment; hier wird scheinbar fiktiv ein Gespräch fortgesetzt, das im Freundeskreis längst im Gange war. Wie die Arbeit am Text des Messias (in einem Zeitraum von 18 Jahren) so war auch die Arbeit an der Theorie der permanenten Korrektur unterworfen. Die ersten metrischen Schemata für seine Oden entwarf Klopstock 1764, als er zur Klarheit über die Ersetzung des V.fußes durch den sog. ,Wortfuß' und des Zeitausdrucks durch den sog. ,Tonverhalt' gelangt war. Diese Schemata haben nichts Schulmeisterliches; sie dienen als optisch einprägsame Sprechvorgaben der Rezitation, aber sie waren auch eine Hilfe für die Niederschrift, wobei Klopstock vielfach in Schwierigkeiten mit der prosodischen Gestalt der V.e geriet. In den Grammatischen Gesprächen (1793) gelingt ihm schließlich die für seine Auffassung vom Metrum hilfreiche Definition „Sylbenmaß ist Mitausdruck durch Bewegung" (Sämtl. sprachwiss. u. ästhet. Schriften. Hg. v. A. L. Back u. A. R. C. Spindler. Bd. 1, 1830, S. 127). Seine Lust, sich über V.theorie epigrammatisch zu äußern, ist in den Epigrammen An einige Beurteiler d. dt. Hexameter (Nr. 2), Der doppelte Mitausdruck (Nr. 5) und Die gewissenhafte Deklamation (Nr. 39) zu spüren. Nach Hans-Heinrich Hellmuths subtilen Oden-Analysen kommt dem Eislauf als persönlichem Bewegungserlebnis Klopstocks weitaus größere Bedeutung zu, als bisher angenommen. So sind die vier Eislauf-Oden (Der Eislauf, 1764, Sponda, 1764, Braga, 1766 und Die Kunst Tialfs, 1767) eng mit seiner V.theorie verbunden; in den letzten „experimentierte er

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mit verschiedenen Metren, um das dithyrambische' des Schlittschuhlaufens mit metrischen Mitein adäquat wiederzugeben" (S. 188), wobei die histor. Voraussetzungen des Eislaufs zu berücksichtigen sind. Auf Grund dieses Bewegungserlebnisses (der Titel Sponda thematisiert V. theoretisches; das Dithyrambische = „schnell = viele Kürzen" bildet Bewegung ab) gelingt Klopstock die Überwindung geltender V.- und Strophennormen. Der Hexameter wird durch die Auflockerung mit Hilfe des Daktylus, Spondeus und Trochäus zum sog. ,deutschen Hexameter'. Der von Johann Heinrich Voß mit der Ubersetzung von Homers Odyssee (1781, danach neu 1793) gegenüber dem ,dt. Hexameter' Klopstocks in der Nachbildung des griech. Hexameters erreichte Fortschritt liegt in der stärkeren Annäherung an das Original. Günter Häntzschel hat dargelegt, wie Voß die „antiken Gesetzmäßigkeiten besser durchschaut" als Klopstock und sie „konsequenter ins Dt. zu transponieren" versucht hat: „Das entscheidende Kriterium für Voß' Übertragung ist seine Einsicht, daß mit dem Beibehalten des originalen Metrums auch die sprachliche Füllung in ihrer originalen Anordnung beibehalten werden muß" (S. 80). Die V.lehre der W e i m a r e r K l a s s i k wird weitgehend durch die Werke selbst vermittelt, sie ist also Teil einer werkimmanenten Poetik. Schon in Schillers polemisch-aggressiver Anthologie auf das Jahr 1782 ist die Fülle der von den Verfassern verwendeten V.maße auf die Themen, die Angegriffenen und die Argumente abgestimmt, folgt aber noch keinem poetologischen Konzept. Erst im Xenien-Jahr 1796 (Musenalmanach für das Jahr 1797) und im Balla¿era-Jahr 1797 (Musenalmanach für das Jahr 1798) argumentiert Schiller in dieser produktivsten Phase seiner Zusammenarbeit mit Goethe auf der Basis eines gesicherten Formenbewußtseins; er formuliert den „epischen Hexameter", das „Distichon" und die „achtzeilige Stanze" poetisch {Werke, Nationalausg. Bd. 1, 1943, S. 285) und antwortet Friedr. Schlegel im Distichon Schillers 'Würde der Frauen (Ebda, S. 346), um Schlegels Kritik (Jugendschriften, hg. v. J. Minor. Bd. 2, 1882, S. 4) an der metrischen Rollenaufteilung im Gedicht Würde der Frauen (Ebda, S. 240f.) ironisch abzuwehren. Im Balladen-Wettstreit zwischen Goethe und Schiller und dem gemeinsam unternommenen Versuch, die Gattung der Ballade im Span-

nungsfeld epischer und dramatischer Dichtung festzulegen, setzen beide Dichter unterschiedliche V.- und Strophenmittel ein: Goethes Zauberlehrling, Braut von Korinth und Gott und die Bajadere weisen als rhythmische Gemeinsamkeit den Trochäus auf, Schiller vermeidet den liedhaften Ton, dramatisiert den V. und nennt seine Ballade Der Kampf mit dem Drachen „Romanze". Auf dem Gebiete des Dramas wird die .Poetizität' des V.es (vgl. § 5) gleichfalls durch die Werke selbst bewiesen; die wechselnden, dem antiken Chor nachgebildeten V.maße des Chores in der Braut von Messina (1803) haben größere Beweiskraft als jede theoret. Erörterung der Nachbildung antiker V.maße und Strophenformen. Im Sinne einer solchen sinnlich-konkreten V.lehre ist Goethes Faust I u. II ein Musterbuch für das V.Verständnis der Goethezeit, soweit das Drama als V.drama Gegenstand der Poetik ist. Gerade in der Spätzeit Goethes gehen Erfahrungen aus den polemischen Auseinandersetzungen (mit den Romantikern) um den Gebrauch bestimmter Strophenformen (wie dem 'Sonettkrieg') unmittelbar in Werke ein. 1795 erschienen in Schillers Hören Aug. Wilh. Schlegels Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. Damit ist Schlegel zwar in das Bildungsprogramm des Hören integriert, aber seine sprachphilosophischen und psychologischen Prämissen lenken die Reflexion über den V. in eine, von der Weimarer Klassik abweichende Richtung. Die von Schlegels Auffassung getragenen Experimente der Romantiker mit den verschiedenen V.maßen und Strophenformen, vor allem roman. Provenienz, die sich verstärkende Affinität zu Klang und Reim und die Wiedergewinnung liedhafter Formen sind von einer Neubewertung des Rhythmus als Gemütsphänomen begleitet; in dem Maße, wie dann ,Stimmung' und .Musikalität' in der V.praxis die Oberhand gewinnen, der Rhythmus .fließend' wird, setzt die Entwicklung der Auflösung des V.es ein. Schlegel selbst hat an dieser Entwicklung mit seiner dichter. Produktion kaum Anteil, sondern lenkt seine Energie auf die Übersetzung Shakespeares, Dantes und Calderöns. Eine stärkere produktiv-poetologische V.lehre zeichnet sich bei H ö l d e r l i n ab, doch sind seine Aufsätze Über die verschiedenen Arten zu dichten (Sämtl. Werke, hg. v. Friedrich Beißner. Bd. 4,1961, S. 228-232)und Über den Unterschied der Dichtarten (Ebda, S. 266-272)

Vers, Verslehre, Vers und Prosa sowie das Schema Wechsel der Töne (Ebda, S. 238-240) nicht ohne weiteres mit seiner V.praxis in Zusammenhang zu bringen. Seine Vorstellung vom „Wechsel der Töne" umfaßt sowohl gattungstypische als auch stilistische Phänomene. Als zentrale Strukturphänomene der Oden glaubt Wolfgang Binder den Bewegungscharakter" des alkäischen Maßes (für die Darstellung individueller Vorgänge) und den „Gefügecharakter" des asklepiadeischen Maßes (für die Reflexion) erkannt zu haben, während Emmon Bach auf Grund von Syntaxanalysen „fünf rekurrente Tendenzen in Hölderlins artistischem Gebrauch syntaktischer Formen" herausstellt, die als typische „syntaktische Stile" verstanden werden sollen: „gleichmäßiger (even), ausschwingender (sweeping), Stakkato (staccato), stammelnder (faltering) und aphoristischer (gnomic) Stil. Konsequenzen für die V.analyse sind hieraus nur schwer zu ziehen. In der 2. H. d. 19.Jh.s können Richard W a g n e r und Friedrich N i e t z s c h e als die bedeutendsten Repräsentanten der produktivpoetologischen V.lehre angesehen werden. Sind bei Wagner die programmatische Schrift Oper und Drama (1852) und die Dichtung Der Ring der Nibelungen (1848-1874) Ausdruck des gleichen Konzepts, so ist Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1871; 3. Aufl. u. d. T.: Die Geburt der Tragödie: oder Griechentum und Pessimismus, 1886) zusammen mit den Gedichten und Also sprach Zarathustra (1883/85) in der Zielrichtung auf eine neue Rhythmus-Lehre zu lesen. Beide gehen von der Antike aus, Wagner, indem er aus der Tanzgebärde des griech. Theaters, die nur noch als Metren ohne Musik gegenwärtig sind, eine Affektrhetorik ableitet (mit der Alliteration als dem „dichter. Moment der Sprache"), Nietzsche, indem er das Zeitgleichmaß der antiken Metrik zur Affektrhythmik in eine dialektische Beziehung setzt. Während aber bei Wagner die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis (mit ihrer Mechanik der Alliterationen) die Konzeption letztlich fragwürdig machte, beeinflußte der Impetus der Nietzscheschen Rede (mit ihrer Aufhebung der Grenzen zwischen V. und Prosa) noch spätere Generationen, vorab die Expressionisten. V.praktiker wie V.theoretiker ist auch Arno H o l z (s.a. §6), der an der Entwicklung eines neuen V.bewußtseins seit der Jh.wende maßgeblichen Anteil hatte. Aber nicht selten steht

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die Theorie seiner Produktionskraft entgegen und läßt das dogmatisch durchgeführte Achsenprinzip in der Lyrik maniriert erscheinen. In den V.en Des berühmten Schäfers Daphnis selbstverfertigte Freß-, Sauf- und Venuslieder (1904) scheint er das durch die Theorie entstandene Defizit kompensiert zu haben. Mit dem lyrischen Werk Bert Brechts seit der Hauspostille (1927) und dem Versuch Brechts, die Poetizität des V.es mit Hilfe des gestischen Rhythmus zu rechtfertigen, steht das V.repertoire einer Epoche zur Debatte. Brecht hatte schon früh die mechanistischen Zwänge der Formentradition erkannt, ohne den ,Materialwert' der V.formen zu verwerfen. So erwies sich zunächst die Kontrafaktur als das geeignete Mittel, die V.funktionen umzukehren. Im weiteren machte Brecht den V. psychagogischen Zielen (anfangs in der Wedekindschen Epater-le-bourgeois-Haltung) nutzbar. Aber er verbalisiert auch persönliche Konflikte; verbunden mit der Ablehnung des Stimmungshaften (der „dunklen Assoziationen") konstituierte er (im Gegensatz zum Erlebnispostulat der goethezeitlichen Lyrik) ein neues lyrisches Ich und schließlich eine argumentative Lyrik (Gedichte in Aus einem Lesebuch für Städtebewohner, 1930), die durch Experimente mit dem Freien Rhythmus bestimmt ist: das ,Aufrauhen' des gewohnten Rhythmus soll dem Leser und Hörer (so medienspezifisch in den Dt. Satiren. Für den dt. Freiheitssender, 1934ff.) gesellschaftliche Widersprüche bewußt machen. Die theoretischen Grundlagen für dieses Verfahren formulierte Brecht erst im Aufsatz Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen (Das Wort Jg. 5, H. 3, März 1939, S. 122-127, danach in: Versuche 27/32, 1953, S. 143-147): die Zeilengrenzen des Gedichts werden zu verstärkten Signalen, so daß das Enjambement (oft nach adversativen Konjunktionen) deiktischen Charakter erhält. Zur Struktur des Gedichts gehören jedoch ebenso die differenzierten Pausen sowie Leitworte, oppositionelle Terme und suggestive Stilfiguren als Hauptelemente des dominanten dialektischen Denkens. Mit Hilfe kolometrischer Analysen hat Klaus Birkenhauer (im Anschluß an Paul Kiparskys Studie Über den dt. Akzent, 1966) Hypothesen über den Sprachrhythmus Brechts, insbesondere über Kola entwickelt. Doch verwendet Brecht den Freien Rhythmus nicht als alleiniges Ausdrucksmittel. Der V.gebrauch und die Funktionalisierung traditionel-

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ler V . f o r m e n (in e i n e m i m m e r b r e i t e r w e r d e n d e n V . s p e k t r u m ) ist stets d e m S u j e t , d e r V e r mittlungssituation, dem impliziten Rezipienten u n d d e r W i r k u n g s a b s i c h t a n g e m e s s e n . D a s v o n B i r k e n h a u e r f ü r die „ e i g e n r h y t h m i s c h e L y r i k " B r e c h t s aufgestellte P r i n z i p des „ k o m m u n i k a t i v e n S p r a c h s t i l s " gilt f ü r die B r e c h t sche L y r i k i n s g e s a m t . E r n s t H ö p f n e r , Reformbestrebungen auf dem Gebiete d. dt. Dichtung d. 16. u. 17.]h.s Progr. Berlin 1866. Erich T r u n z , Die Entwicklung d. barocken Langverses. DuV. 39 (1938) S. 427-468. Georg B a e s e c k e , Die Sprache d. Opitzschen Gedichtsammlungen von 1624 u. 1625. Diss. Göttingen 1895. Ursula B a c h , Die Sprachbehandlung Martin Opitz' in seiner Theorie u. Praxis (Masch.) Diss. Halle 1949. Marian S z y r o c k i , Der junge Opitz. S i n n u . F o r m 7(1955) S. 875-902. Vgl. auch S z y r o c k i , Martin Opitz (1956; 2. Aufl. 1974). Christian W a g e n k n e c h t , Weckherlin u. Opitz. Zur Metrik d. dt. Renaissancepoesie. Mit e. Anh.: Quellenschriften z. V.gesch. d. 16. u. 17.Jh.s (1971). Janis Little G e l l i n e k , Die weltl. Lyrik d. Martin Opitz (1973). Rudolf D r u x , Martin Opitz u. s. poet. Regelsystem (1976; Lit. u. Wirklichkeit 18). Volker S i n e m u s , Poetik u. Rhetorik im frühmodernen dt. Staat, Sozialgeschichtl. Bedingungen d. Normenwandels im 17. Jh. (1978; Pal. 269). Reiner S c h m i d t , Dt. Ars Poetica. Zur Konstituierung dt. Poetik aus humanist. Geist (1980; Dt. Studien 34). — Irmgard B o e g e r , Bewegung als formendes Prinzip d. Klopstockschen Oden (1939; GermSt. 207). Karl Aug. S c h l e i d e n , Klopstocks Dichtungstheorie als Beitr. z. Gesch. d. dt. Poetik (1954). Hans Georg M ü l l e r , Odisches u. Dithyrambisches in Klopstocks lyr. Werk. (Masch.) Diss. Tübingen 1961. Hans-Heinrich H e l l m u t h , Metrische Erfindung u. metrische Theorie bei Klopstock (1973; Studien u. Quell, z. V.gesch. 4). Günter H ä n t z s c h e l , Joh. Heinrich Voß. Seine Homer-Übers. als sprachschöpfer. Leistung (1977; Zetemata. 68). Hans-Heinrich H e l l m u t h u. Joachim S c h r ö d e r (Hg.), Die Lehre von d. Nachahmung d. antiken V.maße im Deutschen. Quellenschriften d. 18. u. 19.Jh.s (1976; Studien u. Quell, z. V.gesch. 5). AageK ab e i l , Antiker Form sich nähernd (Uppsala 1960; Uppsala Univ. Ärskrift 1960, 6). Alfred K e l l e t a t , Zum Problem d. antiken Metren im Dt. Dtschunt. (Stuttg.) 16 (1964), H . 6, S. 50-85. - Andreas H e u s l e r , Goethes V.kunst. D V L G 3 (1925) S. 75-93, wiederh. in: Heusler, Kleine Schriften (1943) S. 462482. W. M o h r , Goethes V.kunst. WirkWort 4 (1953/54) S. 151-163. U . P r e t z e l , Interpretationen Goethescher V.kunst, in: Beiträge z. dt. u. nord. Lit. Festg. f . Leopold Magon. Hg. v. Hans Werner Seiffert (1958; Veröff. d. Inst. f. Dt. Spr. u. Lit. 11) S. 226-237. Michael W i n k l e r , Zur Be-

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Vers, Verslehre, Vers und Prosa deren Genese in P r o s a f a s s u n g e n zurückreicht und deren V.f assungen auf einem programmatischen Formwillen beruhen. Exemplarische Beispiele hierfür bietet die dt. Klassik mit zwei in Blankversen geschriebenen Dramen, Goethes Iphigenie und Schillers Don Karlos. Der B l a n k v e r s , der nach Paul Habermanns Auffassung (Reallex. Bd. 1, S. 179) „ein eigentlicher Sprechvers" ist, der durch sein Abstufungssystem viele rhetorische Modifizierungen erlaubt, kann in Deutschland um 1760 (mit Wielands Trauerspiel Lady Johanna Grey, 1759, und Ewald von Kleists Epos Cissides und Faches, 1759) als eingebürgert' gelten; er wird im Epos durch die von Klopstock ausgelöste Hexameter-Diskussion zunächst zurückgedrängt. Er ist in Lessings Nathan (1776 konzipiert, erst 1778 wieder aufgegriffen u. 1779 vollendet) nicht aus dem theolog. Streit in den Wolfenbüttler Fragmenten und im Anti-Goeze herauszulösen; als Lessing nach dem Entzug der Zensurfreiheit 1778 den Streit verschlüsselt und auf der Bühne fortsetzt, ist dies ein Kampf mit anderen Mitteln. Robert Bräuer konstatiert für die Verse „eine der Prosa stark angenäherte Sprechart" (S. 237), bei der jeder V. „eine nur ihm eigene Tonbewegung" besitzt (S. 45). Goethe und Schiller gelangen auf unterschiedlichen Wegen zum Blankvers. G o e t h e folgt weniger engl. Vorbildern (Shakespeare) als den V.en der Wielandschen Epen und kleinen Dramen; Lessings Nathan wirkt durch den dialektischen Stil, der Goethes Streben zum Parallelismus entgegenkommt. Die Libretti der Tragédie lyrique (Gluck) und des dt. Singspiels (Wieland) öffnen den Weg zu einem neuen Verständnis des klass. Erbes, das Goethe durch den Umgang mit dem episch-lyrischen Stanzenvers Ariosts und Tassos erweitert; als er im September 1786 die erste ital. Reise antritt, beherrscht er die Stanze (Die Geheimnisse, 1784/85), die er dann erst wieder in der Zueignung zum Faust (24. Juni 1797) und abermals ein Jahrzehnt später in Urworte. Orphisch (1817), danach in Howards Ehrengedächtnis (1820/22) und in der Marienhader Elegie (1823), jeweils aus einem veränderten Temperament heraus, verwendet. Sicherheit in der jambischen Praxis glaubt er durch Karl Philipp Moritz zu gewinnen, dem er in Rom begegnet, und dessen Versuch einer dt. Prosodie (1786) er würdigt: Moritz hatte „ausgeklügelt, daß es eine gewisse Rangordnung der Silben gebe und daß die dem Sinne nach bedeu-

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tendere gegen eine weniger bedeutende lang sei und jene kurz mache, dagegen auch wieder kurz werden könne, wenn sie in die Nähe einer anderen gerät, welche mehr Geistesgewicht hat" (Italienische Reise, Rom 1787). Dieses neue V.empfinden läßt sich an der Textgenese der Iphigenie auf Tauris, der Entwicklung der V.rede aus der Prosarede, verfolgen. Schon die sog. erste Prosafassung der Iphigenie (14. Febr.-28. März 1779), die Goethe im Spätherbst 1780 und Ende 1781 sprachlich überarbeitet, drängt rhythmisch zur V.rede; das Werk ist von Anfang an auf die große Form hin angelegt und weist vielfach Ansätze zu einer jambischen Bogenführung, einige reine Jamben und jambische Schlüsse auf. Im freirhythmischen Stil knüpft Goethe an den ProserpinaMonolog (in Der Triumph der Empfindsamkeit, 1. Fass. 1777) an; 1781 entsteht die freirhythmisch geprägte Prosa des Trauerspiels Elpenor, dessen Text Goethe für den Erstdruck (1806) rhythmisch gegliedert absetzen läßt. Für die Sentenzen bevorzugt er den Alexandriner, der ihm seit frühester Jugend durch Theatereindrücke vertraut war. Ein Beispiel für die Umpolung dieses Alexandriners zum Jambus der V.rede ist V. 453 (Iphigenie zu Thoas): „Ich habe nichts gesagt, als was mein Geist mich hieß" (1779, 1780, 1781), der in der endgültigen Fassung lautet: „Ich habe dir mein tiefstes Herz entdeckt". Ein Beispiel für das Schwanken im Ansatz des rhythmischen Bogens bietet bereits der Eingangsvers; er beruht auf dem Satzanfang „Heraus in eure Schatten, ewig rege Wipfel des heiligen Hayns . . . tret ich" (1799). Goethe verändert 1780 den Anfang („In eure Schatten . . ."), kehrt 1781 zur ursprünglichen Fassung zurück und entwickelt 1786 aus der jambischen Vorgabe den Blankvers: „Heraus in eure Schatten, rege Wipfel/Des alten, heiligen, dichtbelaubten Hains", dessen Füllung er durch adjektivische Amplifikation erreicht. Die Faks.-Ausg. des eigenhändigen Manuskriptes von 1786/87 (hg. v. Hans Wahl, 1938) erlaubt einen Einblick in die Schwierigkeiten der jambischen Textgestaltung, an der Herder und Wieland in späteren Korrekturphasen beteiligt sind; nur die stichomythischen Partien konnten in die endgültige Fassung weitgehend übernommen werden. Daß Goethe jambisch gefaßte Wendungen der sog. Prosafassung auch ohne formalen Zwang sprachlich neu gestaltete, zeigt das gleichzeitige Bemühen um die Angleichung des sprachlichen Ausdrucks an die in Italien gewonnenen Anschauungen; nicht allein die Tilgung der als kraß empfundenen Sturm- und DrangRelikte und die Konkretisierung wie Objektivierung einzelner Stellen prägen den „Klassizismus" der „römischen" Iphigenie, sondern die Umstimmung des Temperaments und das Bewußtwerden alter und neuer künstlerischer Mittel. Daraus gewinnt Goethe die Natürlichkeit des Stils und die „Kraft, das Ethos eines V.maßes zu ändern" (W. Kayser, Gesch. d. dt.

692

Vers, Verslehre, Vers und Prosa

V.es, 1960, S. 70). Er bewahrt jedoch den Sinn für die situative Rede; in Augenblicken der Bedrohung wird das jambische Maß durchbrochen, so in der HadesSituation, als Orest die Geschwister begrüßt (V. 1310ff.), zu Beginn des Monologs der Iphigenie im 1. Auftritt des 4. Aktes (V. 1369-1381) und im Parzenlied (V. 1725f.).

In S c h i l l e r s V.dramen führt die schon in seinen Prosadramen zu erkennende rhetorische Disposition zu einer stärkeren Profilierung der Argumente, vor allem in antagonistischen Positionen. Der Entschluß, sich des Blankverses zu bedienen, ist zunächst sujet- und gattungsbedingt, wie sich an den Plänen zum Don Karlos zeigen läßt. Spricht er in seinem Brief an den Mannheimer Intendanten W. H . v. Dalberg vom 7. Juni 1784 noch von einem „bürgerlichen Stück" und einem „Familiengemählde in einem fürstlichen Hauße", so erklärt er im Brief vom 24. August 1784, daß er es sich „jezt nicht vergeben" könne, seine „Phantasie in die Schranken des bürgerlichen Kothurns einzäunen zu wollen". Die „hohe Tragödie" verlangt einen ,hohen Stil*, und Schiller versäumt es nicht, sich entsprechend zu empfehlen: „froh bin ich, daß ich nunmehr so ziemlich Meister über den Jamben bin; Es kann nicht fehlen, daß der Vers meinem Karlos sehr viel Würde und Glanz geben wird". Bis zur Vollendung des Werkes vergingen noch drei Jahre (Schillers Brief an Körner v. 22. April 1787 belegt das „Ubersetzen" der „Prosa in Jamben"), doch ist Ende 1784 — ein Jahr nach der Vollendung des Fiesco, der nicht weniger ein politisches Stück' (allerdings ein „republikanisches Trauerspiel") ist — die Abkehr von dem für die Sturm- und Drang-Dramen geltenden Prosa-Dogma vollzogen. Allerdings handelt es sich hier — zehn Jahre der entscheidenden Begegnung mit Goethe (Juli 1794) — mehr um eine Anpassung an die Wünsche des Intendanten. Die ideologische Begründung des neuen Poetizitäts-Ideals erfolgte erst durch den Gedankenaustausch mit Goethe. So schreibt Schiller am 24. Nov. 1797 mit dem Blick auf Wallenstein (Vollendung 1799), für den er 1794 einige Szenen in Prosa verfaßt hatte: „Ich habe noch nie so augenscheinlich mich überzeugt als bei meinem jetzigen Geschäft, wie genau in der Poesie Stoff und Form, selbst äußere, zusammenhängen. Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz anderen Gerichtsbarkeit als vorher, selbst viele

Motive, die in der prosaischen Ausführung recht gut am Platz zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr brauchen; sie waren bloß gut für den gewöhnlichen Hausverstand, dessen Organ die Prosa zu sein scheint, aber der V. fodert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungskraft, und so mußte ich auch in mehreren meiner Motive poetischer werden. Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muß, in V.en wenigstens anfänglich konzipieren, denn das Platte kommt nirgends so ins Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird". Goethe antwortet am 25. Nov. 1797: „Alles Poetische sollte rhythmisch behandelt werden! Das ist meine Überzeugung". Aber es war dann gerade diese V.poesie Schillers und die Deklamation als „Hauptkomponente der dramatischen Vergegenwärtigung des Geschehens" (Vöpel, S. 153), die den Blankvers, zusätzlich strapaziert durch die Jambendramen der Epigonen, in Mißkredit brachte. Robert Bräuer kommt zu dem Ergebnis, daß bei Schiller „gelegentlich eine sehr beherrschte, sehr gekonnte Form wie etwas beziehungslos n e b e n einem würdigen Inhalt steht, statt sich mit ihm zu durchdringen" (S. 238). Trotz der erreichten V.gestalt des Don Karlos (in der Thalia-Fassung 1785/86 und in den drei Buchausgaben von 1787, 1801 und 1805 mit zunehmender Reduzierung des V.umfangs) legte Schiller den Bühnen sowohl (3) Vers-, als auch (4) Prosafassungen als Theaterbearbeitungen vor. Bei den Prosafassungen griff er — nach der Ansicht von Karl Ehlers — auf Vorarbeiten in Prosa zurück, doch ist Skepsis geboten, ob sich mit Hilfe dieser Theaterbearbeitungen wirklich ein sog. 'Ur-Karlos' rekonstruieren läßt; mit Rolf Albrecht ist festzuhalten, daß die überlieferten Prosatexte von der V.fassung abhängig sind. Es spricht jedenfalls für Schillers Theaterinstinkt, wenn er sich bewußt ist, daß „die Schauspieler die Jamben schief deklamierten", und den Hamburger Intendanten Friedr. Ludwig Schröder im Brief vom 18. 12. 1886 für die Uraufführung des Werkes (am 29. August 1787) vor die Wahl einer Prosa- oder V.fassung stellt; Schröder wählte die V.fassung.

Als K l e i s t 1807 über Joh. Friedr. Cotta den Anschluß an die von ihm als tonangebend empfundenen literar. Kreise der Zeit suchte und es ihm 1808 mit der Penthesilea (verlegt bei Cotta) tatsächlich gelang, in den Kreis der .Klassiker' einzudringen, hatte er auch mit anderen Blankversdramen das Interesse auf sich gezogen. Angesichts der Tatsache, daß in dem 1808 (im

Vers, Verslehre, Vers und Prosa Phöbus publizierten) Guiskard-Fragment „das Maß des Blankverses und mit ihm die richtige V.länge am sorgsamsten gewahrt wurde" (Dethlefsen, S. 129), wachsen die Zweifel, ob der Text noch der Fassung aus den Jahren 1802/ 03 entspricht, denn das in der gleichen Zeit geschriebene Trauerspiel Die Familie Ghonorez weist nicht die gleiche formale V.Ökonomie auf. Man mag die hier zu beobachtende „Fluktuation von Vers- und Prosasprache" (Dethlefsen, S. 132) für Shakespearsches Erbe halten; im „großen historischen Ritterschauspiel" Das Käthchen von Heilbronn (1807/08) ist die szenische Verteilung von Prosa- und V.rede Ausdruck wechselnder Stimmungslagen, so schon in der Exposition mit ihren unterschiedlichen Verhörsituationen (1,1: Verhör des Grafen vom Strahl durch das Vehmgericht; 1,2: Verhör Käthchens durch den Grafen). Dirk Dethlefsen hat durch die nüchterne Darlegung der Blankverspraxis Kleists sowohl die Theorien von der angeblichen .Musikalität' der Kleistschen Sprache (Roedemeyer, Mitringer) als auch die These von der „unveränderlichen ,Sprachgebärde' von ,Stau und Lösung'", die nach Beißner und K. L. Schneider gleichermaßen für Prosa und V. gilt, eingedämmt und die Leistungsfähigkeit der V.struktur gegenüber der Prosarede herausgestellt und auch Bräuers Ergebnisse relativiert. Bemerkenswert ist die „Vielzahl der Vier- und Sechsheber" in der Hermannsschlacht-, verfaßt in der Zeit der Hoffnung auf eine allgemeine Waffenererhebung im nördlichen Deutschland (Juni/Dezember 1808), ist dieses „für den Augenblick berechnete" Werk (Brief an Collin v. 22. April 1809) ein Agitationsstück. Daß H ö l d e r l i n im Schwanken zwischen Prosa- und V.form die Aussage auf Gattung und Ton abzustimmen versucht, zeigt die Textgenese des Hyperion. Die nur bruchstückhaft überlieferte, in Jena unter dem Einfluß Fichtes entstandene (Nov. 1794-16.1.1795), dann aber abgebrochene metrische Fassung wird aus dem Briefstil der ersten Fassung (Fragment von Hyperion, Thalia 1793) entwickelt. Nicht zufällig ist die „Schreibart der plaudernd-reihenden Blankverse" (Beißner) schon zuvor in Hölderlins Episteln, wie an Hiller (Sommer 1793) anzutreffen, für die Wieland (Geron der Adeliche, 1777 und die Übersetzung der Episteln des Horaz, 1782) als Vorbild diente. Was Hölderlin „hauptsächlich dazu bestimmte, diesen V. zu wählen, war wohl die Erwägung, daß der dt.

693

Hexameter zu erhaben klinge für den zuerst doch als Roman in Briefen konzipierten Gegenstand" (Beißner, Bd. 3, S. 501 f.). Aber die Prosa des Hyperion „ist eben doch mehr als gewöhnliche Briefprosa" (Beißner). Die Wiederabkehr vom Wielandschen Stil zeigt Hölderlin auf dem Weg, den eigenen ,Ton' zu finden. Die Qualität der Prosarede kann also der Transformation der Aussage in die V.rede entgegenstehen. Auch Brecht scheint dies erkannt zu haben, als er seinen Versuch einer Verifizierung des Manifests der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels (1847) abbrach; allerdings lagen die Schwierigkeiten der Versifizierung primär in der Entwicklung des Brechtschen lyrischen Stils. Die (Ende Jan./Anfang Febr. 1945 begonnene) Versifizierung (vgl. Arbeitsjournal 1 1 . 2 . 1945) sollte in ein großes Lehrgedicht nach dem Vorbild von Lukrez' De rerum naturae integriert werden; dabei ließ sich Brecht u. a. von Lion Feuchtwanger beraten, der Brechts Hexameter „schlecht" fand (vgl. Arbeitsjournal 3. 3. 1945). Uberliefert sind fünf Fassungen (Versifizierungsversuche der Einl. und der Kap. 1 u. 2), von denen vier in die Zeit der amerikan. Emigration fallen; in der Berliner Zeit (seit 1950) wandte sich Brecht der Aufgabe erneut zu, arbeitete aber „immer nur sporadisch" daran (Bunge, S. 203). Anlaß dazu gab das lOOjähr. Jubiläum des Manifests, aber auch der Aufstand v o m 17. Juni 1953 (Käthe Rülicke: Brecht „dachte viel nach, wie man die Grundlagen des Marxismus eindringlich publizieren k ö n n e " [Bunge, S. 202]). N u n war aber der Hexameter von Brecht bisher in verfremdender Funktion eingesetzt worden, so in den Übungsstücken für Schauspieler (Der Wettkampf des Homer und Hesiod unter Verwertung der U b e r s , der altröm. Homerlegende von Wolfgang Schadewaldt), so daß die V.funktion nicht leicht wieder ,umzukehren' war. W o l f - H . Friedrich hat gezeigt, „was ein V. wie der Hexameter zu seiner Konsolidierung braucht: Klammern, die seinen Zerfall in kleinere Einheiten verhindern" (Über den Hexameter, S. 112). D o c h gerade dies mißlang. Brecht scheiterte an der Verschiedenartigkeit der U b e r t r a gungsweisen, die zu einem inhomogenen T e x t führte. Daneben ist die Divergenz zwischen dem (Brecht im Grunde fremden) hymnischen Stil und der polit. Realität nicht zu übersehen; sie erschwerte die Aufgabe, die historische und zugleich aktuelle Bedeutung des in seiner rhetorischen Geschlossenheit für sich bestehenden Manifests durch Metren bewußt zu machen, die zudem in Deutschland durch eine fehlgeleitete Schullektüre von Goethes Hermann und Dorothea der Parodie ausgesetzt waren. Friedr. Z a r n c k e , Überd. bes. Rücksicht

fünffüß.

auf s. Behandlung

durch

lambusmit Lessing,

694

Vers, V e r s l e h r e , V e r s u n d P r o s a

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§ 6. Die Grenze zwischen V . kann

auch in u m g e k e h r t e r

und

Prosa

Richtung

über-

schritten w e r d e n , w e n n eine (in der Zeilengliederung z u m A u s d r u c k k o m m e n d e ) V . i n t e n t i o n b e s t e h t , der T e x t selbst aber sich m e t r i s c h n i r gends so verfestigt, daß er einem b e s t i m m t e n T y p u s z u z u o r d n e n ist; das I g n o r i e r e n der Signalfunktion der Zeile d u r c h den L e s e r b e d e u tet n i c h t , daß der T e x t dann automatisch der Prosa zuzuschlagen wäre. Begriffe wie , P r o s a i e r u n g d e s V e r s e s ' oder , V . z e r f a l l ' umschreiben ein P h ä n o m e n , dessen H a u p t m e r k mal diese G r e n z ü b e r s c h r e i t u n g ist. W ä h l t m a n A r n o H o l z , seine p r o g r a m m a t i s c h e n Schriften (Die Kunst, Revolution

ihr Wesen der Lyrik,

m e n t e im Phantasus

und ihre Gesetze,

1891;

1899) und Lyrik-Experi(1. F a s s . 1 8 9 8 ) als A n -

h a l t s p u n k t , dann m a r k i e r e n die J a h r e v o r der J h . w e n d e den B e g i n n der E n t w i c k l u n g

der

. m o d e r n e n ' L y r i k . D a b e i darf m a n , w i e H a r t wig Schultz (S. 2 8 ) dargelegt h a t , nicht aus d e m A u g e verlieren, „ d a ß die m o d e r n e L y r i k am Endpunkt

einer

literarhistor.

Entwicklung

steht, die bereits im 19. J h . e i n s e t z t " ; die Z u n a h m e der „ r h y t h m i s c h e n

Stauungsmomente

im L a u f e der E n t w i c k l u n g des lyrisches V . e s seit der k l a s s i s c h - r o m a n t i s c h e n Z e i t " ist die V o r a u s s e t z u n g für die N e u o r i e n t i e r u n g u m die J h . w e n d e . L a u t e t e das S c h l a g w o r t der D i c h t e r „statt Metrik R h y t h m i k "

(vgl. A r n o

Holz'

B r i e f an H e r w a r t h W a i d e n v . 12. N o v . 1 9 1 7 i n : H o l z , Ausgew.

Briefe,

h g . v. A n i t a H o l z u .

M a x W a g n e r , 1 9 4 8 , S. 2 3 9 ) , m u ß t e n die M e t r i k e r die A u s h ö h l u n g b e w ä h r t e r S y s t e m e

be-

f ü r c h t e n . Zeitlich s c h w e r genau zu fixieren, hatte sich der U b e r g a n g v o n den F r e i e n R h y t h m e n (mit ihren n u r n o c h r u d i m e n t ä r e n antikischen M u s t e r n ) z u m F r e i e n V e r s v o l l z o g e n , aber die „ K r i s e des f r a n z ö s i s c h e n V . e s " w a r f r ü h e r als die des deutschen V . e s z u m A u s b r u c h g e k o m m e n . M i t d e m Ü b e r d r u ß an v e r b r a u c h t e n M e t r e n allein ist diese K r i s e n i c h t z u erklären, auch lassen sich F r e i e R h y t h m e n u n d Freier

Vers

entwicklungsgeschichtlich

nicht

v o n e i n a n d e r t r e n n e n . D a n e b e n sieht U . F ü l l e b o r n seit der M i t t e des 18. J h . s als neue G a t t u n g das sog. P r o s a g e d i c h t e n t s t e h e n , das sich v o n

Vers, Verslehre, Vers und Prosa der Kurzgeschichte durch eine spezifische Strukturierung unterscheidet und seit dem 19. Jh. impoéme enprose Baudelaire'scher Prägung auch in Frankreich auftritt. Neue sprachliche Energien suchten neue Ausdrucksmittel, so daß Affekt und Satzbildung gleichermaßen zum Untersuchungsgegenstand werden; das eine ist eine psychologische, das andere eine philologische (und linguistische) Frage, und nur die zweite kann von der V.lehre in dem Maße beantwortet werden, in dem die Syntax (mit O. Brik) als ^ermittelnde Instanz zwischen Rhythmus und Semantik' verstanden wird. Die f r e i r h y t h m i s c h e n G e d i c h t e (L. L. Albertsen ordnet sie einer „motorischen Poesie" zu) gelten mit Recht als bedeutendste Innovation in der dt. V.geschichte. Sieht man von der Sonderentwicklung aus freien Madrigalen bei Wieland ab, so scheinen sie vordergründig dadurch zur Gewohnheit geworden zu sein, daß auch der ,Not' bei der Nachbildung antiker Oden eine ,Tugend' wurde; ihre antikische Herkunft ist bei Klopstock, Goethe und Hölderlin an zahlreichen metrischen Reminiszenzen nachzuweisen. K l o p s t o c k betont den Gattungsursprung expressis verbis, indem er freirhythmische Gedichte als „Oden" bezeichnet, die „in jeder Strophe das Silbenmaß verändern" (Oden, hg. v. Franz Muncker u. Jaro Pawel Bd. 1, 1889, S. 235). Doch sind diese Gedichte nicht nur „übriggebliebene Fragmente aus seiner Odenwerkstatt" oder Teile, „die sich aus seinen Hexametern gelöst haben" (U. Pretzel, Sp. 2398), und sie haben auch nicht von Pindar (wie bei Hölderlin) ihren Ausgang genommen. Die Kraft seiner Freien Rhythmen erwächst aus dem Willen zum Hymnischen und aus der Suche nach Äquivalenten für das neue Zeitgefühl des Dithyrambischen. In der ersten Phase seiner freirhythmischen Hymnen (1754-1764) war seine „Wortfußtheorie noch nicht einmal im Keime vorhanden" (H.-H. Hellmuth, S. 79). Zwischen 1764 und 1767 wendet sich Klopstock zunächst von den Freien Rhythmen wieder ab, um für die Steigerung des Hymnischen (im Triumphgesang im 20. Gesang des Messias) nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen und die päonische Strophe zu erproben. Als er 1767 dieses Experiment abbricht, führt ihn seine „zunehmende Bardenbegeisterung" (H. H. Hellmuth, S. 195) zu den Freien Rhythmen zurück. Das hymnische Sprechen, mit seinen eigenen Satzprägungen und befreienden Rhythmen, erlaubt

695

dann in der Folgezeit, als das vaterländischkultische Moment des .bardische' Dichtens zurücktritt, in verstärktem Maße dichterisches Selbstverständnis, so bei Goethe im „Erwachen des Genius zu sich selber" (Kommerell, S. 448), zuletzt bei Hölderlin; in den freirhythmischen Gedichten von Heines Nordsee-Zyklus (1825/26) ist der hymnische Ton der Veränderung durch impressionistische Faktoren ausgesetzt. Auch bei H ö 1 d e r 1 i n gehen die Hymnen aus den metrischen Formen der Oden hervor, aber in diesen Oden Pindarscher Prägung (wie auch in den Elegien) ist das Hymnische bereits angelegt. Am Beispiel der Hymne Wie wenn am Feiertage . . . hat Peter Szondi gezeigt, welche Affektschwelle Hölderlin bei der Entwicklung der metrischen Fassung aus dem Prosaentwurf nicht zu überwinden vermochte: Hölderlin bricht an jener Stelle ab, die „im Prosaentwurf die mögliche Verschuldung des Dichters motiviert" (S. 53); für Szondi ist Hölderlin gescheitert, „weil er die Wahrhaftigkeit der Verse steigern, das bislang als Möglichkeit Ausgegebene als Wirklichkeit bekennen sollte" (S. 57). Daß das vom Leid „noch nicht ganz befreite Ich" dem „hymnischen Ich ins Wort fällt", wird nach Szondi an der Elegie Menons Klage um Diotima deutlich; die Traumatisierung durch den Verlust der Geliebten erlaubt den Weg zu den Göttern nicht. Der Weg zum freirhythmischen Stil der Hymnen ist für Hölderlin erst mit der Selbststilisierung zum „Dichter als Diener" frei. N o v a l i s ' Hymnen an die Nacht gelten als exemplarisches Beispiel für den Übergang vom freirhythmischen Gedicht zum , Gedicht in Prosa'. Nimmt man die 3. Hymne, bezogen auf die „Vision am Grabe Sphiens" (nach dem Tagebuch vom 13. Mai 1797), als ,Ur-Hymne', dann steht auch dieses Werk mit einem Trauma in Zusammenhang; Edward Youngs Klagen oder Nachtgedanken, Herders Paramythien und Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands lieferten die stilistischen Vorbilder. Novalis vollzieht dann die „Wendung vom persönlichen Erleben zum Weltanschaulichen und Weltgeschichtlichen, vom Gefühlsausdruck zur Aussprache religiöser Überzeugungen, die zuletzt die Formen kirchlichen Gemeindegesangs gewinnt" (Samuel, S. 118). Der Athenäum-Druck (Herbst 1800) bietet den Text, für den die hsl. Druckvorlage fehlt, in einer Mischform; bis zum Schluß der 4. Hymne erscheint

696

Vers, Verslehre, Vers und Prosa

er in rhythmischer Prosa (mit 28 Schlußversen), in der 5. Hymne wachsen ein 3strophiges Traumbild und eine Sängerstrophe aus dem narrativen Zusammenhang heraus (mit dem Hymnus Gehoben ist der Stein . . . als Schluß), während die 6. Hymne (Sehnsucht nach dem Tode) sich nur noch strophisch entfaltet. Erst die überlieferte Handschrift, die eine Vorstufe repräsentiert, gibt den Blick auf die insgesamt freirhythmische Konzeption (mit „zahlreichen Änderungen der Zeilenabrenzungen") frei. Richard Samuel leitet aus diesen Änderungen eine Unsicherheit Novalis' ab, die ihn veranlaßt haben könnte, „die Druckfassung äußerlich in Prosa zu schreiben"; ebenso könnte er die Prosaform auch gewählt haben, „um dem Leser nicht durch irgendwelche Zeilentrennungen eine bestimmte Art des Lesens und Betonens aufzunötigen, sondern die Hymnen allein durch ihren geheimen und inneren Rhythmus, die ihnen innewohnende Melodie wirken zu lassen" (S. 119). Entscheidend ist die Abstufung, das Lenken auf narrative und auktoriale Partien sowie den Ubergang zur betont rhythmischen Rede. Auch wenn die V.e in der Prosafassung „konsequent auf den rhythmischen Ausdruckswert der Satzeinheiten (Kola) reduziert sind und von daher als ein einziger langer V. aufgefaßt werden können" (Breuer, S. 212), so sind sie doch als Prosa zu lesen. Ein Wechsel der T ö n e und wiederum eine Affektschwelle, die das freirhythmische Sprechen hemmt, ist im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte von R i l k e s Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus, die ursprünglich nicht in Rilkes „ P l a n e " waren (Brief an Witold v. Hulewicz v. 13. 11. 1925) aufzuzeigen; der „orphische T o n " der Sonette hat gegenüber dem „elegischen T o n " (Eudo C . Mason) eine Korrektivfunktion. Auf Duino entstanden im Januar/Februar 1912 nur die 1. u. 2. Elegie in endgültiger Fassung sowie die 46 Zeilen der 10. Elegie, von denen später nur die 12 ersten Zeilen wiederverwendet wurden; im Winter 1912 und 1913/14 (in Spanien und Paris) kam es zu weiteren Versuchen mit dem größten Teil der J. Elegie als Ausbeute; nach der 4. Elegie und der Einberufung zum Militär (Nov. 1915 in München) tritt jener Produktionsstau ein, den Erich Simenauer (S. 596) aus psychoanalytischer Perspektive mit Rilkes Narzißmus (seiner Scheu vor Spiegeln und einer „analerotischen Komponente seines Wesens") in Zusammenhang gebracht hat. Aber auch aus lit.wiss. Sicht reicht die Ursache der Störung tiefer als die äußeren Umstände des Krieges nahelegen. So schreibt Mason: „Diese zwiespältige Angst vor der Liebe war es, mehr noch als der Krieg . . ., der an der langen Stockung in der Vollendung der Elegien schuld war; dieses Gefühl, daß es vielleicht nicht recht ist, alles Natürliche und Menschliche so sehr in

Frage zu stellen, um den Künstler zu verherrlichen, und daß eine erst auf so großen Umwegen erreichte Lebensbejahung doch letzten Endes auf eine Lebensverneinung hinausläuft" (S. 182). Die bemerkenswerte Wiedereinführung des „Ichs" in die V.rede (gegenüber dem Verzicht in den Neuen Gedichten) kann Simenauers Behauptung bekräftigen, daß es Rilke „ausschließlich um sein Ich zu tun ist!" (S. 663). Rilke, der seit 1907 über psychoanalytische Verfahren informiert war, sich aber der Behandlung stets widersetzt hat (Brief an den Arzt E. Frh. v. Gebsattel v. 14. Jan. 1912) sah seine Arbeit als eine Art „Selbstbehandlung" an (dafür sprechen in den Elegien implizite, gegen die Psychoanalyse gerichtete Argumentationen); sie führt zur „Apotheose der künstlerischen Selbstherrlichkeit" (Mason, S. 183) und zum „Wahn von seiner hohen Berufung" (Simenauer, S. 537). Die Rekonstruktion der Niederschrift der Sonette im Kontext der Vollendung der Elegien (Febr. 1922) zeigt das Uberwiegen des „orphischen Tons". Die veränderte Grundeinstellung (Mason: „Dichtung nicht um ihrer selbst oder um des Dichters willen, sondern um aller Dinge willen, die Dichtung im Dienst des ganzen Daseins", S. 183) löst den Produktionsstau auf und ermöglicht das gleichzeitige Schreiben in freien Rhythmen wie das Schreiben von Sonetten. Zwischen Rilkes Elegien als Dokument einer stabilisierten Innerlichkeit (Rilke an L o u Andreas-Salome im Brief v. 11. Febr. 1922: „ E s war doch wie eine Verstümmelung meines Herzens, daß die Elegien nicht da — waren") und der Entwicklung des freirhythmischen Stils als Mittel polit. Argumentation in den Gedichten Brechts liegen nur wenige Jahre. 1927 ironisierte B r e c h t anläßlich eines Lyrik-Wettbewerbs den Gesang des „in den Genuß seiner eigenen Stimme versunkenen Sängers" und die „seelische Uberbeschäftigung" ( S c h r i f t e n zur Literatur und Kunst. B d . 1 , 1 9 6 7 , S. 74) und rügte die „rein lyrischen P r o d u k t e " , da sie „sich einfach zu weit von der ursprünglichen Geste der Mitteilung eines Gedankens oder einer auch für Fremde vorteilhaften Empfindung" entfernen (S. 70). Die Grenze vom V . zur Prosa wurde danach immer durchlässiger; die Syntax beherrschte die Zeile. D o c h auf einer anderen Entwicklungslinie, der der Wortkunst August Stramms und des D a d a i s m u s , waren zuvor gerade die Sätze in Worte und Laute zerschlagen worden. Beide Tendenzen der Uberwindung des V.automatismus bestimmen noch heute die lyrische Praxis. Die über zwei Jahrzehnte sich entfaltende k o n k r e t e P o e s i e (Claus Bremer, Helmut Heißenbüttel, Ernst Jandl, Franz M o n , G e r -

Vers, Verslehre, Vers und Prosa hard Rühm u. a.) nimmt ihren Ausgang von Eugen Gomringers Band konstellationen constellations constellaciones (1953). So deutet Helmut Heißenbüttel (Einl. zu: Gomringer, Worte sind Schatten. Die Konstellationen 1951-1968, 1969, S. 14) seine produktive Rezeption der Gedichte Gomringers als einen „Akt der Befreiung" und bekennt: „Es handelte sich darum, daß eine Sperre aufgehoben war, daß ich demonstriert fand, in welcher Richtung man operieren konnte, um die Sperre zu durchbrechen". Das kontemplative (zuweilen meditative) Moment der konkreten Poesie mußte die traditionellen V.-, Reim- und Strophenmuster, deren mnemotechnische Funktion nur sekundär ist, zwangsläufig verdrängen. In der Tradition des Figurengedichts seit den Laudes sanctae crucis des Hrabanus Maurus (Migne, Patr. lat. 117, S. 133), die noch streng an den Hexameter gebunden sind, und den satztechnischen Experimenten im Schriftbild barocker Gedichte (vgl. 25 Figurengedichte d. Barock, hg. v. Karl Severin, 1982) tritt mit der konkreten Poesie ebenso zwangsläufig der Umschlag ins Dominant-Optische ein (einige Gedichte sind jedoch ebenso im Bereich der Nur-Hörbarkeit wirksam); er ist durch das Achsenprinzip bei Arno Holz, aber auch durch Trakl vorbereitet, der — wie die Textgenese seiner Gedichte erkennen läßt — um Wort- und Bildkonstellationen ringt, denen immer wieder rhythmische Hindernisse entgegenstehen. In seinem 1958 gehaltenen Kolleg zur Geschichte des dt. V.es konstatierte Wolfgang Kayser für die Lyrik der Jh.mitte „einen seltenen Tiefstand des V.es" (S. 151). Aber im Grunde hatte sich nur das Regelprinzip abgenutzt und seinen Reiz weitgehend verloren, es sei denn, daß traditionelle V.- und Strophenformen im Bewußtsein ihrer Herkunft verwendet und entsprechend funktionalisiert werden konnten. Die Regeneration des Gedichts erfolgte durch die Vergegenwärtigung jener Grundelemente der poetischen Rede, die der Lyrik (gegenüber der Prosa) schon immer „eine höhere Spannkraft" (Ezra Pound) gegeben haben: Atem und Zeitmaß, Energie der Silbe und die Kraft des Sprechbogens. Die Anregungen kamen aus dem Ausland: Walter Höllerer nennt William Carlos Williams' Theorie des veränderlichen Metrums, Charles Olsons Theorie der Silbe und des „projektiven V.es" sowie Tadeusz Rozewicz's Kampf gegen die Bildersucht. Die 1965 zwischen Karl K r o l o w

697

und Walter H ö l l e r e r in der Zeitschrift Akzente ausgetragene Kontroverse über Höllerers T h e s e n zum langen G e d i c h t führte zu einer Positionsbestimmung der „Gedichte in den 60er Jahren". Für Höllerer ist das lange Gedicht — nicht quantitativ, sondern als „poetischer Vorgang" in der rhetorischen Tradition Walt Whitmans und W. Majakovskijs verstanden — „schon seiner Form nach politisch", d.h. „republikanisch" (im Gegensatz zum „aristokratischen", imaginistischen und stilisierten kurzen Gedicht). Trotz aller Betonung der typologischen Unterschiede — der „erzwungenen Preziosität und Chinoiserie", der „starr gewordenen Metaphorik", der „knarrenden Rhythmik" und der „bemühten Schriftbildschematik" des kurzen Gedichts gegenüber dem „freieren Atem", dem „längeren Sich-einlassen" und der „Zerreißprobe des Satzes" des langen Gedichts — hat Höllerer weder die Ablösung des einen Typs vom anderen noch ihren absoluten Gegensatz im Sinn. Das lange Gedicht wird vielmehr als „folgerichtige Gegenbewegung gegen die Verkürzung des Imaginismus", als Ausdruck einer „Atemwende" (Paul Celan) und zuletzt als „Vorbereitung für kurze Gedichte" verteidigt. Es ist noch nicht abzusehen, welche neuen V.werte aus diesem Purgatorium des V.es — dem Vertrauen auf den breiteren Sprachstrom und das „Wiedergewinnen des syntaktischen Zusammenhangs" — hervorgehen werden. 1967 schrieb Günter Herburger (Dogmatisches über Gedichte, in: Kursbuch 10, S. 160): „Die langen Gedichte, die inzwischen gemacht werden, sind immer noch zu kurz, sie müssen länger werden". In seiner Antwort auf die von der Dt. Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt 1979 gestellte Preisfrage: „Welche Kriterien gibt es heute für den freien Vers"' hat HansJost F r e y die Entwicklungsgeschichte des freien V.es in Deutschland und Frankreich rekapituliert. Während in der dt. Lit. die freien Rhythmen „eine Art Zwischenstufe" einnehmen, „indem sie einerseits zwar den V. auflösen, andererseits aber selber eine Tradition begründet haben" (S. 79), repräsentieren die freien V.e eine von Frankreich ausgehende „Zerfallsbewegung", die „nur noch dadurch in Ordnung gehalten" wird, „daß die in ihr zerfallende Ordnung als das in ihr sich Entziehende und ihr nicht mehr Erreichbare gegenwärtig bleibt" (S. 57). Der derart,zeichenhaft' gewordene V. (S. 77) verweist auf den eigentlichen

698

Vers, Verslehre, Vers und Prosa — Verserzählung, Neuhochdeutsche

Konflikt, und zwar im Zentrum des V . - B e griffs, dem graphisch-optischen Moment der Zeile und ihrer Signalwirkung. Dieser Konflikt zwischen freiem und schriftlichem V. ist in Frankreich schon bei Baudelaire erreicht: „nicht mehr diese oder jene V.form ist gefährdet, sondern der rhythmische Zusammenhalt der R e d e " (S. 80). Adolf G o l d b e c k - L o e w e , Zur Gesch. d. freien V.e in d, dt, Dichtung von Klopstock bis Goethe. Diss. Kiel 1891. Max K o m m e r e l l , Die Dichtung in freien Rhythmen u. d. Gott der Dichter, in: Kommerell, Gedanken über Gedichte (1943) S. 430-503. August C l o s s , Die freien Rhythmen in d. dt. Lyrik (Bern 1947) S. 131-138. Gerh. S t o r z , Der V. in d. neueren dt. Dichtung (1970). HartwigSchultz, Vom Rhythmus d. modernen Lyrik. Parallele V.Strukturen bei Holz, George, Rilke, Brecht u. d. Expressionisten (1970). Leif Ludwig Albertsen., Die freien Rhythmen. Rationale Bemerkungen im allgemeinen u. zu Klopstock (Aarhus 1971). Rolf K l o e p f e r , Vers Libre — Freie Dichtung. E. poet. Tradition jenseits von Metrik und linguist. Poetikf LiLi 3 (1971) S. 81-106. - UlrichFülleborn, Das dt. Prosagedicht. Zur Theorie u. Gesch. e. Gattung (1970). Birgit W i t t e - H e i n e m a n n , Emblematische Aspekte im Gebrauch d. freien V.es bei Andreas Gryphius. Jb. d. dt. Schillerges. 17 (1973) S. 166191. - Vgl. zu Klopstock: Hans-Heinrich Hellmuth in § 4. Horst Enders, Stil u. Rhythmus. Studien z. freien Rhythmus bei Goethe (1962; Marburger Beitr. z. Germanistik. 3) — Peter S z o n d i, Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgesch. d. hymnischen Spätstils (1963), wiederh. in: Szondi, Hölderlin-Studien. Mit e. Traktak überphilolog. Erkenntnis (1970; ed. Suhrkamp 379) S. 3761. — Paul R e m e r , Die freien Rhythmen in Heinrich Heines 'Nordseebildern . Diss. Heidelberg 1889. Joachim M ü l l e r , Heines 'Nordseegedichte'. E. Strukturanalyse. Wiss. Zs. d. Fr. SchillerUniv. Jena, Ges.- u. sprachwiss. Reihe 6 (1956/ 57), H. 1/2, S. 191-212, wiederh. in Müller, Von Schiller bis Heine (1972) S. 492-580. - Vgl. zu Novalis: Rieh. Samuel in: Novalis, Schriften. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Rieh. Samuel. 2. Aufl. Bd. 1 (1960) S. 115ff. - Eudo C. M a s o n , Lebenshaltung u. Symbolik bei Rainer Maria Rilke (1939; Lit. u. Leben 3; 2., berichtigter u. mit e. Nachw. vers. Ausg. Oxford 1964). Erich Simenauer, Rainer Maria Rilke. Legende u. Mythos (1953). — [Zitatensammlung:] Überlegungen, die für lange Gedichte gelten können. Akzente 12 (1965) S. 97-99. Walter H ö l l e r e r , Thesen zum langen Gedicht. Ebda, S. 128-130. KarlKrolow, Das Problem d. kurzen u. langen Gedichts. Akzente 13 (1966) S. 271 -287. Walter H ö l l e r e r , Gedichte in d. 60er Jahren. Antwort auf Karl Krolows

Essay. Ebda, S. 375-383. - Christian Wagenk n e c h t , „Konkrete Poesie", in: Der Berliner Germanistentag 1968. Hg. v. Karl Heinz Borcku. Rudolf Henss (1970) S. 100-118. S. J. S c h m i d t , Konkrete Dichtung. Theorie u. Konstitution. Poetica4 (1971) S. 13-31. - Hans-Jost Frey u. Otto L o r e n z , Kritik d. freien Verses (1980), S. 13-81: V.zerfall (Frey), S. 83-124: Poesie fürs Auge (Lorenz). Klaus

Kanzog

Verserzählung, Neuhochdeutsche Vorbemerkung. Die ,Verserzählung' als Gegenstand lit.wiss. Betrachtung ist ein Problem erst der nhd. Lit., insofern hier die Verserzählung von der gewöhnlichen Prosa(erzählung) abzuheben und in ihrer Eigenart zu bestimmen ist. Im MA. hingegen gibt es ein derartiges Nebeneinander von Prosa und Vers samt den hierin für einen Autor gründenden Entscheidungsmöglichkeiten nicht. Während es einerseits in ad. Zeit nicht an Versuchen fehlt, die aus der germ. mündlichen Dichtungstradition überkommene Stabreimtechnik für die neue, die christliche (Buch-)Dichtung zu adaptieren (Heliand, Genesis; Muspilli, Wessobrunner Gebet u.a.), wird andererseits schon im dritten Viertel des 9. Jh.s (Otfrid von Weissenburg, Evangelienharmonie; Christus und die Samariterin u.a., vgl. auch Althochdeutsche Literatur, Reallex. Bd. 1, 1958, bes. S. 34f.; Reimvers, altdeutscher, Reallex. Bd. 3, 1977, S. 424ff.) jene neue Erzähl- und Darstellungsform verwendet, die dann bis zum ausgehenden MA. sowohl für die im eigentlichen Sinne poetischen als auch für die überwiegende Zahl der von Natur aus unpoetischen Texte in Geltung geblieben ist: der zumeist vierhebige, paarweise endgereimte Vers, der fallweise zu Strophen oder strophenähnlichen Gebilden zusammengeschlossen werden kann. Der Vers ist im deutschen MA. die Normalform für literar. Aussage, auch im Bereich von Lehr-,Gedichten', gereimten Predigten, Traktaten, Chroniken u. dgl. Ein ,Roman in Prosa' wie im 13. Jh. der nach franz. Prosa gearbeitete sog. ProsaLancelot (hg. von R. Kluge, DTMA. 42 [1948]; 47 [1963]; 63 [1974]), ein Werk gewaltigen Umfangs, bleibt auf lange die Ausnahme. Daraus ergibt sich, daß mal. dt.sprachige Erzählung grundsätzlich ,Verserzählung' ist, ob es sich dabei um epische Großdichtungen oder um Werke eher novellistischen (märenhaften) Charakters handelt (vgl. Novellistik, mittelhochdeutsche, Reallex. Bd. 2,1965, S. 701 ff.). Erst im späten und ausgehenden MA. setzt ein allmählicher Übergang zur Prosa ein (vgl. auch Frühneuhochdeutsche Literatur, Reallex. Bd. 1,1958, §6-8, S. 513515); neben den in Versen abgefaßten Heiligenlegenden beispielsweise gewinnen die in Prosa erzählten an Bedeutung, zahlreiche epische Werke des MA. wer-

Verserzählung, Neuhochdeutsche den zu später so genannten .Volksbüchern' (s. Volksbuch) umgearbeitet; den in Hss.-Sammlungen des 15. Jh.s überlieferten gereimten Schwänken stehen die gedruckten Schwankbücher des 16. Jh.s gegenüber (vgl. Schwank, epischer, Reallex. Bd. 3, 1977, § 12-§ 14, S. 698-700) usw. Am Ende dieser Entwicklung hat die Prosa jene Stellung gewonnen, die im MA. der Vers innegehabt hat. Normalform ist nunmehr die Prosa. Von da ab ist der Rückgriff auf den epischen Vers ein gewollter Rückgriff, zugleich eine bewußte Entscheidung gegen die herrschende Prosa und fordert zu entsprechender Wertung auf. A.

M.

Gattungsbestimmung. § 1. Der B e g r i f f V. ist mehrdeutig. Die Autoren bezeichnen ihre V.en im allgem. nicht als solche. Die Bezeichnung V . war notwendig geworden, als man unter einer „Erzählung" eine Prosaerzählung zu verstehen begann und eine Erzählung in Versen von dieser unterscheiden wollte. - Insofern Erzählung eine Grundform literar. Gestaltens meint, kann jede Form epischer Versdichtung, also auch die Großform des Epos (s. § 2) als V . gelten, und tatsächlich verwendet man den Begriff V . in der heutigen Forschungslit. gelegentlich in dieser umfassenden Bedeutung. Daneben begegnet das Wort V. als ein Sammelbegriff für verschiedene Kleinformen der Versepik wie Fabel, Parabel, Anekdote und Novelle, Schwank, Legende, Märchen und Sage, Romanze und Ballade usf. (Werke der rhetorisch-didaktischen Gattungen wie beschreibendes Gedicht, darunter gewisse Formen der Idylle, Lehrgedicht, Lobgedicht, poetische Epistel, Verssatire usf. können zwar erzählerische Elemente enthalten, sind aber als Ganzes nicht der V. zuzuordnen.) Im engeren Sinne ist V . eine epische Kleinform, die sich ihrem äußeren und inneren Umfang nach zum (Vers-)Epos etwa so verhält wie die Prosaerzählung zum Prosaroman. Von der V . in dieser eingeschränkten Bedeutung ist hier die Rede.

699

nen von Hagedorns Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen und reicht bis etwa ans Ende der 70er Jahre des 18. J h . s ; doch lebt die V . als Gattung bis in die Mitte des 19. J h . s fort. Andrerseits gibt es vor und nach diesem Zeitraum Dichtungen, die als V.en anzusehen sind. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs V . , seine widersprüchliche Verwendung, die im Laufe des 19. J h . s wachsende Unsicherheit und Willkür in den Gattungsbezeichnungen auf Seiten der Autoren und die Begriffsverwirrung in der Forschungslit. sind Schwierigkeiten, mit welchen man bei diesem Überblick zu rechnen hat.

I.

In dichter. Praxis und Theorie des 18. J h . s und der 1. H . des 19. J h . s wird die V. als eine eigene Gattung erkannt, aber „poetische Erzählung" oder bloß „Erzählung" genannt. Dabei ergeben sich Untergattungen, indem die Autoren ihre V.en näher bestimmen, sei es nach Tonlage oder Behandlungsart als „scherzhaft e " , „komische" oder „moralische Erzählung", sei es nach Milieu oder Stoffwelt als „Schäfererzählung" oder „allegorische Erzählung" (s. I I I , § 6). Die Blütezeit der V. im dt. Sprachbereich beginnt 1738 mit dem Erschei-

§ 2. A b g r e n z u n g . U m zu einer Theorie der Gattung V . zu gelangen, hat man deren Grenzen abzustecken. Dabei ist nach dem Spielraum für den Umfang einer V . zu fragen (b), die V . ist von den verschiedenen Typen des Epos abzugrenzen (c u. d), und schließlich ist ihr Verhältnis zu den Kleinformen der Versepik zu untersuchen, die außer am Epischen z. T . in jeweils verschiedenem Maße auch am Lyrischen, Dramatischen und Didaktischen teilhaben können (e). Angesichts der Forschungslage (a) handelt es sich im folgenden um Vorläufiges. a) F o r s c h u n g s l a g e u n d M e t h o d e . In den poetologischen Handbüchern (wie G . v. Wilperts Sachwb. der Lit.) fehlt das Stichwort V . , und die neueren Darstellungen zur nhd. Versepik sind auf das Großepos ausgerichtet und der Epostheorie des dt. Idealismus und der Folgezeit verpflichtet. Insofern die Autoren beiläufig auf V.en zu sprechen kommen, neigen sie dazu, die letzteren am Epos zu messen und dabei die Eigengesetze der V. zu übersehen. Man hat auf Theoretiker und Literarhistoriker wie C. H. Schmid, Sulzer-Blanckenburg, Eschenburg und Bouterwek zurückzugreifen, die seit dem Ende der 60er Jahre des 18. Jh.s die Überlieferung der älteren Gattungspoetik fortsetzen und im Anschluß an den Aufschwung der „poetischen Erzählung" diese als eine eigene Gattung erkennen. Doch gilt es vor allem, auf die gattungspoetologischen Überlegungen der zeitgenöss. Dichter selbst zu achten. b) U m f a n g . Während dieser in festen dichter. Gattungen denkenden Epoche werden versepische Werke von bestimmter, wenngleich unterschiedlicher Länge als „Erzählungen" bezeichnet. Die 48 Stücke, die Heinse in seiner für das dt. lit. Rokoko repräsentativen Anthologie von 1775, Erzählungen für junge Damen und Dichter, vereint,

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haben einen Umfang zwischen 6 und 962 Versen. Wieland nennt seine Nadine von 74 Versen „eine Erzählung", betrachtet auch noch den Pervonte von 1362 Versen als eine solche, doch wählt er für alle seine umfangreicheren versepischen Werke und selbst für einige kürzere die unverbindliche Benennung „Gedicht". Als Brockhaus, der Verleger des Taschenbuchs Urania, 1816 einen Wettbewerb für Versuche in den drei Gattungen „poetische Erzählung", „Idylle" und „poetische Epistel" ausschreibt, verweist er als Richtschnur für den Umfang auf Popes Lockenraub (798 Verse; vgl. d) und dessen Versessay Versuch über den Menschen (1304 Verse). Preisgekrönt wird die Stanzendichtung Ernst Schulzes, Die bezauberte Rose, die 2048 Verse umfaßt und somit nach Bouterwek nur „in Ermangelung eines genauer bezeichnenden Titels poetische Erzählung" genannt werden sollte und von ihrem Autor folgerichtig mit dem Untertitel Romantisches Gedicht versehen wird (vgl. d). Obgleich dem Umfang der V. nach oben Grenzen gesetzt sind, ist der Spielraum der Gattung so beträchtlich, daß man kürzere und längere V.en zu unterscheiden hat. Freilich sind andere Faktoren neben dem des Umfangs zu berücksichtigen, wenn das Wesen der Gattung und ihrer Spielarten erfaßt werden soll. c) V. u n d G r o ß e p o s . „ G e d i c h t " im Titel eines versepischen Werkes erinnert an die im 18. J h . übliche Benennung „Heldengedicht" für den von Homer und Vergil geprägten T y pus des Epos (s. d.), der von der aufklärerischen Lit.theorie geforderten, aber nur in bedeutsamen Ausnahmen verwirklichten Großform. Im Vergleich mit ihr zeigen sich einige Wesenszüge der V. Das Epos gestaltet „Unternehmungen und Begebenheiten, wovon das Schicksal eines ganzen Volkes abhängt" (Sulzer), und demgemäß wird die Handlung von Fürsten und Feldherrn, Kriegern und somit Helden im eigentlichen Sinne getragen, während die V. meist Situationen und Ereignisse aus dem privaten Lebensbereich darstellt, in welche die Figuren als Menschen schlechthin verwickelt sind, auch wenn es sich bei ihnen um antike Götter, mythologische Figuren, Fürsten oder Ritter handelt. Im Gegensatz zum „Heldengedicht", dessen große Welt die Gesellschaftsordnung feudaler Epochen spiegelt, ist die nhd. V. als Abbild der kleinen, vielfach „antiheroischen", idyllischen oder intimen Welt eine Gattung des bürgerlichen Zeitalters, ohne als eine solche auf bestimmte Stoffe, einen bestimmten Personenkreis und ein bestimmtes Milieu festgelegt zu sein. Im Unterschied zum Epos, in welchem durch eine Kette von Ereignissen, eine Häufung von Episoden auf verschiedenen Schauplätzen und mit einem großen Aufgebot von Personen ein Abbild des Weltganzen erreicht wird, zeigt die V. einen Weltausschnitt. Ganz-

heit ist hier vielfach schon dadurch verbürgt, daß ein einziges sinnfälliges Ereignis mit wenigen, oft nur zwei Personen und auf bloß einem Schauplatz gestaltet wird, wobei es sich bei der kürzeren V. um den bloßen Ansatz zu einer Handlung, um die Andeutung einer Situation handeln kann. Das Kleinformat, der geringe äußere und innere Umfang, zusammen mit anderen formalen und stofflich-inhaltlichen Zügen, erklärt die Beliebtheit der Gattung in Empfindsamkeit, Rokoko und Biedermeier (vgl. §§ 5-7). Die „Maschinen", d. h. die Götter, die als höhere Mächte die Geschicke der Helden lenken, sind neben der Anrufung der Musen Teil des „Wunderbaren", das seit den Schweizern für das Epos konstitutiv ist, für die V. hingegen nicht. Andrerseits aber sind auch die Versmärchen, wie z. B. Ovids Metamorphosen, trotz des „darin enthaltenen Wunderbaren" als eine Spielart der „poetischen Erzählung" zu betrachten, weil in ihnen „das Wunderbare nicht, wie in der Epopöe, als Hülfsmittel der Ausführung gebraucht ist, sondern zum Stoff der Erzählung selbst mit gehört" (Eschenburg) (s. e.). Während die Taten der von Göttern geführten und deshalb naiven Helden der psychologischen Begründung entbehren, ist „psychologische Charakteristik" ein Wesenszug der V. und u. a. der des Rokoko (A. Anger); mit Vorliebe werden die Figuren der V. in Situationen versetzt, in denen sich ihr psychologisches Verhalten zeigt. Dem „großen Gegenstand" des Epos gemäß, hat dessen „Ton überaus pathetisch, feyerlich und etwas enthusiastisch" zu sein (Sulzer) und muß sich „über den Ton . . . der kürzeren poetischen Erzählung mercklich heben" (Eschenburg), während letztere „eine kurze Handlung in einem gemäßigten Ton, der weit unter dem eigentlichen epischen zurückbleibt, erzählt" (Sulzer). Der hohe Stil des Epos wird metrisch durch den Hexameter oder den dt. Alexandriner, den heroischen Vers des Barock, verwirklicht; für die kürzere und längere V. hingegen wählt man ihrem nach oben und unten offenen mittleren Stil gemäß und je nach der beabsichtigten Tonlage - verschiedene Metren und im besonderen jambische Maße. So z. B. werden für die scherzhaften V.en des 18. Jh.s die vers libres (mit ihren Möglichkeiten zur ironischen Pointierung usf.) bevorzugt (s. §§ 5b u. 6); für den gehobenen mittleren Stil der ernsten V. (wie Wielands „moralische" Erzaehlungen oder Lessings Ringparabel in Nathan der Weise) erscheint der Blankvers angemessen, für Schwankerzählungen u. a. der Knittelvers usf. d) V . u n d a n d e r e T y p e n d e s E p o s . Die (in c genannten) Bestimmungen der V. teilt die Gattung in jeweils verschiedenem Maße mit einigen anderen Typen des Epos, die das dt. 18. J h . kennzeichnen und der bürgerlichen Aufklärung und andrerseits der Empfindsamkeit und dem Rokoko mehr entsprechen als das „Heldengedicht".

Verserzählung, Neuhochdeutsche Das komische Epos (s. d.) und das von ihm (mit A. Maler) zu unterscheidende epische Scherzgedicht oderEpyllion bleiben dem äußeren Umfang nach häufig im Rahmen der V. (vgl. b). Vielfältig abgewandeltes Muster des ersten Typs ist die nachhomerische Batrachomyomachia (der Froschmäusekrieg) in 303 Hexametern; der zweite Typ folgt Popes The Rape of the Locke (Erstfassung 1712: 334 Verse; zweite Fassung 1714 : 794 Verse). Neben dem Kleinformat und dem scherzhaften Charakter haben beide Typen mit der komischen V. u. a. den Zug zum „Antiheroischen", Privaten usf. gemein. Doch während sich das komische Epos von der V. durch seine Aufgabe unterscheidet, das heroische Epos vom Typus Homers und Vergils zu parodieren, ist die Grenze zwischen der V. und dem auf hellenistische u. a. spätantike Erzählgedichte zurückgehenden Epyllion (im mittleren Stil) fließend. Insofern die Epyllia wie die Zweitfassung des Lockenraubs oder der Sieg des Liebesgottes von J. P. Uz (1753; in 828 Alexandrinern) mit den „Maschinen", dem Musenanruf usf. Elemente des komischen Epos, wenngleich in spielerischer Absicht, übernehmen, heben auch sie sich von entsprechenden V.en wie Wielands Comischen Erzählungen (1765) oder A. M. v. Thümmels Inoculation der Liebe (1771) ab. Das satir. und das lehrhafte Element, welche das komische Epos mit der Fabel teilt (s. § 5 a), treten im epischen Scherzgedicht und in der ihm entsprechenden V. zurück, auch wenn sie latent gegenwärtig sind, und machen der dem Rokoko gemäßen Absicht Platz, gesellig zu unterhalten und zu ergötzen und dabei, die Sprache der gehobenen Gesellschaft stilisierend, eine Kunst des Erzählens zu entfalten. Bei den umfangreicheren epischen „Gedichten", die während der Blütezeit der V. entstehen, handelt es sich vielfach um Versuche in neuen Gattungen, indem u. a. herkömmliche Formen auf mannigfaltige Weise miteinander verschmolzen werden. So nennt z. B. Wieland sein „Gedicht" Musarion oder die Philosophie der Grazien (von 1768 in 1441 Versen) „eine neue Art von Gedichten, welche zwischen dem Lehrgedicht, der Komödie und der Erzählung das Mittel hält, oder von allen dreyen etwas hat". - Unter den gemischten Gattungen kommt den in der nhd. Periode von Wieland begründeten sog. Rittergedichten besondere Bedeutung zu, deren Stoffe, wie der Name sagt, den Sagenkreisen des mal. Rittertums mit ihren Märchenelementen entstammen. Neben größere „romantische Gedichte" (wie Wielands Idris und Schulzes Bezauberte Rose), die als Stanzendichtungen an das Epos Ariosts und Tassos anknüpfen, treten V.en (wie Wielands Geron und Sommermärchen). Die letzteren unterscheiden sich jedoch von der Großform, der „zwischen der ernsthaften und scherzhaften" stehenden „romantischen Epopöe" (Blanckenburg u. Eschenburg) in den wesentlichen Elementen nicht. Auch in dieser ist das Wunderbare stofflicher Natur, sind die Figuren gemischte Cha-

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raktere, indem sie Stärke und Schwäche, ernste und komische, Bewunderung und Spott erregende Züge in sich vereinen; und wenn die Ritter Waffentaten vollbringen, bestehen sie dabei persönliche Abenteuer (vgl. c). Im Falle der Rittergedichte ist der Unterschied zwischen der V. und den umfangreicheren Werken etwa dem zwischen Prosaerzählung und Prosaroman zu vergleichen. Der mittlere Stil dieser V.en läßt einer reichen Abstufung von Tönen und der ihnen angemessenen metrischen Gestalt Spielraum, so wie etwa im Geron und andrerseits in der Bezauberten Rose ein ernster Ton durchgehalten wird. Der von Goethes Hermann und Dorothea (1797) eingeleitete Typus des bürgerlichen Epos in Hexametern gestaltet in einem an dieses Versmaß geknüpften hohen Stil die zeitgenöss. Alltagswelt; und wie in der Großform, so liegt auch in der entsprechenden Kleinform, der von J. H. Voß begründeten Hexameter-Idylle, das Gewicht auf dem epischen Verweilen und (abgesehen etwa von den sozialkrit. Idyllen Vossens) vor allem auf dem liebevollen Ausmalen und Stilisieren von Genreszenen der bürgerlichen Umwelt. Dieser Zug, der auch Kleinepen des Typs wie Mörikes schwankhafter Idylle vom Bodensee oderTh. Manns autobiographisch-intimer „Idylle" Gesang vom Kindeben eigen ist, wirkt einer für die V. geforderten strafferen Ausrichtung auf die äußere oder innere Handlung entgegen, während sich z. B. Mörikes Märchen vom sichern Mann (1838) nach Umfang und Erzählweise auch als Hexameterdichtung in den Rahmen der Gattung V. fügt. - Verallgemeinernd gilt, daß eine ins einzelne gehende Schilderung der gegenständlichen Welt neben anderen Zügen das Epos und Kleinepos kennzeichnet; in den Rokoko-Epyllia sind es Salon, Boudoir oder Garten (als locus amoenus) usf. Sie läuft jedoch den Gesetzen der V. zuwider, von welcher C. H. Schmid (1767) bemerkt: „Wahrscheinlichkeit und Geduld kommen in Gefahr, wenn der Poet zu sehr ausmahlt, lange Sittenpredigten einstreuet, und durch weitschweifige Episoden seine Erzählung ausdehnt" (vgl. hingegen § 5 a). e) V . u n d a n d e r e G a t t u n g e n der K l e i n e p i k u n d L y r i k . In einigen Untergattungen der Erzählung, die man in der heutigen Vorstellung meist mit der Prosa verbindet, liegen entsprechende Versdichtungen vor. Die Gattungen unterscheiden sich im wesentlichen durch den Stoff, doch insofern ein bestimmter Stoff nach einer eigentümlichen Behandlungsweise, einem eigenen Ton verlangt, ist der U n terschied auch ein formaler, der u. a. in der Wahl des Metrums zum Ausdruck kommt. Vorwegzunehmen ist die F a b e l , der bei der Entstehung der nhd. V. eine an entsprechender Stelle zu erörternde besondere Rolle zukommt (s. § 5 a). Unter den V.en finden sich Beispiele fürParabel (s. d.;

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vgl. die Ringparabel in Lessings Nathan der Weise), A n e k d o t e (s. d.) oder Novelle (s. d.), ohne daß diese Gattungsbezeichnungen jeweils im Titel der betreffenden Dichtungen zu erscheinen brauchen. Ähnliches gilt für den (epischen) Schwank (s. d.). Die Schwankerzählung in Versen fällt zahlenmäßig ins Gewicht und bildet vor dem 18. Jh. den Haupttypus der V. mit Hans Sachs, Burkart Waldis, ihren Zeitgenossen und Nachfolgern, bei denen mal. V.en nachwirken (s. II, § 4), während etwa Wieland für die Schwankerzählung im 6. Gesang des Oberon (1780) den Stoff dem Merchant's Tale Chaucers und für Die Wasserkufe (1795/96) einem fabliau entnimmt (s. § 6 h). - Unter weiteren durch den Stoff bestimmten Gattungen wie Märchen(s. d. u. vgl. b), Sageund Legende (s. d.), ist die (unstrophische) Verslegende hervorzuheben. Sie wird u. a. von Hans Sachs gepflegt und im 18. Jh. erneuert, u. a. ironisch im Geiste der Aufklärung durch „im Grunde ungläubige Erzähler" wie Pfeffel, Langbein, die Karschin oder Bürger; im Geiste einer neuen Religiosität und z. T. mit Rückgriff auf patrist. Stoffe durch Herder in seinen Legenden (in den Zerstreuten Blättern, 1799 und der Adrastea, 1801), und schließlich durch Kosegarten mit Verslegenden in Hexametern und anderen Maßen (im 1. Buch seiner Legenden, 1804). Goethes Legende „vom Hufeisen" (1797), in Vierhebern mit freier Taktfüllung schlicht erzählt, nähert sich im Ton durch eine Mischung von Gemüthaftem, Humorvollem und Heiligem den mal. Legendendichtungen (Trunz), während seine späte indische Legende von den vertauschten Köpfen über den christl. Rahmen hinausführt und einen erweiterten Begriff der Legende vorbereitet, dem Brecht mit seiner (strophischen) Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration (aus den Svendborger Gedichten von 1939) folgt. F. Schlegel rechnet die Legende zur „poetischen Erzählung", die Romantiker und ihre Zeitgenossen gestalten jedoch ihre Legenden vielfach als Romanzen und Balladen. Abgesehen von den beiden letztgenannten, sind alle diese Gattungen als Spielarten der V. zu verstehen, so wie etwa Wieland seine „Mährchen" in Versen zu den „Erzählungen" rechnet. Ihre Bestimmung durch den Stoff bringt mannigfache Überschneidungen dieser Erzählgattungen mit sich, so wie z. B. ein Schwank zugleich Märchen, Legende und Anekdote usf. sein kann. R o m a n z e (s. d.) und Ballade (s. Kunstballade) unterscheiden sich von der im allgem. unstrophischen V. durch strophische Gliederung, durch eine Vorliebe für bestimmte Stoffe und Themen (mit dem Sturm und Drang u. a. für solche aus den dunklen, irrationalen Bereichen der Natur), vor allem aber durch den Umstand, daß beide Gattungen nicht nur am Epischen, sondern in gleichem Maße auch am Lyrischen und Dramatischen teilhaben. Schon Eschenburg (in der Beispielsamml.) und Bouterwek trennen Romanze und Ballade von der „poetischen

Erzählung", und daran ist festzuhalten, wenn man nicht alle Gattungsgrenzen verwischen will. Der Unterschied liegt im Gesamtcharakter der betreffenden Dichtungen und nicht allein im Gegensatz strophisch-unstrophisch. A. v. Chamissos strophische lyrisch-epische Gedichte z. B. oder die strophische Nachdichtung einer Grimmschen Sage durch A. v. Droste-Hülshoff, Der Spiritus familiaris des Rosstäuschers (1742) stehen formal und stofflich-inhaltlich der Romanze und Ballade nahe, während es unter den kürzeren V.en des Rokoko strophische Dichtungen mit lyr. Einschlag gibt, z. B. bei Hagedorn oder beim jungen Goethe, dessen Ziblis, eine Erzählung (aus dem Buch Annette, 1767) aus 16 fünfzeiligen Strophen in trochäischen Vierhebern besteht. In vielen Einzelfällen ist die kurze V. des Rokoko vom anakreontischen Lied thematisch und formal kaum zu unterscheiden, indem neben strophisch gegliederte V.en unstrophische Lieder (zumal in den vers libres) treten und ganz allgemein die R o k o k o l y r i k zum Epischen neigt (A. Anger). a) Christian Heinrich S c h m i d , Theorie d. Poesie . . . (1767). Ders., Zusätze zur Theorie d. Poesie . . . 1.-4. Samml. (1767-69; Nachdr. 1972). Johann George Sulzer, Allg. Theorie d. Schönen Künste . . . (1771-1774; 2. Aufl. m. Zusätzen u. Berichtigungen v. Christian Friedrich von B l a n c k e n b u r g , Bd. 1-4 u. Registerbd. 17921799). Johann Joachim Es che n bürg, Entwürfe. Theorie u. Lit. d. schönen Wiss.en . . . (1783; 2. Aufl. 1789). Ders., Beispielsamml. zur Theorie u. Lit. d. schönen Wiss.en. Bd. 1-8 (1788-1795). Friedrich B o u t e r w e k , Geschichte d. Poesie u. Beredsamkeit . . . Bd. 9-12 (1812-1819). d) Anselm M a l e r , Der Held im Salon. Zum antiheroischen Programm dt. Rokoko-Epik (1973; Stud. z. dt. Lit. 37). Ernst Theodor V o s s , Nachwort zu: Johann Heinrich V o s s , Idyllen (1968; Dt. Neudrucke, R. Goethezeit). Rez. v. Heinrich M e y e r : GermRev. 44 (1969) S. 308-310. e) Heranzuziehen sind neben J. Wiegand, V. Reallex. 1. Aufl. Bd. 3 (1928/1929) S. 466-475 die einschlägigen Art. der 2. Aufl. § 3. Das Schwergewicht der folgenden Darstellung liegt auf der G e s c h i c h t e der V. im 18. Jh., in welchem man sich ihrer als einer dichterischen Gattung bewußt ist. (III); die übrigen Epochen, das 16. u. 17. Jh. (II) und das 19. u. 20. Jh. (IV), können dagegen aus Raumgründen nur flüchtig behandelt werden. - Die T h e o r i e der Gattung ergibt sich im wesentlichen aus der (in § 2 versuchten) Abgrenzung der dt. V. des 18. Jh.s gegenüber andern epischen oder episch-lyrischen Gattungen dieser Epoche, während für eine G l i e d e r u n g der Gattung in einander vielfach überschneidende,

Verserzählung, Neuhochdeutsche nach Thematik oder Stoff, nach Umfang, metrischer Gestalt oder Gesamtton usf. bestimmte Typen auf die ins einzelne gehende Darstellung ihrer Erscheinungsformen im 18. J h . (§§ 5-6) verwiesen sei. II. 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t . § 4. Für das poetologische Bewußtsein der Epoche zwischen dem Ende des M A . s und den ersten Dezennien des 18. J h . s gibt es keine Gattung V. Bouterwek überträgt den im 18. J h . geprägten Begriff der „poetischen Erzählung" nachträglich auf Versdichtungen des 16. J h . s , die u. a. den Gattungen F a b e l (s. d.), S c h w a n k (s. d.), L e g e n d e (s. d.) oder A n e k d o t e (s. d.) zugeordnet werden und die z. T . (im Sinne der in den §§ 2 e u. 5 a versuchten Abgrenzung) als V.en gelten können. Ebenso greifen die Verf. von „Fabeln und Erzählungen" im 18. J h . u. a. auf die Fabelsamml. von Burkart Waldis, später auch auf die Fabeln und Schwänke des Hans Sachs als eine Fundgrube für Stoffe und Themen zurück. Darüber hinaus bestehen weitere, u. a. in der Bürgerlichkeit der Autoren beider Zeitalter begründete Gemeinsamkeiten bis in die Art des Erzählens hinein, trotz der für das 16. J h . maßgebenden anderen Versformen, die paarig gereimten Vierheber des Knittelverses (vgl. § 2 c) und daneben, bei Hans Sachs, die silbenzählenden Metren des Meistersangs (s. a). — D a s 17. J h . kennt nur epische Prosaformen; für erzählerische Elemente in der Verssatire (vgl. b.). a) Bei den 400 Stücken der 1548 erschienenen Samml. von Burkart Waldis, Esopus, Gantz New gemacht und in Reimen gefaßt. Mit sampt Hundert Newer Fabeln, handelt es sich zu Dreiviertel um Bearbeitungen überlieferter Stoffe, wobei es dem Dichter (wie später den Autoren des 18. Jh.s) um Neufassungen zu tun ist, die von seiner eigenen Erzählweise geprägt sind. Letztere wird u. a. von Geliert um der „munteren Einfälle" willen geschätzt und von Zachariae nachgeahmt (s. § 6 c). Der aufgelockerte Darstellungsstil des Waldis mildert auch die betont lehrhafte Absicht. Die Figuren, die er in seinen meist schwankhaften V.en in bunter Vielfalt vorführt, entsprechen den ihm aus den verschiedenen Bereichen der städtischen oder bäuerlichen Umwelt vertrauten Typen, denen er jedoch eine über seine eigene Zeit hinausweisende Gültigkeit zu geben vermag (Edelmann und Bauer, Landsknecht, Student, Kaufmann und Bettler, altes Weib und Magd usf.). V.en wie Vom Pfaffen und seiner Metzen, Vom Biscboff und einem Lotterbuben oder Wie ein Sewbirt zum Abt wird richten sich (im Sinne der Reformation) gegen den Klerus;

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daneben begegnet u. a. die schwankhafte Legende (Von St. Peter und einem Mönch) oder die mythologische V. (Vom Apollo und einem Buben) usf. (Für die Nachwirkung von B. Waldis vgl. die §§ 5 (Einl.), 6c-e). Den umfangreichsten und dichterisch bedeutendsten Beitrag des 16. Jh.s zur Gattung V. liefert Hans Sachs. Seine unter anderen Gattungsbezeichnungen im Gesamtwerk versteckten V.en warten noch auf eine umfassende Darstellung, welche Stoffe, Themen und Formen wie deren Herkunft gleichermaßen berücksichtigt. V.en sind u. a. die „Historien" und andrerseits die „Schwänke" und ein Teil der „Fabeln". (Vgl. zu den letzteren § 5 a.) Neben fremde Stoffe aus der damals lebendigen lit. Überlieferung von der Antike bis zur Gegenwart des Autors treten eigene Erfindungen, die H. Sachs aus den Erfahrungen in seinem Lebenskreis und aus den Beobachtungen des Zeitgeschehens gewinnt. — Die in der Mehrzahl zwischen 1557 und 1563 entstehenden über 260 Historien sind unstrophische V.en im Knittelvers von etwa 100 bis 500 Zeilen, die sich von den Schwänken lediglich „durch ihren ernsten, zuweilen tragischen Inhalt" unterscheiden (Könneker). Unter den Vorwürfen finden sich der Geschichtsschreibung entnommene Geschehnisse, Episoden aus der Großepik oder Geschichten aus der Novellistik, so wie die früheste Dichtung des Typus, Eine kleglich geschicbte von zweyen liebhabenden (1515), auf einem Stoff aus dem Decamerone beruht. Die erzählten Begebenheiten sind als lehrreiche Exempel gemeint, wobei z. T. mal. Erzählformen weiterwirken. —Solches gilt in ähnlicher Weise auch für die Fabeln und Schwänke. Neben etwa 400 (der Form nach den Historien entsprechende) „Spruchgedichte" treten über 1000 „Meisterlieder", die in einer Vielzahl von „Tönen" (den metrischen Schemata des Meistersangs) abgefaßt sind. Gleich Waldis ist es Sachs weniger um zeitgebundene Satiren als um die Gestaltung realistisch gesehener, guter oder böser menschlicher Typen zu tun. Als eine längere V. hervorzuheben ist die von Bodmer und Breitinger wiederentdeckte Anekdote Fischarts, Das glückhafft Schiff von Zürich (1576), die auf einer wahren Begebenheit beruhende poetische Schilderung der Rheinfahrt der Zürcher mit dem Hirsebrei, den sie noch warm nach Straßburg bringen. b) Die zahlenmäßig begrenzte Verssatire des 17. J h . s enthält als eine gemischte Gattung gelegentlich erzählerische Elemente, so das 2. der ndd. Veer Schertz-Gedichte (von 1652) des J. Lauremberg mit dem Titel Van Allemodischer Kleeder Dracht. Durch Wiedergabe einer schwankhaften Erzählung (innerhalb des Scherzgedichtes), die bewußt als wahr ausgegeben wird und von einem Manne handelt, der sich als Kammerzofe verkleidet, werden karikierend Mißbräuche und Verkehrtheiten bloßgestellt (Freund). — Eine „Anekdote in satirischer Verkleidung" mit der Titelfigur im Mittelpunkt einer interessanten

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Handlung bildet die von Gottsched geschätzte 1. Satire, Der Tod des ungerechten Geißhalses, in den postum (1700 usf.) erschienenen Auserlesenen Gedichten von F. R. v. Canitz, während seine als „Fabel" bezeichnete 9. Satire mit dem Titel Die Welt läßt ihr Tadeln nicht auf das 18. Jh. vorausweist und einen beliebten Stoff (vgl. La Fontaine, Fahles 6,11 u. Hebel, Seltsamer Spazierritt) behandelt. Die bei J. Wiegand, a.a.O. §§ 3 u. 4, verzeichneten Texte sind auf ihre Zugehörigkeit zur Gattung V. kritisch zu überprüfen. Vgl. Erwin L e i b f r i e d , Fabel (1967; SammlMetzler 66), bes. S. 53-64: Die Fabel im Teichen d. Humanismus u. d. Reformation. Barbara K ö n n e k e r , Hans Sachs (1971; SammlMetzler 94), bes. S. 43-48: Die Historien. Die Fabeln u. Schwanke. — Winfried Freund, Die dt. Verssatire im Zeitalter d. Barock (1972; Lit. in d. Ges. 8). III. 18. J a h r h u n d e r t . § 5. U r s p r u n g d e r G a t t u n g . F . v. Hagedorn nennt die 71 Stücke seiner Samml. (von 1738), Versuch in poetischen Fabeln undErzehlungen, „freie Nachahmungen der Alten und Neuen" und macht für 61 Stücke ausdrücklich eine, oft zwei oder mehr frühere Bearbeitungen desselben Stoffes namhaft. Abgesehen von Äsop und Phädrus liefern hauptsächlich franz. und engl. Autoren des 17. und 18. Jh.s, mit La Fontaine und Prior an der Spitze, und daneben ital. u. a. Fazetien- und Novellensamml.en die stofflichen, thematischen oder motivischen Vorlagen, während von den dt. Autoren nur Burkart Waldis zahlenmäßig ins Gewicht fällt. Hagedorn findet in der dt. Lit. des vorhergehenden Zeitraums so gut wie nichts vorgebildet, an das er anknüpfen könnte; seine Samml. bedeutet einen Neubeginn und bildet das Modell für eine Reihe weiterer Samml.en von Versdichtungen mit dem Titel „Fabeln und Erzählungen" (von Geliert, Lessing, J. A. Schlegel usf.; s. § 6c-e). Zu ermitteln sind a) das für die Entstehung der Gattung bedeutsame Verhältnis von V. und Fabel und b) die Eigenart der von Hagedorn geschaffenen Modelle, an denen sich einige für die V.en der Nachfolge wesentliche Züge ablesen lassen. a) F a b e l u n d V. Der Titel „Fabeln und Erzählungen" deutet auf einen Unterschied zwischen den beiden Gattungen, dem Eschenburg mit seiner Einteilung der „poetischen Erzählung" in „die äsopische Fabel, die eigentliche so genannte poetische Erzählung und die Allegorie" Ausdruck gibt. Sieht man jedoch von dem stofflichen Unterscheidungsmerkmal

der Fabel als einer Tiergeschichte ab, das nicht einmal auf die antiken Fabeln uneingeschränkt anwendbar ist, so läßt sich in den genannten Samml.en vielfach nicht entscheiden, was man als Fabel, was als V. betrachten soll. Nützlich ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung Gellerts, der in seiner Theorie (von 1744) die Fabel „eine kurze und auf einen gewissen Gegenstand anspielende Erdichtung" nennt, während er von der V. fordert, daß sie auf „wahren Begebenheiten" beruhe. In diesem Sinne tragen die unter dem Sammeltitel „Fabeln und Erzählungen" erscheinenden V.en vielfach anekdotischer Charakter. Die Lit.theorie der Aufklärung hat die Fabel(s. d.) als eine lehrhafte Zweckform empfohlen, und mit Blick auf seine Prosafabeln und im Gegensatz zu seinen eigenen frühen Fabeln und Erzählungen fordert Lessing, daß die Fabel knapp, auf das Ende, die Moral hin angelegt und dramatisch zugespitzt sein soll (vgl. § 6d). Demgegenüber hält Eschenburg im einzelnen fest, worin die V. von der Fabel „wesentlich verschieden ist: theils von Seiten des Inhalts, der hier nicht bloß einzelner Fall, sondern zusammengesetztere Handlung und Begebenheit zu seyn pflegt; theils in Ansehung des Zwecks, der hier nicht Versinnlichung eines moralischen Lehrsatzes, sondern vielfacher Unterricht, oft bloße Beschreibung, oft Erregung theilnehmender Leidenschaften ist; theils auch in Ansehung des Vortrags, der in der poetischen Erzählung mehr Ausführlichkeit, mehr Schmuck, gelegentliche Schilderungen, Ausweichungen und Nebenbetrachtungen verträgt." Die Unterschiede zwischen den beiden Gattungen spiegeln u. a. den Gegensatz von Aufklärung und Rokoko. Während die Fabel mit einer trockenen, oft bitteren Lehre endet, mündet die V. des Rokoko in einen Scherz, eine komisch-ironische Schlußwendung oder eine scherzhaft-ironische Unmoral (A. Anger). In den Samml.en Hagedorns und seiner Nachfolger aber nähern sich auch die Fabeln mehr oder weniger Eschenburgs Bestimmung der V.; die Gattungsgrenzen sind hier so verwischt, daß man diesen von Lessing als „anmuthiges poetisches Spielwerk" bezeichneten Typus der Fabel zur V. zählen kann. — In den Samml.en mit dem Titel „Fabeln und Erzählungen" sind die letzteren, die V.en, oft in der Minderheit. Für die Geschichte der Gattung ergibt sich daraus und aus dem Vorigen, daß die V. des dt. 18. Jh.s ihren Aufschwung im Gefolge der von der Aufklärung geförderten Fabeldichtung nimmt. Von deren ethischen und formalen Beschränkungen sagt sie sich unter dem Zeichen des Rokoko los. b) H a g e d o r n als B e g r ü n d e r d e r G a t t u n g . Durch Hagedorn wird die V. eine eigentümliche Ausdrucksform des Rokoko, zusammen mit Lied, Epigramm und moralischem

Verserzählung, Neuhochdeutsche Lehrgedicht, den anderen Kleingattungen, denen sich dieser Dichter ausschließlich zuwendet. Seine in England erworbene Vertrautheit mit dem dort richtunggebenden franz. Klassizismus fördert Hagedorns Entwicklung zum Rokokodichter, die mit dem Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen von 1738 zum Durchbruch kommt. Ein 2. Buch Fabeln und Erzählungen veröffentlicht er in den Moralischen Gedichten (1750), und weitere Stücke folgen in den 1757 postum erschienenen und später wiederholt gedruckten Sämmtlichen Poetischen Werken. Der Versuch von 1738 bedeutet nicht nur eine Absage an des Dichters Erstlinge (von 1729), sondern kündigt auch die Verabschiedung der bisher in der dt. Dichtung nachwirkenden ital.-barocken Tradition zugunsten der klassizistischen Ideale von Natürlichkeit, Klarheit und Allgemeinverständlichkeit an. Vorgänger Hagedorns auf dem Wege zu einer dt. V. sind die Ubersetzer der Fabelsamml.en La Fontaines, La Mottes usf., die Bearbeiter und Nachahmer der antiken Fabeln oder von solchen des 16. Jh.s und der Franzosen, schließlich die Verf. eigener Fabeln wie D. Stoppe und D. W. Triller, deren Samml.en, Neue Fabeln und moralische Gedichte und Neue Äsopische Fabeln, in den Jahren 1738 und 1740, also gleichzeitig mit Hagedorns Versuch erscheinen, ohne eine ähnliche Wirkung auf die Entwicklung der Gattung V. auszuüben. Hagedorn nennt seine V.en im Vorwort von 1738 „Versuche in der Kunst zu erzehlen". Nicht um Originalität in der Erfindung der Stoffe ist es ihm zu tun, vielmehr sucht er seine Vorgänger in der K u n s t der D a r s t e l l u n g zu übertreffen und erwähnt sie, um den Leser zu einem Vergleich zwischen seiner eigenen Behandlung eines Vorwurfs und der ihrigen aufzufordern. Indem er der künstlerischen Gestalt den Vorrang vor dem Inhalt einräumt, dem Erzählen vor dem Erzählten, leitet Hagedorn eine Erzähltradition ein, die in Wieland ihren Höhepunkt erreicht. U. a. möchten die Autoren der Sprache die natürliche Ungezwungenheit einer Urbanen Unterhaltung geben, und dieser Zug zur Gesprächsform zeigt sich ebenso in den der V. häufig eingefügten Wechselgesprächen der Figuren, in den rhetorischen Fragen und Zwischenbemerkungen des Erzählers, der selbst als Figur gestaltet ist und mit den verschiedenen Leserfiguren ins Gespräch tritt; oder eine V. ist als Ganzes ein Dialog (so wie Hagedorns Schäfererzählung Phyllis).

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Wesentlich ist das Festhalten am R e i m v e r s , dessen am häufigsten gewählte Möglichkeiten man in Hagedorns Versuch vereint findet. Verzicht auf die Strophe überwiegt strophische Gliederung (auch dies ein Unterschied zur strophischen Romanze und Ballade; s. § 2e); jambische Maße werden bevorzugt, Alexandriner, vers communs, jambische Dimeter und vers libres, die alle, soweit sie aus dem Barock stammen, durch andere Inhalte und die klassizistische Stilhaltung der Autoren einen neuen Charakter annehmen. Zumal mit den aus Frankreich neu eingeführten (und meist als Madrigalverse gegliederten) vers libres erreicht man die erstrebte Leichtigkeit und Anmut des Stils; diese in freier Folge angeordneten, mit Waisen durchsetzten jambischen Reimzeilen verschiedener Länge eignen sich durch ihre Schmiegsamkeit u. a. zu der diesen Erzählstil kennzeichnenden Andeutung und ironisch-satirischen Pointe. Auch für den Formkünstler Hagedorn ist La Fontaine das begünstigte Vorbild, dem er nicht allein Stoffe verdankt oder die Erzählweise ablauscht, sondern gelegentlich bis in die Versgestalt hinein folgt, so wie er die vers communs des La Fontaineschen „conte" Le Faucon, eine Nachdichtung von Boccaccios Prosanovelle aus dem Decamerone (5, 9), in seiner (später Heinses Samml. einverleibten) V. Der Falke übernimmt. In der Auseinandersetzung mit den aus seiner weitgespannten, vorurteilsfreien Lektüre gewählten Mustern schafft er seinerseits Modelle und übertrifft alle seine dt. Vorgänger „an Sprachkraft, Erfindungsgabe und Eleganz des Stils" (A. Anger). Die von Hagedorn begründete V., die einerseits im klassizist. Sinne klar, faßlich und somit allgemein verständlich sein will, steht andrerseits als Äußerung einer b e w u ß t e n F o r m k u n s t im Gegensatz zur Volkspoesie, wie Herder sie einige Jahrzehnte später fordert, oder zu einer Kunstdichtung, in welcher, wie z. T. in Ballade und Romanze, die Manier der Volkspoesie nachgebildet wird. Hagedorn, eine vorwiegend lyrische Begabung, bevorzugt die k ü r z e r e V. (vgl. § 2b). Läßt man die Tierfabeln beiseite, so umfassen fast Zweidrittel der V.en des Versuchs weniger als 50 und Dreiviertel der V.eji weniger als 100 Zeilen. Im längsten Stück (von 197 jambischen Madrigalversen) wird die Geschichte von Philemon und Baucis im Anschluß an Ovids Metamorphosen usf. mit Liebe zum Detail behaglich

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erzählt. Die umfangreichste novellistische V. von rund 500 Zeilen erscheint u. d. T. Adelheid und Henrich, oder Die neue Eva und der neue Adam 1747 als Einzeldruck und 1750 in den Moralischen Gedichten und stellt eine Erweiterung des Stückes Die neue Eva (in 157 vers communs) aus dem Versuch dar. Sie überschreitet mit ihrer Länge den für Hagedorn üblichen Umfang ebenso wie auch noch Der Falke mit seinen 309 Versen (gegenüber nur 272 der La Fontaineschen Vorlage). Die drei kürzesten Stücke des Versuchs von nur 8 bis 12 Zeilen sind satirische Epigramme (Processe, Der Schwimmer und Reue über eine nicht begangene Bosheit). Ein weiteres Beispiel für prägnante Kürze bildet die bukolische V. von nur 16 Zeilen, Die Küsse, deren 4 Strophen (von je vier kurzen Dimeterzeilen) genau den Handlungsphasen entsprechen. Während Hagedorn in so gut wie allen seinen V.en von über 100 Zeilen strophische Gliederung vermeidet, wählt er in den kürzeren Stücken, dem Charakter der einzelnen Dichtung gemäß, Strophe oder freie Versfolge. Hagedorn will den Lesern V e r g n ü g e n bereiten, und die Lehre, die seine V.en enthalten, soll sich auf spielerische Weise gleichsam von selbst ergeben. Gelegentlich spricht der Erzähler zu Beginn sentenzhaft die grundsätzliche Beobachtung oder Erkenntnis aus, für welche der im folgenden erzählte Sonderfall das Exempel ist, dem er dadurch von vornherein allgemeine Bedeutung verleiht. Die Verlagerung der Gewichte vom prodesse auf das delectare bezeichnet eine Wende in der Geschichte der Gattung; dennoch wird man im großen und ganzen erst die Stücke der 2. Hälfte des Versuchs dem Rokoko zuordnen können, während die 1. Hälfte der Samml. z. T. moralische Erzählungen im Sinne der bürgerlichen Aufklärung enthält. Es ist, als wolle der Dichter in der Anordnung der Stücke seine eigene Entwicklung und die der Gattung andeuten. Zwei ernste, gleichnishafte Dichtungen (in Alexandrinern) eröffnen die Samml., Das geraubte Schäfgen mit biblischem Stoff und Der Beleidiger der Majestät; und wie die erste V., so wendet sich auch die morgenländische Erzählung Der Sultan und sein Vezier Azem mit bitteren Mahnungen an die absoluten Fürsten. Der Falschheit an den Höfen gelten die witzige allegorische V. Die Maske und das Gesicht und das ironische Epigramm Mittel bey Hofe alt zu werden-, andere V.en geben Exempel für allge-

mein menschliche Laster wie die zu Unmenschlichkeit oder falscher Freundschaft verleitende Habgier (Der großmüthige Herr und seine Sklaven und Ben Haly). Die auf einem traditionsreichen Stoff beruhende V. Johann der Seifensieder aber leitet mit ihrer Moral, daß Frohsinn mehr bedeute als Reichtum, ins Rokoko über. Das R o k o k o begegnet im Versuch in seinen verschiedenen Ausprägungen, in tugendhaftempfindsamer wie amoralisch-scherzhafter Schattierung oder in Mischungen der beiden Tendenzen. In dieser für die Geschichte der Gattung bedeutsamsten Gruppe erscheint die christl.-bürgerliche Moral der Frühaufklärung durch die Ethik einer antik-paganen Welt abgelöst, deren Szenerie die freie Natur ist, in der das Erotische nicht als Sünde gilt und Naturempfinden und vernünftiger Genuß dem Menschen Lebensfreude und ein bescheidenes irdisches Glück verbürgen. Im weiteren Sinne gehört auch der von Hagedorn im Rokokostil erneuerte (vielfach erotische) S c h w a n k hierher, eine Spielart der V., die bis zu Wieland und hin zu Wilhelm Busch bedeutende Nachfolger findet. Beispiele sind u. a. Laurette, die Nachdichtung einer Prosanovelle aus dem Decamerone (7, 6) mit dem vertrauten Motiv der Weiberlist; das den weiblichen Vorwitz bloßstellende Stück Die neue Eva oder der Dialog Liebe und Gegenliebe (nach Prior), dessen Pointe die beiderseitige Untreue eines einander seine Liebe beteuernden Paares verrät. In den V.en Doris, dem Prior nacherzählten Paulus Purganti und Myron und Lais wandelt Hagedorn die beliebte Schwanksituation „alter Mann und junge Frau" ab, während er in Bruder Fritz . . . und Das Bekenntnis die Schwankfigur des liederlichen Mönchs gestaltet. — A n a k r e o n t i s c h e s Rokoko vertreten die V. Wein und Liebe, in deren Pointe Phyllis, die junge Schöne, den Vorrang vor Bacchus erhält, oder die ländlich-idyllische V. Der Eremit und das Glück, deren Titelfigur sich „Nichts als ein Buch, ein Glas und eine Schöne" wünscht; anakreontisches Motiv und pastorale Szene vereinen sich in der V. Die Küsse. Anders als Rost (s. § 6b) bricht Hagedorn vor der Beschreibung des Intimsten ab, so in der Liebesidylle Der Blumenkranz, um stattdessen, wie später Wieland, mit einer Andeutung (und hier mit einer Anspielung auf Aeneas und Dido in der Höhle) die Phantasie des Lesers in Bewegung zu setzen. — Sittlich-emp-

Verserzählung, Neuhochdeutsche findsames Rokoko vertritt die S c h ä f e r e r z ä h lung Phyllis, in der die Titelheldin ihrem Geliebten Thyrsis die Treue hält und Dämons Werben widersteht, während in der darauffolgenden V. Daphnis das von der Schäferin verübelte allzu tugendhafte Verhalten des scheuen Titelhelden vom Dichter mit Spott bedacht wird. — Zu erwähnen ist das liedhafte Stück in Kurzversen (strophisch gegliederten jambischen Dreihebern), Der Stieglitz und der Sperling, indem hier die Tierfabel ganz zur Rokokoerzählung geworden ist und mit der Pointe schließt: „Ein Sperling liebt und küsst; / Sagt, ob er glücklich ist?". — Die später u. a. von Götz, Gerstenberg und Wieland gepflegte myt h o l o g i s c h e V. (s. § 6f-h) hat ihren Ursprung gleichfalls in Hagedorns Versuch. Sie ist den anakreontischen und pastoralen V.en verwandt und geht mit diesen mannigfache Verbindungen ein. Abgesehen von Philemon und Baucis sind Apollo und Minerva und die Schäfererzählung Apollo, ein Hirte hierher zu zählen. Die aitiologiche V. (in 174 vers communs) Der Ursprung des Grübchens im Kinn, die der Dichter an den Schluß seiner Samml. stellt und in deren Mittelpunkt die Hochzeit von Amor und Psyche steht, bildet in ihrer Mischung von mythologischen und pastoralen, erotischen und empfindsamen Elementen einen Höhepunkt dieser Untergattung und nimmt die Graziendichtungen der Nachfolge vorweg. § 6 . G e s c h i c h t e der G a t t u n g . Ausdem hist. Abstand ist das Urteil Sulzers zu bestätigen, der Hagedorn, Geliert und Wieland die bedeutendsten Vertreter der dt. V. nennt. Die vier Dezennien zwischen dem Erscheinen der Hagedornschen Samml. von 1738 und dem Ende der 70er Jahre, wenn (von der Wasserkufe abgesehen) Wielands V.en vorliegen, haben als Blütezeit der Gattung zu gelten (s. § 1). Seit dem Beginn der 70er Jahre, mit Göttinger Hain, Sturm und Drang und später mit Klassik und Romantik treten Ballade und Romanze in Wettbewerb mit der V. Heinses Anthologie, Erzählungen für junge Damen und Dichter, erscheint 1775 zu einem Zeitpunkt, an welchem der Rokokostil seinen Höhepunkt schon überschritten hat, und die seit 1773 in der Umwelt des Weimarer Hofes um Anna Amalia entstehenden Wielandschen V.en tragen einen anderen Charakter als jene aus des Dichters Biberacher und Erfurter Zeit, die man als Gipfelleistungen des Rokoko betrachtet. Sieht man von

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einzelnen bedeutenderen Schöpfungen ab, so gehören die beiden letzten Jahrzehnte des 18. Jh.s im wesentlichen den Epigonen der V. an, und die Gattung sinkt bei anhaltender Publikumsbeliebtheit vielfach zur Trivialliteratur ab. Zugleich dringt im Laufe der 2. Jh.-Hälfte die Prosaerzählung als Kunstform vor, und am Ende des Jh.s tritt die V. mit ihren Spielarten Versmärchen, Versnovelle usf. gegenüber den entsprechenden Prosaformen in den Hintergrund. Dieser Erscheinung entsprechen allgemeine Tendenzen der Gattungsgeschichte wie die Entdeckung des Prosaromans als der dem Zeitalter gemäßen epischen Großform oder das Zurücktreten anderer Versgattungen wie Lehrgedicht oder Epistel, die von der Aufklärung noch begünstigt waren. Gemeinsam ist den V.en seit Hagedorns Versuch, daß die Autoren mit ihren Themen, Stoffen und Formen weiterhin an ausländische Muster anknüpfen und in der schöpferischen Auseinandersetzung mit ihnen eine eigentümliche dt. Gattung schaffen. Bezeichnenderweise erhält nun Ovid unter den antiken Vorbildern eine Vorrangstellung vor Homer und Vergil. Hagedorns Modelle (s. § 5 b) bleiben für die Nachfolge auf unterschiedliche Weise und in verschiedenem Maße leitend, indem andere Autoren sie aufgreifen, abwandeln oder auf eigene Weise weiterentwickeln; daneben entstehen neue Typen der V. Das Gewicht liegt auf der geselligen Unterhaltung, während die lehrhafte Absicht latent bleibt oder gleichsam beiläufig auf spielerische Weise zum Ausdruck kommt. Damit geht die Gewinnung weiblicher Leser Hand in Hand. Der gesellige Charakter der Gattung zeigt sich z. B. darin, daß ein Autor wie Wieland seine Versdichtungen für das laute Vorlesen vor einem Urbanen kleinen Zuhörerkreis bestimmt, wohingegen Heinse für seine Anthologie u. a. mit der in der Intimität ihres Boudoirs unbeobachteten Leserin rechnet. a) P u b l i k a t i o n s f o r m e n . Ehe die Autoren ihre V.en gesammelt herausgeben oder ihren Gesamtausgaben einverleiben, erscheinen einzelne Stücke in Zss., wie den Belustigungen des Verstandes und Witzes, den Bremer Beiträgen, dem Teutschen Merkur oder dem Dt. Museum usf. Diese oft Jahre zurückliegenden Fassungen erfahren vor dem Wiederabdruck vielfach eine Überarbeitung, wobei die vorgenommenen Änderungen von den Autoren als ,,Ver-

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besserungen" bezeichnet und wohl auch als solche betrachtet werden. Sie können sprachlich-stilistischer Natur und dem von Horaz und Boileau vorgezeichneten Streben des Dichters nach der vollkommensten F o r m zuzuschreiben sein, oder es kann sich in ihnen z. B. die neue Lebenslage und eine durch sie bedingte veränderte moralische Haltung der Verfasser spiegeln, die in ein bürgerliches, oft geistliches A m t eingerückt sind und von den erotischen Freizügigkeiten ihrer Jugendarbeiten abrücken wollen, so etwa Geliert, J . A . Schlegel oder Wieland, der aus solchen Beweggründen die V. Juno und Ganymed aus den späteren Ausgaben seiner Werke verbannt. Gefördert wird die Beliebtheit der Gattung durch die bis ins Biedermeier anhaltende Vorliebe des Lesepublikums für literar. K l e i n f o r m e n , die sich u. a. in den wiederholten Auflagen verschiedener Samml.en wie Gellerts Fabeln und Erzählungen oder Hagedorns postumen Poetischen Werken zeigt. Durch ihren Umfang eignen sich die V.en als Beiträge für Zss. und zumal für die in der 2. Jh.-Hälfte aufkommenden Miniaturformen des Buches, die zahlreichen Taschenbücher und Almanache. Ihr Umfang erlaubt es ferner, kürzere V.en zu handlichen Anthologien zu vereinen, doch bringt es z. B. die mehrbändig geplante Anthologie Heinses (von 1775) nur auf zwei Bdchen. „Komische Erzählungen" (vgl. § 2 b) und bei Ramlers später Samml. von Fabeln und Erzählungen aus verschiedenen Dichtern (von 1797) handelt es sich bloß um „eine Fortsetzung der Fabellese". Verschiedene längere V.en erscheinen als zierliche Einzeldrucke: neben Hagedorns Adelheid und Henrich . . . von 1747 (vgl. § 5b) z. B. Der Eremite Lessings (1749), Die schöne Nacht Rosts (1754) oder Thümmels Inoculation der Liebe (1771) und J. K. Wenzels Prinz Edmund, eine komische Erzählung (1785). Der z a h l e n m ä ß i g e U m f a n g der Gattung ist noch nicht erfaßt. Sofern eine Ubereinstimmung darüber erreicht werden kann, was als V. zu betrachten ist, wird man die in Bibliographien wie Goedeke IV 1 (3. Aufl. 1916) verzeichneten Titel überprüfen und die in Zss., Almanachen und Anthologien enthaltenen V.en ermitteln müssen usf. Außerdem bleibt die Verf.-Frage in vielen Fällen ungeklärt. Ein Motiv für anonyme Veröffentlichung und bei Einzeldrucken für fingierten oder unterdrückten Verlagsort dürfte z. B. in der Besorgnis von Autor und Verlag zu suchen sein, sich durch das die herrschenden Moralvorstellungen verletzende Werk zu gefährden. b) R o s t . Die acht Stücke der Schäfererzälungen Johann Christoph R o s t s von 1742 bedeuten eine neue Spielart der scherzhaften V. Die Beschränkung auf das bukolische Milieu, eine Welt, deren Figuren auf keinen Gesell-

schaftsstand der zeitgenöss. Umwelt festgelegt sind, nutzt der Verf., indem er, auf Motive bes. der Lafontaineschen Contes et nouvelles zurückgreifend, ohne Vorbehalte die Geschlechtsliebe, nicht als eine Leidenschaft, sondern ein Vergnügen darstellt. In den acht V.en von einem jeweiligen Umfang zwischen 120 und 180 Zeilen in vers libres werden meist Verführungsszenen gestaltet (vgl. den Titel Die Schäferstunde), die mit der geschlechtlichen Vereinigung unerfahrener junger Schäfer und Schäferinnen enden. Solches gilt auch für die ins bürgerliche Milieu verlegte, 1754 einzeln erschienene, umfangreichere V. Die schöne Nacht, die als Gestaltung der Hochzeitsnacht eines jungen Paares gegen Einwände der bürgerlichen Moral gleichsam abgesichert ist. Die gleichberechtigten und gleichermaßen verführbaren weiblichen und männlichen Partner der Schäfererzälungen sind erst „blöde" und werden dann „klug" (vgl. den Titel Der blöde Schäfer); auf die Uberlieferung des erotischen Schwanks verweist etwa das aus Hagedorns Laurette vertraute Motiv der weiblichen List. Der leichtfertige, mutwillige Ton des Erzählers, die Mischung von erotischer Andeutung und handfestem Detail in dem dreistesten Stück der Samml., Das Zeisignest, verweist u. a. auf das engl. Rokoko Priors zurück und deutet auf Wielands Nadine voraus. Neben der Klarheit seiner Sprache und dem Gebrauch jambischer vers libres variiert Rost auch sonst aus Hagedorn vertraute Elemente, neben den zahlreichen Dialogen zwischen den Figuren u. a. die Figur des Erzählers, der sich an die Leser und hier bes. an die Leserinnen mit der Aufforderung richtet, sich gegen die Liebe nicht zu sträuben. Daß Rost auf die Lüsternheit der Leser beiderlei Geschlechts zählt, erklärt mit den Erfolg der Schäfererzälungen, die seit 1744 vermehrt und mit Schäferdichtungen in weiteren Kleingattungen vermischt unter dem Titel Versuch in Schäfer-Gedichten und anderem poetischen Ausarbeitungen bis ans Ende der 70er Jahre in zahlreichen Neuauflagen erscheinen. Die krit. Stimmen aus dem Lager der Moralisten werden durch den Beifall eines Gleim und Uz aufgehoben; Zeitgenossen rühmen an ihm die „Verbindung des Schalkhaften mit dem Unschuldigen". — Dem Typus der Rostschen V. folgt, gleichzeitig ob er oder Lamprecht als der Verf. zu gelten hat, die einer Schwanknovelle aus dem Decamerone (5, 4) nachgestaltete V. Die Nachtigall (1744). c) G e l i e r t . Mit den V.en, die Christian Fürchtegott G e l i e r t in versch. Samml.en vorlegt, wird der Gattung die breiteste Wirkung zuteil. Auf die beiden Bde. der Fabeln und Erzählungen von 1746 und 1748 folgen 1754

die Lehrgedichte und Erzählungen und 1756

die um weitere Stücke vermehrten Fabeln und Erzählungen im 1. Teil der Samml. vermischter

Verserzählung, Neuhochdeutsche Schriften; Neuauflagen und deren Doppeldrucke bestätigen den buchhändlerischen Erfolg. Die Sinnlichkeit des Rokoko begegnet in den V.en Gellerts nur ausnahmsweise, so etwa in der „Schäfererzählung" Damoetas undPhyllis, die motivisch an Die Küsse des vom Verf. bewunderten Hagedorn anknüpft. Seine V.en sind vielmehr ein Ausdruck der christl.-bürgerlichen Aufklärung, ihrer satirisch-witzigen oder empfindsam-rührenden Richtung; sie machen Geliert zum bedeutendsten Vertreter der m o r a l i s c h e n V. Als „wahre Begebenheiten" (s. § 5a) haben Gellerts V.en anekdotischen Charakter; die erzählte Begebenheit wird zum Exempel für eine menschliche Tugend oder Schwäche und steht im Dienste einer Moral, die der Dichter jeweils an den Anfang oder das Ende der V. stellt. Zur Popularität dieser V.en trägt bei, daß sich die Ereignisse in einer jedem Leser vertrauten Welt abspielen, daß selbst Geschehnisse der großen Welt (wie in Herodes und Herodias oder Monime) durch die Darstellungsweise des Dichters dem Verständnis des einfachen Volkes nähergebracht werden. Geliert gestaltet die Figuren seiner V.en als Typen, die vielfach wie in der Komödie bestimmte, schon in Titeln wie Die Betschwester vorweggenommene Charakterzüge verkörpern; oder seine Typen charakterisieren eine Lebenssituation (wie in der V. mit dem ironisch gemeinten Titel Der betrübte Wittwer), eine soziale Lage (z. B. Der arme Greis) oder einen bestimmten Stand (z. B. Der junge Drescher) usf. Gellerts Typen vertreten die verschiedensten Lebensbereiche: Arm und Reich und zumal die kleinen Leute, den Handwerker, Bauern und Knecht. Sein mitfühlendes Verständnis für die Sorgen und Leiden der gedrückten unteren Schichten befähigt Geliert zum patriarchalischen V o l k s e r z i e h e r . Seine V.en leisten somit Ähnliches wie später Hebels Kalendergeschichten in Prosa. Anders als in den V.en des Rokoko sind in denjenigen Gellerts die Schattenseiten der menschlichen Existenz, Krankheit und Tod, Armut und Unglück bevorzugte Themen. Zahlreich sind die Exempel für das menschliche Verhalten in Situationen, die zu allen Zeiten eintreten können; im besondren aber wird Geliert durch die vom Geld beherrschte bürgerliche Gesellschaft veranlaßt, vielfältig abgewandelte Beispiele für ein verwerfliches oder löbliches Handeln vor Augen zu führen: U. a. fordert er mit einer rührenden Geschichte die Reichen auf, mildtätig zu sein (Der arme Greis), entlarvt den scheinheiligen Ausbeuter, der ein „Hospital für arme Fromme" baut (Der Wuchrer), und zeigt andrerseits, daß Großmut gegen einen redlichen Bedürftigen belohnt wird (Der arme Schiffer)', er schildert den Fall eines Sohnes, der für seinen ins Unglück gestürzten Vater einsteht und dadurch einen edelmütigen Helfer findet (Alcest), und er erzählt von dem umgekehrten Fall der mißbrauchten Güte eines Ad-

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vokaten, welchen die mit seiner Hilfe freigesprochenen Diebe ausrauben (Cleant)-, oder er gibt das warnende Beispiel eines reichen Erben, der sein Vermögen verpraßt und in Not gerät (Der baronisierte Bürger) usf. Gellens G e s e l l s c h a f t s k r i t i k tastet die ständische Ordnung nicht an. Vielmehr soll sich der Mann aus dem Volk - im Sinne der lutherischen Tradition mit seinem Stand bescheiden (Der junge Drescher), während der Fürst (in Rhynsolt und Lucia) als ein Vorbild selbstloser Gerechtigkeit handelt und das Verbrechen bestraft. Andrerseits sollen die Großen „Die Kunst, das Geld nutzbar anzuwenden" lernen (Der junge Prinz), so wie der Adel wegen der kärglichen Besoldung des bürgerlichen Hauslehrers zu tadeln ist (Der Informator) usf. — K u l t u r k r i t i k äußert sich u. a. in einer Reihe von Satiren gegen seichte und eitle Autoren (Das Gespenst, Der unsterbliche Autor u. Philinde) oder (in der berühmten gleichnishaften V. Die Geschichte von dem Hute) gegen die der Mode unterworfene Philosophie. Der christl. Aufklärer Geliert entlarvt falsche Frömmigkeit (Der Kranke, Die Betschwester usf.) oder verlacht den auf dem Sterbebett von seiner Magd bekehrten Freidenker (Der Freygeist) usf. Der pessimistische Grundzug in Gellerts Wesen wird durch sein Gottvertrauen gemildert, doch äußert sich die hypochondrische Veranlagung in einem Mißtrauen gegen die menschliche Natur und bes. gegen das weibliche Geschlecht. Dies erklärt die Verschärfung gewisser, z. T. durch die Quellen vorgegebener Züge, doch ist die satirische Darstellung der B e z i e h u n g e n zwischen den G e s c h l e c h t e r n für die Gattung überhaupt charakteristisch. — Nicht zu übersehen sind die Satiren auf die Ehe als eine Qual für den männlichen Partner: So wird z. B. Johann, der Tunichtgut, mit einer „bösen Frau" verheiratet uhd dadurch zur Räson gebracht (Der ungerathne Sohn)-, ein Soldat zieht seine Hinrichtung dem Freispruch durch die Heirat mit einer alten Jungfer vor (Der beherzte Entschluß), oder ein Greis rät dem jungen Mann kurzerhand von der Ehe ab (Der gute Rath); und was der Titel Die glückliche Ehe verheißt und der Text der V. rühmt, erweist sich in der ironischen Pointe als Täuschung; das glückliche Paar ist schon acht Tage nach der Hochzeit gestorben; denn, meint der Erzähler, „Sonst würden dieß nur Fabeln seyn" (vgl. § 5a). Gewiß finden sich unter Gellerts V.en auch eine Reihe von Beispielen für ein anstößiges Verhalten der Männer, so etwa die schwankhafte V. Lisette, in welcher der Ehemann seine erblindete Frau mit deren Wärterin betrügt. Dennoch sind jene V.en auffallend häufig, in denen Geliert in satirischer Überspitzung Charakterzüge bloßstellt, die er als typisch weiblich empfindet. In einer antiken Anekdote etwa (Das Unglück der Weiber) müssen die Frauen die Freilassung der Männer mit ihrem Geschmeide erkaufen und überleben dieses Opfer nicht; ein neues Kleid macht

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die todkrank gewähnte Sulpitia rasch wieder gesund (Die kranke Frau), und ebenso wird Ismene (in dem La Fontaine nacherzählten Stück Die Wiedersprecherinri) durch ihren Widerspruchsgeist ins Leben zurückgerufen. Andrerseits aber treten den negativen F r a u e n t y p e n in einer Reihe empfindsamer V.en engelhafte oder heroische Dulderinnen zur Seite, so die gottergebene Schönheit, die ein Opfer der ärztlichen Kunst wird, aber großmütig gelassen stirbt (Calliste) \ die treue Ehefrau, die sich dem verbrecherischen Wüstling und Günstling des Fürsten hingibt, um ihren unschuldig angeklagten Mann zu retten (Rhynsolt und Lucia); die junge Frau, die beim Anblick ihres toten Mannes stirbt (Das neue Ehepaar), oder die treue Liebende, die sich für den egoistischen Liebhaber aufopfert (Montan und Lalage) usf. — Einen Tribut ans Rokoko entrichtet Geliert u. a. mit der Gestalt der bescheidenen Schönen (Selinde), die ihr Bildnis zu geschmeichelt findet und es dem Maler zurückgibt, von den Richtern aber mit einer Huldigung an ihre Reize eines Besseren belehrt wird. Acht V.en veröffentlicht Geliert schon 1742/1744 in den Belustigungen des Verstandes und Witzes und unterscheidet sie dort jeweils durch die Gattungsbezeichnung „Erzählung" von den „Fabeln". Aber nur Damoetas und Phyllis, die als „Schäfererzählung" und durch ihre strophische Gliederung (in sechszeilige gereimte jambische Dimeter) aus dem Rahmen der meisten übrigen Gellertschen V.en fällt, findet in veränderter Fassung in die Samml. von 1746 Aufnahme. Von den übrigen sieben V.en, die durchwegs in paarig gereimten Alexandrinern abgefaßt sind, erscheinen drei postum nach einer hsl. überlieferten Fassung in L. Neuffers Taschenbuch an der Donau. Auf das Jahr 1824, Es sind Montan und Lalage und Wie gewonnen, so zerronnen (Die geizige Claudia der Belustigungen) sowie die in die Unterwelt verlegte V. Der Spieler. Der Dichter ist von den in den Belustigungen vorgelegten Stücken abgerückt, die seinem an die späteren V.en angelegten klassizistischen Maßstab von Knappheit und Genauigkeit im Ausdruck nicht mehr genügen. — Als a l l e g o r i s c h e V.en sind Die Liehe und das Glück aus den Belustigungen (von 1744) hervorzuheben, welche die Nähe des frühen Geliert zu Hagedorn bezeugt und durch ihr Thema an dessen Eremit und das Glück erinnert (vgl. § 5 b), sowie an seine eigene V. Der Arme und das Glück (aus der Samml. von 1748). Daß Geliert die Leser aller Volksklassen erreicht, gründet u. a. in der von ihm erstrebten Klarheit und Verständlichkeit. Den als Typen gezeichneten Figuren, der Vermittlung praktischer Lebensweisheit durch einleuchtende Exempel entspricht ein in allen seinen V.en bemerkenswert gleichmäßig durchgehaltener mittlerer Stil; die U m g a n g s s p r a c h e erhält in Gellerts S t i l i s i e r u n g klassische Gestalt. Der Erzähler wahrt einerseits epische Distanz zum Geschilderten, erreicht aber andrerseits eine Lebhaftigkeit und Natürlichkeit, ja Anmut des Erzählens, gleich-

gültig, ob eine V. auf einen satirisch-witzigen, humorvollen, keck spottenden oder empfindsam-rührenden Ton gestimmt ist; prodesse und delectare halten sich dadurch die Waage. Der Dichter vervollkommnet die aus Hagedorn und dessen Vorbildern vertraute Technik der ironischen Pointe, des Dazwischentretens der Erzähler-Figur und ihres Gesprächs mit den Lesern, der rhetorischen Fragen usf. Sein Satzbau ist jedoch komplizierter als derjenige Hagedorns, mit längeren, hypotaktisch gebauten Sätzen gegenüber den kurzen parataktischen des Vorläufers. Neben letzterem ist u. a. auch Stoppe als ein stilistisches Vorbild Gellerts zu betrachten. Wie Hagedorn pflegt dieser die kürzere V. Läßt man die Tierfabeln beiseite, so enthalten die beiden Samml.en der Fabeln und Erzählungen von 1746 und 1748 insgesamt 85 Stücke, wovon fast zwei Drittel weniger als 50 Zeilen und mit drei Ausnahmen alle weniger als 100 Zeilen umfassen. Den selbstverständlichen Plauderton fördert die m e t r i s c h e G e s t a l t . Bezeichnend für die Entwicklung der Versgeschichte ist es, daß nur noch zwei V.en (1746) reine Alexandriner-Dichtungen sind, die exotische Geschichte Inkle und Yariko (von 100 Zeilen) und die antike, dem Plutarch nacherzählte Anekdote von der beherzten Gemahlin des Mithridates, Monime. Die meisten V.en hingegen sind in unstrophischen jambischen vers libres gehalten, unter denen der Dimeter überwiegt, ein Metrum, das dem Bemühen Gellerts um prägnante Kürze entgegenkommt. Die insgesamt acht strophischen Stücke (sechs davon aus der Samml. von 1746) sind meist epigrammatischen Charakters und gleichfalls im jambischen Dimeter gehalten und zu 4- oder 6zeiligen Strophen geordnet. Es sind Maße, die bes. aus der Erzählkunst La Fontaines vom dt. Rokoko übernommen werden; ihm ist Geliert durch seine eigentümliche „Kunst des Styles" (Bouterwek) verbunden. Im Gegensatz zu Hagedorn (vgl. § 5) ist es Geliert darum zu tun, seine S t o f f e selbst zu erfinden, und bei einem Teil der in seinen V.en gestalteten „wahren Begebenheiten" handelt es sich wohl um Eigenes, auch wenn diese Stücke gelegentlich an schon Bekanntes erinnern. Andrerseits aber kann selbst Geliert nicht auf thematische, stoffliche und motivische Anregungen verzichten, und die Quellen Hagedorns wie La Fontaine, Burkart Waldis u. a. sind vielfach auch die seinen. — Daneben greift Geliert jedoch im Zeichen der Empfindsamkeit auf die engl. Moralischen Wochenschriften (s. d.) zurück, so auf The Tatler (u. a. für die aus Martial vermittelte, in der dt. Lit. der Zeit auch sonst behandelte und seiner V. Paetus und Arria zugrundeliegende Anekdote). Vor allem wird The Spectator eine bevorzugte Quelle; ihm verdankt Geliert neben dem Stoff für Rhynsolt und Lucia, Calliste, Die beiden Schwarzen usf. die gleichfalls anderweitig behandelte empörende Geschichte von dem gefühlsrohen Engländer und der guten Wilden, Inkle und Yariko. Gellerts V. gibt der

Verserzählung, Neuhochdeutsche Steeleschen Fassung dieses Vorwurfs ihre gültige Form. d) B r e m e r B e i t r ä g e r (s. d.). D e r j u n g e L es s i n g . — Bedeutsamer noch als Schwabes Belustigungen, zu welchen u. a. Geliert V.en beisteuert (s. c), werden für die Entfaltung der Gattung mit dem 1. Stück (1744) des 1. Bandes die Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, bes. durch die von J . A. S c h l e g e l , J . A. E b e r t und N . D . G i s e k e u. a. dort vorgelegten V.en. Deren Häufung im 1. und 2. Stück (1747) des 4. Bandes erklärt sich vielleicht aus dem im Vorjahr erfolgten Erscheinen von Gellerts 1. Samml. der Fabeln und Erzählungen, bei deren Vorbereitung J . A. Schlegel mit krit. Rat dem Autor behilflich ist. Die V.en erscheinen anonym und in den Neuaufl. der Zs. z. T . in veränderter, „verbessert e r " Fassung. Die Verfasserschaft kann gelegentlich durch Briefzeugnisse erschlossen werden oder durch die Aufnahme der (abermals verbesserten) V.en in spätere Samml.en der Autoren wie N . D . Gisekes Poetische Werke (1767) und J . A. Schlegels Fabeln und Erzählungen (1769), die in beiden Fällen C . Ch. Gärtner, ein anderer Bremer Beiträger, besorgt. Andernfalls wäre eine Zuordnung zu einzelnen Autoren oft schwierig; denn die Gemeinsamkeiten dieser V.en untereinander und mit denen der (in den §§ 5 b, 6 b u. c besprochenen) Zeitgenossen sind auffallender als individuelle Unterschiede. Auch in den Bremer Beiträgen steht die V. neben der (Tier-)Fabel und wird selbst im Sprachgebrauch der Autoren nicht eindeutig von dieser unterschieden (vgl. § 5a). Etwa zwei Drittel der V.en haben einen Umfang zwischen 50 und 150 Zeilen, sind also im Durchschnitt etwas länger als diejenigen Hagedorns und Gellerts, was auf die lockere, weniger streng auf das Thema bezogene, Abschweifungen und beiläufige Bemerkungen zulassende Erzählweise zurückzuführen ist. Einen breiten Raum nehmen gelegentlich die z. T. als Anreden an einen Freund oder an das allgemeine Publikum verfaßten allgemeinen Betrachtungen am Anfang oder Schluß einer V. ein. Epigrammatisch kurz ist Eberts V. Der abgeworfne Reuter, die knappe Scherzrede des Reiters mit einem schlagfertigen „Bürgermädchen", während Der Liebesdienst vom selben Autor (mit 310 vers libres u. jambischen Dimetern) und J. A. Schlegels V. Das ausgerechnete Glück (in 234 vers libres) die längsten Stücke sind. Fast alle V.en sind - der Entwicklung innerhalb der Versgeschichte gemäß - in unstrophischen jambischen vers libres abgefaßt, wobei in Gisekes Der Freygeist, der Philosoph und der Dichter

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noch die Alexandriner und in dessen V. Der kluge Mann und der junge Herr Alexandriner und vers communs überwiegen, in Cramers Moliere jedoch die Dimeter. NurJ. A. Schlegels erste V., Der beschämte Zweifler (von 1744), ist ganz in vers communs gehalten. Ebenso teilen die Bremer Beiträger mit den Zeitgenossen das Verhältnis zu den Vorlagen und desgleichen die Stoffe und Themen. Die Autoren wenden sich mit ihren V.en an die Gebildeten beiderlei Geschlechts. U. a. rechtfertigen sie den Künstler und D i c h t e r gegen den pedantischen, amusischen und auf Besitz bedachten Gelehrten (Giseke, Der Doktor und der Mahler), gegen die verständnislose Menge (Giseke, Antigenides) oder gegen adelsstolze Höflinge, wobei der Fürst der Beschützer des Künstlers wird (J. A. Schlegel, Albrecht Dürer und Leonhard da Vinci). — Der welterfahrene, vernünftigen Lebensgenuß lehrende und vorlebende Aristipp verkörpert nun, wie später bei Wieland, das Ideal eines Philosophen (vgl. den Ebert zugeschriebenen Aristipp, Gisekes Der Vater und Aristippus oder die V. Der überraschte Cupido. Aus einem griechischen Manuscripte des Aristippus übersetzt) im Gegensatz zu den lächerlichen Vertretern der Zunft, deren Lehre im Leben versagt (J. A. Schlegel, Streit der Natur und Metaphysik oder Der beschämte Zweifler, u. Giseke, Der Freygeist, der Philosoph und der Dichter). Andrerseits wird der Freigeist wie bei Geliert als eine negative Figur gestaltet (s. dazu eine weitere V. Gisekes, Der gereiste Freygeist oder J. A. Schlegels Der sterbende Freygeist), während J. A. Schlegel neben der Luther-Anekdote Das Allmosen in Bias ein antikpaganes Beispiel für echte Frömmigkeit vorlegt. Auch wenn dem Fürsten Mängel anhaften, erscheint er als eine Verkörperung großmütiger Eigenschaften, u. a. in J. A. Schlegels Kayser Siegismund und Der Sophi oder Gisekes Kayser Julianus, der Abtrünnige, während der Tadel in den genannten Stücken und in J. A. Schlegels Colbert und Louvois die schmeichlerischen Höflinge trifft. — Abgesehen von Eberts Liebesdienst läßt man in den Ehegeschichten den Frauen Gerechtigkeit widerfahren, so inj. E. Schlegels Der Weibertausch, J. A. Schlegels Proserpina und Pluto oder in der, Ebert zugeschriebenen, V. Die kluge Liese, und die Gefallsucht erweist sich (in J. A. Schlegels Der Spiegel oder in Gisekes Der kluge Mann und der junge Herr) als eine eigentümlich männliche Eigenschaft. — J . A. Schlegels Sokrates-Anekdote Die Menge der Freunde ist als ein Zeugnis für den sonst vor allem in der Lyrik gepflegten F r e u n d s c h a f t s k u l t hervorzuheben. — Die empfindsame V. Eberts (1744, in strophisch gegliederten jambischen Dimetern) „Nach dem Englischen des Herrn Priors", Der verzweifelte Schäfer, die mit dem Tod des verschmähten Liebhabers tragisch endet, steht als Schäfererzählung vereinzelt da. — Der mythologischen V. ist neben J. A. Schlegels Proserpina und Pluto dessen aitiologisches,

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die Blindheit Amors deutendes Stück, Die Thorheit und Amor, zuzuordnen, und im besondren die dem anakreontischen Rokoko zugehörige Dichtung Der überraschte Cupido (von 1747), die im genre mêlé verfaßt ist und somit formal aus dem Rahmen fällt, andrerseits aber thematisch und stilistisch unmittelbar auf Gerstenbergs Tändeleyen (von 1759) vorausweist(s. g . ) . — A u f die V. in der Samml. Vermischter Sehr., von den Verf. der Bremischen neuen Beyträge . . . (1748-1757) kann hier nur verwiesen werden. F. W. Z a c h a r i a e veröffentlicht 1771 eine Samml. von Fabeln und Erzählungen in Burcard Waldis' Manier, welche ausnahmslos in gereimten jambischen Dimetern verfaßt sind; bisweilen verraten seine Verse ihre Herkunft vom Knittelvers des Vorläufers (vgl. § 4). Von den V.en der Samml. sind etwa vier Fünftel nicht länger als 50 und alle kürzer als 100 Zeilen; die Reflexion tritt zugunsten erzählter Handlung zurück. Die Erzählweise ist knapper als die des Vorbildes aus dem 16. Jh., in dessen Geist sich der Autor einfühlt. Die Figuren seiner dem B.Waldis nachempfundenen V.en sind durchwegs v o l k s t ü m l i che T y p e n : Bauer, Fuhrmann und Soldat, Vieharzt, Magister und Priester, Tod und Teufel. Entsprechend fehlen nicht die z. T . derb-erotischen schwankhaften Stücke, die in Hochzeitsnacht und Ehebett spielen, so Der alte Reuter und seine Braut, Der Bräutigam und der Tod, Der bestellte Gruß usf. Die Stoffe sind vielfach schon aus anderen V.en des dt. 18. Jh.s vertraut, so etwa Der Greis und die junge Frau (vgl. Hagedorn), Der verurtheilte Soldat (vgl. Geliert), Der unvermuthete Ehseegen (vgl. Lessing) usf. U n t e r den Fabeln und Erzählungen, welche L e s s i n g in den 1771 vorbereiteten, aber erst 1784 postum erschienenen 1. Bd. seiner Vermischten Schriften aufnimmt, befinden sich acht V.en, die der Dichter mit vier weiteren in den Jahren 1747 bis 1767 z. T . in verschiedenen Zss. oder Zeitungen veröffentlicht hat; zwei V . e n (Die Teilung u. Der über uns) kommen postum im Dt. Museum von 1782 heraus, und verschiedene Stücke der Samml. von 1771 sind schon im 1. T . der Schriften von 1753 enthalten. In den unstrophischen jambischen vers libres der Lessingschen V.en überwiegt der Dimeter, was einem ähnlichen Stilbewußtsein wie demjenigen Gellerts entspringt (vgl. c); die strophische V. Das Muster der Ehen ist ganz in Dimetern gehalten. Lediglich die in den Samml.en weggelassene Freie Übersetzung einer Erzählung aus dem Fontaine . . . Die kranke Pulcheria (von 1747) ist noch in Alexandrinern verfaßt und etwas länger als die Vorlage (in vers communs, aus den Contes et nouvelles 3, 10) mit dem bezeichnenden Titel Épigramme. Lessings V.en sind auf einen satir. Ton gestimmt; sein dialektischer Witz zeigt sich besonders in der geschliffenen Pointe. In

die Augen fällt der reichlich verwendete Dialog als eine bisweilen scharfzüngige Wechselrede zwischen den Figuren oder zwischen Erzähler und Leser; sie wird jedoch selbstverständlicher Teil eines u. a. an La Fontaine und Geliert geschulten gefälligen Erzählstils. Fast zwei Drittel der Stücke sind von einem Umfang zwischen 14 und 49 Zeilen, die kürzesten epigrammatischzugespitzt, so die E h e s a t i r en Die eheliche Liebe mit ironisch gemeintem Titel; Das Muster der Ehen mit der entwaffnenden Pointe „Der Mann war taub, die Frau war blind"; Faustin und Nix Bodenstrom mit dem Thema des tatsächlichen oder potentiellen Fehltritts der Frau während des Mannes Abwesenheit. — Die V.en spielen meist, was erneut an Geliert gemahnt, in der bürgerlichen oder bäuerlichen Alltagswelt; der Bürger Lessing zeigt sich u. a. auch darin, daß er den Adligen als eine komische Figur gestaltet (Die Brille u. Die Teilung). Doch anders als Geliert entdeckt der junge Lessing den gewagten e r o t i s c h e n S c h w a n k , so in seiner zunächst unter dem fingierten Verlagsort Kerapolis (d. i. Hahnrei-Stadt) 1749 einzeln erschienenen V. Der Eremite (s. a.). Für das Thema des liederlichen Mönchs, der unter dem Deckmantel der Religion sämtliche Frauen der Stadt verführt, liefert u. a. der seinerseits auf Vorlagen zurückgreifende La Fontaine motivische Anregungen (Les Cordeliers de Catalogne, 2, 2 u. L'Ermite 2, 15). Wesentlich ist jedoch Lessings Pointe, das Geständnis des Angeklagten vor dem die Schande seiner Mitbürger schadenfroh bloßstellenden und hartnäckig bohrenden Richter, daß auch dessen Frau unter den Schuldigen sei; denn die sich daraus ergebende Moral veranlaßt den Autor zur witzigen Rechtfertigung seiner Geschichte: „Daß man von der Erzählung nicht / Als einem Weibermärchen spricht, / So mach' ich sie zum Lehrgedicht, / Durch beigefügten Unterricht. . . " . — E i n Schwank ist die V. Der über uns, in welcher der im Baum versteckte Apfeldieb als unfreiwilliger Zeuge einer handfesten Liebesszene den Liebhaber mißversteht und sich für die Folgen verantwortlich gemacht glaubt; schwankhaft sind Die Teilung und Die Brille, letztere eine Variation zum Thema des alten Mannes und der jungen Frau. — Von den übrigen Stücken tritt die epigrammatische V. Die Sonne (von 1747) für die E m a n z i p a t i o n des D i c h t e r s in der bürgerlichen Gesellschaft ein. So wie es die Sonne nicht kränkt, daß man ihre unermeßliche Größe auf der Erde nicht erfaßt, so wenig sollen die Dichter sich um des Pöbels Beifalls kümmern: „Lernt. . ./Zufrieden mit euch selbst, stolz wie die Sonne denken". e) K ü r z e r e E r z ä h l u n g e n in R e i m v e r s e n , so wie sie von Hagedorn, Geliert und ihren Zeitgenossen in den 4 0 e r Jahren erprobt werden, bilden die der Zahl nach bedeutendste Gruppe der dt. V . und stellen bis ins Biedermeier hinein den H a u p t t y p u s . Dessen Eigen-

Verserzählung, Neuhochdeutsche art zeigt sich z. T . noch in den 1797 von Karl Wilhelm R a m l e r „gesammelten" Fabeln und Erzählungen aus verschiedenen Dichtern; denn von den 150 Stücken der Samml. sind knapp zwei Drittel (Tier-)Fabeln und nur ein starkes Drittel V.en, von denen einige ihrerseits der Fabel nahestehen (vgl. § 5 a). Die meisten V.en sind auf eine Pointe hin angelegt und entsprechen vor allem den Spielarten der satir. und der ernsten moralischen V. im mittleren Stil, wobei die Stoffe und Themen wiederum meist an Bekanntes erinnern. Die Mehrzahl der V.en ist weniger als 50 Zeilen lang. Den Typus bestätigen außerdem die jambischen Reimverse mit dem zu erwartenden Vorwiegen der vers libres (oder vers mêlés), gefolgt von unstrophischen Dimetern und (in drei Fällen) strophisch geordneten Drei- und Vierhebern; doch bezeugt die Samml. darüber hinaus die seit den vierziger Jahren erfolgte parallele Entwicklung der reimlosen Verse, mit 5 V.en in jambischen Trimetern und 3 in Blankversen, d. h. in Metren, die an die Stelle der Alexandriner bzw. der vers communs getreten sind (vgl. f). — Für das moderne Empfinden befremdend ist Ramlers Verfahren, die Dichtungen nicht nur ohne Angabe der Verf. herauszugeben, sondern sie auch im Sinne seines klassizist. Formalismus sprachlich-stilistisch zu bearbeiten, den persönlichen Stil der Autoren damit verwischend, ein Vorgehen, das u. a. jedoch die mehr typisierende als individualisierende Tendenz der Gattung beleuchtet. Während die Periode nach etwa 1775 mehr oder weniger den Epigonen gehört, bleibt der Typus im Zeitraum von rund 1750 bis 1775, dem Erscheinungsjahr von Heinses Anthologie, für eine Reihe von Autoren eine Form der ursprünglichen dichterischen Aussage. 1750 bis 1775. Vorwegzunehmen sind wegen der Berufung des anonymen Autors auf Hagedorn und Geliert die Neuen Fabeln und Erzählungen (von 1749) und ähnlich die Poetischen Erzählungen (von 1750) des Rokoko-Dichters F. A. C o n s b r u c h , der betont die Nachfolge La Fontaines und Hagedorns antritt, Bearbeitungen franz. Vorlagen liefert und u. a. noch den Franzosen „in der Kunst zu erzählen vor anderen Völkern den Vorzug" einräumt. — Die antik-pagane m y t h o l o g i s c h e V., in welcher in scherzhaftem Ton mit den Gestalten von Venus, Amor, den Grazien u. a. antiken Gottheiten die Themen von Liebe und Schönheit, Freude und Vergnügen spielerisch abgewandelt werden, findet in dem Lyriker Johann Nikolaus G ö t z einen formal vielseitigen Kleinmeister; in seinen kurzen, Lied und Epigramm nahestehenden, strophischen und unstrophischen V.en (aus den Jahren 1745 bis 1765) wie Der Preis der Schönheit, Die himmlische und irdische Venus, Liehe braucht nicht Verstand, Sans des illusions,

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que servient nos plaisirs und Die Klage (des abgewiesenen Kupido bei Venus) usf. erreicht das anakreontische R o k o k o einen Höhepunkt (vgl. §§ 2e u. 5b). Verwandtes liefern J. W. L. Gleim in Stücken wie die strophischen V.en (von 1758) An Amor und Jupiter und Amor,]. G. JacobiinjWowKSoderG. K. Pfeffel in Circe usf. — Mehr dem Typus der satirisch-witzigen moralischen V. entsprechen neben M. G. Lichtwers Dämon und Phyllis eine Reihe von Stücken aus der hsl. Samml. von Fabeln und ErzählungenJ. H. M e r c k s , die mit Ausnahme der aitiologischen V. Der Gott Merkur und Amor (im Göttinger Musenalmanach von 1770) postum erschienen sind, so Die Vergötterung des Herkules, Prometheus und Jupiter und Der Mann und Jupiter. — Hervorzuheben sind einige Beispiele, in denen das Wunderbare nicht in der bevorzugten Gestalt der antiken Mythologie begegnet: Gleims christl. gefärbte, aitiologische V. Der erste Kritikus, Mercks allegorische V. Die Geburt der Liebe und dessen Versmärchen Die vier Feen, in welchem der Prinz aus vier Geschenken die Mäßigung wählt. — In diesem Zusammenhang ist diechristl. Legende zu erwähnen (vgl. dazu§ 2e), so Das Wunderbild, eine Erzählung der A. L. Karschin (1764) mit einem Stoff aus der Reformationszeit. — Die pastorale V. bleibt z. B. mit Lichtwers schwankhafter V. Die Zauberinn in dem (der Herkunft der Schäferdichtung entsprechenden) antiken Milieu, während andrerseits Gleims V .An Geßner. Verfasser des Daphnis oder Der Sänger bey der Heerde, eine Erzählung der Kars chin (1764) in eine unbestimmte Gegenwart verlegt sind und gesellschaftskritisch das einfache Leben des Schäfers gegen Fürsten und Hof ausspielen. Im Gegensatz zu den nach den behandelten Stoffen benannten Spielarten der V. bezeichnen die Begriffe scherzhaft oder komisch die Behandlungsart. Wohl im Anschluß an Wielands Comische Erzählungen (von 1765), die ihrerseits jedoch schon durch ihren größeren Umfang nicht in die hier besprochene Klasse fallen (vgl. h), kommen unter diesem Titel bis ins 19. Jh. hinein Samml.en von V.en heraus, so J. D. Hartmanns Komische Erzählungen in Versen. Von einem Freund des frohen Scherzes und heiterer Laune (1785). Aufschlußreich sind die beiden Bändchen der Heinseschen Anthologie, in denen unter dem mehrdeutigen Begriff des „Komischen" verschiedene Typen der V. zusammengestellt werden. — Die leichtfertige Komponente des R o k o k o zeigt sich in den epigrammatisch kurzen Scherzreden in keckem Ton wie J. F. Löwens V. „nach dem Grecourt", Der Kanonikus und seine Köchin, Pfeffels (Beitr. zum Göttinger Musenalmanach von 1774) Das höfliche Bauermädchen oder zwei V.en von G ö t z , Akanth und Phryne (ein Gespräch zwischen Liebhaber und Hetäre) und Kunz und Görgel (ein solches zwischen zwei Zechbrüdern) usf. Rokokohaft sind weitere epigrammatisch pointierte V.en in zierlichem Kleinformat, deren Töne von heiterem Scherz und bissigem

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Spott bis zu gelegentlicher bitterer Ironie abgestuft sind, ohne daß mit diesen Stücken jeweils eine moralische Belehrung des Lesers beabsichtigt wäre. Solche Miniaturen, die auf Typen und Situationen der verschiedensten Lebensbereiche satir. Schlaglichter werfen, findet man bei G ö t z (Der Amtmann oder Über die Wiedergenesung der Kayserin Frau Mutter, und des Pabstes zu gleicher Zeit aus dem Göttinger Musenalmanach von 1771) oder bei Autoren in Heinses Samml. wie A. G. K ä s t n e r (Der Adel), Gleim (Dionysius der Tyrann und Aristipp der Weise), J. F. L ö w e n (Die gründliche Betrühniß) und bes. Magnus Gottfried L i c h t w e r : Die seltsamen Menschen (d. h. die Spieler), Die Nachharn (mit dem Thema des Feindes, der schaden will und Gutes tut) oder Der Mohr und der Weiße (über die Relativität der Schönheit), Sokrates und der Wittwer usf. Die Übergänge von den mehr spielerisch gemeinten Dichtungen zur satirisch-witzigen Form der mor a l i s c h e n V. sind fließend. Für letztere, auch in ihrer ernsten Ausprägung, sei auf Geliert verwiesen, an dessen Vorbild sich die Autoren hier vor allem halten (s. c.). Solches gilt u. a. für die Samml. Mercks, dessen V.en vielfach neue Stoffe behandeln aber nach Umfang, metrischen Formen und der Vorliebe für anekdotische Begebenheiten (mit hist. Gestalten aus Antike und neuerer Zeit) dem Gellertschen Typus nahekommen, was in diesem Fall nicht zuletzt in einer ähnlichen Veranlagung der beiden Verf. gründen mag. — Gesellschaftskrit. Stücke im ernsten Ton enthalten etwa auch die Vermischten Gedichte der K a r s c h i n (von 1764), so die „Erzählung" Goldofon oder der sterbende Geizige und Der persische Prinz, eine Erzählung, an Ihre Königliche Hoheit den Prinzen Heinrich von Preussen mit dem Exempel der Mildtätigkeit gegenüber einem Veteranen, das zur Huldigung an den Adressaten gewendet wird. Ähnlich empfindsam-rührende Themen werden in einigen V.en G l e i m s variiert, so das des armen Familienvaters, der auf die Hilfe der reichen Erbin verzichtet (Selma), des Philosophen, der den „armen Arbeitsmann" tröstet (Konfuzius), oder der unerwarteten Rettung aus bitterer Not (Der arme Mann. Sein Kind. An einen reichen Mann von 1756). In die Periode nach 1775 gehören Autoren wie die Autodidaktin M. Ph. E n g e l h a r d geb. Gatterer, die mit ihren anspruchslosen V.en den Ubergang von Empfindsamkeit und Rokoko zum Biedermeier andeutet und mit z. T. selbst erfundenen Stoffen und weiblichen Themen den herkömmlichen Formen persönliche Töne abgewinnt (Colibri und Wilibald. Erster Gesang, 1778; Cornelia, 1779; Ein Stückchen aus der Pädagogik und Der kluge Alte). L. H. v. N i c o l a y hingegen, der mit seinen „Rittergedichten" im ,genre troubadour' die Nachfolge Wielands antritt und dessen Generation angehört, setzt den Haupttypus der V. im Stile der vorangehenden Periode fort und legt im 1. Bd. (1778) seiner Vermischten Gedichte eine Samml. von Fabeln und Erzählungen

und im 5. Bd. (1794) der erw. Ausg. Neue Fabeln und Erzählungen vor. Ein für die Spätzeit typischer Autor ist der fruchtbare und populäre August Friedrich Ernst Langbein. Er bedient sich der verschiedensten von den vorhergehenden Generationen vorgebildeten lyrischepischen Kleinformen und pflegt somit neben Fabel und „poetischer Erzählung" auch Romanze und Ballade (vgl. § 2e). Seine V.en erscheinen im Zeitraum von etwa 1780 bis 1830 und in vielen Fällen zunächst in Taschenbüchern und Zss., so z. B. zwei „Legenden", Der Kirchenbau in Aachen und Der Wunsch, im Schillerschen Musenalmanach (1796 u. 1797). Bei Langbein begegnen so gut wie alle von den Vorgängern aufbereiteten Möglichkeiten der V.: neben den vorwiegend unstrophischen einige strophische; neben den meist kürzeren V.en einige längere wie etwa der Hans Sachs nachgebildete Schwank Das Teufelsweib (von 1817 mit fast 400 Zeilen) oder das Versmärchen Der Hagestolz (mit über 500 Zeilen); neben satirisch-witzige treten einige ernste moralische Erzählungen. Jedoch überwiegen Schwank und schwankhafte Legende, was der Wesensart des Verf. und andrerseits dem Bedürfnis seines Publikums nach humorvoller Unterhaltung entspricht. — Auch Langbein bezieht seine Stoffe fast immer aus fremden Quellen; einer seiner bekanntesten Schwanke, Das Abenteuer des Pfarrers Schmolke und Schulmeisters Bakel (von 1784) beruht auf einer Novelle aus dem Heptameron (4, 34). Hinzu kommen als Anregungen inzwischen erschienene Samml.en wie Grimms Dt. Sagen (z. B. für die „Volkssage" Der wilde Jäger und der muthige Schneider) oder neu ins Bewußtsein getretene Autoren wie Abraham a Santa Clara ( z . B . für die V. Der Grämling und der Frohsinnige in Beckers Taschenbuch, 1813). — Mit dem Reimvers bleibt Langbein gleichfalls in dem für die Gattung üblichen Rahmen, wobei neben die bevorzugten jambischen vers libres und Dimeter nun auch die durch den Sturm und Drang erneuerten Knittelverse treten, die er u. a. aus Hans Sachs kennt; nur gelegentlich verwendet er reimlose jambische Verse. — Als E p i g o n e zeigt sich Langbein jedoch vor allem darin, daß seine V.en zwar eine virtuose Beherrschung der ererbten Formen verraten, andrerseits aber als Dichtungen nicht mehr zu überzeugen vermögen; seine V.en sind kaum mehr als eine gefällige, unverbindliche Unterhaltung für den biedermeierlichen Durchschnittsleser.

f) E r z ä h l u n g e n in r e i m f r e i e n V e r s e n bilden sich im Zuge einer Entwicklung heraus, die dem Entstehen der Erzählung in Reimversen gleichläuft — u. a. im Gefolge der Anakreon-Übers.en in reimlosen Versen, die im Anschluß an diejenigen Gottscheds (1736) von einigen Lyrikern der H a l l e s c h e n A n a k r e o n t i k unternommen werden.

Verserzählung, Neuhochdeutsche Die Verf. bedienen sich der für diese Übers.en gewählten Versmaße in ihren eigenen Dichtungen, vorwiegend lyrischen Gedichten, unter denen sich jedoch - im Werk von G ö t z - einige V.en befinden, die stofflich-thematisch und in ihrer Kurzform seinen (unter e genannten) gereimten m y t h o l o g i s c h e n V.en an die Seite zu stellen sind. Die reimlosen Verse, die den mittleren Stil leicht anheben, schaffen im Verein mit den anakreontischen Motiven einen zwischen Scherz und Ernst schwebenden, eigentümlich antikischen Ton und machen diese wenigen V.en zu einer nicht zu übersehenden sprachlich-stilistischen Bereicherung der Gattung. — Den bevorzugten Metren seiner Anakreon-Übers. (und derjenigen Gottscheds) folgen z. B. Der flüchtige Amor (im Taschenbuch f. Dichter u. Dichterfreunde, 1774) und Der befolgte Rath, beide im Kurzvers der jambischen Dreiheber; Hymen und die Truppen Amors und die etwas längere (55 Zeilen umfassende) V. Anakreons Vermählung (1760) in trochäischen Dimetern. — Im Blankvers dichtet G ö t z das anakreontische Stück Der Frühling und die (dem Thomsonschen Typus entsprechende) V. Attis, während Luna und ihre Mutter Latona (mit der Mondgöttin als rokokohaft gestaltetem Gleichnis für die menschliche Unbeständigkeit) in jambischen Trimetern gehalten ist, einem in den Ubers.en nicht gebrauchten Metrum. — In der Samml. J. L. H u b e r s , Oden, Lieder und Erzaehlungen (von 1751), stehen unter den letzteren z. B. nebeneinander eine V. in vers libres, eine solche in reimlosen Vierhebern und eine andere in jambischen Trimetern. — G l e i m s Folge anakreontischer Lieder in trochäischen Vierhebern, Amor und Psyche (1796) enthält erzählerische Stücke, ebenso wie sich in seiner rhetorisch-lyrischen Lehrdichtung im Stile des Koran und in Blankversen, Halladat, oder das rothe Buch (1774) erzählende Partien befinden. Johann Jakob B o d m e r fügt als Anhang zu der 1745 von ihm hg. Samml. von Gedichten I. J . Pyras undj. G. Langes, Thirsis und Dämons freundschaftliche Lieder, drei von ihm übersetzte Erzehlungen aus Thomsons Englischem bei, erzählerische Episoden aus dem naturbeschreibenden „Poem" The Seasons. Mit der Nachbildung der reimlosen jambischen Fünfheber des Originals führt er die B l a n k v e r s e r z ä h l u n g und mit der Form einen auch nach Stoff und Thematik neuen Typus in die dt. Lit. ein. Die in die Beschreibung der äußeren Natur und ihrer Reize organisch eingebetteten Thomsonschen „tales" zeigen den Menschen in einfachen, ländlichen Zuständen und in Situationen, die der jeweiligen Naturstimmung entsprechen. Mit den drei empfindsamen Schäfererzählungen fügt Bodmer das Element des Epischen zu dem, was man vorher (bei Brockes, Haller, E. Ch. v. Kleist) nur in der Form der Beschreibung kennt. — Bewußt rückt er mit dieser Untergattung der V. vom vorwiegend satirisch-witzigen, der Fabel verwandten Haupttypus ab; denn in der Blankverserzählung wird hier und bei der Nach-

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folge gewöhnlich das Thema einer tugendhaften und meist der ersten Liebesbeziehung abgewandelt, so in Lavinia (aus dem Autumn) zwischen dem werbenden reichen Palämon und der noch kindhaften armen Schönen; in Bodmers Nachdichtung des Dämon, in welcher der weltfremde Hagestolz, der die keusche Schöne beim Bade im Freien belauscht, nicht wie im Rokoko zum Faun wird, sondern zur Seelenliebe erwacht, während in Celadon undAmalia (wie Dämon aus dem „Summer"), der Blitzstrahl, der die Geliebte tötet, ein Band inniger Freundschaft und Liebe zerreißt. — Als eine Darstellung oft verwickelter seelischer Gegebenheiten und Vorgänge ist die empfindsame Blankverserzählung meist länger als die V. des Haupttypus oder der reimfreien V. des anakreontischen Rokoko-Klassizismus und im Falle Bodmers von einem Umfang zwischen 68 und 157 Zeilen. — Dem Typus folgt J. W. G ö t z mit.i4ttis. Eine Erzehlung (1747, in 196 Blankversen), die Gestaltung einer ersten zarten Liebesbegegnung, wobei die Widmung „Seinem zweeten Bruder zugeeignet" den autobiographischen Anlaß dieser im empfindsamen Rokoko gehaltenen pastoralen V. verrät (die den genauen Gegensatz zum frivolen Schäfertum der Rostschen V. bildet; vgl. b). D e r junge Wieland veröffentlicht 1752 unter dem Titel Erzaehlungen eine Folge von sechs Blankversdichtungen, die von den Zeitgenossen (E. Ch. v. Kleist u. Lessing) gleich als „Nachahmungen der Erzählungen des Thomsons" erkannt werden. Mit einem Umfang zwischen 394 und 641 Zeilen sind sie freilich wesentlich länger als das Vorbild, und Eschenburg scheint bei seiner Bestimmung der V. u. a. an den Wielandschen Typus zu denken (s. § 5 a). Einen späteren Plan, die Erzaehlungen in Reimverse umzugießen, gibt der Dichter auf und läßt stattdessen den Blankvers-Fassungen von 1770 und 1798 eine tiefgreifende Überarbeitung zuteil werden. — Neben die entscheidende, auf Form und Gesamtcharakter einwirkende Anregung Thomson-Bodmers tritt eine Vielzahl weiterer stofflich-motivischer oder thematischer Elemente, die z. T. wiederum Werken der engl. Empfindsamkeit entstammen, darunter Elizabeth Rowes Briefe der Verstorbenen an Lebende (in dt. Ubers.; vgl. Totengespräch, § 10c) oder Steeles und Addisons Moralische Wochenschriften: Im Guardian (d. h. in dessen dt. Ubers, durch die Gottschedin) findet Wieland die Vorlage für Baisora (1), im Babillard (der franz. Übers, des Tatler) wesentliche Elemente für Die Unglycklichen (3), für Melinde (5) und Selim (6), während andrerseits die pseudo-orientalische Märchensamml. Gueulettes, Les mille et un quart d'heure, gewisse äußere Umrisse von Zemin und Gulhindy (2) und die orientalischen Namen dieser u. a. V.en liefert. Der Unzufriedne (4) wird vermutlich durch ein dt. Werk, das gleichnamige „epische Lehrgedicht" J . A. Schlegels (im 2. Bd. der Bremer Beiträge) veranlaßt, doch weisen die biblischen Namen dieser V. auf Jacob und Rachel von

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Bodmer, dessen Empfindungen eines gebohmen Blinden wiederum als Quelle für Selim zu gelten haben; Motive aus anderen Werken Bodmers, aus Milton, Klopstock und J. A. Schlegel gehen in Zemin und Gulhindy ein usf. — Die für ein Wielandsches Werk charakteristischen und hier für die Traditionen, an welche dieser Typus der V. anknüpft, aufschlußreichen Q u e l l e n v e r h ä l t n i s s e zeigen erneut den vermittelten, ,literarischen' Charakter der Gattung. Der Thomsonsche Typus zeigt dem 18jähr. Dichter den geeigneten Ansatz zur Entfaltung der seinem Lebensgefühl entsprechenden Ausdrucksmöglichkeiten. Die Abkehr von dem noch kurz vorher verehrten Geliert, von Hagedorn, von deren Ahnen Boccaccio und La Fontaine und ihrer „hausbackenen Klassizität" (Fresenius) bedeutet eine Abwendung von der vorwiegend satirisch-witzigen Gestaltung konkreter bürgerlicher Verhältnisse in ihrer Mannigfaltigkeit. Stattdessen wählt der Dichter die ernste, vielfach elegische D a r s t e l l u n g eines idealen Nat u r z u s t a n d e s auf dem für den Typus konstitutiven Schauplatz der freien Natur. An die Stelle der Enge des bürgerlichen Lebens tritt in den Erzaehlungen die unbegrenzte Welt des Märchens, an die Stelle des geschliffenen, den Verstand herausfordernden Dialogs die lyrische Selbstaussprache im Monolog und in der unerwiderten Anrede, eine „blühende, kühne, zum Extremen geneigte Sprache" (Fresenius). Dem gehobenen Stil, den der flexible Blankvers verwirklichen hilft (vgl. § 2 c), entsprechen andrerseits die „hohen Personen und Morgenländer" und „die Gröse ihrer Gesinnungen, Sitten und Handlungen" (Jenaische gel. Zeitungen, 1753). Die in eine unbestimmte räumlich-zeitliche Ferne gerückten Gestalten haben nicht die klaren Umrisse der in der zeitgenöss. Umwelt beheimateten Typen der gereimten V. des Haupttypus. Die Mädchengestalten der Erzaehlungen z . B . sind alle einander ähnlich und des Dichters eigener Geliebten verwandt; und ebenso wird in den verschiedenen V.en stets dasselbe Grundthema einer ätherisch zarten - bald glücklichen, bald unglücklichen oder getäuschten - ersten Liebe abgewandelt, wobei sich in diesen S e e l e n b e z i e h u n g e n die zwischen Furcht und Hoffnung abwechselnden Stimmungen des Dichters mit Bezug auf seine eigene Liebe spiegeln. — Wieland rechnet für seine Erzaehlungen mit ihren ins Tugendhafte überhöhten Charakteren nicht mit dem Beifall eines breiten Publikums sondern wendet sich an einen erlesenen Kreis gleichgesinnter Seelen. Die Erzaehlungen der Thomson-Nachfolge sind als m o r a l i s c h e V.en der Empfindsamkeit zuzuordnen, so wie Wieland selbst sie (1797), nachdem das Wort geprägt ist, empfindsam genannt wissen möchte. Ewald Christian von K l e i s t s Neue Gedichte vom Verfaßer des Frühlings (von 1758) enthalten - neben der V. in (62) Alexandrinern, Emire und Agathokles, eine empfindsame tragische Liebesgeschichte - zwei Blankverserzählungen in der Nachfolge Thomsons

(dessen Spring das stofflich-thematische Vorbild für Kleists bekanntestes „Gedicht" ist). Die Freundschafft, eine Erzehlung (in 53 Zeilen) „An Herrn GleinC bildet, was dem Geist des Typus entspricht, einen Beitrag zum empfindsamen Freundschaftskult und mit der Opferbereitschaft beider Freunde das positive Gegenstück zu Montan und Lalage des vom Autor verehrten Geliert (s. c.), dessen „Erfindung", d.h. die strophische, gereimte V. Der Reisende, Kleist in den 19 Blankverszeilen des Arist „nach seiner Art einzukleiden" unternimmt. Andrerseits aber legt er mit dem von Amor, Doris und dem Dichter handelnden lyrischen Stück Die Heilung (in 45 reimlosen jambischen Dreihebern) eine anakreontische mythologische V. vom Götzschen Typus vor und in Filinde thematisch-motivisch ein Gegenstück dazu in gereimten jambischen Drei- und Vierhebern. In den Jahren seiner Erzählungen in Reimversen (s. h) überrascht der W e i m a r e r W i e l a n d (1777) mit einer solchen in (1096) reimlosen Versen, d. h. in Blankversen, unter die sich gelegentlich, wo eine heftigere Gemütsbewegung es erfordert, ein jambischer Sechsheber mischt. Der Dichter begründet die Wahl der Versart für Geron der Adeliche, „Eine Erzählung aus König Artus Zeit", mit der „Würde des Sujets", das die „simpelste Erzählung" fordert, während „die vierfüßigen Jamben . . . der komischen Erzählung angemessener" seien. Seine bevorzugte Quelle, die Bibliothèque universelle des romans, vermittelt ihm den Stoff für diese V. im ,genre troubadour' (vgl. § 2 d), die andrerseits, mit ihrer Lehre die Humanität der Klassik vorwegnehmend, die Entwicklung der ernsten, empfindsamen Blankverserzählung weiterführt: Die Geschichte von dem tugendhaften Ritter, der seine Leidenschaft für die Frau des Freundes zügelt und sich für einen bloß in Gedanken begangenen Fehltritt selbst bestraft, wird von einem fiktiven Erzähler als ein Exempel rechter Sitte vor dem Artushof mit bewußtem Bezug auf die Personen der Rahmengeschichte, König, Königin und Lanzelot vorgetragen. — Für die dt. Versgeschichte ist festzuhalten, daß der Blankvers (s. d.) in der Gattung V. Fuß faßt, ehe er, zuerst mit Wielands Trauerspiel Lady Johanna Gray (von 1758), zum Bühnenvers wird (s. auch

S

2C).

g) E r z ä h l u n g e n im , g e n r e m ê l é ' . Die im franz. 17. Jh. als Reisebrieferzählung begründete Mischform setzt sich aus Abschnitten in Vers und Prosa zusammen, die einander ablösen, ohne den Fluß der Erzählung zu unterbrechen; den Typus kennzeichnet vielmehr ein „elegantes Gleiten von der Prosa in den Vers und wieder zurück" (Anger). In der dt. Lit. wird das genre mêlé unter dem Zeichen des a n a k r e o n t i s c h e n R o k o k o eine jeweils nur etwa zwei bis drei oder vier Seiten umfassende epische Kleinform, die mit ihren pagan-antiken

Verserzählung, Neuhochdeutsche Themen und Motiven und auch im Ton der (unter f beschriebenen) erotischen m y t h o l o g i s c h e n V. entspricht und in Heinrich Wilhelm von G e r s t e n b e r g s unter den Zeitgenossen beliebten Tändeleyen (von 1759) ihre für die Nachfolge maßgebende Ausprägung erfährt. Das den Typus kennzeichnende Schlüsselwort „Tändeleyen" begegnet schon in einer anonymen Vers-Prosa-Dichtung, Der überraschte Cupido, im 2. St. des 4. Bd. (von 1747) der Bremer Beiträge, wo es vom Gefolge des Liebesgottes heißt: „Die Scherze, die Götter der Buhlereyen und die Freuden, die ihm überall nachfolgen, ihre muthwilligen Tändeleyen mit einander zu treiben . . .", und wo der Erzähler an andrer Stelle bemerkt: „Doch was tändle ich" usf. (s. § 2d). Der lyrische Einschlag des Typus zeigt sich u. a. darin, daß der Erzähler vielfach in der Ich-Form spricht und mit seiner Geliebten auf Schauplätzen wie „im idalischen Gehölze" (im Überraschten Cupido) oder (bei Gerstenberg) in Paphos, Knidos, auf Cythere usf. weilt (vgl. § 2e). Die Titel der Tändeleyen sprechen für sich selbst: Amors Geburt, Der Gott der Eifersucht, Der Priester der Venus, Der Geschmack eines Kusses, Amors Triumph, Die Göttinn der Liebe, Die Nymphe Dianens, Bacchus und Amor; hervorzuheben sind Die Grazien, ein Stück, das zusammen mit J. G. Jacobis gleichgeartetem Fragment einer Geschichte des Apollo das genre mêlé in Heinses Samml. vertritt und auf Wielands umfangreichere, 1769 entstandene Dichtung in diesem Genre, die Grazien, „Ein Gedicht in sechs Büchern", vorausdeutet. G e r s t e n b e r g s Tändeleyen, die 1760 und 1765 in jeweils verbesserter Aufl. erscheinen und bis zum Jh.-Ende wiederholt nachgedruckt werden, wirken unmittelbar auf die entsprechenden Dichtungen in der Samml. Tändeleyen und Erzählungen (1763) des befreundeten M. C l a u d i u s ein, wo sich unter mythologischen Stücken wie Der wohlthätige Amor, Amor auf der Schlüsselblume usf. im selben Stil gehaltene S c h ä f e r e r z ä h l u n g e n befinden (Die Schäfer am Brunnen, Die Faunen, Der steigende Busen usf.). Während in Gerstenbergs Samml. Dichtungen im genre mêlé mit lyrischen Gedichten ähnlichen Charakters untermischt sind, läßt Claudius auf seine scherzhaften, paganen Tändeleyen einige gereimte Erzählungen (in vers libres) und vorwiegend ernsten Charakters folgen, empfindsam-rührende Stücke, die u. a. auf das Vorbild der moralischen V. vom Typus Gellerts weisen. — Im Geschmack der Tändeleyen verfaßt D. H . T h o m a s Anakreontische Erzählungen (1765); drei empfindsame Dichtungen im genre mêlé von J. G. J a c o b i stehen als größere Reisebrieferzählungen (Die Winterreise, 1769 u. Die Sommerreise, 1770) - oder schon durch ihren Umfang (Charmides und Theone, oder Die Sittliche Grazie, 1774) - außerhalb der für die Gattung V. zu ziehenden Grenzen. h) Wielands „Erzählungen und M ä h r c h e n " n a c h 1 7 6 0 . I n d e n 60er J a h r e n

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e n t w i c k e l t sich d e r D i c h t e r z u m M e i s t e r des epischen R e i m v e r s e s , d o c h b e t r a c h t e t d e r g a t t u n g s b e w u ß t e A u t o r n u r einen Teil seiner v e r s e p i s c h e n D i c h t u n g e n als V . e n (vgl. § 2 b , d e). D e m e n t s p r e c h e n d w e r d e n hier i m w e s e n t l i c h e n s o l c h e W e r k e e r ö r t e r t , d i e er selbst d e r V . z u r e c h n e t , w ä h r e n d seine u m f a n g r e i c h e r e n epischen „ G e d i c h t e " (in d e n m e i s t e n Fällen gattungsmäßige N e u s c h ö p f u n g e n ) außer Bet r a c h t b l e i b e n . A n d r e r s e i t s s t e h e n die V . e n , was Entstehung, Stoffwahl, Thematik usf. bet r i f f t , m i t seinen e p i s c h e n „ G e d i c h t e n " u n d e b e n s o m i t d e r d i c h t e r i s c h e n P r o s a in einer vielfältigen W e c h s e l b e z i e h u n g . F ü r f o r m a l e w i e stofflich-motivische oder thematische Anreg u n g e n teilt W i e l a n d m i t seinen d t . V o r l ä u f e r n die A b h ä n g i g k e i t v o n a u ß e r d t . L i t . e n (vgl. f), d o c h ist er in seiner T r a d i t i o n s w a h l vielseitiger als die f r ü h e r e n A u t o r e n , so w i e seine Begab u n g , die v e r s c h i e d e n a r t i g s t e n E i n f l ü s s e e i n e m neuen F o r m - und Sinnzusammenhang einzup a s s e n , u n g l e i c h s t ä r k e r ist. V o m Geron a b g e sehen, gilt n u n f ü r seine V e r s e p i k allgemein eine H i n w e n d u n g z u m K o m i s c h e n in allen m ö g l i c h e n Spielarten, w a s u . a. in d e r seit d e n s p ä t e n 50er J a h r e n sich v o l l z i e h e n d e n p e r s ö n l i c h e n E n t w i c k l u n g des D i c h t e r s z u m s k e p t i s c h e n Realisten b e g r ü n d e t ist. D e r B i b e r a c h e r W i e l a n d k n ü p f t an die v o n H a g e d o r n eingeleitete E r z ä h l t r a d i t i o n an, n i c h t n u r m i t d e m R e i m v e r s , s o n d e r n bes. a u c h d a r i n , d a ß er d e r K u n s t d e r D a r s t e l l u n g v o r d e r E r f i n d u n g des Stoffes d e n V o r r a n g g i b t : M i t W i e l a n d s E r z ä h l k u n s t f i n d e t die d t . V . d e n A n s c h l u ß an das weltlit. N i v e a u (vgl. §§ 2 d u . 5 b ) . Wieland pflegt die längere V. (vgl. § 2 b), doch lassen sich die einzelnen Dichtungen nicht auf einen bestimmten Typus festlegen. Seine Versepik ist für den Dichter eine von Werk zu Werk verschiedene, immer neu reizende Aufgabe der Form, sein Ziel jene . P o e s i e d e s S t i l s ' , die u.a. auf der fruchtbaren Spannung zwischen Verston und Satzton beruht. — Seit der Gründung des Teutschen Merkur (1772) erscheinen die V.en dort im Vorabdruck und erfahren für die Buchausgabe und jede Neuaufl. bis zur Ausg. der Sämmtlichen Werke ,von der letzten Hand' (im folgenden mit C bezeichnet) immer neue „Verbesserungen", Überarbeitungen oder Neufassungen (vgl. a). An der chronologischen Folge der Wielandschen V.en läßt sich ein im Laufe des 18. Jh.s stattfindender Wandel des Geschmackes ablesen, der einem sich wandelnden Lesepublikum entspricht. Wielands Versepik kann zwar nicht mit der Breitenwirkung der Gellertschen Fabeln und Erzählungen rechnen, ist aber auch nicht wie die frühen Erzaehlungen für eine

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esoterische Leserschaft gedacht (s. f.), sondern richtet sich an das gebildete Bürgertum und andrerseits an die vor allem dem franz. Rokoko zugewandten höheren Stände, die u. a. durch Wielands Dichtungen der dt. Sprache zurückgewonnen werden. Die in B i b e r a c h und E r f u r t entstandenen V.en weisen ausnahmslos in den Stoffkreis der A n t i k e . — Mit Nadine, die er rückblickend (C, 1795) auf 1762 datiert und „Eine Erzählung in Priors Manier" nennt und in deren Text er zudem auf Boccaccio und La Fontaine anspielt, knüpft Wieland zunächst unmittelbar an die von Hagedorn eingeleitete Überlieferung an und mit dem Schäfermilieu und der frivolen Erotik bes. an Rost (s. b), den er jedoch in der Kunst der bloßen Andeutung gleich übertrifft (vgl. § 5b). Hinzu kommen Elemente des anakreontischen Rokoko (Liebesgötter und personifizierte „Freuden", darunter „ein junger Scherz", Sohn einer Grazie und eines Fauns usf.) durch welche dieses Stück (von 74 als Madrigalverse angeordneten vers libres) auch am Typus der m y t h o l o g i s c h e n V. teilhat. — Ihn vertreten die vier Comischen Erzählungen (von 1765), die mit einem Umfang zwischen 651 und 962 Zeilen die Reihe der längeren V.en einleiten, metrisch auf dem mit der Nadine eingeschlagenen Weg weitergehen und dabei alle Möglichkeiten der vers libres ausschöpfen, so wie sie überhaupt den seit Hagedorn erprobten Erzähltypus zur bisher höchsten Entfaltung bringen, etwa durch die virtuose Gestaltung des Gesprächs zwischen Erzählerfigur und Leserfiguren usf. — Die antiken Göttersagen, die Wieland u.a. aus Ovid, in erster Linie aber aus den ironisch-satirischen Gesprächsdichtungen des spätantiken Aufklärers Lukian übernimmt (s. Totengespräch), bilden die stoffliche Grundlage. Der antike Rahmen erlaubt es dem Autor, unbehindert von Rücksichten auf die christl.bürgerlichen Moralvorstellungen die für seine Gegenwart wie für alle Zeiten gültige P s y c h o l o g i e des E r o t i s c h e n darzustellen - für viele Zeitgenossen ein Anlaß, die buchhändlerisch erfolgreichen Comischen Erzählungen als anstößig zu empfinden und ihren Verf. als unsittlich zu verdammen. Wielands Einsicht, daß der Mensch, sofern er Mensch ist, der sinnlichen Liebe nicht entrinnen kann noch soll, bildet ein Hauptthema seiner V.en bis zur späten Wasserkufe. In gewagten Szenen, in denen die äußere Handlung vielfach zugunsten einer Analyse psychologischer Vorgänge zurücktritt, wird vermeintliche Tugendhaftigkeit in immer neuen Variationen als Schwärmerei entlarvt und diese ernste Absicht in Form eines anmutig-heiteren Spieles verfolgt. — In der burlesk-schwankhaften Gestaltung der berühmten mythologischen Episode zeigt Das Urteil des Paris die auf den höchsten Grad getriebene weibliche Eitelkeit; Endymion in der sittenstrengen Diana eine Spröde, die dem ersten schönen Jüngling verfällt und dabei von einem rachsüchtigen Faun belauscht wird, während die Fallstricke ehelicher Eifersucht Gegenstand von Juno und Ganymed und Aurora und

Cephalus sind, wobei die letztere V. zusammen mit Nadine die Wielandsche V. in Heinses Anthologie vertritt. — Dem Typus der antikisierenden scherzhaften V. folgen auch thematisch die beiden Stücke Combahus, „Eine Erzählung" (1770) und die früher entstandene Aspasia, „Eine griechische Erzählung" (1773) von der Oberpriesterin Dianas, die zusammen mit einem jungen Magus schwärmerische Tugendübungen verrichtet und sich mit ihm unversehens in die sinnlichste Liebe verstrickt, während in dem nach einem Vorwurf der pseudo-lukianischen Schrift Von der syrischen Göttin und wohl mit einem Seitenblick auf das Zölibat verfaßten - Combahus der treue Vertraute des Königs die Tugendhaftigkeit mit der freiwilligen Entmannung auf die Spitze treibt. Unter Weglassung von Juno und Ganymed (vgl. dazu § 6 a) werden die übrigen fünf V.en, nachdem ihnen wiederholte Verbesserungen zuteil geworden sind, unter dem Titel Griechische Erzählungen in der Teilsamml. der Auserlesenen Gedichte (von 1784) vereinigt. Als Wielands einzige satirisch-pointierte V. in der Nachfolge Gellerts usf. ist Das Cameel und seine Lobredner (in 25 vers libres) aus dem Teutschen Merkur (von 1775) zu erwähnen, eine Gelegenheitsarbeit aus der Entstehungszeit der Abderiten und wie diese nochmals ins Altertum, hier ins alte Ägypten, verlegt. — Im übrigen wendet sichderWeimarer Wieland mit seinen V.en neuen Stoffkreisen und u. a. der M ä r c h e n w e l t des O r i e n t s zu, 1776 mit der (in den Vermischten Erzählungen von 1785 wie folgt betitelten) V: Das Wintermährchen, „Nach einer Erzählung aus dem ersten Theile von Tausend und einer Nacht", deren Titel zugleich an das ShakespeareStück The Winter's Tale erinnert. Der umfangreichen V. (von 1332 Zeilen) mit „Prolog" und zwei Teilen, Der Fischer und sein Geist und Der König der schwarzen Inseln, geben die gereimten Vierheber (vorwiegend jambische Dimeter, mit vers irreguliers untermischt) einen eigenen, volkstümlich-humorvollen Ton, in welchem u. a. die für die Zeitgenossen deutlich vernehmbaren satir. Untertöne mitschwingen; in ihnen kommt das Unbehagen des Bürgers Wieland an dem unter dem Zeichen des Sturm und Drang stehenden ersten Regierungsjahr des Herzogs Carl August zum Ausdruck. — In Ironie gekleidet ist die Gesellschaftskritik des Versmärchens Schach Lolo, oder das göttliche Recht der Gewalthaber, „Eine morgenländische Erzählung" (1778, in 797 vers libres), in welcher der Sultan, ein Opfer seiner Schwachheit gegenüber den Einflüsterungen der Höflinge wird; stofflich-thematisch steht die Dichtung damit in der Uberlieferung entsprechender V.en Hagedorns (Der Sultan und sein Vezier Azem; s. § 5b), J . A. Schlegels {Der Sophias. § 6d) usf. Das unmittelbar vorher entstandene Versmärchen Hann und Gulpenheh, oder zuviel gesagt ist nichts gesagt, „eine morgenländische Erzählung" (1778, in 265 vers libres) ist nach einem Vorwurf der Contes turcs von Petits de la Croix gestaltet und eine für die Gattung V. typische schwank-

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Während Idris und Neuer Amadis, die komischen ,Rittergedichte' der Biberacher und Erfurter Zeit, der Stoffwelt Ariosts und Tassos verpflichtet sind (s. §2d), gestaltet Wieland das mal. R i t t e r t u m in seinen Weimarer V.en nach Stoffen, die er u. a. in der vom Comte de Tressan hg. Abteilung der Bibliothèque universelle des romans, d. h. in modernen Bearbeitungen von Werken des franz. MA.s, vorgebildet findet. Dabei fällt die V. Geron der Adeliche durch ihre den reimfreien Versen entsprechende ernste Haltung aus dem Rahmen (s. f). Das SommerMährchen oder des Maulthiers Zaum, „Eine Erzählung aus der Tafelrunde-Zeit" in zwei Teilen (1777) mit der Gegenüberstellung von tapferem Ritter und Maulhelden verdankt die scherzhaft spielerische Note nicht zuletzt den (unter den 1303 vers libres vorwiegenden) Kurzversen zwei- und dreihebiger Jamben, während in dem (gleichfalls auf eine altfranz. Quelle beruhenden aber nach Schwaben verlegten) Versmärchen Der Vogelsang, oder die drey Lehren (1778) das Überwiegen der jambischen Dimeter (unter den 439 vers libres) eine volkstümlich-humorvolle Wirkung erzielen hilft. - Das satirisch-burleske Versmärchen Pervonte oder die Wünsche, auf dessen zwei Teile von 1778/79 (im Zuge der Vorbereitung von C) 1796 ein abrundender dritter folgt, ist mit 1362 Zeilen in Madrigalversen die umfangreichste der Wielandschen V.en (s. § 2b) und abermals eine Ehegeschichte. Das Motiv der unzufriedenen Ehefrau verbindet sich mit dem Motiv der dem Helden verliehenen Gabe zu wünschen, so wie es im Titel von Wielands Vorlage (in der Bibliothèque universelle) heißt: Pervonte, ou les Dons des Fées. Als „Neapolitanisches Mährchen" aus dem Pentamerone des Basile weist die Quelle in die ital. Novellistik und somit in eine beliebte Vorratskammer für die Stoffe der Gattung V.

Gesängen. 1775" (in 475 vers libres mit vorwiegend jambischen Dimetern), in welchem das natürliche Recht der beiden Titelfiguren auf ihre gegenseitige Liebe betont und der Bruch des Zölibats durch die Verklärung ihrer beiden Seelen am Schluß gerechtfertigt wird. In einem weiteren Sinne sind den V.en einige erzählerisch gestaltete Gelegenheitsdichtungen mit autobiographisch-lyrischem Einschlag zuzuordnen, in denen statt eines fiktiven Erzählers der Autor Wieland selbst in Erscheinung tritt. Das Gedicht An Psyche (1776), das an die dem Dichter in seiner Erfurter Zeit nahestehende Julie von Bechtolsheim gerichtet ist, erzählt (in 170 dem Knittelvers angenäherten Vierhebern) von dem gemeinsam mit Goethe unternommenen Neujahrsbesuch bei Julie und ihrer Familie in Stedten bei Erfurt und enthält „die schönste poetische Schilderung des jungen Goethe" (Seiffert). — Die übrigen (meist in vers libres gehaltenen) Stükke finden sich unter den Gedichten an Olympia, mit denen Wieland der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar huldigt. Als Geburtstagswünsche für seine Fürsten verfaßt er u. a. Zweyerley Götterglück, „am 24 Oktober 1777" (in 223 Zeilen), Wettstreit zwischen der Mahlerey und Musik, „im Jahre 1781" (in 75 Zeilen) oder Am 24 Oktober 1784 (in 159 vorwiegend jambischen Dimetern; die Titel alle nach C, 1795), und als Neujahrs wünsch das (hsl. überlieferte) Gedicht (in 170 von Knittelversen untermischten jambischen Dimetern) Eine Anecdote aus dem Olymp, „am lten Januar, im Jahre 1784". Dem Ehrennamen der Fürstin gemäß sind diese Huldigungsgedichte als Szenen im Olymp mit den vertrauten antiken Gottheiten gestaltet, die im Sinne einer aus dem Barock ererbten höfischen T r a d i t i o n mit Olympia-Amalie in Beziehung gesetzt werden. Dem Anlaß, der Empfängerin und der veränderten Situation des Verf. entsprechend erscheint der satirischfreche Ton Lukians und der Wielandschen Comischen Erzählungen zu einem liebenswürdigen Humor gemildert.

Der Kreis schließt sich mit dem (gleichfalls von der Arbeit an C angeregten) späten Versschwank (von 1796, in 802 Madrigalversen), Die Wasserkufe oder der Einsiedler und die Seneschallin von Aquilegia, „Nach einer Erzählung in Le Grand's Contes dévots pour servir de Suite aux Fabliaux et Contes du treizième Siecle . . .". Das für die Gattung geläufige Thema des liederlichen Mönchs (s. §§ 5 b und 6d) erscheint auf eigentümlich Wielandsche Weise abgewandelt, indem der vom Liebesteufel geplagte Bruder Lutz als ein Opfer seiner eigenen Tugendschwärmerei dargestellt und von der überlegenen Weltdame zur Vernunft gebracht wird (vgl. § 2 e). — In diesen thematischen Zusammenhang gehört eine vom Autor nicht den V.en zugeordnete, auf einer thüringischen Lokalsage beruhende Dichtung mit dem Titel (in C, 1795), Sixt und Klärchen oder der Mönch und die Nonne auf dem Mädelstein, „Ein Gedicht in zwey

i) W i e l a n d - N a c h f o l g e . Außer Betracht bleiben umfangreichere versepische Dichtungen, die dem Vorbild des Oberon und der anderen „romantischen Gedichte" Wielands verpflichtet sind (s. § 2d). Die kürzeren V.en seit 1760 wiederum folgen meist dem Haupttypus in seinen verschiedenen Ausprägungen (s. § 6e), so daß sich eine mögliche Nachfolge Wielands im wesentlichen auf die längere V . beschränkt. Angesichts der Forschungslage (s. a) läßt sich jedoch über dieses Gebiet wie über Wielands Wirkung überhaupt nur Vorläufiges sagen. Die folgenden ausgewählten Beispiele längerer V.en sind dem s c h e r z h a f t - a m o r a l i s c h e n Typus der Comischen Erzählungen usf. zuzuordnen. Abgesehen von dem persön-

hafte Ehegeschichte, deren eigentümlich orientalischer Charakter sich u. a. in der Märchengrausamkeit des makabren Schlusses, der Bestrafung der treulosen Schneidersfrau zeigt.

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liehen Stil dieser Dichter und der Anregung durch weitere Quellen hat man die WielandGefolgschaft wohl vor allem in der Erzählweise, der Behandlung der vers libres usf. zu suchen, während die Autoren in der Wahl und Gestaltung anstößiger Stoffe die von Wieland oder Hagedorn beachteten Grenzen überschreiten und darin dem mit der Lüsternheit rechnenden Rost (vgl. b) näherstehen. Im Unterschied zu letzterem und zu Wieland spielen die V.en der Nachfolge jedoch gewöhnlich in der Gegenwart der Autoren und weder in Arkadien noch sonst einer, das Gewagte mildernden, fernen Märchenwelt. Gemeint sind u. a. Die Inoculation der Liebe, „Eine Erzählung" (1771, mit über 800 Zeilen) und, gleichfalls von M. A. v. T h ü m m e l , die (1818/19 postum erschienene) V. Das Erdbeben von Messina (1809?), in denen, wie in der Nachtigall (s. b), die Ehe erst nach der Verführung geschlossen wird. Ausgehend von einem als Motto vorangestellten Zitat aus Favart, wird in der Inoculation die Impfung ein Bild für die körperliche Vereinigung, die nach dem Vorgeben des Verführers ein Mittel gegen die Blattern sein soll. In seinen Widmungsversen an C . F. Weiße nimmt Thümmel die Einwände der Moralisten vorweg, auch darin Wieland ähnlich, auf den er sich in diesem Zusammenhang beruft. In der von Gleim angeregten und einen Stoff von C.-J. Dorat gestaltenden V. Johann Jakob Wilhelm H e i n s e s (von 1773), Die Kirschen (in 680 vers libres), wird (wiederum ohne gesellschaftskrit. Absicht) der Mißbrauch eines arglosen jungen Mädchens durch eine Gruppe alter Voyeurs mit einer Geldspende wettgemacht, welche ihr die Heirat mit dem Verlobten erlaubt, während J. K. W e z e l in den schwerfälligen drei „Büchern" von Prinz Edmund, „eine komische Erzählung" (1785) u. a. das Motiv des liederlichen Mönchs aufgreift, der unter dem Deckmantel der Religion sadistischen Lüsten frönt. — Von Heinse enthält die Halberstädter Büchse (1774) u.a. zwei auf einen ernsten Ton gestimmte m y t h o l o g i s c h e V . e n aitiologischen Charakters in einer der Geniezeit zugehörigen kraftvollen Sprache, Herkules und Hebe (in 130) und Die Schöpfung Elysiums (in 132 vers libres).

j) A b l ö s u n g der G a t t u n g . Die geschichtlichen Verwirklichungen der V. des dt. 18. Jh.s, so vielgestaltig sie sind, kennzeichnet die Zugehörigkeit zu Aufklärung, Empfindsamkeit oder zu dem in diesen beiden Strömungen wurzelnden Rokoko, durch das sich die Gattung aus einer lehrhaften Zweckform zu einer Form der geselligen Unterhaltung entwickelt (vgl. § 5 a). Mit dieser Ausrichtung steht die Gattung notwendigerweise in Gegensatz zur Dichtungsauffassung anderer Strömungen des Jh.s,

etwa zu dem andersgearteten Formwillen Klopstocks und seiner Jünger oder zum Herderschen Begriff von Volkspoesie; denn selbst wenn die V.en eines Geliert oder M. Claudius und z . T . sogar eines Wieland nach Darstellungsweise und Zweckbestimmung volksnah sein wollen, bleiben sie ihrem Wesen nach Kunstdichtung (vgl. §§ 5b u. 6h). Göttinger Hain, Sturm und Drang und Klassik verlangen ihrer veränderten Welthaltung gemäß nach neuen dichterischen Formen; d.h., ihre Autoren wenden sich anderen Gattungen zu als der ihrerseits an eine bestimmte geistesgeschichtliche Situation gebundenen V. (vgl. u.a. § 2e). Dies schließt freilich nicht aus, daß aus den genannten Perioden Dichtungen vorliegen, die als V.en zu gelten haben. In der Poetik der d t . K l a s s i k wird der V. kein Platz mehr eingeräumt (ein Umstand, welcher der Forschung den Blick für diese Gattung mit verstellt haben dürfte). Andrerseits finden sich unter den philosophischen Gedichten S c h i l l e r s u.a. zwei Stücke, Das verschleierte Bild von Sais (im 9. St. der Hören von 1795) und Pegasus im Joche (zuerst im Cottaschen Musenalmanach von 1796), die einer dem jeweiligen Gegenstand gemäß gewählten Spielart der V. genau entsprechen, auch wenn ihnen der Dichter „festere Prägung und höheren Stil" gibt (Storz). Während nämlich das Bild von Sais als eine Blankverserzählung (von 85 Zeilen) in einem für den Typus charakteristischen ernsten Ton gehalten ist (vgl. f), setzt der Pegasus mit seinen als Madrigalversen angeordneten (92) vers libres die satirisch-ironische Richtung fort. Für weitere Beispiele s. J. W i e g a n d , a . a . O . und die im folgenden angegebene Lit. — Einzelaspekte: Ferdinand S t e i n , Lafontaines Einfluß aufd. dt. Fabeldichtung d. 18. Jh.s. Progr. Aachen (1889). Spiridion W u k a d i n o v i c , Prior in Deutschland( 1895; Nachdr. 1976; Grazer Stud. z. dt. Philol. 4). Hugo B e y e r , Die moral. Erzählung in Deutschland bis zu Heinrich v. Kleist (1941; FrkfQuFschgn. 30; Nachdr. 1973). Gonthier-Louis F i n k , Naissance et apogée du conte merveilleux en Allemagne: 1740-1800 (1966; Annales Littéraires de l'Université de Besançon 80), bes. S. 203-226 : Le conte envers. G e r h a r d S t o r z , Der Vers in d. neueren dt. Dichtung (1970; ReclamUB. 7926-28). — Rokoko : Bengt Algot S ö r e ns e n , Das dt. Rokoko u. d. V. im 18. Jh. Euph. 48 (1954) S. 125-152. Alfred A n g e r , Dt. RokokoDichtung. E. Forschungsber. (1963; Referat aus DVLG. 36 (1962), bes. S. 71-84: V. Epik. Ders., Literar. Rokoko (2. Aufl. 1968; SammlMetzler

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Jahrhundert.

§ 7. D i e Geschichte der dt. V. im 19. und 20. Jh. ist eine im Rahmen dieses Artikels nicht z u lösende Forschungsaufgabe (vgl. §2a). Grundsätzlich sei jedoch gesagt: D i e im 18. Jh. entstehenden einzelnen T y p e n der V . verlieren mit der sich ändernden geistesgeschichtlichen Situation ihre künstlerische Glaubwürdigkeit u n d werden durch andere F o r m e n abgelöst. D a s Gebiet der Kleinepik gehört im 19. und 20. Jh. der Prosa (mit der Prosaerzählung u n d ihren Spielarten N o v e l l e , Märchen, Sage usf. als der in der dt. Lit. vorherrschenden, sie gerad e z u kennzeichnenden epischen Gattung). U n ter den Versgattungen w i e d e r u m w e r d e n nun solche bevorzugt, in denen sich das Epische auf jeweils verschiedene Weise mit d e m Lyrischen u n d Dramatischen mischt, voran die Ballade, für w e l c h e die dt. Klassik zur N a c h a h m u n g auffordernde Muster geschaffen hat, u n d die durch die Romantiker geförderte R o m a n z e mit einer Reihe weiterer, diesen beiden Gattungen mehr oder weniger verwandten Spielarten (vgl. §§ 2 e u. 6j). Im Zeitalter v o n Romantik und Biedermeier lebt die V. in der Triviallit., bei A u t o r e n w i e Langbein usf., weiter (vgl. §§ 6 a u. e). Andrerseits wird die Gattung damals, im späteren 19. Jh. u n d bis in 20. Jh. hinein immer wieder v o n einzelnen Autoren - unter jeweils verschiedenen Voraussetzungen - auf dichterische Weise erneuert. In Ergänzung der Lit.-Hinweise seien u. a. folgende Dichtungen genannt: Seinem Rahmenzyklus von „Erzählungen" in Prosa, Landhausleben (1826) fügt

Verserzählung, Neuhochdeutsche — Volksballade A . v. Arnim als „Dienstags-Erzählung des Kunstfreundes" die V . Rembrandts Versteigerung in paarig gereimten jambischen Dimetern ein, während Wilhelm Waiblinger im selben Jahr in seinen z. T . „historischen" Vier Erzählungen aus der Geschichte des jetzigen Griechenlands mit Themen zum griech. U n abhängigkeitskampf, je nach der für die einzelne V. beabsichtigten Stimmung, unterschiedliche reimende und reimlose Metren verwendet. Die von J . W i e g a n d , a. a . O . §§ 8 u. 9, z . T . schon mit Vorbehalt genannten Titel bedürfen einer weiteren krit. Überprüfung auf ihre Zugehörigkeit zur Gattung V. — Vgl. vor allem Wilhelm K u r z , Formen d. Versepik in d. Biedermeierzeit. Ein Beitr. z. Problem u. Gesch. d. großen Epik u. d. Kleinepik. (Masch.) Diss. Tübingen 1955. Friedrich S e n g l e , Biedermeierzeit. Dt. Lit. im Spannungsfeld zw. Restauration u. Revolution 1815-1848. Bd. I-III ( 1 9 7 1 / 1 9 8 0 ) , bes. Bd. II, Kap. 5, S. 6 2 6 - 7 4 2 . Fritz M a r t i n i , Dt. Lit. im bürgert Realismus 1848-1898. (4., mit neuem V o r w . u. erw. N a c h w . vers. Aufl. 1981), bes. S. 365-390. F ü r folgende Titel sind die Bemerkungen zur Forschungslage (§ 2 a ) zu beachten: Heinrich M a i w o r m , Epos d. Neuzeit, in: Stammler Aufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1960) Sp. 6 8 5 - 7 4 8 . Ders., Neue dt. Epik ( 1 9 6 8 ; GrundlGerm. 8). Diether H a e n i k k e , Unts. zum Versepos d. 20. Jh.s. Diss. München 1962. H . J . S c h u e l e r , The German Verse Epic in the Nineteenth and Twentieth Centuries (The Hague 1967). Rez. v. Theodore Z i o l k o w s k i : GermRev. 43 (1968) S. 2 9 5 - 2 9 7 .

Hansjörg

Schelle

Volksballade § 1. U r s p r ü n g e . Die V. ist ein Teil der Volksliedüberlieferung. Während sich die Anfänge des Volksliedes (s. d.) im Dunkel der Geschichte verlieren, tritt die Gattung der V. im Spätma. im europ. Kulturkreis neu in Erscheinung. Neu an ihr sind gegenüber den zeitgenöss. Volksliedern der größere textliche Umfang, der Erzählinhalt und die Zuspitzung der Handlung auf einen dramat. Konflikt mit vielfach tragischem Ausgang. In der Forschung herrscht bis heute keine Einmütigkeit über das Entstehungsgebiet und die genaue Entstehungszeit. Da für die Zeit vor 1500 nur spärliche Zeugnisse aus wenigen Ländern in Mittelund Nordeuropa vorliegen, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden, ob die V. als Gattung von einem europ. Land ihren Ausgang nimmt oder in mehreren Ländern gleichzeitig und un-

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abhängig voneinander in Erscheinung tritt. So hat man für Dänemark, Frankreich bzw. Griechenland die Priorität in Anspruch nehmen wollen. Mangels erhaltener Zeugnisse wird die Ursprungsfrage mit letzter Sicherheit wohl niemals beantwortet werden können. Es steht jedoch fest, daß sich der Beginn der V.nüberlieferung in jedem europ. Land annähernd fixieren läßt, daß also zuvor jeweils eine Zeit anzusetzen ist, in der es noch keine V. gab. Dieser Zeitpunkt liegt für die einzelnen Länder verschieden. Für den dt. Sprachraum ist er etwa um 1250-1300 anzusetzen (B. Boesch, Kudrunepos u. Ursprung d. dt. B. GRM. 28, 1940, S. 259269). In der älteren Forschung hat die E t y m o l o gie des Wortes Ballade (B.) die Frage nach den Ursprüngen der Gattung stark beeinflußt. Die Herkunft des Wortes aus ital. ballata, provenzal. ballada (von ital. ballare, provenzal. balar = tanzen) (s. Kunstballade) rückte für viele Forscher die ganze Gattung in die Nähe des T a n z e s , so daß sie nur die V.n als solche gelten lassen wollten, zu denen wirklich getanzt worden ist. Das häufige Auftreten von Kehrreimen in der V. und das oft verwendete Stilmittel der sog. 'incremental repetition', d. h. Verstärkung des Ausdrucks durch Wiederholung und Steigerung, legten den Schluß nahe, die gesamte Gattung sei aus dem B.tanz herzuleiten. Tatsächlich sind getanzte V.n bis ins 20. Jh. bekannt, z. B. in Lothringen oder in Krain/Slowenien. Auf den Färöern dauert die getanzte B.tradition bis zur Gegenwart fort. In dem bruchstückhaft überlieferten lat. Lied vom Tanz in Kölbigk hat man den Rest einer Tanzballade aus der sächs. Kaiserzeit erblicken wollen (Ernst Erich Metzner, Zur frühesten Gesch. d. europ. B.ndichtung. 'Der Tanz in Kölbigk 1972, Frankf. Beitr. z. Germanistik 14). Gegenüber solchen peripheren Berührungen von V. und Tanz bleibt indes festzuhalten, daß der Tanz als Funktion der V. auftreten kann, für das Genre an sich jedoch nicht konstitutiv ist. V.n können auch in der Funktion als Arbeitslieder (s. d.) oder als Begleitung zu Brauchhandlungen auftreten, ohne daß wir deshalb das Genre allein aus diesen Funktionszusammenhängen ableiten würden. Ältere Definitionen, die die enge Verbindung von V. und Tanz als zentrales Definitionsmerkmal postulieren, erscheinen im Lichte heutiger Forschung als nicht mehr zeitgemäß. Das gilt z. B. für die Formulierung von

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F. B. G u m m e r e , der 'bailad' definiert als „a narrative lyric made and sung at the dance and handed down in popular tradition" (The Popular B., 1907, 2. Aufl. 1959, S. 75). Gummere war neben H. T h u r e n der Hauptvertreter einer Forschungsrichtung, die in der V. ein mal. Tanzlied erblickte. Bei Thum lesen wir 1907/ 08: „Die dänische B.dichtung, in der die nordische Tanzdichtung kulminiert, liefert manche Beiträge zum Verständnis des Lebens und Treibens des MA.s und beschäftigt sich ganz natürlich auch mit dem Tanze und Gesänge, denen sie ja häufig ihre Entstehung verdankt [. . .]. Der Kettentanz [. . .] faßte sogar auf dem fernen Island und auf den Färöern festen Fuß, wo die alte Tanzform und die epischen Tanzlieder noch am Leben sind" (Tanz. u. Tanzgesang im nord. MA. in: Probleme d. V.nforschung. Hg v. E. Pflüger-Bouillon, 1975, S. 73 u. 92).

Noch apodiktischer hatte R. G. M o u l t o n 1895 (in: The Modern Study of Literature, Chicago 1915, Kap. 1) in bezug auf die Entstehung der gesamten Volksdichtung formuliert: „The primary element of literary form is the ballad dance. This is the union of verse with musical accompaniment and dancing [. . .]. Literature, where it first appears spontaneously, takes this form" (zitiert nach: L. Pound, Poetic Origins and the Ballad, 3. Aufl. 1962, S. 4). Neuere Forschung schließt die Bedeutung des Gruppentanzes bei der Entstehung und Verbreitung von einzelnen B.texten und -melodien nicht völlig aus, sieht aber im Tanz nicht mehr das dominierende Element des gesamten Genres. Vgl. hierzu z. B. eine Äußerung von G. H. G e r o u l d : ,,I see no reason to doubt, furthermore, that the dance played its part in the formation of the ballad type, though I cannot believe it to have been the dominant factor" (The B. of Tradition, 2. Aufl. 1957, S. 212). Bei der Verwendung des Begriffs V. ist daher heute von den Konnotationen, die durch die Etymologie von B. hervorgerufen werden, weitgehend abzusehen. „Die Verwendung des Terminus ,B.' in der Wissenschaft beruht nicht etwa auf gesicherten Erkenntnissen von der Entstehung des Genres als Tanzliedgattung und im romanischen Raum [. . .], sondern auf der erst seit dem 18. Jh. einigermaßen festen begrifflichen Zuordnung im Englischen" (E. E. Metzner, a. a. O.). Im Zusammenhang mit der Ursprungsfrage der V. stellte sich der Forschung auch die Frage nach dem Verhältnis von B. und Epos (s. d.).

V.n und Epen behandeln vielfach identische Erzählstoffe, so daß sich die Frage nach der Priorität erhob. Im Anschluß an die HomerForschungen von F. A. Wolf (1795) und an K. Lachmanns Liedertheorie (1816) war die Forschung des 19. Jh.s geneigt, der V. entstehungsgeschichtlich den Vorrang einzuräumen, wobei man an einen Ursprung des Epos aus dem Zusammenwachsen von mehreren V.n dachte. Diese Anschauung geriet ins Wanken, als Manuel M i l ä y F o n t a n a l s (De lapoesia heroicopopular castellana, Barcelona 1874) für die span. V.n (Romanceros) den Nachweis führte, daß sie Ableger, nicht Keime der großen epischen Gedichte waren. Für Norwegen zeigte Knut L i e s t o 1 (Norske trollvisor og norr0ne sogor, Kristiana 1915) den Vorgang der Bildung von V.n durch Umsetzung von einzelnen SagaEpisoden in sangbare Strophenlieder. Im dt. Sprachraum hat vor allem das WolfdietrichEpos von ca. 1300 die B.-dichtung beeinflußt. Nach den Forschungsergebnissen von Erich S e e m a n n (Wolfdietrichepos u. V., in: Archiv f. Lit. u. Volksdichtung 1, 1949, S. 119-176, und: B. u. Epos, in: Schweiz. Arch. f. Volkskde 51, 1955, S. 147-183, wiederabgedr. in: Probleme d. V.nforschung. Hg. v. E. Pflüger-Bouillon, 1975, S. 206-248) geht z. B. die V. Der verkleidete Markgrafensohn (Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien [zitiert: DVldr], Nr. 6) auf die Erzählung von Hugdietrichs Brautfahrt zurück, Die Geburt im Walde (DVldr Nr. 7) ist abhängig von Szenen in Wolfdietrichs Auszug zum Drachenkampf, und bei der V. Jäger aus Griechenland (DVldr Nr. 5) bestehen offensichtliche Zusammenhänge mit dem Abenteuer Wolfdietrichs mit der Riesin Rome. Im Falle des Kudrun-Epos von ca. 1233 und den damit thematisch zusammenhängenden V.n Brautwerbung (DVldr Nr. 3), Die Meererin (DVldr Nr. 4) und Die wiedergefundene Schwester (DVldr Nr. 72) ist die Frage nach der Priorität von B. und Epos heftig umstritten. Es überwiegt jedoch auch hier der Standpunkt, die V.n seien als Niederschlag der hochhöfischen Epen im Bereich der auf das Wesentliche konzentrierten spätmal. balladesken Kunst zu verstehen. R. M. P i d a l , Das Fortleben d. 'Kudrun gedicktes. Jb. f. Volksliedf. 5 (1936) S. 85-122. D. J. W a r d u. F. H. B ä u m l , Zur'Kudrun'-Problematik: B. u. Epos. ZfdPh. 88 (1969) S. 19-27. I. W i l d , Zum Problem d. Vergleichs von B.n- u. Epenmotiven. Jb. f. Volksliedf. 16 (1971) S. 42-53.

Volksballade D . J. W a r d , Nochmals 'Kudrun', B. u. Epos. E. Erwiderung. Ebda 17 (1972) S. 70-86. Werner H o f f m a n n , Mhd. Heldendichtung (1974; Grundlagen d. Germanistik 14). Inga W i l d , Zur Überlieferung u. Rezeption d. 'Kudrun'-Epos. E. Untersuchung von drei europäischen Liedhereichen des „Typs Südeli". 2 Bde (1979; GöppArbGerm. 265). H . R o s e n f e l d , Die Brautwerhungs-, Meererin- u. Südeli-V.n u. d. 'Kudrun Epos von 1233. Jb. f. Volksliedf. 12 (1967) S. 80-92.

Im übrigen erscheint der Prioritätsstreit auf eine andere Ebene der Argumentation verlagert, nämlich auf die Untersuchung der Koexistenz von Epos und B., ihrer Wechselbeziehungen, Abhängigkeiten und der Ablösung eines im höfischen Milieu verankerten Genres durch eine vorwiegend im Bürgertum gepflegte neue Liedgattung. L. V a r g y a s (Researches into the Medieval History of Folk B., Budapest 1967) erklärt das Entstehen dieser Liedform aus der Vorliebe der Uberlieferungsträger der damaligen Zeit für das kürzere, pointierte Lied mit vorherrschend allgemein-menschlichen, persönlichen, amourösen, familiären und novellistischen Stoffen. Die V. habe eine Lücke gefüllt und bei der Ablösung der älteren Heldenepik mitgewirkt. Für den dt.sprachigen Bereich hatte bereits H. Schneider die V. als Erbin des dt. Heldenliedes in Anspruch genommen. „Damit [. . .] die charakteristische dt. B. entstand, bedurfte es einer Bedingung vor allem: das stoffliche Erbe des Heldenliedes mußte aufgegeben werden und durch neue Inhalte ersetzt werden" (Ursprung u. Alter d. dt. V., in: Vom Werden d. dt. Geistes. Festgabe Gustav Ehrismann, 1925, S. 115). In der älteren ags. B.-forschung spielte die Frage nach den Urhebern der im Spätma. neuentstandenen Liedgattung zeitweise eine große Rolle. Lange Zeit standen sich zwei .Schulen' mit ihren Lehrmeinungen gegenüber. F. B. G u m m e r e und sein Kreis vertraten die Theorie vom kollektiven Ursprung (,communal authorship') der V. Gemäß dieser noch stark von der Romantik geprägten Vorstellung sollte die V. spontan, z. B. beim gemeinschaftlichen Tanz, entstanden sein. Gummere hat eine solche imaginäre Situation beschrieben, wobei er an die Bewohner der Färöer-Inseln dachte: "They could also make a new bailad, in most dramatic fashion, at the dance; as, for example, when some fisherman has had a mishap with his boat, sturdy companions push him out into the dancing

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throng, and first one and then another stanza is improvised upon the fatal theme, until a complete story of the situation, with much repetition, we may be sure, uproarious refrain, and considerable dramatic action, is attained. If the song wins general favor, [. . .] it is remembered and sung from year to year, - a genuine traditional and communal ballad" (The Popular B., 2. Aufl. 1959, S. 24f.).

Wortführerin der gegenteiligen Lehrmeinung von der individual authorship' war Louise P o u n d . Ihr 1921 erschienenes Buch Poetic Origins and the B. bezeichnete die Wende zu einer moderneren Auffassung vom Ursprung der V., wie sie heute noch gültig ist. Pound führte entscheidende Argumente gegen die Theorie Gummeres und für die Schöpfung von V.n durch begabte Einzelpersönlichkeiten ins Feld: ihre Beobachtungen bei der Entstehung von Liedern in verschiedenen Kontinenten überzeugten sie davon, daß die Ursprünge eines Liedes immer mit der Leistung eines Individuums verbunden sind. Träfe die Hypothese zu, die V. sei ursprünglich primitive Gemeinschaftsdichtung gewesen, so müßten die frühesten Texte die Merkmale spontaner Entstehung (formale und sprachliche Unzulänglichkeiten, Wiederholungen etc.) an sich tragen. Aber das Gegenteil ist der Fall: je älter B.ntexte sind, desto kunstvoller sind sie. Stilmittel wie Refrain oder Wiederholungen in neueren Aufzeichnungen sagen nichts über den Ursprung der V.n aus, weil es sich dabei um Elemente handeln kann, die erst im Laufe des Traditionsprozesses in die Lieder eindringen. Bei der Analyse der Gattung muß man sich nach Pound freimachen von der Etymologie des Wortes, die falsche Assoziationen weckt. Wolfgang K a y s e r faßte die Auffassungen Pounds und ihrer Schule später folgendermaßen zusammen: „Die Ballade ist ursprünglich Kunstdichtung, von einem bestimmten Dichter geschaffen, dessen Werk dann allmählich vom Volk aufgenommen und umgewandelt wird, wobei [. . .] während der ersten Zeiten die B. durchaus in den höheren Schichten beheimatet ist. Als Verfasser kommen nun die Spielleute (minstrels) zu Ehren, aber daneben sucht Pound auf Grund einer Gestaltanalyse der ältesten Lieder einen starken geistlichen Einfluß wahrscheinlich zu machen. Die Ausbreitung religiöser Vorstellung sei der Antrieb für das Entstehen der B. gewesen, die als Gattung eine durchaus junge Form ist" (Geschichte d. dt. B., 1936, S. 5). Die von Kayser noch vertretene Auffassung, bei der Entstehung von V.n sei die Beteiligung Geistlicher „undenkbar", kann aufgrund neuerer For-

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schungsergebnisse nicht mehr aufrechterhalten werden. Dietz-Rüdiger M o s e r ( V e r k ü n d i g u n g durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda u. -katechesed. Gegenreformation, 1981,passim) hat anhand zahlreicher Einzelbeispiele den Nachweis führen können, daß z . B . Jesuiten und Franziskaner unmittelbaren Anteil an der B.ndichtung genommen haben.

Nach heutiger Anschauung besitzen die V.n wie jedes Volkslied einen V e r f a s s e r und eine , U r s p r u n g s f o r m ' . Ältere Textüberlieferungen führen vielfach noch in die Nähe der Entstehungszeit. Ihre typische Struktur erhält die V. aber erst im Laufe eines längeren Entwicklungsprozesses, innerhalb dessen die Ursprungsform mannigfachen Änderungen unterworfen wird. Dazu gehören das Vordringen des Dialoges, die Vereinfachung der szenischen Struktur, die Zunahme der formelhaften Zeilen und Strophen (Wanderstrophen, Gerüststrophen) und die Motiventlehnung aus anderen V.n. „ A l s V. wird die B. bestimmt durch Umstilisierung in mündlicher Uberlieferung u n d durch ihren Liedcharakter. Die Umstrukturierung erfolgte nach den Struktur- und Stiltendenzen der Volkläufigkeit und mit Hilfe einer allmählich sich ausbildenden B.nsprache" (Wolfgang Schmidt, Die Entwicklung d. englisch-schottischen V.n., in: Anglia N F . 45, 1933, S. 63ff.). Erzählende § 2. D e f i n i t i o n s f r a g e n . Volkslieder mit dramat. Handlungsverlauf, die die Forschung heute als V.n bezeichnet, werden in der Geschichte der Gattung erst sehr spät mit dem B.nbegriff in Verbindung gebracht. Erst im 18. Jh. wird die zunächst auf den roman. Sprachbereich beschränkte Bezeichnung für eine lyrische Kunstform in England übertragen auf die populären narrativen Lieder, wie sie vor allem durch billige Kleindrucke (hroadsides und broadsheets) Verbreitung fanden und seit Thomas Percy 1765 gesammelt und ediert wurden. Begriffe wie ballads, ballets, ballants u. ä. bezeichneten aber darüber hinaus auch lyrische, religiöse oderpolit. Lieder, unabhängig davon, ob es sich um traditionelle oder aus aktuellem Anlaß heraus neugeschaffene Formen und Inhalte handelte; bis zum Ende des 18. Jh.s ist bailad in England nichts anderes als ei n Synonym für song. Erst durch die verstärkte Hinwendung der Sammler und Forscher zu den Liedern mit Erzählinhalt erfuhr der Begriff allmählich eine Einengung in Richtung auf ,narra-

tiv-dramatisches Lied'. Vom ags. Sprachraum ausgehend wurde dieser B.nbegriff in verschiedenen europ. Ländern rezipiert und auf die volkläufigen Erzähllieder und -gedichte angewandt. Dieser Prozeß dauert bis zur Gegenwart an. Im dt. Sprachraum bezeichnet B. seit dem Ende des 18. Jh.s innerhalb der Dichtung die Kunstballade [s. d.] (für die um 1770 zusätzlich noch das Wort ,Romanze' [s. d.] gebräuchlich war), innerhalb der Volksdichtung die V. Lediglich im ags. Überlieferungsbereich ist der Begriff der B. in die Volkssprache eingedrungen. Sonst ist er weitgehend ein wiss. Fachterminus zur Bezeichnung eines Teilbereiches der Volksliedüberlieferung geblieben. Bei den B.nsängern ist das Empfinden dafür, daß sich die V.n in vieler Hinsicht von der übrigen lyrischen Volkstradition unterscheidet, im allgemeinen nicht sehr stark ausgeprägt. Eine Definition von V., die Anspruch auf eine gewisse Allgemeinverbindlichkeit erheben kann, muß den verschiedenen Merkmalen der Gattung Rechnung tragen. Am definitionsfreudigsten erwiesen sich bisher die B.nforscher im ags. Sprachraum. Ihre Überlegungen stimmen zunächst darin überein, daß unter V.n ,Lieder mit Erzählinhalten' verstanden werden. So heißt es bereits im 18. Jh. bei W. S h e n s t o n e , dem Freund und Berater des engl. B.nsammlers Bischof Percy: " I [. . .] am apt to consider a ballad as containing some little story, either real or invented" (zit. nach: Erich Seemann, Dag Strömbäck u. Bengt R. Jonsson, European Folk Ballads, Kopenhagen 1967, S. XII). G. H . G e r o u l d s Definition geht von einer Beschreibung inhaltlicher Strukturen aus. Als literaturwiss. Definitionsversuch ist sie durchaus brauchbar: " A ballad is a folksong that tells a story with stress on the crucial situation, tells it by letting the action unfold itself in event and speech, and tells it objectively with little comment or intrusion of personal b i a s " (The B. of Tradition, 2. Aufl. N e w York, O x f o r d 1957, S. 11).

Volkskundliche Definitionen stellen demgegenüber stärker die Auswirkungen des Traditionsprozesses auf die V. in Rechnung. So schreibt David B u c h an (The B. and the Folk, London, Boston 1972, S. 173): " a ballad is a narrative song created and re-created by a traditional oral method, and the folk are the nonli-

Volksballade terate participants in the traditional process of composition and transmission". Da es sich bei der V. um eine im gesamten europ. Kulturkreis verbreitete Erscheinung handelt, muß eine international verbindliche Definition, die der jeweiligen Situation der V. in den verschiedenen europ. Ländern gerecht werden soll, von den vier wichtigsten W e s e n s m e r k m a l e n der Gattung ausgehen: a. Die V. ist ein s a n g b a r e s L i e d (lyrisches Element); b. die V. ist ein L i e d mit H a n d l u n g s i n h a l t (episches Element); c. die V. ist eine L i e d g a t t u n g , in der sichdie Handlung in verschiedenen Szenen oder Auftritten zu einem Höhepunkt oder Konflikt entfaltet (dramatisches Element); d. die V. lebt vorwiegend in mündl i c h e r U b e r l i e f e r u n g , sie wird anonym tradiert und in ihrem sprachlichen und musikalischen Erscheinungsbild durch deren Gesetze geprägt (Element der Tradition).

§ 3. Die V e r b r e i t u n g der V. Es herrscht in der Forschung heute Einmütigkeit darüber, daß die V. eine in Europa entstandene Gattung der Volksdichtung darstellt. Ein Streit um die Prioritätsrechte ist kaum geführt worden, zumal offenbar in verschiedenen Ländern Mittel-, West- und Nordeuropas im späten MA. die soziologischen Voraussetzungen für ihre Herausbildung gegeben waren. Durch europ. Siedler sind die V.n nach Afrika, Asien und Australien, vor allem aber nach Amerika übertragen worden. Als Blütezeit der Gattung wird allgemein das 15./16. Jh. angesehen, während nach 1750 die Lebenskraft der V. stark nachzulassen beginnt. Von diesem Zeitpunkt an entstehen keine wesentlichen Neuschöpfungen mehr in Europa. Die heutige Situation stellt sich in den einzelnen Sprachbereichen als recht unterschiedlich dar. Ländern mit einem breitgefächerten und lebendigem B.ngesang, der bis zur Gegenwart reicht, stehen andere gegenüber, in denen das Repertoire an lebendigen V.n auf wenige Typen zusammengeschrumpft ist. Im dt. Sprachraum waren bis ins 20. Jh. hinein vor allem Randlandschaften wie Lothringen und Schlesien sowie die Außensiedlungen im europ. Osten und Südosten bedeutende Reliktgebiete lebendigen B.nsingens. Nach E. S e e m a n n (European Folk Ballais, S. X I - X X X I I ) lassen sich bezüglich der gesamteuropäischen Verbreitung der V. s i e b e n B . n l a n d s c h a f t e n unterscheiden, in denen

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jeweils verschiedene, untereinander verwandte Sprachgruppen zusammengefaßt werden. 1. S k a n d i n a v i e n . Die skandinav. B. - das in mal. Adelskreisen entstandene erzählende Lied (folkevise oder vise) mit lyrischem Kehrreim - weist eine reiche und wertvolle Überlieferung auf. Die V. ist bei den nordeurop. Völkern zu der poetischen Ausdrucksform des höfisch-ritterlichen Lebens geworden. Ihre Hauptblütezeit liegt mit dem 13. und 14. Jh. wesentlich früher als im übrigen Europa. Seit der frühen Neuzeit sind die im MA. entstandenen Lieder in die einfacheren Volksschichten getragen und bis ins 20. Jh. hinein in mündlicher Tradition weitergepflegt worden. In nachmal. Zeit sind nur noch wenige neue Lieder hinzugeschaffen worden (dän. efterklang, vielfach nach dt. Vorbildern), so daß der Inhalt der meisten skand. V.n von mal. Lebensanschauung geprägt ist. Der Beginn der skand. V.ndichtung um 1200 in D ä n e m a r k wird wahrscheinlich durch franz. Vorbilder angeregt, aber inhaltlich steht sie der engl.-schott. Uberlieferung näher als der franz. Die wiss. Forschung setzt mit S. Grundtvig nach 1850 ein (Herausgabe der Danmarks gamle Folkeviser [DgF], 539 Typen, abgeschlossen 1976). Für S c h w e d e n liegen im 14. und 15. Jh. nur Erwähnungen und Hinweise vor. Das erste handgeschriebene Adelsliederbuch mit 11 V.ntexten stammt von Harald Oluffson (1572-81). Die erste gedruckte Sammlung wurde 1814-18 von E. G. Geijer und A. A. Afzelius herausgegeben. Die Gesamtzahl schwed. V.ntypen beträgt 225. Die meisten Typen korrespondieren mit den entsprechenden B.n der dän. Ausgabe (DgF). Bei 34 selbständigen schwed. Typen sind keine dän. Parallelen zu verzeichnen. Etwa 100 Typen sind nach Schwed.-Finnland übertragen worden. N o r w e g e n darf wegen der Verwandtschaft eines Teils seiner V.ntradition mit den anord. Sagas eine gewisse Sonderstellung beanspruchen. Mit dem Draumkvede weist das Land eine eigenständige religiöse B.nüberlieferung auf, über deren Ursprung die Meinungen der Forscher divergieren. Der erfolgreichste Sammler des 19. Jh.s war M. B. Landstad. In I s l a n d hat die Existenz autochthoner Erzählliedtraditionen die skandinav. MA.-B. in ihrem Einfluß stark beschränkt. Uber den Ursprung der isländ. fornkvaeti, seit 1665 bezeugt und von S. Grundtvig und J . Sigurdsson (1854ff.) ediert, gehen die Meinungen der Forscher z. T. weit auseinander. Die V.n der F ä r ö e r - I n s e l

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sind besonders durch ihre noch existente Verbindung zum Tanz berühmt geworden, aber offenbar liegt hier eine Sonderentwicklung vor, von der jedenfalls keine weitreichenden Schlüsse auf andere Verbreitungsgebiete der V. abgeleitet werden dürfen. Otto H o l z a p f e l , Bibliographie z. mal. skandinav. V. (2. Aufl. Turku 1975; Nordic Inst, of Folklore Publ. 4). Svend G r u n d t v i g , Axel O l rik u. a. (Hg.), Danmarks gamle Folkeviser (DgF). 1-12 (Kobenhavn 1853-1976; Neudr. 1966ff.). Erik D a l , Danish Ballads and Folk Songs (Kobenhavn, New York 1967). Erik Gustaf G e i j e r , Arvid August A f z e l i u s , Svenska folkvisor frdn forntiden. 1-3 (Stockholm 1814-18; Neuausg. von Jöran S a h l g r e n , Uppsala 195760). Bengt R. J o n s s o n , Svenska medeltidsballader (Stockholm 1962). Ders., Svensk balladtradition. 1: Balladkällor och halladtyper (Uppsala 1967). Bengt R. J o n s s o n , SvaleSolheim u. Eva D a n i e l s o n (Hg.), The Typesof theScandinavian Medieval Bailad. A Descriptive Catalogue (Stockholm, Oslo 1978). Ernst Erich M e t z n e r , Die mal. V. im german. Raum unter bes. Berücks. d. skandinav. Nordens, in: Willi E r z g r ä b e r (Hg.), Europäisches Spätma. (1978; Neues Handbuch d. Lit.wiss. 8) S. 331-354. Otto A n d e r s s o n , Folkvisor. 1: Den äldre folkvisan (Helsingfors 1934). Ina-Maria G r e v e r u s , Skandinav. B.n des MA.s (1963). M. B. L a n d s t a d , Norske folkeviser (2. Aufl. Oslo 1968). Knut L i e s t o l u. MoltkeMoe, Norske folkeviser fra middelalderen. 1-3 (Kristiania 1920-24; Neuausg. 1-2 hg. v. O l a v B o u. Svale S o l h e i m , Oslo 1958-59). O l a v B o , Draumkvedet - Kenntnisse u. Vermutungen. Norveg 17 (1975) S. 155-172. Napoleon D j u r h u u s u. Christian M a t r a s (Hg.), Feroya kvxdi. Corpus carminum fieroensium a Svend G r u n d t v i g et Jörgen B l o c h comparatum 1-6 (Kobenhavn 1951-72). Jon H e l g a s o n , Islenzk fomkvadi. Islandske folkeviser. 1-5 (Kobenhavn 1962-65).

2. E n g l a n d , S c h o t t l a n d und N o r d a m e r i k a . Der ags. Sprachraum nennt einen umfangreichen B.nschatz sein eigen. Lange Zeit galt das Interesse aber nur den durch die monumentale Ausgabe von F. J . Child (188298) kanonisierten V.n. Neuerer Sammeltätigkeit, vor allem in den Vereinigten Staaten, verdanken wir jedoch den Nachweis, daß die Fähigkeit zur Neubildung von Erzählliedern im traditionellen B.nstil praktisch bis zur Gegenwart anhält und daß in Nordamerika eine autochthone ,native American balladry' (M. G. Laws) anzutreffen ist. Die englischsprachige Uberlieferung setzt mit der religiösen Judas-B. in einem Manuskript des 13. Jh.s (Child 1, Nr.

23) ein und erreicht in Schottland während des 16. Jh.s ihren Gipfelpunkt, während zur gleichen Zeit in England bereits die Vermarktung der V. durch Flugblattdrucker einsetzt. Die thematischen Beziehungen zu skandinav., aber auch zu mitteleurop. Liedtraditionen sind teilweise sehr eng. Nur in den Robin Hood-B.n liegt ein eigenständiger Komplex von Liedern um eine histor. nicht bezeugte Heldenfigur vor. Der Child-Korpus umfaßt 305 Texttypen; die nachträgliche Edition der zugehörigen Melodien durch B. H. Bronson ist im Gange. Vor allem nach 1945 hat das öffentliche Interesse an der ags. V. wieder stark zugenommen (ballad revival), so daß sie sich als eine äußerst lebendige Uberlieferung darstellt. Francis James C h i l d , The English and Scottish Popular Ballads. 1-5 (Boston, New York 18821898 ¡Neuausg. New York 1957). Bertrand Harris B r o n s o n , The Traditional Tunes of the Child Ballads. 1-4 (Princeton, N . J . 1959-72). Ders., The Ballad as Song (Los Angeles 1969). Cecil James S h a r p , English Folk Songs from the Southern Appalachians. 1-2, hg. von Maud Karpeles (2. Aufl. London, New York 1966). Helen Maud F l a n d e r s , Ancient Ballads, Traditionally Sung in New England. 1-4 (Philadelphia 1960-65). Tristram Potter C o f f i n , The British Traditional Ballad in North America (2. Aufl. Philadelphia 1963). Georg Malcolm L a w s , Native American Balladry (2. Aufl. Philadelphia 1964). Albert Barron F r i e d m a n , The Ballad Revival (Chicago, London 1961). Donald Knight W i l g u s , AngloAmerican Folksong Scholarship Since 1898 (New Brunswick 1959).

3. D t . S p r a c h g e b i e t e (unter Einschluß des f l ä m i s c h - n i e d e r l ä n d i s c h e n ) . In diesem Kulturbereich löst die V. in mhd. Zeit die stabreimenden Heldenlieder ab. Verschiedene erst aus dem 16. Jh. bezeugte B.ntypen weisen stofflich in das 13./14. Jh. zurück, z. B. Das Jüngere Hildebrandslied (DVldr Nr. 1), Der Edle Moringer (DVldr Nr. 12), der Graf von Rom (DVldr Nr. 14) und der Herr von Braunschweig (DVldr Nr. 23), sämtlich V.n, die an histor. Gestalten anknüpfen. Die Stoffe dieser frühen V.n entstammen teilweise der Heldensage, teilweise gehen sie auf histor. Ereignisse zurück, oder sie verarbeiten internationales novellistisches Wandergut. Die eigentliche Blütezeit der dt. V. war das 15./16. Jh., danach nimmt die Produktivität stark ab. Thematische Schwerpunkte liegen in den Bereichen Liebe Familie - soziale Problematik, wohingegen die

Volksballade in Skandinavien reich bezeugte Gruppe der magisch-mythischen V.n (trollviser etc.) hier nur schwach vertreten ist. Systematische Sammlung ist erst nach der Gründung des D t . Volksliedarchivs in Freiburg (1914) in Gang gekommen. Dort entsteht auch seit 1935 in den DVldr nach dem Vorbild von Dänemark und England/Schottland eine wiss. B.nausgabe. Die Gesamtzahl der überlieferten älteren Liedtypen beträgt etwa 250, wovon bisher 140 ediert sind. - Die h o l l ä n d . - f l ä m . V.nüberlieferung weist enge Beziehungen zum dt.sprachigen Traditionsgebiet auf. Die Ausgabe von F . van Duyse (1903) verzeichnet unter „ B - n und Romanzen" 49 Typen, jedoch konnte diese Zahl durch rezente Sammeltätigkeit vor allem des Nederlands Volkslied Archief in Amsterdam beträchtlich erhöht werden. DVldr. 1-6 (1935-76). John M e i e r (Hg.), B.n. T. 1-2 (1935-36; Nachdr. 1964; DtLit., R.Volkslied). A. H r u b y , Zur Entstehungsgeschichte d. ältesten dt. B.n. Orbis litterarum 7 (1949) S. 1-30. Lutz R ö h r i c h , Rolf Wilhelm B r e d n i c h (Hg.), Deutsche Volkslieder. Texte u. Melodien. 1 : Erzählende Lieder (1965). Rolf Wilhelm Bredn i c h , WolfgangSuppan, Z m a g a K u m e r (Hg.), Gottscheer Volkslieder. 1: V.n (1969). Johannes K ü n z i g , Waltraut Werner (Hg.), B.nausostdt. Überlieferung. Authentische Tonaufnahmen 1952-1968 (1969). Florimond van D u y s e , Het Oude Nederlandsche Lied 1 ('s Gravenhage, Antwerpen 1903; Repr. Hilversum 1965). Adolphe L o o t e n s , I . M . E . F e y s , Chants populaires Flamands (Bruges 1879). 4. R o m a n i s c h e s S p r a c h g e b i e t (ohne Rumänien). Zu diesem Gebiet sind Frankreich, Italien, Spanien und Portugal zu rechnen. Bei den f r a n z . V.n sind zwei Haupttypen zu unterscheiden: Tanzlieder mit Refrain und chansons de toile oder complaintes ohne Refrain. Der älteste franz. V.nstoff vom Écolier pendu geht auf ein Ereignis des Jahres 1259 zurück. B . n mit Liebesthematik überwiegen. Die meisten franz. V.n der Edition von G . Doncieux haben Parallelen in der Ausgabe von C . Nigra aus dem Piémont. Sie bildet die Brücke zur ital. B.nüberlieferung, deren Charakteristikum die Verbreitung durch professionelle Sänger (cantastorie) ist. I t a l i e n leistet mit dem Lied Donna Lombarda einen wichtigen Beitrag zur europ. V.ndichtung; die in Sizilien am weitesten verbreitete B . ist La barunissa di Carini. In S p a n i e n bezeichnet man die V . n , deren Uberlieferung mit dem 14. J h . in Kastilien einsetzt,

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mit dem Begriff ,Romanze' {Romancero). Es überwiegen hist. Stoffe; die V.n schließen häufig an Epen an und konzentrieren sich um wenige Heldenfiguren wie den Cid. Ubernatürliche Stoffe fehlen weitgehend. Viele span. V.n haben bei den aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden und in Lateinamerika überlebt. Ein Großteil der p o r t u g i e s i s c h e n Romanzen weist Themengemeinschaft mit den kastilischen Romanzen auf. Karl B a r t s c h (Hg.), Altfranz. Romanzen u. Pastourellen (1870). George D o n c i e u x , Le Romancéro populaire de la France (Paris 1904). Conrad L a f o r t e , Le catalogue de la chanson folklorique française. 2: Chansons strophiques (Québec 1981; Les Archives de Folklore 20) S. 1-261 (Chansons narratives). Costantino N i g r a , Canti popolari del Piemonte (Torino 1888; 2. Aufl. 1957). Giovanni Battista B r o n z i n i , La canzone epico-lirica nell'Italia centro-meridionale. 1-2 (Roma 1956-61). Aurelio R i g o l i (Hg.), Le varianti della 'Barunissa di Carini' raccolte da Salvatore S a l o m o n e - M a r i n o (Palermo 1963). Gustavo D u r á n , Romancero General. 1-2 (2. Aufl. Madrid 1945). Ferdinand Joseph W o l f , Conrad H o f m a n n , Primavera y flor de romances. 1-2 (1856). Ramon M e n é n d e z P i d a l , Romancero tradicional de las lenguas hispánicas. 1-3 (Madrid 1957-69). Ders., El romancero judío-español (Madrid 1927). Samuel G. A r m i s t e a d , El Romancero Judío-Español en el Archivio Menéndez Pidal (Catálogo - Indice de romances y canciones). 1-3 (Madrid 1978). Theophilo B r a g a , Romanceiro geralportugués. 1-3 (2. Aufl. Lisboa 1906-09). Gisela B e u t l e r , Studien z. span. Romancero in Kolumbien in seiner schrifti. u. mdl. Überlieferung v. d. Zeit d. Eroberung bis z. Gegenwart (1969). R. P a s q u i n , Ballade, complainte, chanson tragique, chanson lyrico-épique ou chanson narrative? Canadian Folk Music Journal 8 (1980) S. 3-13. 5. B a l k a n h a l b i n s e l . Als fünfte B.nlandschaft faßt E . Seemann die balkan. zusammen. Hier wird die Einteilung jedoch problematisch, da zumindest sprachlich sehr verschiedenartige Räume vereint werden. Allerdings stellt sich durch die jh.elangen Kämpfe gegen die türk. Fremdherrschaft vielfach Themengemeinschaft in der B.nüberlieferung ein. Die ältesten Traditionen weist G r i e c h e n l a n d mitden sog. akritischen Liedern auf, das sind Lieder von den Taten des Digenis Akritas u. a. Helden, die das byzantinische Reich vor den Arabereinfällen zu schützen hatten. Die Stoffe der etwa 40 erhaltenen Typen reichen teilweise in das 9. J h . zurück. Griechenland ist wahrscheinlich auch die

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Volksballade

Heimat der Bauopfer-B. (B. von der Brücke von Arta), die dem B.nschatz des gesamten europ. Südosten gemeinsam ist. Der Kern des balkanischen B .ngebietes wird von J u g o s l a w i e n gebildet. Bei den Serben und Kroaten ist die Kunst der Improvisation zu Hause, so daß hier die Grenzen zwischen B. und Epos oft noch fließend sind. Der erste bedeutende Sammler V. S. Karadzic hat zwischen Frauenliedern (zenske pesme) und Heldenliedern (junacke pesme) unterschieden; die meisten B.nthemen finden sich unter den letzteren. Der berühmteste Zyklus von hist. V.n knüpft an die Niederlage der Serben auf dem Amselfeld (1389) an (Kosovo-Zyklus). Ein anderer, der auch in Slowenien und Bulgarien vertreten ist, beschreibt die Taten des serbischen Nationalhelden Marko Kraljevic. Der slowen. B.nschatz, der die Brücke zwischen Mitteleuropa und dem Südosten darstellt und durch starke christl. Einflüsse geprägt ist, liegt in einem thematischen Katalog vor. Eine Sonderstellung innerhalb dieses V.ngebietes nimmt die r u m ä n i s c h e V. ein. Sie ist unheroisch und stark lyrisch. Das bekannteste Thema ist die Hirtenb. Miori\a (Das Lämmchen). Der rumän. V.nkatalog von A. I. Amzulescu enthält 352 Typen. - Schließlich ist hier noch U n g a r n einzufügen, dessen V.n sowohl mit den rumän. und südslav. als auch mit den mitteleurop. Traditionen Gemeinsamkeiten aufweisen. L. Vargyas hat starke Ubereinstimmungen mit franz. B.nüberlieferungen nachweisen können und führt dieselben auf direkte Übertragungen durch wallon. Siedler seit dem 12. Jh. zurück. Hedwig L ü d e k e , Neugriech. Volkslieder. 1-2 (Athen 1943-64). Demetrios P e t r o p o u l o s , Hellenika demotika tragoudia 1-2 (Athen 1958-59). Georgios C. S p y r i d a k i s u. a. (Hg.), Anthologie des chansonspopulaires grecques (Paris 1967). Vuk Stefan K a r a d z i c , Hrvatske narodnepjesme. 1-7 (Zagreb 1896-1929; Neuausg. u. d. T . : Srpske narodne pjesme. 1-9 Beograd 1932-36). Hatidza K r n j e v i c , Usmene balade Bosne i Hercegovine (Sarajevo 1973). Kuzman A. S a p k a r e v , Bülgarski narodni pjesni (Sofija 1891). Stojan R o m a n ski, Pregled na bulgarskite narodni pesni (Sofija 1925). Michail A r n a u d o v , Baladni motivi v narodnatapoezija (Sofija 1964). P. D i n e k o v , Probleme der bulgarischen B., in: Aus d. Geisteswelt der Slaven. Dankesgabe an Erwin Koschmieder (1967) S. 271-289. Karl S t r e k e l j , Slovenske narodne pesmi. 1-4 (Ljubljana 1895-1923). Zmaga K u m e r u. a. (Hg.), Slovenske ljudskepesmi lff. (Ljubljana 1970ff.). AI. I. A m z u l e s c u , Balade

populare romine¡ti. 1-3 (Bucure§ti 1964). Adrian F o c h i , Miori(a (Bucure§ti 1964). GheorgheVrab i e , Balada populara romana (Bucure§ti 1966). Ion T a l o § , Mejterul Manóle (Bucure§ti 1973). Lajos V a r g y a s , A magyar népballada és Europa. 1-2 (Budapest 1976). Gyula O r t u t a y u. Ildikó K r í z a , Magyar népballadák (Budapest 1976). I. K r í z a , A magyar népballada (Budapest 1979).

6. Das w e s t s l a w i s c h e G e b i e t (unter Einschluß der U k r a i n e , W e i ß r u ß l a n d s und L i t a u e n s ) . Insgesamt ist die Gattung der V. in diesem Raum nicht so dominant wie in anderen Verbreitungsgebieten. Die stofflichen Gemeinsamkeiten in der B.ndichtung der Westslawen rühren z. T. aus der gemeinsamen karpatischen Hirtenkultur her. Die t s c h e c h i s c h e V. in ihrer Mitderrolle zwischen West und Ost gilt dank der Bemühungen von O. Sirovátka als besonders gut erforscht. In der U k r a i n e hat sich im 16. Jh. neben der V. mit der sog. duma (oder dumka) eine von Berufs-

sängern gepflegte eigene Gattung des epischen Liedes entwickelt.

Oldíich S i r o v á t k a , Lidové balady na Slovácku (Uherské Hradisté 1965). Ders., Die Erforschung d. tschech. V. Jahrb. f. Volksliedf. 10 (1965) S. 153-161. Jiíí H o r á k , Slovenske l'udové balady (Bratislava 1958). Soña B u r l a s o v á , L'udové balady na Horehroní (Bratislava 1969). Stanislaw C z e r n i k , Polska epika ludowa (Wroclaw, Krakow 1958). Jadwiga J a g i e l l o , Polska bailada ludowa (Wrodaw 1975; Poetyka 10,1). Leopold H a u p t u. Johann Ernst S c h m a l e r , Volkslieder d. Wenden in d. Ober- u. Nieder-Lausitz (Neuausg. von Ingeborg W e b e r - K e l l e r m a n n 1953). J o n a s B a l y s , Sirntasliaudiesbaladiiit. 5-6 (Piesni, Kaunas 1941). Hryhorij Antonovyc N u d ' h a , Ukrajinska balada (Kiev 1970). Orest Z i l y n s k y j , Lidové balady vychodoslovenskych ukrajincu v jejich interetnickych vztazich. Slovensky národopis 22 (1974) S. 17-45. Ders., Ukrainski narodni dumi ta istoricni pisni (Kiev 1955).

7. G r o ß r u s s i s c h e s Gebiet. Diese B.nlandschaft ist durch die im ausgehenden 13. Jh. entstandene autochthone Gattung der Byline gekennzeichnet. Aber daneben existiert auch ein reich entfaltetes kürzeres Erzähllied {bailada),

in dem die gleichen Themen behan-

delt werden, die auch in der übrigen europ. B.ndichtung vorherrschen.

Vasilij Il'ic C e r n y s e v , Russkaja bailada (Leningrad 1936). Dmitrij Michajlovic B a l a s o v , Narodnye ballady (Moskva, Leningrad 1963). Bo-

Volksballade ris Nikolaevic P u t i 1 o v , Slavjanskaja istoriceskaja ballada (Moskva, Leningrad 1965).

8. F i n n l a n d und E s t l a n d . Diese bei E. Seemann nicht vertretene B.nlandschaft muß seiner Aufstellung hinzugefügt werden. Die ältere V.nüberliefci ung in Finnland ist durch die Lieder im Kalevala-Metrum gekennzeichnet. Seit dem 17. Jh. dringen von Skandinavien her strophische V.n, z. T. mit Refrain, vor. Seit dem 18. Jh. findet diese neue Form außerdem durch populäre Flugblattdrucke weitere Verbreitung. Um die Sammlung und Erforschung der estn. V.n hat sich besonders J . Hurt verdient gemacht. Im Estnischen heißen die V.n ,viizi' (von schwed. visa). Julius u. Kaarle K r o h n , Kantelettaren tutkimuksia (Helsinki 1900-1902). Erich K u n z e (Hg.), Kantaletar. Alte Volkslieder u. B.n aus Finnland (Helsinki 1976). Jakob H u r t , Eesti rahvalaulud. Estonum carmina popularia 1 (Tartu 1926). H . T a m p e r e , Eesti rahvalaule viisidega. 1-5 (Tallinn 1956-65).

§ 4 . V e r g l e i c h e n d e F o r s c h u n g e n . Bereits Grundtvig und Child hatten in den Kommentaren zu ihren Ausgaben auf die intern. Verbreitung vieler B.ntypen hingewiesen. Ähnlich wie Märchen, Sagen, Legenden, Schwanke oder Witze überschreiten auch die V.n die Sprachgrenzen und nehmen an kulturellen Austausch- und Vermittlungsprozessen teil. Die V.nüberlieferung eines jeden Landes setzt sich aus selbständigen, für das Land charakteristischen Typen und aus internationalem Wandergut zusammen, wobei allerdings die ersteren stets überwiegen. Beim interkulturellen Vergleich von B.nüberlieferungen ist, stärker als in der volkskundlichen Erzählforschung, zwischen genetischer Verwandtschaft und typologischer Ähnlichkeit zu unterscheiden (Viktor Schirmunski, Vgl. Epenforschung, Bd. 1, 1961, S. 8). Themengleichheit im B.nbesitz zweier Völker muß nicht notwendigerweise durch Wanderung des betr. Liedes zustandegekommen sein. Sie kann ihre Ursache in der Verwendung einer beiden Ländern gemeinsamen Prosaüberlieferung haben. Der Vergleich muß in der B.nforschung daher auch auf die konkrete Textgestalt und auf die Melodien ausgedehnt werden. Im 20. Jh. entwickelte sich nach dem Vorbild der komparatist. Märchenforschung eine vergleichende V.nforschung. Daraus entstanden

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Arbeiten, die den B.nbesitz von verschiedenen Völkern miteinander vergleichen, sowie V.nmonographien nach der geographisch-histor. Methode. — Zum ersteren Forschungsfeld zählen Studien über die Gemeinsamkeiten in der V.nüberlieferung von Deutschland/ England-Schottland, Deutschland/Litauen, Deutschland/Dänemark, Deutschland/Frankreich, Deutschland/Tschechoslowakei, Frankreich/England-Schottland, Spanien/EnglandSchottland, Tschechoslowakei/Ukraine, Ungarn/Frankreich etc. - Die erste bedeutende Monographie einer international verbreiteten V. verfaßte Archer T a y l o r 1931 (Edward and Sven i Rosengärd). Inzwischen ist eine große Zahl von E i n z e l u n t e r s u c h u n g e n erschienen. In Auswahl nennen wir einige bekannte V.ntypen, die eine monographische Bearbeitung erfahren haben: Die Losgekaufte ( T h e Maid Freedfrom the Gallows), Heer Halewijn, The Two Sisters, Die Rabenmutter, die V. vom Bauopfer (Brücke von Arta, Me$terul Manóle), Die böse Schwiegermutter. In der dt. B.nausgabe (DVldr) erscheinen kurzgefaßte Monographien zu den jeweiligen Texttypen unter Einschluß der Melodien und ihrer internationalen Verbreitung. Andere moderne Ausgaben wie die slowen. folgen diesem Vorbild. W. S c h m i d t , Gemeins. Themen dt., engl. u. schott. V.n. NSpr. 47 (1939) S. 234-260. Archer T a y l o r , Die gemeins. Themen der engl. u. dt. B.n., in: Hdb. d. Volksliedes. Hg. v. R. W. Brednich, L. Röhrich u. W. Suppan. 2 (1975) S. 271283. E. S e e m a n n , Dt.-litauische Volksliedbeziehungen. J b . f. Volksliedf. 8 (1951) S. 142-211. O t to H o l z a p f e l , Die dän. Folkevise u. ihre Beziehungen zum dt. Volkslied, in: Hdb. d. Volksliedes 2 (1975) S. 339-358. Ders., Folkevise u. V. Die Nachbarschaft dt. u. skandinav. Texte. (1976). Heinke B i n d e r , Dt.-franz. Liedverbindungen, in: Hdb. d. Volksliedes 2 (1975) S. 285-337. Oldrich S i r o v á t k a , Die dt. u. tschech. V. Ebda S. 359-376. M. P o h l , Gemeinsame Themen engl.schott. u. franz. V.n. (1940). A. T a y l o r , Una comparación tentavia de temas de baladas inglesas y españolas. Folklore americano 4 (1956) S. 3-25. Orest Z i 1 y n s k y j , O vzájemnych zvt'azích ukrajinskych, ceskych a slovenskych písní, in: Z dejín ceskoslovensko-ukrajinskych vzt'ahov 1 (Bratislava 1957) S. 203-247. V a r g a y s (s. letzter Titel zu § 7). - A r c h e r T a y l o r , 'Edward' i 'Sven iRosengärd'. A Study in the Dissemination of a Bailad (Chicago 1931). Erich P o h l , Die dt. V. von d. 'Losgekauften' (Helsinki 1934; F F C . 105). Eleanor L o n g , 'The Maid' and 'The Hangman . Myth and Tradition in a Popular Bailad (Berkeley 1971;

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Volksballade

Univ. of California Publ. Folklore studies 21). Iivar Kemppinen, The Ballad of' Lady Isabel and the False Knight' (Helsinki 1954). Holger Olof N y g a r d , The Ballad of Heer Halewijn (Helsinki 1958;FFC. 169). PaulG.Brewster, TheTwoSisters (Helsinki 1953; FFC. 147). H. Siuts, Die B. von d. Rahenmutter u. ähnl. Liedtypen in Europa. ZfVk. 58 (1962) S. 238-254. Zmaga K u m e r , Baiada o nevesti detomorilki (Ljubljana 1963). Georgios AnastasiuMegas, DieB. vond. Arta-Brücke (Thessaloniki 1976). Ion Talo§, Mefterul Manole (Bucurejti 1973). Helga Stein, Zur Herkunft u. Altersbestimmung e. Novellenballade [DVldr Nr. 76 Die mißhandelte Schwiegertochter u. Nr. 76. Die ermordete Schwiegertochter] (Helsinki 1979; FFC. 224).

§ 5. K l a s s i f i k a t i o n s p r o b l e m e . Angesichts der zahlreichen Ubereinstimmungen in der V.ntradition der europ. Länder erwachte auch in der V.nforschung das Bedürfnis nach einer international gültigen Klassifikation nach Art des Märchensystems von Antii Aarne und Stith T h o m p s o n (The Types of the Folktale, 2., rev. Aufl. Helsinki 1961, FFC 184). Die älteren Textausgaben von Grundtvig, Child, Erk-Böhme etc. folgten jeweils eigenen thematischen Anordnungsprinzipien (vgl. A. Taylor, Lists and Classifications of Folksongs. Jb. f. Volksliedf. 13, 1968, S. 1-25). Den ersten Versuch einer typologischen Klassifikation der V.n unternahmen L. Heggstad und H. GrünerN i e l s e n 1912 für Skandinavien. Ihr Utsyn erfaßte 195 norw. V.n mit Hinweisen auf europ. Parallelen. William James E n t w i s t l e (European Balladry, 2. Aufl. Oxford 1951, S. 56-60) unterschied in seinem Klassifikationssystem vier Hauptgruppen der europ. V.n: (1) histor. V.n, (2) V.n, die von einer vorausgehenden literar. Tradition abhängig sind (wozu er auch religiöse Themen zählte), (3) V.n, die von Abenteuern berichten (adventurous ballads), (4) mythologische V.n. Gyula O r t u t a y (Die europ. V.n. Eine Skizze, in: Kontakte u. Grenzen. Festschr. f . G. Heilfurth, 1969, S. 118) sprach im Hinblick auf eine Systematik der europ. V.n von drei beherrschenden Themenkreisen: (1) mythologische oder märchenhafte Themen, (2) geschichtliche Themen, (3) epische Lieder, in denen individuelle Familientragödien und -komödien gestaltet werden. Den ersten regionalen V.nkatalog gab 1954 J. B a l y s für Litauen heraus. Nachdem 1955 D. K. Wilgus (Ballad Classification, in: Midwest Folklore 5, 1955, S. 95-100) und 1965

R. W. B r e d n i c h (Der Plan e. europ. B.ntypenindex, in: Zbornik kongresa saveza folklorista Jugoslavije, Ljubljana 1968, S. 363368) Vorschläge für die Erstellung eines internationalen V.nkatalogs gemacht hatten, wurde 1966 in Prag im Rahmen der SIEF (Société Internationale d'Ethnologie et de Folklore) eine Kommission mit der Koordination der Arbeiten an diesem Index beauftragt. Sie hat seitdem 12 intern. Arbeitstagungen abgehalten (vgl. die Protokolle der Arbeitstagungen über Fragen d. Typenindex d. europ. V.n, hg. v. R. W. Brednich, 1967ff.) und Prinzipien für die Einrichtung weiterer regionaler Kataloge entwickelt, (J. Porter, Principies of Bailad Classification. A Suggestion for Regional Catalogues of Bailad Style. Jb. f. Volksliedf. 25,1980, S. 11-26). Der Rahmenplan für die Klassifikation sieht vor: (1) V.n magisch-mythischen Inhalts; (2) religiöse V.n; (3) Liebeskonflikte; (4) Familienkonflikte; (5) soziale Konflikte; (6) histor. V.n.; (7) agonales und heldisches Streben; (8) Schicksalsschläge und Katastrophen; (9) menschliche Grausamkeit; (10) Schwankballaden; (11) Natur und Kosmos. Der Katalog der slowen. Erzähllieder von Z. Kumer ist das erste Verzeichnis, das nach diesem Rahmenplan erstellt wurde. Außerdem liegen der Katalog der rumän. V.n von A. I. Amzulescu / H. Stein und ein Verzeichnis der tschech. Familienballaden im Druck vor. Nach Fertigstellung weiterer regionalen Typenkataloge ist ihre Zusammenfassung in einem übergreifenden Typenindex der europ. V.n geplant. Er soll neben Prosazusammenfassungen der Typen auch die Bausteine (Erzähleinheiten, narrative units), aus denen die V.n zusammengesetzt sind, katalogisieren. Die Erschließung dieser kleineren Bauelemente der V. ist bisher nur unzureichend, da im S. Thompsons MotifIndex lediglich die Child-B.n verarbeitet wurden. Für die dt.sprachige B.nüberlieferung liegen zu einigen Gruppen des intern. Rahmenplanes zusammenfassende Abhandlungen vor, so zur Heldenb., Familienb., Sagenb., Schwankb. und zum Legendenlied. Leiv Heggstad u. Hakon G r ü n e r - N i e l sen, Utsyn yver gamall norsk folkevisedikting (Kristiania 1912). Jonas Balys, A treasury of Lithuanian folklore. 4. Lithuanian Narrative Folksongs. A Description of Types and a Bibliography (Washington 1954). [270 Typen] Zmaga K u m e r , Vsebinski tipislovenskihpripovednihpesmi. Typen-

Volksballade index slowenischer Erzähllieder (Ljubljana 1974). AI. I. Amzulescu u. Helga Stein, Rumänische V.n (1974). Marta Srämkovä, Katalog ceskych lidovych balad 4: Rodinna tematika (Praha 1970). D. K. Wilgus, A Type-Index ofAnglo-American Traditional Narrative Songs. Journal of the Folklore Institute 7 (1970) S. 161-176. Hellmut Rosenfeld, Heldenb., in: Hb. d. Volksliedes 1, 1973, S. 57-87. Max Lüthi, Familienb. Ebda. S. 89-100. Lutz Röhrich, Sagenb. Ebda. S. 101156. Rolf Wilhelm Brednich, Schwankb. Ebda. S. 157-203. Leopold Kretzenbacher, Legendenlied. Ebda. S. 323-342. § 6. Die V. u n d i h r e B e z i e h u n g e n z u and e r e n G a t t u n g e n der Volksüberlieferung. In vielen Fällen weisen V.n Themengemeinschaft mit Volkserzählungen auf. Es bestehen vor allem Beziehungen mit Sagen, Legenden und Schwänken; die Verbindungen zum Märchen beschränken sich auf gelegentl. Motivgemeinschaft. Die Struktur des Märchens mit seinem Motivreichtum schließt eine nähere Verwandtschaft mit der V. weitgehend aus. Die Frage nach dem Verhältnis der B . zu den verschiedenen Genres der Volkserzählungen kann ähnlich wie beim Verhältnis zum Epos nicht allgemeingültig beantwortet werden, sondern bedarf sorgfältiger Analyse am Einzelfall. Häufig wird das Lied aus vorgängiger Prosatradition schöpfen, aber in anderen Fällen kann es sich bei den Prosaaufzeichnungen auch um die Widerspiegelung ursprünglicher V.n handeln. Ist dieser Prozeß vom Lied zur Prosa oder umgekehrt nur unvollständig durchgeführt, d. h. wechseln Prosateile mit gereimten ab, so spricht man von der Cante fable. Katalogartige Zusammenstellungen von P ar a l l e l e n z w i s c h e n V.n u n d V o l k s e r z ä h l u n g liegen bisher nur für den Bereich der engl.-schott. Child-B.n und für die deutschen V.n vor. Auf dem Liedsektor bestehen manche Gemeinsamkeiten mit dem Z e i t u n g s l i e d (engl. news bailad): V . und Zeitungslied werden bes. im dt. Sprachbereich seit dem 16. J h . auf Flugblättern und Flugschriften (s. d.) verbreitet, sie erzählen in sich abgeschlossene Geschichten von dramat. Ereignissen und bedienen sich populärer Melodien. Während die V. die Konflikte im allgemein-menschlichen Bereich ansiedelt, berichtet das Zeitungslied vielfach unter Nennung von Namen und Orten genau datierte und lokalisierte Sensationsereignisse und zeigt im Sprachlichen die Spuren rascher Herstellung

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im Anschluß an die geschilderten Ereignisse (vgl. E . Seemann, Newe Zeitung u. Volkslied. J b . f. Volksliedf. 3, 1932, S. 87-119; R . W . Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt d. 15. bis 17.Jh.s. Bd. 1 , 1 9 7 4 , S. 184-235). In vielen Fällen sind aber aus ursprünglichen Zeitungsliedern unter Abstreifung der raum-zeitlichen Bezüge V.n geworden, die das zugrunde liegende Ereignis jahrhundertelang überlebten. Der fünfte Band der Balladenausgabe des D t . Volksliedarchivs (1967) bringt unter DVldr N r . 104-123 eine Reihe von Beispielen für solche aus Zeitungslieddichtungen hervorgegangene V.n. Vom B ä n k e l s a n g (s. d.), dem jüngeren Nachfahren des Zeitungsliedes, dagegen führen kaum noch irgendwelche Linien zur V. G. M. Morokoff, Whole Tale Parallels in the Child Ballads as Cited or given by Child or in FFC. 74. Journal of American Folklore 64 (1961) S. 203206. H. Siuts, V.n - Volkserzählungen. Motivu. Typenregister. Fabula 5 (1962) S. 72-89. O. Sirovätka, Stoff«. Gattung - V. u. Volkserzählung. Fabula 9 (1967) S. 162-168. § 7. Zusammenfassende Literatur. Jahresbibliographie der V.nforschung. Annual Bibliography of Folk B. Research 1 ff., ed. Zmaga Kumer, Rolf Wilhelm Brednich u. J. Dittmar. Berichtszeit 1968ff. (Ljubljana 1970ff.). William James En t wis tie, European Balladry (2. Aufl. Oxford 1951). Otto Holzapfel (Hg.), The European Medieval Ballad (Odense 1978). Gordon Hall Gerould, The B. of Tradition (2. Aufl. New York, Oxford 1957). Francis Barton Gummere, The Popular B. (2. Aufl. New York 1959). Andreas Heusler, Über die B.ndichtung d. Spätma., namentlich imskandinav. Norden. GRM. 10 (1922) S. 16-31. Wiederabgedr. bei PflügerBouillon (s. unten) S. 117-137. Sigurd Bernhard Hustvedt, Ballad Books and Ballad Men (2. Aufl. New York, London 1970). William Paton Ker, On the History of the Ballads, 1100-1500. Proceedings of the British Academy 4 (1909-1910) S. 179-205. MacEdward Leach u. Tristram Potter Coffin (Hg.), The Critics and the B. (Carbondale 1961). [Aufsatzsamml.] Walter Müller-Seidel (Hg.), Balladenforschung (1980). Elisabeth Pflüger-Bouillon (Hg.), Probleme der V.nforschung (1975; WegedFschg. 73). [Aufsatzsamml. m. stark fehlerhafter Bibliographie.] Louise Pound, Poetic Origins and the Ballad (3. Aufl. New York 1962). Karl Riha, Moritat, Bänkelsang, Protestballade (2. Aufl. 1979). Erich Seemann, Dag Strömbäck u. Bengt R. Jonsson, European Folk Ballads (Kopenhagen 1967; European Folklore Series 2). Introduction p. XI-

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Volksballade - Volksbuch

X X X I I von E. Seemann in dt. Ubersetzung u. d. T.-.Dieeurop. V. in: Hb. d. Volksliedes 1 (1973) S. 37-56. Lajos V a r g y a s , Researches into the Medieval History of Folk Bailad (Budapest 1967). RolfWilh.

Brednich

Volksbuch § 1. Der literar. S a m m e l b e g r i f f V., erst jetzt wieder als „Mythos" in Frage gestellt, wurde in der Romantik geprägt. Eine ästhetisch-lit.wiss. Gattung, wie sie vor allem Richard Benz und Lutz Mackensen trotz der mangelnden Einheitlichkeit der V.er und Volksbuchlesestoffe zu beschreiben versuchten, war hiermit zunächst nicht gemeint. Der Publizist Joseph G ö r r e s , der seiner Sammlung 1807 erstmals den Namen „Deutsche Volksbücher" gab, verstand darunter nicht nur die schriftlich festgehaltenen und z. T. auf hochmal. Epen und höfische Romane zurückgehenden Prosaerzählungen des späten MA.s und Aufzeichnungen von Schwänken, Fabeln oder Legenden. Der Untertitel „Historien, Wetter- und Arzneybüchlein" verweist ebenso auf die volkstümliche Gebrauchslit. von der Traumdeutung und Magie über Briefsteller bis hin zum Erbauungsbuch, zur Rätselsammlung und zum Kalender. Wichtig ist für ihn die allgemeine Verbreitung, nicht das Alter. Er sieht hier, Hans Naumanns Thesen vom gesunkenen Kulturgut vorwegnehmend, eine Literatur, die allgemein verbreitet und, obwohl aus dem „geschlossenen Kreis der höheren Stände" kommend, in den breiten Volksmassen heimisch und „Leben von seinem Leben" wurde, und zwar, das sei hinzugefügt, obgleich die meisten sog. Volksromane oft gar nicht dt. Ursprungs waren. Das Volk ist also an der Entstehung und Bearbeitung dieser V.er nicht beteiligt. Ihre Geschichte ist die der Hersteller und Verbraucher und eine solche der ständigen Veränderungen dieser Bücher, vor allem in Hinblick auf die politisch-konfessionellen, modischen, stilistischen Tendenzen der jeweiligen Epochen vom Spätma. bis zur Neuzeit. Nicht zuletzt ist die Geschichte des V.s mit der des Buchdrucks, der Volksbildung - vor allem hinsichtlich des Lesenkönnens - und der Massenliteratur, also des Konsums, verbunden. Damit ist zugleich gesagt, daß nicht jeder sog. V.stoff, der als Frühdruck oder nur als Hs. überliefert, später zum

V. wurde, dieses von Anfang an war oder auch später solchen populären Lesestoffen zuzurechnen wäre. So ist also nicht entscheidend, ob es sich um spätmal. oder frnhd., bis in die Gegenwart überlieferte Prosaerzählungen handelt. Auch andere gedruckte Schriften aus späteren Epochen konnten im Sinne dieser populären Lesestoffe zum V. werden. Was nun die Volksläufigkeit der Stoffe angeht, so wurden die interessierten Kreise des Volkes etwa von den erbaulich-didaktischen Schriften des Hochma.s bereits erreicht, als sie zumeist noch nicht lesen und schreiben konnten. Andererseits werden auch vereinzelt selbst sog. Volksromane aus der literar. Überlieferung noch heute mündlich tradiert; Eulenspiegelschwänke oder Schildbürgergeschichten haben ebenfalls ihre selbständige orale Verbreitung bis in die Gegenwart. Daneben waren die sog. Volkslesestoffe auch in der Oberschicht besonders beliebt, wobei die durch die Prosa geförderte Stofflichkeit etwa der zu V.ern gewordenen alten höfischen Versepen dem Lesergeschmack aller Schichten entgegenkam, wenn auch noch Ende des 16. Jh.s Johann Fischart eine Reimversfassung des Eulenspiegelbuches auf den Markt brachte. Es gibt aber keine festumschriebene Form V., weder unter dem Aspekt Vers und Prosa, noch im Sinne der Einfachen Formen (s. d.) unserer Volkserzählungen oder des Volksliedes. Ihre literar. Bedeutung beruht auf der Verbreitung der Erzählprosa, womit zugleich die Entwicklung unseres Romans eingeleitet wird. § 2. Die S t o f f e und S t o f f k r e i s e der V.er (in Vers und vor allem in Prosa) werden mit Recht als ebenso vielschichtig wie die Verfasser- und Herkunftsfrage bezeichnet, wobei die neuere Forschung einmal mit dem enger gefaßten lit.wiss. (Scherer, Naumann, Liepe, Makkensen) und zum anderen einem der Sammlung von Görres wieder mehr entsprechenden soziologisch-buchkundlichen (A. Schmitt) V.begriff als Buchgattung arbeitet. So reicht das V. frühe didaktische Prosa ebenso weiter wie die Legendendichtung, solche vom „sterbenden Rittertum" gleicherweise wie ritterliche Abenteurerromane und Reisebeschreibungen meist franz. Herkunft, auch Erzählungen und Novellen oft orientalischen Ursprungs oder solche der ital. Renaissance, Sagen, Märchen, Schwank- und Anekdotensammlungen z. T. volkstümlicher Uberlieferung, von der Ge-

Volksbuch brauchslit. zu den Kalendern und Prognostiken bis hin zum bürgerl. Prosaroman in Deutschland. Kurzum, das V. verbreitet alles, was der Unterhaltung, allgemeinen Anschauung und volkstümlichen Belehrung entsprach. Dabei blieb bis heute das Fortleben des frnhd. V.s im 17. und 18. Jh. ebenso ungenügend erforscht wie die Tatsache unerwähnt, daß jedes Jh. Literatur hervorbrachte, die den bisherigen V.kriterien ebenso genügen würde wie Grimmelshausens Simplizissimus, Bürgers Münchhausen, Auerbachers Sieben Schwaben und die Volksromane des 19. Jh.s, von den parallelen europäischen Erscheinungen gar nicht zu reden. Die Zahl der auf mhd. Epen zurückgehenden Volksromane ist geringer als die der Ubersetzungen aus franz. und lat. Quellen. Hinzu kamen zahlreiche Renaissancenovellen, welche die Humanisten aus Italien vermittelten. Die heimische Sagenwelt finden wir im Sigenot und Kaiser Barbarossa. Auch der Sagenkreis um Karl den Großen ist beliebter als Stoffe etwa der Artusepik, welche später vor allem mit den Amadisromanen in den adeligen Kreisen die Volksbücher verdrängen. § 3 . Die G e s c h i c h t e der V.er allgemein ist also einmal Buch-, d. h. Druck- und Verbreitungsgeschichte, aber auch die ihres literar. Ursprungs, ihrer Verfasser, äußeren Veränderungen und jeweiligen - entsprechend dem wechselnden Lesergeschmack und der Kritik - inneren Wandlung, ihrer Neubelebung und Wirkung, auch auf die sog. Hochliteratur, soweit es die älteren V.stoffe angeht. Deren Geschichte ist aber zugleich die der dt. Prosa und frnhd. Unterhaltungsliteratur, deren Quellen und Frühbelege noch bis ins höfische Hochma. reichen. Ihre Verfasser, Bearbeiter oder Nacherzähler sind zumeist nachweisbar, weshalb die romant. Vorstellung von einer anonymen dichtenden Volksseele, also einer Gemeinschaftsdichtung aus einem entsprechend einheitlichen Kulturbewußtsein heraus, hier am allerwenigsten angebracht ist. Beim „bürgerlichen" Prosaroman als einem Hauptvertreter innerhalb der „V.gattung" sind Adel und gehobenes Bürgertum oft Auftraggeber oder Verfasser und auch Haupthandlungsträger. Als Konsumenten solcher Lit. vom Bildungshorizont her sind Adel und Bürger dabei durchaus vergleichbar. Erst allmählich befassen sich andere soziale Schichten mit dieser Art Bücher, die manche

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Forscher gar nicht mehr zur eigentlichen Spezies V. rechnen wollen. Vielleicht bietet hier ein kritisches Uberdenken bisheriger volkskundlicher und lit.wiss. Forschung zu V., Volksroman, volkstümlichem Roman und eine eingehendere Untersuchung entsprechender buchkundlicher und sozialgeschichtlicher Gegebenheiten die Möglichkeit, die verschiedenen methodischen Ansätze so zu verbinden, daß ein wissenschaftlich brauchbarer V.begriff erarbeitet oder dieser durch Zuordnung der verschiedenen V.er zu ihren entsprechenden literar. Gattungen und Formen ganz aufgegeben wird. In der Lit.geschichte setzt man häufig die Prosaübersetzungen der Deutschfranzösin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken an den Anfang der spätmal. V.er, doch hat die weitere Erforschung dieser Lit. nach Entstehungszeit, Erstdruck, Urheber und Neubearbeitungen auch die Chronologie verändert. So wird der Lucidarius Ende des 12. Jh.s nach der Imago Mundi des Honorius Augustodunensis (um 1152) als erstes dt.sprachiges Prosawerk didaktischen Charakters für den Laienunterricht angesehen. Diese Weltbeschreibung war früh in zahlreichen Hss. verbreitet und ist als Druck erstmals 1479 nachweisbar. Auf seinen märchenhaft-phantastischen Inhalt führt man seine volkstümliche Beliebtheit zurück, so daß es schließlich seit 1655 als sog. Kleine cosmographia zum weitverbreiteten V. wurde. Erzieherisch und unterhaltend zugleich sind auch die dt.sprachigen Legendensammlungen, die den mal. lat. Vorbildern entsprechen. Sammlungen wie das Leben der Heiligen stehen neben umfangreichen Viten einzelner Heiliger wie des Tundalus oder dem Nikodemusevangelium und der Geschichte der Heiligen Drei Könige. Bis auf die Prosabearbeitung von Hartmanns Gregorius-Legende werden sie aber durch die profane Unterhaltungslit. und auch die Reformation weitgehend verdrängt. Die nun entstandenen legendären moralisierenden Rittererzählungen der Geistlichen sind bald über den weltlichen Ritterromanen vergessen; waren sie doch oft nur für den Vortrag bestimmt, ihre Hss. wurden gar nicht erst gedruckt, wofür die Zürcher Sammlung solcher Hss. ein gutes Beispiel bietet. Phantastische Reisebeschreibungen wie St. Brandan nach einem Spielmannsepos, Herzog Ernst und Montevilla, beide nach lat. Prosa, bleiben bis ins 18. Jh. beliebte Volkslit., so wie die Geschichts- und Geschichtensammlungen,

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welche unterhalten und bilden sollten. Hierzu gehören auch die orientalisches Erzählgut enthaltenden Gesta Romanorum. Die Zeugen früher dt. Prosa des 14. Jh.s waren - mit moralischen Nutzanwendungen versehen — die Stoffquellen der Historienschreiber bis in die frühe Neuzeit. Auch die beliebten Geschichtssagen des Trojanerkrieges, 1392 von Hans Mair von Nördlingen aus dem Lateinischen kompiliert, dienten als ernstgemeinte Historie, doch in zahlreichen späteren Drucken mehr der Unterhaltung im Sinne der „schönen history". Die bereits erwähnte Gräfin E l i s a b e t h von Nassau-Saarbrücken vermittelte den Deutschen Ritterromane ihrer franz. Heimat. Von ihren vier Ubersetzungen (1430-1440) werden der Hug Schapler (unhistorischer Held beim Ende der Karolingerherrschaft in Frankreich), Herzog Herpin sowie Loher und Maller zu oft gedruckten Volksromanen. Der franz. ProsaLancelot aus dem 13. Jh., der zugleich auf die bereits lange Tradition des franz. Ritter- und Abenteurerromans unterschiedlicher Herkunft verweist, erscheint in dt. Ubersetzung lange vor den Prosaauflösungen dt. höfischer Epen, die erst im letzten Drittel des 15 Jh.s anzutreffen sind. Vielseitiger Ubersetzer war auch der Arzt Johann H a r t l i e b ( t 1468), Schwiegersohn der Agnes Bemauer. So bearbeitete er bereits die Brandan-Legende, die dem Albertus Magnus zugeschriebenen Secreta Mulierum aus dem Bereich der Geheimwissenschaften, und verfaßte nach lat. Vorlage das Alexanderbuch (Druck 1472). E l e o n o r e , Herzogin von Tirol und Vorderösterreich, verdeutschte 1455/56 am Innsbrucker Hofe, wo später auch Maximilians I. Rittergeschichten entstanden, den franz. Liebesroman Pontus undSidonia. Wenig später erschienen auch die Drucke von Solomon und Markolf (1482) als Vorläufer des grobianischen Zeitalters, die schwankhafte Verdeutschung der Dümmlingsgeschichte von Valentin und Namenlos aus dem Französischen, die Sieben weisen Meister (1470) als dt. Fassung des bereits von Antonius von Pforr vermittelten indischen Pantschatantra, sowie die Geschichte des Apollonius von Tyrus. Das Tierepos Reinke de Vos, 1498 als Zeit- und Ständespiegel in Lübeck erschienen, kommt in oberdeutscher Fassung erst 1545 in Frankfurt (Main) heraus. Bis 1500 erscheinen z. T. auch unter dem Einfluß der dt. Ubersetzungen von Novellen der Renaissance u. a. noch Griseldis (nach der Petrarca-Ubers. Steinhövels), die spätere Hi-

storie vom Markgraf Walther, dann Euriolus und Lucretia (des Aeneas Silvius Piccolomini), der nach einer franz. Geschlechtersage gestaltete Liebesroman Melusine, der Ritter von Stauf fenberg, Wilhelm von Österreich, Tristan und Isolde, die Schwanksammlung vom Pfaff von Kalenberg, Sigenot, Wilhelm von Orleans, der Ritter von Thum, ein Novellenbuch des Marquart von Stein aus dem Französischen, Wigalois, Ernst von Bayern, Florio und Bianceflora (entsprechend dem Filocolo des Boccaccio), Bruder Rausch, der vermutete Erstdruck des Eulenspiegel, von dem ein Druck von 1510 (also vor dem hochdeutschen Druck von 1515) jetzt erst gefunden wurde. Zu den wichtigsten V.erscheinungen nach 1 5 0 0 , aber noch in vorreformatorischer Zeit, gehören Barbarossa, Ritter Thorelle, Olivier und Artus, Valentin und Orso (1521). Nach den stürmischen Jahren der R e f o r m a t i o n , als Flugschriften und Bibel Volkslesestoffe wurden, folgten Fierabras (1533), Oktavian, Magelone, die Haimonskinder und Jörg Wickrams Ritter Galmy aus Schottland (1539). Bis zur Jh.wende erschienen noch u. a. Thedel von Walmoden, Ismenius und das Buch der Liebe, eine Zusammenfassung der beliebtesten Ritter- und Liebesromane (Frankfurt 1578 und 1587), ferner die Schwankbücher, die schon seit Joh. Paulis Schimpf und Ernst (1522) immer mehr zu Volksbüchern wurden, und die - wie auch die Lügenerzählungen - schon in Bebels Facetien z. T. aus der Volksüberlieferung stammen. Peter Leu, Finkenritter, Claus Narr, Hans Clauen seien hier genannt. Die Schwanksammlung Neidhart Fuchs erschien ohne Ort und Jahr erstmals wohl schon vor 1500. Jörg W i c k r a m aus Kolmar (1505-1562), vielseitiger Dramatiker und Erzähler, gilt auch als Begründer des neuen dt. Prosaromans. Wie sehr er dabei dem V. im herkömmlichen Sinne noch nahesteht, ist umstritten. Einigen Werken von ihm und seinen Nachfolgern ist jedoch der V.charakter sicherlich eigen, so dem Knabenspiegel, Gabriotto und Reinhard und besonders seiner Schwanksammlung,' dem Rollwagenbüchlein, dem Schriften anderer Autoren wie Gartengesellschaft, Wegkürzer, Katzipori, Rastbüchlein, Wendunmuth nacheifern. 1597 erscheinen das Laiebuch und seine Bearbeitungen (Schildbürger und Grillenvertreiber). Zehn Jahre vorher war schon der Erstdruck des Faustbuches erschienen (1587), dem später das Wagnerbuch folgte.

Volksbuch Längst schon wurden diese V.er nicht mehr vom Adel oder in dessen Auftrag von gelehrten Geistlichen oder Bürgern verfaßt. Der in dieser Ubergangszeit soziologisch schwer zu beschreibende Bürgerstand übernimmt mit der Festigung seiner eigenen Kultur auch selbst die Autorschaft. Als Beispiel möge hier das auch für die Entwicklung des dt. Prosaromans wichtige Volksbuch vom Fortunatus dienen. Verfasser dieser Kaufmannserzählung war wohl ein Augsburger Bürger. Die vor 1500 geschriebene Geschichte erzählt vom wunderbaren Aufstieg einer Bürgerfamilie durch die Gaben (Wunschhütchen und Glückssäckel) der Fortuna und deren Niedergang durch die Leichtfertigkeit der Söhne des Helden. Wie die Apolloniusgeschichte mit orientalischen Erzählmotiven durchwoben, erschien das V. 1509. Im 17. J h. erscheinen erstmals der Ewige Jude (1602) und die alte Legende von der Pfalzgräfin Genoveva, die Martin von Cochem bearbeitete (1687). Noch weniger berichtet die V.forschung über das 18. J h . An Neuerscheinungen wird hier 1700 bzw. 1726 die Historie vom gehörnten Siegfried nach dem Lied vom hürnen Seyfrid, das Hans Sachs — wie auch den Tristanstoff - bereits dramatisch bearbeitete, zu erwähnen sein. Das V. vom Zauberer Vergilius aber wird erst durch Simrock wieder populär. Doch ist es verfehlt, anzunehmen, daß wegen der fehlenden Drucke solche und andere Stoffe im Spätma. keine Rolle gespielt hätten. Schließlich sei nochmals gesagt, daß entgegen bisheriger Lehrmeinung jedes Jh. seine neuen V.er hervorbringt, die man dann unter Volkslesestoffe, Triviallit. und anderen Begriffen zu fassen suchte, um den gewonnenen V.begriff nicht in Frage stellen oder erweitern zu müssen. So bleibe es einstweilen dahingestellt, ob simplicianische Schriften, Robinson und Lederstrumpf, Hebels Kalendergeschichten oder die Reise-, Liebes-, Ritter- und Räuberromane des 18. und 19. Jh.s, die Werke sog. Volksschriftsteller bis hin zu den Schwänken vom braven Soldaten Schwejk nicht auch solche V.er sind. § 4. Das V. als B u c h w a r e und seine Auss t a t t u n g spielen nicht zuletzt bei dem Versuch eine Rolle, trotz uneinheitlicher Stoffe und Ausformung die Volksbücher im 19. und 20. Jh. zu einer eigenen, wenn schon nicht

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lit.wiss.-ästhetischen, so doch zu einer lit.soziologischen Gattung zu machen. Dabei sah man gern darüber hinweg, daß drei Jh.e V.überlieferung kein einheitlicher Zeitraum sind und die sozialen, historischen und literar. Gegebenheiten sich inzwischen wandelten wie die Ausgaben dieser Lit. auch. Das repräsentative G r o ß f o l i o f o r m a t der ersten, teilweise mit sorgfältig ausgeführten Bildern versehenen V.drucke des 15. und 16. Jh. s war sicherlich nur für wohlhabende Bürger und Adelige erschwinglich. Das hat aber nichts mit der Verbreitungstheorie neuerer V.forschung zu tun, wonach lesersoziologisch großes Format auf die kulturelle Oberschicht hindeutet, das Kleinformat und billige Publikationsformen aber auf Verbreitung der „eigentlichen Volksromane" in allen Schichten, was inzwischen auch widerlegt wurde. Die Städte des frühen dt. Buchdrucks wie Augsburg, Ulm, Straßburg, etwas danach Frankfurt a. M., Basel, Nürnberg verbreiten vor allem diese V.er, während nord- und mitteldt. Drucke erst später erscheinen. Mit der Massenproduktion für ein nunmehr größeres Leserpublikum erscheinen die V.er in der Mitte des 16. Jh.s im O k t a v - bzw. K l e i n o k t a v f o r m a t . Wenig erforscht ist bislang d i e l l l u s t r a t i o n dieser Ausgaben mit ihren zunächst primitiven umrißhaften Holzschnitten, die erst zu Anfang des 16. Jh.s dann auch von guten Künstlern gestaltet wurden. Freilich ging man sehr großzügig mit den in folgenden Auflagen meist schon recht abgenutzten Holzdruckstöcken um. Man verwendete manche Illustrationen öfter auch für andere passende Erzählungen und sah manchmal darüber hinweg, wenn Text und Illustrationen nicht so recht zueinander paßten. Daß diese Illustrationen hauptsächlich als didaktische Hilfe für den leseunkundigen Zuhörer gedacht waren, erscheint daher kaum glaubhaft. Mit dem sich wandelnden literar. Geschmack erfolgt zunehmend eine Abkehr der kulturellen Oberschicht von der V.lektüre. Die V.er wurden nun als billige Massenware mit Meßrelationen, Flugschriften u. a. m. auch auf den Märkten im Wandervertrieb feilgehalten und unter das Volk gebracht, dem sie nun ganz gehören. Daß geringer Preis auch einfachste Ausstattung bedingen, ist eine notwendige Folge; Goethe erwähnt diese billigen Fabrikdrucke auf Löschpapier in seiner Lebensbeschreibung.

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§ 5 . Die T e x t - u n d W i r k u n g s g e s c h i c h te unserer älteren sog. V.er spiegelt auch die Zeitprobleme wie den sich wandelnden Lesergeschmack wider. So werden die Texte vielfach gekürzt und stilistisch entsprechend dem Zeitgeschmack überarbeitet und erneuert, ja sogar inhaltlich geändert. Das führte zu Um- und Mißdeutungen, hervorgerufen durch die schon früh einsetzende Kritik der Geistlichkeit an dem diesseitigen Gedankengut der V.er. Aber auch die Vertreter der Aufklärung, voran G o t t s c h e d , verachteten, ja verfolgten die V.er aus poetischen und volkserzieherischen Gründen als Schundliteratur. Für die Umformung von V.stoffen unter solchem Druck der Kritiker ist das Faustbuch eines Christlich-Meinenden beispielhaft, und die eigentliche Schöpfung neuer Texte erlischt seit Martin von Cochem allmählich ganz. Dennoch bleiben ein großer Teil der überlieferten V.er in ihrer Substanz unverändert lebendig bis in die Neuzeit; ihre Stoffe werden im Gegenteil dann mit der Entdeckung des Volkstümlichen in der Dichtung bei L e s s i n g und H e r d e r wie durch G o e t h e und die Romantiker aufgewertet und z. T. auch neu gestaltet. Sie werden zum Gegenstand literaturhistor. und poetischer Würdigungin A. W. S c h l e g e l s Berliner Vorlesungen und durch J . G ö r r e s (1807), der die V.er als eigene Gattung wie etwa das Volkslied zu umreißen sucht, die Texte sammelt und herausgibt. Ihm folgen bald andere wie Johann Gustav B ü s c h i n g und Friedrich Heinrich von der H a g e n mit der textgetreuen Neuausgabe von Feyerabends Buch der Liebe. Aber schon erschienen Neubearbeitungen wie die von Gotthold Oswald M a r b a c h (1838-67), Gustav S c h w a b (1836) und schließlich die umfangreiche Sammlung von Karl S i m r o c k (1845-67). Diese umfaßte von Salomon und Morolf, Gregorius und Eulenspiegel alles, was damals irgendwie greifbar und im Schwange war, bis hin zum Schwanenritter und dem Buch von den Sieben Schwaben. Dabei berücksichtigte Simrock, ähnlich wie Görres, auch anderes, z. T. Lehrhaftes wie das Deutsche Rätselbuch, Handwerksgewohnheiten der Büttner wie der Huf- und Waffenschmiedsgesellen, Sprichwortsammlungen, dt. Kinderreime und Volkslieder, nicht zu vergessen das Puppenspiel vom Doktor Faust. Den Einzelausgaben folgte eine Ausgabe in 13 Bänden, die neuerdings nachgedruckt wurde. Simrock versuchte auch nach seinem Kenntnisstand, möglichst die älteste

und vollständigste Textfassung in Hss. und Drucken seinen Angaben zugrundezulegen. Er bleibt so den Originalausgaben näher als später Richard B e n z mit seinen Erneuerungen. Die literar. Wirkung der V.er auf Trivialund Hochlit. setzt - wie bereits gesagt - vor allem in der Romantik, aber auch schon vorher ein. Während W i e l a n d noch seine AbderitenGeschichten an Stelle der alten Schwanksammlungen anbietet, interessierte sich L e s s i n g in positiver Weise für den Fauststoff, den dann G o e t h e , der sich auch mit anderen V.stoffen bereits befaßt hatte, zu einem dramatischen Werk der Weltliteratur umschuf. Inzwischen aber hatte Goethes Schwager Christian August V u l p i u s mit dem Räuberroman Rinaldo Rinaldini eine neue Gattung V. begründet, der sich bald Literaten wie Heinrich Daniel Z s c h o k k e u. a. anschlössen. Vom Bayerischen Hiesel bis zum Räuberhauptmann Schinderhannes, den im 20. Jh. Carl Z u c k m a y e r zum Dramenhelden macht, reicht hier das Angebot. Detektiv- und abenteuerliche Reiseromane (Karl May u. a.) sowie volkstümlich gestaltete Liebes- und Gesellschaftsromane ergänzen es. Hier wäre auch die große Volkstümlichkeit und Wirkung ausländischer Autoren in Deutschland wie D e f o e (Robinson Crusoe), C o o p e r (Lederstrumpf) oder Jules V e r n e mit seinen Zukunftsromanen zu nennen. Dabei wird deutlich, wie schwer es ist, die literaturhistorisch-ästhetischen Bewertungsgrenzen zur Trivialliteratur (s. d.) hin zu ziehen. So betrachtet die volkskundliche Forschung diese Lit. als für das Volk bestimmte Gebrauchslit., von der Funktion her als „volkslebenskundlichen Gegenstand" (K. V. Riedel), dem auch Erscheinungen wie Bilderbogen und Bänkelsang zugehören. Die alten V.stoffe erneuerte neben romant. DichternwieBrentano o d e r F o u q u e besonders L. T i e c k in freier dichterischer Phantasie (Melusine, Magelone, Oktavian, Fortunat, Genoveva) episch und auch dramatisch. Wie Goethe u. a. steht Tieck mit der Dramatisierung von V.stoffen in einer Volksschauspieltradition, die in ihren Stücken schon im 16., vor allem aber im 17. und 18. Jh. V.stoffe dramatisch verarbeitete, zumal solche des 15. und 16. Jh.s. Während sich, zumal im 20. Jh., die philologische und volkskundliche Forschung zunehmend in mehr oder weniger textgetreuen Ausgaben oder wiss. Betrachtungen des V.s an-

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nimmt, die es ästhetisch (R. Benz), als gesunkenes Kulturgut (Naumann) oder - vor allem seit Mackensen - als 'Buch für das Volk' zu definieren sucht, geraten die V.lesestoffe, soweit sie nicht zur Jugendlektüre werden, in der Mehrzahl in Vergessenheit, verdrängt von der Massenlit. unserer Tage, die ja nicht mehr nur durch das Medium Buch verbreitet wird. Immerhin konnte Thomas M a n n die Faustgestalt im Roman zu neuem Leben erwecken und in Beziehung zu den aktuellen Zeitereignissen setzen, wie es schon vor ihm Charles de C o s t e r mit der Ulenspiegelfigur tat, die er in seinem Volksepos mit dem vlämischen Freiheitskampf gegen Spanien verband und damit nochmals die Internationalität des V. s vom MA. bis zur Neuzeit aufscheinen läßt. Bibliographie: PaulHeitz u. Franz Josef Ritter, Versuch e. Zusammenstellung d. Dt. V.er d. 13. u. 16. Jh.s nebst deren späteren Ausgaben u. Lit. (Straßburg 1924). Rudolf Sehend a, Ital. Volkslesestoffe im 19. Jh. Einf. u. Bibliographie z. Sammlung ital. Volksbüchlein im Museo Pitré Palermo. Arch. f. Gesch. d. Buchwesens 7 (1965/67) Sp. 209-230. Ders., Kleinformen d. Trivialit. aus sechs Jh.en. Versuch e. imaginären Ausstellung mit zehn Schaukästen. Beiträge z. dt. Volks- u. Altertumskde 10 (1966) S. 49-66. Ders., Tausend franz. Volksbüchlein aus d. 19. Jh. Versuch e. bibliograph. Auswahl. Arch. f. Gesch. d. Buchwesens 9 (1967/69) Sp. 779-952. Ders., Die Bibliothèque Bleue im 19. Jh., in: Heinz Otto Burger (Hg.), Studien z. Triviallit. (1968; 2. Aufl. 1976; Studienz. Philosophie u. Lit. d. 19. J h . s l ) S . 137-153. Ders., Tausend dt. populäre Drucke aus d. 19. Jh. Arch. f. Gesch. d. Buchwesens 11 (1970/71) Sp. 1465-1652. - Alois B r a n d s t e t t e r , Zur Edition gedruckt iiberl. Prosaromane u. V.er, in: Kolloquium über Probleme altgerm. Editionen. Hg. v. Hugo Kuhn u. a. (1968; Forschungsberichte 13) S. 97-105. Sammlungen u. wichtige Einzelausgaben: Heinrich August Ottokar Reichard (Hg.), Bibliothek d. Romane. 21 Bde. (Berlin, ab 1782 Riga, 1778-1794). Ders., Olla potrida. 17 Bde. (17781797). Ders., Buch der Liebe. Innhaltendt herrliche, schöne Historien, allerley alten u. newen Exempel; züchtigen Frauwen u. Jungfrauwen, auch jedermann in gemein, zu lesen lieblich u. kurzweilig (1796). Johann Gustav Büsching u. Friedrich Heinrich von der Hagen (Hg.), Buch der Liebe, 1. ( = einziger) Bd. (1809). Ludwig A u r b a c h e r , Ein Volksbüchlein. T. 1. Enthaltend: Die Geschichte d. ewigen Juden, d. Abenteuer d. sieben Schwaben, nebst vielen and. erbaul. u. ergötzl. Historien. Probeblätter f. Volksfreunde. T. 2 (auch u. d. T.: Emst u. Scherz. E. Sammlung

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verm. Erzählungen). Enthaltend: Die Legende von St. Christoph, Faustus, die Wanderungen d. Spiegelschwaben, nebst vielen andern erbaul. u. ergötzl. Historien. Ausg. f. Volksfreunde (182729; 2., verm. u. verb. Ausg. 1835-39). Gustav Schwab, Buch d. schönsten Geschichten u. Sagen. Für Alt u. Jung wiedererzählt. 2 Bde (183637), u. d. T.: Dt. Volksbücher sehr oft neugedr.; Neudr. d. Ausg. v. 1859: 3 Bde (1978). V.er, hg. v. Gotthold Oswald Marbach u. (ab Nr. 37) v. Oscar Ludwig Bernhard W o l f f, Nr. 153 (1838-1849). Karl Simrock (Hg.), Dt. V.er. Nach d. ältesten Ausgaben hergest. I. II. (18391866). Ders., Die dt. V.er. Gesammelt u. in ihrer ursprüngl. Echtheit wiederhergest. 13 Bde. (18451867; Neudr. 1876, 1975). Ders. (Hg.), Loher u. Maller. Ritterroman. Erneuert. (1868). Ders., Schimpf u. Emst nach Johannes Pauli. Als Zugabe zu d. V.ern erneut u. ausgew. (1876). Zum Inhalt d. Simrockschen Sammlungen vgl. H. Moser, a. a. O. Felix B o b e r t a g (Hg.), V.erd. 16.Jh.s. Eulenspiegel, Faust, Schildbürger (1887; Dt. National-Litteratur 25). Richard B e n z (Hg.), Die dt. V.er. Die sieben weisen Meister, Historia von D. Johann Fausten, Tristan u. Isalde, Till Eulenspiegel, Fortunatus, Eusebius (1911-1924; Neudr. 1956 u. 1979). Peter Jerusalem (Hg.), Dt. V.er, nach d. frühest. Drucken. Die schöne Magelone, Die Schildbürger, Fortunatus, Doktor Faust, Melusine (1912). Heinz Kindermann (Hg.), V.er vom sterbenden Rittertum. Trojas Zerstörung, HugSchapler, Pontusu. Sidonia, Olivieru. Artus, Die Haimonskinder (1928; Dt. Lit., R. Volks- u. Schwankbücher 1). Franz Podleiszek (Hg.), Anfänge d. bürgert. Prosaromans in Deutschland. Fortunatus, Der Jungen Knaben Spiegel, Von Guten u. Bösen Nachbarn (1933; Dt. Lit., R. Volksu. Schwankbücher 7). Ders. (Hg.), V.ervon Weltweite u. Abenteuerlust. St. Brandan, aus Hartliebs Alexanderbuch, Lucidarius, aus d. Wagnerbuch, Wilhelm von Osterreich (1936; Dt. Lit., R. Volksu. Schwankbücher 2). Severin Rüttgers (Hg.), Dt. V.er. Der hörnern Siegfried, Die vier Haimonskinder, Herzog Emst, Wigoleis vom Rade, Kaiser Friedrich Barbarossa, Die schöne Melusine, Die geduldige Griseldis, Die schöne Magelone, Hirlanda, Fortunat, Ulenspiegel, Die Schildbürger, Doktor Faustus (1935). Karl Otto Conrady (Hg.), Dt. Ver. (1968; Rowohlts Klassiker d. Lit. u. d. Wiss. Dt. Lit. 24. Texte dt. Lit. 1500-1800. 510/511). - In d. von Wilhelm Braune begr. Reihe Neudrucke dt. Lit.werke d. 16. u. 17. Jh.s erschienen d. V.er: Nr. 7/8: Historie von D.Johann Fausten (1587), (1878; 2. Aufl. 1912). Nr. 240/41: Fortunatus (1509). Hg. v. Hans G ü n t h e r (1914; 2. Aufl. 1967). Nr. 236/39: Das Laiebuch (1597) m. d. Abweichungen u. Erweiterungen d. Schiltbürger (1598) u. d. Grillenvertreibers (1603). Hg. v. Karl v. Bahder (1914). Nr. 55/56: Till Eulenspie-

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gel (1515). Hg. v. Hermann K n u s t (1884). (Ein 1975 in Hamburg von d. Historiker Ulrich Hukker ersteigerter Druck wird auf 1510/11 datiert.) Nr. 33: Hans Ciawerts Werckliche Historien von Bartholomäus K r ü g e r (1587). Hg. v. Theob. Raehse (1882). Nr. 81/82: Das Lied vom hürnen Seyfrid nach d. Druckredaktion d. 16. Jh.s m. e. Anhang: Das Volksbuch vom gehörnten Siegfried (1726). Hg. v. Wolfgang G o l t h e r (1889; 2. Aufl. 1911). - An solche Originaleditionen knüpft auch d. in Hildesheim zwanglos erscheinende Reihe Deutsche Volksbücher in Faksimile drucken (hg. v. Ludwig Erich Schmitt u. Renate N o l l - W i e mann) an. Wichtige Einzelausgaben sind noch (neben den Schwankbüchern, welche betr. Reallex.-Artikel Schwank nennt): Die schöne Magelone, nach d. Orig. Hs. aus d. Franz. übers, v. Veit Warbeck 1527. Hg. v. Johannes B o l t e (1894). Die schöne Magelone. Älteste dt. Bearb. nach d. Hs. d. Preuß. Staatsbibl. (germ. 4° 1579) m. Anm. u. überlieferungsgeschichtl., literar. u. kunsthistor. Exkursen. Hg. v. Hermann D e g e r i n g (1922). Das V. von Doctor Faust. Hg. v. Wilhelm Braune (1878). Das älteste Faust-Buch. Historia von D. Johann Fausten. Hg. v. Wilhelm S c h e r e r (1884; Dt. Drucke aus älterer Zeit 2). Das V. vom Doktor Faust. Nach d. um d. Erfurter Geschichten vermehrt. Fassung. Hg. v. Joseph F r i t z (1914). Das Faustbuch nach d. Wolfenbüttler Hs. Hg. v. Harry G. H a i l e (1963). Doctor Fausti Weheklag. Die V.er von D. Johann Faust u. Christoph Wagner. Nach d. Erstdrucken neu bearb. u. eingel. v. Helmut W i e m k e n (1961; SammlDieterich 186). Bruder Rausch (Broder Rusch). Hg. v. Robert P r i e b s c h (1919; Zwickauer Faks.drucke 28). Daneben erschien e. Anzahl sog. V.er in Reclams Universalbibliothek, meist nach d. Originalausg. Schließlich seien hier noch die beiden jüngsten Sammlungen genannt: Dt. V.er. Ausgew. u. eingel. v. Peter Suchsland. Textrev. v. Erika Weber. Bd. 1: Fortunatus, Die schöne Magelone, Historie v. d. gehörnten Siegfried. Bd. 2: Tyl Ulenspiegel, Hans Gauerts werkliche Historien, Das Laiebuch. Bd. 3: Historia von Doktor Fausten. Histori von d. vier Heymonskindern (1968; Bibl. dt. Klassiker). Dt. Schwanke. Hg. v. LeanderPetz o l d t (1979) mit e. Komm, zu verschiedenen V.ern u. e. den Reallex.-Artikel Schwank gelegentlich erg. Lit.verz. Ergänzend sei hingewiesen auf d. Neudr.: Dt. V.er. Aus e. Zürcher Hs. d. 15. Jh.s. Hg. v. Albert B a c h m a n n u. Samuel Singer (1889; Nachdr. 1973; BiblLitV. 185) und ferner auf die in der Reihe Quellen Dt. Volkskunde erschienenen Schallplattenbücher aus dem Volkskunde-Tonarchiv Freiburg/Br. des Inst. f. ostdt. Volkskunde: Schwanke aus mündl. Überlieferung. Authent. Tonaufnahmen 1952-1970 von Johannes K ü n z i g u. Waltraud W e r n e r mit e.

Komm. v. Hannjost L i x f e l d (1973) und Volkslesestoff in mündl. Überlieferung. Tonaufnahmen 1959-1966 mit e. Komm. v. Leander P e t z o l d t (1977). Allgemeine Lit. zur Epoche: Konrad Burdach, Dt. Renaissance. Betrachtungen über unsere künftige Bildung (2., verm. Aufl. 1918). Archer T a y l o r , Problems in German Literary History of the 15th and 16th Centuries (New York 1939; The Mod. Lang. Ass. of America, General Ser. 8). Wolfgang S t a m m l e r , Von d. Mystik zum Barock. 1400-1600 (1927; 2., durchges. u. erw. Aufl. 1950; Epochen d. dt. Lit. 2, 1). Ders., Mal. Prosa in dt. Sprache. StammlerAufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1960) Sp. 749-1102. Robert M a n d r o u , De la culture populaire aux XVIIe et XVIIIe siècles (Paris 1964; La bibliothèque bleue de Troyes). Heinz Otto B u r g e r , Renaissance - Humanismus - Reformation. Dt. Lit. im europ. Kontext (1969; Frankf. Beitr. z. Germanistik 7). Hans Ruppr i c h , Die dt. Lit. vom späten MA. bis zum Barock. T. 1 : Das ausgehende MA., Humanismus u. Renaissance. 1370-1520 (1970), T. 2: Das Zeitalter d. Reformation (1973; de Boor-Newald 4,1.2). Rich. N e w a l d , Humanismus u. Reformation, in: Annalen d. dt. Lit. Hg. v. Heinz Otto Burger (2., Überarb. Aufl. 1971) S. 288-338. Hans G e r d R ö t z e r , Der Romand. Barock. 1600-1700. Kommentar zu e. Epoche (1972). Ingeborg Spriewald, Hildegard S c h n a b e l , Werner L e n k u. Heinz E n t n e r , Grundpositionen d. dt. Lit. im 16. Jh. (1972). Anfänge d. dt. Prosaromans: Clemens Lug o w s k i , Die Form d. Individualität im Roman. Studien z. inneren Struktur d. frühen dt. Prosaerzählung (1932; Neue Fschgn. 14). Dieter R o t h , Dargestellte Wirklichkeit im frnhd. Prosaroman. Die Natur u. ihre Verwendung im epischen Gefüge. (Masch.) Diss. Göttingen 1959. Alois Brands t e t t e r , Prosaauflösung. Studien z. Rezeption d. höf. Epik im frnhd. Prosaroman (1971). Norbert T h o m a s , Handlungsstruktur u. dominante Motivik im dt. Prosaroman d. 15. u. frühen 16. Jh.s (1971; Erlanger Beitr. z. Sprach- u. Kunstwiss. 37). Ingeborg S p r i e w a l d , Vom 'Eulenspiegel' zum 'Simplicissimus'. Zur Genesis d. Realismus in d. Anfängen d. dt. Prosaerzählung (1974). - Wolfgang L i e p e , Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. in Entstehung u. Anfänge d. Prosaromans Deutschland (1920). Wilh. S c h e r e r , Die Anfänge d. dt. Prosaromans u. Jörg Wickram von Colmar. E. Kritik (Straßburg 1877; QuF. 21). M. W a l l e r , Wickrams Romane in ihrer künstler. Entwicklung unter bes. Berücks. d. Briefe. ZfdP. 64 (1939) S. 120. - Denes M o n o s t o r y , Der 'Decamerone' u. d. dt. Prosa d. 16. Jh.s (Den Haag 1971 ; Studies in German Lit. 16). Zur Volkskunde: Hans N a u m a n n , Grundzüge d. dt. Volkskunde (1922; 2. Aufl. 1929; Wiss. u.

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Volksbuch — Volkskunde und Literatur

schwanke im 13. Jh. Ansätze z. Typenbildung in d. Tradition d. 'Reinhart Fuchs'? In: Werk, Typ, Situation. Studien zu poetolog. Bedingungen in d. älteren dt. Lit. Hg. v. Ingeborg Glier u. a. (1969) S. 99-117. L. O k e n , 'Reinkede Vos'u. d. Herren Lühecks. Niederdt. Wort 11 (1971) S. 7-24. Ernst J e e p , Hans Friedr. v. Schönberg, d. Verf. d. 'Schildbürgerbuches' u. d. ' Grillenvertreibers'. E. literar. Unters, überd. 'Schildbürgerbuch' u. s. Fortsetzungen (1890). Ders., Hans Friedr. v. Schönberg. ADB. 34 (1892) S. 733-734. E. Straßner, Schildbürgerorte in Franken. Bayer. Jb. f. Volkskde 1966/67, S. 155-171. - Karin Schneider, Der 'Trojanische Krieg' im späten MA. Dt. Trojaromane d. 15. Jh.s (1968; Philog. Studien u. Quellen 40). - Krishna Murari Sharma, Vom Versepos zum Prosaroman. Studien z. Prosaroman 'Wilhelm von Österreich'. Diss. München 1969. Veronika Straub, Entstehung u. Entwicklung d. frnhd. Prosaromans. Studien z. Prosaauflösung 'Wilhelm von Österreich' (Amsterdam 1974; Amsterdamer Publ. z. Sprache u. Lit. 16). Einzelne Aspekte: Wieland Schmidt, Zur dt. Erbauungslit. d. späten MA.s, in: Schmidt, Kleine Schriften (1969) S. 198-215 (zuerst u. d. T.: Christus u. d. sieben Laden, in: Festschrift Eugen Stollreiter, 1950, S. 261-284). -Rieh. Benz, Märchen u. Aufklärung im 18. Jh. s. E. Vorgesch. z. Märchendichtung d. Romantiker. Diss. Heidelberg 1907, vollst, u. d. T.: Märchendichtung d. Romantiker. Mit e. Vorgeschichte. (1908). - Hanna A i c h e r , Das religiöse Problem in d. V.ern. Diss. Erlangen 1952. S. P. Puknat, ReligiousFormsandFaith in the V., in: In Honorem L. M. Price (Berkeley 1952; Univ. of Calif. Publ. in Modern Phil. 36,11) S. 4 1 3 - 4 2 8 . - C a r l M ü l l e r - F r a u r e u t h , Die Ritter- u. Räuberromane (1894). Leopold Kretzenbacher, Teufelsbündner u. Faustgestalten im Abendlande (Klagenfurt 1968; Buchr. d. Landesmuseums f. Kärnten 23). Helmut M e l z e r , Trivialisierungstendenzen im V. E. Vergleich d. V. er 'Tristant u. Isalde', 'Wigoleis' u. 'Wilhelm von Österreich' mit d. mhd. Epen (1972; Dt. V.er in Faks.drucken B,3). Zur Rezeptionsgeschichte: Hans Mayer, Lit.wiss. in Deutschland, in: Literatur II, 1. Hg. v. Wolf-Hartmut Friedrich u. Walter Killy (1973; Das Fischer-Lexikon 35,1) S. 317-333. Hans Joachim K r e u t z e r , Der Mythos vom V. Studienz. Wirkungsgesch. d. frühen dt. Romans seit d. Romantik (1977). - Joseph G ö r r e s , Die teutschen V.er. Nähere Würdigung d. schönen Historien-, Wetter- u. Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall Jh.e hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat (1807), in: Görres, Gesammelte Schriften. Bd. 3, hg. v. Günther Müller (1926); vgl. auch: Heidelberg. Jbb. 1,11 (= 5. Abt., H. 3) S. 409-427. Ders., Die teutschen V.er. Mit e. Nachw. hg. v. Lutz Mackensen (1925; Kl.

volkskundl. Bücherei 2). Rez. d. Ausg. v. 1807 v. Bernhard Joseph D o c e n , in: Jenaische Allgem. Literaturzeitung Nr. 108-110 (10.-12. Mai 1810). Gustav-Adolf B r a n t , Herder u. Görres. 17981807. E. Beitr. z. Frage Herder u. d. Romantik. Diss. Berlin 1939. - Friedr. Heinrich v. d. Hagen, Beitrag z. Gesch. u. Lit. d. Dt. V.er. Museum f. Altdt. Lit. u. Kunst 1 (1809) S. 238-311. Bernh. Steiner, Ludwig Tieck u. d. V.er. E. Beitr. z. Gesch. d. älteren romant. Schule (1893). Karl-Josef Arnold, Aufnahme u. Gestaltung d. V.erbeid. Schwab. Dichtern. (Masch.)Diss. Wien 1956.- Hugo M o s e r , Karl Simrock als Erneuerer mhd. Dichtung. Bemerkungen zu s. Verfahren. PBB 94, Sonderh.: Festschr. f. Hans Eggers (1972) S. 458-483. Ders., Zu Simrocks Erneuerung dt. V.er, in: Festschr. Matthias Zender. Studien zu Volkskultur, Sprache u. Landesgesch., hg. v. Edith Ennen u. Günter Wiegelmann. Bd. 2 (1972) S. 910-927. - Friedrich Engels, Die dt. V.er, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, hg. v. Inst. f. Marxismus-Leninismus beim ZK d. SED. Erg.Bd.,T. 2 (1967) S. 13-21. Günther V o i g t , Friedr. Engels u. d. dt. V.er. Dt. Jb. f. Volkskunde 1 (1955) S. 65-108. Vera Machäckovä, Der junge Engels u. d. dt. V.er. Germanistica Pragensia 1 (1960) S. 13-35. Dies., Der junge Engels u. d. Lit., 1838-1844 {1961).-J. Matl, Dt. V.er bei d. Slawen. GRM. 36 (1955) S. 193-212. A. Paucker, Das dt. V. bei d. Juden. ZfdPh. 80 (1961) S. 302317. Walter Eckehart

Spengler

Volkskunde und Literatur § 1. D e f i n i t i o n , Wissenschaftsges c h i c h t e , P r o b l e m s t e l l u n g e n und Aufg a b e n d e r V o l k s k u n d e . Der Begriff .Volkskunde' (V.) erscheint erstmals 1787 im Zusammenhang mit den philanthropischen Staatslehren der Aufklärung. Als Bezeichnung für einen Wissensbereich setzt sich das Wort in Deutschland erst in der 2. H . des 19. Jh.s durch gegenüber dem von W. J. Thoms 1846 geprägten engeren Begriff ,Folklore', der zudem auch doppeldeutig ist, da er sowohl die Wissenschaft selbst als auch deren Gegenstand meint. Doch hat sich ,Folklore' im ags. und roman. Sprachbereich sowie in Osteuropa eingebürgert. Obwohl die systematische Beschäftigung mit ,Land und Leuten' bereits auf das Zeitalter des Humanismus zurückgeht, wird ,Volkskunde' erst etwa seit der Jh.wende ein akademisches Fach an dt.sprachigen Universitäten. Lange

Volkskunde und Literatur Zeit ist Volkskunde als nur wenig reflektierter Oberbegriff für die Beschäftigung mit einer Reihe von Phänomenen aufgefaßt worden, die mit dem Substantiv Volk ein Kompositum bilden können, wie Volksglaube, Volksbrauch, Volksfeste, Volkserzählung, Volkslied (s. d.), Volksschauspiel (s. d.), Volksfrömmigkeit, Volkskunst, Volksmedizin, Volkstänze, Volkstracht etc. Nach ihrem heutigen S e l b s t v e r s t ä n d n i s ist V. ein kultur- und sozialwiss. Fach. Sie befaßt sich mit den geistigen und materiellen Erscheinungen ethnischer und sozialer Gruppen und untersucht sie nach Geschichte, Struktur und Funktion. Nach einer Ubereinkunft von Fachvertretern aus dem Jahre 1970, der sog. Falkenstein-Formel, analysiert V. die Vermittlung (die sie bedingenden Ursachen und die sie begleitenden Prozesse) von kulturalen Werten in Objektivationen und Subjektivationen. Obwohl V. zunächst von der Erforschung soziokulturaler Zusammenhänge des eigenen Sprachgebietes ausgeht, beobachtet sie diese nicht isoliert, sondern vergleichend, indem sie sich über Sprach- und Völkergrenzen hinweg orientiert. Gegenüber der Völkerkunde (Ethnologie) befaßt sich V. vornehmlich mit den Lebensformen der europäischen Völker mit ihrem komplizierten Wechselverhältnis von Ober- und Unterschichten, Individual- und Kollektivkultur sowie ihren differenzierten regionalen oder auch altersspezifischen Gruppierungen. Der - freilich immer wieder in Frage gestellte - .Kanon' volkskundl. T e i l g e b i e t e umfaßt in seiner heutigen erweiterten Form: 1. S p r a c h l i c h e Überlieferung: Volkssprache, Mundart, eigentliche ,Folklore', d.h. Volkserzählungen wie Märchen, Sage, Legende, Schwank, Witz, Volksschauspiel; Kleinformen wie Sprichwort, Redensart, Spruch, Rätsel; nichtverbale Kommunikation (Gebärdensprache, body language). 2. Beziehungen zur M u s i k : Volksmusik, Volkslied und -tanz. 3. S i t t e und B r a u c h (gegliedert zumeist nach Jahres- und Lebenslaufbräuchen). 4. S a c h g ü t e r : Volkskunst, Trachten, Schmuck, Gebrauchskeramik, Möbel und Hausgerät, Haus und Siedlung, Wohnen, Nahrung; den Zusammenhang von Wörtern und Sachen. 5. T r i v i a l l i t e r a t u r und T r i v i a l b i l d e r (Wandschmuck), Massengraphik, Literatur-

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und Kunstpopularisierung sowie andere Popularisierungstendenzen. 6. Im s o z i a l e n und r e l i g i ö s e n Bereich: Rechtliche Volkskunde, Volksglaube und Magie, Volksfrömmigkeit, Volksmedizin; Gemeinde- und Vereinsstudien; Großstadtvolkskunde, Subkulturen. 7. Folklorismuserscheinungen (Folklore aus 2. oder 3. Hand) insbes. Phänomene der modernen Kulturindustrie, des Tourismus, der Werbung etc. 8. I n t e r e t h n i k , E n k u l t u r a t i o n s - und Akkulturationserscheinungen. Wegen der Fülle der Einzelgebiete hat man V. auch als , I n t e g r a t i o n s w i s s e n s c h a f t ' zwischen vielerlei anderen Disziplinen bezeichnet (R. Braun). Mit der fortschreitenden Spezialisierung der Fächer haben sich innerhalb der V. selbst gewisse Sonderwissenschaften herausgebildet, wie z.B. die Erzählforschung, die Volksliedforschung, die Erforschung der musealen Bestände, die Agrarethnographie und die Hausforschung. In nahezu allen europäischen Ländern wird an Volkskundeatlanten gearbeitet. Die Vielzahl volkskundlicher Forschungsgebiete macht interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fächern unumgänglich. Mit ihren zahlreichen Einzelgebieten und einer großen Verschiedenartigkeit ihrer Forschungsgegenstände und Methoden versteht sich V. als breit angelegte K u l t u r w i s s e n s c h a f t . ,Kultur' ist dabei nicht ausschließlich an elitäre Werte gekoppelt; untersucht werden vielmehr vor allem Kultur und Lebensweise unterer Sozialschichten. Ein zentrales Anliegen volkskundlicher Forschung ist es, die vielschichtigen Wege von kulturellen Vermittlungsprozessen in ihren hist. wie sozialen Dimensionen zu analysieren. Lange Zeit stand die Traditions-, Kontinuitäts- und Reliktforschung im Vordergrund volkskundl. Forschungsinteressen. Noch 1948 definierte Leopold Schmidt die V. als Wissenschaft vom , Leben in überlieferten Ordnungen'. In der Gegenwart steht weit mehr die Beobachtung von Innovations- und Diffusionsprozessen, von Tradition und Wandel im Vordergrund. Immer geht es der V. darum, nicht nur Objektivationen wie Märchen und Lied, Trachten, Möbel usw. zu betrachten, sondern den Menschen, der sie tradiert, herstellt und benutzt etc., den Erzähler, den Sänger, den Handwerker oder Arbeiter.

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Volkskunde und Literatur

Die B e n e n n u n g des Faches an den dt. U n i v e r s i t ä t e n ist nicht einheitlich u n d m a c h t auf recht unterschiedliche u n d divergierende A u f fassungen des Faches a u f m e r k s a m . Ein Teil der Fachvertreter bevorzugt statt , V o l k s k u n d e ' Fachbezeichnungen w i e , K u l t u r a n t h r o p o l o gie', ,Empirische Kulturwissenschaft', .Europäische Ethnologie' oder .Ethnosoziologie'. Im Zuge der N e u g l i e d e r u n g der universitären Fachbereiche sind Institute f ü r V . deshalb verschiedenen Fachbereichen z u g e o r d n e t w o r d e n , den Sozialwissenschaften, den K u l t u r - u n d A l tertumswissenschaften oder - seltener - den Philologien. §2. Einführungen, Grundrisse, Lehrbücher, Gesamtdarstellungen. Volkskundl. Bibliographie (1917ff., 1948: Internationale volkskundl. Bibliographie). Adolf S p a m e r (Hg.), Die dt. Volksk. 2 Bde (2. Aufl. 1935). Wilhelm P e s s l e r (Hg.), Handbuch d. dt. Volksk. 3 Bde (1934-38). Richard B e i t l (Hg.), Wörterbuch d. dt. Volksk. (1936; 4. Aufl. 1981). Richard W e i s s , Volksk. d. Schweiz. Grundriss. (Erlenbach-Zürich 1946; 2 Aufl. 1978). Fritz Willy S c h u l z e , Folklore. Zur Ableitung d. Vorgesch. e. Wiss.bezeichnung (1949; Hallische Monographien 10). Gerhard L u t z (Hg.), Volksk. Ein Handbuch z. Gesch. ihrer Probleme (1958). Bruno S c h i e r , Zur Stellung d. Volksk. im Wiss.gefüge uns. Zeit. ZfVk. 55 (1959) S. 1-10. Adolf B a c h , Dt. Volksk. (3. Aufl. 1960). Alan D u n d e s , The Study of Folklore (Englewood Cliffs/N.J. 1965). Hermann B a u s i n g e r u. Wolfgang B r ü c k n e r (Hg.), Kontinuität? Geschichtlichkeit u. Dauer als volkskundl. Problem (1969). Otakar N a h o d i l , Menschl. Kultur u. Tradition. Kulturanthropolog. Orientierungen (1971; Der Christ in d. Welt 1,4 a/ b). Wolfgang B r ü c k n e r (Hg.), Falkensteiner Protokolle (1971). Hermann B a u s i n g e r , Volkskunde. Von d. Altertumsfschg. zur Kulturanalyse (1971). Sigfrid S v e n n s o n , Einführung in d. Europ. Ethnologie (1973). Günter W i e g e l m a n n , Matthias Z e n d e r u. Gerhard H e i l f u r t h , Volkskunde. E. Einf. (1977; Gründl. Germ. 12). Ina Maria G r e v e r u s , Kultur u. Alltagswelt (1978). Hermann B a u s i n g e r , Utz J e g g l e , Gottfried K o r f f u. Martin S c h a r f e , Grundzüge d. Volksk. (1978). Helge G e r n d t , Kulturals Forschungsfeld. Über volkskundl. Denken u. Arbeiten (1981). § 3. D e u t s c h s p r a c h i g e (in A u s w a h l ) .

Zeitschriften

Zeitschrift für Volkskunde (1891 ff.); 18601890: Zs. f . Völkerpsychologie u. Sprachwiss.; 1891-1928: Zs. d. Vereins f . Volksk.-, 1929ff.:

ZfVk. — österreichische Zeitschrift für Volkskunde (m5ii.)-, 1895-1944: Zs. f . Österreich. Volksk.-, 1947ff. : Österreich. Zs. f . Volksk. —Schweizerisches Archiv für Volkskunde (1897ff.). — Hessische Blätter für Volkskunde (1902ff.); 1902-1974: Hess. Blätter f . Volksk.-, 1975/1976 ff.: Hess. Blätter f . Volks- u. Kulturfschg. — Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1903 ff.); 1903-1911: Volkskunst u. Volksk.-, 1912-1936: Bayer. Heimatschutz-, 1937-1938: Jb. d. Bayer. Landesvereins f. Heimatschutz-, 1950ff.: Bayer. Jb. f . Volksk. — Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde (1904ff.); 1904-1933: Zs. d. Vereins f . rhein. u. westf. Volksk. ; 1934-1936: Westdt. Zs.f. Volksk.-, 1954ff. : Rhein.-Westf. Zs. f . Volksk. — Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde (1923-1943). — Jahrbuch für Volksliedforschung (1928ff.). — Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde (1950 ff.). — Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde (1954-1972/73). — Deutsches Jahrbuch für Volkskunde (1955ff.); 1955-1969: Dt. Jb. f . Volksk. -, 1973 ff. : Jb. f . Volksk. u. Kulturgesch. — Fabula. Zs. f . Erzählfschg. (1958ff.). — Demos. Volkskundl. Informationen (1960ff.). — E t h n o l o gia Europaea (1967ff.). — J a h r b u c h für Volkskunde (1978 ff.). §4. Lit.wiss. Methoden und Aspekt e i n d e r V . A u c h w e n n sich das Fach , V . ' heute w e i t g e h e n d als J e n s e i t s der Philologien' (K. S. K r a m e r ) angesiedelt betrachtet u n d sich z u n e h m e n d als ,Sozialwissenschaft' versteht, so ist es doch historisch aus der G e r m a n i s t i k hervorgegangen u n d in vielen seiner Teilgebiete, insbes. dort, w o es sich u m Texte u n d sprachliche K o m m u n i k a t i o n handelt, aufs engste mit der L i t . w i s s . v e r b u n d e n . V o r allem sind v o l k s k u n d l . Erzähl- u n d L i e d f o r s c h u n g N a c h bardisziplinen der Lit.geschichte. D e n n o c h w e i c h e n die methodischen A n s ä t z e oftmals stark voneinander ab. Dies liegt in der N a t u r der zugrundeliegenden Gegenstände. ,Hochliteratur' (Individualliteratur, Kunstliteratur, art literature) u n d . V o l k s l i t e r a t u r ' (Littérature populaire, Folklore, O r a l e Literatur) sind Gegenbegriffe. Im U n t e r s c h i e d z u r L i t . w i s s . beschäftigt sich V . v o r z u g s w e i s e nicht mit einmaligen, individuellen u n d h e r a u s ragenden H e r v o r b r i n g u n g e n innerhalb einer gebildeten Oberschicht, sondern mit der mündlichen Uberlieferung einfacher Leute aus den sog. Unterschichten, mit d e m m e h r oder w e n i g e r k o l l e k t i v e n Bestand erzählter oder gesungener D i c h t u n g , die der V a riantenbildung, Zersingungs- u n d Zersagungsprozessen u n t e r w o r f e n ist. F o l k l o r e hat eine

Volkskunde und Literatur andere Form der Kommunikation als Literatur: Während die literar. Kommunikation mittels eines Mediums erfolgt, eines einmaligen fixierten Textes, ist der Kommunikationsakt in der Folklore schriftlos, direkt und mündlich. Volksdichtung existiert darum in V a r i a n t e n , d. h. in immer neuen Umgestaltungen und Anpassungen. Dem berufsmäßigen Dichter der Lit. steht im Bereich der Volkskultur der Laienerzähler und -sänger gegenüber. Da sich jeder dieses Kollektivgut aneignen kann, gibt es kein Urheberrecht. Auch die Frage nach der Ästhetik — ,Kunstwerk oder nicht?' — wird im volkskundl. Zusammenhang weniger gestellt. Folklore ist niemals nur l'art pour l'art. Jeder Darbietungsakt der Volksdichtung hat aber eine alltägliche Jedermannsfunktion oder auch mehrere, sei es eine unterhaltende, eine didaktisch-moralisierende, eine erklärende, eine die Angst bezwingende, eine sozialkritische usw. Bei jeder einzelnen Performanz gibt es u. U. ein ganzes System von Funktionen, psychomentale, didaktische, religiöse, soziale etc. Zum Bereich der V o l k s d i c h t u n g gehören u. a.: Volkslieder, Märchen, Sagen, Legenden, Schwänke, Witze, Sprichwörter, Sprüche. V. hat dabei eine eigene Poetik der mündlichen Genres entwickelt. P. B o g a t y r i e v u. Roman J a k o b s o n , Die Folklore als bes. Form d. Schaffens, in: Donum Natalicium Schrijnen (Nijmwegen-Utrecht 1929) S. 900-913. Roger D . A b r a h a m s , Genre Tbeory and Folkloristics. Studia Fennica 20 (1976) S. 1319. Hugo K u h n , Zur Typologie mündl. Sprachdenkmäler (1960; SBAkMünch. Phil.-hist.Kl. 1960, 5). Ingeborg W e b e r - K e l l e r m a n n , Di. V. zwischen Germanistik u. Sozialwiss. (1969; SammlMetzler 79). Rolf W. B r e d n i c h , Lutz R ö h r i c h u. Wolfgang S u p p a n (Hg.), Handbuch d. Volksliedes. 2 Bde (1973-75). Max L ü t h i , Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik u. Anthropologie (1975). Lutz R ö h r i c h , Sage (2. Aufl. 1971; SammlMetzler 55). Hermann B a u s i n g e r u . E l f r i e d e M o s e r - R a t h ( H g . ) , Direkte Kommunikation u. Massenkommunikation (1976). Lutz R ö h r i c h , Sage u. Märchen. Erzählfschg. heute (1976). Ders. u. Wolfgang M i e d e r , Sprichwort (1977; SammlMetzler 154). Max L ü t h i , Märchen (7. Aufl. 1979; SammlMetzler 16). Hermann S t r o b a c h (Hg.). Dt. Volksdichtung (1979). Hermann B a u s i n g e r , Formen d. 'Volkspoesie' (2. Aufl. 1980; GrundlGerm. 6). Maja B o s k o v i c S t u l l i (Hg.), Folklore u. mündl. Kommunikation (Zagreb 1981; Sonderh. Narodna Umjetnost). D a n B e n - A m o s , Folklore Genres (Austin 1981).

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Die lit.wiss. orientierte volkskundl. Erz ä h l f o r s c h u n g - vertreten durch Forscher wie A. Olrik, A. Jolles, V. J . Propp und insbes. Max Lüthi - hat sich ein tragfähiges terminologisches Gerüst zur Stil- und Strukturbeschreibung von Volksdichtungstexten geschaffen. Kompositionsprinzipien, sog. ,Epische Gesetze' (wie z. B. das Gesetz des Gegensatzes, der Dreizahl, Wiederholung, Zweiteiligkeit, des Achter- und Topgewichts, der Einsträngigkeit, der szenischen Zweiheit, der Konzentration auf eine Hauptperson), sich gegenseitig bedingende Strukturschablonen (wie Mangel/Behebung, Aufgabe/Lösung, Verbot/Übertretung/ Folge, Auszug/Heimkehr, Verwandlung/Erlösung), Stilmerkmale (wie Formelhaftigkeit, Eindimensionalität, Abstraktheit, Neigung zum Paradox etc.) gehören mittlerweile zum festen Begriffsinstrumentarium volkskundlichlit.wiss. Arbeitsweise. Axel O l r i k , Gesetze d. Volksdichtung. ZfdA. 51 (1909) S. 1-12. Andre J o l l e s , Einfache Formen (1930; 5. Aufl. 1974). Walther A. B e r e n d s o h n , Grundformen volkstüml. Erzählerkunst in d. Kinder- u. Hausmärchen d. Brüder Grimm. E. stilkrit. Versuch. (2. Aufl. 1968). Vladimir Jakovlevic P r o p p , Transformacii volsebnych skazok. Poetika 6 (Leningrad 1928) S. 70-89 und: Morfologija skazki (Moskva 1969), dt. Ubers, v. Christel Wendt u. d. T . : Morphologie d. Märchens mit e. Nachw. v. Karl Eimermacher (1972). Alan D u n des, The Morphology of North American Folktales (1964; F F C . 195). Pierre M a r a n d a and Elli Köngäs M a r a n d a (Ed.), Structural Analysis of Oral Tradition (Philadelphia 1971). Max L ü t h i , Das europäische Volksmärchen (1947; 4. Aufl. 1974). H e d a j a s o n , Ethnopoetry. Form, Content, Function (1977). Kurt R a n k e , Eingangsformeln, in: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 3 (1979ff.) Sp. 1227-1244.

Gegenüber der Hochlit. tritt in der sog. , V o l k s p o e s i e ' eine starke Vereinfachung hervor. Andererseits gibt es zumeist klare und durchsichtige Strukturen. Volksdichtung strebt immer zu einer gewissen Pointierung der Inhalte. Alle Gattungen der Volkslit. enthalten in der Regel irgendwelche konfliktbildenden Situationen und streben nach einem geordneten Ablauf (M. Lüthi). Die Klassifikation sich wiederholender Inhalte erfolgt durch die Zuordnung des Materials nach Typen, Motiven und Varianten. Zum Wesen der Volksdichtung gehört ihre Typisierbarkeit. Bestimmte Erzähloder Liedtypen wiederholen sich in unzähligen

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Volkskunde und Literatur

Variationen. Typisch und tradierbar kann allerdings nur etwas werden, was allgemeine Verbindlichkeit, Evidenz und psychologische Notwendigkeit besitzt. Das bedeutet, daß sich auch die allgemeine Struktur von Volkserzählungen wiederholt und oft genug bestimmten anthropologischen Grundmustern folgt. Eine Reihe von Themen und inhaltlichen Strukturen kommt in der Volksdichtung immer wieder vor: z . B . der Sieg des Schwachen über den Starken, des Guten über das Böse, der plötzliche Umschlag einer Situation in ihr Gegenteil, das Thema der Verkehrung, Verwandlung und Erlösung, Tod und Wiederbelebung, Brautwerbung und Partnerschaft, der Zwiespalt zwischen Schein und Sein, das Thema der Selbstschädigung (M. Lüthi). Volkspoesie zeigt anthropologische Grundmodelle und realisiert Menschheitshoffnungen. Sie stellt Modelle von Lebensbewältigung zur Verfügung. Am durchsichtigsten in dieser Hinsicht ist das Zaubermärchen, und es steht deshalb nicht selten pars pro toto für Volkspoesie überhaupt. M ä r c h e n (s. d.) streben nach einer Harmonisierung des Lebens, die nach der Bewältigung anfänglicher Konfliktsituationen einem happy ending zustrebt. In immer neuen Abwandlungen zeigen Märchen, daß Erfolg erst nach Mißerfolg zu erreichen ist. Märchen sind utopische Glücksverwirklichungen. Nur allzugern schildern sie den sozialen Aufstieg ihrer Helden oder Heldinnen aus einem Aschenputteldasein zum Glanz des Märchenkönigtums. Im Gegensatz zur Sage, die meist einen schlechten Ausgang nimmt, zeigt das Märchen Fälle von erfolgreichen Konfliktbewältigungen. Immer sagt das Märchen auch etwas aus über menschliche Bewährung. Denn alle Erfolge sind im Märchen an Bewährungsproben geknüpft: Geduldsproben, Gehorsamsproben, Geschicklichkeitsproben, Mut- und Kraftproben, Klugheits- und Scharfsinnsproben. Die Selbstverwirklichung des Menschen ist der Inhalt vieler Märchenbiographien. Die Frage nach seinen Wirklichkeitsbeziehungen trifft das Märchen an der entscheidenden Stelle: Alle Richtungen der Märchenforschung berühren sich an diesem Punkt, wobei allerdings jeder Wissenschaftszweig, der sich mit dem Märchen beschäftigt, seine eigene spezifische Wirklichkeitsfrage hat. Daß eine Gattung, die das Unwirkliche und Phantastische, nie Erreichbare schildert, eine ubiquitäre und zeitlose Gattung geworden ist, muß wohl damit zusammenhängen, daß das

Märchen trotz allem Unwirklichen doch etwas Sinnvolles schildert. Im Zentrum der S a g e steht dagegen die Begegnung des Menschen mit dem Ungewöhnlichen, Außerordentlichen, Jenseitigen (,Numinose', .Zweidimensionalität'). Sagen sprechen von Glaubensvorstellungen, Konflikten, Provokationen, Tabuverletzungen, Normübertretungen zwischen diesseitigen und jenseitigen Partnern. Sie schildern den Einbruch des Ubernatürlichen in die Welt des Menschen und auch umgekehrt: den Einbruch des Menschen in die Welt des Ubernatürlichen. Die Konflikte enden oft tödlich. Zum anthropolog. Modell der Sage gehört jedenfalls ihre Vorliebe für Grenzsituationen (M. Lüthi). Das Verhältnis der Lebenden zu den Toten ist ein zentraler Bereich der Sage. Dabei sind die Toten nicht nur leidende arme Seelen, furchtgebietende Wiedergänger und Vampire. Sagen zeigen auch die Dauer der Liebe über den Tod hinaus (,Vorwirt', Lenore, Totenhemdchen, Tränenkrüglein), d . h . Sagen zeigen, daß der Tod Mutter und Kind, Mann und Frau, Braut und Bräutigam nicht scheidet (Grabesblumen). Auf der anderen Seite hat Volksdichtung auch ihre Bilder für das Scheitern von Liebe und Ehe, bes. etwa in den Erzählungen von Ehen mit übernatürlichen Wesen (Mahrtenehe). Viele Sagen wie z. B. die Sagen vom vorherbestimmten Schicksal sprechen von der Unerbittlichkeit des Schicksals. Ihr Grundgedanke ist die Vorstellung, daß bei der Geburt bereits der Tod sichtbar, daß schon am Lebensbeginn das Lebensende festgesetzt wird. Dämonologische Sagen sind Bestrebungen des Menschen, seine Ängste zu bewältigen. Erzählungen von Riesen und Zwergen, Wassermann und Nixen, Aufhockern und Nachtmahren, Vampiren, Wechselbälgen und Werwölfen geben Einsichten in die Konflikte der Menschen, die sie in die ihnen begegnenden übernatürlichen Sagengestalten projizieren. Sagen zeigen in einem nicht geringen Maße Begegnungen des Menschen mit sich selbst. So gesehen, sind Sagen gewichtige Dokumente für die Entwicklungsgeschichte des Bewußtseinswandels. In Tausenden von Teufelserzählungen (s. a. Teufelliteratur) zeigt Volksdichtung etwa auch Modelle von der Bewältigung des Problems des Bösen. Immer ist der Teufel eine Konkretisierung menschlichen Fehlverhaltens. Sagen haben weithin einen erklärenden Charakter - nicht nur die im engeren Sinne ätiologischen Erzählungen. Sie zeigen nur zu oft Be-

Volkskunde und Literatur grenzungen der Lebensrealität durch Verbote, geben Verhaltensnormen an negativen Beispielen. Sagen gehören zu den ältesten Altertümern, die in unserer Kulturwelt noch zu finden sind. Die kulturhist. S a g e n f o r s c h u n g hat dies z. B. an den Sagen vom vorherbestimmten Schicksal, vom Menschenopfer u. a. aufgezeigt. Wer auch nur eine Sagensammlung aufmerksam durchliest, wird feststellen, daß hier Glaubensschichten ganz verschiedenen Alters nebeneinander hergehen und sich in bestimmten Erlebnissituationen wieder aktualisieren. Die kulturhist. Sagenforschung versucht das Nebeneinander der Sammlungen in ein kulturhist. Nacheinander zu gliedern. Denn Sagen sind - wie auch andere Folklore - Kulturindikatoren. Dabei sind Sagen nicht nur Berichte aus einer vorrationalen Welt. Sage bietet dem Menschen durchaus auch Ventile, mit Unterdrückung und ungerechter Herrschaft fertigzuwerden. Sie manifestieren sich in der latenten oder offenen Sozialkritik, wenn z. B. unzählige Aristokraten, Junker, Barone, Grafen und Raubritter, hartherzige Adlige und Gutsbesitzer, die sich ihren Untertanen gegenüber zu Lebzeiten als unmenschliche Leuteschinder erwiesen haben, am Ende ihrer Tage zu Recht vom Teufel geholt werden oder als Wiedergänger bis zur Sühne und Tilgung ihrer Schuld umgehen müssen. Leander P e t z o l d t (Hg.), Vergl. Sagenforschung (1969; WegedFschg. 152). Max L ü t h i , Das Bild d. Menschen in d. Volkslit., in: Lüthi, Volkslit. u. Hochlit. (1970) S. 9-21. Wayland D. H a n d (Ed.), American Falk Legend. A Symposium (Berkeley 1971; Publications of the UCLA Center for the Study of Comp. Folklore and Mythology 2). Max L ü t h i , Europ. Volkslit. Themen, Motive, Zielkräfte, in: Weltlit. u. Volkslit. Probleme u. Gestalten hg. v. Albert Schaefer (1972; Beck'sche schwarze R. 93) S. 55-79. Lutz R ö h r i c h , Volksdichtung als anthropolog. Modell (1972). Ders. (Hg.), Probleme d. Sagenfsch. (1973). Ders., Märchen und Wirklichkeit (4. Aufl. 1979). Donald W a r d , The German Legends of the Brothers Grimm. 2 Bde (Philadelphia/Pa. 1981).

Nach dem Studium von Märchen und Sage sind a n d e r e G e n r e s , wie Legende(s. d.), Exempel (s. d.), Chronikat (s. Chronik), Anekdote (s. d.) oder Tiererzählung als mündliche Uberlieferung erst später ins Interessenzentrum der volkskundl. Erzählforschung getreten. Im Bereich des Exempels ist vieles aus älte-

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ren kirchlichen Exempelsammlungen erst sekundär in die mündliche Volksüberlieferung übergegangen. Herbert W o l f , Das Predigtexempel im frühen Protestantismus. Hess. Bl. f. Volksk. 51/52 (1960) S. 349-369. Hermann B a u s i n g e r , Zum Beispiel, in: Volksüberlieferung. Festschr. f . Kurt Ranke . . . (1968) S. 9-18. Rudolf S c h e n d a , Stand u. Aufgaben d. Exemplafschg. Fabula 10 (1969) S. 6985. Frederic T u b a c h , Index Exemplorum (1969; FFC. 204). Karel D v o f ä k , Soupis Staroceskych Exempel. Index Exemplorum Paleobohemicorum Die (Praha 1978). Ina Maria G r e v e r u s , Chronikerzählung, in: Volksüberlieferung. Festschr. f . Kurt Ranke . . . (1968) S. 37-80.

Auch die k o m i s c h e n E r z ä h l g a t t u n g e n Schwank (s.d.), Anekdote (s.d.) und Witz (s. d.) rückten neuerdings in den Mittelpunkt der Forschung. Siegfried N e u m a n n , Der mecklenburg. Volksschwank (1964). Hermann B a u s i n g e r , Bemerkungen zum Schwank u. seinen Formtypen. Fabula 9 (1967) S. 118-136. Erich S t r a s s n e r , Schwank (2. Aufl. 1978; SammlMetzler 77). Elfriede M o s e r - R a t h , Schwank, Witz, Anekdote. Entwurf e. Katalogisierung nach Typen u. Motiven (1969). Anton C. Z i j d e r v e l d , Humor u. Ges. (Graz 1976). Lutz R ö h r i c h , Der Witz. Seine Formen u. Funktionen (2. Aufl. 1980).

Seit den Brüdern Grimm haben sich die S a m m e l m e t h o d e n erheblich verfeinert, nicht nur daß Feldforscher mit Tonbandgerät und photographischer oder filmischer Bilddokumentation sich um immer originalgetreuere und wirklichkeitsnähere Aufzeichnungen bemühen. Ziel ist vielmehr eine ,authentische', d. h. nicht bearbeitete Wiedergabe der Erzählung und die Erfassung von möglichst viel .Kontext', d. h. zusätzlichen Informationen über den Erzähler oder Sänger, seine Lebensumstände, seine Quellen und seine Einstellung zum Erzählten bzw. Gesungenen. Volkskundl. F e l d f o r s c h u n g bemüht sich darum verstärkt um einzelne Erzähler- oder Sängerpersönlichkeiten. Zu den traditionellen Erzählgattungen sind in jüngster Zeit noch andere Formen in den Interessenbereich der V. getreten, z. B. das sog. , a l l t ä g l i c h e E r z ä h l e n ' etwa von Arbeitsvorgängen, Jugenderinnerungen, Krankheitsfällen etc. Es geht um die Autobiographie einfacher Leute.

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Hermann B a u s i n g e r , Strukturen alltägl. Erzählens. Fabula 1 (1958) S. 239-254. Wolfram F i s c h e r , Arbeitermemoiren als Quellen f. Gesch. u. Volksk. d. industriellen Ges. Soziale Welt 9 (1958) S. 288-298. Siegfried N e u m a n n , Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt. Dt. J b . f. Volksk. 12 (1966) S. 177-190. Georg S c h r o u b e k , „Das kann ich nicht vergessen". Der Erinnerungsbericht als volkskundl. Quelle. J b . f. ostdt. Volksk. 17 (1974) S. 27-50. Wolfgang E m m e r i c h (Hg.), Proletar. Lebensläufe. 2 Bde (1975). Oldrich Sir o v ä t k a , Die Alltagserzählung als Gattung d. heut. Überlieferung, in: Miscellanea Prof'. em. Dr. K. C. Peeters (Antwerpen 1975) S. 662-669. Albrecht L e h m a n n , Autobiograph. Erhebungen in d. sozialen Unterschichten. ZfVk. 73 (1977) S. 161180. Ders., Autobiograph. Methode. Verfahren u. Möglichkeiten. Ethnologia Europaea 11 (1979/80) S. 36-54. Juha P e n t i k ä i n e n , Oral Repertoire and World View (1978; F F C . 219). Rolf W . B r e d n i c h , Zur Anwendung d. biograph. Methode in d. volkskundl. Feldforschung. J b . f. ostdt. Volksk. 22 (1979) S. 279-329. Rolf W . B r e d n i c h , Hannjost L i x f e l d , Dietz-Rüdiger M o s e r u. Lutz R ö h r i c h (Hg.), Lebenslauf u. Lebenszusammenhang. Autobiograph. Materialien in d. volkskundl. Forschung (1982).

Die v e r g l e i c h e n d e E r z ä h l f o r s c h u n g verfügt heute über eine internat. Organisation (International Society of Folknarrative Research = ISFNR) sowie über ein ausgebildetes Instrumentarium an Sammlungen, Nachschlagewerken und Katalogsystemen, nationale und internationale Erzähl- und Lied-Archive (in Deutschland: Freiburg, Göttingen, Marburg, Rostock), über spezielle Fachorgane und Zeitschriften. Folklore Fellows Communications (Helsinki 1910ff.). Fabula. 2s. f. Erzählfsch. (1957ff.). Stith T h o m p s o n (Ed.), Motif-Index of Folk-Literature. 6 Bde (Copenhagen 1955-1958). Antti A a r n e u. Stith T h o m p s o n , Types of the Folktale. A Classification and Bibliography (1961; F F C . 184). Johannes B o l t e u. Georg P o l i v k a , Anm. zu d. Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm. 5 Bde (1913-1918; Nachdr. 1963). Handwörterbuch d. Sage, hg. von Will-Erich P e u c k e r t (19611963). [Unvollendet.] Enzyklopädie d. Märchens. Handwörterbuch zurhistor. u. vergl. Erzählfschg. hg. v. Kurt R a n k e . Bd. 1 ff. (1977ff.). Lutz R ö h r i c h (Hg.), Current Trends in Folk Narrative Theory ([Typoskript] 1979).

§ 5. V e r m i t t l u n g s p r o z e s s e z w i s c h e n H o c h l i t e r a t u r u n d V o l k s l i t e r a t u r . Die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen

literar. und mündl. Uberlieferung ist ein Grundproblem der volkskundl. Erzählforschung wie der vergleichenden Lit.wiss. In den vergangenen Jahren sind die Zweifel an der jh.elangen K o n s t a n z m ü n d l i c h e r Ü b e r l i e f e r u n g e n über weite Räume gewachsen und dafür ist andererseits die Rolle der Lit. im Vermittlungsprozeß von Erzählgut aufgewertet worden. Den E i n f l u ß d e r L i t . auf die o r a l e T r a d i t i o n h a t d i e herkömmliche volkskundliche Erzähl- und Liedforschung wohl unterschätzt. Dabei geht es oft weniger um hochliterar. Erscheinungen als vielmehr um die Vermittlung durch Trivialliteratur (s. d.), durch Kalender (s. d.), Volksbuchdrucke, populäre Imagerie, Schulbücher, Vermittlung durch Geistliche, durch Predigt und Exempel. Zweifellos wurde in früherer Zeit mehr gelesen und auch an Gelesenem mündlich weitergegeben, als man lange Zeit wahrhaben wollte, wie E. Moser-Rath, aber auch R. Schenda, W. Brückner, D. R. Moser u. a. mit Recht hervorgehoben haben. Der Glaube an jh.elange mündliche und von der Lit. gänzlich unabhängige Kontinuitäten wird in der neueren Erzählforschung nicht mehr dogmatisch vertreten. Hermann B a u s i n g e r u. Wolfgang B r ü c k n e r (Hg.), Kontinuität? Geschichtlichkeit u. Dauer als volkskundl. Problem (1969). D i e t z - R ü d i g e r M o s e r , Altersbestimmung d. Märchens, in: Enzyklopädie d. Märchens. Bd. 1 (1977) Sp. 407-419. Ders.,Kritikd. oralen Tradition, in:Folk Narrative Research (Helsinki 1976; Studia Fennica 20) S. 209-221. Rudolf S c h e n d a , Volk ohne Buch. Stud. zur Sozialgesch. d. populären Lesestoffe, 1770-1910 (1970; Stud. zur Philosophie u. Lit. d. 19. Jh.s 5; 1977; dtv. 4282). Elfriede M o s e r - R a t h , Gedanken zur bist. Erzählforschung. ZfVk. 69 (1973) S. 61-81. Heda J a s o n , How old are folktales? Fabula 22 (1981) S. 1-27. Dietz-Rüdiger M o s e r , Verkündigung durch Volksgesang (1981).

Insbes. in der Gegenwart existieren frühere S a g e n - u n d M ä r c h e n t h e m e n o f t nur noch in ihrer literar. Widerspiegelung. Die Mehrzahl der Menschen in unserem Land - ebenso wie in anderen Ländern - kennt ,Sage' nur noch aufgrund von Schul- und Kindheitserinnerungen wie z. B. den Rattenfänger von Hameln, den Mäuseturm im Rhein, die Heinzelmännchen zu Köln. Oder es gibt Sagenreminiszenzen von Lektüre- oder Theatererlebnissen: Fliegender Holländer, Undine, Lohengrin und Freischütz; d. h. Sage lebt weitgehend nur noch in

Volkskunde und Literatur einem zweiten oder dritten Dasein. Als lebendige Folklore ist sie fast ausgestorben bzw. historisch geworden. Die literar. Bearbeitung von mündlichen Erzählstoffen beginnt oft schon mit der Herausgebertätigkeit. So ist bekannt, daß die B r ü d e r G r i m m in manchen Fällen Sagentexte erst aus längeren Dichtungen komprimiert haben. In ihren Deutschen Sagen haben sie zahlreiche literar. Erzählungen auf die Ebene der Volkssage, einer kurzen pointierten Erzählung zurückübertragen, ein Verfahren, das ihnen insbes. dort legitim erschien, wo sie annahmen, daß diese Lit.werke ihrerseits einmal selbst aus mündlicher Überlieferung hervorgegangen sein mochten. Zum Teil handelt es sich aber doch um dichterische Erfindungen, die erst sekundär von der mündlichen Uberlieferung aufgegriffen wurden, und es finden sich dabei auch ausgesprochene Buchsagen, die weder früher noch später jemals den Weg in die mündliche Tradition gefunden haben. Wenn die Deutseben Sagen (DS) der Brüder Grimm auch nie ein Volksbuch geworden sind wie die Kinder- und Hausmärchen ( K H M ) , so haben sie doch als Stoffquelle und Anregung für die Dichtung des 19. J h . s eine gewaltige Wirkung ausgeübt, und ihr Einfluß auf die wiss. Sagenforschung hält noch bis zur unmittelbaren Gegenwart an. Die Brüder Grimm haben die dt. Sagensammlung und Sagenforschung erst eigentlich begründet. Nach ihrem Vorbild kam es allenthalben in dt. Landschaften zu regionalen Sagensammlungen, die nach dem Muster der Grimmschen Sammlung angelegt waren. Genannt seien lediglich die bekanntesten Herausgeber: Adalbert Kuhn, Wilhelm Schwartz, Karl Müllenhoff, Karl Bartsch, Franz Joseph Vonbun, J o h . W . Wolf, Ernst Meier, Anton Birlinger, Ignaz Zingerle, Karl Frh. v. Leoprechting, Georg Schambach und Wilhelm Müller, Ernst Ludwig Rochholz, Karl Haupt, Friedrich Panzer, Friedrich Müller, Edmund Veckenstedt, Ulrich Jahn und O t t o Knoop. Viele Sagen sind durch die Brüder Grimm erst wirklich ,deutsche' Sagen geworden, d. h. allgemeiner geistiger Besitz des ganzen dt. Volkes, wie die Sagen vom Rattenfänger zu Hameln, vom Mäuseturm im Binger Loch, vom Schwanritter Lohengrin, von Rübezahl, Hakkelberg, dem Rodensteiner, dem Freischütz, von dem Mönch zu Heisterbach oder vom Glockenguß zu Breslau. Sie sind gesamtdt. Sa-

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gen, obwohl sie ursprünglich von lokalen Überlieferungen ausgegangen waren. Dieser Erfolg beruhte allerdings weniger auf der Wirkung Grimmscher Stoffsammlung und Forschung, als vor allem darauf, daß die Deutschen Sagen eine reiche literar. Weiterwirkung erfuhren ( s . u . ) . Die Verbindung zwischen Lit.wiss. und Volkskunde liegt somit weithin im Bereich der sog. Rezeptionsforschung. Von Interesse ist die Popularisierung von Lit. Einer der Marksteine zum Problem der Folklorisierung von Lit. war John M e i e r s Untersuchung Kunstlieder im Volksmunde (1906, Nachdr. 1976). Meier ist der Begründer der Rezeptionstheorie, und es ging ihm vorwiegend um den Nachweis, daß Volkslieder Texte e i n z e l n e r Autoren sind, die von breiten Schichten adaptiert wurden. Das gilt nicht nur für so bekannte Fälle wie Goethes Heideröslein, L . Uhlands Ich hatt' einen Kameraden, Heines Lorelei. Viel häufiger sind es zweit- oder drittrangige Dichter, deren Lyrik zum Volkslied geworden ist, worüber die Autoren selbst in Vergessenheit gerieten. Beispiele solcher , K u n s t l i e d e r im V o l k s m u n d ' sind: Ach wie ist's möglich dann (H. von Chezy), An der Saale hellem Strande (Franz Kugler), Auf, auf zum fröhlichen Jagen (Gottfr. Benj. Hanke), Drunten im Unterland (Gottfr. Weigle), Ein Heller und ein Batzen (Albert Graf Schlippenbach), Es blies ein Jäger wohl in sein Horn (W. Gerhard), Kommt ein Vogel geflogen (Ad. Bäuerle), Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus (Heinr. Wagner), O Tannenbaum, o Tannenbaum (J. A. Chr. Zarnack), Weißt du, wieviel Sternlein stehen (W. Hey), Winter ade (Hoffmann von Fallersleben). Volksläufig zu werden, war seit der Romantik das erklärte Ziel vieler Lyriker. § 6. L i t e r a t u r als v o l k s k u n d l . Q u e l le. Die Beziehungen zwischen V . und Lit. lassen sich systematisch sowohl synchron als auch historisch-diachron darstellen. Dabei stellen sich zwei Fragen: 1) W o , wie und warum greift Lit. Volkserzählungsstoffe auf? 2) W o , wann und warum ist Lit. eine Quelle für volkskundliche Sachverhalte? Wie schildert sie Volksleben? Die nun folgenden Ausführungen versuchen, auf die Kombination dieser Fragen eine kombinierte Antwort zu geben. Grundsätzlich ist alles, was vor dem 19. J h . Volksüberlieferung gewesen sein mag, nur in literar. oder historiographischen Dokumenten greifbar und erschließbar. Der Quellencharakter von Lit. für die Volkskultur beginnt mit den

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frühesten schriftlichen Denkmälern. Schon die ahd. Z a u b e r s p r ü c h e entsprechen in ihrer Typik den z. T. noch bis heute in mündlicher Uberlieferung umlaufenden Heil- und Segenssprüchen. Adolf S p a m e r , Romanusbüchlein (1958). Irmgard H a m p p , Beschwörung, Segen, Gebet (1961). Gerhard E i s , Ad. Zaubersprüche (1964).

Auch Aufzeichnungen von R ä t s e l n gehören zu den frühesten literar. Zeugnissen, wie das Reichenauer Rätsel vom Vogel Federlos aus dem 9. Jh. Sie finden sich im weiteren Verlauf sowohl bei den mhd. Spruchdichtern wie in den Mönchsrätseln der Klostersammlungen. Fritz L ö w e n t h a l , Studien zum germ. Rätsel (1914; Germanist. Arbeiten 1). Volker S c h u p p (Hg.), Dt. Rätselbuch (1972). Ulrich B e n t z i e n (Hg.), Rat zu, was ist das (3. Aufl. 1980).

Populäre Erzähltraditionen beginnen bereits mit der lat. D i c h t u n g auf dt. Boden, mit Klostermärlein aus St. Gallen, wie z . B . den Gesta Karoli Magni des Notker Balbulus (ca. 840-912). Wichtige Frühzeugnisse für das Schwankmärchen sind der Modus Florum und der Modus Liebinc. In beiden tritt ein Schwabe als Hauptfigur auf. Dem 10./11. Jh. gehört der noch heute weitverbreitete Schwank vom Bauer Einochs an (Versus de Unibove). Josef M ü l l e r , Das Märchenvom Unibos. Diss. Köln 1934. Karl L a n g o s c h (Hg.), Waltharius. Ruodlieb. Märchenepen (1956). Ernst T e g e t h o f f , Märchen, Schwanke u. Fabeln (1925; Bücher d. MA.s 4). Albert W e s s e l s k i , Märchen d. MA.s (1925). Ders., Mönchslatein. Erzählungen aus geistl. Schriften d. 13. Jh.s (1909).

H r o t s v i t h a v o n G a n d e r s h e i m (10. Jh.) bietet mit ihrem Theophilus die erste Teufelsbündnergeschichte. E g b e r t s von L ü t t i c h zwischen 1022 und 1024 geschriebener Fecunda ratis enthält eine Fülle von Anspielungen auf Märchen- und Schwankstoffe. Ebenso ist die frühe G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g nicht selten eine Fundgrube für Sagenüberlieferung. So bringt T h i e t m a r v o n M e r s e b u r g (9751018) eine Frühfassung der Mäuseturmsage. Die Sage vom Freveltanz von Kölbigk ist immer wieder von der historiograph. wie von der Exempeldichtung aufgegriffen worden. Reich an Sagen und Legenden ist insbes. die 1147-50 in Regensburg entstandene Kaiserchronik.

Friedrich O h l y , Sage u. Legende in d. Kaiserchronik (2. Aufl. 1968).

Besonders die S p i e l m a n n s e p e n enthalten viel Märchenhaftes. Der König Rother (um 1150) bringt eine märchenhafte Brautwerbungserzählung; desgl. das Epos vom hl. Oswald (um 1170) und der Orendel; schließlich auch die Orientfahrt des Herzog Ernst (ca. 1180).

In die h ö f i s c h e und h e r o i s c h e E p i k des Hochma.s sind M ä r c h e n s t o f f e in den verschiedensten Zusammenhängen integriert worden: Auseinandersetzungen mit Drachen, Riesen und Zwergen, Wasserfrauen, Nixen und Schwanjungfrauen, mit Waldmenschen und wilden Weibern; Aufenthalte im Feenreich, im Reich der Tiere, im Totenreich und andere Jenseitsmotive; Entrückungsmotive; magische Quellen und Brunnen, Hortgewinn, Magnetberg, Tarnkappe, Unverwundbarkeit, Schlangenkuß und Erlösung, Zauberring, Kraftgürtel und Zaubertrank; der Ring im Becher als Erkennungszeichen, Dümmlingsmotive, die Verkleidung eines Freiers als Mädchen, Brautwerbung, die abgeschlagenen Köpfe der erfolglosen Freier auf den Zinnen, das zwischen Mann und Frau gelegte Schwert als Keuschheitszeichen, die Suchwanderung nach dem verlorenen Partner, der dankbare Tote; Übertretungen von Tabus und ihre Bestrafung etc. Die Liste gemeinsamer Motive von mal. Epik und Volkserzählungen wie Sagen und Märchen ließe sich noch vermehren. Schon das gesamte Aventiure-Phänomen gehört dem Märchen ebenso an wie dem mal. Roman. Die motivlichen und strukturellen Gemeinsamkeiten von Märchen und Aventiure-Roman sind gerade in den vergangenen Jahren mehrfach Gegenstand von Untersuchungen gewesen. Gustav E h r i s m a n n , Märchen im höf. Epos. PBB. 30 (1905) S. 14-54. Walter B r o e l , Stufen d. Wunderbaren im Epos d. 12. u. 13. Jh.s. (Masch.) Diss. Bonn 1948. Günther H a a s c h , Das Wunderbare im höf. Artusroman. Ein Beitr. zur Motivgesch. mal. Epik u. zur Klärung d. Verhältnisses von Artusroman u. Märchen. (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1955. W . M o h r , Parzival u. d. Ritter. Von einfacher Form zum Ritterepos. Fabula 1 (1958) S. 201-213. Friedrich v. d. L e y e n , Mythus u. Märchen. DVLG. 33 (1959) S. 343-360. Lucy Allen P a t o n , Studies in the Fairy Mythology of Arthurian Romance (2. ed. New York 1960; Burt Franklin Bibliogr. Series 18). Hugo M o s e r , Zum

Volkskunde und Literatur Problem d. 'mythischen Realismus' in der hochmal. dt. Epik, in: Festschr. Josef Quint (1964) S. 163-167. Ders., Mythos u. Epos in d. hochmal. dt. Dichtung. WirkWort 15 (1965) S. 145-156. Hulda H. Braches, Jenseitsmotive u. ihre Verritterlichung in d. dt. Dichtung d. Hochma.s (1961 ; Studia Germanica 3). Wolfgang H i e r s e , Das Ausschneiden d. Drachenzunge u. d. Roman von Tristan. Diss. Tübingen 1969. Howard Rollin P a t c h , The Other World, According to Descriptions in Médiéval Literature (New York 1970). Wolfram V o e l k e r , Märchenhafte Elemente bei Chrétien de Troyes. Diss. Bonn 1971. Arthur Alexander W a c h s l e r , The Celtic Concept of the Journey to the Otherworld. Diss. Los Angeles (UCLA) 1972. Manfred H. N i e s s e n , Märchenmotive u. ihre Funktion f . d. Aufbau d. höf. Romans, dargest. am 'Iwein Hartmanns von Aue. Diss. Münster 1973. Peter D i n z e l b a c h e r , Die Jenseitsbrücke im MA. (Wien 1973). Hans-Dieter M a u r i t z , Der Ritter im magischen Reich, Märchenelemente im franz. Abenteuerroman d. 12. ». 13. Jh.s (Bern 1974). Hans Wolfgang S t e f f e k , Die Feenwelt in Konrads von Würzburg Partonopier u. Meliur (1978). Walter H a u g , Das Land, von welchem niemand wiederkehrt (1978). In gleicher Weise hat man auch aus der m h d . Epik Darstellungen und Frühbelege für F e s t und L e b e n s l a u f b r ä u c h e , Bräuche um Geburt, Brautwerbung, Verlobung und H o c h zeit, Tod und Begräbnis (Totenklagen), aber auch für V e r h a l t e n s n o r m e n wie Gastfreundschaft, Rechtsbräuche (z.B. Blutrache, Bahrprobe, Eid- und Meineidvorstellungen, Gottesurteile, Folter und Galgen), sowie f ü r Kleidung und Tracht, Wohnweisen und Hausbau systematisch erhoben. Als eine besonders ergiebige Quelle, insbes. f ü r Hochzeitsbräuche und f ü r Volksmeinungen aller Art hat sich dabei Heinrich W i t t e n w e i l e r s Ring erwiesen. Karl W e i n h o l d , Die dt. Frauen im MA. (3. Aufl. Wien 1897). Moriz H e y n e , Fünf Bücher dt. Hausaltertümer von d. ältesten Zeiten bis zum 16. Jh. (1899-1903). Franz K o n d z i e l l a , Volkstüml. Sitten ». Bräuche im mhd. Volksepos (1912; Wort u. Brauch 8). Otto Z a l l i n g e r , Die Eheschliessung im Nibelungenlied ». in d. Gudrun (1923; AbhAkWien, phil.-hist. Kl. 199, 1). Hilde H ü g l i , Der dt. Bauer im MA., dargest. nach d. dt. literar. Quellen vom 11.-15. Jh. (Bern 1929; SprDchtg. 42). Liselotte H o f m a n n , Der volkskundl. Gehalt d. mhd. Epen von 1100 bis gegen 1250. Diss. München 1939. Charles Gervase Fehrenbach, Marriage in Wittenwiler's 'Ring' (Washington 1941; Studies in German 15). Will-Erich Peuckert, Dt. Volksglaube d. Spätma.s (1942).

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Fritz M a r t i n i , Das Bauerntum im dt. Schrifttum von d. Anfängen bis zum 16. Jh. (1944). Friedmar G e i s s l e r , Brautwerbung in d. Weltlit. (1955). Elmar M i t t l e r , Das Recht in Heinrich Wittenwilers Ring' (1967; Fschgn. zur oberrhein. Landesgesch. 20). In der spätmal. Lit., mit dem A u f k o m m e n der M ä r e n - und B i s p e l - E x e m p l a - L i t . , mit dem zunehmenden Realismus der Darstellung und der Verlegung der Schauplätze vom aristokratischen in ein bürgerliches oder bäuerliches Milieu nimmt der Anteil der Volkserzählungsstoffe und der volkskundliche Quellencharakter von Lit. rapide zu (s. Bispel, Maere). S c h w a n k - S t o f f e , die z . T . noch in der Gegenwart lebendig sind, werden literaturfähig: die geschwätzige Braut, Schrätel und Wasserbär, der betrogene Ehemann, Kaiser und Abt, dem Esel das Lesen beibringen, Kaisers neue Kleider, Bettler als Pfand, Redewettkampf mit der Prinzessin, Lügenmärlein von der verkehrten Welt, die mehrmals getötete Leiche, Schlaraffenland. Mit seinen Mären und Bispein wie auch aufgrund seines Schwankzyklus vom Pfaffen Amis sei der N a m e des S t r i c k e r s stellvertretend genannt. Friedrich Heinrich v. d. Hagen (Hg.), Gesammtabenteuer. Hundert ad. Erzählungen. 3 Bde (1850; Nachdr. 1961). Adalbert von Keller (Hg.), Erzählungen aus ad. Hss. (1855). Hans L a m b e l , Erzählungen u. Schwanke (1862). Heinrich N i e w ö h n e r , Neues Gesamtabenteuer (1937). Clair Baier, Der Bauer in d. Dichtung des Strickers. Eine literar-hist. Untersuchung. Diss. Tübingen 1938. Lutz R ö h r ich, Erzählungen d. späten MA.s u. ihr Weiterleben in Lit. u. Volksdichtung. bis zur Gegenwart. 2 Bde (Bern 19621967). Klaus H u f e l a n d , Die dt. Schwankdichtung d. Spätma.s (Basel 1966; Basler Studien z. dt. Sprache u. Lit. 32). Hanns F i s c h e r , Die dt. Märendichtung d. 15. Jh.s (1966; Münchener Texte u. Unts. zur dt. Lit. d. MA.s 12). Ders., Studien zur dt. Märendichtung (1968). Arend M i h m , Überlieferung u. Verbreitung d. Märendichtung im Spätma. (1967). Ursula Schmid(Hg.), Codex Karlsruhe 408 (1974; Bibliotheca Germanica 16). Aber auch e r n s t e S t o f f e sind in der K1 e i n e p i k belegt; z. B. der Peter von Staufenberg mit dem Motiv der Mahrtenehe, der Busant mit dem Mageionenstoff, das Kotzenmaere mit dem KHM-Stoff vom Großvater und Enkel, mal. Bearbeitungen der Kreuzholzlegende etc. Voll von späteren Volkserzählungen stecken die E x e m p e l s a m m l u n g e n , insbes.

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Volkskunde und Literatur

der Dialogus miraculorum und die Libri VIII des Caesarius von Heisterbach (s. Exempet). Eine Fülle von populären Erzählstoffen enthalten die sog. V o l k s b ü c h e r (s. Volksbuch) des 15.-16. J h . s : Melusine, Haimonskinder, Ewiger Jude, Genovefa, Laiebuch, Schildbürger, Eulenspiegel.

Bei Martin L u t h e r findet sich eine Fülle von Beobachtungen zum Festbrauch wie zum Alltagsleben, aber auch zu Sprichwort, Volksglauben, Sage und Märchen (z. B . Anspielungen auf Aschenputtel, Tapferes Schneiderlein, Schlaraffenland, Teufel als Advokat, Meister Pfriem, D e r kluge Knecht u.a.).

Hans Joachim Kreutzer, Der Mythos vom Volksbuch (1977). Hermann Bausinger, Schildbürgergeschichten. Dtschunt. (Stuttg.) 13 (1961) H. 1, S. 18-44. Wolfgang Virmond, Hermann Botes Eulenspiegelbuch u. s. Interpretation. Diss. Berlin (FU) 1978; zugl. im Buchh. u. d. T.: Eulenspiegel u. s. Interpreten (1981; Facetiae. Schriften d. Arbeitsstelle f. H. Bote- u. Eulenspiegelforschung 2). Lutz Röhr ich, Till Eulenspiegels 'lustige' Streiche? Eulenspiegel-Jb. (1981) S. 17-30.

Ernst Thiele (Hg.), Luther's Sprichwörtersamml. (1900). Erich Klingner, Luther u. d. dt. Volksaberglaube (1912). Alfred Götze, Volkskundliches b. Luther (1909). Friedr. Diehm, Luther als Kenner dt. Volksbrauchs u. dt. Volksüberlfg. Diss. Giessen 1930. Erika Kohler, Martin Luther u. d. Festbrauch (1959; Mitteidt. Fschgn. 17).

Die F a c e t i e n S a m m l u n g e n von Augustin T ü n g e r und Heinrich B e b e l (s. Facetie) vermitteln eine Reihe von Schwänken aus der mündlichen Uberlieferung. Frühbelege für heitere und ernste Volkserzählungen bieten dann erstmals in großem Umfang die ProsaSchwankbücher des 16. Jh.s. In Schimpff und Ernst (1522) des elsäss. Franziskaners Johannes P a u l i spiegelt sich fast das gesamte Schwankrepertoire der Zeit wider. Weitere Frühbelege bringt das Rollwagenbüchlein (1555) des Colmarer Ratsschreibers Georg W i c k r a m . Einige Erzählungen haben die Brüder Grimm in ihre K H M übernommen (Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben, Der Schneider im Himmel). Das gleiche gilt für Jacob F r e y s Gartengesellschaft (1556) und Martin M o n t a n u s Wegkürtzer (1557) sowie für Michael L i n d n e r s Rastbüchlein (1558), in dem sich Frühbelege für das .Tapfere Schneiderlein' sowie für ,Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein' finden. Schließlich gibt es kaum einen volkstümlichen Stoff, der nicht auch irgendwo in dem umfangreichen Werk des Hans S a c h s (1494-1576) zu belegen wäre. Einige Stoffe sind von den Brüdern Grimm in die K H M aufgenommen worden (Die sieben Schwaben, Das junggeglühte Männlein, Des Herrn und des Teufels Getier, Die ungleichen Kinder Evas). Ferdinand Eichler, Das Nachleben d. Hans Sachs vom 16. bis ins 19. Jh. (1904). Gerhard Kuttner, Wesen u. Formen d. dt. Schwanklit. d. 16. Jh.s. (1934; Nachdr. 1967; GermSt. 152). Horst Brunner u. a. (Hg.), Hans Sachs u. Nürnberg (1976). Erich Straßner, Schwank (2. Aufl. 1978; SammlMetzler 77).

Eine ergiebige Quelle für Sprichwörter und Kinderspiele sind die Werke Johann F i s c h a r t s , für Märchen, Schwänke und Sagen die Georg R o l l e n h a g e n s . Dramatisierungen von volkstümlichen Erzählungsstoffen im 16. J h . finden sich sodann bei Jakob Ayrer. Das Erzählgut der R e f o r m a t i o n s z e i t , die Predigtsammlungen sowohl kath. wie Protestant. Theologen sind von der neueren volkskundl. Forschung systematisch erschlossen worden. Wolfgang Brückner (Hg.), Volkserzählung u. Reformation (1974). Ernst Heinrich Rehermann, Die Predigtexempel b. Protestant. Theologen d. 16. u. 17. Jh.s (1977; Schriften zur ndd. Volksk. 8). Das 16. und 17. J h . war die Blütezeit der K u r i o s i t ä t e n - und P r o d i g i e n l i t . mit ihrem reichen Bestand an populärem Erzählgut. Besonders ergiebig sind: Job Fincelius, Wunderzeichen (1556-1562). Caspar Goldwurm, Wunderwerck u. Wunderzeichen Buch (1557). Andreas H o n d o r f f , Promptuarium exemplorum (1568). Heinrich Kornmann, Möns Veneris (1614; Nachdr. 1978). Georg Philipp Harsdörffer, Frauenzimmer-Gesprechspiele (1641-1649). Für die volkskundl. Erzählforschung besonders hervorzuheben ist Johannes P r a e t o r i u s (1630-1680), vor allem als Kompilator von echten und erfundenen Sagen, z . B . Blockesberges Verrichtung (1668). Erich Schmidt, Dt. Volkskunde im Zeitalter d. Humanismus u. d. Reformation (1904). Rudolf Schenda, Die dt. Prodigiensammlungen d. 16. u. 17. Jh.s. Archiv f. Gesch. d. Buchwesens 4 (1963) Sp. 637-710.

Volkskunde und Literatur Die P r e d i g e r d e r B a r o c k z e i t , Abraham a Sancta Clara, Ignatius Ertl, Wolfgang Rauscher, Andreas Strobl, Athanasius von Dillingen u. a. bevorzugten volkstüml. Erzählstoffe. Sie exemplifizierten ihre Lehre an Erzählungen aller Art, insbes. bei der Osterpredigt, wenn das Ostergelächter (Risus Paschalis) erlaubt war. Elfriede M o s e r - R a t h , Predigtmärlein d. Barockzeit (1964). Wilhelm Brandt, Der Schwank u. d. Fabel b. Abraham a Sancta Clara. Diss. München 1923. Karl Schmid, Studien zu den Fabeln Abrahams a Sancta Clara. Diss. München 1928. Max Michel, Die Volkssage b. Abraham a Sancta Clara (1933). Karl Böck, Bauernleben im Barock (1953). G r i m m e l s h a u s e n b i e t e t i m Simplizissimus (1669), aber auch in seinen Kalendergeschichten (1670-1672) zahlreiche populäre Erzählungen. Nicht weniger als 5 davon haben die Brüder Grimm als Frühbelege für die entsprechenden Sagentypen in ihrer Sammlung dt. Sagen veröffentlicht. Schon vorher hatten sie die Erzählung vom Bärenhäuter in ihre KHM aufgenommen. Grimmelshausen erweist sich vor allem als ein genauer Kenner der Ortenauer Sagenwelt (Die Erzählung vom wunderbaren und unsichtbar machenden Vogelnest, Die Erzählung von der nachgeahmten Hexenfahrt, vom ,spiritus familiaris', von den Geistern des Mummelsees; Erzählungen von Basilisken und Werwölfen sowie eine nicht geringe Zahl von Teufelserzählungen). Im Ewig währenden Kalender (1670) zeigt Grimmelshausen eine besondere Vorliebe für die hist. Sage (Ring des Polykrates, Weifen, Vielgeburt, Mäuseturm, Winkelried, Freveltanz). Karl Amersbach, Aberglaube, Sage u. Märchen b. Grimmelshausen (1891). Martha Lenschau, Grimmelshausens Sprichwörter u. Redensarten (1924; DtFschgn. 10). Waltraut Werner, Die Kalendergesch. b. Grimmelshausen u. ihre Zuordnung zum Volkslesestoff. Diss. Freiburg i. Br. 1950. Albert H i ß , Volksweisheit in d. Sprichwörtern u. Redensarten d. Simplicissimus, in: Um Renchen u. Grimmelshausen (1976; Grimmelshausen-Arch. 1) S. 1-89. Lutz Röhrich, Volkserzählungen im Werk Grimmelshausens ([Typoskript] 1980). Im 18. Jh. erscheint das Märchen bei Joh. Karl August M u s a u s noch nicht als Kindermärchen. Seine Volksmärchen der Deutschen (1782-86) enthalten vorwiegend Sagenstoffe (z. B. Rübezahl). Märchenmotive verwendet auch Joh. Heinrich V o ß in seinen Idyllen. Bei

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Joh. Heinrich J u n g - S t i l l i n g findet sich das Märchen Jorinde und Joringel; von ihm haben es die Brüder Grimm in ihre KHM übernommen. Albert W e s s e l s k i , Dt. Märchen vor Grimm (Brünn 1938). Richard Benz, Märchen u. Aufklärung im 18. Jh. Diss. Heidelberg 1907. Otto Nossag, Volksmärchen u. Volksmärcheninteresse im 18. Jh. Diss. Greifswald 1931. Anneliese Rapmund, Märchen u. Volkssage in d. dt. Dichtung von d. Aufklärung bis zum Sturm ». Drang. Diss. Köln 1937. Wolfgang Friedrich, Motive d. Volksglaubens in d. Dichtung d. Stürmer ». Dränger. Weim. Beitr. 7 (1961) S. 61-79. GonthierLouis Fink, Naissance et apogée du conte merveilleux en Allemagne 1740-1800 (Paris 1966). Alfred Johann Karl August Musäus. Die Volksmärchen d. Deutschen (1957; Züricher Beitr. zur dt. Lit.- u. Geistesgesch. 13). Bernhard Paukstadt, Paradigmen d. Erzähltheorie. E. methodengeschichtl. Forschungsber. mit e. Einf. in Schemakonstitution ». Moral d. Märchenerzählens (1980; Hochschul-Samml. Philosophie, Lit.wiss. 6.), bes. S. 341 ff. Im 18. Jh. entsteht unter dem Schlagwort der sog. H a u s v ä t e r - L i t . (s. d.) eine Bauernaufklärungslit., getragen von der Sorge für den gemeinen Mann, insbes. auch von der Sorge um seine Moral. Prototyp ist Rudolph Zacharias Beckers Noth- und Hiilfsbüchlein für Bauersleute (5. Aufl. 1789). WolfgangFriedrich, Die Darstellung d. Bauern in d. dt. Lit. d. Sturm- u. Drang-Zeit. (Masch.) Diss. Halle 1958. Heinz Otto Lichtenberg, Unterhaltsame Bauernaufklärung (1970; Volksleben 26). Rudolf Sehend a, Volk ohne Buch. Stud. zur Sozialgesch. d. populären Leses t o f f e (1970). Reinhard Siegert, Aufklärung u. Volkslektüre. Exemplar, dargest. an Rudolf Zacharias Becker u. seinem 'Noth- u. Hülfsbüchlein . Mit e. Bibliographie z. Gesamtthema. Diss. Freiburg 1977. In die gleiche Richtung geht auch Joh. Peter H e b e l s Schatzkästlein in dem von ihm hg. Rheinischen Hausfreund. Obwohl Joh. Peter Hebel sich als ein intimer Kenner der mündlichen Volkstradition erweist, sind seine Kalendergeschichten weniger Erzählungen ,aus dem Volk' als ,für das Volk'. Die meisten seiner Quellen sind literar., aber sie stammen doch auch ihrerseits wieder aus populärer Lit., die teils aus mündlicher Überlieferung schöpfte, teils auf diese zurückgewirkt hat. Lutz Röhri ch, ]oh. P. Hebels Kalendergesch. zw. Volksdichtung ». Lit. (1972).

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Volkskunde und Literatur

Während S c h ä f e r - und I d y l l e n d i c h t u n g des 17. und 18. Jh.s (s. Idylle, Schäferdichtung) eher der Verherrlichung eines einfachen und natürlichen Lebens Vorschub leisten, ändert sich dies mit der 2. H. d. 18. Jh.s, wenn der Bauer im Gefolge bürgerlich-emanzipatorischer Lit.Strömungen in idealisierter Gestalt auftaucht. Erst viel später gerät auch die Dorfarmut in den Blickpunkt der Lit. Die Bauernroman-Produktion und auch die D o r f g e s c h i c h t e ' des 19. Jh.s (s. d.), von Heinrich Zschokkes Das Goldmacherdorf (1817), Pestalozzis Lienhard und Gertrud (1781 -1787), Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten bis zu Jeremias Gotthelfs Romanen und Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe, Immermanns Geschichte vom Oberhof (1838/39) werden heute eher ideologie-kritisch betrachtet als nach ihrem folkloristischen Quellenwert. Das gleiche gilt für die sog. , H e i m a t k u n s t b e w e g u n g ' (s. Heimatkunst) in der 2. H. d. 19. Jh.s (Anzengruber, Ganghofer, Rosegger). Die Schilderung von Volksleben, insbes. bäuerlichem Volksleben, reicht von der Heimatlit. bis zum Blut- und Bodenkult der Nationalsozialisten. Angesichts der Industrialisierung und als deren Gegenbild erscheint dergleichen Lit. oft anti-industriell und sucht Gesundung in der vermeintlich ,Heilen Welt' des Bauerntums. Die Autoren solcher Bauernlit. gehören fast ausnahmslos dem Bürgertum an. In ihren idealisierenden und idyllisierenden Perspektiven stehen sie oft weit entfernt von der sozialen Realität. Louis Lässer, Die dt. Dorfdichtung v. ihren Anfängen bis zur Gegenwart (1907). Erwin Rüd, Die dt. Dorfgesch. bis auf Auerbach (1909). Kurt Wormann, Der dt. Bauernroman bis auf Gotthelf. (Masch.) Diss. Freiburg 1924. Friedrich A l t v a t e r , Wesen u. Form d. dt. Dorfgesch. im 19. Jh. (1930). Erika J e n n y , Die Heimatkunstbewegung. Ein Beitr. zur neueren dt. Litgesch. Diss. Basel 1934. Gudrun Kühn, Welt u. Gestalt d. Bauern in d. dt.sprach. Lit. (Masch.) Diss. Leipzig 1970. Peter Zimmermann, Der Bauernroman. Antifeudalismus, Konservativismus, Faschismus (1975). Theodor Kohlmann (Hg.), Das Bild vom Bauern. Vorstellungen u. Wirklichkeit vom 16. Jh. bis zur Gegenwart (1978; Sehr. d. Mus. f. Dt. Volksk. 3). Wilhelm Heinrich R i e h l , der gleichermaßen als Schriftsteller wie als Kulturhistoriker und Volkskundler hervortrat, ist einer der Anreger der V. als Wissenschaft (Land und Leute,

Die Pfälzer, Naturgeschichte des Volkes, Die V. als Wissenschaft). Viktor v. Geramb, Wilhelm Heinrich Riehl. Leben u. Wirken (Salzburg 1954). Hans Moser, Wilhelm Heinrich Riehl u. d. Volksk. Jb. f. Volksk. NF. 1 (1978) S. 9-66. Wilhelm Heinrich Riehl u. d. Volksk. Eine Diskussion (m. Beitr. von K. Guth, H. Gerndt, G. Wiegelmann) Jb. f. Volksk. NF. 2 (1979) S. 73-102. § 7. V o l k s e r z ä h l u n g s s t o f f e in d e r n e u e r e n d e u t s c h e n L i t e r a t u r . Im folgenden seien zunächst einige Volkserzählungsstoffe aufgezählt, die besonders häufig eine literar. Bearbeitung erfahren haben. Angeregt durch Joh. Gottfried Herder strebt Gottfried August B ü r g e r (1747-1794) in seiner Balladendichtung nach ,Popularität' und nach der Nähe der ,Volkspoesie'. So gelangt Bürger zur Übernahme von volkstüml. Formen und Themen (Der wilde Jäger, Der Kaiser und der Abt, Lenore, Die Weiher von Weinsberg). Ein großer Teil der neueren dt. Kunstballadendichtung entstammt dem Motivbereich der Sage. Zu G o e t h e s Balladen mit ihren mannigfachen magischen Beziehungen lassen sich durchgehend die parallelen Volkssagentexte nachweisen. Der Schatzgräber enthält alle Motive der volkstüml. Schatzsagen (Blutunterschrift und Teufelspakt, Zauberkreis, Beschwörungsmittel, Hebung des verborgenen Schatzes). Der Fischer trägt Züge der zahlreichen Volkserzählungen von dämonischen Fischherren und von der Tötung durch einen Wassergeist. Der Stoff der Legende vom Hufeisen kommt in verschiedenen Volkssagen des 19. Jh.s vor, und die Vermutung liegt nahe, daß Goethe eine volkstüml. Version benutzt hat. Die Braut von Korinth bringt die Vampirsage vom wiederkehrenden Toten und das Motiv der Totenhochzeit. Der Zauberlehrling schließt sich an eine antike Sage aus Lukians Lügenfreund an und enthält einen Zug vieler auch neuzeitlicher dt. Sagen: Das Motiv vom vergessenen Zauberwort und der ins Unendliche weitergehenden Zauberwirkung (vgl. Grimm KHM 103 Der süße Brei), verbunden mit dem Märchentypus vom Zauberer und seinem Schüler (vgl. KHM 68). Dem Hochzeitslied mit der Beobachtung der Zwergenhochzeit liegt eine in den Deutschen Sagen der Brüder Grimm abgedruckte Volkserzählung zugrunde {Des kleinen Volkes Hochzeitsfest, DS 31), die auch sonst in der Volksüberlieferung weit ver-

Volkskunde und Literatur breitet ist. Ebenso gestaltet Der getreue Eckart die bekannte Thüringer Sage vom Warner vor dem Wilden Heer in Verbindung mit der Erzählung vom stets gefüllten Bierkrug als Geistergeschenk (DS 7, vgl. Nr. 314). Der Totentanz behandelt die Sage vom gestohlenen Totenhemd in genauer Verwendung der traditionellen Motive der Volksdichtung. Albert L e i t z m a n n , Die Quellen von Schillers u. Goethes Balladen (1911). Johannes B o l t e , Zu Goethes Legende vom Hufeisen. ZfVk. 35 (1925) S. 180. Ludwig H e i l b r u n n , Die Braut von Korinth (1926; Frankfurter Ges. d. Goethe-Freunde. Gabe 8). Paul Ludwig K ä m p c h e n , Dienuminose Ballade (1930; Mnemosyne 4). Wolfgang K a y s e r , Gesch. d. dt. Ballade (1936). Lilo B r u g g e r , Der Zauberlehrling u. s. griech. Quelle. Goethe 13 (1951) S. 243-258. Walter H i n k , Die dt. Ballade von Bürger bis Brecht (1968). Ulrike T r u m p k e , Balladendichtung um 1770 (1975). Leopold S c h m i d t , Überlieferte Volkskultur in Goethes Lebenswelt. Jb. d. Wiener Goethe-Vereins 80 (1976) S. 62-76.

, Kunstsagen' in diesem Sinne sind zahlreiche Balladen, wie z . B . von H e r d e r (Herr Oluf), S c h i l l e r (Der Gang nach dem Eisenhammer, Der Alpenjäger, Hero und Leander, Die Kraniche des Ibykus, Der Ring des Polykrates), Ludwig U h l a n d (Junker Rechberger, Das versunkene Kloster, Graf Eberhard der Rauschebart, Graf Richard Ohnefurcht, Das Glück von Edenhall), Justinus K e r n e r (Der Geiger von Gmünd - in Zusammenhang mit der über ganz Europa verbreiteten Geigerlegende, wie sie meist in Verbindung mit der Legende von der hl. Kümmernis auftritt), Eduard M ö r i k e (Der Feuerreiter, Elfenlied, Der Zauberleuchtturm), Gustav S c h w a b (Otto der Schütz), Annette v o n D r o s t e - H ü l s h o f f (DerKnabe im Moor, Der Mutter Wiederkehr, Der Spiritus familiaris des Roßtäuschers-zuDS 85), Adalbertv. C h a m i s s o (Die versunkene Burg, Der Birnbaum auf dem Walserfeld, Die Sonne bringt es an den Tag), Heinrich H e i n e (Die feindlichen Brüder, Die Beschwörung), Nikolaus L e n a u (Anna), August K o p i s c h (Die Heinzelmännchen zu Köln, Willegis, Klabautermann, Des kleinen Volkes Überfahrt, Der Riese Schreck, Die Jungfrau am Drachenfels), Wolfgang M ü l l e r (Der Mönch von Heisterbach, Die Johannisopfer, Der Glockenguß zu Breslau, Vineta), Klaus G r o t h (Ol Büsum), Friedrich R ü c k e r t (Die Riesen und die Zwerge, Der ewige Jude, Kloster Grabow, Friedrich Barbarossa), Karl Sim-

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r o c k (So viel Kinder als Tag im Jahr, Der Schwanritter, Der Schmied von Solingen, Der Fuß an der Wand), Detlev v. L i l i e n c r o n (Trutz Blanke Hans), Isolde K u r z (Die Hochzeit in der Mühle), Agnes M i e g e l (Elfkönig, Die Gräfin von Gleichen, Griseldis, Das Märchen von der schönen Mete, Die Müllersbraut, Siebenschön, Der Sohn der See). Alle diese Balladen sind nach ihrer Entstehung und dichterischen Leistung nicht interpretierbar ohne ihre Vorlagen im Bereich der Volksdichtung. Das 19. Jh. h a t , S a g e ' weitgehend als D i c h tung apperzipiert, nicht als mündliche Überlieferung. Der tragische und oft pessimistische Grundzug der Sage, in der sich der Mensch wehr- und hilflos den Natur- und Schicksalsgewalten ausgeliefert sieht, hat sich für die Umformung in balladeske Gestalt besser geeignet als andere Gattungen der Volkserzählung. Autoren, die heute fast vergessen sind, die aber zu ihrer Zeit außerordentlich beliebt und erfolgreich waren und das geistige Bild der Gesellschaft ihrer Zeit wesentlich mitbestimmten, sind oft die Bearbeiter dieser Stoffe. Zu ihnen gehört vor anderen Karl S i m r o c k , der erste germanist. Lehrstuhlinhaber in Bonn (Rheinsagen, 1837, Die geschichtliche dt. Sage, 1850). Simrock hat ungezählte Sagen in Verse umgesetzt und den Typus der Sagen- und Legendenballade wesentlich geprägt. Als gleich erfolgreich stellt sich ihm August K o p i s c h an die Seite, dessen Gedichte noch heute in den Schullesebüchern zu finden sind (Die Heinzelmännchen von Köln, Der Nock u.a.). Manche Volkssagen haben sogar eine vielf ä l t i g e d i c h t e r i s c h e B e a r b e i t u n g erfahren, die nun zu einer Nebeneinanderstellung der motivgleichen Gedichte herausfordert. Wir besitzen z . B . R a t t e n f ä n g e r g e d i c h t e von Goethe, Arnim und Brentano, Simrock, Geibel und Gustav Freytag, dazu noch eine Erzählung von Wilhelm Raabe (,Hämelsche Kinder'). Die Sage von W a s s e r g e i s t e r n , vom W a s s e r mann oder auch von W a s s e r f r a u e n und Nixen mit ihren mannigfachen Einzelzügen spiegelt sich in zahlreichen Gedichten, Balladen und Erzählungen, die der Volkssage zugeordnet sind. Man denke nur an Goethes Fischer, an Mörikes Historie von der schönen Lau, an die Geister am Mummelsee, die Nixe Binsefuß, an Brentanos Rheinmärchen, Fouques und Lortzings Undine, an Richard Wagners Rheingold, an die Gedichte von Justinus Kerner Der Wassermann und Die Nixen von Heinrich Heine,

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Volkskunde und Literatur

Lenaus Seejungfrauen, den Nock von Kopisch, an Andersens Kunstmärchen von der kleinen Seejungfer, in der Gegenwart an Agnes Miegels Schöne Agnete und an Manfred Hausmanns dramatische Ballade Lilofee. Die Sage vom . R i e s e n s p i e l z e u g ' hat ebenfalls die Balladendichtung mehrfach angeregt; wir besitzen dazu Fassungen von Adalbert von Chamisso, A . F. E . Langbein, Friedrich Rückert u. a. Eine ähnliche Zusammenstellung dichterischer Bearbeitungen ließe sich auch für die Sage von der W e i n s b e r g e r W e i b e r t r e u e geben, ferner für die Sagen vom z w e i t e n G e s i c h t (A. v. Droste-Hülshoff: Vorgeschichte, Bei uns zu

Lande auf dem Lande, Bilder aus Westfalen,

Hebbel: Der Heideknabe, Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert, Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst), für die T o t e n s a g e n vom Typus Lenore (Bürger und Rückert) oder für die S c h w a n k s a g e von dem bei der Eichelsaat und Ernteteilung b e t r o g e n e n T e u f e l (Hans Sachs, Rabelais, Eichendorff, Rückert; vgl.

KHM 189 Der Bauer und der Teufet).

Eine Gruppe von Sagen ist erst a u f d e m W e g e ü b e r die D i c h t u n g ins Volk gedrungen. An ihrer Spitze steht die L o r e l e i s a g e . Zwar war der Loreleifelsen bei St. Goar schon im M A . durch sein Echo berühmt, das als Stimme elbischer Wesen gedeutet wurde; aber die Gestalt der Lorelei ist erst durch die Gedichte Brentanos, Heines, Eichendorffs und Simrocks zu ihrer Berühmtheit gelangt. Ähnliches gilt auch für einige andere Erzeugnisse der R h e i n r o m a n t i k , wie z . B . für die Sage von den feindlichen Brüdern. A n d e r e S a g e n s t o f f e und ihre l i t e r a r . B e a r b e i t e r seien hier nur aufgezählt: Wassermann und Nixen (Goethe, Ludwig Tieck, Eichendorff, Kerner, N. Lenau, E. Mörike, G. Keller, W. Busch, Th. Fontane, A. Miegel) — Melusine, Undine (Fouqué, Lortzing, A. v. Arnim, Fontane, G. Trakl, J. Giraudoux, K. Krolow, P. Hüchel, I. Bachmann, P. Rühmkorf, H. W. Henze) — Wasseropfer (E. M. Arndt, B. v. Münchhausen) — Gespensterschiff und fliegender Holländer (H. Heine, W. Hauff, R. Wagner) — Wiedergänger- und Totensagen, Lenore etc. (G. A. Bürger, Goethe, E. Mörike, A. v. Droste-Hülshoff) — Der Tote als Gast, Don Juan (T. de Molina, Molière, M. Frisch) — Wiedererweckte Scheintote (Ch. F. Geliert, A. F. E. Langbein, E. v. Groote) — Todesbotschaft (A. Stifter) — Ring im Fischbauch (Schiller, K. Simrock) — Eile der Zeit (W. Müller) — Versunkene Stadt, Vineta, Untergangssagen (H. Heine, W. Müller, K. Simrock, D. v. Liliencron) — Versunkene Glocke

(G. Hauptmann, R. Dehmel) — Glockenguß zu Breslau (W. Müller) — Schatzgräber (A. Bürger, Goethe, A. v. Chamisso, Eichendorff, E. Geibel, A. Ganther) — Spiritus familiaris (A. v. Droste-Hülshoff, Frank Wedekind) —Tannhäuser (H. Heine, R. Wagner, E. Geibel) — Aroleid (G. Keller) — Pestsagen ( J . Gotthelf, F. Avenarius, W. Bergengruen) — Bahrprobe (F. Graf v. Schack) — Die Sonne bringt es an den Tag (A. v. Chamisso)—Wilder Jäger (A. F. E. Langbein, G. A. Bürger) — Alpenjäger, Herr der Tiere (Schiller) — Werwolf (Goethe, A. v. DrosteHülshoff, K. Groth, Ch. Morgenstern) — Drachenkampf (Schiller, H. v. Doderer) — Rübezahl (F. Freiligrath) — Der getreue Eckart (Goethe, J. Ayrer, L. Tieck) — Teufel als Baumeister (A. F. E. Langbein) — Teufelsbündner, Faust (M. Klinger, Goethe, Grabbe, Th. Mann) — Riesenspielzeug (A. v. Chamisso) — Frau Hitt (J. G. Seidel, K. E. Ebert) — Zwerge, Heinzelmännchen zu Köln (H. Heine, A. Kopisch) — Mann im Mond (J. P. Hebel) — Zweites Gesicht (A. v. Droste-Hülshoff, Fr. Hebbel) — Irrlicht (J. P. Hebel) — Vampir (Br. Stoker) — Rip van Winkle (M. Frisch) — Sennenpuppe (M. L. Kaschnitz, J . Steiner). Franz Anselm S c h m i t t , Stoff- u. Motivgesch. d. dt. Lit. Eine Bibliographie (1959). Elisabeth F r e n z e l , Stoffe d. Weltlit. (1961; 4 Aufl. 1976; Kröners Taschenausg. 300). Dies., Motive d. Weltlit. (1976; Kröners Taschenausg. 301). Helm u t K o o p m a n n , Mythosu. Mythologie in d. Lit. d. 19. Jh.s (1979). Mark E. W o r k m a n , The Role of Mythology in Modem Lit. Journ. of the Folklore Inst. 18 (1981) S. 35-48. A. P u l s , Über einige ' Quellen d. Gedichte von August Kopisch. ZfdU. 9 (1895). [Danach sind 36 Vorlagen aus Grimm, Dt. Sagen, 15 aus Kuhn, Märkische Sagen und Märchen und 34 von Müllenhoff, Schleswig-Holsteinische Sagen und Märchen.] Gaetano A m a l f i , Die Kraniche d. Ibykus in d. Sage. ZfVk. 6 (1896) S. 115-129. Stefan H o c k , Die Vampyrsagen u. ihre Verwertung in d. dt. Lit. (1900). Oswald F l o e c k , Die Elementargeister b. Fouque u. and. Dichtern d. romant. u. nachromant. Zeit (1909). Adolf H a u f f e n , Kl. Beitr. zur Sagengesch. 3. ZurStoffgesch. von Lenaus Anna. ZfVk. 10 (1900) S. 436438. Paul B o r n e f e l d , August Kopisch. Sein Leben u. s. Werke m. e. Quellenunts. zu s. Sagendichtung. Diss. Münster 1912. Günter B i r k e n f e l d , Die Gestalt d. treuen Eckart in d. dt. Sage u. Lit. Diss. Berlin 1924. Rolf E n g e r t , Die Sage vom Fliegenden Holländer (1927). Juliane B ü t z ler, Gesch. d. rhein. Sage u. d. Romantik in ihrem Einfluß auf deren Wiederbelebung (1928). Hedw i g j a c k e , Die rhein. Sage von d. feindl. Brüdern in ihrer von d. Romantik beeinflußten Entwicklung (1932). Valerie H ö t t g e s , Die Sage vom Riesenspielzeug (1931). Johannes K ü n z i g , Der im Fischbauch wiedergefundene Ring in Sage, Legende, Märchen u. Lied, in: Volkskundl. Gaben. John

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Schwab, K . Simrock) — Weiber von Weinsberg (G. A . Bürger, A . v. Chamisso, J. Kerner, B. Brecht) — D e r Grenzlauf (J. R. Wyss, A . F. E. Langbein, A . Stöber, O . Ernst) — Schinderhannes u n d andere Räubersagen (C. Z u c k m a y er). Frantisek G r a u s , Lebendige Vergangenheit. Überlfg. im MA. u. in d. Vorstellungen vom MA. (1975). Leander P e t z o l d t (Hg.), Historische Sagen. 2 Bde (1976-1977). Karl P e l l e n s u. Leander P e t z o l d t , Hist. Sagen im Unterricht (1978). Eberhard S a u e r , Die Sage vom Grafen von Gleichen in d. dt. Lit. Diss. Strassburg 1911. Conrad H ö f er, Die Gestaltung d. Sage vom Grafen von Gleichen in d. dt. Dichtung, in: Die Burg Gleichen u. ihre Bewohnerin Gesch. u. Sage (1935; Mittgn. d. Ver. f. d. Gesch. u. Altertumkunde v. Erfurt 50) S. 151-189. Gustav N o l l , Ottod. Schütz in d. Lit. (Strassburg 1906). Ernst L u d w i g R o c h h o l z , Teil u. GesslerinSageu. Gesch. (1877). ElsbethMerz, Teil im Drama vor u. nach Schiller (1925; Sprache u. Dichtung 31). Fritz M ü l l e r - G u g g e n b ü h l , Die Gestalt Wilhelm Teils in d. mod. schweizer. Dichtung. Diss. Zürich 1950. Otto M a r c h i , Schweizer Gesch. f . Ketzer (Zürich 1971). Lilly S t u n z i (Hg.), Teil. Werden u. Wandern e. Mythos (Bern 1973). Curt-Manfred F r a n k e , Der Schinderhannes in d. dt. Volksüberlfg. Diss. Frankfurt 1958. Karl H o p p e, Die Sage von Heinrich dem Löwen (1952). Helge G e r n d t , Das Nachleben Heinrichs des Löwen in d. Sage, in: W. D. M o h r m a n n (Hg.), Heinrich der Löwe (1980) S. 440-465. Sagenstoffe sind schließlich auch in zahlreichen E r z ä h l u n g e n , N o v e l l e n und R o m a n e n künstlerisch bearbeitet w o r d e n . Es w ü r d e zu weit f ü h r e n , auch hierfür eine umfangreiche Liste aufzustellen. Hingewiesen sei n u r auf K l e i s t (Bettelweib von Locamo), Storm (Schimmelreiter), F o u q u e (Das Galgenmännlein), S t i f t e r (Katzensilber - mit dem Motiv der Todesbotschaftssage), G o t t h e l f (Die schwarze Spinne), C . F. M e y e r (Der Schuß von der Kanzel) oder auf die kulturgeschichtlichen Novellen von Wilhelm Heinrich R i e h l . Wilhelm B u s c h hat nicht n u r selbst eine Sagenund Märchensammlung veranstaltet (Ut oler Welt), sondern wiederholt seinen Bildgeschichten märchenhafte Motive und Strukturen unterlegt. Schließlich gibt es im W e r k T h e o d o r F o n t a n e s zahlreiche Beziehungen zu den Sagen seiner märkischen H e i m a t . Aus der D i c h t u n g des 20. Jh.s sei erinnert an Selma L a g e r l ö f (Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgerson mit den Wildgänsen), H.

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Volkskunde und Literatur

H . E w e r s (Die Alraune), Emil S t r a u ß (Der Schleier), Alfred D ö b l i n (Der Ritter Blaubart), Werner B e r g e n g r u e n (Das Buch Rodenstein, Die Bärenbraut u. a.). Joseph R o t h s Roman Radetzkymarsch schildert die Entstehung einer pseudohistorischen Sage. Besonders viele Motive der Volksüberlieferung finden sich auch etwa im Werk der Marie Luise Kaschnitz.

dichte sind vielmehr nicht selten zeitkritisch; der Dichter zeigt mit dem Märchen die Wirklichkeit oder den Abstand zur Wirklichkeit. So hat auch der E x p r e s s i o n i s m u s das Märchen wieder neu entdeckt und seine Strukturen und Motive übernommen (Hans Arp, Bert Brecht, Theodor Däubler, Oskar Maria Graf, Georg Heym, Klabund, Gustav Meyrink, Reinhard Johannes Sorge u.a.).

Albert B r ü s c h w e i l e r , Jeremias Gotthelfs Darstellung d. Berner Taufwesens (Bern 1926). Emma S p r ö h n l e , Die Psychologie d. Bauern b. Ludwig Anzengruber. Diss. Tübingen 1930. H e lene B a r t h e l , Der Emmentaler Bauer b. Jeremias Gotthelf(mi; Veröff. d. volkskundl. Komm. H . 3). Hans H e l p e n s t e l l , Das bäuerl. Volkstum in A. Stifters Erzählungen. Diss. Köln 1933. Leopold S c h m i d t , Volkskundl. Beobachtungen an den Werken A. Stifters. A . Stifter-Almanach (1953) S. 87-108. Ernst S c h n e i d e r , Volkskundl. Gut in Heinr. Hansjakobs Schriften. Die Ottenau, Veröff. d. hist. Ver.s Mittelbaden 35 (1955) S. 181-208 u. 36 (1956) S. 21-40. Ingeborg W e b e r - K e l l e r m a n n , Volkstheater . . . bei G. Keller. D t . Jb. f. Volksk. 3 (1957) S. 145-168. Leopold S c h m i d t , Volkssagen in Lebenszeugnissen dt. Literaten. Rhein. Jb. f. Volksk. 10 (1959) S. 176-191. Anton v. A v a n z i n , Die sagenmäßige Grundlage von Stifters 'Katzensilber . Österreich. Zs. f. Volksk. 64 (1961) S. 274-276. Alfred A. B l i m b e r g , Motive d. Volksüberlfg. im Werke Werner Bergengruens. Diss. Middlebury/Vermont 1964. Hans R i t t e , Untersuchungen über d. Behandlung von Volksdichtungsstoffen im Werk Selma Lagerlöfs. Arv 23 (1967) S. 1-94 u. 24 (1968) S. 1-90. WillErich P e u c k e r t u. Erich F u c h s , Die schles. Weber(\97\). K u r t R a n k e , Zum 'Schussvon d. Kanzel', in: Die Welt d. Einfachen Formen (1978) S. 207-211. Leopold S c h m i d t , Theodor Fontane u. d. Sagen d. Mark Brandenburg. Fabula 20 (1979) S. 217-230. Eduard S t r ü b i n , Friedrich von Tschudi u. Jeremias Gotthelf über bernische Volkslieder. Schweiz. Arch. f. Volksk. 77 (1981) S. 1-12.

Hartmut G e e r k e n (Hg.), Die goldene Bombe. Expressionist. Märchendichtungen u. Grotesken (1970).

Vom eigentlichen Kunstmärchen abzusetzen ist die U m s e t z u n g v o n V o l k s m ä r c h e n , insbes. bekannter Grimmscher Märchen, in D i c h t u n g - sei es als Nachdichtung, als verfremdende Abwandlung oder als pervertierende Parodie. In anderen Fällen suchen Dichter durch das Einfügen eines Märchens bestimmte Wirkungen zu erzielen; man vergleiche beispielsweise die Einlage des Großmutter-Märchens in B ü c h n e r s Woyzeck. Märchen als Gegenstand von Dichtung braucht nicht eine Flucht ins Unwirkliche zu sein. Märchenge-

Als eine neue Form der Verbindung von Volkserzählung und Lit. erscheint die Gattung der M ä r c h e n l y r i k . In seiner Ballade vom Brennesselbusch hat bereits Börries von M ü n c h h a u s e n das Grimmsche Märchen Jungfrau Maleen (KHM 198) nachgestaltet. Felix K a r l i n g e r , Ein Märchen d. Brüder Grimm als Vorlage e. Ballade. Revista de istorie ji teorie literarä 29 (1980) S. 305-312.

Erstaunlich ist, daß sich die Dichter immer wieder an Grimms Märchen orientieren, dabei aber die mündliche Uberlieferung selbst häufig nicht mehr kennen. Es fällt ferner auf, wie oft d i c h t e n d e F r a u e n sich des Märchens bemächtigt haben. Bei dieser Art von Märchenlyrik handelt es sich um eine sehr elitäre Kunst ohne allzu große Breitenwirkung. Der vom Volksmärchen her erwartete gute Ausgang findet oft nicht statt. Der Verwünschte bleibt unerlöst. M ä r c h e n g e d i c h t e : Dornröschen (L. Uhland, Chr. Busta) — Allerleirauh (Bernt v. Heiseler) — Rapunzel (Elisabeth Langgässer) — Sterntaler (Albrecht Goes) — Aschenputtel (Eva Mohr) — Froschkönig (Marie Luise Kaschnitz) — Die 7 Raben (Sarah Kirsch) — Des Teufels rußiger Bruder (Franz Fühmann) — Der Wolf und die 7 jungen Geißlein (Franz Fühmann) — Wie Kinder Schlachtens miteinander spielten (Erich Kästner). Zu Runges Märchen vom Fischer und seiner Frau hat G. Grass in seinem Roman Der Butt (1977) ein G e g e n m ä r c h e n geschrieben (vgl. Heinz Rölleke: Der wahre Butt 1978). Das märchenhafte Thema des Drachenkampfes hat Wolf Biermann in seinem Theaterstück Der Dra-Dra. Die große Drachentöterschau (1970) wieder aufgenommen. Der Drache ist ihm dabei ein G l e i c h n i s für parasitäre Macht, für

Volkskunde und Literatur Ausbeutung, Willkür und konterrevolutionären Terror. Auch das z e i t g e n ö s s . M ä r c h e n benutzt noch die Kulisse und die Figuren des traditionellen Volksmärchens und bedient sich der alten Märchenform ( z . B . Michael Ende, Iring Fetscher, Franz Fühmann, Hans-Joachim Gelberg, Peter Härtling, Janosch, Günter Kunert, Reiner Kunze, Wolfgang Weyrauch). Ein von Jochen Jung 1974 hg. Sammelband hat eine sehr reizvolle Idee verwirklicht: Eine Reihe von Autoren wurde aufgefordert, a l t e M ä r c h e n u n d S a g e n neu zu e r z ä h l e n . Als inspirierende Vorlage dienten Bilderbogen des vorigen Jh.s. Unter den Autoren sind Ilse Aichinger, Jörg Drews, Max von der Grün, Elisabeth Borchers, Peter Härtling, Karl Krolow, Wolfdietrich Schnurre, Hermann Lenz, Karin Struck, Marie Luise Kaschnitz, Gerhard Zwerenz. Manche Autoren bleiben in Stoff und Erzählweise im alten Märchenton. Anderen geht es aber um Enthüllungen dessen, was die überlieferten Geschichten unausgesprochen lassen. Wieder andere übertragen den Stoff einfach in die Gegenwart. In jedem Fall bietet diese Samml. einen aufschlußreichen Einblick in den Umgang heutiger Autoren mit der Volksüberlieferung. Sagen und Märchen erscheinen dann keineswegs nur traditionell oder gar reaktionär, sondern werden zum Denkanstoß für Innovationen oder gar aufklärerische und revolutionäre Ideen. Jochen J u n g (Hg.), Märchen, Sagen u. Abenteuergesch. auf alten Bilderbogen neu erzählt von Autoren uns. Zeit (1974).

In der Gegenwart besteht das Verhältnis Lit.-Volksdichtung oft nur noch in der P a r o d i e . Vor allem der oft und allzuoft gehörten und weitererzählten Märchen hat sich die literar. Parodie angenommen. Aber auch viele Sprichwörter und Volkslieder sind heutzutage in ihrer parodierten Form bekannter als in ihren ursprünglichen Versionen ( z . B . O Tannen-

baum; Heideröslein; Wenn ich ein Vöglein war'; Schlaf, Kindlein, schlaf; Der Mai ist gekommen). Gerade die volkstüml. Gattungen drängen aufgrund ihrer einfachen und durchschaubaren Struktur geradezu auf Nachahmung und Variation und bieten Ansatzpunkte für neue Kreationen und Re-Innovationen. Erwin R o t e r m u n d , Die Parodie in d. mod. dt. Lyrik (1963). Lutz R ö h r i c h , Gebärde. Metapher. Parodie (1967). Iring F e t s c h e r , Wer hat Domröschen wachgeküßt? (1972 ; 3. Aufl. 1976).

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Janosch erzählt Grimms Märchen (1972). HansJoachim G el b erg (Hg.), Neues vom Rumpelstilzchen u. and. Hausmärchen von 43 Autoren (1976). Theodor V e r w e y e n u. Gunther W i t t i n g , Die Parodie in d. neueren dt. Lit. (1979). Lutz R ö h r i c h , Der Froschkönig u. s. Wandlungen. Fabula 20 (1979) S. 170-192. Wolfgang M i e d e r , Dt. Volkslieder. Texte, Variationen, Parodien (1980; Arbeitstexte f. d. Unterricht). Hans R i t z , Die Gesch. vom Rotkäppchen. Ursprünge, Analysen, Parodien e. Märchens (1981). Wolfgang M i e d e r , Modern Anglo-American Variants of 'The Frog Prince' (AT 440). Folklore 6 (1980) S. 111-135. Lutz R ö h r i c h , Möglichkeiten u. Veränderungen d. Märchens in d. Gegenwart, in: Märchen u. Märchentheater in unserer Zeit (1980) S. 31-45.

Neuere Lit. hat noch a n d e r e t r a d i t i o n e l le G e n r e s der Folklore adaptiert, verfremdet und verarbeitet. Genannt seien u. a. nur Sprichwort, Kinderlied und Zauberspruch. Es gibt z . B . das Genre des Sprichwortgedichts (A. v. Chamisso, K. Kraus, B. Brecht, E. Kästner, E. Roth, G . Kunert). Wolfgang M i e d e r , Dt. Sprichwörter u. Redensarten (1979; Arbeitstexte für den Unterricht). Wolfgang M i e d e r , Mod. dt. Sprichwortgedichte. Fabula 21 (1980) S. 247-260.

Schriftsteller wie Peter Rühmkorf oder H. M. Enzensberger bedienten sich der Form des Kinderliedes. Peter R ü h m k o r f , Über d. Volksvermögen. Exkurse in d. literar. Untergrund. (1969). Hans Magnus E n z e n s b e r g e r , Allerleirauh (1961). Ingeborg W e b e r - K e l l e r m a n n u. Regine F a l k e n b e r g (Hg.), Was wir gespielt haben. Erinnerungen an d. Kinderzeit (1981).

Mit seinen Zauberund Segenssprüchen (1947) gibt Werner B e r g e n g r u e n ein gutes Beispiel für die Adaptierung volkstüml. Motive in der Hochlit. In Stil, Form und Struktur bilden diese Dichtungen genaue Entsprechungen zu den Zauber- und Segensformeln der volkstüml. Magie, womit sich der Ring wieder zum Ausgangspunkt ahd. Dichtung schließt. § 8. E r g e b n i s s e . Es ist hier versucht worden, die Gesch. der dt. Lit. unter dem Gesichtspunkt ihres v o l k s k u n d l . Q u e l l e n w e r t e s zu betrachten. Dabei ging es sowohl 1. um das Eindringen von primär literar. Gut in die Genres der Folklore, d.h. um Popularisierungsvorgänge (Folklorisierung) als auch 2. um

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Volkskunde und Literatur

das Auftreten von überlieferter Folklore in der oberschichtlichen Lit. Beide Blickrichtungen und Fragestellungen sind für die dabei beteiligten Wissenschaften - V. und Lit.wiss. - von grundsätzlicher Bedeutung. Durch die Aufnahme und Tradierung populärer Stoffe wie auch durch die Schilderung von Volksleben ist Lit. aller Zeiten eine unentbehrliche Quelle für die V. (Arbeiten vom Typ , Volkskundliches bei . . .'). Bevor man seit der Romantik, seit Herder, Arnim und Brentano, den Brüdern Grimm Volksüberlieferungen aus zeitgenöss. authentischen Quellen aufzeichnete, sind literar. Schilderungen und Darstellungen die nahezu einzigen (wenn auch meist zufälligen) Belege für volkskundliche Sachverhalte. Die Ideen Herders, Arnims und Brentanos, vor allem aber der Brüder Grimm verursachten eine weltweite S a m m e l t ä t i g k e i t , die sich insbes. im dt.sprachigen Mitteleuropa in hunderten und aberhunderten von Märchen- und Sagensammlungen, Volkslied- und Sprichwortsammlungen etc. konkretisierte. Die Bewegung hat auf die Lit. insbes. des 19. Jh.s eine ungeheure Rückwirkung gehabt. So befinden sich Volksdichtung und Lit. in einem unaufhörlichen Wechselverhältnis. Erst die Kenntnis der Quellen läßt den Lit. Wissenschaftler erkennen, welchen Gebrauch der Autor vom volkstüml. Rohstoff gemacht hat. Wichtige Voraussetzung literar. Interpretation ist also auch Kenntnis von Volkslit. In dieser Richtung konnte der vorliegende Artikel nur einen vorläufigen - mehr quantitativ als qualitativ orientierten - Uberblick bieten. Er mußte im Grunde genommen im Vorhof dessen stehenbleiben, was nun noch geleistet werden muß, um zu einer wertenden Entwicklungsgeschichte des Verhältnisses von Folklore und Lit. zu gelangen. Im Rahmen eines Lexikonartikels ist es nicht möglich, grundsätzlich - im allgemeinen wie im besonderen - die M o t i v a t i o n e n aufzuzeigen, die einen Dichter bestimmen, Folklore-Inhalte aufzunehmen. Es kann hierfür in der Tat die verschiedensten Gründe geben, z.B. den, sich mit dem ,einfachen Volk' zu identifizieren, ein breites Publikum zu erreichen, denn wegen ihrer allgemeinen Bekanntheit sind Folklore-Inhalte allgemein verfügbare Bildungsgüter. Mit der Hinwendung zum volkstüml. Rohstoff kann eine ideologische oft konservativ-restaurative Tendenz zum Nationalen, Bodenständigen, Heimatverwurzelten verbunden sein, aber

auch soziales Verständnis und Engagement für einfache Menschen, Unterschichten, Subkulturen und ihre Probleme, mit dem gleichzeitigen Mißvergnügen an ,höheren', bürgerlichen oder feudalen Sujets; auch die bewußte Abkehr von antik-klassischen Vorbildern. Folklore kann also auch zum intellektuellen Widerspruch anregen und den Autor dazu bringen, den traditionellen Folkloretext eben nicht zu adaptieren und zu bestätigen, sondern zu widerlegen, zu verändern, verfremden, mit neuen Tendenzen, Intentionen, Lehren inhaltlicher oder formaler Art aufzufüllen. Dies hat indes nicht nur mit individuellen Neigungen und Intentionen zu tun, sondern ist auch eine Frage der literar. E p o c h e und ihrer ideologischen Prämissen. In jedem Fall muß ein Folklore-Stoff einen a l l g e m e i n m e n s c h l i c h w i c h t i g e n Vorgang enthalten, wenn er für einen Dichter relevant werden soll. Der bloße Nachvollzug einer Sage oder eines Märchens ist meist noch keine große Dichtung. Nicht selten weitet darum erst der Dichter das scheinbar nur Punktuelle, Individuelle oder Zufällige zum allgemein Menschlichen (gelungene Beispiele: Schiller, Der Alpenjäger; Goethe, Der Schatzgräber). Es ist auffallend, wie wenig durch literar. Bearbeitungen volkstüml. Stoffe bis zum 19. Jh. in der Regel verändert wurden. Insbes. zweit- und drittrangige Poeten haben in ihren Bearbeitungen die Stoffe kaum oder nur unwesentlich bereichert. Die Entwicklung der literar. Bearbeitung zeigt im Laufe der Zeit dann eine immer stärkere A b w e i c h u n g von den s t o f f l i chen G r u n d l a g e n . In der Gegenwart erhöht sich mit zunehmender V e r f r e m d u n g meist auch die Qualität der Dichtungen mit folklorist. Stoffhintergrund. Aber erst den Schriftstellern des 20. Jh.s gelingt es zumeist, sich von der V o r l a g e g a n z zu b e f r e i e n , Folklore-Stoffe ad adsurdum zu führen oder geradezu als negative Beispiele zu pervertieren. Andererseits zeugt die immer wieder erneute literar. Aufnahme von Märchen, Sagen und Liedern von der L e b e n s k r a f t des folklorist. Rohstoffs. § 9. A l l g e m e i n e L i t e r a t u r z u m Problem L i t e r a t u r - V o l k s d i c h t u n g : August S a u e r , Lit.gesch. «. V. (Prag 1907). Tjaard W. R. de H a a n , Volk en Dichterschap (Antwerpen 1950). J o h n T . F l a n a g a n a n d Arthur Palmer H u d s o n , Folklore in American Lit. (Evanston/Ill. 1958). Max L ü t h i , Volksmärchen

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Röhrich

Volkslied § 1. Q u e l l e n u n d A u f z e i c h n u n g s g e s c h i c h t e . Seit der Mitte des 15. J h . s vermitteln zunächst Handschriften reiches Quellenmaterial des frühen V.bestandes, wie z . B . die Colmarer Liederhandschrift (ca. 1450), das Lochamer Liederbuch aus Nürnberg (1452-1460), das Wienhäuser Liederbuch (um 1470), das Augsburger Liederbuch der Klara H ä t z l e r i n (1471), das Rostocker Liederbuch (1465-1487), das Glogauer Liederbuch (um 1480) u.a. Nach dem Aufkommen des Buchdrucks treten Flugblatt-Drucke sowie gedruckte Liederbücher hinzu, wie die Bergkreyen (Lieder für Bergleute, 1531) oder die Reutterliedlin (Reiter- und Landsknechtslieder, 1535), die Graßliedlin (Liebeslieder, 1535) und die Gassenhawerlin (Straßenlieder, 1535).

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Editionen älterer Handschriften und Drucke: Hugo Moser u. Joseph M ü l l e r - B l a t t a u , Dt. Liederd. MA.i(1968). RolfWilh. B r e d n i c h , Die Liedpublizistik im Flugblatt d. Ii. bis 17. Jh.s. 2 Bde (1974-1975). Zwischen Minnesang u. Volkslied. Die Lieder d. Berliner Hs. germ. fol. 922 (ca. 1410-1430). Hg. v. Margarete Lang u. Joseph M ü l l e r - B l a t t a u (1941). Mondsee-Wiener Liederhandschrift. Faks.-Ausg., Kommentar v. Hedwig Heger (Graz 1968). Die Colmarer Liederhandschrift. Faks.-Ausg. hg. v. Friedrich Gennrich (1967). Das Lochamer-Liederbuch. Hg. v. Walter Salmen u. Christoph Petzsch (1972). Das Wienhäuser Liederbuch. Faksimile u. Ubertragung, hg. v. Heinrich Sievers, 2 Bde (1954). Das Rostocker Liederbuch. Nach d. Fragmenten d. Hs. neu hg. v. Friedrich Ranke u. Joseph M ü l l e r - B l a t t a u (1927). Liederbuch der Clara Hätzlerin. Aus d. Hs. d. Böhmischen Museums zu Prag hg. v. Carl Haltaus (1840; Faks.-Ausg. m. e. Nachw. von Hanns F i s c h e r 1966). Das Glogauer Liederbuch. Hg. v. Heribert Ringmann u. Joseph Klapper. 2 Teile (1936-1938). Liederbuch der Anna von Köln. Hg. v. Walter Salmen u. Johannes Koepp (1954). Das Liederbuch d. Johannes Heer von Glarus. Hg. v. Arnold Geeringu. Hans T r ü m p y (Basel 1967). Bergreihen. E. Liedersamml. d. 16. Jh.s mit drei Folgen, hg. v. Gerhard H e i l f u r t h , Erich Seemann, Hinrich Siuts u.a. (1959). Gassenhawerlin u. Reutterliedlin zu Franckenfurt am Meyn 1535. Faks.ausg. hg. v. Hans Joachim Moser (1927; Neudr. 1970). Georg F o r s t e r , Frische Teutsche Liedlein (1539 bis 1556). Gesamtausg. T. 1 hg. v. Kurt Gudewill u. Wilhelm Heiske (1942); T. 2 hg. v. Kurt Gude will u. Hinrich Siuts (1969); T. 3 hg. v. Kurt Gudewill u. Horst Brunner (1976). HetAntwerps Liedboek (1544). Hg. v. K. V e l l e k o o p u. H. W a g e n a a r - N o l t h e n i u s u. Mitw. von W. P. G e r r i t s e n u . A. G. HemmesH o o g s t a d t . 2 Bde (Amsterdam 1972). Die Darfelder Liederhandschrift 1546-1565. Hg. v. Rolf Wilh. Brednich (1976). Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582. Hg. v. Joseph Bergmann (1845; Neudr. 1962). Die Ebermannstädter Liederhandschrift (um 1750). Hg. v. Rolf Wilh. Brednich u. Wolfgang Suppan (1972). Der entscheidende Anstoß zur Erforschung des V.s ging in Deutschland von Johann Gottfried H e r d e r aus. Den von Michel de M o n t a i g n e in seinen Essais (1580) geprägten Begriff ,poesie populaire' führte er als ,Volkspoesie' in die dt. Sprache ein. Auch der Begriff .Volkslied' ist eine Prägung Herders. Er gebrauchte ihn zum ersten Mal 1773 in seinem Aufsatz Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, anonym veröffent-

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Volkslied

licht in den Blättern Von deutscher Art und Kunst. Herders Hinwendung zur sog. Naturpoesie wurde angeregt durch die Ossian-Fälschung des Schotten James M a c p h e r s o n (1736-1796) sowie durch die Reliques of Ancient English Poetry des Engländers Thomas P e r c y (1729-1811). V.er waren für Herder jene Lieder, die die Natur eines Volkes, seine Denkart und nationale Eigenart und damit zugleich das alle verbindende Natürlich-Menschliche überhaupt in historisch-konkreter Gestalt charakteristisch zum Ausdruck bringen: „Lebendige Stimme der Völker, ja der Menschheit selbst". Seine eigene Samml. veröffentlichte Herder 1778/79 u. d. T. Stimmen der Völker in Liedern. Auf Herders Anregung sammelte G o e t h e 1771 ein Dutzend dt. V.er aus mündlicher Uberlieferung im Elsaß und steht damit am Beginn authentischer Aufzeichnungen von V.ern. Ebenfalls 1777/78 gab der Berliner Schriftsteller und Verleger Friedrich N i c o l a i in zwei Teilen seine Samml. Eynfeyner kleyner Almanach vol schönerr echterr Ijblicherr Volcksljder . . . gesunngen von Gabryel Wunderlich weyl. Benkelsengernn tzu Dessaw . . . heraus. Schon die Schreibweise des Titels, insbes. aber Vorwort und Inhalt zeigen, daß hier die neu aufgekommene V.begeisterung parodistisch verspottet werden sollte. Die wichtigste Liedersamml. der dt. Romantik ist Achim von A r n i m s und Clemens B r e n t a n o s dreibändige Samml. Des Knaben Wunderhorn (18051808). Nurz. T. handelt es sich hierbei um hist. und authentische V.er. Zusätzlich nahmen die Herausgeber zahlreiche Lieder dt. Lyriker auf sowie auch einige eigene Gedichte. Die erste größere landschaftliche V.samml. brachte Joseph George M e i n e r t s Alte teutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens (1817). Weitere Höhepunkte landschaftlicher Samml. sind H o f f m a n n s von F a l l e r s l e b e n Schlesische Volkslieder sowie die Samml. von Ludolf P a r i s i u s in der Altmark und Franz Wilhelm Freiherr von D i t f u r t h s Fränkische Volkslieder (1855). Die erste hist.-philologische Ausgabe bot dann erst Ludwig U h l a n d mit seiner Sammlung Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder (1844/45). Der erfolgreichste Sammler des 19. Jh.s war Ludwig E r k , von dem 20.000 Aufzeichnungen erhalten sind. Aufgrund seiner Sammlungen gab Franz Magnus B ö h m e den dreibändigen Deutschen Liederhort heraus (1893/94), noch immer die umfassendste Kompilation dt. V.er.

Johann Gottfried Herder, Stimmen der Völker in Liedern. V.er. T. 1. 2. (1778-79), danach in: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 25 (1885; Nachdr. 1967-1968); neu hg. v. Heinz Rölleke (1975; ReclamUB. 1371). Anneliese Kleinau, Herders Volksliedbegriff. (Masch.) Diss. Marburg 1947. Ursula Wertheim, Das V. in Theorie u. Praxis bei Herder u. Goethe, in: Wertheim, Goethe-Studien (1968) S. 9-35. H. Strobach, Herders V.begriff. Jb. f. Volksk. u. Kult.g. NF. 6 (1978) S. 9-55. Louis Pinck (Hg.), V. er von Goethe im Elsaß gesammelt m. Melodien u. Varianten aus Lothringen u. dem Faksimiledr. d. Straßburger Goethe-Hs. (1932). Ludwig Achim von Arnim u. Clemens Brentano, Des Knaben Wunderhorn. Alte dt. Lieder, hg. von Heinz Rölleke (1975-1978; Brentano, Sämtliche Werke u. Briefe. Hist.-krit. Ausg. Bd. 6-9). KarlBode, Die Bearbeitung d. Vorlagen in 'Des Knaben Wunderhorn (1909). Erich Stockmann (Hg.), 'DesKnaben Wunderhorn in den Weisen s. Zeit (1958). Friedrich Nicolai, Eyn feyner kleyner Almanach. 2 Bde (1777-78; Faks.ausg. von Johannes Bolte 1918). Ludwig Uhland, Alte hoch-u.ndd. V.er. 2 Bde (1844-45; Neudr. 1968). Adolf Thoma, Uhlands V.ersamml. (1929). Joseph George Meinert, Alte teutsche V.er in d. Mundart d. Kuhländchens. Bd. 1 (1817; Neuausg. von J. Goetz, Brünn 1909). August Heinrich Hoffmann von Fallersleben u. E. Richter, Schlesische V.erm. Melodien (1842; Neudr. 1975). Franz WilhelmFrh. voaDitivirt\i,Fränkische V.er. . . 2 Teile (1855; Faks.-Neudr. d. 1. Aufl. 1978). Ludwig E r k , Die dt. V.erm. ihren Singweisen. 3 Bde (1838-1845). Ders., Deutscher Liederhort (1856; neubearb. u. fortges. von Franz Magnus Böhme. 3 Bde (1893-1894; Neudr. 1963; 2. Nachdr. 1972). Franz Magnus Böhme, Volkstümliche Lieder d. Deutschen im 18. u. 19. Jh. (1895; Neudr. 1970). Ders., Deutsches Kinderlied u. Kinderspiel (1897; Neudr. 1924, Nendeln/ Liechtenstein 1967). Ders., Altdeutsches Liederbuch (1877; Neudr. 1966).

§ 2. S a m m l u n g e n des 19. und 20. J h s . Ausgelöst durch die Anregungen Herders und der Romantik brachte das 19. und 20. Jh. eine Fülle von landschaftlichen und nationalen V.samml.en hervor, von denen hier nur die wichtigsten aufgeführt werden können. Paul Alpers, Alte ndd. V.er m. ihren Weisen (2. Aufl. 1960). Anton Anderluh, Kärntens V.schatz. Bd. 1-12. Reg.bd. bearb. von Walter Deutsch (1964-1976). BelaBartök, Das ungarische V. (1925). Ders. u. Zoltän Kodäly (Hg.), Corpus musicae popularis hungaricae (Budapest 1951 ff.). Rudolf Zacharias Becker, Mildheimisches Lieder-Buch von 518 lustigen u. ernsthaften

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mern), hsl. Liederbücher, Bilddokumente und eine Graphiksammlung zur Kulturgeschichte des Singens und Musizierens sowie wichtige Dokumente zum Thema der Liedpopularisierung durch Zeitungs-, Markt- und Bänkelsänger, ca. 12.000 Schallaufnahmen sowie eine Fachbibliothek von ca. 35.000 Bänden. Die Materialien sind durch mehrere Kataloge nach verschiedenen Gesichtspunkten erschließbar. Veröffentlichungen des Dt. Volksliedarchivs: Dt. V.er m. ihren Melodien. Bd. 1 (1935); Bd. 2 (1939); Bd. 3 (1954); Bd. 4 (1959); Bd. 5 (1967); Bd. 6(1976). (Wirdfortgesetzt). L u t z R ö h r i c h u . Rolf Wilhelm B r e d n i c h , Dt. V.er. Bd. 1: Erzählende Lieder. Bd. 2: Lieder aus d. Volksleben. Brauch u. Arbeit, Liebe, Geselligkeit (1965 u. 1967). Landschaftliche V.erm. Bildern u. Weisen. 44 Hefte (ab H. 39: Landschaftliche V.erm. ihren Weisen 1924-1972). Jahrbuch f . V.fschg. Bisher 25 Bde u. e. Reg.bd. f. die Bde 1-20; Erscheinen zunächst sporadisch (1928, 1930, 1932, 1934, 1936,1938,1941,1951), seit 1964 jährlich. Studien z. V.fschg. Beihefte z. Jb. f . V.fschg. (bisher 4 Hefte, 1940-41). Gottscheer V.er. Gesamtausg. hg. v. Rolf Wilh. B r e d n i c h , Zmaga K u m e r u. Wolfgang S u p p a n . Bd. 1: Volksballaden (1969), Bd. 2: Geistliche Lieder (1972). Deutsche Volkslieder. E. Dokumentation d. Dt. Musikrates. T. 1: Alte Lieder aus mündl. Überlieferung. Schallplattenkassette m. dreisprach. Begleitheft (1961). Handbuch d. V.es. Hg. v. Rolf W. B r e d n i c h , Lutz R ö h r i c h , Wolfgang S u p p a n . Bd. 1: Die Gattungen d. V.es, Bd. 2: Historisches u. Systematisches, Interethnische Beziehungen, Musikethnologie (1973-1975). Melodietypen d. dt. Volksgesanges. Hg. v. Hartmut B r a u n , Wolfgang Supp a n u. Wiegand Stief. 3 Bde (1976-1980). Literatur über das Dt. Volksliedarchiv: Berichte über die Sammlung dt. V.er, erstattet vom V.ausschuß d. Verbandes dt. Vereine f. Volkskunde, Nr. 1-18 (1915-1941). Erich S e e m a n n , John Meier (1864-1953). S. Leben, Forschen u. Wirken (1954; Freiburger Univ.sreden, N . F . 17). Rolf Wilh. B r e d n i c h , Zum 50jährigen Bestehen d. Dt. Volksliedarchivs in Freiburg i. Br. E. Forschungsbericht. Hess. Blätter f. Volksk. 55 (1964) S. 310-318. Ders., Das Dt. Volksliedarchiv in Freiburg i. Br. and German Folksong Research. Journ. of the Folklore Institute 5 (1968) S. 198-211. Wolfgang S u p p a n , Das Dt. Volksliedarchiv u. d. Katalogisierung von Volksweisen, in: Methoden d. Klassifikation von Volksliedweisen (Bratislawa 1969) S. 17-29. Wilhelm H e i s k e , Das Dt. Volksliedarchiv in Freiburg i. Br., in: Handbuch d. Volksliedes. Bd. 2 (1975)S. 175-184. J ü r g e n D i t t m a r (Red.), Das Dt. Volksliedarchiv Freihurg i. Br. 1977).

Neben die Veröffentlichung von gedruckten V.samml.en ist in den letzten Jahrzehnten die Tondokumentation authentisch aufgezeichneter Lieder auf Schallplatten getreten. In diesem Bereich sind insbes. die Veröff.en des Instituts für Ostdeutsche Volkskunde in Freiburg i. Br. hervorzuheben. Johannes K ü n z i g, Ehe sie verklingen . . .Alte dt. Volksweisen vom Böhmerwald bis zur Wolga (3. Aufl. 1977). Ders. u. Waltraut W e r n e r , Gottscheer V.er aus mündl. Überlieferung (3 Langspielplatten m. Texth.) (1967). Dies., Balladen aus ostdt. Überlieferung (4 Langspielplatten m. Texth.) (1969). Dies., Legendenlieder aus mündl. Überlieferung (3 Langspielplatten m. Texth.) (1971). Johannes K ü n z i g u. Waltraut W e r n e r Künzig, Liebeslieder vom Böhmerwald bis zur Wolga (3 Langspielplatten m. Texth.) (1979).

§4. Der Begriff . V o l k s l i e d ' . Die V.forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten durch eine umfangreiche Sammeltätigkeit eine breite Materialgrundlage geschaffen und in zahlreichen Arbeiten ihre Aufgaben und Forschungsansätze diskutiert. Dabei ist der Begriff ,V.' selbst in Frage gestellt worden. Manche Forscher setzen an seine Stelle Ausdrücke wie ,das populäre Lied' (.Popularlied'), ,Gruppenlied' ,grundschichtiges Singen', ,laienmäßiger Gruppengesang' etc. Trotz aller Kritik am V.begriff haben die Folkloristen und Musikethnologen es jedoch nicht aufgegeben, ihren Forschungsgegenständ noch immer als V. zu bezeichnen (W. Danckert, W. Suppan, E. Klüsen). So haben selbst progressive Darstellungen den V.begriff nicht aus der Diskussion verdrängt. Das zuständige Forschungsinstitut in Freiburg i.Br. trägt noch immer seinen traditionellen Namen ,Dt. Volksliedarchiv' und das alles, weil es schlechterdings unmöglich ist, einen Begriff zu verwerfen, der sich im Laufe von bald 200 Jahren eingebürgert hat und für den es noch kein besseres Ersatzwort gibt, jedenfalls keines, das in der Fachterminologie absolut gültig und unumstritten wäre oder sich gar in der allgemeinen Umgangssprache schon durchgesetzt hätte. Mindestens ist V. ein Arbeitstitel für einen Forschungsgegenstand, den es nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten, lit.wiss. und musikethnologischen, historischen wie soziologischen und psychologischen näher zu differenzieren und vielseitig zu beleuchten gilt. Der Begriff V. (und ebenso - .Volksballade' [s.d.]) ist zuerst ein Kunstwort, ein Gelehrten-

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von Liedern mit jeweils eigenen Begriffsprägungen. Es bietet sich daher eher ein Zuviel als ein Zuwenig an Begriffen an, und vielleicht entstand gerade dadurch eine totale Begriffsverwirrung. Die uneinheitliche Terminologie ist ein nicht unbeträchtliches Handicap der V.forschung. Viele Begriffe sind völlig unreflektiert angewandt worden, und es ist die Frage, ob die Gattungen des V.s überhaupt Teile eines Systems sind. Beim Versuch, Ordnung in die Vielfalt der Begriffe zu bringen, zeichnen sich deutlich verschiedene K r i t e r i e n ab; insbes. bietet sich eine Aufteilung der Terminologie nach Stoff, Inhalt, Form, Liedträgern und Sängern, Anlaß, Ort und Zeit des Singens und nach Funktionen sowie nach dem Grad der Folklorisierung an.

ausdruck. Er ist eine aus einer bestimmten geistesgeschichtlichen Situation erwachsene Wortprägung (Herder), ein liter. wiss. terminus technicus. Kaum einer der Gewährsleute, von denen die Folkloristen unserer Tage authentische Gesänge notieren, spricht von , Volksliedern' oder ,-balladen' - diesen Begriff kennt er höchstens durch Bildungserlebnisse, durch Schule und Gesangverein - , er spricht allenfalls von , alten' oder altertümlichen Liedern', von Wirtshaus-, Räuber-, Soldatenliedern, oder er kennt mundartliche Bezeichnungen einzelner Liedgattungen (wie etwa bayerisch ,Gaudi-Lied', ,Gstanzl', schwäbisch ,Rappeditzle'). Zum zweiten — und das ergibt sich schon aus dem ersten - ist V. ein historisch relativer Begriff; ein Begriff, den es noch nicht gab, als doch schon jh.elang V.er gesungen wurden. Aber weder im MA. noch in den darauffolgenden Jh.en sprach irgend jemand von V.ern. In der Geschichte des V.s taucht der Begriff selbst sehr spät auf. Die Sache aber hat jh.elang vor dem dafür geprägten Begriff existiert. Und es hat hierfür auch vorher schon Benennungen gegeben, wenn auch freilich keine normierten und allgemein verbindlichen. Jedenfalls war die Gegenüberstellung von Volksgesang und vokaler Kunstmusik schon im MA. verbreitet und formelhaft. Dabei tauchen Begriffe auf wie ,musica vocalis usualis', ,cantus vulgi' als Gegensatz zu den Leitbegriffen der ,musica artificialis' und ,musica regulata'. Bei mal. Schriftstellern finden sich die Ausdrücke ,vulgares cantilenae'. Und schon die Antike kennt Ausdrücke wie ,cantica poetarum vulgarium', ,rustica carmina' und ,rusticum vetus canticum'; niemals allerdings findet sich ein ,Carmen populäre'! Seit dem 15. Jh. treten auch dt.sprachige Begriffe wie ,Purengesangk' und ,dorpsanc' auf. Die Villanelle definiert 1619 Michael Praetorius als „Bawrliedlein, welche die Bawren und gemeine Handwercksleute singen". Weitere volkssprachliche Bezeichnungen in den frühen Liederbüchern sind ,Graßliedlin', ,Gassenhawerlin', ,Reutterliedlin', ,Bergkreyen', ,hüpsch new Lied', .Gesellenliedlin', ,Straßenlied' u. a. Die verschiedenen Auffassungen des V.begriffes ergeben tatsächlich wie der Untertitel des Buches von J . von Pulikowski sagt - : ,Ein Stück deutscher Geistesgeschichte.'

§ 5. Vorzugsweise geht die textologische Begriffsbildung von S t o f f e n und I n h a l t e n aus. Hierher gehören Liedgattungsbezeichnungen wie ,weltliches' und geistliches Lied' (Choral), Liebes-, Heimat-, erzählendes Lied, hist. Ereignislied. Jede dieser Gruppen läßt sich in weitere inhaltsbezogene Stoffgruppen unterteilen. Der Begriff,erzählende Lieder' bedingt, daß die Erzählinhalte wieder nach bestimmten Erzählkategorien aufgegliedert werden können: Sagen-, Märchen-, Schwankballade, Legenden-, Rätsellied etc. Innerhalb dieser Gattungen läßt sich entsprechend weiter untergliedern nach kleineren Bauelementen (narrative urtits), nach konfliktbildenden Situationen, dramatischen Szenen (dramatic elements), Auftritten oder Motiven - wiewohl gerade diese Kategorisierungsfragen heftig umstritten sind. , Historische Ereignislieder' lassen sich sowohl nach geschichtlichen Vorgängen als nach ihren Helden bzw. Antihelden gruppieren (z.B. Türken-, Prinz-Eugen-, Marlborough-, Schinderhannes-Lieder). , Geistliche Lieder' sind entweder Lieder auf bestimmte religiöse Personen (Marien-, Heiligenlied) oder sie enthalten eine allgemeine religiöse Thematik (z.B. Bitt-, Dank-, Lob-, Trostlied). Ebenso lassen sich Liebeslieder nicht selten vom Inhalt her bestimmen; sie sprechen von glücklicher oder unglücklicher Liebe, von Treue oder Untreue, von bestimmten Verhaltensweisen oder Stimmungen der Liebenden (z.B. Abschiedslieder).

Der Begriff V. erweist sich bei näherer Betrachtung als Dachbegriff für ein Bündel recht unterschiedlicher Gruppen und Untergruppen

§ 6 . F o r m . Aussagen über Strophenbau, Aufbau und Form von Liedern machen z . B .

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die Begriffe: Einstropher, Zeilenlied, Zwei-, Vier-, Achtzeiler etc., Gerüststrophenlied (mit einer stetig weiter vermehrbaren Zahl von Strophen; so sind z . B . von ,Pastor sin Kauh' mehr als 600 Strophen im Umlauf), Ketten-, Schwell-, Aufzähl-, Additions-, Alphabet-, Dialog-, Kehrreimlied, Refrainballade, Kaleidoskopoder Mosaiklied (d.h. die einzelnen Bestandteile sind auswechselbar oder ersetzbar). Auf die musikalische Form eines Liedes zielen Ausdrücke wie Arbeitstaktlieder, Tenorlied, Quodlibet etc. Gegenüber den inhaltsbezogenen Liedbezeichnungen sind die formalen in der Minderzahl und dienen weniger zur Gruppierung von Sammlungen oder Gattungen, als vielmehr zur Charakterisierung einzelner Lieder. § 7. Eine dritte Gruppe von Bezeichnungen benennt die einzelnen Liedgruppen nach ihren T r ä g e r n und S ä n g e r n . Hierbei finden sich: a) Differenzierungen nach G e s c h l e c h t und A l t e r s k l a s s e n , z . B . Kinder-, Jugendgruppen-, Burschen-, Männer-, Frauenlied, Mädchenlieder, Nonnenklagen etc., d.h. Lieder oder Liedstrophen, die als Aussage einer weiblichen Person in den Mund gelegt werden (oft als männliche Ventildichtung). Erotische Lieder, Soldaten- und Zunftlieder sind vorwiegend ,Männerlieder', können aber natürlich auch von Frauen gesungen werden. b) Differenzierungen nach sozialen G r u p p e n : Seemanns-, Landsknechts-, Auswanderer-, Soldaten-, Studenten-, Bergmanns-, Arbeiterlied. Zu dieser Gruppe der berufständischen Lieder gehört insbes. die Gruppe der Zunft- und Handwerkerlieder (Weber-, Schneider-, Müllerlied etc.) und die Lieder der wandernden Handwerksgesellen. Dabei gibt es Gruppen der verschiedensten Art, wie z . B . soziologisch ausgedrückt ,Face-to-faceGruppen', d.h. direkt miteinander persönlichen Kontakt haltende kleinere Primärgruppen und sog. Sekundärgruppen, wie z . B . die Soldaten. c) Differenzierungen nach A r t und Zahl der S ä n g e r : Sololied, einstimmiges Lied, mehrstimmiges Lied. Je nachdem, wer singt und welche personalen oder Gruppenbedürfnisse mit einem Lied befriedigt werden, hat man auch von Ich- und Wir-Liedern gesprochen - beide Personalpronomina gehören auch zu den häufigsten Liedanfängen. Auch einzelne Künstler singen heutzutage bekannte V.er als

gefeierte Solisten. Die Moden sind dabei meist kurzlebig, vorübergehend und zeitbedingt, vom jeweiligen Management abhängig. d) Aber auch verschiedene a l l g e m e i n e Begriffe dienen der Differenzierung, weil sie Lieder bestimmen nach einer , G r u p p e ' , die singt und der das Lied bekannt ist: Gruppen-, Gemeinschafts-, Gesellschafts-, Vereins-, Massenlied. Auch der Ausdruck ,V.' selbst gehört zur Terminologiebildung nach gruppenhaften Liedträgern. Es gibt andererseits kein V., das ein Jedermannslied' wäre, d.h. das wirklich vom ganzen Volk gesungen oder gar gern gesungen würde, quer durch alle Generationen und sozialen Schichten. § 8. Eine vierte Gruppe von Begriffen nennt A n l ä s s e des S i n g e n s . Häufig ist eine Gruppierung der Lieder nach Singgelegenheiten und Daten im Jahres- oder Tagesablauf (Morgen-, Abend-, Spinnstubenlied). Brauchtums- oder Brauchlieder bilden den umfangreichsten Bestand (wie z . B . Dreikönigs-, Advents-, Fronleichnams-, Neujahrs-, Oster-, Passions-, Weihnachtslied etc.). Daneben stehen die Brauchanlässe des Lebenslaufes (z.B. Geburtstags-, Hochzeitslied, das Singen bei den Totenfeiern und Totenwachen: Totenlied und Totenklage). Weitere Singanlässe werden auch durch die Begriffe Wallfahrtslied oder Wanderlied angedeutet. Anlaßbezeichnungen sind schließlich auch die nach bestimmten Arbeitsvorgängen, bei denen im vortechnischen Zeitalter gerne gesungen worden ist. Arbeitslieder (oder arbeitsbegleitende Lieder) sind z . B . Rammer-, Melk-, Hopfenpflücker-, Klöppellieder etc. § 9 . O r t und Z e i t des S i n g e n s . Hierher gehören nicht nur Gattungsbezeichnungen wie Kirchen-, Gesangvereins-, Schul-, Alm-, Bänkellied, sondern vor allem auch eine ganze Reihe von älteren Termini wie Hofe-Lied, Marktlied, Straßenballade, Gassenhauer. Keine wirklichen Gattungsdifferenzierungen sind regionale Bestimmungen wie schwäbisches, bayrisches oder fränkisches Lied - von der Dialektangabe abgesehen - , weil Lieder in der Regel überregional sind und sich nicht nach Stammesgrenzen gliedern lassen, häufig sogar die Sprachgrenzen überspringen. Trotzdem gibt es natürlich an ethnische Gruppen gebundene Lieder und starke landschaftliche Differenzierungen: Marien- und Legendenlieder sind auf katholische Landschaften beschränkt,

Volkslied Wildschützen- und Almlieder, Jodler und J o dellieder vorwiegend auf die Alpenländer, die Schnaderhüpfel-Poesie wuchert in Gegenden bajuwarischer Siedlung (soweit .Horizonterweiterung', ,Folklorismus' und ,Binnenexotik' solche Liedgruppen nicht schon ubiquitär verfügbar gemacht haben). § 10. Eng verbunden mit dem Anlaß ist die F u n k t i o n v o n L i e d e r n , die zur Bildung einer speziellen V.-Terminologie geführt hat. Nach Funktion und Verwendungszweck der Lieder lassen sich beispielsweise Wander-, Marsch-, Tanz-, Schunkel-, Trink- und Schlaflieder ausgliedern. ,Heischelieder' sind Lieder, in denen eine Bitte um Lebensmittel oder andere Gaben ausgesprochen wird. Preislieder rühmen bestimmte Persönlichkeiten, aber auch die Heimat oder den eigenen Beruf. Ebenso kann alles Gesungene, mehr oder weniger jedes Lied, eine rein unterhaltende Funktion ausüben. Im Grunde hat jedes V. eine Funktion — sei es eine unterhaltende, eine rügende, eine didaktischmoralisierende, eine zum Kampf animierende, aggressive, eine entspannende, einschläferndbesänftigende (wie das Wiegenlied), eine den Arbeitsprozeß rhythmisierende, eine erheiternde, zum Lachen bringende, eine erotisierende, eine Funktion der Selbstdarstellung usw. Es gibt eine , Allpräsenz' des Liedes, denn V. ist angewandtes Singen. Es hat eine Funktion im weitesten Sinne, häufig eine Funktion, die durch seine Zugehörigkeit zu Bräuchen, Festen, Lebensgewohnheiten, zur Arbeit etc. entsteht. Zahlreiche Brauchtumslieder sind , Ansingelieder'. Eine nicht geringe Zahl von erzählenden Liedern erfüllt die Funktion der Berichterstattung und ,Newen Zeitung', sie sind ,Zeitungslieder'. Hist. Ereignislieder und Heldenlieder, aber auch ein Teil der Handwerkslieder sind ihrer Funktion nach häufig Preislied, Loblied oder im Gegenteil: Spottlied. Berufsständische Lieder sind nicht selten sozialkritische Lieder, was zu funktionalen Gattungsbezeichnungen wie engagierte, manipulierte, gesellschaftskritische Lieder, Bauernklagen, Volkslieder demokratischen Charakters, Protestlied, Protestsong etc. geführt hat. Ganz offensichtlich gibt es nicht nur die Funktion eines Liedes oder einer Liedgruppe, sondern viele Arten oder ein S y s t e m v o n F u n k t i o n e n : psycho-mentale, emotionale, didaktische, soziale, brauchtümliche und mate-

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rielle etc. Diese Funktionen sind eng an den Akt der Darbietung oder des Singens gebunden; d.h. eine Funktion der geschilderten Art hat nur die einzelne Variante während ihres einmaligen Erklingens, nicht der Typus eines Liedes als solcher. In jedem Fall wird man die Funktionalität von Liedern künftig noch mehr erforschen müssen, inbes. beim sog. .gelenkten Singen', z . B . in Schule, Kirchengemeinde und Gesangverein. Mit den aufgeführten Beispielen wird aber schon deutlich, daß die funktionsbeschreibenden Termini sich querschnittsmäßig über die inhaltsbezogenen Gattungsbezeichnungen legen. Und solche Überschneidungen gibt es durchweg. Darin liegt die Problematik dieses terminologischen Gruppierungsversuches, daß er nur scheinbar klare Abgrenzungen schafft, denn bei jeder Gruppierung schwingt noch etwas anderes mit. Ein und dasselbe Lied kann ganz verschiedenen Kategorien angehören. Ein Landsknechtslied, d. h. ein von Soldaten des 15./16. Jh.s gesungenes Lied, kann sich auf die verschiedensten Inhalte beziehen: Es kann beispielsweise Trink- oder Kriegs-, hist. Ereignislied oder auch Liebeslied sein, oder es kann, wenn es sich mit den speziellen sozialen Problemen dieses Berufsstandes befaßt, ein Ständelied sein. — Ein anderes Beispiel: Ein Handwerkerlied braucht nicht nur ein Stände-, ein Zunftlied zu sein; es kann auch der Gruppe der Spottlieder oder dem erotischen Liedbestand zugehören; es kann ein sozialkritisches Lied oder auch ein Abschiedslied sein, wenn es im Munde wandernder Gesellen erklingt. Aus so manchen Handwerkerliedern sind schließlich Wanderlieder geworden („Es, es, es und es . . ."). Ein Zunftlied kann durch das Auswechseln des Standes, Handwerks oder Arbeitsgerätes mehreren Berufen dienen. Richtig hat man deshalb ,Primär-' und ,Sekundärfunktion' von Liedern unterschieden. Nicht nur die Funktionen gehen ineinander über, sondern auch die Gattungen selbst, und vor allem erweisen sich manche Termini als nicht präzise genug. Hochzeitslieder können zu den verschiedensten Stationen im Brauchablauf einer Hochzeit gesungen werden: Sie können Brautabschieds-, Kranz-, Haubungs-, Polterabend-, Spott-, Wegsperrungs-, religiöses Lied, Ehestandsoder Hochzeitsbitterlied sein. .Heischelieder' können den verschiedensten Brauchanlässen zugeordnet sein; sie können Dreikönigs-, Fastnachts-, Mai-, Neujahrs-, Pfingst- oder Rummelpottlied' sein.

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In allen nach Liedträgern benannten Gattungen entsteht die Problemfrage: Handelt es sich um ein Lied ,von' oder ,für' ? Ist die genannte Personengruppe P r o d u z e n t oder .Verbraucher* dieser Liedgattung? Ein Müllerlied z.B. kann tatsächlich von Müllern gesungen werden (z.B. in Handwerkspreis- und Lobliedern); es wird aber auch - und zwar in der Mehrzahl der Fälle - seiner Funktion nach ein Spottlied sein. Dann werden Müller in den seltensten Fällen seine aktiven Sänger sein. Ein Trinklied kann von Zechern gesungen werden, kann aber auch das Trinken zum Gegenstand haben. Ein Kinderlied kann von Kindern gemacht und gesungen, aber es kann auch von Erwachsenen für Kinder erdacht worden sein. Lied existiert also nicht nur ,an sich', sondern es ist an die verschiedensten Verhaltensmöglichkeiten, Ereignisse, Verrichtungen oder psychischen Dispositionen gebunden. Alle diese Einteilungsversuche sind schließlich rein textologische Gruppierungen. Die ethnomusikalischen liegen zum Teil auf völlig anderer Ebene. § 1 1 . Eine letzte Untergruppe von Kategorien differenziert schließlich nach dem G r a d der F o l k l o r i s i e r u n g eines Liedes. Ältere Sammlungen und Darstellungen sprechen von .volkstümlichen Liedern' oder von ,Liedern im Volkston'. Die Absetzung vom individuellen Kunstlied ist nicht unproblematisch, denn so manche Liedbegriffe sind, oder sind zumindest auch hochkulturelle Begriffe, so z. B. die Termini: Minnelied oder Tanzlied (Neidhart), geistliches Lied, Studentenlied, Meisterlied. John Meiers zum terminus technicus gewordener Buchtitel „Kunstlieder im Volksmunde" gibt zwar die Richtung eines Folklorisierungsprozesses an, sagt aber nichts über Dauer und Intensität dieses Vorgangs aus. V.forschung ist aber nicht nur Analyse von Kunstpopularisierung oder eine Art ,Verbraucherforschung'. Bestimmte Liedkategorien hat die V.forschung für außerhalb ihrer Kompetenz erklärt, weil sie eben nicht oder nicht genügend folklorisiert worden sind (Kunstlied). Anderen Gattungen hat die folkloristische Liedforschung trotz ihrer Volksläufigkeit lange die Fachzugehörigkeit verweigert, wie dem Schlager, dem Hit etc., weil der Folklorisierungsvorgang nicht lang genug angehalten hat, zu kurzlebig oder noch im Gang bzw. noch gar nicht absehbar ist.

Der V o r g a n g der F o l k l o r i s i e r u n g kann wellenförmig verlaufen: Ein bereits vergessenes Lied kann wiederbelebt werden, es kann durch eine neue Bearbeitung, durch Abdruck in einem populären Liederbuch, durch eine Schallplattenaufnahme oder durch Rundfunksendungen wieder neuen Boden gewinnen. Mehr und mehr haben sich alle nur möglichen Arten von Liedern von ihren Ursprüngen und ursprünglichen Bindungen abgelöst, und es gibt eine multilaterale und allgemeine Verfügbarkeit der Lieder. Man hat in diesem Sinne von einem ,zweiten' oder ,dritten Dasein des V.es' gesprochen. Es gibt einerseits einen Schwundprozeß der folkloristischen Tradierung: es gibt zurückgehende, es gibt aber auch ungebrochene oder gar sich weiter ausbreitende Formen. Nirgends verwischen sich ,Rücklauf' und ,Rückkoppelung' mehr als auf dem Gebiet des V.es. Soweit heute noch in der Schule und in weiten Kreisen ältere V.er gesungen werden, sind diese Erscheinungen des Singens fast immer Auswirkungen von künstlicher V.pflege. Es gibt dabei Umgestaltungen der verschiedensten Art. Diese Prozesse lassen sich charakterisieren durch die Termini ,Wiederbelebung', ,Bearbeitung', Weiterentwicklung', ,Umfunktionierung' und ,Folklorismus'. § 12. M e r k m a l e des V o l k s l i e d s . Das Revue-Passieren der verschiedenen V.begriffe hat uns die Entwicklung und Differenzierung der Terminologie im Bereich des volksmäßigen, gruppengebundenen Singens gezeigt. Schon aus dieser Übersicht resultiert die Zeitgebundenheit und Relativität jedes einzelnen Gesamt- oder Unterbegriffs. Nach einer solchen Phänomenologie all der Teilgebiete, die man zum größeren Bereich V. zählt, wäre nun zu fragen, was denn die gemeinsamen Kennzeichen dieser Liedgruppen sind, ob sie Teile eines umfassenden Systems sind und ob ihre gemeinsamen Merkmale ausreichen, um eine verbindliche Bestimmung von ,V.' zu erreichen. Im folgenden soll versucht werden, einige solcher Kriterien zusammenzustellen: 1. Die Bezeichnung V. ist ein S a m m e l b e g r i f f für höchst verschiedenartige und heterogene Phänomene. Sie umgreift formal eine sehr weite Spanne im textlichen wie musikalischen Bereich, der von einfachsten Erscheinungen (z.B. Kinderlied, Jodler) bis zum populär gewordenen Kunstlied reicht. Zeitlich erstreckt sich der Bereich von den ältesten Zeiten bis zur

Volkslied Gegenwart. Zu allen Zeiten offenbar hat es Lieder gegeben, und zwar der verschiedensten Art: von den Kriegsgesängen und Heldenliedern der germanischen Stämme, dem ,barditus' (von dem T a c i t u s in seiner Germania, Kap. 3 berichtet), bis zu den Folk- und Protestsongs der Gegenwart, von den Liedern der Minnesänger und Troubadours bis zum Schlager. Singen ist eine Elementartätigkeit, ein zeitloses und primäres Bedürfnis des Menschen. Der homo cantans läßt sich weder räumlich noch zeitlich abgrenzen. Doch ist das Phänomen Singen immer nur in kulturalen und sozialen Uberlagerungen feststellbar. 2. Ebensowenig wie sein Teilbegriff ,Lied' kennzeichnet der Begriff V. ein im Wesen unw a n d e l b a r e s P h ä n o m e n . Und dies gilt ebenso für die Komposita mit -lied. Einige Zusammensetzungen lassen sich immerhin auf ahd. Zeit zurückverfolgen (wie wini-, scip-, todliod, d.h. Freundschafts-, Ruder-, Totenlied) bzw. auf mhd. Formen (wie wie-, sige-, brutlied). Im Unterschied zum Liedbegriff, der bis in ahd. Zeit zurückzuverfolgen ist, ist der V.Begriff erst eine Schöpfung des ausgehenden 18.Jh.s. 3. Zum V. gehört die m ü n d l i c h e T r a d i t i o n , die durch das Erscheinen eines Liedes in einer Hs. oder im Druck nicht unterbrochen zu sein braucht. Ein V. wird gesungen. Es existiert nicht nur als bloßer Text - wie ein Gedicht sondern als Gesang. Es kann auch Melodien ohne Text geben (z.B. Jodelgesang). Sogar an der bloßen rhythmischen Struktur läßt sich noch ein Lied erkennen. Die musikalische Seite ist dabei in der Regel dominierend; ihr hat sich oft genug der Text anzupassen. Selbst abgeschmackte, sentimentale, d.h. geistesgeschichtlich überständige Texte etc. werden akzeptiert, wenn die dazugehörige Melodie noch immer zündet und gefällt. 4. Um Verfasserschaft, Herkunft oder um Gründe der Rezeption von Liedern kümmert sich die mündliche Uberlieferung nicht. Dennoch kennt man eine stattliche Reihe von V e r f a s s e r n , die volksläufige Lieder geschaffen haben. In ihrer Aufzählung finden sich Gebildete und Ungebildete, Dichter ersten bis fünften Ranges, Komponisten und Dilettanten, Reichstagsabgeordnete, Ministerialräte, Pfarrer, Soldaten, Gastwirte, Bauern, Gänsehirten und Weber. Je nach dem Zeitgeschmack und seiner Einstellung zum V. wechselt der Anteil der sog. Gebildeten. Nicht erst seit dem 17.,

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18. und 19. Jh. sind,Kunstlieder im Volksmunde' erklungen. Diesen Prozeß hat es offenbar zu allen Zeiten gegeben. Auch Lieder W a l t h e r s v o n der V o g e l w e i d e und anderer Minnesänger waren tatsächlich in vieler Munde, obwohl damals niemand von V.ern im Gegensatz zum Kunstlied sprach. Unabhängig von einem ermittelbaren Autor oder einer nicht mehr zu ermittelnden individuellen oder kollektiven Autorschaft hat ein V. einen Folklorisierungsprozeß durchgemacht. Dieser kann abgeschlossen oder noch im Gang befindlich sein. 5. V. ist das Ergebnis einer fortschreitenden k o l l e k t i v e n U m g e s t a l t u n g . Darum ist V. gekennzeichnet durch Formelhaftigkeit und Nicht-Individualität. Es gibt einen großen Schatz von Kollektivformeln, die jeder V.sänger technisch beherrscht und die ihn zwingen, seine eigene schöpferische Phantasie in vorgegebenen Grenzen spielen zu lassen. Individuelle Figuren und ihre Namen werden typisiert, und sie handeln auch typisch. Feste Formeln nehmen einen breiten Raum ein, bes. am Liedanfang und -Schluß. Man findet stereotype Beiwörter, Zeilen, Wendungen, formelhafte Reimbildungen, sich wiederholende Bilder und Symbole, spezifische Stilmittel (z. B. Parallelismus, Wiederholung, Gegensatz, Konkretheit, sprunghafte Darstellung). Beim Umsingeprozeß weicht das Atypische dem Typischen, das Individuelle dem Kollektiven. Aus ursprünglichen Individualliedern wird schließlich ein Lied mit kollektiven Merkmalen, wobei der Erfindungskraft des einzelnen kollektive Grenzen gesetzt sind. 6. Träger und Sänger des V.s können G r u p pen (Gemeinschaften, Kollektive) der verschiedensten Art sein: soziale und berufliche, familiäre, politische, vereinsmäßige, altersmäßige Gruppen, siedlungs- oder sprachbedingte Gemeinschaften. Die Ausübung des Singens, d. h. die Realisierung und Reproduktion eines V.s, ist nicht an eine Gruppe gebunden. Der Gesang kann von einem einzelnen oder von einer Gruppe (Gemeinschaft, Kollektiv) ausgeübt werden. Doch es gibt auch das individuelle Vor-sich-hin-singen. Wenn gemeinschaftlich gesungen wird, verpflichtet die Gruppe freilich auch zum Singen. Nichtsingende Zuhörer werden nicht geduldet. Bei der Nationalhymne oder auch beim Kirchengesang zeigt sich diese Erscheinung geradezu potenziert: Wer nicht mitsingt, gilt nicht als unmusikalisch, sondern als außerhalb

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Volkslied

der Gemeinschaft oder der Gemeinde stehend, zu deren Ausdruck Hymne oder Choral geworden ist. 7. Zum V . gehört eine gewisse W a n d l u n g s f ä h i g k e i t . Fast jeder Sänger verändert ein Lied in dieser oder jener Weise: „ D e r en flickt ebbs dezu und der anner laßt ebbs e wegg." Ein V.sammler hört also jeweils nur einen Ausschnitt aus dem Leben des Liedes, einen Ausschnitt, der gestern anders geklungen hat und morgen wieder anders klingen wird. Erst das Weitersingen macht ein Lied zum V . An den dabei durch Umsingen aus den verschiedensten Gründen entstehenden Varianten kann man den Grad der Volksläufigkeit messen. Auch im D t . Volksliedarchiv Freiburg i. B r . werden im allgemeinen nur Lieder gesammelt, die in mindestens zwei verschiedenen Varianten vorliegen. Eines der Hauptmerkmale eines populären Liedes scheinen die texdichen und musikalischen Um-Stilisierungstendenzen zu sein, die als Variabilität und Stabilität verschiedener Teilelemente untersucht werden und die weitgehend das Ergebnis kollektiver Tradierung sind. Darin unterscheidet sich die volksläufige Gattung in der Regel von der (Hoch-)Literatur. Die Skala des Veränderns und Umwandeins läßt sich dreifach gliedern: Man nimmt das ,Zersingen' als negative, destruktive Umwandlung (aufgrund von Hörfehlern, Mißverständnissen etc.), das ,Zurechtsingen' als das wertneutrale Element des Veränderns und das , U m singen' als Gestaltung eigenen Wertes. 8. Merkmal eines V.s ist schließlich seine P o p u l a r i t ä t wenigstens f ü r e i n e R e i h e v o n J a h r e n o d e r J a h r z e h n t e n . V.er sind Texte und Melodien, die eine gewisse Langlebigkeit aufzuweisen haben und über den Tagesbedarf und die momentane Aktualität hinaus Menschen längere Zeit beschäftigen oder beschäftigt haben. Die Tradierung eines Liedes kann von sehr unterschiedlicher Dauer sein. Die Neigung zur K o n t i n u i t ä t s b i l d u n g ist von Lied zu Lied, von Liedgattung zu Liedgattung sehr verschieden. Sogar Schlager können Kontinuitäten bilden; sie werden dann zum ,Evergreen'; und nicht erst heute sind Hits und Top-Hits auf Jahre und Jahrzehnte hinaus zu populären Liedern geworden. Kontinuität kann sich außerdem auf verschiedene Teilelemente des V.s erstrecken. Es gibt Kontinuitäten sowohl in textlich-inhaltlicher, formaler wie musikalischer Hinsicht. Aber es gibt natür-

lich auch ständige Umbrüche, Veränderungen und Anpassungen. Alte Texte bekommen plötzlich eine neue Melodie, auf wohlbekannte Melodien werden neue Texte gedichtet (Kontrafakturen). Während es oft sehr naheliegt, warum ein Text veraltet und in Vergessenheit gerät, ist die andere Frage eigentlich viel aufregender, warum es solch lange Traditionen gibt. Hier liegen begreiflicherweise nicht nur philologische oder musikologische Fragen, sondern auch solche psychologischer Archetypik. Darstellungen und U n t e r s u c h u n g e n : Paul Alpers, Untersuchungen über d. alte ndd. V. (1912; Jb. d. Vereins f. ndd. Sprachfschg. 38). Fritz B a c h m a n n , Lied - Schlager - Schnulze. Einige Möglichkeiten u. Ergehnisse d. MelodieAnalyse der „Alltagsmusik" (1960). Hermann Bausinger, Formen d. ,Volkspoesie' (2.Aufl. 1980; Grundlagen d. Germanistik 6). Emil Karl Blümnil, Beiträge z. dt. Volksdichtung (Wien 1908). Otto B o c k e l , Handbuch d. dt. V.s (1908). Ders., Psychologie d. Volksdichtung (2.Aufl. 1913). Petr G. B o g a t y r e v u. Roman J a k o b s o n , Die Folklore als e. bes. Form d. Schaffens, in: Donum Natalicium Schrijnen (Nijmegen-Utrecht 1929)S.900-913.FritzBose, Volkslied-Schlager -Folklore. ZfVk. 63 (1967) S. 40-49; Disk. S. 4978. Rolf W. B r e d n i c h , Das Lied als Ware. Jb. f. V.fschg. 19 (1974) S. 11-20. Karl B ü c h e r , Arbeit u. Rhythmus (1896; 6. Aufl. 1924). Burkhard Busse, Der dt. Schlager (1976). Peter C z e r n y u. Heinz P. H o f m a n n , Der Schlager (1968). Werner D a n c k e r t , Grundriß d. V.kunde (1939). Ders., Das europ. V. (1939; 2. Aufl. 1970). Ders., Das V. im Abendland (1966). Ders., Symbol, Metapher, Allegorie im Lied d. Völker. 4 Bde (19761978). AlbertDaur, Dasaltedt. V. nach s. festen Ausdrucksformen betrachtet (1909). Renata Dessauer, Das Zersingen. E. Beitr. z. Psychologie d.. dt. V.s(1928; GermSt. 61). Adolf J. E i c h e n s e e r , Volksgesang im Inn-Oberland. Die Funktion d. Singens in e. oberbayer. Dorf d. Gegenwart (1969). Otto E l b e n , Der volksthümliche dt. Männergesang, s. Gesch., s. gesellschaftl. u. nat. Bedeutung (1855). Hermann F i s c h e r , V.-Schlager - Evergreen. Stud. über d. lebendige Singen auf Grund von Unts. im Kreis Reutlingen (1965; Volksleben 7). Paul G e i g e r , V.interesse u. V.forschung in d. Schweiz vom Anfang d. 18. Jh.s bis z. Jahre 1830 (Bern 1912). Alfred G ö t z e , Das dt. V. (1929; Wiss. u. Bildung 256). Otto von G r e y e r z , Das V. d. dt. Schweiz (1927). Albert G u t f l e i s c h , V. und Jugendbewegung, betrachtet am Zupfgeigenhansl. Diss. Frankfurt a.M. 1934. Else H a u p t , Stil-u. sprachkundl. Unts. z. dt. Schlager unter bes. Berücksichtigung d. Vergleichs m. d. V. Diss. München 1957. Gerhard H e i l f u r t h , Das Bergmannslied. Wesen, Leben, Funktion (1954).

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Volkslied — Volksschauspiel

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staltet werden. Spielformen mit festen Texten, die eine dieser Bedingungen nicht erfüllen, gelten als volkstümliches Theater' und werden gesondert betrachtet (s.u. § 8). Das Bestimmungsmerkmal der Integration in den Festkalender setzt voraus, daß das V . bräuchlich vollzogen wird. Der Definition gemäß, daß es sich beim Brauch um „kollektive Handlungen mit Regelmäßigkeitscharakter" handelt, „die der sozialen Kontrolle unterliegen" (M. Scharfe), gehören zum V. ebenso das kontrollierte kollektive Handeln wie der Regelmäßigkeitscharakter, der sich aus der Einbindung der Spiele in den Rhythmus des Jahreslaufes ergibt. „Kollektiv" bedeutet in diesem Zusammenhang, daß das V . die für das Theater typische funktionale Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern nicht kennt. Vielmehr beruht es auf dem gemeinsamen Vollzug des Z e i t s c h r i f t e n : Das dt. V., begr. von J. Pomdarzustellenden Geschehens, nicht auf einer mer, hg. v. Dt. Volksgesang-Verein Wien. 50 Bde. Auseinandersetzung mit den jeweiligen Spiel(1899-1949). Jahrbuch für Volksliedforschung, hg. inhalten durch ein rezipierendes Publikum. v. Dt. Volksliedarchiv (1928ff.). Jahrbuch des Österreich. Volksliedwerkes, hg. von L. Schmidt, Das V . stellt sich insofern neben die liturgischen Formen der Kultverrichtung, bei denen L. Nowak u. K. M. Klier (Wien 1952ff.). Journal es „grundsätzlich nicht um bürgerliche oder of the International Folk Music Council (Cambridge 1949 ff.). Jahrbuch für musikalische Volks- bäuerliche Kunst . . ., sondern um Religion" u. Völkerkunde (1963 ff.). geht (L. Kretzenbacher). Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied gegenüber dem Lutz Röhrich volkstümlichen Theater', das nicht nur mit der Partnerschaft von Darbietenden und Empfangenden rechnet, sondern sowohl in der Stückauswahl als auch in der Darstellungsweise auf Volksschauspiel das „spielende Publikum" (B. Brecht) RückI. A l l g e m e i n e A s p e k t e sicht nimmt. § 1. B e g r i f f s b e s t i m m u n g . Die als Parallelbildung zum Begriff .Volkslied' (s. d.) entstandene und seit 1794 belegte Gattungsbezeichnung .Volksschauspiel' (V.) bezog sich ursprünglich auf die sog. kleinen Spektakel der Seiltänzer, Taschenspieler, Marionettenvorführer usw., doch werden solche Darbietungen des Schaustellergewerbes heute nicht mehr von ihr erfaßt. Vielmehr dient sie im wiss. Sprachgebrauch der Benennung verschiedener Rollenspiele außerhalb und jenseits des von Berufsschauspielern gestalteten Theaters der großen Institute, ohne jedoch einheitlich festgelegt zu sein. D e r an sich unscharfe Volksbegriff weist nur auf f u n k t i o n a l e Sachverhalte hin. Bewährt hat sich die Ubereinkunft, zum V . alle diejenigen Rollenspiele zu zählen, die inhaltlich oder von ihrer Verwendung her in den Festkalender integriert sind u. von den Brauchträgern der Kalenderfeste in ihrer Muttersprache ge-

Diese Begriffsbestimmung erklärt, warum in den Gesamtdarstellungen des Gebietes immer auch die Formen des reinen Spielbrauches mitberücksichtigt werden, z . B . Umzüge und Heischevorgänge. Die Frage, wann solche Bräuche die Schauspielstufe erreichen, wird unterschiedlich beantwortet. Während einige Autoren die Maskierung als bestimmenden Faktor betrachten, weil mit ihr die Übernahme einer Rolle verbunden ist, halten andere das Hinzutreten eines festen, wiederholbaren Textes für das entscheidende Kriterium. Die Grenzen bleiben jedoch fließend. Das Merkmal der Terminbindung begründet auch die in den Darstellungen übliche Mitbehandlung der mal. Spiele in der Landessprache, die nahezu ausnahmslos in den christlichen Kalender integriert gewesen sind (s. Spiele, Mittelalterliche geistliche). D a die Funktion über die Gattungszugehörigkeit entscheidet, können auch Spiele ohne primären

Volksschauspiel Kalenderbezug durch Terminbindung zu V.en werden. § 2. F o r s c h u n g s s i t u a t i o n . D a d a s V . z u den zentralen Gegenstandsbereichen der Volkskunde und, soweit es das M A . betrifft, der Lit.wiss. zählt, ist es in bibliographischer und bezeugungsgeschichtlicher Hinsicht vergleichsweise gut erschlossen. Als unbefriedigend muß dagegen die hist. und komparatistische Erforschung der Spieltexte, Darstellungsformen und Funktionen angesehen werden. Auch liegen nur wenige Textausgaben vor, die heutigen Ansprüchen genügen. Zahlreiche Texte harren noch der Veröffentlichung. Bibliographien: Umfassend unterrichten die in lfd. Folge erscheinenden volkskundl. Bibliographien, v. a. die Volkskundliche Bibliographie (1917ff.; 1948ff.: Internationale Volkskundliche Bibliographie), die österreichische Volkskundliche Bibliographie (1965ff.) und die Nederlandse Volkskundige Bibliographie (1964ff.). Uber Neuerscheinungen informieren regelmäßig die Rezensionsteile der volkskundl. Zss.: ZfVk., SchwArchVk., Österreich. Zs. f. Volksk., Ethnologia Scandinavica u. a. Zu den Spezialbibliographien vgl. Spiele, Mittelalterliche geistliche. Ferner: Adolf H au ff en, Bibliographie d. dt. Volkskunde in Böhmen, hg. v. Gustav J u n g b a u e r (1931 ; Beitr. z. sudetendt. Volksk. 20) S. 144-154: Volksschauspiel.Gisela S c h w a n b e c k , Bibliographie d. dt.sprach. Hochschulschriften z. Theaterwiss. von 1885 bis 1952 (1956; SchrGesThg. 58). Hans Jürgen R o j e k , Bibliographie d. dt.sprach. Hochschulschriften z. Theaterwiss. von 1953 bis 1960 (1962; SchrGesThg. 61). Brauch ». s. Rolle im Verhaltenscode sozialer Gruppen. E. Bibliographie dt.sprach. Titel zw. 1945 u. 1970(1973; Marburger Stud. z. vergleich. Ethnosoziologie 1) S. 8 9 - 9 4 : Puppenspiel u. V. — Uberblicke: Adolf B a c h , Dt. Volkskunde(3. Aufl. 1960). Richardu. Klaus B e i t l , Wörterbuch d. dt. Volkskunde (3. Aufl. 1974). Richard W e i s s , Volkskunde d. Schweiz (1946; 2. Aufl. 1978). Forschungsberichte: Anton D ö r r e r , Forschungswende d. mal. Schauspiels. ZfdPh. 68 (1943) S. 24-85. Wolfgang F. M i c h a e l , Das dt. Drama u. Theater vor d. Reformation. DVLG 31 (1957) S. 106-153. Alfred K a r a s e k - L a n g e r , V. u. Volkstheater d. Sudetendeutschen. E. Fschgsber. (1960; Veröff. d. Instituts f. Kultur- u. Sozialforschung 2). Karl Konrad P o l h e i m , Neue Fschgn z. d. Oster- ». Passionsspielen d. dt. MA.s. ZfVk. 68 (1972) S. 242-256. Johannes J a n o t a , Neue Fschgn z. dt. Dichtung d. SpätMA. s (12301500). 1957-1968. DVLG 45 (1971) Sonderh. Forschungsreferate. S. 217*-227*: Drama.

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Volksschauspiel

durch den Erfolg des Oberammergauer Passionsspieles und den ihm folgenden, auch nationalistisch gefärbten Folklorismus zusätzlichen Auftrieb erfuhr. Die weitere Bestandsaufnahme erfolgte überwiegend unter regionalen Gesichtspunkten, wobei zumindest tendentiell die alte Vorstellung von einem inneren Zusammenhang zwischen Stammescharakter u. V. erhalten blieb. Die Materialerfassung beschränkte sich indes bald nicht mehr nur auf die Spiele der Kalenderfeste, sondern bezog auch Ritterschauspiele und andere Arten des volkstümlichen Theaters mit ein. Die wichtigsten regional begrenzten Sammlungen stammten, der Bedeutung der Spielpraxis entsprechend, aus dem süd- u. südostdt. Sprachraum: Karl J. Schröer, Dt. Weihnachtsspiele aus Ungern (1854). Vgl. Ders. u. Karl Eugen Fürst, Das Oberuferer Christigeburtspiel (1977). Dies., Das Oberuferer Paradeisspiel (1978). Vgl. dazu Helmut Sembdner (Hg.), Die Oberuferer Weihnachtsspiele im Urtext. Karl Julius Schröers Fassung von 1858 in Verb. m. d. Andauer Hs. u. d. anonymen Erstdruck von 1693 (1977). Leopold Schmidt, Das alte V. d. Burgenlandes (1980; Oberösterr. Akad. d. Wiss., Komm. f. Theatergesch. Österreichs 8/1). Michael M a r t i s c h n e g , V. im Burgenland. Parnass Jg. 2, H. 4 (Juli/Aug. 1982) S. 57-59. Karl Eugen Fürst, Oberufer u. and. süddt. Weihnachtsspiele d. 16. u. 17. Jh.s, deren Spielbezirk, Darstellungsweise u. Kostümierung. Diss. München 1981. August Hartmann u. Hyacinth Abele, V.e. InBayernu. ÖsterreichUngarn ges. (1880). Wilhelm Pailler, Weihnachtlieder u. Krippenspiele aus Oberösterreich u. Tirol. T. 2: Krippenspiele (1883). —Johann Josef Ammann, V.e aus d. Böhmerwald (1898-1900; Beitr. z. dt.-böhm. Volksk. 2. 3). Anton Schlossar, Dt. V.e. In Steiermark ges. Bd. 1-2 (1891). Friedrich Vogt, Die schles. Weihnachtspiele (1901; Schlesiens volkstüml. Uberlieferungen 1). Neben die Sammeltätigkeit trat um die Jh.wende die h i s t . und s y s t e m a t i s c h - v e r g l e i c h e n d e A n a l y s e der erhobenen Texte. Auch sie erfolgte zunächst im regionalen Rahmen, bis die Beschäftigung mit den Spielen des Weihnachtskreises eine Erweiterung des Blickfeldes bewirkte, insbes. hinsichtlich der europäischen Verflechtung der Spieltraditionen. Richard Maria Werner, Der Laufner Don Juan. E. Beitr. z. Gesch. d. V.s (1891; ThgFschgn. 3). Johannes Bolte, Das Danziger Theater im 16. u. 17. Jh. (1895; ThgFschgn. 12). Ders., Drei märk. Weihnachtsspieled. 16. Jh.s. Nebste. süddt. Spiel von 1893 (1926; Berlin. Fschgn. 1). Joseph

Eduard W a c k e r n e i l , Ad. Passionsspiele aus Tirol. Mit Abhdlgn. üb. ihre Entw., Composition, Quellen, Aufführungen u. litterarhist. Stellung (1897; Quellen u. Fschgn. z. Gesch., Litt. u. Sprache Österreichs u. s. Kronländer 1). Adalbert J u n g b a u e r , Das Weihnachtspiel d. Böhmerwaldes (1911; Beitr. z. dt.-böhm. Volksk. III, 2). Leopold Schmidt, Formprobleme d. dt. Weihnachtspiele (1937; Die Schaubühne 20). Wesentliche Anstöße gingen dabei von der sog. S p r a c h i n s e l f o r s c h u n g aus. Die Tatsache, daß in Rand- und Rückzugsgebieten des Sprachraumes zahlreiche altartige Spiele, z . T . noch in lebendiger Tradition, angetroffen werden konnten, regte nicht nur neue Sammelaktionen an, sondern veranlaßte auch Untersuchungen über die hist. Schichtung des Spielgutes sowie über dessen Rolle innerhalb des interethnischen Kulturaustausches. Die Erhebung von Angaben über Spieltexte und Darstellungsformen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bei Umsiedlern fortgesetzt. Wegen ihrer Materialfülle u. Kommentare unentbehrlich ist die Samml. von Josef E r n y e y , Geiza Kurzweil u. Leopold Schmidt, Dt. V.e aus d. Oberungarischen Bergstädten. Bd. 1. 2 (1932-1938). Ferner: Hans Moser, V. im Auslanddeutschtum. DuV. 36 (1935) S. 88-107. Karl H o r a k , Burgenländ. V.e (1940). Ders., Das dt. V. im Banat (1975; Schriftenreihe d. Komm. f. ostdt. Volksk. 14). Ders., Das dt. V. in Mittelungarn (1977; Schriftenreihe d. Komm. f. ostdt. Volksk. 17). Gertrud F i s c h e r - W e l l e n b o r n , Das dt. V. in d. Volksgruppen d. innerkarpath. Raumes. Mit bes. Berücks. d. Weihnachtsspiele aus d. Donauschwabentum. Diss. Wien 1942. Bruno Schier, Die Hirtenspiele d. Karpathenraumes (1943). Friedrich Heinz Schmidt-Ebhausen, Zwei ungamdt. Weihnachtsspiele in d. neuen Heimat. ZfVk. 50 (1953) S. 271-289. Hedwig Bauer, Weihnachtsspiele d. Donauschwaben. Württemberg. Jb. f. Volksk. (1955) S. 122-133. Alfred Kar a s e k - L a n g e r , D i e d o n a u s c h w ä b . V.landschaft. Entdeckung u. Untergang. Jb. f. Volksk. d. Heimatvertriebenen 1 (1955) S. 93-144. Ders. u. Josef Lanz, Das dt. V. in Galizien. E. Spiellandschaft zw. Polen, Slowaken u. Ukrainern (1960; Schriftenreihe d. Komm. f. Volksk. d. Heimatvertriebenen 3). Dies., Das dt. V. in d. Bukowina (1971; Schriftenreihe d. Komm. f. ostdt. Volksk. 9). Josef Lanz, Verpflanzung ostdt. V.e durch Umsiedlung, Flucht u. Vertreibung. Jb. f. Volksk. d. Heimatvertriebenen 3 (1957) S. 20-55. Ders., Sudetendt. Krippenlandschaften voru. nach d. Vertreibung. Jb. f. Volksk. d. Heimatvertriebenen 5 (1959/60) S. 161-189. Josef Scharrer, Das Lai-

Volksschauspiel

775

entheater d. Flüchtlinge ». Ausgewiesenen (1960;

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Sehr. d. Inst. f. Kultur- u. Sozialfschg. 8). Rudolf

Elisabeth Roth, Der volkreiche Kalvarienberg in Lit. u. Kunst des Spät MA. s (1958; PhilStQuell 2).

Zrubek, Dt.-tschech. Gemeinsamkeiten in d. Weihnachtsspielen d. Adlergebirges. Jb. f. ostdt.

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d. MA.s.

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Mitteleuropa. Maskeu. Kothurn4(1958)S. 55-78. Theaterwiss. Arbeiten: Heinz K i n d e r m a n n ,

Volksk. 14 (1971) S. 1 0 - 1 0 2 . Ingeborg W e b e r -

dt. V. in d. Batschka, in Syrmien ». Slawonien (1972; Schriftenreihe d. Komm. f. ostdt. Volksk.

11).

Theatergesch. Europas. Bd. 1-10 (2. Aufl. 19661974; Neuaufl. 1976 ff.). Ders., Das

Theaterpubli-

kum d. Antike (1979). Ders., Das Theaterpublikum des MA.s (1980). Ders., Die Karikatur

Verschiedene Anregungen zur Erforschung des V.es gingen auch von der K u n s t - , T h e a t e r - und M u s i k w i s s e n s c h a f t aus. Sie erbrachten wesentliche Erkenntnisse über die Aufführungspraxis, die Trägerschaft und die Funktion der Spiele. Unter dem Eindruck spekulativer Erörterungen ihres Alters und ihrer Herkunft (s.u.) gewann die archivalische Forschung an Boden, die an der völligen Historizität der Spielgattungen und Darstellungsformen keine Zweifel ließ. Als Konsequenz hieraus ergab sich zuletzt eine stärkere Berücksichtigung der Intentionalität der verschiedenen Arten des V.es und des volkstümlichen Theaters, ihrer Rolle in übergeordneten Konzepten, z . B . der religiösen Unterweisung oder der staatspolitischen Erziehung, und ihrer Bedeutung für die an ihnen als Akteure oder Zuschauer beteiligten Rezipienten. Vgl.

von

literaturwiss.

Seite:

Rainer

H.

Schmid, Raum, Zeit u. Publikum d. geistl. Spiels. Aussage u. Absicht e. mal. Massenmediums (1975). Konrad Schoell, Das kom. Theater d. franz. MA.s. Wirklichkeit u. Spiel (1975; Freiburger Sehr. z. Rom. Philologie 30). Von Seiten der Kunstwiss. wurden die Wechselbeziehungen zwischen szenischer u. bildlicher Darstellung aufgegriffen, zumeist im Hinblick auf das Drama des MA.s, doch ohne eindeutiges Ergebnis. Zum Problem vgl. K. T s c h e u s c h n e r ,

Die dt. Passionsbühne u. die dt. Malerei d. Ii. u. 16. Jh.s in ihren Wechselbeziehungen. Repertorium f. Kunstwiss. 27 (1904) S. 189-307, 430-449, 491-510; 28 (1905) S. 25-58. Wilhelm Pin d e r , Die

dichter. Wurzel der Pietà. Repertorium f. Kunstwiss. 42 (1920) S. 145-163. Alfred R o h d e , Pas-

sionsbild u. Passionsbühne. Wechselbeziehungen zw. Dichtung u. Malerei im ausgehenden dt. MA (1926; Schöpfung. Beitr. zu e. Gesch. religiöser

Kunst 10). Albert Rapp, Studien überd. Zusammenhang d. geistl. Theaters m. d. bildl. Kunst im ausgehenden

MA. (1936). Hans Hermann B o r -

cherdt, Das Simultanprinzip in d. bildenden Kunst u. im Theater d. Ii. Jh.s. Actes du cinquième congrès int. de langues et littératures moder-

als

Quelled. Publikumsfschg. (1975;österr. Akad. d. Wiss. Veröff. d. Inst. f. Publikumsfschg. 2). Hans

Hermann Borcherdt, Das europ. Theater im MA. ». in d. Renaissance

(1969). Helmar K l i e r

(Hg.), Theaterwiss. im dtsprach. Raum (1981; Wege d. Fschg. 548). Zur Standortbestimmung: Eugen T h u r n h e r ,

Möglichkeiten ». Aufgaben d. V.es in Vergangenheit ». Gegenwart, in: Egon K ü h e b a c h e r (Hg.), Tiroler V. (1976; Schriftenreihe d. Südtiroler Kulturinst. 3) S. 21-34. Ekkehard S c h ö n w i e s e , V.,

was heißt das? Ebd., S. 293-300. § 4 . F o r s c h u n g s z i e l e und -problèm e . Grundsätzlich geht es der V.forschungum die Frage, welche Bedeutung die verschiedenen Arten des R o l l e n s p i e l e s für die Alltags- und Festgestaltung breiter Bevölkerungsschichten zu bestimmten Zeiten besessen haben oder besitzen und wie sich diese Bedeutung erklärt. Zu ihrer Beantwortung sind umfassende Bestandsaufnahmen nötig, die nicht nur die Spiele selbst, sondern auch deren gesamtes Umfeld betreffen. Dabei geht es in erster Linie um die Spieltexte, ihre Herkunft, Inhalte, Anlage, Struktur und Aussage, dann aber auch die Spieler und alle am Spiel beteiligten Personen, d. h. die Initiatoren, Spielleiter, Darsteller und Darstellergruppen, Requisiteure, Helfer, Förderer und Interessenten, sowie schließlich auch um die Art und Weise des Spielens, wozu etwa die Herkunft und der Gebrauch der Masken, die Aufführungs- und Darstellungsformen, die Gebärden und alles, was damit im Zusammenhang steht, gezählt werden. Die Erforschung der Funktion der Spiele innerhalb einer Gruppe oder eines bestimmten Gebietes, eines konfessionellen oder politischen Verbandes usw. erfordert nicht nur die Feststellung der äußeren Tatbestände, z . B . der Orte und der Frequenz der Darbietungen, der Verwendung von Spielen im Rahmen von Erziehung und Unterweisung usw., sondern auch die Erfassung der subjektiven Einstellungen all derer, die am Spiel

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aktiv oder passiv beteiligt sind, und der Wirkungen, die von ihm ausgehen. Eine zentrale Rolle wird dabei den Traditionen zugemessen, in denen die einzelnen Faktoren stehen. Die Vielfalt der Aufgaben führt in der Praxis zu einer Auffächerung der Forschung, bei der auch aus wiss.sgeschichtlichen Gründen - einige Fragestellungen deutlich zurücktreten. So ist z . B . in der Vergangenheit die philologischhist. Untersuchung der Spieltexte sehr viel weiter vorangeschritten als die Erforschung des Spielermilieus, die auch die Einbeziehung sozialwiss. Methoden erfordert. Lebhafte Diskussionen löste vor allem das Ursprungsproblem aus, das häufig eher weltanschaulich als quellenmäßig zu klären versucht wurde. Im Mittelpunkt der Erörterungen stand dabei die Frage, ob es möglich sei, durch textimmanente Analysen der überlieferten Spiele oder auf dem Weg über deren Aufführungsarten zu gesicherten Aussagen über Vor- und Frühformen der jeweiligen Gattungen zu gelangen. Das Hauptaugenmerk wurde dabei auf die germ. Grundlagen von Spielen gelegt, die erst für das MA. oder die frühe Neuzeit belegt sind, weniger auf die antiken Wurzeln, die im Hinblick auf die weite Ausstrahlung der griech.-röm. Kultur ebenfalls Beachtung verdient hätten. Den Ansatzpunkt dieser Überlegungen bildete die k i r c h 1 i c h e A k k o m o d at i o n s t h e o r i e , die besagte, daß im Zuge der Christianisierung die vorgefundenen autochthonen Brauchformen soweit wie möglich integriert worden seien. Der an sich plausible Gedanke, daß es bei dieser Sachlage möglich sein müsse, auf dem Wege der Schichtenanalyse und durch Beseitigung der christl. Uberformungen die bodenständigen Grundlagen fassen oder doch zumindest rekonstruieren zu können, scheiterten jedoch an der Uberschätzung der Menge und Eigenart des Akkomodierten, an der Uberbewertung der Traditionsdauern und an der methodischen Schwierigkeit, Vor- und Außerchristliches von Eigenchristlichem zu trennen. Wesentliche Argumente für das Postulat einer g e r m . - r o m . K o n t i n u i t ä t , wie der Zusammenhang zwischen „dämonischen Männerbünden" der Germanen einerseits und den „Rotten" der Handwerksgesellen, die im MA. an der Spielpraxis der Städte als Trägergruppen beteiligt waren, andererseits, ließen sich leicht durch den Hinweis auf innerkirchliche Traditionen entkräften, die nach dem Grundsatz Mulier taceat in Ecclesia die aktive Beteiligung von Frauen im kirchennahen Brauchspiel untersagten. Auch die Hypothese, daß im Zuge der Städtebildung ländliche Bräuche, insbes. Fruchtbarkeitskulte, urbanisiert worden seien und man deshalb aus einzelnen städtischen Brauchspielen durch Abbau der Überschichtungen diese Grundformen ableiten könnte, ließ sich nicht schlüssig beweisen. Genauere Erkenntnisse

über die wahrscheinlich nicht sehr erhebliche Rolle, die den überlieferten Bräuchen bei der Neubegründung von Spieltraditionen zugefallen ist, dürfte von einer systematischen Erforschung der Innovationsanstöße und -ziele zu erwarten sein, die weithin noch geleistet werden muß. Maximilian J. Rudwin, The Originofthe German Carnival Comedy (1920). Dazu zuletzt: Wolfgang F. M i c h a e l , Das dt. Drama des MA.s (1971; Grundriß d. germ. Philologie 20) S. 189192. Lily W e i s e r - [ A a l l ] , Altgerm. Frühlingsweihen u. Männerbünde (1927; Bausteine z. Religionsgesch. u. Volksk. 1). Otto H ö f l e r , Kult. Geheimbünde der Germanen (1934). Karl M. K l i e r , Männertänze aus der dt. Volksüberlieferung (1934). Richard W o l f r a m , Schwerttanz u. Männerbund (1935). Robert Stumpfl, Kultspiele d. Germanen als Ursprung des mal. Dramas (1936); Rez. v. Ernst S c h e u n e m a n n : ZfdPh. 61 (1936) S. 432-443; 62 (1937) S. 95-105. Hanns K o r e n , Vätergemeinschaften. Rhein. Jb. f. Volksk. 6 (1955) S. 235-250. Daß die Debatte über eine germ.-rom. Spielkontinuität anhält, belegt Rainer Warning, Funktion u. Struktur. Die Ambivalenzen d. geistl. Spiels (1974; Theorie u. Gesch. d. Lit. u. d. Schönen Künste 35). Der dort vertretenen These, daß erst das geistliche Spiel die Kontinuität des Paganen gesichert habe, ist widersprochen worden; vgl. Rez. v. Friedrich O h l y : RomFschgn. 91 (1971) S. 111-142. — Mit einem Fortleben phallischer und anderer heidnischer Kulte im mal. Spiel rechnet Herman P l e i j , Het gilde van de Blauwe Schutt. Literatuur, volksfeest en burgermoraal in de late middeleeuwen (Amsterdam 1979). Unter den Trägern des V.es finden in erster Linie die S p i e l l e i t e r Interesse, die gewöhnlich nicht nur für den Ablauf der Darbietungen verantwortlich sind, sondern die auch durch bewußtes Festhalten an den überkommenen Texten und Darstellungsformen die Tradition sichern; nicht selten treten sie in Personalunion als Regisseur, Bühnenbildner, Requisiteur, Maskenbildner und Darsteller in Erscheinung. Daneben untersucht die Volkskunde die Funktion der ausübenden G e m e i n s c h a f t e n (Bruderschaften, Gesellschaften, Zünfte, Kindergruppen usw.). Auch einzelne S p i e l e r s c h i c k s a l e werden beachtet, zumal wenn sich an den Lebenswegen der Mitglieder von Spielerfamilien oder -gruppen die handwerkliche Weitergabe der Darstellungskunst von einer Generation an die nächste beobachten läßt. Die s o z i a l e n V o r a u s s e t z u n g e n des Wanderschauspielwesens, z . B . der Bergleute oder der Laufener Schiffer, stehen im Mittelpunkt von

Volksschauspiel Milieuuntersuchungen, die darüber hinaus auch der Analyse der kulturellen, ökonomischen und technischen Faktoren des Spielgeschehens dienen. Schließlich setzt sich die V.forschung auch mit den S p i e l a n l ä s s e n , S p i e l g e l e g e n h e i t e n , S p i e l o r t e n und mit der D a r s t e l l u n g s w e i s e auseinander. Sie berücksichtigt einerseits das Auftreten kleiner Spielertruppen vor und in den Häusern, auf der Tenne oder in Tanzhäusern, andererseits die größeren Spiele auf eigens errichteten Bühnen, Prozessionswagen oder in Theaterhäusern und auch die Großspiele in den Kirchen und auf den großen Plätzen der Städte. An den Darbietungen selbst interessieren sie die Masken, Kostüme und Gebärden, die Requisiten und - soweit vorhanden - die Bühnenaufbauten, ferner die Dramaturgie und die Inszenierungsweise, etwa die Verwendung der Rezitation mit dem Versusschritt, jedoch nur in ihren t y p i s c h e n Formen und soweit sie keinen Anspruch auf künstlerische Individualität erheben. Insofern werden auch stereotype Theatereffekte (Drachenkampf, Duell, Feuerzauber usw.) und Szenarien beachtet, selbst wenn sie nur als Zeitmoden und Ubernahmen von den großen Theaterinstituten im V. Verwendung finden, wie im Fall der „lebenden Bilder" (Tableaux vivants) im 1 9 . J h . Spieler u. Spielgemeinschaften: Adalbert Sikora, Vintschgauer als reisende Komödianten. Österreich. Zs. f. Volksk. 12 (1906) S. 155-158. Karl Adrian, Der Laufener Schiffer, Mittlgn. d. Ges. f. Salzburger Landeskunde 50 (1910) S. 391478. Anton D ö r r e r , DiePrettauer V.bücher, ihre Besitzer u. ihre Aufführungen. E. Kapitel aus d. Gesch. der Stuben- u. Puppenspiele der Ostalpenländer, in: Beitr. z. Volksk. Tirols. Festschr. zu Ehren Hermann Wopfners. T.2 (1948; SchlernSchriften 53) S. 35-55. Ders., Zillertaler Volksschicksale, gesehen an den Schicksalen ihrer Schauspiele, in: Festschr. Moriz Enzinger . . (1953; Schlern-Schriften 104) S. 25-52. Max Fehr, Die wandernden Theatertruppen in d. Schweiz 16001880 (1949; Jb. der Schweizer Ges. f. Theaterkultur 18). Helmut Liedloff, Leben u. Aufgabenbereich e. bayer. Puppenspielerfamilie. Diss. Marburg 1956. Leopold Schmidt, V. der Bergleute (1957; Leobener Grüne Hefte 27). Bühnen- u. Darstellungsformen: Anton Dörrer, Die alten Tanzhäuser u. Spieltennen in Tirol. ZfVk. 41 (1931) S. 50-56. Ders., Spieltennen u. Tanzhäuser. Der Schiern 21 (1947) S. 294-300; 338-342. Leopold Kretzenbacher, Barocke Spielprozessionen in Steiermark. Zur Kulturgesch. d. theatral. Festfeiern in der Gegenreformation.

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Aus Archiv u. Chronik. Blätter f. Seckauer Diözesangeschichte 2 (1949) S. 13-25, 43-52, 83-91. Ders., Bühnenformen im steir.-kärnt. V. Carinthia I, 141.Jg. (1951) S. 136-160. Ders., Lebendiges V. in Steiermark (1951; Österreich. Volkskultur 6). Peter Simhandl, Bühne, Kostüm u. Requisit der Paradeisspiele (1970). Masken: Robert Stumpfl, Schauspielmasken d. MA.s u. d. Renaissancezeit u. ihr Fortbestehen im V. (1931; Neues Arch. f. Theatergesch. 2). Anton D ö r r e r , Beispiele landschaftl. Maskentypen. Bayer. Jb. f. Volksk. (1951) S. 108-112. Leopold Schmidt (Hg.), Masken in Mitteleuropa (1955). Masken zwischen Spiel u. Ernst. Beitr. d. Tübinger Arbeitskreises f . Fasnacbtsfschg. (1967; Volksleben 18). Lebende Bilder, Szenen u. Gebärden: Kirsten Gram H o l m s t r ö m , Monodrama, Attitudes, Tableaux Vivants. Studies on some trends of theatricalfashion 1770-181f (1967; Stockholm Studies in Theatralical History 1). August Lang, Attitüde u. Tableau in d. Goethezeit. Jb. d. Schillerges. 12 (1968) S. 194-258. Edgar Harvolk, Das Endorfer V. (1974; Quellen u. Darstellungen z. Gesch. d. Stadt u. d. Landkreises Rosenheim 8) [Theaterhaus; Tableaux vivants], Ders., Szenische ölbergandachten in Altbayern. Bayer. Jb. f. Volksk. (1976/77), S. 69-87. Hans Moser, Der Drachenkampf in Umzügen u. Spielen. Bayer. Heimatschutz 30 (1934) S. 45-59. Lenz Kriss-Rettenbeck, Probleme der volkskundl. Gebärdenforschung. Bayer. Jb. f. Volksk. (1965) S. 14-46. Lutz Röhrich, Gebärdensprache u. Sprachgebärde, in: Röhrich, Gebärde - Metapher - Parodie (1967; WirkWort 4) S. 7-36. Anke Roeder, Die Gebärde im Drama d. MA.s (1974; MTU. 49). §5. Forschungsmethoden. Ihrem Selbstverständnis entsprechend, bemüht sich die V.forschung um die Erfassung aller Spieltexte, ferner um eine möglichst lückenlose Zusammenstellung aller Spieldaten und um die Aufbewahrung und museale Dokumentierung sämtlicher in der Spielpraxis benutzten Masken, Kostüme und Requisiten. Eine zentrale Sammel- und Dokumentationsstelle für das V . fehlt, doch besitzen alle größeren volkskundlichen Archive und Museen, z. B . in Berlin, Freiburg, Nürnberg, München, Wien, Salzburg und Basel, entsprechende Materialien, insbes. Hss. und Rollenbücher. Breiten Raum nimmt die D a t e n e r f a s s u n g ein, die sich nicht nur auf die Feststellung von Aufführungsorten, Terminen, Teilnehmerzahlen, Initiatoren, Akteuren, Zuschauern usw. erstreckt, sondern auch auf die Sammlung von sekundären Bezeugungen in Reisebeschreibun-

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gen, Tagebüchern, obrigkeitlichen Erlassen und Eingaben. Diese Quellen bilden bis zur Aufklärung die Grundlage für die Kenntnis der Spielpraxis der älteren Zeit. In der Gegenwart werden V . e zunehmend auch in T o n - und Filmaufnahmen festgehalten. W o eine Spieltradition bereits erloschen ist, sucht man durch die Aufzeichnung von Erinnerungen der Uberlieferungsträger ein ungefähres Bild der einstigen Spiele und ihrer Darstellungsweise zu erlangen. Ähnlich wie die angloamerikan. Oral-HistoryForschung geschichtliche Tatbestände, hat man auch hier in einigen Fällen den Verlauf abgekommener Großspiele zu rekonstruieren versucht. Bezeugungsgeschichte u. Dokumentation: Leonhard Haas, Geistl. Spiele in Luzern u. Altdorf nach mailänd. Berichten von 1533, 1549 u. 1553. Schweizer Theater-Jb. 21 (1952) S. 143-147. Ders., Über geistl. Spiele in d. Innerschweiz. Mailänd. Augenzeugenberichte von 1533, 1548 u. 1553. Zs. f. Schweizer. Kirchengesch. 47 (1953) S. 113-122. Leopold Schmidt, Das dt. V. inzeitgenöss. Zeugnissen vom Humanismus bis z. Gegenwart (1954; AbhAkBln., Veröff. des Inst. f. dt. Volksk. 7). Ders., Ausstellung V. in Österreich. Katalog (1946). Tonbandaufnahmen: Willi Müller u. Wilhelm Kutter, Das Steinheimer Hirtenspiel. Nach dem Text aus d. Staatsarchiv Stuttgart, Bestand A 207, Büschel 3582 (1956; Süddt. Rundfunk Stuttgart, 3354). Dazu: Willi Müller, Das Steinheimer Weihnachtsspiel von 1688, in: Hermann Bausinger (Hg.), Schwab. Weihnachtsspiele (1959; Schwab. Volksk. NF. 13) S. 7-46. Wilhelm Kutter, Das Illertisser Hirtenspiel (1958; Süddt. Rundf. Stuttgart). Dazu: Ders., Das Illertisser Hirtenspiel oder Gori-Lied, in: Hermann Bausinger (wie vorher) S. 127-156. Wilhelm Kutter, Volkspassion u. Trauermetten in Burladingen/Württ. aus d. Zeit um 1812 (1958; Süddt. Rundf. Stuttgart). Das Bad Ischler Krippenspiel (1963; Österreich. Rundf., Landesstudio Oberösterreich, Linz). Das Nikolospiel aus Mitterndorf im Steir. Salzkammergut (1965; Österreich. Rundf., Landesstudio Oberösterreich, Linz). Raphael B a c h e r [Spielleiter], Das Spiel vom Prasser u. dem armen Lazarus (Hauptsündenspiel) aus Steirisch-Laßnitz (um 1970; Österreich. Rundfunk, Landesstudio Steiermark, Graz). Das Nikolospiel aus Obersdorf im steir. Salzkammergut (1974; Phonogrammarchiv der Österreich. Akad. d. Wiss., Wien). Ulrich Müller, Das Hess. Weihnachtsspiel (1975; Univ. Stuttgart, Inst. f. Lit.Wiss.). Dazu: Ders., Bemerkungen zu e. Tonbandaufnahme des 'Hessischen Weihnachtsspieles', in: Egon Kühebacher (Hg.), Tirol. V.

(1976; Schriftenreihe d. Südtiroler Kulturinst. 3) S. 190-193. Dietrich Schüller u. Helga Thiel, 'Die Komödie vom letzten Gericht' aus Apetlon/ Burgenland. Ber. zu e. Tondokumentation des Phonogrammarchivs der Österreich. Akad. d. Wiss. Jb. des Österreich. Volksliedwerkes 27 (1978) S. 72-85. HelgaThiel, ' Die Komödie vom letzten Gericht' aus Apetlon im Burgenland, in: Hist. Volksmusikfschg. (1978; Musikethnolog. Sammelbde 2) S. 235-240. Filmaufzeichnungen: Winfried H ofmann, Mitteleuropa / Tirol: Nikolausspiel im Tauferertal (1967; Inst. f. d. wiss. Film, Göttingen, E 1074). Ingeborg Weber-Kellermann, Menschen u. Masken (1970; Fernsehfilm Hess. Rundf. Frankfurt a.M.). Dietz-Rüdiger Moser, Das Ehlenbogener Krippenspiel (aus Ehlenbogen im Kinzigtal) (1972; Fernsehfilm Südwestfunk Baden-Baden). Franz Simon u. RolfW. Bredriich, Mitteleuropa / Baden: Die Altweibermühle in d. Wolf acher Fastnacht [Fastnachtspiel] (1978; Inst. f. d. wiss. Film, Göttingen, E 2455). Franz Simon u. Leander Petzoldt, Mitteleuropa / Württemberg: Das Narrengericht in Grosselfingen (1980; Inst. f. d. wiss. Film, Göttingen, E 2318). Bei der Edition der V.texte wird wegen der besonderen Bewertung jeder einzelnen Darbietung auf eine genaue Wiedergabe der Vorlagen geachtet, so daß Rekonstruktionen und Emendationen gewöhnlich unterbleiben. Dazu tritt die Beschreibung aller zum Spielverlauf gehörigen Einzelheiten der Gestaltung, von der Ausstattung der Mitwirkenden über die Aufführungsart und die Requisiten bis hin zu den äußeren Gegebenheiten der Trägerschaft, der Finanzierung, Entlohnung usw. . . . Der U m stand, daß die meisten V.e anonym tradiert werden und im Gebrauch Abänderungen und Verschleifungen unterliegen, macht genaue Ubersichten über die Streuung einzelner Spiele, ihre Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen zueinander nötig. Dabei erweist sich die Anwendung der sog. g e o g r a p h i s c h - h i s t . M e t h o d e der Erzählforschung auch auf diesem Gebiet als nützlich. Ihr Prinzip beruht auf der Kombination von Filiationsanalysen mit kartographischen Dokumentationen der Belegorte. Dieses Verfahren läßt in der Regel sichere Schlußfolgerungen über die ursprüngliche Anlage eines Spieles, seine Innovationszentren und seine Diffusionswege zu. Außerdem bemüht sich die V.forschung um die Erhellung der „Innengeschichte" (L. Schmidt) der Spiele, d . h . um ihre Stellung innerhalb des kulturellen Gesamtgefüges der eigenen Zeit und um ihr

Volksschauspiel Verhältnis zu vergleichbaren Erscheinungen der Hochkunst. Eindringende Interpretationen, die auf die Funktion der Spiele bei der Prägung von Weltanschauungen und Mentalitäten eingehen würden, sind nur ausnahmsweise erarbeitet worden, z. B. im Fall des Oberammergauer Passionsspieles, obwohl sie ein wichtiges Hilfsmittel für die funktionale Bewertung der Spiele darstellen. Verbreitungskarten: Leopold S c h m i d t , Adventspiel u. Nikolausspiel. Wiener Zs. f. Volksk. 40 (1935) S. 97-106. Ders., Verbreitungskarten von Volkslied, Volkstanz u. V. in Niederösterreich. J b . d. Österreich. Volksliedwerkes 8 (1959) S. 124-134. Ders., Karten Scbodüwel- u. RabuntLaufen, Adventspiele, Passionsspiele im dt. Südwesten, Passionsspielorte in Südtirol, Nikolausspiele in d. Österreich. Alpenländern u. Paradeisspiele im Südosten, in: Schmidt, Das dt. V. (1962), S. 91, 156-157, 257, 299, 316-317, 344-345. Leopold K r e t z e n b a c h e r , Karte Steirische V.e seit 1850, in: Kretzenbacher, Die Steiermark in d. V.landschaft Innerösterreich. Österreich. Zs. f. Volks. 51 (1948) S. 148-194. Richard W o l f r a m , Karte Herbergsuchen (Frautragen), in: Österreich. Volkskundeatlas, 4. Lfg. (1971) Bl. 70. Hans M o s e r , Karten Dreikönigsumzug u. Sternsingen, in: Moser, Zur Gesch. d. Sternsingens. Bayer. Heimatschutz 31 (1935) S. 19-31.

II. H i s t o r i s c h e

Aspekte.

§ 6. A n t i k e und mittelalterliche G r u n d l a g e n . Die ältesten V.e, die sich bis zur Gegenwart in der Spielpraxis erhalten haben, reichen stofflich bis in die frühe Neuzeit zurück. Meist handelt es sich um Bearbeitungen der Spiele von Hans Sachs, deren Druckfassungen seit dem Ende des 16.Jh.s bis an die äußersten Grenzen des Sprachraumes (Apetlon, Oberufer) gelangten und vielfach nachgespielt wurden, auf kath. Seite in entsprechend veränderten Bearbeitungen. Da diese Spiele selbst auf älterer Tradition beruhten, ergeben sich über sie auch indirekte Verbindungen zum Drama des MA.s Die Mehrheit der in Gebrauch stehenden Spiele muß jedoch als bedeutend jünger angesehen werden. Ein relativ großer Bestand rührt überhaupt erst aus dem 17. und 18. Jh. her, so daß auch von hier aus vor der Annahme einer germ. Kontinuität gewarnt werden muß. Die meist als „Renaissance"- und „Barockspiele" bezeichneten V. der Reformations- und Gegenreformationszeit setzen jedoch Anregungen der mal. und der antiken Spielpraxis fort. Zwar läßt sich von einer un-

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mittelbaren Weiterführung der antiken Schauspieltradition durch das MA. nicht sprechen, da die Kirche das ererbte Theaterwesen als „Pompa Diaboli" verworfen hatte. Wohl aber ergab sich eine indirekte Fortsetzung, insofern als die Kirche seit dem 13.Jh. zur szenischen Darstellung des Bösen auch auf das Festwesen der röm. Spätantike zurückgegriffen hatte, wie es in der Lit. beschrieben war. Darüber hinaus führte auch die Antikenrezeption des SpätMA.s zur Wiederentdeckung der klassischen Schauspielformen, z . B . der Triumphzüge der Imperatoren. In der ital. Renaissance entwikkelten sich ,Trionfo' und ,Pompa* zu zentralen Formen der Darstellung herrscherlicher Macht und drangen so auch in den Festbrauch ein. Die kirchlichen Fronleichnamsprozessionen, die unter starker Beteiligung der Zünfte durchgeführt wurden, und die Prunkbegräbnisse setzten diese Tradition fort. Das war möglich, weil die Kirche selbst in ihrem Bestreben nach Veranschaulichung der Heilsgeschichte schon früh die Möglichkeiten szenischer Darstellung genutzt und breit entfaltet hatte. Die auf der lit u r g i s c h e n F e s t f e i e r beruhenden Spiele des Oster- und später des Weihnachtsfestes waren zwar in den Klöstern aufgekommen und zunächst auch nur für deren Insassen bestimmt gewesen, doch nahm bald auch das Glaubensvolk der Laien in immer größerem Ausmaß an ihnen teil. Die Erweiterung des Geltungsbereiches führte zur Aufnahme volkssprachlicher Elemente in die lat. Spieltexte. Zuerst wurden für die teilnehmende Gemeinde dt. Lieder eingeschaltet, dann folgten (in verschiedenen, sich überschneidenden Prozessen) Ubersetzungen einzelner Textabschnitte, bis schließlich in den G r o ß s p i e l e n der lat. Text ganz verdrängt wurde. Am längsten hielt er sich noch in den Dirigierrollen der verantwortlichen Spielleiter. Mit dieser Öffnung zur Volkssprache verband sich die Tendenz zur Erweiterung des Stoffes, bei der auch dem Publikumsgeschmack Rechnung getragen wurde. Das Osterspiel, aus dem Introitus-Tropus der Messe des ersten Ostertages entwickelt, nahm Elemente der Leidensgeschichte Jesu auf und wandelte sich so zum Passionsspiel. Das Passionsspiel selbst bezog, auch unter dem Einfluß des kirchlichen Strebens nach einer passionis Jesu compassio, mehr und mehr Einzelheiten ein, so daß die Texte anschwollen und die Spieldauer auf mehrere Tage anstieg. Die Stoffe, die hierbei herangezogen wurden, stammten entweder aus den neu-

Volksschauspiel

780

testamentlichen A p o k r y p h e n o d e r aus den V i sionen der M y s t e r i k e r i n n e n , gelegentlich auch

mündl. überlief. Liedern. J b . f. ostdt. Volksk. 13 (1970) S. 7-103.

aus den g r o ß e n L e g e n d e n k o m p i l a t i o n e n ( J a c o b u s de V o r a g i n e : Legenda Leben

Sommer-

aurea;

und Winterteilu.

Der

Heiligen

a.). Als K o n -

s e q u e n z dieser A u s d e h n u n g ergab sich bald die Notwendigkeit zur Übertragung einzelner Szen e n in den Spielbrauch des F r o n l e i c h n a m s t a ges. A u c h äußerlich f ü h r t e die stoffliche E x p a n s i o n der liturgischen F e i e r zu V e r ä n d e r u n gen. D a der K i r c h e n r a u m für die D a r s t e l l u n g der E r w e i t e r u n g e n n i c h t m e h r ausreichte, w u r de das Spiel z u n ä c h s t v o r die K i r c h e , dann auf die M a r k t p l ä t z e der Städte verlegt. D a b e i blieb j e d o c h das S i m u l t a n p r i n z i p der k i r c h l i c h e n F e i er prinzipiell erhalten. Zum Traditionsbruch zwischen Antike und SpätMA.: Heiko J ü r g e n s , Pompa Diaboli. Die lat. Kirchenväter u. d. antike Theater (1972; Tübinger Beitr. z. Altertumswiss. 46). Christine S c h n u s e n b e r g , Das Verhältnis zw. Kirche u. Theater. Dargest, an ausgew. Schriften d. Kirchenväter u. lit. Texten bis auf Amalarius von Metz, 775-852 (1981; EuroHS 23/141). Zur Popularisierung der liturg. Feier: Alfons B r i n k m a n n , Liturg. u. volkstüml. Formen im geistl. Spiel d. MA.s (1932; FschgnDtSpr. 3). Helmut de B o o r , Die lat. Grundlage der dt. Osterspiele. Hess. BU. f. Volksk. 41 (1951) S. 45-66. Uberarb. auch in: de B o o r , Die Textgesch. d. lat. Osterfeiem (1967; Hermaea N F . 22) S. 329-345. Ernst August S c h u 1 e r , Die Musik d. Osterfeiem, Osterspiele u. Passionen d. MA.s (1951). Brigitte S c h r e y e r , Das lat.-dt. Osterspiel. Gestalt, Entwicklung, Urgestalt. Habilschr. Halle a. d. S. 1952. Wilfried W e r n e r , Stud. zu d. Passions- u. Osterspielen d. dt. MA.s in ihrem Übergang vom Latein zur Volkssprache (1963). Marianne V e i t , Der geistl. Volksgesang in d. geistl. Dramen d. MA.s (1966; Zulassungsarbeit Würzburg). Johannes J a n o t a , Stud. zu Funktion u. Typus d. dt. geistl. Liedes im MA. (1968; M T U . 23). Barbara T h o r a n , Stud. zu d. österl. Spielen d. dt. MA.s. Diss. Bochum 1969. Theo S t e m m l e r , Liturg. Feiern u. geistl. Spiele (1970; Buchr. der Anglia 15). Ruprecht W i m m e r , Deutsch u. Latein im Osterspiel. Unts. zu d. volkssprachl. Entsprechungstexten d. lat. Strophenlieder (1974; M T U . 48). Zur Aufführungsart der Großspiele: Julius Pet e r s e n , Aufführungen u. Bühnenplan d. älteren Frankfurter Passionsspiels. ZfdA. 59 (1921/22) S. 83-126. Marshall Blakemore E v a n s u. Paul H a g m a n n , Das Osterspiel von Luzem (1961; Schweizer Theater-Jb. 27). WolfgangF. M i c h a e l , Frühformen d. dt. Bühne (1963; SchrGesThg. 62). Dietz-Rüdiger M o s e r , Passionsspiele d. MA.s in

E i n e ähnliche E n t w i c k l u n g erlebte die F e i e r der G e b u r t C h r i s t i m i t i h r e m M i t t e l p u n k t , der A n b e t u n g des K i n d e s . H i e r ergaben sich A n r e gungen z u r E n t f a l t u n g einerseits aus d e m E r f o l g der K r i p p e n f e i e r des h l . F r a n z i s k u s v o n Assisi in G r e c c i o ( 1 2 2 3 ) , andererseits aus d e m W u n s c h der K i r c h e , den t h e o l o g i s c h e n Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n Sündenfall u n d E r l ö s u n g m ö g l i c h s t anschaulich h e r v o r z u h e b e n . D i e s e m Anliegen k a m e n die P a r a d e i s s p i e l e ,

z.T.

auch die W e l t g e r i c h t s s p i e l e , entgegen. I n T e n d e n z und T h e m a t i k standen den

Weih-

nachtsspielen die L e g e n d e n - u n d M i r a k e l s p i e l e n a h e , die durch ihre B i n d u n g an den F e s t t a g des jeweiligen H e i l i g e n voll in den J a h reslauf integriert w a r e n . I n der A u f f ü h r u n g s weise unterschieden sie sich j e d o c h v o n den Spielen der H o c h f e s t e d u r c h ihre K o n z e p t i o n als dramatisch aufbereitete B ü h n e n s p i e l e , die s c h o n deshalb v o n T h e a t e r e f f e k t e n stärkeren G e b r a u c h m a c h e n k o n n t e n , weil sie n i c h t an einen biblischen T e x t g e b u n d e n w a r e n . Zum Paradeisspiel: Carl K l i m k e , Das volkstüml. Paradiesspiel u. s. mal. Grundlagen (1902, Nachdr. 1977; GermAbh. 19). Hans K l e i n , Das Oberuferer Paradeisspiel in ursprüngl. Gestalt (1928). Leopold K r e t z e n b a c h e r , Frühformen d. Paradeisspiels in Innerösterreich. Zs. d. Hist. Vereins f. Steiermark 39 (1948) S. 137-152. Ders., Adams Testament u. Tod. SchwArchfVk. 54 (1958) S. 129-149. Ders., Gericht über Adam u. Eva. Carinthia I, 156. Jg. (1966) S. 10-47. Anton D ö r r e r , Paradeisspiele der Bürgerrenaissance. Österreich. Zs. f. Volksk. 51 (1948) S. 50-75. Peter S i m h a n d l , Bühne, Kostüm u. Requisit der Paradeisspiele (1978). Zum Weltgerichtsspiel: Karl R e u s c h e l , Die dt. Weltgerichtsspiele d. MA.s u. d. Reformationszeit (1906; Teutonia 4). Zum Legenden- u. Mirakelspiel: Heinrich S c h a c h n e r , Das Dorotheaspiel. ZfdPh. 35 (1903) S. 157-196. Christian K r o l l m a n n , Das mal. Spiel von d. Heiligen Katharina in Königsberg. Altpreuß. Fschgn. 51 (1928) S. 45-50. Leopold S c h m i d t , Die burgenländ. Sebastianispiele (1951; Burgenländ. Fschgn. 16). Leopold K r e t z e n b a c h e r , Das 'Komödie Buch über d. Leben des hl. Märtyrer Christoph'. Ein bisher ungedrucktes V.-Bruchstück aus d. Steiermark. J b . f. Volksliedforschung 20 (1975) S. 133-150. Elke U k e n a , Die dt. Mirakelspiele des SpätMA.s. Stud. u. Texte (1975; EuroHS. I, 115).

Volksschauspiel Während die Entwicklung der Passions- und Weihnachtsspiele aus der Liturgie der christl. Kirche und ihre Funktion im Rahmen religiöser Massenunterweisung im wesentlichen geklärt erscheinen, sind die Auffassungen über die Entstehung, Zweckbestimmung und gesellschaftliche Bedeutung der F a s t n a c h t s p i e l e geteilt. Der älteren Auffassung, daß es sich bei ihnen grundsätzlich um weltliche Spiele gehandelt habe (s. Spiele, Mittelalterliche weltliche), hält die neueste Forschung entgegen, daß die liturgischen Zeiten Fastnacht und Fastenzeit auf der Grundlage des Zweistaatenmodells des hl. Augustin eingeführt worden seien und die Brauchspiele der Fastnacht in diesem Rahmen der Darstellung einer „civitas terrena" gedient hätten, nämlich der anschaulichen Demonstration des Denkens und Verhaltens innerhalb einer „cupido-Gemeinschaft" diesseitsorientierter Menschen. Die Fastnachtspiele müßten insofern als geistliche Spiele verstanden werden, die das aus kirchlicher Sicht negativ beurteilte Treiben der Welt zum Thema hatten und insofern eine starke Integrationsfunktion besaßen. Die Entstehung der textierten Spiele wird in diesem Konzept dem Umstand zugeschrieben, daß die zur Lasterdarstellung im Fastnachtsbrauch verwendeten allegorischen Zeichen für die Darstellung bestimmter alltäglicher Verhaltensweisen nicht ausgereicht hätten, so daß eine Ergänzung durch Reihen- und Handlungsspiele nötig geworden sei. Auf der Grundlage des Zweistaatenmodells werden auch Zusammenhänge zwischen den Fastnacht- und den F r o n l e i c h n a m s s p i e l e n für möglich erachtet. Unbestritten bleibt, daß die Fastnachtspiele weithin die Realität des Alltagslebens spiegeln. Zum Fastnachtspiel (allgemein; vgl. die Lit. zum Art. Spiele, Mittelalterliche weltliche)-. DietzRüdiger M o s e r , Fastnacht u. Fastnachtspiel. Zur Säkularisierung geistl. V.e bei Hans Sachs u. ihrer Vorgesch. in: Hans Sachs u. Nürnberg (1976; Nürnberger Fschgn. 19) S. 182-218. Ders., Narren - Prinzen - Jesuiten. Das Kamevalskönigreich am Collegium Germanicum in Rom u. seine Parallelen. ZfVk. 77 (1981) 169-211. Ders., Fastnacht: Liturg. Zeit - christl. Fest. Grundsätzliches am Beispiel Imst. Das Fenster. Tiroler Kulturzs. (1981) S. 2907-2917. Kurt R u h , Heinrich Wittenwilers 'Ring', in: Festschr. Herbert Siebenhüner (1978) S. 59-70 [Fastnacht als liturgische Zeit]. Werner M e z g e r , Bemerkungen zum mal. Narrentum, in: Narrenfreiheit. Beitr. zur Fastnachtsfschg. (1980; Untersuchungen d. LudwigUhland-Inst. 51) S. 43-87. Jürgen L e i b b r a n d ,

781

Vom befleckten Leib zum 'Flecklehäs'. Zu e. Deutung der Intentionalität der Fastnacht. Ebd., S. 139-175. Zum Realitätsgehalt: Erika K a r t s c h o ke u. Christiane R e i n s , Nächstenliebe - Gattenliebe - Eigenliebe. Bürgerl. Alltag in d. Fastnachtspielen d. Hans Sachs, in: Hans Sachs. Stud. zur frühbürgerl. Lit. im 16. Jh., hg. von J. Bumke, u.a. (1978; Beitr. zur Älteren Dt. Lit.gesch. 3) S. 105-138. Thomas H a b e l , Brecht u. das Fastnachtspiel (1978; Gratia 3). Arne H o l t o r f , Tanz Gelage - Maskierung. Elemente von Festlichkeit u. ihre Darstellung im frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Narrenfreiheit (s.o.) S. 177-202. Ders., Markttag - Gerichtstag - Zinstermin. Formen von Realität im frühen Nürnberger Fastnachtspiel, in: Befund u. Deutung. Hans Fromm zum 26. Mai 1979 . . . (1979) S. 428-450. Zum Fronleichnamsspiel: Alois M i t t e r wieser, Geschichte der Fronleichnamsprozession in Bayern (1930; 2. Aufl. durchges. u. erg. von Torsten G e b h a r d, 1949). Oskar S e n g p i e 1, Die Bedeutung d. Prozessionen f . das geistl. Spiel d. MA.s in Deutschland (1932; GermAbh. 66). Wolfgang F. M i c h a e l , Die geistl. Prozessionsspiele in Deutschland (1947; Hesperia 22).AntonDörrer, Tiroler Umgangsspiele. Ordnung u. Sprachtexte d. Bozener Fronleichnamsspiele u. verwandter Figuralprozessionen vom Ausgang d. MA.s bis zum Abstieg d. Aufgeklärten Absolutismus (1957; Schlern-Schriften 160). Gerhard M a t e r n , Zur Vorgesch. u. Gesch. d. Fronleichnamsfeier bes. in Spanien (1962; Span. Fschgn. d. Görres-Ges. II, 10). Peter L i e b e n o w (Hg.), Das Künzelsauer Fronleichnamspiel (1969; Ausgaben dt. Lit. d. 15.18. Jh.s, R. Drama 2).

§ 7. V o n d e r f r ü h e n N e u z e i t bis z u r A u f k l ä r u n g . D i e Reformation veränderte die überkommene V.landschaft erheblich. Da Martin Luther die mit apokryphen Szenen ausgeschmückten Brauchspiele an den Kalenderfesten, zumal wegen ihrer Integrationsfunktion für die röm. Kirche, ablehnte, wurden sie in den protestant. Gebieten durch die neu entstehenden Kirchenordnungen verboten. Neben den Fastnachtspielen bekämpfte man vor allem die Prozessionsspiele des Fronleichnamstages, des (nach Luther) „allerschädlichsten" Jahresfestes. Dagegen fanden die antiken Theaterstücke eines Martial, "Catull, Juvenal, Virgil, Terenz usw. Billigung, weil in ihnen Lebensweisheiten von überzeitlicher Gültigkeit dargestellt würden. In der Folge kam es auf evangl. Seite weithin zu einer Ablösung des V.es alter Prägung durch das Schultheater, dem dann als Reaktion das Ordensdrama der kath. Seite folgte. Dennoch wurde die Tradition der Schau-

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Volksschauspiel

spiele an den Kalenderfesten nicht völlig aufgegeben. Vielmehr entstanden einerseits aus dem Schülerbrauch des Kurrendesingens die U m gangsspiele mit dem Stern am Dreikönigstag, die rasch überkonfessionelle Bedeutung erlangten, andererseits - auf der Grundlage der mal. W e i h n a c h t s s p i e l e , aber in neuer Darstellungsweise und Funktion - die Adventsspiele mit dem erwachsenen Christkind, bei denen es nun aber nicht mehr um die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens, sondern primär um die Katechisation der Kinder in den Grundfragen der evangl. Glaubenslehre ging. Auf kathol. Seite begegnete man dieser Entwicklung mit entsprechenden N i k o l a u s s p i e l e n , d e r e n Aufgabe in der Popularisierung der vom Tridentinum neugefaßten kath. Glaubenslehre bestand. Wie diese Nikolausspiele, stammen auch die meisten H i r t e n - , K r i p p e n - und D r e i k ö n i g s s p i e l e aus der Zeit der Gegenreformation. Der Einfluß der ital. und span. Missionsorden (Kapuziner, Jesuiten, Benediktiner) erwies sich für ihre Verbreitung als sehr erheblich. Zum Weihnachtsspiel: Vgl. §3. Ferner: Adalbert J u n g b a u e r , D. Weihnachtspiel d. Böhmerwaldes (1911; Beitr. z. dt.-böhm. Volksk. 111,2). Johannes B o l t e , Drei mark. Weihnachtspiele d. 16. Jh.s. Nebst e. süddt. Spiel von 1693 (1926; Berlin. Fschgn. 1). Leopold S c h m i d t , Formprobleme d. dt. Weihnachtsspiele (1937; Die Schaubühne 20). Leopold Kretzenbacher, Frühbarockes Weihnachtsspiel in Kärnten u. Steiermark. Klagenfurter u. Grazer Weihnachtsspieltexte d. frühen 17. Jh.s als kulturhist. Denkmäler d. Gegenreformation in Innerösterreich (1952; Arch. f. vaterländ. Gesch. u. Topographie 40). Hermann Bausinger (Hg.), Schwab. Weihnachtsspiele (1959; Schwab. Volksk. NF. 13). Zum Dreikönigsspiel: Herbert W e t t e r , Heischebrauch u. Dreikönigsumzug im dt. Raum (1933). Hans M o s e r , Zur Gesch. d. Sternsingens. Bayer. Heimatschutz 31 (1935) S. 19-31. Ders., Neue Funde zu altbayer. Singbräuchen der Mittwinterzeit. Bayerisch-südostdt. Hefte f. Volksk. 14 (1941) S. 45. Ders., Archivalisches zu Jahreslaufbräuchen d. Oberpfalz. Bayer. Jb. f. Volksk. (1955) S. 157-175, bes. S. 161-163. Karl M e i s e n , Die hl. drei Könige u. ihr Festtag im volkstüml. Glauben u. Brauch (1949). Oskar M o s e r , Die Kärntner Sternsingebräuche, in: Lied u. Brauch (1956; Kärntner Museumsschriften 8) S. 126-164. Hermann Bausinger, Umgangsspiele im kath. Südwesten, in: Bausinger, Schwab. Weihnachtsspiele (1959; Schwab. Volksk. NF. 13) S. 78-87. Elisabeth Wies er, Sternsingen in Österreich.

Diss. Wien 1966. Reinhard G r ü n , Sternsingereinst u. jetzt (1967). Dietz-Rüdiger M o s e r , Liedimmanenz u. Brauchgesch. Beitr. z. Frühgesch. d. Sternsingens. I. Die Legende von den hl. drei Königen im brauchtüml. Liedgut d. 16. Jh.s. Fschgn. u. Ber. z. Volksk. in Baden-Württ. 1 (1971/73) S. 105-133. Norbert K i n g , Mal. Dreikönigsspiele. Eine Grundlagenarbeit zu d. lat., dt. u. franz. Dreikönigsspielen bis zum Ende d. 16. Jh.s (Freiburg/Schweiz 1979; Germanistica Friburgensia 3A/B). Zum Nikolausspiel: Karl M e i s e n , Nikolauskult u. Nikolausbrauch im Abendlande (1931). Ingeborg G r e i n z , Die Nikolaus-V.e in Österreich (1934). Leopold Schmidt, Adventsspielu. Nikolausspiel. Wiener Zs. f. Volksk. 40 (1935) S. 97106. Leopold K r e t z e n b a c h e r , Lebendig. V. in Steiermark (1951; Österreich. Volkskultur 6). Ders., Das Mitterndorf er Nikolausspiel, St. Nikolaus, die Rauhen u. die Schab, in: Unica Austriaca [1] (Notring-Jb. 1958) S. 93. Hans Seewald, Das Schwazer Nikolausspiel in alter Zeit. Tiroler Heimatblätter 31 (1956) S. 27. Anton D ö r r e r , St. Nikolaus geht in Wattens (Nordtirol) um. ZfVk. 53 (1956/57) S. 103-113. Sigrid M e t k e n , Sankt Nikolaus in Kunst u. Volksbrauch (1966). Norbert H ö l z l , Nikolausspiele im oberen Pustertal. Der Schiern 39 (1965) S. 480-490. Winfried Hofmann, Nikolausspiele im Ahrntal (Südtirol). Rhein. Jb. f. Volksk. 17/18 (1966/67) S. 94-131. Josef S u l z e n b a c h e r , Das Pragser Nikolausspiel im Lichte d. alpenländ. V.e. (Masch.) Diss. Padua 1975. Ders., Das Pragser Nikolausspiel, in: Egon Kühebacher (Hg.), Tiroler V. (1976; Schriftenr. d. Südtiroler Kulturinst. 3) S. 349-359. Hans Schuhladen, Die Nikolausspiele aus d. Nachlässen von Ludwig von Hörmann u. Leopold Pirkl, in: Egon Kühebacher (wie vorher) S. 319-336. Wolfgang Pfaundler, Das Reither Nikolausspiel. Das Fenster. Tiroler Kulturzs. 27 (1980) S. 27032722. Vor allem führte die Auffassung der J e s u i t e n , daß man die räumlich und zeitlich fern liegenden biblischen Geschichten in die eigene Lebenswelt der Gläubigen übertragen müsse, weithin zu einer Neubegründung von Spieltraditionen, bei denen das Bestreben, die Glaubensinhalte mit dem Wissens- und Erlebnishorizont der Betroffenen zu verschmelzen, deutlich hervortrat. Die Erfahrung des Todes z . B . bildete den Anlaß für die spielhafte Darstellung der P a s s i o n und der A u f e r s t e h u n g J e s u auf Friedhöfen (Maria Rast, Oberammergau). Hinzu kam das Bemühen, der von lutherischer Seite vertretenen G n a d e n l e h r e einer Rechtfertigung s o l a f i d e die kath. Auffassung von der Rechtfertigung des Menschen durch Buße

Volksschauspiel und Gnadenmittlerschaft der Heiligen entgegenzusetzen. So wurden Spiele über Dismas, den rechten Schacher, in Umlauf gebracht, mit denen dargelegt wurde, daß dieser nicht, wie die Protestanten meinten, „allein aus Gnade", sondern wegen bestimmter, in der Jugend erworbener Verdienste noch am Kreuz gerettet worden sei. Den Angriffen der Gegner gegen das Beichtgebot und dem Vorwurf einer ständigen Verletzung des Beichtsiegels durch die kath. Geistlichen wurden L e g e n d e n s p i e l e über den hl. Johannes von Nepomuk entgegengesetzt, die darauf hinwiesen, daß ein kath. Priester eher den T o d erleiden als das Beichtgeheimnis verletzen würde. Einige Spiele, vor allem an marianischen Wallfahrtsorten, stellten die Wirksamkeit des Glaubens an die „Miterlöserin" und „Mediatrix gratiarum" Maria dar, während wieder andere die Aufgabe der Darstellung menschlicher Laster übernahmen. Soweit dabei apokryphe Stoffe der Heilsgeschichte Verwendung fanden, stammten sie gewöhnlich aus dem Großen Leben Jesu (1681) des Kapuzinerpaters Martin von Cochem, dem dabei eine wichtige Vermittlerrolle zukam. Viele dieser Spiele wurden zuerst an den Lehranstalten der Lateinschüler erprobt, bevor man sie auch in volkssprachlichen Fassungen einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen führte. Durch Terminbindung und Übertragung an selbständige Spielergemeinschaften entwickelten sie sich häufig zu lokal gebundenen V.en. Zur Tradition des barocken Jesuiten- und Benediktinertheaters : Leopold Kretzenbacher, Jesuitendrama im Volksmund. Zum Thema von d. getreuen Frau in Ballade u. Sage, auf dem Barocktheater u. im V., in: Volk u. Heimat. Festschr. f. Viktor von Geramb (1949) S. 133-166. Peter Paul Lenhard, Rel. Weltanschauung u. Didaktik im Jesuitendrama (1976; EuroHS 1/168). Jean-Marie Valentin, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande, 1554-1680. 1-3 (1978; EuroHS 1/255). Günther Jontes, Das Leohener Jesuitentheater im 17. u. 18. Jh. Der Leobener Strauß 8 (Leoben 1980) S. 9-117; 9 (Leoben 1981) S. 9-124. Hans-Joachim Müller, Das Span. Theater im 17. Jh. (1977; Studienreihe Romania 2). Heiner Boberski, Das Theater d. Benediktiner an d. alten Univ. Salzburg, 1617-1778 (1978 österr. Akad. d. Wiss., Theatergesch. Österreichs VI/1). Große Bedeutung erlangten für die V.tradition der Folgezeit die Spiele des Hans Sachs, die überlieferte Kalenderfeststoffe im Sinne der ev. Glaubenslehre neu gestalteten. Wegen ihrer

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sprachl. und dramaturg. Qualitäten wurden diese sog. Renaissance-Spiele nach entsprechender Bearbeitung auch von kath. Spielgemeinschaften übernommen. Ihre Ausstrahlung reichte bis in die Alpenländer sowie bis nach Schlesien, Ungarn und in das Elsaß; zeitlich erstreckte sie sich bis in das 20. J h . Besonders beliebt waren die Tragedia von Schöpfung, fal und außtreibung Ade auß dem paradeyß (1548), die Comedia (überj die entpfengnuß vnndgeburdt Johannis und Christi (1557), die Tragedia . . . des jüngsten gerichtes (1558) — die noch um 1930 in Apetlon/Burgenland zum festen Spielrepertoire gehörte — und Der gantz passion (1560), eine dramatisierte Evangelienharmonie, auf der u.a. das von den dortigen Benediktinern bearbeitete Admonter Passionsspiel beruht. Zum Nachleben der Dramen des Hans Sachs im V.: Karl Konrad Pohlheim, Das Admonter Passionsspiel. 1-3 (1972-1980) [Gegenüberstellung, Vergleich u. Analyse d. Spieltexte. Sachsrezeption im alpenländ. V.]. Helga Thiel, Zum Darstellungsstil d. 'Komödie vom Letzten Gericht' aus Apetlon im Burgenland (1978; Musikethnol. Sammelbde. 2). Leopold Schmidt, Das alte V. des Burgenlandes (1980; österr. Akad. d. Wiss..Theatergesch. Österreichs VIII/1). Zu den geistlichen und Legendenspielen: Leopold Schmidt, V.e vom hl. Johann von Nepomuk. Volk u. Volkstum 2 (1937) S. 239-247. Leopold Kretzenbacher, Die steir.-kämt. Prasseru. Hauptsündenspiele. Zum barocken Formwandele. Renaissancethemas u. dessen Fortleben im V. Österreich. Zs. f. Volksk. 50 (1947) S. 67-85. Ders., Barocke Spielprozessionen in Steiermark. Aus Arch. u. Chronik. Bll. f. Seckauer Diözesangesch. 2 (1949) S. 13-25, 43-52, 83-91. Ders., Lebendig. V. in Steiermark (1951; Österreich. Volkskultur 6). Ders., St. Dismas, d. rechte Schacher. Legende, Kultstätten u. Verehrungsformen in Innerösterreich. Zs. d. Hist. Vereins f. Steiermark 42 (1951) S. 119-139. Ders., Barocke Wallfahrtsspiele zu Maria Rast in Untersteiermark 1680-1722. Österreich. Zs. f. Volksk. 54 (1951) S. 103-123. Ders., Passionsbrauch u. Christi-LeidenSpiel in den Südostalpenländern (1952). Ders., Frühbarockes Weihnachtsspiel in Kärnten u. Steiermark (1952; Arch. f. vaterländ. Gesch. u. Topographie 40). P. Othmar W o n i s c h, St. Lambrechter Passionsspiel 1606 (1957; Veröff. d. Österreich. Mus. f. Volksk. 11). Einen starken Einschnitt in der V.tradition bewirkte die A u f k l ä r u n g , in der es zu scharfen Angriffen gegen die szenische Darstellung der biblischen Geschichte und infolgedessen zu

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zahlreichen Aufführungsverboten kam. Das Generaledikt der Bayer. Regierung gegen die Passionsspielaufführungen vom 31. März 1770 stützte sich auf die Meinung, daß „das größte Geheimnis unserer hl. Religion nun einmal nicht auf die Schaubühne" gehöre. Die Ausdehnung des Verbots auf alle anderen Arten des V.es im Jahre 1794 ließ die Spielpraxis, von wenigen Ausnahmen abgesehen, erlöschen. Adalbert S i k o r a , Der Kampf um die Passionsspiele in Tirol im 18. Jh. Zs. f. Österreich. Volksk. 12 (1906) S. 185-207. Leo W i l z , Der Kampf gegen die geistl. Spiele in Bayern. Bayer. Heimatschutz 25 (1929) S. 99-106. Anton D ö r r e r , Barockes V. in s. Grotesken. Die erst- u. letzterhaltene Parodie auf Brunecks Spielprozessionen von 1676 u. um 1770, in: Brunecker Buch. Festschr. z. 700-JahrFeier d. Stadterhebung (1956; Schlern-Schr. 152) S. 109-152. Walter Haas, Franz Alois Schumakkers 'Isaac. Eine V.parodie aus d. 18. Jh. (1975; Luzerner Hist. Veröff. 4). § 8. D a s 19. u. 20. J a h r h u n d e r t . In der Folgezeit blieben die Auffassungen der geistlichen und weltlichen Behörden geteilt. Während sich die Unter- und Mittelinstanzen bald wieder bereit zeigten, Spielkonzessionen zu erteilen, lehnten einige kirchliche Oberbehörden die V.e weiterhin aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Die Gemeinden, denen die traditionellen Kalenderfestspiele verboten wurden, sahen sich deshalb meist nach einem Ersatz um und fanden diesen im volkstümlichen Theater. Neben die kleinen, örtlich begrenzten B r a u c h s p i e l e , die ihrer geringen Bedeutung wegen unbeanstandet blieben, und neben die von den Verboten meist ausgenommenen größeren Fronleichnamsprozessionen trat jedoch als Sonderform das durch Ausnahmebewilligungen ermöglichte P a s s i o n s s p i e l von O b e r a m m e r g a u , das nicht nur ein breites Publikum anzog, sondern auch Anregungen des oberschichtlichen Theaterwesens aufgriff: die Bühnen- und Darstellungsform des Oberammergauer Spieles orientierte sich zunehmend am Stil des Münchner Hoftheaters. Der Erfolg gerade des „Nationalspieles" (Eduard Devrient) von Oberammergau kam auch anderen Spielorten mit weiter zurückreichender Tradition, wie Erl und Thiersee, zugute und veranlaßte zahlreiche Nachahmungen. Die Spielgemeinschaften von Endorf, Höritz, Kirchschlag, Metnitz, Neumarkt, Reichenau bei St. Lorenzen, Selzach, Sömmersdorf, St.

Margarethen, St. Peter a. Kammersberge, Otigheim, Thaining, Vilgertshofen, Waal usw. übernahmen von Oberammergau entweder die Texte oder die Aufführungsform, vor allem die typologischen Vorbilder zu den Szenen der Heilsgeschichte. Das Passions spiel von Oberammergau geht auf ein (archivalisch nicht gesichertes) Pestgelübde von 1633 zurück. 1634 fand die erste Aufführung statt. Weitere Darbietungen folgten im Abstand von jeweils zehn Jahren, seit 1680 am Beginn jeder Dekade. Die Verantwortung für den Spieltext und die jeweilige Inszenierung trugen die Mönche des Benediktinerklosters Ettal, zeitweilig auch die Chorherren des Stiftes Rottenbuch. Die Hauptquellen des ältesten Textes bildeten ein Passionsspiel aus dem Besitz der Kirche St. Ulrich und Afra in Augsburg und ein gedrucktes Spiel des evangl. Meistersingers Sebastian Wild. Der Texte wurde mehrfach völlig umgestaltet. 1730 veranlaßte P. Anselm Mannhardt Auftritte der Personifikationsallegorien Sünde, Tod, Neid und Geiz und versah die zehn Akte des Spieles mit zusammenfassenden Prologen. 1750 ergänzte P. Ferdinand Rosnerden Stoff in seiner Passio nova um 18 alttestamentliche Präfigurationen zu den Hauptabschnitten der Leidensgeschichte. 1811 gabP. Othmar W e i s dem Spiel die Gestalt, in der es noch heute (1980) gespielt wird, allerdings in der Überarbeitung durch P. Alois D a i s e n b e r g e r (1860), die seither außerdem beträchtlich gekürzt wurde. Am Erfolg der letzten Erneuerung hatte die Musik von Rochus Dedler (1815) wesentlichen Anteil. Kritische Stellungnahmen gegen den Antisemitismus der Daisenberger-Fassung führten nach 1970 zu Diskussionen über einen Ersatz des Spieltextes, doch wurde der Vorschlag eines Rückgriffes auf die Passio nova Rosners, ergänzt durch Instrumentalmusik Franz Xaver Richters, nach einer Serie von Probeaufführungen (1977) nicht akzeptiert. Lit. zu Oberammergau (Auswahl): Bibliographie: John Ash, Bihliography of the Oberammergau Passion Play (London 1973). —Textausgaben: August H a r t m a n n , Das Oberammergauer Passionsspiel in s. ältesten Gestalt (1880; Neudr. 1968). Georg Qu er i , Der älteste Textd. Passionsspieles (1910). Ferdinand R o s n e r , Passio Nova. Das Oberammergauer Passionsspiel von 1750. Hist.-krit. Ausg. von P. Stephan Schaller OSB (1974; Geistl. Texte d. 17. u. 18. Jh.s 1). Ders., Passio Nova, f . Oberammergau bearb. von Alois Fink (1977). P. Othmar Weis OSB, Alois Daisenberger u. P. Gregor Rümmelein OSB, Das Oberammergauer Passionsspiel 1980 (1980). — Darstellungen: Eduard D e v r i e n t , Das Passionsspiel in Oberammergau u.s. Bedeutung f. die neue Zeit (1851; 2. Aufl. 1880; neu hg. von Hans Ruederer 1922). Karl T r a u t m a n n , Oberammergau u. sein Passionsspiel (5. Aufl. 1890; Bayer. Bibl.

Volksschauspiel 15). Ludwig K e l b e r , Das kath. Passionsspiel in Oberammergau u. das Protestant. Christusdrama (1890; Zeitfragen d. christl. Volkslebens X V / 7 ) . Wilhelm W y l [d.i. v o n W y m e n t a l ] , Maitage in Oberammergau (1910). Hermine D i e m e r - v o n H i l l e r n , Oberammergau u. s. Passionsspiele. Ein Rückblick über d. Gesch. Oberammergaus von deren Entstehung bis z. Gegenwart (1910) [Hist. Bildband], P. Stephan S c h a l l e r O S B , Das Passionsspiel von Oberammergau 1634 bis 1950 (1950) [Uberblick über die Gesch. d. Spieles u. über d. Textfiliation]. F r a n z X a v e r B o g e n r i e d e r , Oberammergau. Das Passionsdorf (1950). Willi F l e m m i n g , Oberammergau u. das MA., in: Volk, Sprache, Dichtung. Festgabe f. Kurt Wagner (1960) S. 61-78. Willehad Paul E c k e r t (u.a.), [Beiträge zum Streit um Oberammergau] Emuna Horizonte. Zur Diskussion über Israel u. das Judentum 5 (1970) S. 217-256. Report Oberammergau '70/80. Völker hörten die Signale. Berichte, Dokumente, Zahlen (1970) [Verteidigungsschr. d. Gemeinde Oberammergau]. Dagmar L a n d v o g t , Die Lebenden Bilder im Oberammergauer Passionsspiel. Diss. Köln 1972. P. Stephan S c h a l l e r O S B (u. a.), Passionsspiele heute? Notwendigkeit u. Möglichkeiten (1973; Theologie u. Leben 16). Hans M o s e r , Quellenkritischesz. Entstehungslegende d. Oberammergauer Passionsspieles. J b . f. Volksk. N F . 1 (1978) S. 119-130. Clemens H a e r t l e - D e d l e r , Rochus Dedler, der Komponist d. Passionsmusik zu Oberammergau (1979). Edgar H a r v o l k , Oberammergau u. d. dt. V. Schönere Heimat 69 (1980) S. 197-202. Franz M u s s n e r (Hg.), Passion in Oberammergau. Das Leiden u. Sterben Jesu als geistl. Schauspiel (1980; Sehr. d. Kath. Akad. in Bayern 91). Johannes G o l d n e r (Hg.), Passion Oberammergau (1980) [Bildbd.]. Zu anderen Passionsspielorten: Edgar H a r v o l k , Das Endorfer V. (1974; Quellen u. Darstellungen z. Gesch. der Stadt u. des Landkreises Rosenheim 8). — Erich H a n s (Hg.), Höritz im Böhmerwald u. s. Passionsspiele (1970). — Georg G r a b e r , Passionsspiel aus Köstenberg. Das Leiden Christi (1937). — Leopold K r e t z e n b a c h e r , Sylvester Wietinger/Metnitz u. die Krise d. Kärntner V.s zu Beginn d. 20.Jh.s, in: Beitr. z. Volksk. Kärntens. Festgabe f. Oskar Moser (1974) S. 97117. — Hermann Leopold M a y e r u. Alfons L e i t z , SOJahre V.e Otigheim (1957). — Leopold K r e t z e n b a c h e r , Passionsbrauch u. Christi-Leiden-Spiel in den Südostalpenländern (1952) [u.a. über St. Georgen ob Murau/Steiermark]. — Thassilo S t r i c k e r , Gesch. des Passions-Theaters in Thaining (1902). — J o h a n n v. G . G i e r l , T[h]iersee u. sein Passionsspiel (1905). P. Robert W e i ß e n h o f e r O S B , Das Passionsspiel von Vorderthiersee (1905). Anton D ö r r e r , Die Thierseer Passionsspiele 1799-1930. Ringen um Bestand u. Gestalt e. Tiroler Volksbrauches (1935).

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Die Suche nach Ersatz für die aus religiösen Bedenken zurückgedrängten V.e führte an vielen Orten zur Entstehung von T h e a t e r v e r e i n e n , deren Kern in der Regel die bis dahin frei agierenden Spielergemeinschaften bildeten. Vielfach versuchten sie, das Spielen zu institutionalisieren, etwa durch Schaffung fester Theaterhäuser, die sogar in den kleinsten Gemeinden errichtet wurden, nicht selten auf Subskriptionsbasis und fast stets ohne finanzielle Unterstützung seitens der Behörden. Das Repertoire der Theatervereine umfaßte neben einem Grundbestand religiöser Spiele auch Stükke der Ritter- und Räuberromantik, wie sie heute noch in Kiefersfelden oder Flintsbach zur Aufführung gelangen, nationale und patriotische Festspiele (auch im „Naturtheater" der Freilichtbühnen) sowie in zunehmendem Maße Heimatspiele, die bald nicht mehr nur der eigenen Identitätsfindung galten, sondern unter dem Einfluß des Folklorismus auch als Mittel zur Darstellung des „Exotischen" Verwendung fanden. Die Spiele z. B. des „Schlierseer" und später des „Tegernseer Bauerntheaters", des „Komödienstadels" oder des Hamburger „Ohnsorg-Theaters" usw. haben in dieser Verbindung von Heimatspiel und Folklorismus ihre Wurzel. Sie bieten affirmatives Theater einer „Volkskultur aus zweiter Hand" (Hans Moser), das auch von kommerziellen Absichten getragen wird. Daneben gewann zeitweilig das W a n d e r t r u p p e n t h e a t e r Bedeutung, das u.a. die Hanswurstiaden, Possen, Zauberkunststücke und „Volksstücke" des Wiener Vorstadttheaters populär machte. Dieses „Theater niederen Stils", das im Gegensatz zum Bildungstheater der Oberschicht problemfreie Unterhaltung darbieten wollte und sich insofern selbst als Theater für die Unterschichten verstand, war in der Regel Schauspieler- und Ensembletheater und lag deshalb auf einer anderen Ebene als das von Laien getragene V. Stofflich und inszenatorisch übernahm dieses volkstümliche Theater z. T. Elemente der Commedia dell'arte und der barocken Schul- und Ordensdramen, die aber mit ihren mythologischen Aufzügen, Illusionsbühnen und Verwandlungsausstattungen ebenfalls dem oberschichtlichen Theater näherstanden als dem traditionellen Gemeinschaftsspiel an den Kalenderfesten. Im Zuge der Demokratisierung und der Verbesserung des Bildungswesens gelangten schließlich auch Werke der klassischen Schauspielliteratur (von Goethe,

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Volksschauspiel — Vormärz

Schiller, Kleist, G. Hauptmann, E . v. Wildenbruch) auf die Bühnen der Volkstheater, während das anspruchslose Unterhaltungstheater der Unterschichten allgemein an Anziehungskraft verlor, bis es in jüngster Zeit von den Fernsehanstalten wieder entdeckt und in immer neuen Varianten überkommener Klischees ausgestrahlt wurde. Von einer völligen Ablösung des traditionellen V.es durch das volkstümliche Theater kann jedoch nicht gesprochen werden, da auch im 19. und 20. Jh. die B r a u c h s p i e l e an den Kalenderfesten teils wieder aufgenommen, teils systematisch neu eingeführt wurden. Die E r neuerung des Kölner Karnevals 1823 und dessen Nachahmung in Mainz 1838 sowie im übrigen Rheinland gaben z . B . den Anstoß für ein Wiederaufleben der Fastnachtspiele, etwa in der Gestalt der Kölner „Divertissementchen" mit Spiel und Gesang, während die Brauchspiele des Martins- und des Dreikönigsfestes in verschiedenen Wellen durch die Volksmissionen propagiert und verbreitet wurden, in neuester Zeit vor allem durch das „Päpstliche Missionswerk der Kinder" in Aachen und Wien. Daneben führte auch die Jugendbewegung zur Rückbesinnung auf das aus der Tradition aufgezeichnete Spielgut der älteren Zeit, das in zahlreichen Bearbeitungen für Laienspielgruppen erneut in Umlauf gesetzt wurde und so einen volkskundlichen Rücklauf erlebte. Zum volkstümlichen Theater: Heinz Kindermann, Die Commedia dell'arte u. das dt. Volkstheater (1938). Wolfram K r ö m e r , Die ital. Commedia dell'arte (1976; Erträge d. Fschg. 62) [Einfluß d. Commedia dell'arte auf Frankreich, Spanien, England, Deutschland, Österreich], Rudolf R i e k s , Wolfgang T h e i l e , Dieter W u t t k e , Commedia dell'arte. Harlekin auf d. Bühnen Europas (1981; Bamberger HS 8). — Hans M o s e r , Das V. in Kiefersfelden (1929; Oberbayer. Arch. 66). Ders., Die Gesch. des Volkstheaters zu Flintsbach. Das Bayer. Inn-Oberland. Organ d. Hist. Vereins Rosenheim. Jg. 17, Nr. 7 (Juli 1932) S. 4953; Nr. 8 (August 1932) S. 57-60. Hans Stimpfl, Ritterspiele Kiefersfelden 1618-1968. 350 Jahre Volkstheater Kiefersfelden (1968). Paul Ernst Rattelmüller, Der Bauem-Shakespeare. Das Kiefersfeldner Volkstheater u. s. Ritterstücke (1973). Frido W i l l , Das Volkstheater Kiefersfelden (1977; Münch. Beitr. z. Theaterwiss. 8). Julius Schaumberger, Konrad Drehers Schlierseer Bauerntheater (1893). Ernst H o h e n s t a t t e r (Hg.), 's Schlierseer-Büchl. Zum 25jähr. Bestehen d. Schlierseer Bauerntheaters (1918). — Carl v. G u m p p e n b e r g , Das Bauerntheater in Südbay-

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Moser

Vormärz § 1. V. als E p o c h e n p r o b l e m . V. als Beg r i f f steht für ein Problem der Lit.geschichtsschreibung wie der ihr zugrundeliegenden Periodisierung und deren Kriterien, darüber hin-

Vormärz aus ist er selbst Problem geblieben. Betrifft dieser Begriff doch in seinem engeren (1840-1848 bzw. „V.dichter") wie umfassenderen (18151848 bzw. 1830-1848) Verständnis mit der 1. H. des 19. Jh.s einen Zeitraum, der lange kaum als eigene literar. Epoche gewürdigt wurde, sondern als Übergangszeit nach verschiedenen Kriterien (Stilen, Strömungen, literar. Gruppen, Gattungen, einzelnen Autoren) und unterschiedlichen Wertmaßstäben bezeichnet wurde als „Realidealismus", „Frührealismus", „Nachromantik", „Nachklassik", „Epigonentum", „Biedermeier", „Junges Deutschland" u. ä. (s. die Ubersicht bei J . Hermand u. P. Stein). Die eher willkürliche Begrenztheit dieser Benennungen entspringt zumeist ihrer pauschalen Inhalt-Form-Bestimmung, die Zwischenstufen, Übergänge und Überlappungen eher verdeckt als differenziert zu erhellen vermag (z. B. die Frage der Kontinuität u. Diskontinuität literar. Traditionen wie die nach konservativer u. oppositioneller Tendenzlit.). Aus der Benennungsvielfalt ragen als konkurrierende Begriffe „Biedermeierzeit", „Restaurationsepoche" und „Vormärz" heraus. Die D i s k u s s i o n des B e g r i f f e s V. umfaßt deutlich die Frage nach der Historizität literar. Entwicklung und ihrer Darstellung: Geht es „um das hist. Resumé vergangener Dichtung und ihrer ehemaligen Wirklichkeitsbezüge" oder um den ,,bewußte[n] Prozeß der Konfrontation vergangener Werte und gegenwärtiger Wertungen" (R. Weimann), um die „Überzeitlichkeit", zeitlos „unzeitgemäßer" großer Dichter und Dichtungen oder um die gesellschaftliche Wertung und Funktion von Lit. („Lit.Verhältnisse")? Auch unter jenen, die die 1. H . des Jh.s eigener Epochenbestimmung für wert halten, gibt es keine Übereinstimmung. Unbestritten ist nur, daß „es so etwas wie eine dialektische Einheit jeder Epoche gibt" (F. Sengle). Restaurationsepoche (J. Hermand), Biedermeier (P. Kluckhohn), Biedermeierzeit (F. Sengle), V. stehen aber nicht nur für unterschiedliche Versuche, die Epoche zu benennen, sondern zugleich für unterschiedliche Wertungen, je nachdem, welcher Aspekt der Zeit als vorrangig angesehen wird. Dadurch ist V. wie kaum ein anderer lit.histor. Begriff auch Gegenstand ideologisch-weltanschaulich geprägter Auseinandersetzung geworden. Denn die sich derart heterogen niederschlagenden Vorstellungen beziehen sich nicht spezifisch lit.historisch, son-

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dern mehr politisch-historisch, da „letztlich politische Tendenzen - fortschrittlich revolutionäre bzw. konservative - zunächst zur Grundlage der Periodisierung dienen" ( H . - G . Werner). So ist den einen Prototyp eines „materialistischen Epochenbegriffes" (P. Stein) oder „eine der wichtigsten Etappen der dt. Geistesgeschichte" (J. Hermand), was den anderen bloße „marxistische Sprachregelung" und „beabsichtigte Diffamierung der konservativen Hauptrichtung" ist (F. Sengle). Uber die Polemik hinaus wird in der Diskussion um den Epochenbegriff V. von Bedeutung, wie Sozialgeschichte der Lit. zu verstehen und zu vermitteln sei und was sie leistet/leisten kann, damit die Frage danach, was literar. Werke in einem historisch konkreten Zeitraum spezifisch bestimmt, verbindet oder trennt, und wie sie auf diesen einwirken. Prägt der V . , d. h. die Spannung der bürgerl. Entwicklung hin zur Märzrevolution von 1848 die Epoche oder nur eine „Strömung" und von jeweils welchem zeitlichen und inhaltlichen Umfang, handelt es sich um die charakteristische Richtung des gesamten Zeitraumes oder nur einer besonders radikalen politisierten Dichtergruppe? Da mit J. Hermand 1970 und P. Stein 1974 umfangreiche Lit.Verzeichnisse zu der bis dahin geführten Diskussion vorliegen, erübrigt sich die Anführung älterer Arbeiten; solche werden nur genannt, wenn direkt auf sie Bezug genommen wird. Zur Epochenproblematik: V.a. Peter S t e i n , Epochenproblem „V." (1815-1848) (1974; SammlMetzler 132). Jost H e r m a n d , Allgem. Epochenprobleme, in: Zur Lit. d. Restaurationsepoche 1815-1848. Forschungsreferate u. Aufsätze, hg. v. J. Hermand u. M. Windfuhr (1970) S. 3-61. Friedr. S e n g l e , Voraussetzungen u. Erscheinungsformen d. dt. Restaurationslit. DVLG. 30 (1956) S. 268-294. Ders., Biedermeierzeit. Dt. Lit. im Spannungsfeld zw. Restauration u. Revolution 1815-1848. Bd. 1: Allgem. Voraussetzungen, Darstellungsmittel (1971). Bd. 2: Die Formenwelt (1972). Bd. 3: Die Dichter (1980). Kurt B ö t t c h e r , in Zusammenarb. mit Rainer R o s e n b e r g u. Helmut R i c h t e r , Gesch. d. dt. Lit. Bd. 8 : 1 8 3 0 bis zum Ausgang des 19. Jh.s. 1. Hbd. 1830-1848 (1975). Rainer R o s e n b e r g , Lit.verhältnisse im dt. V. (1975; Marxist. Ästhetiku. Kulturpolitik6). Ders., Lit.gesch. als Gesch. d. literar. Kommunikation d. Ges. Weim. Beitr. 23 (1977), H. 6, S. 5373. Ders., Dt. V.lit. in komparatist. Sicht. Weim. Beitr. 21 (1975), H. 2, S. 74-98. Zur wiss. Rezeption: Der literar. V. 1830bis 1847, hg. v. Wolfgang W. B e h r e n s u. a. (1973; List-Tb. d. Wiss. 1462). Helmut B o c k [u. a.], Streitpunkt V. Beiträge zur

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Vormärz

Kritik bürgerl. u. revisionist. Erbeauffassungen, hg. v. d. Akad. d. Wiss. d. DDR. Zentralinst. f. Lit.gesch. (1977). F. Sengle, Binsenwahrheiten. Vorläufige Bemerkungen zu d. Thema Fehlerquellen d. soz.gesch. Lit.wiss., in: Sengle, Lit.gesch.Schreibung ohne Schulungsauftrag. Werkstattber. Methodenlehre. Kritik (1980) S. 103-117 (eine Polemik gegen P. Stein u. die DDR-Lit.geschichtsschreibung). P. Stein, 'V.' als lit.gesch. Epochenbezeichnung. WirkWort 22 (1972) S. 411-426. § 2. P r o b l e m a t i k d e r Epochenbez e i c h n u n g . - Der Begriff selbst hat, wie P. Stein detailliert darstellt, histor. B e d e u t u n g s v e r ä n d e r u n g erfahren: schon bald nach 1848/49 in der Lit. häufig attributiv, u. a. von Grillparzer, Hebbel, Laube, Nestroy gebraucht, bezeichnet er zunächst die restaurativen Verhältnisse vor allem in Österreich (zur Frage eines spezif. österr. V . s. P. Stein). Noch der Große Brockhaus von 1934 versteht unter V . (1815-1848): „ E s ist das Zeitalter des Biedermeier, der Restauration und des 'Systems Metternich'. Daher wird das Wort auch oft in übertragenem Sinne für rückständig oder reaktionär verwendet". Erst spät erhielt der Begriff vorrevolutionäre Bedeutung, und zwar in deutlicher Konkurrenz zum Biedermeierbegriff (s. Biedermeier), seit dieser von P. Kluckhohn seit 1928 „als literar. Epochenbezeichnung" vertreten wurde; allerdings hat Kluckhohn das „Biedermeier" als „bürgerlich gewordene dt. Bewegung" bewußt aus den konkreten geschichtlichen Verhältnissen herausgelöst und nach dem Muster der Klassik „verewigt". Von W . Bietak dann 1935 als letzte „sinnganze Kulturblüte der abendländischen M i t t e " gesehen. Diese Auffassungen wurden vor allem von F . Sengle (1956, 1971) und J . Hermand (1958, 1970) umfassend kritisiert, allerdings auf der Basis des Begriffes der Restaurations- bzw. Biedermeierzeit, nicht unter Einbeziehung des Epochenbegriffes Vormärz. Sengle wie Hermand haben mit guten Gründen für die Bezeichnung „Restaurationszeit" (F. Sengle 1956) bzw. „Restaurationsepoche" (J. Hermand 1970) plädiert. Restauration ist für die damalige Zeit identisch mit dem „System Metternichs". Es geht aus von der Existenz einer streng hierarchisch gefügten Gesellschaftsordnung, die sich selbst als einen Organismus verstand, dessen Teile zwar qualitativ unterschieden werden, die aber alle, jedes an seinem Platz, die ihnen von Geburt und Herkommen, vom Schicksal und also von Gott zugewiesene Aufgabe zu erfüllen haben -

so allesamt notwendige, aber deutlich voneinander abgegrenzte Glieder eines Ganzen. Für Metternich ist nun alles, was dieser Ordnung widerstrebt, was dem verwerflichen Prinzip der „Emanzipation" anhängt, versammelt in dem „zerstörungslüsternen Mittelstand", d. h. dem wirtschaftlich aufsteigenden Bürgertum. Dagegen steht die Forderung, „die öffentliche Ordnung und Ruhe als die beiden im Prinzip voneinander untrennbaren Elemente" zu wahren, „die zugleich den höchsten Nutzen wie die höchsten Güter der Menschheit bilden" (Metternich). Die polit. und sozialen Lebensumstände werden damit geprägt durch die restriktiven und rigiden Ordnungsmaßnahmen der restaurativen Politik des österr. Staatskanzlers Metternich, die über den Dt. Bundestag, dem österr. als Präsidialmacht vorstand, weitgehend für alle dt. Staaten Geltung erlangte. Beschlüsse des Dt. Bundestages in Frankfurt a. M., die Zensurmaßnahmen verfügten (1819 u. 1832) und zum Verbot ganzer literar. Richtungen führten (1835 Verbot des 'Jungen Deutschland'), prägten wesentlich das öffentliche Leben. Gerichtliche Verfolgung und Unterdrückung oppositioneller Lit. und Publizistik schränkte ihre Entwicklung ein. Dazu kam die auch ökonomische Verunsicherung der Autoren und Verleger, die sich in vielfältigen Ansätzen zur Selbstzensur und der Ausbildung einer 'Sklavensprache' stilbildend auswirkte. (Fürst Klemens Lothar) Metternich, Denkwürdigkeiten. Mit e. Einl. u. Anm. hg. v. Otto H. Brand. Bd. 1. 2 (1921), hier Bd. 2, S. 64. Zit. nach Michael Wachsmann, Spielebenen als Stilebenen in Ferdinand Raimunds Zauberspielen. Untersuchungen z. Sprachgestaltung u. ihrem histor. Kontext. Diss. München 1975, S. 135. Siehe auch: Heinrich Ritter v. Srbik, Metternich. Der Staatsmann u. d. Mensch. Bd. 1. 2 (1925), hier Bd. 1,S. 355 passim. Die „Anerkennung" des restaurativen Gesellschaftsgefüges wird unterschiedlich eingeschätzt; S e n g l e und an ihm orientierte Autoren gehen auch für die radikal-oppositionellen literar. Gruppierungen davon aus, daß dieses Gesellschaftsgefüge im Grundsatz überwiegend noch anerkannt wurde: D e r „literarische und philosophische Radikalismus [. . .] zeigte das durch einen erstarrten restaurativen Obrigkeitsstaat in die Opposition gedrängte biedermeierliche Selbstbewußtsein in einer extremen revolutionären Ubersteigerung, der kein revolutionäres Interesse entsprach" (U. Köster, S. 162). Sengle hat dann 1971 die Benennung „ R e staurationszeit" als nicht eindeutig genug revidiert, „denn Restauration ist wie Revolution ein universales geschichtliches Phänomen".

Vormärz Stattdessen setzt Sengle „Biedermeierzeit", „weil diese Zeitbezeichnung ähnlich wie das Rokoko oder der Expressionismus unverwechselbar ist". Durch zahlreiche Untergliederungen, die eigentlich „Strömungen" entsprechen, bleibt der Begriff formal, Sengle selbst sieht in ihm die „konservative Hauptrichtung" repräsentiert (1980), nicht die Gesamtheit der Epoche. Auf dieser Basis führt er auch die Auseinandersetzung mit Hermands 5-Phasen-Modell der Epoche, nicht vom Epochenbegriff aus, sondern auf der Grundlage der getroffenen Abschnitte (Sengle 1971). Neue Qualität erhielt die spezifische V.-Diskussion seit den 60er Jahren in der DDR-Forschung, in der der Begriff schon vorher, wenn auch nicht als Epochenbegriff verwendet wurde, und durch J . Hermand (1967). H e r m a n d reduziert in seiner Samml. von Texten und Dokumenten zum Dt. V. (1967) „den eigentlichen V. auf die Zeit zwischen 1840 und 48, also die unmittelbare Vorbereitung der Märzrevolution und der Wahlen zum Frankfurter Paulskirchenparlament". Ähnlich galt der D D R - F o r s c h u n g die Lit. des V. zunächst als die oppositionelle Dichtung, „die politisch nuancierte Lit. schlechthin und die gesellschaftskritische Lyrik insbesondere, die sich vorwiegend im 2. Viertel des 19. Jh.s entfaltet hat", wie H. Stanescu, der den damaligen Diskussionsstand in den Sozialist. Ländern zusammenfaßt, 1969 schreibt. Diese Phase ist gekennzeichnet durch die vordergründige Orientierung an der direkten polit. Haltung der Lit. und der Autoren. Allerdings hat erst der politisch motivierte Umschichtungsprozeß innerhalb der Lit. in der 1. H. des 19. Jh.s, vorbereitet durch Editionen und Textsammlungen (v. a. B. Kaiser), die Reflektion über den Epochenbegriff V. ermöglicht. Während aber innerhalb der Forschung in der D D R die Auseinandersetzung darüber hinaus entschieden weitergeführt wurde, mit dem Ziel, V. zum umfassenden Periodenbegriff werden zu lassen (Kurt Böttcher u. a., Gesch. d. dt. Lit. Bd. 8, 1. 1830-1848 [1975]), d. h. unter Einbeziehung aller Richtungen und Tendenzen des Zeitraumes, blieb die Diskussion innerhalb der Germanistik der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d mit wenigen - eher theoretisch-programmatischen Ausnahmen (P. Stein 1972 u. 1974, G. Mattenklott/K. R. Scherpe) auf diesem Stand. Noch immer reduziert eine sich selbst als „progressiv" verstehende Lit.geschichtsschreibung die

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Epoche auf ihr angemessen fortschrittlich erscheinende Autoren (W. W. Behrens, G. Bott, H.-W. Jäger u. a.; G. Mattenklott/K. R. Scherpe (Hg.); K. Witte (Hg.)). Da diese Darstellungen sich z. T. prononciert als Sozialgeschichte der Lit. verstehen, sei hier im Zusammenhang R. Rosenberg zitiert, der m. E. den fortgeschrittensten Stand der V.-Diskussion in der D D R repräsentiert: Der Umstand, daß die dt. Lit. im V. in einem Maße wie nie zuvor und selten später unmittelbar auf polit. Vorgänge reagierte und sich in die Politik einmischte, ließ das vulgärmaterialist. A b l e i t u n g s s c h e m a : Ökonomie (Basis)—»Politik (polit. Ideologie) —»Lit. voll anwendbar erscheinen. Insofern als diese Politisierung aber doch geradezu gegenläufige Tendenzen einer Privatisierung in einem nicht unbedeutenden Teil der Lit. gegenüberstanden, reichte die Rückbeziehung auf die polit. Entwicklung für die Erklärung des Gesamtprozesses nicht aus. Man behalf sich mit der klassischen Formel von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und ordnete die Lit.produktion der Zeit nach dem Vorgang der bürgerl. Germanistik unterschiedlichen Prinzipien zu - dem 'Vormärz' oder dem 'Biedermeier' (Weim. Beitr. 23, 1977, H. 6, S. 72.).

P. S t e i n , innerhalb der Germanistik in der Bundesrepublik Deutschland bisher einer der entschiedensten Vertreter des Epochenbegriffes V., kommt es darauf an, „die inhaltliche Einheit, die zeitlichen Grenzen und die Einheit der verschiedenen ästhetischen Faktoren so zur Darstellung zu bringen, daß die Verbindung von gesamtgesellschaftlicher Bewegung und Lit.entwicklung deutlich wird" (1974, S. 28.). Gesamtgesellschaftlich prägend ist für Stein V. als jene Phase, „in der sich der Widerspruch zwischen der ökonomischen Emanzipation vom Feudalismus und der polit. Gebundenheit an ihn, oder anders ausgedrückt: der Widerspruch zwischen der verzögerten Bürgerlichen Revolution und der sich entfaltenden Industriellen Revolution herausbildete, verschärfte und zu einem ersten Austrag kam" (ebd. S. 30.). Auf diesen Prozeß reagierten progressive wie konservative Autoren der Zeit, staatskonforme wie oppositionelle, wenn auch ganz unterschiedlich, abhängig davon, „ob diese Schriftsteller nun mit der Entwicklung übereinstimmten und sie vorantrieben oder vor ihr zurückschreckten" (R. Rosenberg). Entscheidend ist dabei die Einsicht, daß die literar. Entwicklung nicht monokausal auf die gesellschaftliche zu beziehen ist, sondern eine relati-

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Vormärz

ve Eigenbewegung hat. Stein entgeht jedoch m. E. vor allem durch seine Periodisierung 181548 und deren Begründung nicht dem Problem, dann doch wieder primär polit. Tendenzen zu betonen (1974, S. 55 u. vorh.), anstatt die spezifische Lit.entwicklung stärker hervorzuheben. Denn entscheidendes Merkmal der Zeit ist, daß „sich in den Grundzügen die Lit.Verhältnisse aus[bilden], die für die entwickelte kapitalist. Gesellschaft bis ins 20. J h . (bis zur Einführung der elektronischen Medien) typisch sind" (R. Rosenberg, in: Weim. Beitr. 23, 1977, H. 6, S. 72). Von Bedeutung ist dabei, daß erst jetzt durch die hist. erfolgende Entwicklung der Lit.Produktion zur Industrieproduktion die „Literarisierung der Gesellschaft oder die Vergesellschaftung der Lit., was allseitige, jederzeitige und ubiquitäre Nutzbarkeit literarischer Texte einschließen muß" (J. B. Warneken), möglich wird. Die industrialisierten Formen der marktvermittelten Kunstproduktion mit ihrer grundsätzlichen Trennung von Autor und Publikum verändern entscheidend das literar. Leben. Einmal wird bestimmend das Verhältnis der Autoren zu diesen Formen, die Professionalisierung ihres Schreibens bzw. dessen Scheitern oder bewußte Ablehnung, zum anderen führt der Umgang mit diesen Formen bzw. ihre Ablehnung zur Entwicklung neuer ästhetischer Techniken und Ausdrucksformen, führt zur Verschiebung des Gattungsgefüges.

wird auch die Unmöglichkeit gesehen, den Entwicklungs- und Bildungsroman der Klassik und Romantik weiterzuführen; Mörikes Maler Nölten, Immermanns Epigonen, Gotthelfs Jakob- und [//¿-Romane beschreiten zwar diese Richtung, ohne sie jedoch auszufüllen. Dieser gesamte Vorgang wird dann in Deutschland wieder unterbrochen durch die spezifische Reaktion des dt. Realismus, vor allem durch das totale Verdikt der gesamten Vormärzlit. durch den p r o g r a m m a t i s c h e n R e a l i s m u s . V. ist so auch zu sehen als abgebrochener Aufbruch in die 'Moderne', als Ubergang von der Hoffnung auf eine neue Kunst zur Konstituierung und Verklärung der „gesamten Wirklichkeit als eine[r] schöne[n] heilefn] Wirklichkeit" (Vischer) mit den Mitteln der Kunst.

P u b l i z i s t i s c h e F o r m e n : Reisebilder, Briefe, Feuilleton, literar. Kritik gewinnen zunehmend an Bedeutung. Im wesentlichen sind es die 'Jungdeutschen', die theoretisch in ihren „Ästhetiken" (Marggraff, Mündt, Wienbarg) und praktisch in zahlreichen Novellen und Romanen der „ K u n s t d e r d e u t s c h e n P r o s a " (Mündt) zum Durchbruch verhelfen. Doch gibt es in der Zeit keine feste Theorie der Erzählprosa; Novelle und Roman sind kaum unterschieden. Gotthelf nimmt in seine Prosatexte ganze Predigten auf, Stifter faßt seine Erzählungen als „Studien" zusammen, in der Prosa Mörikes mischen sich märchenhafte, idyllische und lyrische Elemente. Immermanns Münchhausen wurde durch seine Zweiteilung in eine Bauernidylle und satyrisch-ironisch dargestellte Adelswelt von einer ahist. argumentierenden Lit.wiss. lange unverbunden gesehen. Insgesamt besteht die Neigung zur Kleinteiligkeit, die immer wieder den „Fluß des Erzählens" unterbricht. Die zeitliche Struktur des Erzählens wird so immer wieder aufgehoben. Der „universalpoetische" Anspruch, die Gesamtheit der sie umgebenden Wirklichkeit zu fassen, erscheint konservativen wie progressiven Autoren nicht mehr möglich. Von daher

§ 3. Zur Frage der P e r i o d i s i e r u n g und der E i n h e i t d e r E p o c h e . - Für die Frage nach der Einheit der Epoche, nicht nur der 'Stileinheit', ist die Art der Periodisierung von besonderer Bedeutung. Insgesamt blieb die zeitliche Periodisierung bisher problematisch: V. als explizit sozial- wie kulturgeschichtlich orientierter Epochenbegriff läßt sich zeitlich nur schwer eindeutig sozialgeschichtlich bestimmen; die Konfrontation des „Bürgertums" mit dem Feudalismus einerseits, andererseits mit den Unterschichten, die unter den Auswirkungen der aufkommenden kapitalist. Produktionsweise sich wandeln, neu entstehen und in Teilen sich zu formieren beginnen, ist für Deutschland nicht auf die 1. H. des 19. Jh.s ganz oder in Teilen zu beschränken. Auch genuin „literarisch" läßt sich V. (oder die anders benannte Epoche) von den bürgerlich-feudalen Auseinandersetzungen oder von dem Beginn der „Moderne" her nicht eindeutig abgrenzen. Der späte Goethe zeigt und verarbeitet diese

P. S t e i n , F. Sengle (s. § 1). Jost Herrn a n d , Die literar. Formenwelt d. Biedermeiers (1958). Ders., Der dt. V. Texte u. Dokumente (1967). H. S t a n e s c u , Zur näheren Bestimmung d. Begriffs 'V.'. Weim. Beitr. 15 (1969) S. 1282-1290. W. W. B e h r e n s u. a. (s. § 1). Gert M a t t e n k l o t t u. Klaus R. S c h e r p e (Hg.), Demokratisch-revolutionäre Lit. in Deutschland: V. (1974; Lit. im histor. Prozeß. 3,2; Scriptor Tb. 29). Florian Vaßen (Hg.), Restauration, V. u. 48er Revolution (1975; Die dt. Lit. Bd. 10). Karsten W i t t e (Hg.), V.: Biedermeier, Junges Deutschland, Demokraten (1980; Dt. Lit. Eine Soz.gesch.). R. R o s e n b e r g (s. § 1). Udo K ö s t e r , Literar. Radikalismus. Zeitbewußtsein u. Geschichtsphilosophie in d. Entwicklung vom jungen Deutschland zur Hegelschen Linken (1972; Wiss. Paperbacks Lit.wiss. 10.).

Vormärz Auseinandersetzung genauer als die meisten 'Jungdeutschen'; Hölderlins und Kleists „Modernität" hält den meisten literar. Werken der Epoche stand, auch in der Form ihrer Klassikkritik, ihrem Heraustreten aus dieser Periode harmonisierter Glückserwartung. Jeder Periodisierungsversuch muß sich daher bewußt sein, daß es sich für Deutschland zunächst um historisch-polit. Daten handelt. Auch die Frage danach, wer wann zu schreiben beginnt, ist nicht unbedingt entscheidend, entscheidend ist die Frage, „wer schreibt noch?" Neben kleineren Abweichungen und Verschiebungen um einige Jahre (1813, 1814, 1820 oder 1848, 1849, 1850), wobei nicht ganz einsichtig ist, wie der V. über den Zusammenhang der Märzrevolution hinausreichen kann, haben sich im wesentlichen 3 Periodisierungen herausgebildet: 1 8 1 5 - 1 8 4 8 , 1 8 3 0 - 1 8 4 8 und 1840-1848. 1 8 4 0 - 1 8 4 8 ist am eindeutigsten von allen Einschnitten direkt mit polit. Kriterien verbunden. Während J . Hermand (1967) noch die Breite der Entwicklung in Lit., Philosophie und Ästhetik berücksichtigt, bleibt diese Phase sonst häufig auf die „Hochphase" der polit. Lyrik beschränkt (vgl. P. Stein 1974); dieser verengte Begriff ist damit von vornherein nicht zur Bestimmung der Epoche geeignet, sondern nur zur Bestimmung einer, in dem letzten Jahrzehnt vor der Revolution auftretenden „Strömung" (J. Hermand 1967, F. Sengle 1970, F. Vaßen 1975). Zur weiteren Differenzierung schlägt G. Farese darüber hinaus das Jahr 1842, „das infolge des Parteilichkeitsstreites zwischen Herwegh und Freiligrath eine bewußte öffentliche Reifung der Beziehung Literatur/ Gesellschaft verursachte, als Anfang der aktiven Phase des V . " vor (1975). Diese enge Auffassung von V. bleibt integrierbar in jede Epochenbenennung (Restaurationszeit wie Biedermeierzeit) wie der Anschauungsweise des „Stilpluralismus" verhaftet; sie läßt sich so eingegrenzt kaum sinnvoll als Teil der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung begreifen und ist mehr dem offen polit. Gehalt und seiner polit. Wertung verpflichtet als der Politisierung der Lit. und des literarisch-ästhetischen Bewußtseins, die ebenso oppositionelle wie konservative Autoren umfaßt. Eine gewisse Berechtigung leitet diese Uberschätzung der polit. Lyrik aus deren späten und z. T . verkürzten Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zur D D R ab.

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Um den histor. und lit.histor. Stellenwert derartiger Dichtung aber differenziert zu sehen, müßte ihre ästhetische wie polit. Funktion erst einmal im Gesamtzusammenhang bestimmt werden. Dazu gehört, die Breite der T e n d e n z d i c h t u n g im fraglichen Zeitraum zu berücksichtigen, worauf Sengle entschieden hingewiesen hat: Es gibt nicht nur Tendenzdramen und -romane und die Tendenzlyrik, an die wir gewöhnlich denken, sondern auch Tendenzepen, Tendenzmärchen, Tendenzoden, Tendenzkirchenlieder, Tendenzfabeln, Tendenzlegenden usw. Es wäre zu zeigen, in welcher Weise die einzelnen Formen der Tendenz fügsam gemacht werden. Und nicht nur das; denn davon kann auch in der isolierenden Gattungsbetrachtung die Rede sein. Es wäre über die Einzelinhalte und Einzelformen hinaus nach den allgemeinen Merkmalen der Übergattung Tendenzdichtung zu fragen (1972, S. 84).

Dazu gehören Überlegungen über die spezifische Verbindung von Politik und Ästhetik nicht nur im Hinblick auf die Märzrevolution; H . - G . Werner lehnte bereits 1969 insgesamt den Begriff „ V o r m ä r z l y r i k " als unzutreffend ab, weil die polit. und ästhetische Tendenz dieser Lyrik sich nicht nur vom Standpunkt der Märzrevolution aus bewerten lasse. Zu untersuchen wären diese Texte viel mehr als bisher nicht vorrangig als polit. Stellungnahmen oder nach der „Parteizugehörigkeit" der Autoren, sondern in ihrem ästhetisch-soziokulturellen Kontext. Das gängige Klischee von der besonderen Eignung polit. Lyrik, zur Politisierung eines breiten Publikums beizutragen, wäre erst einmal konkret und differenziert zu überprüfen, eben nicht nur von der „engen" Basis der Texte aus, sondern unter Einbeziehung aller ästhetischen und politisch-theoretischen wie praktischen Richtungen; dabei dürfte auch der eingegrenzte V.begriff weiter an Bedeutung verlieren. Die 1. H . des 19. Jh.s ist einerseits durch die Aufhebung institutionalisierter ä s t h e t i s c h e r N o r m e n (von daher stammt die Rede vom sog. „Stilpluralismus"), andererseits durch die Erweiterung des Ästhetischen hinsichtlich p ol i t i s c h - s o z i a l e r N o r m e n (Engagement Parteilichkeit - Tendenz - Problematik) geprägt, was zur Spannung zwischen Autonomie-Status der Kunst und ihrer In-Dienst-Stellung führt, gerade indem versucht wird, ästhetische Normen zu sozialen zu machen und umgekehrt. Allerdings bleiben sich Lit. und

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Lit.kritik, soweit sie nicht bewußt den Rahmen „herrschender Kultur" verlassen wie die frühproletarische Lit., bewußt, „daß eine Heteronomisierung des Ästhetischen etwa unter den Vorzeichen politisch-ideologischen Engagements, zur Aufhebung von Kunst führt; andererseits macht sie sich eben diesen Umstand zunutze, um die sachlich gegebene Abgehobenheit des Ästhetischen als Verdikt gegen den Einbruch des Real-Gesellschaftlichen, insbesondere seines Unrechtcharakters zu formulieren" (H. Widhammer). Der Ausgleich zwischen dem Ästhetisch-Abgehobenen und dem sich totalisierenden System der ökonomischer. Zweckrationalität steht im Mittelpunkt der ästhetischen Diskussion: Integration des „Häßlichen" (Rosenkranz), des Zufällig-Individuellen, in keiner Totalität mehr zu denkenden (Vischer), des Wirklichkeitsbezuges der Kunst (Junghegelianer). „Die Drohung, daß Ästhetik vor der realen gesellschaftlichen Entwicklung scheitert, stand wie nie zuvor in aller Dringlichkeit vor Augen" (H. Widhammer). Einerseits führt dies zu einem integrationsästhetischen Ansatz (Weiße, Vischer, Rosenkranz), andererseits zur Legitimierung einer Kunst, die die gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstand nahm, ohne daß darin bereits Einigkeit erzielt wurde. Die Kontroverse um die Dorf-, besser „Volkslit." zwischen bürgerlich-liberalen (Auerbach), revolutionär-demokratischen (Wolff) und sozialistischen (Heß) Schriftstellern ist ein Beispiel für die unterschiedlichen Versuche, des „sozialen Problems" ästhetisch habhaft zu werden (s. H . Widhammer). Auch den Periodisierungen 1 8 1 5 - 1 8 4 8 und 1 8 3 0 - 1 8 4 8 entsprechen aber zunächst direkt weniger solche ästhetischen Reflektionen als politische Daten. 1 8 1 5 bezeichnet den Abschluß der Befreiungskriege (1812-1815), nicht nur verstanden als Beendigung der franz. Fremdherrschaft über das kontinentale Europa, sondern als Sturz des als illegitim angesehenen „Usurpators" Napoleon; nicht nur in Deutschland zugleich aber auch Ausdruck eines nationalen Bewußtseins, dessen Ziel die nationale Einheit war. Die Konstituierung eines Staatenbundes der dt. Territorien, des 'Dt. Bundes' 1815, setzte die Zersplitterung Deutschlands fort. Somit kennzeichnet 1815 die enttäuschte und getäuschte nationale und liberale Erwartung, der bewußt Restauration und Legitimität als Ordnungskategorien entgegengesetzt wurden. Beide verstanden als Herrschaft der durch Dynastie und Gottesgnadentum eingesetzten Herr-

scher, wenn auch nicht einfache Wiederherstellung der vorrevolutionären Ordnung. Damit wurde das Streben nach nationaler Einheit zur oppositionellen Forderung. Dieses Streben ist damit für die gesamte 1. H . des 19. Jh.s ein revolutionärer Gesichtspunkt, er ist in je unterschiedlicher Verbindung mit anderen polit. und sozialen Zielen allen oppositionellen Gruppierungen und Strömungen der Zeit eigen. All diese Forderungen kulminieren in der bürgerlichen Revolution von 1848/49. 1849 markiert die endgültige Niederlage dieser Forderungen in Deutschland. Beide Daten stehen so für enttäuschte Erwartungen; der Weg, vor allem des dt. Bürgertums von einer polit. Niederlage (1815) in eine andere (1848/49) prägt politisch den solcherart eingegrenzten Zeitraum mit seinen restaurativen wie radikal-oppositionellen Tendenzen, was sich eben in den verschiedenen lit.histor. Benennungen niederschlug, die vornehmlich 18151848 umfassen.

AuchP. S t e i n plädiert entschieden dafür, so zu periodisieren. Er begründet den Gesamtzusammenhang des Zeitraumes - gegen die Annahme verschiedener wechselnder Strömungen (H. Denkler, J . Hermand, F. Sengle) - aus dem „von Anfang an dialektische[n] Ineinander von restaurativen und revolutionären Tendenzen in allen gesellschaftlichen Bereichen als sich krisenhaft verschärfendefn] Prozeß" (1974, S. 54). Wenn er auch sieht, daß der Prozeß der Industrialisierung wesentlich erst in den 30er Jahren einsetzt, bleibt er doch bei 1815 als eigentlichem Ausgangspunkt des Wandels. In der Zeit zwischen 1815 und 1830 beginnt unter dem Druck restaurativer Repression, scheinbar abseitig und zunächst fast unbemerkt, eine Auseinandersetzung mit den überkommenen ästhetischen, moralischen, religiösen und polit. Vorstellungen, deren latent polit. Charakter - vor allem dort, wo es ins Regressive ging - nicht übersehen werden darf. Im Vergleich zur Lit. nach 1830 und vor allem von 1840, die sich weiter zur offen praktischen bzw. polit. Operativität entwickelt, ist die Lit. vor 1830 noch suchender, kompromißhafter und vor allem noch stärker 'für sich' - eine Folge der Tatsache, daß die sich formierende bürgerliche Oppositionsbewegung vorerst nur von einer schmalen Schicht der Intelligenz getragen wurde und wegen des noch nicht entwickelten Klassenbewußtseins für Desorientierung anfällig blieb (P. Stein 1974, S. 55).

Diese Begründung macht besonders deutlich, daß Stein entgegen seiner entschieden vorgetragenen Forderung, die „Einheit" aller Richtungen und Tendenzen der Epoche erfassen zu wollen, doch und gerade durch seine „politische" Periodisierung in Gefahr gerät, die bürgerlich-oppositionelle Seite der Lit. des

Vormärz Zeitraumes hervorzuheben. Deutlich ist auch Steins Versuch, bei gleichzeitiger Anerkennung des Einschnittes 1830 dessen Bedeutung abzuwerten. Er kommt so zu einer Art „Vorläufer"-Schema (1815-1830), das dann Ausbildung und Verwirklichung nach 1830 findet. Dabei ist für ihn die Betonung des spezifisch „Bürgerlichen" der oppositionellen Bewegung zentral; zu fragen bleibt, ob das Beharren auf der primären Ausbildung bürgerl. Revolution und Gesellschaftsordnung nicht auf einer undifferenzierten Überschätzung der bürgerl. Oppositionsbewegung, d. h. auch und vor allem der Rolle des Bildungs- und Wirtschaftsliberalismus beruht, wenn Stein diese erst in der Revolution von 1848 „stationär" bezeichnet. Allerdings stößt er damit in das Zentrum der auch in der Forschung der D D R geführten Diskussion vor, die zwar nicht um die Frage des Epocheneinschnittes (1830) geführt wird, wohl aber um den Stellenwert des „Bürgerlichen" innerhalb der Epoche. Dazu R . R o s e n b e r g : Die unübersehbaren Kontinuitätslinien in der Entwicklung einer bestimmten Richtung progressiven bürgerlichen Denkens können nicht die Tatsache verdecken, daß in den dreißiger/vierziger Jahren des 19. Jh.s grundlegende Veränderungen in allen Sphären der Lit.kommunikation manifest werden - auch in der Sphäre der Lit.produktion. In Deutschland bilden sich in den Grundzügen die Lit.Verhältnisse aus, die für die entwickelte kapitalist. Gesellschaft bis ins 20. Jh. (bis zur Einführung der elektronischen Medien) typisch sind (Weim. Beitr. 23, 1977, H. 6, S. 72).

Rosenberg kommt damit Steins eigener, in Anlehnung an Gansberg formulierter Forderung, dann von einer neuen literar. Epoche zu sprechen, wenn eine „neue gesellschaftliche Kraft der ästhetischen Gebilde registriert werden kann" (1972, S. 425) näher als der literarisch-ästhetisch letztlich unbestimmt bleibende Verweis auf 1815 (wenn schon explizit nach Einschnitten in der „bürgerlichen Entwicklung" gesucht wird, warum sollte man nicht genauso gut die Verfassungsbewegungen vor allem in Süddeutschland heranziehen?). 1 8 3 0 als wesentlicher Einschnitt innerhalb einer,,Großepoche" 1789-1870/71 wird von Lit.historikern wie Historikern in der D D R weitgehend anerkannt, wenn auch nicht überall konsequent gehandhabt, in der Bundesrepublik Deutschland bisher von G. Mattenklott/ K. R. Scherpe mit Vorbehalten und von H . - W . Jäger.

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Der Historiker H. Z w a h r betont die widersprüchlichen Auswirkungen der Ereignisse von 1830: „die Ereignisse beschleunigten einmal den bürgerlichen Fortschritt, andererseits wurden sie als ökonomischer Störfaktor und eine Gefahr für das bürgerl. Eigentum des einzelnen gewertet". Vor allem H . B o c k hat, bezogen auf den V.begriff 1830-1848, deutlich gemacht, daß mit der franz. Julirevolution 1830 und ihren Auswirkungen auch auf Deutschland ein „neuartiges Spannungsverhältnis der gesellschaftlichen Widersprüche", nämlich das zwischen Bourgeoisie und „Proletariat" auftritt. Problematisch erscheinen allerdings die Folgerungen, die Bock aus diesem Befund zieht, einmal die Konstruktion einer weitgehend linearen Entwicklung „revolutionär-demokratischer L i t . " , zum anderen die Beantwortung der Frage des Weiterlebens und der Wertung literar. Tradition mit der Allgemeinformel von der „dialektischen Einheit von Diskontinuität und Kontinuität" (s. dazu R. Rosenberg, in: Weim. Beitr. 23, 1977, H . 6, S. 71/72). Bock sieht im V.begriff die „revolutionär-demokratische Literatur" betont: Beginnend mit Börne, Heine, Büchner und einigen Schriftstellern des 'Jungen Deutschlands' in den dreißiger Jahren, sodann über die 'Hegeische Linke' in die 40er Jahre zu Herwegh, Freiligrath, den jungen Marx und Engels, dem älteren Heine fortschreitend, werden die revolutionär-demokratischen Positionen und Entwicklungsstufen in der Vormärz-Lit. erfaßt. (Weim. Beitr. 23, 1977, H. 6, S. 29.)

Daß eine derartige Fixierung auf die demokratische Hochlit. dazu geführt hat, Bereiche der radikal-demokratischen ideologisch-literar. Auseinandersetzung zu vernachlässigen, wurde gesehen (s. H . Denkler, J . Grandjonc, K. Obermann, I. Pepperle, H . - J . Ruckhäberle). Entscheidend für den nach 1830 einsetzenden Differenzierungsprozeß ist, daß er zwar verbreitet ideologisch-literarisch geführt wird, aber mit Organisation, Theoriebildung und -rezeption und „revolutionärer" Praxis sowie mit den A n f ä n g e n d e r dt. A r b e i t e r b e w e gung verbunden ist. Erst unter Einbeziehung dieser Auseinandersetzung dürfte überhaupt bestimmbar werden, was es heißt, eine „antibourgeoise aber noch bürgerliche Position" einzunehmen, wie H . Bock in seiner Auseinandersetzung mit R. Rosenberg die vorherrschende Tendenz in der Lit. des V. charakterisiert. Daß es sich schon bei der dargestellten „demokratischen" Traditionslinie um eine je unter-

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schiedliche Sicht der gesellschaftlichen „Realität" wie ihrer Darstellung handelt, wird verdeckt, unterscheiden sich die genannten Autoren und Gruppierungen doch nicht nur „politisch", sondern ebenso ästhetisch in der unterschiedlichen Auffassung von der Funktion der Kunst und Lit. in der Ges. (wobei Heine eher überschätzt, Börne eher unterschätzt wird). F ü r Deutschland ist dabei zudem von Bedeutung, mit spezifischen Auswirkungen auf die Lit.verhältnisse, daß es sich um einen E n t w i c k l u n g s p r o z e ß b ü r g e r l . I d e o l o g i e handelt, ohne daß das Bürgertum überhaupt zur Herrschaft gelangt. „Bürgerlic h e s " entwickelt sich gebrochen, in Brechung von oben (Reste des Feudalismus) wie von unten (Unterschichten); das Bürgertum gerät in die Zwickmühle zwischen Anpassung an den Obrigkeitsstaat und A b grenzung nach unten gegen das sich formierende P r o letariat. Zwar lebte die große Masse der Bevölkerung in Deutschland ( 4 A der Bevölkerung) noch in und von der Landwirtschaft und in vorbürgerlichen Formen des Handwerks, doch zeichnete sich die Strukturund Bewußtseinsveränderung durch die Industrialisierung bereits deutlich ab, wobei sich erhebliche regionale Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung ergaben (industriell fortgeschritten waren vor allem Rheinpreußen, Westfalen, Sachsen, Berlin, Schlesien). Das Bewußtsein von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Industrialisierung war aber geschärft und orientiert an der Entwicklung in den westeuropäischen Staaten, vor allem in England.

Das Spannungsverhältnis zwischen „Verklärung" und „Kritik" der bürgerl. Verhältnisse ist bereits verschoben zugunsten antibürgerlicher, nicht nur antibourgeoiser Kritik, und zwar gilt dies für konservative wie oppositionelle Autoren: während jene die Orientierung in vorbürgerl. Werten suchen, die sie „verbürgerlichen", nehmen diese bereits die Kritik bürgerl. Verhältnisse vorweg. Die merkwürdige Zwischenstellung liberaler Autoren wie der 'Jungdeutschen' (s. a. Junges Deutschland) rührt von daher, daß sie dieser Entwicklung nur „Ideen" gegenüberzustellen vermögen, deren materielle Basis bereits in Frage gestellt ist. Die unterschiedliche Entwicklung innerhalb der Lit. ist wesentlich mit den Ereignissen um 1830 verbunden. Heines Wort vom „Ende der Kunstperiode" war zunächst (1828) ästhetisch und philosophisch begründet (und an Hegel orientiert), doch erst die f r a n z . J u l i r e v o l u t i o n liefert die politische und soziale Fundierung dieses Diktums. Auf die wie nie zuvor einsetzende Vermischung und Verbindung von li-

terarisch-ästhetischen und politisch-gesellschaftlichen Urteilen wurde hingewiesen. Aber „Ende der Kunstperiode" hieß ja nicht Ende der Kunst, wohl a b e r K a m p f a n s a g e an e i n e g e s e l l s c h a f t s a b g e w a n d t e , bewußt „autonom" verstandene K u n s t , die vor allem den „Goetheanern" angelastet wurde. Suchen so Teile der Lit. die Trennung von Kunst und Leben einzuebenen, so führt gerade die Reaktion auf derartige Vorstellungen ebenso wie die Entzweiung mit der umgebenden gesellschaftlichen Realität - wobei diese aber niemals Thema wird - zur „Flucht" weiter Teile der Lit. in Subjektivität („Innerlichkeit" bei Mörike und der Droste z. B.), ins „Dingliche" (Mörike, Stifter), in die Geschichte (Grillparzer, Stifter), in vorkapitalistische Gesellschaftsformen, utopische Exotik und ins Abenteuerliche (Sealsfield, der frühe Freiligrath), worunter auch das breite Interesse am Wunderbaren und Schauerlichen (Droste) zu verstehen ist, und insgesamt in Bereiche der traditionellen Geborgenheit des Menschen in Familie, Heimat, Natur und Religion. Derart werden gesellschaftliche Widersprüche harmonisiert bzw. verdeckt, auch dann, wenn die Lit. nicht thematisch von vornherein in eine andere Zeit oder eine andere Welt versetzt wird (Märchenform und Idylle bei Mörike). Derartige Versuche werden getragen von der Vorstellung einer universalen ursprünglichen Harmonie, die es wiederherzustellen gäbe (F. Sengle). Insofern ist Sengles Hinweis darauf, daß „die größten konservativen Dichter (Gotthelf, Annette v. DrosteHülshoff, Stifter) erst nach 1830 auftreten" (1980, S. 1020) durchaus in diesen Zusammenhang zu setzen und spricht eher gegen als für die Verbindung der „Zeiten vor und nach 1830". O b sie allerdings „mehr oder weniger kräftig zur Fortdauer des restaurativen Systems beitrugen", scheint fraglich. Insgesamt wäre es angebracht, konservativ-biedermeierlich und politisch-restaurativ nicht so unbesehen zusammenzuwerfen, wie dies gemeinhin geschieht; gerade dann, wenn man die bedeutenden konservativen Autoren so ernst nimmt wie nötig. Denn deren literar. Werk ist doch nicht weniger, im Ästhetisch-Artistischen eher mehr als das der oppositionellen Dichter geprägt von dem Bemühen, unzulängliche Wirklichkeit und Idee eines Besseren zu versöhnen. Unterschieden sind sie allerdings dadurch, woher sie diese Idee beziehen, aus einer wie auch immer verklärten Vergangenheit oder der Perspektive

Vormärz eines Zukünftigen, alle aber verbunden in dem Versuch, „harmonische" Verhältnisse zu gestalten. Die individuelle Entscheidung der Autoren, auf die Sengle z. B. immer wieder verweist, ihre Individualität wird dabei nicht nur Mittel der spezifischen Realitätsaneignung, sondern kennzeichnendes Ausdrucksmittel und damit Bestimmungsgrad für die Lit. in der bürgerl. Gesellschaft. Die schon vorverlegte Einstimmung auf ein „realistisches" Mittleres findet sich dann allerdings mehr bei den konservativen Autoren, ohne daß sie dadurch dem Verdikt des programmatischen Realismus entgehen können. Für den Einschnitt 1830 spricht weiter die Entwicklung der Wissenschaftsges c h i c h t e , in diesem Zusammenhang wenig zur Kenntnis genommen, nicht einmal die des Faches. K.-H. Götze betont die nach 1830 ,,neue[n] Qualität literaturhist. Denkens", wesentlich verbunden mit der qualitativ neuen Verbindung von Lit., Lit.kritik, Politik und Publizistik. Wie in der Lit.geschichtsschreibung setzen auch in der „Ästhetik" neue Entwicklungen in den 30er Jahren ein; Vischer und Rosenkranz konzipieren ihre „Theorien". Der ganze Komplex der „idealistischen" Reaktion, der Rezeption, Kritik und Weiterentwicklung des von der franz. Naturphilosophie herkommenden 'Materialismus 1 in Politik, Ästhetik und Naturwissenschaft, dem innerhalb der Differenzierungsprozesse nach 1830 neue Bedeutung zukommt, ist bisher nur in Ansätzen (bei Büchner) gesehen worden. 1830 wird dadurch als Beginn des V. jeweils sichtbarer, sein E n d e aber immer „offener". Bei H . Poschmann wie R. Rosenberg zeichnet sich die Tendenz ab, V. als „Übergangsperiode" (H. Poschmann) zu relativieren, und zwar gerade von der Einsicht in die Einheit der literar. Entwicklung des Zeitraumes her. Damit wird die Konsequenz aus der nicht an Strömungs- oder Stilbegriffen orientierten Periodisierung gezogen. Rosenberg reduziert die Konfrontation von Klassik, Romantik, Realismus und Vormärz nicht auf Traditionseinflüsse, geht auch nicht mit dem wenig aussagefähigen Hinweis auf die „dialektische Einheit von Kontinuität und Diskontinuität" um, sondern stellt sie einerseits in den Zusammenhang der europäischen Lit.entwicklung, die diese sog. Stilantinomien unter dem Begriff romantisme subsumiert (Weim. Beitr. 23,1977, H . 6, S. 64 u. 67, vgl. F. Sengle, 1980, S. 1026: „Die deutsche

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Biedermeierzeit ist eine Spätphase der westeuropäischen Romantik".), andererseits faßt er über die „Gesamtheit der literarisch-künstlerischen Texte" hinaus den Gegenstand der Lit.geschichte breiter mit dem Begriff der „Lit.Verhältnisse". Dadurch ist aber auch die Notwendigkeit gegeben, die Epoche genauer und komplexer, eben nicht nur politisch-ideologisch zu definieren. H. Poschmann verdeutlicht am Beispiel Büchners, den Sengle „mit seiner sozialistischen Ideologie" als einen „Fremdkörper" ausgrenzt, daß gerade das, was innerhalb des Zeitraumes als nicht repräsentativ erscheinen mag, ihn hist. prägt. „'Zukunftsmusik' aus derselben Periode waren auch die modernen Klassenkonfrontationen und die politischen Parteibildungen, mit denen es die Welt heute in hist. nur modifizierter Form zu tun hat, waren auch unterschiedliche moderne Hoffnungen und Ängste, die da zuerst mit dem kapitalistischen Industriezeitalter auftauchten" (H. Poschmann, 1981). ZuJ. Herrn and, F. Sengle, F. Vaßen (s. § 1 u. 2). Giuseppe Farese, Georg Herwegh u. Ferd. Freiligrath. Zwischen V. u. Revolution, in: G. Mattenklott u. K. R. Scherpe (Hg.) (s. § 2) S. 157224. Hans-Georg Werner, Gesch. d. polit. Gedichts in Deutschland von 18U bis 1840 (1969; 2. Aufl. 1972). Helmuth Widhammer, Realismus u. klassizist. Tradition (1972; Studien z. dt. Lit. 34). Ingrid Pepperle, Junghegelian. Gesellschaftskritik u. Lit.theorie (1977). Horst Denkler, Restauration u. Revolution. Polit. Tendenzen im dt. Drama zw. Wiener Kongreß u. Märzrevolution (1973). Hans-Wolf J ä g e r , Polit. Metaphorik im Jakobinismus u. im V. (1971; Texte Metzler 20). HelmutBock, Dt. „Vormärz" als Modell d. Kulturgesch. Kontinuität u. Diskontinuität zur „klass. Kunstperiode". Weim. Beitr. 23 (1977), H. 6, S. 5-37, erw. Fassung u. d. T.: Dt. „ Vormärz". Thesen z. Akzentuierung gesamtges. Entwicklung, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte z. dt. Klassik u. Romantik 2 (1979) S. 9-26. Ders., Die Illusion d. Freiheit. Dt. Klassenkämpfe zur Zeit d. franz. Revolution 1830 bis 1831 (1980; Sehr. R. Gesch.). W. Heise, Zur Gesch. d. ästhet. Kulturd. dt. V. Weim. Beitr. 23 (1977), H. 6, S. 38-52. Jacques Grandjonc, Dt. Emigrationspresse in Europa während d. V. 1830-1848, in: Heinrich Heine u. d. Zeitgenossen. Gesch. u. literar. Befunde (1979) S. 229-297. Karl Obermann, Flugblätter d. Revolution in Deutschland (1970). Ingrid Pepperle, Lit. d. dt. Frühproletariats. Weim. Beitr. 18 (1972), H. 3, S. 123-143. Hans-Joachim R u c k h ä b e r l e , Flugschriften im histor. Umkreis Georg Büchners (1975). Ders., Frühproletar. Lit. Die Flugschriften d. dt. Handwerksgesellenvereine in Paris, 1832-1839 (1977).

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Vormärz — Vorspiel

Renate Möhr mann, Die andere Frau. Emanzipationsansätze dt. Schriftstellerinnen im Vorfeld d. 48erRevolution (1977). Dies. (Hg.), Frauenemanzipation im dt. V. Texte u. Dokumente (1978). Karl-Heinz G ö t z e , Grundpositionen d. Lit.Geschichtsschreibung im V. (1980; EuroHs. I, 343). H. Poschmann, Probleme e. literar.-histor. Ortsbestimmung Georg Büchners. Georg-Büchner-Jb. 2 (1982) S. 133-143.

Hans-Joachim Ruckhdberle

Vorspiel § 1. Das Wo rt V. bezieht sich auf die einleitende Spielszene oder -szenen als Vorgeschichte der dramat. Handlung, manchmal mit Nachspiel (s.d.) zu einer Rahmenhandlung verbunden, vereinzelt als Vorwegnahme des Endes, gelegentlich das erste, meist kürzere Stück einer Trilogie oder Tetralogie, ferner als moderne Parallele zur Aussage, als Kommentar eines Dramas und seiner Aufführungsbedingungen, als Manifest der angestrebten Theaterziele, als Huldigung an Fürstlichkeiten und als Dankbezeugung an Magistrate, endlich zur Eröffnung von Theatern und Spielzeiten, sowie zu Jubiläen von Schulen und Akademien. Die Abgrenz u n g des V.s vom in mehrere Szenen geteilten dramat. Prolog (s.d.) ist oft schwierig. Einige Dramatiker bezeichnen als V.e Einleitungen, die ausgesprochenen Prologcharakter haben, andere bezeichnen Prologe als V.e. Wieder andere unterlassen es, einleitende Spielszenen V.e zu nennen. Der dt. Begriff ist aus dem lat. praeludium abgeleitet, das im dt.sprachigen Drama ebenso wie proludium, proemium (aus dem Griechischen) und praeambulum nur selten verwendet wird. V. wird in der Lit. auch als T o p o s gebraucht. § 2. In den griech. Tragödien haben einige Prologe V.charakter wie z.B. im Prometheus von A i s c h y l o s , im Ajas von S o p h o k l e s und in den Troerinnen von E u r i p i d e s . Eine Mischung von Prolog und V. ist die Eingangsszene des Miles gloriosus von P l a u t u s . Die V.e (pürvanga) der altind. Dramen mit Spielleiter und Schauspieler, bisweilen auch Theaterdirektor, sind im Grunde Prologe, wie es z.B. Sakuntala von Kalidasa erweist. Von den hundert erhaltenen chines. Yüan-Dramen des 13. Jh.s haben alle V.e wie Das Leben ein Traum

von unbekanntem Autor und Der Kreidekreis von L i H s i n g - t a o . Ein selbständiges V. ist der Prolog der Commedia erudita Calandria von CasentinoBibbiena(1513). Inder2. H. d. 16. Jh.s finden sich in den von Knaben aufgeführten Florentiner Sacre rappresentazioni (Heilige Darstellungen) V.e., die bisweilen mit Nachspielen eine Rahmenhandlung ergeben. Im V. des Spiels vom Jesusknaben von A r a l d o wird das Schicksal von zwei guten und zwei bösen Knaben vorgeführt, wonach die guten sich auf den Schauplatz begeben und das Stück aus dem Neuen Testamente ansehen. Im V. des Spiels von Abraham und Hagar vom gleichen Autor wird dargestellt, wie ein Vater mit seinen Söhnen, einem guten und einem bösen, zur Aufführung des Stückes aus dem Alten Testament nach Fiesole kommt, wie der Regisseur ihnen auf ihre Bitten etwas über die kommende Aufführung erzählt, bis dann ein verspäteter Schauspieler erscheint und die Aufführung beginnt. Der böse Sohn wird von der Geschichte von Abrahams Söhnen Isaak und Ismael so ergriffen, daß er sich im Nachspiel seinem Vater zu Füßen wirft und bekennt, ein gleiches Schicksal verdient zu haben wie Ismael. V.e weisen auch engl. Renaissance-Moralitäten auf. Eine komische Eingangsszene mit Nichol Newfangle (dem Vertreter des vice/clown), seinem Gevatter Luzifer und dem komischen Köhler Grim von Croydon eröffnet Like will to like (Gleich und Gleich) von Ulpian F u l w e l l (1568), ein V. mit Allegorien der Geldgier All for money (Alles fürs Geld) von Thomas Lupton (1578). Shakespeare verfaßt für Der Widerspenstigen Zähmung (1597) ein V., das vielleicht ursprünglich, wie in einer älteren Spielfassung, mit einem entsprechenden Nachspiel eine Rahmenhandlung ergab. Vor ihrem Gasthaus droht die Wirtin dem betrunkenen Kesselflicker Christopher Sly, ihn zu verklagen, wenn er die zerbrochenen Gläser nicht bezahle. Sly beschimpft sie, legt sich vor der Türe hin und schläft ein. Hier findet ihn der von der Jagd heimkehrende Lord, läßt den Schlafenden auf sein Schloß bringen, in einem fürstlichen Schlafgewande ins Bett legen, in Anwesenheit geschäftig um ihn besorgter Diener als angeblich vornehmen Herrn aufwachen, und ihm, um seine Traurigkeit wegen der Verwirrung zu vertreiben, von Schauspielern die Komödie von Petruchio und Katharina vorspielen. V.charakter hat die Eingangsszene mit dem Schiffsuntergang in Shakespeares Sturm (1613). Zwischen

Vorspiel Prolog und V. steht das kommentierende Spiel im Zuschauerraum und auf der Bühne im Ritter vom brennenden Stössel von Francis B e a u m o n t und John F l e t c h e r (1607/08). Mehr Prologcharakter hat das auf eine kurze Begrüßung folgende V. mit Theaterdiener, Souffleur und Schreiber im Bartholomäus-Markt von Ben J o n s o n (1613). Das sog. Präludium mit Klaus Narr, Luzifer und Herold im Berner Nationaldrama Berchtoldus redivivus in dt. Sprache von Johann Caspar M y r i c a e u s (1630) ist ein Prolog. Auch die „preludia" der lat. Jesuitendramen sind im Grunde Prologe. Bei dem Kölner Jakob Mas en dienen sie ausgesprochen missionarischen Zwecken. In den über den Rahmen bloßer Schulspiele hinausgehenden „Ludi caesarei" (Kaiserspiele) in Wien gibt es allerdings auch echte V.e. In dem gesungenen allegorischen V. der Pietas victrix des Südtirolers Nikolaus A v a n c i n i (1659) kämpfen Pietas und Impietas miteinander in einer Königshalle. Die auf einer Wolkenmaschine erscheinende Providentia gebietet Einhalt und fordert Rechenschaft. Pietas beklagt sich, daß Impietas ihr den von Gott verliehenen Herrscherrang streitig mache. Providentia spricht ihr Trost zu und rät ihr, sich auf Consilium und Industria zu verlassen. Nachdem Pietas den Thron bestiegen hat, versucht Impietas mit Hilfe von Ambitio und Furor die Säulen des Thrones niederzureißen. Aber der Thron bleibt stehen, während die Angreifer zu Boden stürzen. Providentia umarmt Pietas. Nach Verwandlung des" Bühnenbildes beginnt die eigentliche Geschichte von Kaiser Konstantin. Wie ein V. mutet die Eingangsszene des geistlichen Festspiels Das große Welttheater von C a l d e r o n (1675) an, in dem der göttliche Meister im Sternenmantel, eine Strahlenkrone auf dem Haupt, die Welt beschwört, ihm auf ihrer Bühne ein Schauspiel vorzuführen, in dem er selber die Rollen verteilt. § 3. Die dt. Nachfahren der e n g l . K o m ö d i a n t e n (s.d.) bauen in ihre Bearbeitungen von Dramen Shakespeares und seiner Zeitgenossen gelegentlich V.e. ein, die in den Originalen nicht vorhanden sind, wie einen barocken Staatsakt mit Friedensschluß der beiden feindlichen Häuser Veronas in Romeo und Julietta (2. H. d. 17.Jh.s) oder eine umfangreiche Staatsszene im Juden von Venedig (um 1660 von Christoph Blümel), der auf Marlowes Jude von Malta (1592) und Shakespeares Kaufmann von

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Venedig (1594) zurückgeht. Marlowes Tragische Geschichte von D. Faustus (1588/89) bekommt an Stelle des chorischen Prologes ein V., das mehr oder weniger aus der Eingangsszene von Thomas Dekkers Ifthis be not good, the devil is in it (1610) stammt. In einer FaustAufführung in Danzig 1669 tritt im V. Pluto auf, der einer Reihe von Teufeln die Order erteilt, die Menschen nach Möglichkeit zu betrügen. In einer Faust-Vorstellung der Sächsischen Hoch-Teutschen Comoedianten in Bremen 1688 erscheint Pluto auf einem in der Luft schwebenden Drachen. 1738 führt der Prinzipal Johann Neuber in Hamburg Das ruchlose Leben und erschreckliche Ende des Welt-bekannten Ertz-Zauberers D. Johannes Faust mit einem näher beschriebenen V. auf, das auch Entfaltung barocker Dekoration und Maschinerie ermöglicht: „Ein großer Vorhof, an dem Pluto unterirdischem Pallaste an den Flüssen Lethe und Acheron. Auf dem Flusse kommt Charon in seinem Schiff gefahren und zu ihm Pluto auf einem feurigen Drachen, welchem seine ganze unterirdische Hofstatt und Geister folgen." Ein ähnliches V. findet sich auch in einem Teil der älteren Fassungen und ihren modernen Bearbeitungen des Puppenspiels vom Doktor Faust (s.a. Puppenspiel). § 4. Im 18. Jh. finden wir viele V.e zu besonderen Anlässen, die mit der folgenden dramat. Handlung nicht in Zusammenhang stehen. Johann Christoph G o t t s c h e d widmet ihnen zusammen mit den Nachspielen im besonderen Teil seiner Critischen Dichtkunst einen kürzeren Paragraphen: Die V.e „pflegt man bey gewissen feyerlichen Tagen, an grosser Herren Geburts- und Namenstagen, bey Beilagern oder bey der Geburt hoher Prinzen, bey Jubelfeiern von Akademien und Schulen, u. d. m. Sie sollen also, dieser Absicht nach, die allgemeine Freude des Landes, der Städte, gewisser Gesellschaften und Stände, an den Tag legen, auch wohl gute Wünsche mit anbringen. Man muss also zu allegorischen oder mythologischen Personen seine Zuflucht nehmen, die sonst in anderen Schauspielen billig keine stattfinden. Man lässt das ganze Land z. E. Germania, Saxonia, Lusatia u.d'.gl. als Frauenzimmer mit einer Städtekrone, man lässt Städte, die Religion, die Wissenschaften, die freyen Künste, den Handel u. d. m. auftreten. Zu diesen letzten gebraucht man insgeheim den Apollo, die Minerva, die Musen, den Merkur u. s. w. Bisweilen kann man auch wohl die Venus, den Cupido, die Diana, den Vertumnus, die Flora, die Pomona u. a. m. brauchen, um die Schön-

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Vorspiel

heit, Liebe, Anmuth, Jagd, den Frühling, Herbst u . s . w . vorzustellen. Alle solche Personen müssen nach der Mythologie mit den gehörigen Kleidungen und Kennzeichen versehen und unterschieden werden, und man muß sich wohl vorsehen, daß unter solche allegorische oder mythologische Personen keine wirkliche oder historische gemengt werden. In diesem Fall ist Simon Dachs Schauspiel von der Sorbuise, auf das erste Jubelfest der Königsb. Universität, fehlerhaft: weil es beyderley untereinander menget . . . " .

Gottsched selber dichtet eine aus 122 Versen bestehende Operette. Als ein V. zu einer Oper, für den Durchlauchtigsten Herzog Christian zu Sachsen-Weissenfels 1733. Das im Frieden vergnügte Deutschland und Weissenfeis. Im ersten Auftritt öffnet sich der Schauplatz „mit einem kriegerischen Getöne der Pauken und Trompeten. Mars erscheint mitten auf einem Gerüste, von Waffen und Harnischen umgeben, dabey viel überwundene Sclaven zur Erden gestreckt liegen. Sarmatien steht seitwärts mit verhülltem Antlitze, als ob es weinete. Hinter ihm stehen bewaffnete Schaaren." Mars unterhält sich mit Sarmatia. Im zweiten Auftritt sieht man „Germania mit einer Kaiserkrone gekrönet, und einen Szepter in Händen tragend", in einem Kleid, „das mit lauter Kronen, Chur- und Fürstenhüten gesticket ist; und die vorigen." Im dritten Aufzug erscheint Deutschlands Schutzgeist „hier in einer glänzenden Wolke, von einem zweyköpfigen Adler getragen, der ein güldenes C auf der Brust hat: nachdem seine Ankunft mit einigen Blitzen und Donnerschlägen angekündigt worden. Er lässt sich unter Trompeten- und Paukenschalle herab. Mars weicht seitwärts und machet ihm Raum." Der Schutzgeist heißt Mars aus Deutschlands Grenzen weichen. „Hier verliert sich Mars mit allem Kriegsgeräthe; der Schutzgeist selbst aber fährt unter Trompeten- und Paukenschalle wieder in die Höhe." Im vierten Auftritt kommt Leukopetra, die an den Sachsen-Weissenfels- und Churfürstlichen Wappen erkenntlich ist, zu Germania, die ihre Schwestern zum Lachen und zum Feiern auffordert. Leukopetra und Germania preisen zuletzt den Herzog Christian und wünschen ihm ein günstiges Geschick und noch viele Jahresfeste. Luise Adelgunde G o t t s c h e d verfaßt auf das Geburtstagsfest der verwitweten Fürstin Johanna Elisabeth von Anhalt Zerbst das V. „Der beste Fürst" (1755). Ähnlichen V.charakter haben manche sog. Prologe der dt. W a n d e r t r u p p e n des 18. Jh.s

wie bei der Haack-Hofmann'schen Bande Der richtende Paris 1722 in Nürnberg, bei jener von Leonhard A. Denner der „musikalische Prolog" vor Le Cid 1731 in Frankfurt a.M. zu Ehren des Magistrates (unter Johann Georg Stoll, der für seinen erkrankten Schwager E)enner die Leitung dieser Truppe übernahm), außerdem der Prolog mit Apollo und den neun Musen in einem Walde beim Parnass vor Aemilius Paulus Papinianus von Gryphius 1736 und 1737 zu Ehren des Kölner Rates und der Prolog mit Pallas, Themis, Mercurius, Fama, Neptunus und Colonia vor der Huldigung der Römischen Welt und Stadt Octaviano Augusto 1737 ebendort. Die berühmte Prinzipalin Caroline N e u b e r verfaßt 1734 bis 1741 eine ganze Reihe von V.n., die im Gegensatz zu den meisten V.n. anderer Wandertrupen nur zum kleineren Teil zur bloßen Ehrung von Magistraten oder Begehung von fürstlichen Gedenkfeiern dienen, zum größeren Teil jedoch zur Orientierung der Zuschauer über die von der Neuberin angestrebte Theaterreform. So gibt sie 1734 in L e i p z i g Ein deutsches V. von acht Auftritten und insgesamt 545 Versen, in dem in einer Parnaßszene mit Musen und Allegorien ihr Streit (Melpomene) mit dem Harlekin Joseph Ferdinand Müller (Thalia) um das sächsische Hofkomödianten-Privileg und ihr von Professor Gottsched angeregtes Ziel eines regelmäßigen Theaterstückes im Kampf gegen die regellose Harlekinskomödie dargestellt werden; 1737 ebenfalls in Leipzig Die von der Tugend getröstete und von dem Heldenmuth beschützte Guelphis zum Gedächtnis des Herzogs Ludwig Rudolf von Braunschweig; in H a m b u r g Die dankbaren Schäfer vor Timoleon, der Bürgerfeind von Georg Behrmann und, zu Ehren des Hamburger Rates, Die ruhige und gesegnete Wohnung der Weisheit, der Wahrheit, des Apollo und des Mercurius vor Julius Cäsar; 1736 in L ü b e c k Ein deutsches V., genannt: Die von der Weisheit wieder die Unwissenheit beschützte Schauspiel-Kunst am Geburtstag des Herzogs Carl Friedrich von Schleswig-Holstein; in F r a n k f u r t a.M. Die Umstände der SchauspielKunst in allen vier Jakres-Zeiten vor Britannicus von Racine; in H a m b u r g Die Herbst-Freude vor Die Horazier nach Corneille von Behrmann; 1737 in S t r a ß b u r g zum Schwörtag Die Verehrung der Vollkommenheit durch die gebesserten deutschen Schauspiele; in H a m b u r g Die größte Glückseligkeit der Welt vor Polyeuctes von Corneille; 1738 in H a m b u r g Der Ursprung der Schauspiele vor dem gleichen Drama und zu Ehren des Senates Der alte und neue Geschmack vor Mithridates von Racine und Die Verbindung der vier Jahreszeiten vor dessen Phaedra; 1741 in L e i p z i g , nach längeren Gastspielen in Ruß-

Vorspiel land, Die Zufriedenheit vor Regulus von Pradon, ein V. in Versen zum Namenstag des Churfürsten von. Sachsen und Königs von Polen, Friedrich August II., Der Tempel der Vorsehung zur Geburtstagsfeier des Zaren vor Iphigenia von Racine und Die Liebe der Unterthanen zum Geburtstag August II. vor Cornelia, Mutter der Gracchen von Mlle Barbier/Gottschedin. In ihrem letzten, umfangreichen Leipziger V. Der allerkostbarste Schatz vor Demokrit vonRegnardrechnetdieNeuberinam4. Oktober 1741 mit G o t t s c h e d ab, den sie in der Rolle des Tadlers auftreten läßt, verkleidet als Nacht in einem Sternenkleide mit Fledermausflügeln, einer Sonne aus Flittergold auf dem Haupt und einer Blendlaterne in der Hand. Die Satire gegen Gottsched ist trotz nicht versuchter Angleichung der äußeren Erscheinung so offenbar, daß das V. nach dem ersten Druck (Dresden 1742) konfisziert, von dem Schweizer Gottschedgegner Johann Jakob B o d m e r jedoch mit einer Zuschrift an Frau Neuberin, die ihren Bruch mit der Gottschedischen Schule zu Gunsten einer „natürlichen und genauen Schaubühne" positiv bewertet, in die Schrift Critische Betrachtungen und, freye Untersuchungen zum Aufnehmen und zur Verbesserung der deutschen Schau-Bühne (Bern 1743) aufgenommen wird. Der Leipziger Literat und Gottschedgegner Johann Christoph R o s t hält die Verunglimpfung Gottscheds durch die Neuberin, dessen ehemaligen Schützling, in seinem „satirisch-epischen Gedicht" unter dem Titel Das Vorspiel (Dresden 1742) fest. 1744 führt die Schönemannische Schaubühne zur zweiten Jubelfeier der Universität Königsberg das V. Die mit den freyen Künsten verschwisterte Schauspielkunst auf, das der Schauspieler Christian K r ü g e r verfaßt und das Gottsched als Musterbeispiel der Gattung in seine Deutsche Schaubühne (Bd. 6, 1745; Nachdr. 1972, S. 552-564) aufgenommen hat. Es spielt auf dem Parnaß und enthält 312 Verse. In fünf Auftritten erscheinen Apollo, Die Weltweisheit, Die Dichtkunst, Die freyen Künste, Der Eigensinn, Das Vorurtheil, Die Göttin Fama, Das Possenspiel, Die Schauspielkunst. Im dritten Auftritt kommt es zum Streit des vom Eigensinn unterstützten Possenspiels mit der Schauspielkunst, den Apollo (ganz im Sinne Gottscheds) zu Gunsten dieser entscheidet. Im vierten Auftritt wird das Vorurteil gegenüber der Schauspielkunst durch die Weltweisheit überwunden. Im letzten Auftritt wird

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die Schauspielkunst als Schwester in den Kreis der freien Künste aufgenommen. V.charakter hat der aus drei Szenen bestehende Prologus mit einem Gespräch von Justitia, dementia, Momus, Melpomene und dem Schäfer Idas, sowie mit einem Chore, welchen die Bande von Johann Carl Eckenberg 1746 in Köln vor Titus Manlius zur Huldigung an den Rat aufführt. Der Frankfurter Obrigkeit widmet der Wiener Hanswurst und Prinzipal Franz S c h u c h 1748 sein V. Die Dankbarkeit vor Canut von Johann Elias Schlegel und 1751 ein V., in dem die Stadt Frankfurt in der Gestalt eines Frauenzimmers, die Weisheit als Minerva und andere allegorische Figuren auftreten. Der Obrigkeit der Kayserlichen Freyen Reichs-Stadt Cölln am Rhein gibt Karl Theophil D ö b b e l i n l 7 5 7 für die bisher gnädig erteilte Spielerlaubnis ein V. mit der Weisheit und der Schauspielkunst vor Schlegels Canut, Arnold Heinrich P o r s c h desgleichen ein V. mit der Schauspielkunst und ihrem Gefolge von singenden Musen und Grazien, sowie einem Chor mit Pauken und Trompeten. Der Wiener Volksdramatiker Philipp H a f n e r tritt anfangs der 60er Jahre des 18. Jh.s in V.n gegen die Anhänger Gottscheds auf, aber auch gegen die Uberbordung des Stegreifspieles (s.d.), nicht gegen dieses selber. Der Choreograph Franz H i l v e r d i n g eröffnet 1766 seine Direktion des Kärntnertortheaters in Wien mit dem V. in Versen Die Freunde und Feinde der Schauspielkunst vor dem Lustspiel Der eigensinnige Herr und Hanswurst, der argwöhnische Diener (nach Les capricieux von Jean Baptiste Rousseau). Dt.sprachige Berufsschauspieler lassen 1771 in dem damals noch österr. Krainburg in Slowenien im V. ihres Passionspieles Engel und den Tod auftreten. Der Wiener Schauspieler Karl von M a r t i n e i i i verfaßt für seinen Prinzipal, den Hanswurst Matthias Menninger, zum ersten Auftreten von dessen Truppe in der zum Theater umgebauten „Rondelle" in Pest 1774 das einaktige V. Der Anfang muß empfehlen. Zur Eröffnung des Mannheimer dt. Theaters durch die Truppe des aus Liestal (Baselland) stammenden Abel Seyler sind vermutlich Die neuen Schauspieler in Mannheim als „V. und Prolog" aufgeführt worden, die Heinrich Leopold W a g n e r , damals Theatersekretär in Mannheim, gedichtet hat. Zur Eröffnung des Deutschen Theaters in Amsterdam 1791 gibt der Prinzipal D i e t r i c h einen „szenischen Prolog", der V.charakter hat: „Der Triumph der Kunst". August Wilhelm

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Vorspiel

I f f l a n d , Direktor des Königlichen Schauspielhauses in Berlin, schreibt 1814 zur Koalition von Preußen und Rußland den szenischen Prolog, genannt Liebe und Wille und stellt darin selber Friedrich den Großen dar. § 5 . In Lessings /a«5i-Fragment (begonnen 1759) findet sich die Skizze eines V.s: Auf einer mitternächtlichen Versammlung in einem alten Dome geben die Teufel ihrem Herrn Beelzebub Rechenschaft über ihre Unternehmungen; der dritte Teufel bringt die Rede auf Faust mit dem Hinweis, daß er so leicht nicht zu verführen sei, verspricht, ihn in vierundzwanzig Stunden in die Hölle zu bringen und entwirft einen Plan, wie er den bei der Lampe in den Tiefen der Wahrheit Forschenden verführen will. G o e t h e sieht in seinem „Faust-Schema" (1797), wo er noch nicht an zwei Teile denkt, eine Rahmenhandlung mit einer Höllenszene als V. und der Errettung Fausts aus der Hölle als Nachspiel vor. In Faust. Der Tragödie erster Teil (1816) läßt er auf das Gedicht Zueignung das V. auf dem Theater mit Direktor, Theaterdichter und lustiger Person folgen, das aber mehr Prologcharakter hat wie sein Vorbild in Sakuntala von Kalidasa in der dt. Übers, von G. Forster (1791), sowie den V. artigen Prolog im Himmel. Zur Eröffnung des neuen Schauspielhauses in Lauchstädt 1802 dichtet er das V. Was wir bringen mit allegorischen und alltäglichen Gestalten (Gedenkausg. d. Werke, hg. v. Ernst Beutler. Bd. 3, S. 592-626), zur Eröffnung des Weimarer Hoftheaters 1807 „nach glücklicher Wiederversammlung der Herzoglichen Familie" (nach Beendigung des Krieges) ein V. mit der tobenden Kriegsgöttin, der sie beschwichtigenden Majestät und dem Frieden, der die Feier des Tages verkündet (Ebda, Bd. 3, S. 582-591), zur Eröffnung des Theaters in Halle 1814 die Fortsetzung von Was wir bringen mit Merkur, Klotho, Lachesis, Nymphe der Saale, Schauspielkunst auf Sarastros Wagen mit den Kindern Kunst und Natur, Sklaven, Mohren und Chor bei drei Verwandlungen des Bühnenbildes (Ebda, Bd. 3, S. 628-643), zur Anwesenheit der Zarinmutter Maria Feodorowna im Hoftheater Weimar 1818 ein V. mit Ceres, Mercurius und Triptolemos, Musik von Chordirektor Häser und zur Eröffnung des Berliner Theaters 1821 einen Prolog (Ebda, Bd. 3, S. 644-653). S c h i l l e r bezeichnet den ersten Teil seiner Wallenstein-Trilogie, Wallensteins Lager (1798), als V. zur Einstimmung und Vorberei-

tung auf das Kommende, Die Piccolomini und Wallensteins Tod (1799). V.charakter hat der einleitende Chor von Mädchen und Jünglingen in der Familie Schroffenstein von Heinrich von K l e i s t (1803). Raimund nennt die Eingangsszene mit der Fee Lacrimosa seines Zaubermärchens Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär (1826) Vorgeschichte. Karl I m m e r m a n n läßt im V. von Merlin Luzifer und Satan auf hohen Klippen sich beklagen, daß die Schöpfung seit Christi Geburt nicht mehr in ihrem Sinne verlaufe. Um dem abzuhelfen, zeugt Satan in einer Höhle in der Wüste mit Candida, die wir vor den Höhleneingängen im trauten Gespräch mit dem Eremiten Placidus als reine Jungfrau kennenlernten, Merlin. Nach dem Hauptteil Der Gral folgt als Nachspiel Merlin der Dulder, der sich von Satan abwendet und, das Vaterunser anstimmend, stirbt. Friedrich H e b b e l beginnt seine Nibelungen-Trilogie (1860) mit dem als V. bezeichneten Einakter Der gehörnte Siegfried. Richard Wagner nennt das Rheingold, den ersten Teil seiner musikdramat. Tetralogie Der Ring des Nibelungen (Erste Aufführung in Bayreuth 1876) einmal Vorabend, ein andermal V. Alexander Nikolajewitsch O s t r o w s k y setzt seinem Märchenspiel Snegürocka (dt.: Das Schneeflöckchen 1872) ein V. voraus. Björnstjerne B j ö r n s s o n s Kongen (dt.: Der König, 1877) ist ein Schauspiel von vier Akten, einem V., vier Zwischenspielen und einem Nachspiel. Gustav F r e y t a g lehnt in seiner Technik des Dramas (1863) nicht nur den Prolog als „Aussprache des Dichters" ab, sondern hält auch das V. als „Ablösung der Eröffnungsszene" für bedenklich. Vorspiel, in: DWb. 12, 2 (1913) Sp. 1610-1613. Josef G r e g o r , Der Schauspielführer. Bd. 1 (1953), 3 (1955), 5 (1957). Heinz K i n d e r m a n n , Theatergeschichte Europas. Bd. 3 (2. Aufl. Salzburg 1967) S.450, 455; B d . 5 (2. Aufl. 1976) S.48, 51, 226, 466, 655, 678. — Wilhelm C r e i z e n a c h , Geschichte d. neueren Dramas. Bd. 1 : MA. ». Frührenaissance (2. Aufl. 1911) S.326f. — Ernst Leopold S t a h l , Shakespeare ». d. dt. Theater (1947) S. 18ff. James C a m p b e l l (Ed.), A Shakespeare Encyclopaedia (London 1966) S. 844-851 (The Taming of the Shrew). — Jean-Marie Vale n t i n , Le Théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554-1680) (1978; Berner Beitr. z. Barockgermanistik 3) S. 819, 834, 848ff., 895ff., 906. — Elisabeth M e n t z e l , Geschichte d. Schauspielkunst in Frankfurt a. M. (1887) S.27f., 165ff„ 169ff., 421 f., 425, 439ff„ 456, 469ff.,

Vorspiel 473f., 480ff. Martin J a k o b , Kölner Theater im 18. Jh. bis zum Ende d. reichsstädt. Zeit (17001794) (1938; Die Schaubühne 21) S. 27, 32 u. 177195. —Johann Christoph G o t t s c h e d , Operette. Als e. V. zu e. Oper, f. d. Durchlauchtigsten Herzog Christian zu Sachsen-Weißenfels 1733. Das im Frieden vergnügte Deutschland u. Weißenfels, in: Gottsched, Ausgew. Werke hg. v. Joachim Birke. Bd. 1 (1968) S. 301-307. Ders., Von Schäferspielen, V.en u. Nachspielen, in: ( a a . O . ) Bd.6,2 (1973) S.573-584. Friedrich Johann v. R e d e n - E s b e c k , Caroline Neuher u. ihre Zeitgenossen (1881) S. 51, 178-182, 186-192, 199f„ 202f., 210, 227ff„ 231235, 259-265, 268-272. Friederike Caroline N e u b e r , Ein dt. V. (1734). Zur Feier ihres 200jähr. Geburtstags 9. März 1897 m. e. Verz. ihrer Dichtungen hg. v. Arthur Richter (1897; D L D . 63). Wilhelm C r e i z e n a c h , Versuch e. Gesch. d. Volksschauspiels vom Doctor Faust (1878). Konrad B i t t n e r , Beiträge z. Gesch. d. Volksschauspiels vom Doctor Faust (1922; PrDtSt. 27). C. H ö f e r (Hg.), Das Puppenspiel vom Doctor Faust (1941; Insel-Bücherei 125). Carl N i e s s e n , Kat. d. Ausstellungen Faust auf d. Bühne. Faust in d. bildend. Kunst (1929; Die Schaubühne 1) S. 48-64. — Gotthold Ephraim L e s s i n g , D. Faust, in: Die Faustdichtung vor, neben u. nach Goethe hg. v. Karl Georg Wendriner. Bd.3 (1913, Goethe-Bibl. 3; Nachdr. 1969) S. 7-26. — V. aufd. Theater, in: Goethe Handbuch, hg. v.Julius Z e i t l e r (1918) S. 500-501. V.e, in: Ebda, S. 501-503. Gustav E. K a r s t e n , Fauststudien. 1. Das 'V. auf d. Theater', in: Philolog. Studien. Festg. f. Ed. Sievers (1896) S. 294-303. Ewald G e i ß l e r , Die 'Lustige Person in Goethes 'V. auf d. Theater'. ZfdU. 27 (1913) S. 678-687. Oskar S e i d l i n , Ist das 'V. auf d. Theater ein V. zum 'Faust7 Euph. 46 (1952) S. 307-314, wiederh. in: Seidlin, Von Goethe zu Thomas Mann (1963; Kl. Vandenhoeck-Reihe 170) S. 56-64. Momme M o m m s e n , Zur Entstehung u. Datierung einiger 'Faust'-Szenen um 1800. 1. Das 'V. auf d. Theater'. Euph. 47 (1953) S. 295-311. Ernst G r u m a c h , Prolog u. Epilog im Faustplan von 1797. Goethe 14/15 (1953) S. 63-107. L. F e u c h t w a n g e r , Die Quellen d. 'Faust'-Vorspiele, in: Feuchtwanger, Centum opuscula (1956) S. 14-19. Werner R o s s , 'V. auf d. Theater u. 'Prolog im Himmer. E. Anleitung z. genauen Lesen. WirkWort 12 (1962) S. 237-243. Alwin B i n d e r , Das V. auf d. Theater, Poetolog. u. geschichtsphilosophische Aspekte in Goethes 'Faust'-V. (1969; Abhandlgn. z. Kunst-, Musik- u. Lit.wiss. 77). Joachim Müll e r , Goethes Dramentheorie, in: Dt. Dramentheorien. Hg. v. Reinhold Grimm (1971; Nachdr. 1978) S. 167-213. Siegfried S c h e i b e , Noch einmal zum bezifferten Faustschema v. 1797. Goethe 34 (1972) S. 235-241. Benjamin B e n n e t , 'V. auf d. Theater. The Ironie Basis of Goethe's 'Faust'. GermQuart. 49 (1976) S. 438455.

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Otto R o m m e l , Die Alt-Wiener Volkskomödie (Wien 1952) S. 83, 92, 390f., 414ff.

§ 6. Seit der W e n d e v o m 19. zum 20. J h . bahnt sich international eine R e n a i s s a n c e des V . s wie des Prologs an, die z . T . aus der Vorliebe für .offene' Dramenformen erklärt werden kann. Es sind zwei V.typen, das handlungsrahmende und das handlungsgliedernde V., in jeweils differenzierten Erscheinungsformen zu unterscheiden. a) das h a n d l u n g s r a h m e n d e V. 1. Traditionelles Erbe ist die Handlungskonstitution durch die beiden Ebenen G o t t / Mensch und H i m m e l / E r d e . So hat Strindberg seiner „dramatisch-lyrischen Phantasie" Ett drömspel (1901; dt.: Ein Traumspiel, 1903) 1906 ein V. hinzugefügt, in dem Indras Tochter auf der Erde erscheint, wo sie erfährt, daß es dem Menschen schlecht geht. Wie Euripides setzt auch Franz W e r f e l in seiner Nachdichtung Die Troerinnen des Euripides (1915) das Göttergespräch zwischen Poseidon und Athene an den Anfang, in dem beide ihren „alten Streit" beenden und beschließen, die frevelnden Sieger auf der Heimfahrt zu vernichten. Im V. von B r e c h t s Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan (1938/1940) erscheinen drei Götter auf der Suche nach einem „gottesfürchtigen" und „guten" Menschen in Sezuan und finden mit Hilfe des Wasserverkäufers Wang nur bei dem Freudenmädchen Shen Te Quartier; die großzügige Bezahlung erlaubt Shen Te den Kauf eines Tabakladens, löst aber zugleich Konflikte aus, die Shen Te erkennen lassen, wie schwierig es ist, „gut zu sein und doch zu leben". Jean G i r a u d o u x setzt den beiden Akten seines pessimistischen Stückes Sodome et Gomorrhe (1943) ein V. voran, in dem der Erzengel als Bote Gottes im Gespräch mit einem Gärtner die Bedingung Gottes für die Rettung der Welt nennt: es müssen wenigstens ein Mann und eine Frau gefunden werden, die die Feindschaft zwischen den Geschlechtern zu überwinden vermögen. Im V. zu Adam und Eva von Peter H a c k s (1972) betrachtet Gott mit dem Erzengel Gabriel die Welt und verlangt von ihm eine Beurteilung, der sich der kritische Gabriel durch Lobpreisung zu entziehen sucht. Im Stolz über sein Werk mißversteht Gott Gabriel und macht ihn zum Wächter über das Paradies. Des „ewigen Lobes" Gabriels und der „ewigen Verneinung" Satans überdrüssig erschafft Gott aus der Sehn-

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sucht nach Seinesgleichen schließlich Adam und Eva; er hofft, daß sie sich bei der ihnen gewährten Freiheit, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen oder nicht, für ihn entscheiden und seine Allmacht bezeugen. 2. Auch S y m b o l i k und A l l e g o r e s e werden wieder als theaterwirksame V.mittel angesehen, zunächst in der Neuromantik: Carl H a u p t m a n n s Märchenspiel Die armseligen Besenbinder (1913) beginnt mit einer Totentanzmelodie, zu der sich Habundus mit seiner Tochter Rapunzel über die Bühne bewegt und dann in der Dunkelheit verschwindet. Danach im Expressionismus: Ernst T o l l e r setzt seinem Drama Wandlung. Das Ringen eines Menschen (1917/18, gedr. 1920) das ekstatische Gedicht Aufrüttelung und ein V. (Die Totenkaserne) voran, „das auch als Nachspiel gedacht werden kann"; es besteht aus einem Zwiegespräch zwischen Kriegstod und Friedenstod. Das sog. V. im Totentanz von Leo W e i s m a n t e l (1921) hat Prologcharakter, Sprecher vor und Lacher hinter dem Vorhang aber verstärken das symbolische Moment. Stark kontrastiv ist das V. in sieben Bildern zu Elias Canettis Einakter Die Hochzeit (1932): es zeigt in einem Wiener Zinshaus simultan einen Totentanz der Besitzgier und der Sexomanie, während bei Segensreich eine turbulente Hochzeitsfeier vonstatten geht. Im V. von Wolfgang B o r c h e r t s Heimkehrerstück Draußen vor der Tür (1946) springt der aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Unteroffizier Beckmann, zu Tode verzweifelt, in die Elbe. Der Beerdigungsunternehmer (Tod) und ein alter Mann (Gott) unterhalten sich über den Selbstmörder, wobei sich der Tod als der eigentliche Weltherrscher entpuppt, Gott dagegen als machtloser Pensionierter. In der folgenden Traumszene macht ein altes Weib (die Elbe) dem Selbstmörder Vorwürfe und setzt ihn wieder ans Land („Er will es noch einmal versuchen, hat er mir eben versprochen"). Umgekehrt ist in Josef und Karel C a p e k s pessimistischer Komödie Ze zivota hmyzu (1921; dt.: Aus dem Leben der Insekten) die Handlung als Allegorie konzipiert, während das V. der Einführung eines Landstreichers dient, der die Insektenwelt beobachtet und kommentiert; der Epilog zeigt seinen Tod. 3. B r e c h t nutzte das deiktische Moment d e r M o r i t a t für das V. So in der Dreigroschenoper (1928), die mit dem V. Jahrmarkt in Soho beginnt, auf dem ein Moritatensänger die Mori-

tat von Mackie Messer singt. In Schweyk im zweiten Weltkrieg (1941/1944, gedr. 1957) demonstriert ein „V. in höheren Regionen" den großdeutschen Machtwahn: zu kriegerischer Musik versammeln sich Hitler, Göring, Himmler („überlebensgroß") und Goebbels („überlebensklein") um einen Globus. Moritatenhafte Züge trägt auch der Prolog zu Hölderlin von Peter W e i s s (1971): Hölderlin, Hiller, Sinclair und Schelling sind mit Festvorbereitungen beschäftigt, um anläßlich der Hochzeit des Herzogs Karl Eugen von Württemberg mit Franziska von Hohenheim demonstrativ des Jahrestags des Sturms auf die Bastille zu gedenken; sie bilden zunächst mit Girlanden ein Tableau um den Sänger, der das als Bilderbogen einer unterdrückten Revolution angelegte Stück kommentiert und zuweilen direkt in die Handlung eingreift. 4. Die besonders durch Goethes Vorspiel auf dem Theater im literar. Bewußtsein lebendige Möglichkeit der poetologischen F u n k t i o n des V.s wird für die Reflexion hoher wie niederer Lit. genutzt. Curt G ö t z nennt seine Kriminal- und Justizkomödie Hokuspokus einen „Reisser" und problematisiert diese Gattung durch ein V.: der Theaterdirektor hat in seinem ungeheizten Büro den Schauspieler, den Dichter, die Kassiererin, den Justizrat (als Vertreter des Publikums) und den Kritiker versammelt, um ihnen mitzuteilen, daß er „pleite" sei. Das von dem Dichter als Stück eines bekannten Erfolgsautors ausgegebene Werk, in das das V. hineingleitet, findet allgemeinen Beifall; nachdem sich der Dichter jedoch im Nachspiel als Autor zu erkennen gegeben hat, hält es der Theaterdirektor für unspielbar, worauf der Dichter sich das Leben zu nehmen beschließt. Auch formal und thematisch an Goethe angelehnt, ist Günther G r a s s ' Farce Beritten hin und zurück. Ein V. auf dem Theater (1959, mit Clown, Schauspieler, Dramaturg und Stückeschreiber) ein Diskussionsbeitrag für ein Symposium über das Komische. Albert D r a c h s Kasperlispielvon Meister Siebentot (1965) ist im Hauptteil für Darsteller auf der Bühne gedacht, während V. und Nachspiel auf der Kasperlebühne spielen, so daß der poetologische Kontrast zwischen Mensch und Puppe zum Ausdruck kommt. — Zu nennen ist aber auch Hugo v. H o f m a n n s t h a l s Libretto zu Richard Strauss' Oper Ariadne auf Naxos. Nach der Stuttgarter Uraufführung (1912) ersetzte Hofmannsthal den ursprünglichen Rahmen, seine

Vorspiel Bearb. von Molieres Der Bürger als Edelmann, durch ein V. „im Hause eines großen Herren" (wiederum mit dem Mäzen als Symbolfigur für den Konflikt zwischen Kunst und Gesellschaft), das die schon im Bürger als Edelmann vorhandene Figur des Komponisten in den Vordergrund rückt; dadurch gelang die Verbindung der mythischen Welt der AriadneHandlung (und ihres Melos) mit der suggerierten Aufführungssituation (und ihrem Konversationston), durch die Hofmannsthal seine Poetologie der Oper (Einheit von opera seria und opera buffa) demonstriert („zweite" Uraufführung, Wien 1916). 5. Durch das epische Theater aktiviert wurde die T h e m a t i s i e r u n g des T h e a t e r s p i e lens im V., wobei meist ein Spieler des V.s die Verbindung zur Haupthandlung herstellt. Das gilt schon für Luigi P i r a n d e l l o s Komödie Ciascuno a suo modo (1924, dt.: Jeder auf seine Weise, 1925): im „Auftakt" (auf der Straße und im Vorraum des Theaters) protestieren die Schauspielerin Morello und ihr Liebhaber vergeblich, daß im Theater eine von ihnen selbst verschuldete Skandalgeschichte, der Treuebruch der Morello an einem durch Selbstmord geendeten jungen Bildhauer, zur Aufführung gelangt. Im V. von Max F r i s c h s „Farce" Die chinesische Mauer (1945/46, Pariser Fassung 1972) spricht „der Heutige" über die chinesische Mauer und deren glorreichen Vollender, Kaiser Tsin Sehe Hwang Ti, der persönlich auf der Bühne erscheinen werde, liest die Namen der weiteren Spielfiguren vor, unterhält sich dann mit einer von ihrem Sohn begleiteten Mutter, unterbrochen durch den Ausrufer, der mit drei Soldaten auftritt. Ort der Handlung ist „unser Bewußtsein. Der „Heutige" spielt die „Rolle eines Intellektuellen", er kommentiert das Geschehen, ist zugleich Handlungsfigur und bleibt zuletzt als der „Ohnmächtige" und „Stumme" zurück. Im V. der Komödie Kennen Sie die Milchstraße? von Karl W i t t l i n g e r (1955) behauptet in einem Sanatorium ein Patient, von einem fernen Stern der Milchstraße zu stammen und verpflichtet den Psychiater, in den von ihm szenisch dargestellten Stationen seines Lebens den Gegenspieler darzustellen; im Nachspiel übernimmt der Patient die Rolle des Chefarztes, der sich mit seinem „Patienten" zur Milchstraße aufmacht. Im Prolog des Dramas J. B. von Archibald M a c l e i s h (1958, dt.: Spiel um Job, 1958) wollen zwei stellungslose Schauspieler, der Luftballonverkäufer Zo-

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isl und der Puffmaishändler Haftiger, das alte Spiel um den geschändeten und mißbrauchten Menschen Hiob beginnen. Sie versuchen sich zu konzentrieren, fallen immer wieder aus ihren Rollen und einigen sich endlich auf die Masken des V.s: die ausdruckslose starre Maske Gottes und die hämische, leidende Satans. Nach wiederholtem Beginn steigern sie sich in das Spiel, in das sich plötzlich die „feine Stimme" mischt. 6. Wie in einer Rahmenerzählung (s. d.) die Binnenerzählung als Argument für die Beweisführung des im 'Rahmen5 geführten Gesprächs dienen kann, so sind auch H a n d l u n g und V. im Drama vielfach a r g u m e n t a t i v a u f e i n a n der b e z o g e n . Obgleich B r e c h t s Kaukasischer Kreidekreis (1944) auch ohne das V. bestehen kann, ist dieses V. „zwischen den Trümmern eines zerschossenen kaukasischen Dorfes" Teil der Konzeption: nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs streiten sich die Ziegenzüchter und die Obstbauern dieses Dorfes um ein Tal, daß schließlich den Obstbauern zugesprochen wird, da sie es am besten zu nutzen verstehen. Danach spielen die Obstbauern das vom Volkssänger Arkadi Tscheidse einstudierte und von ihm mit Liedern kommentierte alte Theaterstück Der kaukasische Kreidekreis, dessen Stoff („der Streit zweier Frauen um ein Kind und die richterliche Maßnahme, die ihn klärt"), wie die Bäuerin Links erklärt, „mit unserer Frage zu tun hat". Das V. von Herwig H a n s e n s Die andere Johanna (1955) bringt den heftigen Disput der heiligen Johanna des Opfertodes und der anderen Johanna, die ein selbstloses Leben täglicher Pflichterfüllung lebt, wobei beide sich gegenseitig Lüge und Blindheit vorwerfen. Dann geht die andere Johanna, die keine Heilige sein will, ihren Weg von Irrtum, Angst und Liebe zu den Menschen. Im V. von Frank Z w i l l i n g e r s Wiener Welttheater (1965) begegnen sich ein Vierteljahrhundert nach dem Entsatz von Wien an der Stätte, von der aus das Befreiungsheer gegen die belagernden Türken ausgezogen ist, der dem Tode nahe Abraham a Santa Clara und der verstorbene liebe Augustin. Ihr Streitgespräch über die Natur des Menschen führt in die Wirklichkeit des Jahres 1683 zurück. Dem V. entspricht ein Nachspiel mit einem Streitgespräch der beiden über den Sinn der Geschichte. 7. Eng damit verbunden ist die A k t u a l i s i e r u n g eines historischen, bzw. literarischen Stoffes d u r c h ein in der G e g e n w a r t spie-

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Vorspiel

l e n d e s V. So leitet Friedrich S c h r e y v o g e l in der Klugen Wienerin (1941) ein im Wien der Gegenwart handelndes V. in das Vindobona von 175 n. Chr. über. B r e c h t setzt seiner Bearbeitung der Antigone von Sophokles (in der Ubersetzung Hölderlins) im Antigonemodell 1948 ein V. Berlin, April 1945, Tagesanbruch voran, in dem er die Geschwisterkonstellation und die Handlungssituation der Antigone parallelisiert. In dem Everyman genannten V. der Tragödie Soldaten. Ein Nekrolog in Genf von Rolf H o c h h u t h (1967) inszeniert der an der Bombardierung von Dresden beteiligte ehem. RAF-Commander Dorland im Herbst 1964 auf den Stufen der Ruine der Kathedrale von Coventry eine Bearbeitung des aus dem 17.Jh. stammenden Kleinen Londoner Welttheaters vor einer illustren Gesellschaft für das vom Internationalen Roten Kreuz entworfene Luftkriegsgesetz zum Schutze der Städte. 8. Diese Aktualisierung kann sich zu einer G e r i c h t s s i t u a t i o n verdichten. Im V. der in der „Zeit der Ludditenbewegung in England" (Nottingham 1815) spielenden Maschinenstürmer von Ernst T o 11 e r (1920/21) wird im Westminsterpalast über die Todesstrafe als Sühne für die Zerstörung der Maschinen abgestimmt; nur Lord Byron, der hier zum Träger der Botschaft Tollers wird, stimmt dagegen. Der Aufbau der Gerichtssituation erfolgt im V. zu Otto Z u r N e d d e n s T. E. Lawrence (1954) im Verlauf mehrerer Szenen: in der ersten, einem Gespräch zwischen zwei Jungen und dem Soldaten der britischen Luftwaffe Pat wird der Tod des Obersten Lawrence als Folge eines Motorradunfalls dargestellt; in der zweiten gedenkt der Lordkanzler von Oxford bei den Trauerfeiern in der St. Pauls-Kathedrale des Volkshelden; in der dritten äußern Sprecher der Weltöffentlichkeit (eine chorische Gruppe von Journalisten, Militärschriftstellern und Politikern) ihre entgegengesetzten Ansichten über Lawrence; in der vierten tritt Lawrence selber auf und beschwört die Mit- und Gegenspieler seines Lebens, mit ihm das Durchlebte auf der Bühne vorzuführen, als Gericht über sich selbst; die Weltöffentlichkeit nimmt am Rande der Bühne als Zuschauer Platz, und das Spiel beginnt; das Nachspiel führt wieder in die Zeit des V.s zurück. b) das h a n d l u n g s g l i e d e r n d e V. 1. Das V. erlaubt, z e i t l i c h v o r der Haupthandlung liegende Ereignisse

auszugliedern und zugleich für die Exposition zu verwerten ; vor allem g e s c h i c h 11 i c h e Stoffe lassen sich dadurch dramaturgisch wirkungsvoll organisieren. Ein Lehrbeispiel ist Gerhart H a u p t m a n n s Florian Geyer (1896): das V. zeigt die im Schloß „Unserer Frauen Berg" zu Würzburg um Markgraf Friedrich und Bischof Konrad versammelten Ritter, die zum Widerstand gegen das anrückende Bauernheer entschlossen sind; der Zuschauer wird in die Stimmung der Bauernkriege versetzt, mit den Absichten der Parteien vertraut gemacht und auf den Protagonisten vorbereitet (der erste Akt bietet danach in der Welt der Bauern eine eigene Exposition). Das V. in Karl K r a u s ' Tragödie Die letzten Tage der Menschheit (Sommer 1914/Juli 1917, Erstdr. in der Fackel 1918/19, Buchausg. 1922) betont, historisch gesehen, die zeitliche Zäsur des Stoffes: Während sich die Handlung auf Ereignisse des Ersten Weltkriegs bezieht, wird in dem zehn Bilder umfassenden V. die Reaktion auf die Nachricht von der Ermordung des österr. Thronfolgerpaares in Sarajewo (mit der Trauerfeier auf dem Wiener Südbahnhof als Höhepunkt) gezeigt. Carl Z u c k m a y e r leitet sein, einen niederrhein. Schwankstoff interpretierendes Schauspiel Der Schelm von Bergen (1934) mit einem längeren V. (Landung des Kaisers und seines Gefolges auf Kaiserswerth) ein, in dem der weise Henker, der Schelm von Bergen, dem alternden Kaiser die Fruchtbarkeit der Kaiserin in Aussicht stellt und aus dem die dynastische Bedeutung der späteren Liebesbeziehung zwischen der Kaiserin und dem Sohn des Henkers hervorgeht. Das V. in Felix B r a u n s Kaiser Karl V. (1936) vereint den 19jähr. Prinzen Karl mit seinem Bruder Ferdinand am Sterbelager ihres Großvaters, Kaiser Maximilian I., der sich wegen des Stolzes und der Engherzigkeit Karls Sorgen macht. Auch Thomas W o l f e setzt in seinem Schauspiel Mannerhouse (1948, dt.: Das Herrenhaus, 1953) zwei Generationen durch V. (um 1735) und Haupthandlung (1861) voneinander ab und erreicht damit die Exponierung des Vater-Sohn-Konfliktes wie die Vergegenwärtigung der amerikanischen Geschichte. Peter H a c k s versteht im Volksbuch vom Herzog Ernst, oder: Der Held und sein Gefolge. Stück in einem V. und 3 Abhandlungen (1953), gemäß der Lehrstückkonzeption, eine Entscheidungssituation als V . : Herzogin Adelheid von Bayern wird vor die Wahl gestellt, ob sie „Betgenossin der Frommen oder

Vorspiel Bettgenossin der Großen" sein und den nach dem Tod seiner ersten Frau Ottegerbe verwitweten Kaiser Otto I. heiraten will; das V. trägt den Titel Die Eltern. — Die Ausgliederung zeitlich vor der Haupthandlung liegender Ereignisse begegnet ebenso bei der Behandlung , p r i v a t e r ' Sujets. So findet das V. in Georg K a i s e r s Kolportage (1924) und in Der Engel mit dem Saitenspiel von Alois Johannes L i p p l (1939) zeitlich zwanzig Jahre vor der Haupthandlung statt. Dreißig Jahre zurück liegt das V. in Edward B o n d s Narrow Road to the Deep North (1968; dt.: Schmaler Weg in den tiefen Norden, 1969): Der Priester Bascho, ein japanischer Dichter aus dem 17. Jh. verläßt sein Dorf, um im Norden Erleuchtung zu finden. Das V. von Harald S o m m e r s Ich betone, daß ich nicht das geringste an der Regierung auszusetzen habe (1973) gibt eine Art Vorgeschichte. 2. Besonders beliebt ist die R ü c k b l e n d e , die z . T . auch zum Typus des handlungsrahmenden V.s gerechnet werden kann. Im Präludium von Josef W e n t e r s Der sechste Heinrich (1928) wird nach sechshundert Jahren der Sarg des Staufenkaisers und Königs von Sizilien geöffnet, wonach die ,Stimme der Geschichte' Heinrichs Größe und Tragik andeutet; im Postludium wird der Sarg wieder geschlossen. Im V. von Carl Z u c k m a y e r s Barbara Blomberg (1949) versuchen die Anhänger von König Philipp von Spanien Don Luis Mendez de Quixada, dem tödlich verwundeten Ziehvater von Juan d'Austria, einem illegitimen Sohn Karls V., das Geheimnis von dessen Mutter zu entlocken und erfahren, daß sie ein schönes Mädchen aus dem Volke war. Ein V. dieses Typus ist im Grunde auch die Eingangsszene in Jean A n o u i l h s Becket ou l'honneur de Dieu (1959; dt.: Becket oder die Ehre Gottes, 1961): König Heinrich II. kniet mit entblößtem Oberkörper am Grabe des Erzbischofs Becket, seines ehemals vertrautesten Freundes und treuesten Dieners, den vier Barone Heinrichs ermordet haben, und wartet auf die Mönche, die ihn zur Buße geißeln sollen. Die Handlung blendet dann fünfzehn Jahre zurück. Die letzte Szene, in der Heinrich den tatsächlich nicht von ihm befohlenen Mord auf sich nimmt, dafür öffentlich Buße tut und zur Heiligenverehrung des Ermordeten aufruft, entspricht einem Nachspiel. Im V. von Herbert M e i e r s StaufferBern (1974) steht Stauffer an seinem eigenen Grabe und sieht, wie im Hintergrund der Simultanbühne die Bundesräte Ruchonnet und

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Welti, der Sohn des letzteren, Dr. Welti, und seine Frau Lydia sowie Ehrengäste die Gründung der „Gottfried Keller-Stiftung" feiern. Nach der Haupthandlung, mit der Rückblende auf die tragische Begegnung von Stauffer und Lydia, verliest im Nachspiel Stauffers Mutter einen Bericht über den Freitod ihres Sohnes, ehrt die Bankettgesellschaft Lydia als edle Stifterin, erklärt der Hausarzt ihren Tod als Folge einer Leuchtgasvergiftung und liest Stauffer ausdruckslos die ehrenden Worte auf den Schleifen seiner Grabkränze. Im v. artigen Prolog von Michael C o o k s The Gayden Chronicus (1976; dt.: Gaydens Tagesberichte) erwartet Gayden seine bevorstehende Auspeitschung und Strangulation; die Haupthandlung blendet auf sein Leben zurück, und die Auspeitschung beginnt in der vierten Szene des zweiten Aktes. 3. Als V. gedacht werden aber auch A k t i on e n , die u n m i t t e l b a r z u r H a u p t h a n d lung g e h ö r e n und durch die Abgrenzung als V. in ihrer Bedeutung akzentuiert werden. So exponiert das V. in Paul C l a u d e l s „geistlichem Stück in vier Ereignissen und einem V . " L'annonce faite ä Marie (1912, letzte Fassung 1948, dt. u. d. T . : Verkündigung 1912) die religiöse Entwicklung der,reinen' und das Leid bewußt auf sich nehmenden Bauerstochter Violaine: verzeihend und aus Mitleid küßt sie Pierre de Craon, nachdem dieser ihr gestanden hat, daß er ihr, die mit Jacques verlobt ist, Gewalt habe antun wollen und daß er danach an Lepra erkrankt sei. Das V. in Federico Garcia L o r c a s Kammerspiel Amor de Don Perlimplin con Beiisa en su jardin (1931; dt.: In seinem Garten liebt Don Perlimplin Beiisa, 1954) zeigt, wie der alternde Junggeselle Don Perlimplin von seiner Haushälterin, die ihn nicht mehr weiter versorgen will, zur Heirat mit der blutjungen Beiisa überredet wird, wobei der tragische Ausgang sich bereits abzeichnet. — Eng verbunden mit der Textgenese ist das V.-Problem in Hugo v. H o f m a n n s t h a l s Tragödie Das Bergwerk zu Falun. Hofmannsthal hat das Werk 1899 geschrieben, den ersten Akt ein Jahr später in der Zeitschrift Die Insel veröffentlicht und 1906 mit dem Untertitel Ein Vorspiel in die Kleinen Dramen aufgenommen; während auch der 2., 4. und 5. Akt (zwischen 1902 und 1911) in Einzelveröffentlichungen erschienen, wurde der 3. Akt erst aus dem Nachlaß bekannt. Nach G. Wunberg sind die Akte 2-5 „Ausführungen eines im V. umfassend gegebenen Schemas", und das V. mache diese Akte „insofern über-

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Vorspiel

flüssig, als in ihnen eine Bewußtseinslage vorweggenommen wird, die in den folgenden Akten nicht mehr erreicht wird". 4. Durch das V. können ebenso nur H a n d l u n g s r a u m und M i l i e u eines Stückes akzentuiert werden. In diesem Sinne ist z . B . der „szenische Prolog" in Franz M o l n a r s „Vorstadtlegende Liliom (1909; dt. Ubers, v. Alfred Polgar) als V. anzusehen. Die im „Budapester Stadtwäldchen", einem „Volksbelustigungsort ähnlich dem Wiener Prater", spielende Szene ist rein pantomimisch angelegt: sie demonstriert die Lebenswelt Lilioms und zeigt ihn als Ausrufer vor dem Ringelspiel. In The Age of Anxiety von Wystan Hugh A u d e n (1947; dt. : Das Zeitalter der Angst, 1952) hat der sog. Prolog mit den vier enttäuschten Einzelgängern, die während des Zweiten Weltkriegs in einer New Yorker Bar, durch einen Rundfunkbericht aufgeschreckt, über den „Homo Abyssus Occidentalis oder die Sieben Selbstischen Lebensalter" diskutieren, ebenfalls V.charakter, da er die Ausgangssituation für die sechs Teile der „Ekloge" schafft. Gleiches gilt für die sog. Prologe in Albert C a m u s L'état de siège (1948 ; dt.: Der Belagerungszustand, 1950) und Tennessee W i l l i a m s Stationendrama Camino real (1953, dt. 1954). Camus umreißt die Situation durch das in der Nacht von einer Kometenerscheinung erschreckte Volk von Cadiz, die Proklamation des Alkaden und die jeder Gefahr trotzende symbolische Figur des Bettlers und Säufers Nada. Williams setzt in seiner imaginären Stadt am Rand der Wüste Nobel-Hotel und Armenviertel in symbolischen Kontrast zueinander und vergegenwärtigt die Situation des verzweifelten Wartens auf Erlösung. 5. Die Umstrukturierung der expositorischen Elemente führt im neueren Drama zur P r o f i l i e r u n g des P r o t a g o n i s t e n m i t H i l f e des V.s. Im V. der „Romanze" Santa Cruz von Max F r i s c h 1944, Buchausg. 1947) sitzt der Vagant Pelegrin mit einem Arzt in einer Pinte. Der Arzt weiß, daß Pelegrin bald sterben muß, verschweigt ihm aber die Gewißheit dieses nahen Todes. Als Pellegrin erfährt, daß seine Jugendgeliebte Elvira, mit der er vor 17 Jahren eine leidenschaftliche Nacht vor Santa Cruz verbracht hat, als Frau eines Rittmeisters (mit der 17jähr. Tochter Viola) in einem nahegelegenen Schloß lebt, beschließt er, sie aufzusuchen. Damit ist das zentrale Thema (Leben zwischen Traum und Wirklichkeit) und eine Vorausdeutung vorgegeben: Pelegrin stirbt, aber sein Tod

führt die ihrer Erinnerung ausgelieferte Elvira und den in seiner Bürgerlichkeit befangenen Rittmeister zu einer stärker realitätsbezogenen Ehe. Das V. in Elio, oder eine frohe Gesellschaft von Otto F. W a l t e r (1965) zeigt die Abschiedsszene einer Bridgegesellschaft bei Ella Schaub, der Frau des Apothekers, die sich an ihre Italienerlebnisse und einen gewissen Elio aus Rapallo erinnert. Im ersten Akt erscheint Elio als Ernst Friedrich bei Ella; im Nachspiel hat Ella Elio-Ernst Friedrich umgebracht, um Elio in Gedanken wieder aufleben zu lassen. Zwei V.e hat Ein Fest für Boris von Thomas B e r n h a r d (1970), die gegenüber der Haupthandlung zwei Drittel des Textes einnehmen. Im ersten V. hält eine beinlose Greisin, von den Bewohnern eines benachbarten Asyls „die Gute" genannt, einen langen Monolog, zu dem die Dienerin Johanna die Stichworte gibt, im zweiten V. kommen „die Gute" und Johanna von einem Wohltätigkeitsball zurück, „die Gute" als Königin mit einer schweren Krone, Johanna mit einem Schweinskopf; „die Gute" setzt ihren Monolog fort. Es folgt als Haupthandlung die Geburtstagsfeier für den von der „Guten" einst aus dem Asyl geholten Krüppel und jetzigen Ehemann Boris und die Insassen des Asyls. Die Monologe haben die Funktion, Quälerei und Selbstquälerei sowie die ohnmächtige Macht der Protaginistin über die noch Schwächeren in den Mittelpunkt des Stückes zu rükken. Helmut Müssener, August Strindberg: 'Ein Traumspier (1965; Dt. Studien 4). Gerold Koller, Der mitspielende Zuschauer. Theorie u. Praxis im Schaffen Brechts (1979; Zürcher Beitr. z. dt. Lit. u. Geistesgesch. 50) S. 58ff. J. Sungalowski, Giraudoux et la tradition bihlique. Rev. de l'Univ. de Lille21 (1966)S. 262-269. PeterSchütze, Peter Hacks. Antike u. Mythenaneignung. E. Beitr. z. Ästhetik d. Dramas (1976) S. 173 ff. — Karl Migner, Das Drama 'Draußen vor d. Tür', in: Interpretationen zu Wolfg. Borchert (1962) S. 7-56. — Sammy Kay McLean, The Bänkelsang and the Work of B. Brecht (The Hague 1972; De proprietatibus litterarum, Ser. pract. 29). Herbert Knust (Hg.), Materialien zu B. Brechts 'Schweyk im zweiten Weltkrieg' (1974; EdSuhrk. 604). Werner R i e c k, Zum Prinzip d. Simultaneität im 'Hölderlin von Peter Weiss. Wiss. Zs. d. Päd. Hochsch. Potsdam, Ges. u. sprachwiss. R. 20 (1976) S. 285-293. — W. C. Cunliffe, Günther Grass (New York 1969) S. 43ff. B. Könneker, Die Funktion d. Vorspiels in Hofmannsthals 'Ariadne aufNaxos', GRM. NF. 22 (1972) S. 124141. — D. Vittorini, The Drama of LuigiPiran-

Vorspiel dello (2. ed. New York 1957). Gerhard Kaiser, Max Friscbs Farce 'Die chinesische Mauer, in: Über Max Frisch. Hg. v. Th. Beckermann (1971; EdSuhrk. 404) S. 116-136. — Betty Nance Web e r , Brechts 'Kreidekreis'. E. Revolutionsstück. E. Interpretation mit Texten aus d. Nachlaß (1978; EdSuhrk. 928). — Hans Joachim Bunge, 'Antigonemodell 1948' v. B. Brecht u. Caspar Neher. Zur Praxis u. Theorie d. epischen (dialektischen) Theaters B. Brechts. (Masch.) Diss. Greifswald 1957. —Georg-Michael Schulz, Gerhart Hauptmanns 'Florian Geyer'. Histor. Drama im Naturalismus, in: Literatur u. Theater im Wilhelminischen Zeitalter. Hg. v. Hans-Peter Bayerdörfer (1978) S. 183-216. W. D i e t z e , Dramaturg. Besonderheiten d. Antikriegsschauspiels 'Die letzten Tage der Menschheit' v. Karl Kraus. Philol. Prag. 5 (1962) S. 65-83. —J. Boly, Claudel: 'L'annonce faite a Marie'. Etüde et analyse (Paris 1957).

807 Gotthart W u n b e r g , Bemerkungen zu Hofmannsthals Vorspiel 'Das Bergwerk zu Falun'. Neue Sammlung 5 (1965), H. 2, S. 174-191, wiederh. u. d. T.: Analyse d. dichter. Existenz: 'Das Bergwerk zu Falun', in: Wunberg, Derfrühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichter. Struktur (1965) S. 68-91. — Heide-Lore S c h a e f e r , Max Frisch: 'Santa Cruz'. E. Interpretation, in: Über Max Frisch II. Hg. v. Walter Schmitz (1976; EdSuhrk. 852) S. 183-206. AnnemarieSchnetzlerSuter, Max Frisch. Dramaturg. Fragen (1974; EuroHs. I, 100) S. 36ff. — Hannes H ö l l e r , Die Form d. Sprache als Form d. Gesellschaft, zu Thomas Bernhards 'Ein Fest für Boris'. Germanica Wratislaviensia 26 (1976) S. 203-219. Josef Gregor, Der Schauspielführer. Bd. 1-11 (ab Bd. 8 hg. v. Margret Dietrich u.a.; 1953-1979). Edmund.

Stadler

w Wanderbühne § 1. E p o c h a l b e g r i f f . Ortswechsel und Ortsfestigkeit als Voraussetzungen der Publikumsfindung sind Konstanten theatraler Produktion, „wandernd" und „stehend" primäre bühnenbetriebliche Strukturmerkmale, unabhängig von Wirtschaftsform und gesellschaftl. Verabredung der jeweiligen Produktionseinheiten. Subventionierte Landes- und Städtebundtheater, kommerzielle Tourneeunternehmen und reisende freie Gruppen der Gegenwart unterscheiden sich organisationstechnisch (Koordination bzw. Bereitstellung von Proben- und Abspielstätten, Transport- und Quartierregelung usw.) sowie in der Ausrichtung ihrer künstlerischen Mittel auf Gastspielbedingungen grundsätzlich nicht von hist. Erscheinungsformen des W.nwesens. Im dt.sprachigen Raum ist die W. als Bet r i e b s f o r m mit dem professionellen Theater entstanden bzw. seit dem späten 16. Jh. vornehmlich durch die sogenannten englischen Komödianten (s.d.) eingeführt worden. Zwar gab es zuvor schon und auch weiterhin bürgerl. Laienspiel-Gruppen, die im engeren Umkreis ihrer Heimatgemeinde eine gewisse Beweglichkeit entfalteten, doch erst die berufsmäßig von Prinzipalen geleiteten Ensembles entwickelten jene bei der damaligen Gesellschafts- und Bildungsstruktur ökonomisch bedingte Mobilität, die sie als Wandertruppen definiert und das System professioneller Theaterversorgung im Bereich des Schauspiels und der Kleinkunst (die höfisch-aristokrat. Oper sei hier zunächst ausgeklammert) bis weit in die zweite H. des 18.Jh.s charakterisiert. Bereits im 19. Jh. hat sich daher für die bis zur Gründung stehender öffentlicher SchauSpiel- oder Mehrsparten-Theater durch Prinzipalschaften dominierte Sprechbühne der Terminus W. als Epochalbegriff durchgesetzt. Er subsumiert neben den einheimischen naturgemäß auch die ausländischen und gemischtnationalen Unternehmen. Gleichwohl ist den brit. Festlandbühnen seit der romant. Shakespeare-Begeisterung terminologisch und histo-

riographisch eine Sonderstellung eingeräumt worden, die zur Verselbständigung des Forschungsgegenstandes „englische Komödianten" und zur Unscharfe des Epochalbegriffs W. geführt hat. Bei diesem Sachverhalt und dem Eingeständnis der systemat. Problematik wird nachstehend in der Hauptsache auf die dt. W. hingewiesen. § 2. T h e a t e r als P r o f e s s i o n . Die Bildung eines regulären dt. Schauspielerstandes lief über zahlreiche Zwischenstationen der Professionalisierung sowie teils über Aufsteiger aus der Schausteller-Branche. Den entscheidenden Anstoß gab das Erscheinen der ambulanten engl, und niederländ., weniger der höfisch vereinnahmten frühen ital. Ensembles. In allen bisher spieltragenden Bereichen griff die Einsicht in den potentiellen Warencharakter der Theateraufführung beunruhigend Raum, weckte Konkurrenzneid, reizte den Nachahmungstrieb. Signifikant sind jene K a u f m a n n s g e s e l l e n des dt. Hanse-Kontors in Bergen/Norwegen, die aus ihrem zünftigen Zeitvertreib mit Bibelstücken und Komödien des Hans Sachs wenigstens vorübergehend einen Broterwerb machten, 1601/02 über Danzig bis Dresden vorstießen und dabei an den Patriotismus der Behörden appellierten, denn es ging um den Beweis, daß die Deutschen ihre Sache ebenso gut verstünden wie die Engländer. Offenbar akademisch gebildet war die bereits in kurbrandenburg. Diensten stehende, unter anderem an pommerschen Höfen erprobte 18köpfige Gesellschaft von Bartholomäus F r e y e r b o t t und Johann Friedrich V i r n i u s , eines kaiserlich gekrönten Poeten: Auch sie trat 1615 in Danzig zur vaterländ. Ehrenrettung gegen das Marktmonopol der Ausländer an. Während in die von Höfen bestallten fremdnationalen Ensembles zusehends dt. Elemente eindrangen und vielfach (wie vor 1620 Junker Hans S t o c k f i s c h in Berlin) das Management übernahmen, hatten die Obrigkeiten namentlich der süddt. Reichsstädte alle Hände voll zu

Wanderbühne tun mit theaterbegeisterten Bürgersöhnen, die — statt dem erlernten Nahrungserwerb nachzugehen — im Schlepptau der durchziehenden brit. Berufsakteure zäh und trickreich ihren Bühnenaktivitäten oblagen. Spätestens seit 1625 konnte sich z . B . die Nürnberger Gruppe um den Tanzmeister und ehemaligen Goldschmied Hans M ü h l g r a f auf Tourneen zwischen Köln und Regensburg sowie fast regelmäßig auf den Frankfurter Messen semiprofessionell etablieren und gegen engl. Rivalen behaupten. Diesen Nürnberger Komödianten, bei denen der Maler Hans A m m o n als „Peter Leberwurst" die lustige Person abgab, fällt auch der Ruhm zu, den ersten kommunalen Theaterbau in Deutschland, das Nürnberger Fechthaus, am 16. Juni 1628 eingeweiht, ja bis 1630, als die Kriegsfurie endgültig heranrückte, so etwas wie eine Frühform des ,Stadttheaters' unterhalten zu haben. Um diese Zeit hatte der 30 jähr. Krieg die Mehrzahl der ausländ. Bühnenunternehmen vertrieben. Kleine, leichtbewegliche Trupps und neben ihnen mobile Schaustellerfamilien vagierten noch in den relativ friedlichen Landstrichen, zu denen Sachsen vor 1631 gehörte. Hier gelang es 1628 dem einer Erfurter Gaukler- und Fechtersippe entstammenden Freiberger Bürger Hans S c h i l l i n g , sich mit seinem einheimischen Varieté an den Hof zu binden und für den gesamten Kurstaat privilegieren zu lassen. Als die Erfurter bzw. Freiberger „Springer" gegen Kriegsende wieder in Dresden auftauchten und — am Rhein, später nach Böhmen usw. viel auf Reisen — im Friedensjahr 1648 als „Churfürstlich Sächsische Hof-Comödianten" neu patentiert wurden, hatten sie ihrem circensischen Repertoire und der Puppenkomödie inzwischen das Schauund Singspiel „mit lebendigen Personen" hinzugefügt. Nicht nur ist Schilling der Prototyp des sozialen Aufsteigers in der Hierarchie der Unterhaltungsbranche; an ihm, seinen Erben und Nachfolgern wird auch deutlich, was Sachsen zum Stammland dt. Schauspielkunst machte: die im Reich einzigartige kontinuierliche Förderung bodenständiger professioneller Theaterbemühungen durch das Haus Wettin. Schillings Schwiegersohn, der auf Tourneen schon in Prinzipalsgeschäften geübte „Pickelhering" Johann Christoph L e n g e f e l d , folgte einer kursächs. Prinzessin nach Altenburg, wo er 1653 bis zum Tod 1667 herzogl. Hofkomödiant und Maitre de plaisir war.

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Schillings Sohn Johann Heinrich, jahrzehntelang als eine Art künstler. Betriebsdirektor für die Ausrichtung des Fest- und Bühnentreibens am Dresdener Hof verantwortlich, erlebte 1685 noch die Institutionalisierung des dt. Hofschauspiels unter Johannes Velten. Die hier repräsentativ belegten verschiedenen Ansätze zur Professionalisierung erscheinen wie eine Reihe von Versuchsanordnungen, in denen berufsständische Konzeptionen auf ihre gesellschaftl. Tragfähigkeit hin überprüft wurden. Mobilität erwies sich als primäres Erfordernis: Zum einen hatten stehende Spielkörper auf kommunaler Ebene nur in der Grauzone der Nebenberuflichkeit eine ökonomische Basis, zum andern führte die Isolation im fürstl. ,Privattheater' durch Einbindung in den Hofstaat beim Wegfall des Ensembleprinzips, des Konkurrenzzwangs und der sozialen Kontrolle zur professionellen Desintegration. Mobilität hinwiederum verlangte die Risikobereitschaft eines nach dem Prinzipalsprinzip organisierten Unternehmertums, das sich in der Bündelung aller produktionstragenden Kräfte — d.h. in der Verbindung von Zunftund Handelsgeist mit akademischer Bildung und dem Know-how des multimedialen Schaugewerbes — einen je nach Rentabilität mehr oder minder großflächigen Absatzmarkt zu erschließen verstand. Ein solches Unternehmertum konnte bei der kulturellen Dissoziation der Reichsgesellschaft aber nur bestehen kraft seiner im Repertoireprinzip begründeten Ausgleichs- und Anpassungsleistung und auf der Grundlage eines allgemeinen Konsensus über Sinn und Zweck profanen Bühnenwesens. Johannes B o k e , Das Danziger Theater im 16. u. 17. Jh. (1895; 2. Aufl. 1978; ThgFschgn. 12). Bärbel R u d i n , Hanseatische Komödianten in Deutschland. Kleine SchrGesThg. 23 (1969) S. 64—67. Dies., Hans Mühlgraf & Co., Sitz Nürnberg. E. dt. Bühnenunternehmen im 30jähr. Krieg. Kleine SchrGesThg. 29/30 (1978) S. 1 5 30. Dies, Puppenspiel als Metier. Kölner Geschichtsjournal 1 (1976) S. 2—11. Harald Z i e l s k e , Die dt. Höfe u. d. Wandertruppenwesen im 17. u. frühen 18. Jh. — Fragen ihres Verhältnisses, in: Europäische Hofkultur im 16. u. 17. Jh. Bd. 1 (1981; Wolfenbütteler Arbeiten z. Barockforschung 8) S. 5 2 1 - 5 3 2 .

§ 3. P r i n z i p a l s - , E n s e m b l e - , R e p e r t o i r e p r i n z i p . Das Ende des 30jähr. Krieges bezeichnet die Wendemarke in der Geschichte der dt. W. Schon waren diverse „Engelländer"

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und ein paar altbewährte, aus dem Gauklerund Puppenspielermilieu stammende Familienbetriebe vom Schlage Schilling-Lengefeld auf dem Sprung, den kulturellen Nachholbedarf zu stillen. Die Mehrzahl der schlagartig auftauchenden Bühnenkompanien rekrutierte sich jedoch aus jungen Leuten der „Trümmergeneration", die in einer relativ offenen Gesellschaft durch geistige Beweglichkeit ausglichen, was ihnen an finanziellem Rückhalt fehlte. Der Krieg hatte die sozialen Strukturen aufgeweicht, das Berufsbild des Schauspielers war nur insoweit gefestigt, als es sich am marktgängigen Gütesiegel „englischer Komödiant" orientierte. Unter diesem Etikett verdiente die Vorhut des dt. Schauspielerstandes — etwa seit den frühen 50 er Jahren der Hamburger Carl Andreas Paulsen als Prinzipal, manche in gemischtnationalen Unternehmen wie dem des ab 1648 reichsweit tätigen Briten Joris Joliphus (George J o l l y ) — ihre künstlerischen Sporen, eifersüchtig beobachtet von Gymnasialdirektoren und Vorstehern bürgerl. Laienspielverbände. Vor allem die Reibung mit der Schulbühne und ihrem in Randzonen bzw. abseits der großen Handelsstraßen scharf ausgeprägten muttersprachl. dramatischen Alleinvertretungsanspruch hat der jungen dt. W. nachhaltig zu schaffen gemacht. Bis sich eine gesellschaftl. Ubereinkunft hinsichtlich der prinzipiell verschiedenartigen Aufgaben von Schul- und Berufstheater durchzusetzen vermochte, wurden Rektoren und Ludimagister nicht müde, ihre auf halbwüchsige Deklamatoren zugeschnittenen ästhet. Kategorien und didakt. Prinzipien gegen die publikumswirksamen „Possen und gemeiniglich groben Zoten" der fahrenden Akteure auszureizen. Immerhin nutzten sie in ihrer Verbitterung über die leidige Konkurrenz den Vorteil geschichtsbildender Publizität und bestimmten mit Verdikten, wie sie z.B. 1662 der Geraer Schulleiter Johann Sebastian Mitternacht in die Welt setzte, langhin die historiograph. Vorstellung vom KomödiantenGesindel, das „entweder gar nichts, oder nicht viel besunders studiret" und sich in Pöbelhaftigkeit gefallen haben soll. Dabei waren gerade zu Beginn die Ubergänge zwischen Gymnasial- und Berufsbühne fließend. Hier und dort taten sich ein paar in Schulaufführungen rhetorisch erudierte Jungakademiker als ambulante, wohl meist auf Teilung spielende Akteursgemeinschaften zu-

sammen. Mit dem Zwang zur künstlerisch und wirtschaftlich verantwortlichen, juristisch haftbaren Leitung wurden sie sehr rasch dem Prinzipalsprinzip unterworfen. Im Außenverkehr meinte dies die Zuständigkeit gegenüber den Genehmigungsbehörden und Steuerämtern. Es hieß aber z.B. auch, daß bei Schulden von Truppenmitgliedern sich die Gläubiger an den Chef hielten, etwa 1663 in Aachen an Kaspar von Zimmern, der wegen ausstehender Kostgelder seiner „Kameraden" — er dirigierte lauter „ehrliche Studenten" — mehrere Wochen ins Gefängnis mußte. Intern hatte der Prinzipal oder ein entsprechendes Führungsteam bei der Fluktuation im Ensemble für das Betriebskapital, d. h. den Dekorations- und Kostümfundüs und die sorgsam gehütete Textbibliothek, sowie für die Verbindlichkeit der Neuengagements einzustehen. Joris Joliphus prügelte und beschimpfte 1660 in Nürnberg den „Studiosus und Comoedianten" Johann Janicke aus Weißenfels vermutlich deshalb, weil dem Rivalen die Abwerbung profilierter Akteure gelungen war, womit gewöhnlich zugleich Novitäten des Repertoires in Abschriften an die Konkurrenz fielen. Janickes Landsmann Adam Christoph Schüler, wie jener bereits im Kindesalter an der Leipziger Universität immatrikuliert, seit 1660 Student, 1671 schon „geraume Zeit" unter Komödianten, machte als Dramenübersetzer, -bearbeiter, -kopist solchen Manuskripthandel regelrecht zur Geschäftsgrundlage. Handschriften wie die 1670 zu Wien von ihm hergestellte des beliebten W.nstückes Der durchlauchtige Kohlenbrenner dedizierte er nicht nur, wenn gerade stellungslos, Magistraten süddt. Reichsstädte um ein Handgeld, sondern empfahl sich mit ihnen renommierten Prinzipalen wie Andreas Elenson, Johannes Velten und Jakob Kuhlmann, bei dem er Anfang der 90 er Jahre mit einer Art Dramaturgenposten den offiziellen Titel „Schrifftensteller" erhielt. Abgesehen davon, daß sich der Schauspielerstand aus dem Analphabetentum breiter Volksschichten durch die Verpflichtung zur Schreib- und Lesefähigkeit heraushob, abgesehen auch davon, daß die Mehrzahl gerade der Nachkriegs- und Pioniergeneration dt. Berufskomödianten Gymnasialbildung besaß, teils Fürstenschulen besucht und vielfach ein Universitätsstudium zumindest begonnen hatte: Das auf Neuzufuhr und Zirkulation von

Wanderbühne Texten basierende Repertoireprinzip ließ beim Wettbewerbsdruck des Gewerbes vor allem die geistig beweglichen, dramaturgisch einsetzbaren Akademiker zu gesuchten Mitgliedern werden. Der Schlesier Christoph Blümel, 1649 an der Universität Frankfurt/O. inskribiert, 1654 in Ulm als Direktionsneuling unterwegs, dann eine Weile bei Joliphus engagiert, galt diesem sowie anschließend dem ebenfalls aus Joliphus' Schule hervorgegangenen „hochdeutschen" Prinzipalsduo Johann Ernst H o f m a n n und Peter Schwarz mit seinen charakteristischen Schriftzügen für unentbehrlich. Sie sind, da ihm jeweils die Geschäftskorrespondenz der Truppe oblag, wie eine heiße Spur zu verfolgen: bis hin zum Innsbrucker dt. Hoftheater (1659-62), dem ersten seiner Art, wo Blümel neben etlichen anderen Akademikern quasi als Chefdramaturg wirkte, und weiter auf den Routen von Hofmann und Schwarz, endlich von Kuhlmann. Und immer wieder findet man da in den Einladungen zu Ratsvorstellungen eben „erst ins Teutsche" gebrachte oder sonst „ganz neue" Stücke angekündigt. Zwei davon haben sich erhalten: Die glückselige Eifersucht, Blümeis nach einer Grobübersetzung 1662 in Innsbruck gefertigte Eindeutschung von Giacinto Andrea Cicogninis Prosakomödie Le Gelosie Fortunate del Principe Rodrigo (1654), wovon ein gleichlautendes Ms. aus dem Besitz Elensons existiert, ferner sein Jude von Venetien, eine in flüssiger, gelenkiger Sprache, mit großer Bühnenroutine besorgte Bearb. von Shakespeares Mercbant of Venice, die auch in einer textidentischen Hs. Gabriel Möllers aus Veltens Truppe vorliegt. Freilich mußten die umworbenen Stücklieferanten nicht unbedingt schon Füchse oder gar weiter im Studium gekommen sein. Ein Jesuitenkolleg absolviert und wie Melchior H a r r e r in Nicolaus von Avancinis berühmtem Wiener Kaiserspiel Pietas Victrix 1659 mitgewirkt zu haben, war für einen zukünftigen Komödianten ja schon ganz anständig. Harrer trug denn auch bald Bühnenmanuskripte im Komödiantengepäck, so das vom Verirrten Soldaten, welches er um 1662 gemeinsam mit Martin H e n d l e r , einem vom Innsbrucker Hoftheater kommenden, nachmals unter a'nderm bei Paulsen-Velten beschäftigten Kollegen, dem Laibacher Magistrat verehrte. Ein textkonformes Exemplar des längst allgemein repertoireläufigen Stückes widmete Elenson,

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wahrscheinlich 1673, zu Wien Kaiser Leopold I., ein drittes überliefertes hat Gabriel Möller 1689 in Dresden für Veltens „Kurfürstlich Sächsische Hofkomödianten" zwecks Überholung der Theaterbibliothek geschrieben: Es gehörte noch 1722 zum Dramenbestand von Veltens Nachfolgern im Privilegbesitz. Sehr deutlich wird an diesen beliebig zu erweiternden Beispielen die Kohärenz von Ensemble- und Repertoireprinzip. Die Übernahme eines Stückes, seine Verbreitung unter den in ihrer Zusammensetzung wechselnden Ensembles und sein Ausstoß aus dem Spielbetrieb erfolgte nach den Gesetzen bühneninterner Ökonomie. Einerseits garantierte die personelle Fluktuation eine rasche Zirkulation von Neuadaptionen, andererseits setzte sie Textverbindlichkeit, d.h. unmittelbare Abrufbarkeit des Repertoires voraus, um Reibungsverluste in der gewerblichen Tagesproduktion auszuschließen. Insofern unterscheiden sich die oft Jahrzehnte auseinanderliegenden Ms.fassungen eines Werkes bis ins erste Drittel des 18. Jh.s allenfalls durch Verschreibungen, geringfügige Korrekturen, Streichungen von Nebenrollen, Langatmigkeiten und dem Galanterie-Ideal widersprechenden Szenen sowie gelegentlich durch Implantation oder Ausweitung der „Pickelhering"- bzw. später „Harlekin"-Intermezzi. Einmal eingeführte Stücke wurden benutzt, bis sie verbraucht waren, d. h. dem Druck einer gewandelten Geschmacksnorm weichen mußten. Für konkurrierende Ausformungen, wie sie in rein philologischen Konstruktionen bisweilen erwogen worden sind, war auf der W. kein Platz. Dusan L u d v i k , Zur Chronologie «. Topographie der ,alten' u. ,späten' engl. Komödianten in Deutschland. Acta Neophilologica 8 (1975) S. 47—65. Robert J. A l e x a n d e r , George Jolly (Joris Joliphus), der wandernde Player u. Manager. Neues zu s. Tätigkeit in Deutschland (1648— 1660). Kleine SchrGesThg. 29/30 (1978) S. 3 1 48. Bärbel R u d i n , Dt. Theater nach d. Westfälischen Frieden — Zwanzig Jahre d. Aufbaus, in: Programmbuch zu 'Epicharis'. Hg. Schauspiel Köln (1978) S. 50-57. Dusan L u d v i k , Die Innsbrucker Komödianten. Acta Neophilologica 4 (1971) S. 15-39. Eike Pies, Carl Andreas Paulsen u. d. ersten dt. Berufsschauspieler, in: Otto C. A. ZurNedden. Festgabe z. 68. Geb. (1970; Beitr. z. Theaterwiss. 2) S. 59-65. Bärbel R u d i n , Eine Leipziger Studentenbühne d. 17.

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Jh.s. Universität u. Berufstheater — Das Ende e. Legende. Kleine SchrGesThg. 28 (1976) S. 3-17. Johannes Bolte, 'Der Jude von Venetien', d. älteste dt. Bearh. d. 'Merchant of Venice'. Jb. d. Dt. Shakespeare-Ges. 22 (1887) S. 189-201. Ders., 'Der verirrte Soldat', e. Drama d. 17. Jh.s. ZfdPh. 19 (1887) S. 86-93. Leokadia Fürlinger, 14 hsl. Dramen d. W. d. 17. Jh.s. (Masch, verf.) Diss. Wien 1949. Helmut G. Asper, Spieltexte d. Wanderbühne. E. Verz. d. Dramenmanuskripte d. 17. u. 18. Jh.s in "Wiener Bibliotheken (1975; Quellen zur Theatergesch. 1). Willi Flemming (Hg.), Das Schauspiel d. W. (1931; 2. Aufl. 1965; DtLit., R. Barock 3).

§ 4. P r o f a n e s B ü h n e n w e s e n . Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die freie Entfaltung sämtlicher theatraler Sparten bildete die Enttheologisierung des polit. und kulturellen Lebens. Vorfälle wie 1658 ein Prager Spielverbot für etliche ketzerischen Gedankenguts verdächtigte „Engländer" oder 1665 in Graz die Abweisung von Hofmanns und Schwarzens „Innsbrucker Comödianten", weil sie — immerhin einst Hofschauspieler des kath. Tiroler Erzherzogs Ferdinand Karl — meistenteils „lutherisch und calvinisch" seien, gehören zu den ganz vereinzelten Zeugnissen konfessioneller Scharfmacherei im Rahmen des habsburgischen Rekatholisierungsfeldzuges. Gegen die Institution Theater als solche richteten sie sich nicht. Bei einigem Fingerspitzengefühl ließ sich Ärger durchaus vermeiden. Der alte, gewiefte Schilling machte der Prager Statthalterei 1651 seine Herkunft aus dem Protestant. Sachsen unbedenklich, indem er z.B. Philip Massingers Tragödie The Virgin Martyr (1622) als lupenrein gegenreformatorisches Tendenzdrama von der hl. und im christkatholischen Glauben überaus beständigen Jungfrau Dorothea auslobte. Als das Stück 1655 am Dresdner Hof — mutmaßlich von derselben Truppe — zum Abschluß einer Reihe theatralischer Festlichkeiten dargestellt wurde, war es hingegen opportun, nicht nur klerikale Enthaltsamkeit zu üben, sondern unter Betonung des „Zierlichen" in der Darbietung auf die Residenzkultur abzuheben. Ein profanes Bühnenwesen aufzubauen, wäre unmöglich gewesen, hätte nicht die polit. Reichsgesellschaft in ihrer Gesamtheit, unabhängig von Fragen der konfessionellen Zugehörigkeit, es getragen. Paulsen durfte vor 1666 auf seinen Reisen zwischen Kopenhagen, Zürich und Danzig gleichermaßen Prags Bür-

gerschaft wie seine Breslauer Glaubensgenossen unterhalten, bekam Markt- bzw. Messekonzessionen unterschiedslos von kath. und evangel. Magistraten, z.B. in Köln und Frankfurta. M., gastierte im orthodox-Iutherischen Wittenberg, im kalvinist. Bremen, im bikonfessionellen Augsburg. Unter der Schar von Fürsten, an deren Höfen ihm aufzutreten erlaubt worden war, befand sich neben den Weifenherzögen und anderen Protestanten auch der kath. Lauenburger. Von diesem erhielt Andreas Elenson, Österreicher und Katholik, 1680 den Titel eines „Hochfürstlich Sachsen-Lauenburgischen Comödianten", sein 1681 geborener Sohn Julius Franz den Namen. Nach dem Tod des Herzogs übernahm 1698 dessen Protestant. Schwiegersohn, Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden, die Schirmherrschaft über die Truppe. 1702 folgte Herzog Friedrich Wilhelm von MecklenburgSchwerin, wiederum Protestant, der sein Privileg nach dem Hinscheiden des alten Prinzipals auf den dezidiert katholischen Julius Franz Elenson übertrug, dem Frühverstorbenen 1708 in Bad Schwalbach ein Denkmal setzte und die Witwe Sophie Elenson im Titelbesitz beließ, bis sie mit ihrem zweiten Mann Johann Caspar H a a c k e 1711 das reichsweit bedeutendste Privileg des kath. Königs von Polen und Kurfürsten von Sachsen erwarb. Zu den für die Entstehung einer dt. Bühnenkultur entscheidenden Ausgangspositionen zählt ferner die dem Berufstheater gegenüber zunächst weitgehend indifferente Haltung sowohl der kath. als auch der evangel.-luther. Kirche. Moralische Bedenken, wie sie mit dem aufkommenden Pietismus und durch die Debatte um den römisch-rechtlichen Infamiebegriff verbreitet werden sollten, existierten — außer in kalvinistischen Gebieten — grundsätzlich nicht. Weit entfernt, professionelles Bühnenspiel unter die Damnabilia zu rechnen, respektierte die luther. Orthodoxie, Geistlichkeit wie Rechtsgelehrtenzunft, die Zuständigkeit der weltl. Gewalt in Sachen Theater, sofern keine sittlichen und religiösen Tabus, vordringlich die Sonn- und Feiertagsheiligung, verletzt wurden. Repräsentativ sind langhin die Richtlinien De o f f i c i o Magistratu (1611) des bekannten Wittenberger Theologieprofessors Balthasar M e i s n e r , der guten Obrigkeiten über die bloße Duldung hinaus eine auf Zucht und Ordnung bedachte, sozial verträgliche Förderung des Theaters empfahl

Wanderbühne und dies mit dem zwiefachen Argument der Ergötzlichkeit und Nützlichkeit begründete. Die protestant. Kirche Kursachsens störte sich denn auch nicht im geringsten daran, daß der 1673 zum Magister der Theologie promovierte Gottfried Erdmann bis zum zweiten Leipziger Semester, 1665, auf einer teils ambulanten Studentenbühne Frauenrollen gespielt und nach seinem Ubertritt in Paulsens Truppe mindestens drei Jahre lang neben dem Prinzipalsschwiegersohn Magister Velten landfahrend sein Brot verdient hatte. Er wurde kursächs. Feldprediger, 1679 Diakon in Eilenburg bei Leipzig. Dort starb er 1709 als verdienter Seelsorger. Ein Parallelfall im kath. Bereich ist der Vorarlberger Bauernsohn Laurentius von Schnüffis. Ursprünglich hieß er Johann Martin, war eine Weile Schauspieler und Dramaturg bei Joliphus gewesen, anschließend in der Gesellschaft von Hofmann und Schwarz, zuletzt mit dieser am Innsbrucker Hoftheater beschäftigt. Seiner Priesterweihe 1664, der Aufnahme ins Kapuzinerkloster Zug 1665 stand dies alles nicht im Wege. Ein Jahr bevor Kaiser Leopold I. ihn, den geistl. Lyriker, zum Poeta laureatus krönte, soll jedoch dem Prinzipal Velten 1691 in Hamburg das Sterbesakrament verweigert worden sein. Ein Jahr vor des Laurentius Tod im Kloster Konstanz verwahrte sich 1701 Paulsens verwitwete Tochter Catharina Elisabeth Velten, kursächsisch privilegierte Prinzipalin, im Zeugnis der Warheit Vor Die Schau-Spiele oder Comödien gegen die zunehmenden bühnenfeindlichen Angriffe pietist. Fanatiker und hielt den Zeloten mit Erdmann, dem Kopenhagener Theologieprofessor Johann Lassenius und einem Pfarrherrn bei Narva drei ehemalige Angehörige der dt. W. vor, die, wäre Theater tatsächlich ein für Christen anstößiges Gewerbe, schwerlich protestant. Gottesdiener hätten werden können. Sophie Elensons „Mecklenburgischen HofComödianten" erschien es 1711 nötig, die Verteidigungsschrift der Velten, ehe sie deren Privileg erbten, neu aufzulegen. Und noch 1722 stellte Carl Ludwig H o f f m a n n , binnen Jahresfrist dritter Mann der Elenson-Haacke und Chef von Johann und Friederike Caroline N e u b e r , in einer Überarb. Fassung die Frage: Ob Comödien unter denen Christen geduldet, und ohne Verletzung ihres Gewissens von denenselben besuchet werden können?' Seit der Rezeption röm. Rechts fanden sich näm-

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lich Mittel und Zweck des Berufstheaters, im moralphilosophischen Sinne verstanden als Einsatz bzw. Preisgabe des Körpers gegen Entgelt, dem Vorwurf der Unehrlichkeit ausgesetzt. Der Infamiebegriff, Grundlage einer eher philologisch virulenten, denn im Rechtsund gesellschaftl. Leben faßbaren Ächtung des Schauspielerstandes, bildete, wo immer nun Seelenhirten professionellem Theater den Kampf ansagten, die zentrale Angriffsbasis und fundamentierte alle jene sekundären Abwehrreaktionen, die den suspekten Lebenswandel der Fahrenden, Zeitpunkt und Dauer der Gastspiele, bestimmte Stückinhalte betrafen. Verschärfend wirkte der durch den Pietismus aufgefrischte Streit zwischen Reformierten und Lutheranern um die Adiaphora, die sogenannten ,Mitteldinge', welche, Theater inbegriffen, nach kalvinist. Lehrmeinung unter die Damnabilia fielen. In Wort und Schrift wetterten Philipp Jakob Speners Anhänger wider den im Alten Testament verbotenen Kleidertausch, die Schaustellung naturgemäß geiler Frauenspersonen, das Teufelswerk theatralischer Sinnenlust. Solche sich mehrenden kirchl. Ubergriffe konnte die in Kompetenzfragen äußerst reizbare weltliche Gewalt allerdings unmöglich „ungeahndet hingehen lassen", etwa 1689 in Lüneburg, wo der Senat binnen kurzem die Absetzung des theatrophoben Superintendenten erzwang. Ähnlich hatte 1683 die Rostocker Regierung beim Greifswalder luther. Konsistorium ihre wegen eines Puppenspielers aufmüpfige Geistlichkeit verklagt und dieser den Rüffel eingetragen, es sei das Strafamt Gottes speziell gegenüber der Obrigkeit in Zukunft behutsamer zu üben. Namentlich die souveränen Reichsstädte — in ihrer Bedrängnis durch machtvoll aufstrebende Territorialstaaten wenigstens innenpolitisch auf Selbständigkeit pochend — sahen sich in der Rolle des Moses, der nach den Worten einer Eßlinger Ratsfraktion gerade in Punkto Bühnenwesen auf dem Posten sein mußte, daß er „den Aron nicht über den Kopf hinaus wachsen" ließ. Das ist den Magistraten zwar keineswegs immer gelungen, aber gemeinsam mit den Reichsfürsten und anderen Territorialherren haben sie ihre säkuläre Zuständigkeit für den Erwerbszweig Theater behauptet, durch Gevatterschaften bei Komödiantenkindern und Geldgaben nach den obligatorischen Ratsvorstellungen ihre Schutzpflicht unterstrichen.

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Gertrud S c h u b a r t - F i k e n t s c h e r , 2 « r Stellung d. Komödianten im 17. ». 18. Jh. (1963; SBAkLeipzig. 107,6). Carl N i e s s e n , Frau Magister Velten verteidigt die Schaubühne (1940). Carl S p e y e r , Magister Johannes Velthen u. d. sächs. Hofkomödianten am kurfürstl. Hof in Heidelberg u. Mannheim. Neue Heidelberger Jbb. N . F . 3 (1926) S. 6 4 - 7 7 . Paul Z i m m e r m a n n , Herzog Ferdinand Albrechts I. zu Braunschw. ». Lüneburg theatral. Aufführungen im Schlosse zu Bevern. J b . d. GeschVer. f. d. Herzogtum Braunschweig 3 (1904) S. 1 1 1 - 1 5 6 . Dusan L u d v i k , Die Eggenbergischen Hofkomödianten. Acta Neophilologica 3 (1970) S. 6 5 - 9 2 . Bärbel R u d i n , Der Prinzipal Heinrich Wilhelm Benecke ». i. Bayreuthische" „Wienerische" u. „Hochfürstliche Schauspielergesellschaft. Mittlgn. d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nürnberg 62 (1975) S. 1 7 9 - 2 3 2 . Monica B a a r - d e Z w a a n , Gottfried Prehauser u. s. Zeit (Masch, verf.) Diss. Wien 1968. Peter A. v. M a g n u s , Die Gesch. d. Theaters in Lüneburg bis zum Ende d. 18.Jh.s (1961). Theodor H a m p e , Die Entwicklung d. Theaterwesens in Nürnberg von der 2. H. d. Ii.Jh.s bis 1806 (1900). Karl T r a u t m a n n , Dt. Schauspieler am bayr. Hofe. J b . f. Münchener Gesch. 3 (1889) S. 2 5 9 - 4 3 0 . Max F e h r , Die wandernden Theatertruppen in der Schweiz. 1600-1800 (1949; Jb. d. Schweizer. Ges. f. Theaterkultur 18).

§ 5. Soziale K o n t r o l l e . Die Barbarei des dt. Bühnenwesens vor der Gottsched-Neuberschen Reform war, darüber herrschte um die Mitte des 18. Jh.s Einvernehmen unter den Gebildeten, im Mangel an einheimischer Dramatik begründet. Den Bedarf habe man gedeckt, indem das „Haupt jeder Bande" Szenare „aus Romanen und Opern, oder aus seinem eigenen Kopfe zusammen zu stoppeln pflegte" — so Johann Christoph G o t t s c h e d . In Wahrheit wurde z. B. Isaak Clauß' 1655 gedruckte Prosa-Verdeutschung von Pierre Corneilles Cid, ein bevorzugtes Repertoirestück, noch 1713 wortwörtlich für Haackes Truppe abgeschrieben. Diese, wenn man will, plagiatorische Haltung ist bis zur allgemeinen Rezeption der Comédie italienne in den 30er Jahren allen Stoppelei-Gerüchten und Verballhornungsvorwürfen zum Trotz die Regel und mit der Disposition des Gewerbes zur Ökonomie nur unzureichend erklärbar. Da die dt. Berufsbühne vor ihrer Literarisierung durch Gottsched vollkommen fremdbestimmt, d. h. als Teil der Gesamtkultur einem exogenen Wandel ästhet. Normen unterworfen war, bedeutete Originaltreue Partizipation an der Musterhaftigkeit, am Erfolg des Vorbilds.

Cicogninis Tragikomödie Don Gastone di Moncada (1658) wollte Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz 1679 „Worth für Worth lauth der Comoedie im Originaal" von Velten präsentiert wissen, wofür der Prinzipal selbstredend einstehen konnte: Ein 1670 kursierendes Manuskript bezeugt die verlangte sklavische Abhängigkeit. Auf dieser Basis vollzog sich phasenweise die Einbürgerung holl., ital., franz. und indirekt damit span. Dramatik sowie daneben, in überproportionaler Steigerung, jene der Oper, wobei die Nähe zur Vorlage jeweils zwischen wortgetreu und sinngemäß schwankt. Ein paar grobe Bearbeitungen elisabethanischer Tragödien gehen demgegenüber ausschließlich zu Lasten ihrer Importeure, der engl. Komödianten. Und die vielzitierte Prosaredaktion von Andreas Gryphius' Papinianus, erhalten in einem Ms. des späten 17. Jh.s und der identischen Niederschrift des entlaufenen Jurastudenten Gerhard Rudolph H a ß k e r l aus dem Jahr 1710, rechnet zu den ganz seltenen Ausnahmen relativ freien Umgangs mit einer Textautorität. Die S p i e l p l a n - P r a x i s selbst ist bestimmt durch den Ausstoß vieler kurzlebiger Schauspiele, die im Zuge der großen Adaptionswellen mit angeschwemmt, aber als untauglich beiseite gelegt wurden, und den Verschleiß, dem die nach Alter und Nationalität recht geschlossenen Gruppen des Repertoirebestandes schrittweise erlagen. Das Berufstheater betrieb diese Selektion nicht freiwillig, vielmehr — beim Hin und Her zwischen Hof und Stadt einem Wechselbad schichtenspezifischer Normenkontrollen ausgesetzt — nur unter massivem Druck der geschmacksbildenden Oberschicht. So ist die in den 60er Jahren des 17. Jh.s heftig einsetzende Aneignung ital. Dramatik Ausdruck der normativen Wirkung höfischer Muster und erfaßte daher neben Texten der Sprechbühne mit zunehmender Intensität auch Libretti, die das rezitierende Schauspiel an Renommee übertrafen. So gründete ferner die parallel zur hektischen MoliereRezeption vorgenommene Entrümpelung des Repertoires von Antiquitäten brit. Herkunft in deren ökonomisch fühlbarer Abweisung durch die Residenzkultur. 1679 z. B. zahlte der pfälzische Kurfürst, des alten Possenkrams und anderer gemeiner engl. Stücke längst leid, für dergleichen schlechtes Zeug bloß die Hälfte des Satzes, den er pro Aufführung einer nach roman. Gusto wohlgebauten Piece auswarf.

Wanderbühne - Weltliteratur Daß Velten 1685 die Etablierung des Dresdner dt. Hoftheaters gelang, ist — wie seine Prinzipalskarriere überhaupt — letztlich der Wendigkeit zuzuschreiben, mit der er sich nach Bedarf aristokrat. und bürgerl. ästhetischen Leitbildern anzupassen verstand. Ihrem hist. Auftrag des Ausgleichs zwischen ständisch genormten Geschmacksmustern wurde die W. jedoch seit etwa 1700 zusehends nicht mehr gerecht. Am kurfürstl. Hof zu Hannover, wo man dem Prinzipal und ersten dt. Harlekin-Darsteller Leonhard Andreas D e n n e r 1711 — 14 Dauerbrenner wie Johann Rists Friede wünschendes Deutschland (1647) vergällte, beschleunigte sich die auch in der Personalstruktur sichtbare, am Bayreuther Hof 1715—26 fortgeführte Hinwendung zur Oper. Diese ähnlich in Weißenfels, Ansbach usw. vorangetriebene Entwicklung zeitigte eine wachsende Beliebigkeit in der Auswahl solcher Vorlagen. Sie wurde seit dem zweiten Jahrzehnt des 18. Jh.s extrem verstärkt durch den wirtschaftlichen Zwang zum breiteren Repertoireangebot: Ein sprunghafter Anstieg der Truppenzahl bei gleichzeitiger räumlicher Einengung, Regionalisierung und teilweise sogar längerfristiger Lokalisierung des Spielbetriebs hatte ihn verursacht. Ansätze zu Neuem, die aus dem Bühnenstand selbst kamen, gewannen da nur schwer Raum. Gemeint sind die nach 1700 auftauchenden Haupt- und Staatsaktionen (s. d.), der erste, obschon von Vorbildern nicht freie, doch selbständige Versuch, die Sterilität des Repertoires zu durchbrechen und eine eigene, der Sprechbühne wesensgemäße dramat. Form zu finden: das aktuelle Dokumentarstück. Es ist aus Neuen Zeitungen u. a. tatsächlich zusammengestoppelt — eine Novität, die der Leipziger Theaterpapst als Normalfall verkannte. Gottscheds Kampf gegen barocke Relikte, die Oper, die Haupt- und Staatsaktionen, die erst vordringende Comedie italienne hat mit der Literarisierung der W. die Kontrollfunktion des öffentlichen dramaturgischen Zuchtmeisters, der bürgerl. Theaterkritik, inauguriert und das Gesicht der dt. Berufsbühne fundamental verändert. Bärbel R u d i n , Fräulein Dorothea u. d. blaue Montag. Die Diokletianische Christenverfolgung in zwei Repertoirestücken der dt. W., in: Elemente d. Literatur. Festschr. E. Frenzel. Bd. 1 (1980) S. 95-113. Johannes Bolte, Von Wanderkomödianten u. Handwerkerspielen d. 17. u.

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Bärbel Rudin Weltliteratur § 1. A l l g e m e i n e s . Wie die meisten Begriffe und Kategorien des Lit.Wissenschaftlers, so entzieht sich auch die Konzeption der W. einer verbindlichen Definition oder präzisen inhaltlichen Festlegung. Wie unscharf das Profil des oft verwandten, fast alltäglichen Beg r i f f e s ist, zeigt die Tatsache, daß in dem 1955 erschienenen 14. Band des Grimmschen Dt. Wörterbuchs (DWb.) J. Erben sechs verschiedene Verwendungsmöglichkeiten nennt: 1.) „lit. übernationaler prägung und geltung"; 2.) „auslese der literar. Schöpfungen aller Völker und Zeiten, die — über den jeweiligen nationalen publikumskreis hinauswirkend — zum gemeinsamen klassischen lit.gut aller kulturvölker geworden ist"; 3.) „nationale dichtung von weltliterar. rang"; 4.) „allgemein die gesamtheit der literaturen aller völker"; 5.) „die (mehr oder weniger vollständige) Zusammenstellung aller nationalliteraturen" (nämlich in sog. „Geschichten der W . " und ähnlichen Werken); 6.) (nach Strich 1946; 2. Aufl. 1957): Das Phänomen, daß die einzelnen Nationalliteraturen „eine solche ähnlichkeit in ihrem historischen ablauf, [. . .] eine solche gegenseitige beeinflussung und ver-

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flechtung ineinander (zeigen), daß man keine lit. isoliert betrachten und verstehen kann, sondern sie zusammen als eine unlösliche einheit, eine W. in diesem sinne zu betrachten hat". Für die Praxis des heutigen Gebrauchs läßt sich indessen eine etwas gröbere Einteilung treffen. In Lehre und Forschung der lit.wiss. Fächer, in Schule, Bibliothekswesen und Publizistik, versteht man heutzutage unter „ W . " in den meisten Fällen eine Auswahl bedeutender Werke bzw. Autoren aus den Literaturen aller Völker und Zeiten. (Uber die problematischen Kriterien der jeweiligen Auswahl vgl. § 5.) Ferner verwendet man das Wort „ W . " im Sinne einer reinen Summation der Literaturen aller Länder und Zeiten: „Was ist W. ? Vorerst einmal die Gesamtheit der literar. Produktion." (M. Bodmer, 1956); „the sum total of all literatures in the world" (R. K. Dasgupta, 1967). Obwohl in dieser Auslegung häufiger Kritik (z. B. Kaiser, 1980) unterworfen, wird W. oft in diesem Sinne verwandt, vermutlich, weil sich so das Problem einer Kanonbildung nicht stellt. Dies gilt vor allem für die sozialist. Länder Osteuropas (vgl. z. B. das Moskauer „Gorki-Institut für W."). Krit. Erwähnung finden muß auch die verlegerische Praxis, Geschichten der W. vorzulegen, die nichts weiter sind als eine „Zusammenstellung aller Nationalliteraturen" (F. Strich, 1957). Sonderbar ist auch der bei der Einteilung von Bibliotheken anzutreffende Dualismus von eigener Einzellit. und W., wobei eigene Lit. der Summe aller anderen Literaturen, der W., gegenübergestellt und damit aus dieser ausgeschlossen wird. Die Verwendung des Wortes „ W " . im Goetheschen Sinne, d. h. zur Bezeichnung einer international zusammenwirkenden Lit. (vgl. § 3), ist im allgemeinen Sprachgebrauch nicht mehr anzutreffen, relativ häufig immer noch in der Lit.Wissenschaft. Zu erwähnen ist schließlich noch, daß der ursprünglich dt. Begriff W. auch in fremde Sprachen Eingang gefunden hat, in der Regel als Lehnübersetzung {World Literature, littérature mondiale, mirowaja literatura, világirodalom usw.), oft aber auch als dt. Fremdwort (so bei Etiemble 1964, Valbuena Prat 1965). Otto Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch (1906) S. 337-339. Karl Vossler, Nationallit. u. W. Zeitwende 4 (1928), 1. H., S. 193-204. L. F. Benedetto, La ,Letteratura mondiale'. II Ponte 2 (1946) S. 120-134. Hanns W. Eppelsheimer, Weltliteratur. E. Versuch.

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§ 2. Vorgeschichte. Das Wort W. wurde im Januar 1827 von Goethe geprägt (vgl. § 3). Gelegentlich anzutreffende Hinweise auf frühere Belegstellen (Schlözer, Vorstellungen der Universalhistorie, 1772; A. W. Schlegel, Berliner Vorlesungen, 1801—03) beruhen auf Irrtümern oder Mißverständnissen. Aber bereits vorher, insbesondere im 18. Jh., war die Vorstellung, Lit. sei ein universales, Sprach- und Landesgrenzen überschreitendes Phänomen, in der einen oder anderen Form anzutreffen. Bei der rückprojizierenden Verwendung des Begriffs auf frühere Epochen ist freilich Vorsicht geboten. So kann man weder den literar. Horizont der Antike, welcher die griech. und röm. Lit. nicht transzendierte, als „weltliterarisch" bezeichnen; noch kann man im MA. von W. sprechen. Zwar vertrat H. Schneider 1950 die These, zu Beginn des MA.s habe es überhaupt nur eine lat. geistliche W. gegeben, neben der dann seit dem 9. Jh. Nationalliteraturen entstanden seien, doch erscheint es eine glücklichere Lösung, die Universalität der mal. europäischen Lit. unter die im Titel des 1947 erschienenen Buches von E. R. Curtius genannten Stichworte Europäische Lit. u. lat. MA. zu subsumieren. Auch die auf gemeinsamen antiken und christl. Traditionen, einem universalen rhetorischen System und einer überall verstandenen mythologischen Bildersprache, insbesondere auf der Vorstellung von der absoluten Musterhaftigkeit der griech. und röm. Klassiker basierenden Gemeinsamkeiten der europäischen Literaturen der folgenden Jh.e oder auch deren oft intensiven Beziehungen untereinander haben mit der späteren Vorstellung von einer W. noch nichts zu tun. Diese beginnt sich erst im 18. Jh. zu jener Zeit abzuzeichnen, als sich die europäischen Nationalliteraturen als eigenständige, selbstbewußte Einheiten konstituiert haben, selbstbewußt auch im Hinblick auf die Antike, deren Vorbildlichkeit und Musterhaftigkeit (wie in der „Querelle des Anciens et des Modernes")

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man in Frage zu stellen beginnt. Zur gleichen Zeit beginnt auch die Einbeziehung außereuropäischer Literaturen (Tausendundeine Nacht) in den europäischen Gesichtskreis. Ausgehend von der Idee der Mannigfaltigkeit der Literaturen verkündet Voltaire 1727 in seinem Essai sur la poésie épique die Relativität literar. Normen und zieht daraus die Konsequenz: „Si les nations de l'Europe, au lieu de se mépriser injustement les unes les autres, voulaient faire une attention moins superficielle aux ouvrages et aux manières de leurs voisins, non pas pour en rire, mais pour en profiter, peut-être de ce commerce mutuel d'observations naîtrait ce goût général qu'on cherche si inutilement." Herder wiederum betont die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit der Nationalliteraturen, hebt aber andererseits die Universalität der Poesie als einer „Welt- und Völkergabe" (Merian-Genast) hervor. Bestimmte Termini tauchen auf, die als Vorläufer der Vokabel W. gelten können, so etwa „bibliothèque du genre humain" (Dubos), oder „Literatur der Völker" (Herder). Ferner ist in diesem Zusammenhang das Phänomen des „literar. Kosmopolitismus" des 18. Jh.s zu erwähnen, wie es Texte, Wais und Kappler beschrieben haben, das „europäische Gespräch" (Hauser 1953) der Autoren des 18. Jh.s, die Bestrebungen, „à rassembler en une seule confédération toutes les républiques particulières dans lesquelles la République des Lettres [est] divisée jusqu'à ce jour" (Journal Etranger, 1756). — Um die Wende zum 19. Jh. häufen sich die Zeugnisse für ein immer ausgeprägteres Bewußtsein der Existenz einer W., für die nur noch der Name fehlt, und die sich im übrigen vorerst doch mehr oder weniger auf Europa beschränkt, so etwa in Mme de Staëls 1800 erschienenem Werk De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales, das u. a. das sich ständig vervollkommnende literar. Wirken eines „esprit humain" beschreibt, ferner in Joseph M. Dégérandos Vorwort zum 1. Band der Archives littéraires mit dem programmatischen Titel Des communications littéraires et philosophiques entre les nations de l'Europe, nicht zuletzt auch in den zwischen 1801 und 1810 erschienenen mehrbändigen internationalen Lit.geschichten von Bouterwek und Eichhorn. Vor allem aber sind hier die Brüder Schlegel zu nennen. Friedrich Schlegel schrieb 1797 in der Vorrede zu seiner Abhandlung Über das Studium der

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griechischen Poesie: „Wie die moderne Bildung überhaupt, so ist auch die moderne Poesie ein zusammenhängendes Ganzes [. . .]. Wenn die nationellen Teile der modernen Poesie aus ihrem Zusammenhang gerissen und als einzelne für sich bestehende Ganze betrachtet werden, so sind sie unerklärlich. Sie bekommen erst durcheinander Haltung und Bedeutung", womit er sich an der Grenze zum W.Begriff befand, ebenso wie sein Bruder A. W. Schlegel, der 1802 in seinen Berliner Vorlesungen davon spricht, es gebe „nicht bloß nationale und temporär interessante, sondern universelle und unvergängliche Poesie". Die endgültige Ausprägung und Popularisierung des Begriffs sollte aber noch 25 Jahre auf sich warten lassen. Sie ist Goethes Werk. Abbé Jean-Baptiste D u b o s , Réflexions critiques sur la poésie et la peinture. 2 Bde (Paris 1719). V o l t a i r e , Essai sur la poésie épique (engl. 1727, franz. 1733) u.a. in: Œuvres. Hg. v. M. Beuchot, Bd. 10 (Paris 1834) S. 401-493. Johann Gottfried H e r d e r , Von d. neueren Rom. Litteratur (1767), in: Herder: Sämtl. Werke. Hg. v. B. Suphan, Bd. 1 (1877) S. 361-425. Friedrich S c h l e g e l , Über das Studium d. griech. Poesie (1795f.), in: Krit. Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler, Bd. 1 (1979) S. 217-367. Mme de Staël, De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales (1800). Hg. v. Paul van Tieghem, 2 Bde. (Genf, Paris 1959; Textes littéraires français. 82). Friedrich B o u t e r w e k , Gesch. d. Poesie u. Beredsamkeit seit d. Ende d. 13. Jh.s. 13 Bde. (1801-1819). Aug. Wilh. S c h l e g e l , Vorlesungen über schöne Lit. u. Kunst (1801-1803), in: Schlegel: Krit. Schiften u. Briefe. Hg. v. Edgar Lohner. Bd. 2 - 4 (1963-65). Joseph Marie D é g é r a n d o , Des communications littéraires et philosophiques entre les nations de l'Europe. Archives littéraires 1 (1804) S. 1 - 1 8 . Johann Gottfried E i c h h o r n , Gesch. d. Litteratur von ihrem Anfang bis auf d. neuesten Zeiten. 4 Bde. (1805-1811). Joseph T e x t e , Jean Jacques Rousseau et les origines du cosmopolitisme littéraire (Paris 1895). Else B e i l , Zur Entwicklung d. Begriffs d. W. (1915; Probefahrten 28). Ernst M e r i a n - G e n a s t , Voltaire u. d. Entwicklung d. Idee d. W. RomFschgn 40 (1927) S. 1 - 2 2 6 [zugl.: Diss. Leipzig 1920]. Ernst Robert C u r t i u s , Europ. Lit. u. lat. MA. (1948; 3. Aufl. 1961). Hermann S c h n e i d e r , W. u. Nationalliteratur im MA. Euph. 45 (1950) S. 131-139. Arnold H a u s e r , Sozialgeschichte d. Kunst u. Lit., darin: Die Idee d. W. Bd. 2 (1953) S. 135f. Helmut B e n d e r u . Ulrich Melzer, Zur Gesch. d. Begriffs „W.". Saeculum 9 (1958) S. 113-123.

Kurt W a i s , Le cosmopolitisme littéraire à travers les âges, in: Actes du IV Congrès de l'AILC, Fribourg 1964. Hg. v. François Jost. Bd. 1 (Den Haag 1966) S. 17-29. Arno K a p p l e r , Der literar. Vergleich. Beiträge zu e. Vorgesch. d. Komparatistik (1976; EuroHS 18,8). Nikolai B a l a c h o v , La Typologie de la culture de la Renaissance et les problèmes d'unité de la littérature universelle du XIII' au XVI' siècle, in: Balachov, Klaniczay, Mikhailov (Hg.), La Littérature de la Renaissance à la lumière de recherches soviétiques et hongroises (Budapest 1978) S. 11-47. Thomas B l e i c h e r , Novalis ». d. Idee d. W. arcadia 14 (1979) S. 254-270.

§ 3 . G o e t h e fand erst 1827, 77jährig, zum Begriff W. und bekrönte damit einen lebenslangen intensiven Umgang mit ausländischen Literaturen und deren fruchtbare Rezeption. Neben der starken und anhaltenden Wirkung von Autoren der W. (Shakespeare, Ossian/ Macpherson, Homer, Goldsmith) auf Goethe ist auf seine Mittlerfunktion als Ubersetzer (Cellini, Voltaire, Diderot, Euripides) bzw. als Rezensent und Essayist (u.a. Euripides, Homer, Shakespeare, von den Zeitgenossen Byron und Manzoni) hinzuweisen. Als besonders eindrucksvolles Beispiel für Goethes Art produktiver Auseinandersetzung mit fremder Lit. kann der West-östliche Divan gelten, um so mehr, als sich hier der literar. Horizont ins Außereuropäische weitet. Annähernd mit dem Eintritt in das letzte Lebensjahrzehnt wird Goethes Interesse an Lit. als einem internationalen Phänomen dringender, wird die gesamte europäische literar. Entwicklung in sich häufenden Essays und Rezensionen (insbesondere in Über Kunst und Altertum) verfolgt, beginnt Goethe schließlich, sich selbst eher als Gestalt der europäischen denn der dt. Lit. zu begreifen, und beobachtet er angelegentlich seine eigene Wirkung in England, Frankreich und Italien. Erfreut verfolgt Goethe, wie sich, als Parallele zur allgemeinen Perfektionierung und Verstärkung des Warenaustausches und Handelsverkehrs, auch die Kommunikation zwischen den einzelnen Nationalliteraturen immer intensiver gestaltet und, wie er zu beobachten glaubt, auf eine von Landes- und Sprachgrenzen unabhängige universelle Lit. hinsteuert. Im Januar 1827 schließlich prägt Goethe, um dieses bis dahin von ihm schon diagnostizierte, aber noch nicht benannte Phänomen mit einem Terminus zu belegen, das Wort W. Erstbeleg ist eine Tagebuchnotiz

Weltliteratur vom 15. Januar, die aber nichtssagend ist. Deutlicher tritt der neue Terminus in einem Brief an Karl Streckfuß vom 27. Januar hervor: „Ich bin überzeugt, daß eine W. sich bilde; daß alle Nationen dazu geneigt sind und deshalb freundliche Schritte tun. Der Deutsche kann und soll hier am meisten wirken, er wird eine schöne Rolle bei diesem großen Zusammentreten zu spielen haben." Vier Tage später fällt dann in einem Gespräch mit Eckermann die zuweilen irrigerweise als Erstbeleg angeführte Äußerung: „Ich sehe immer mehr, daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt [. . .]. Aber freilich, wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationallit. will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der W. ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu mitwirken, die Epoche zu beschleunigen [. . .]". Der neugebildete Terminus stellt eine Prägung nach dem Muster anderer Wortkombinationen mit „Welt" dar wie „Weltbürger" (seit 1660 als Übers, des Fremdworts „Kosmopolit"), „Welthandel" oder „Weltwirtschaft" (geprägt 1826!). In diesen wie auch anderen von Goethe geschätzten Wörtern wie „Weltkommunikation", „Weltbildung" usw. wird zunächst einmal der international umspannende, Grenzen überschreitende Charakter des bezeichneten Phänomens betont. Indessen hat Goethe sich nicht mit einer relativ vagen Charakterisierung begnügt, sondern W. im Laufe seines letzten Lustrums inhaltlich weiter präzisiert und nuanciert. Aus seinen zahlreichen Äußerungen zu diesem Thema (das immerhin nicht weniger als 20 mal expressis verbis genannt wird) geht so viel hervor, daß er zunächst einmal konkret an die Pflege praktischer internationaler literar. Beziehungen gedacht hat, wobei eine auffallende „historische und technisch-soziale Nüchternheit" (H. Rüdiger, 1981) festzustellen ist. In einem Beitrag Bezüge nach außen für Uber Kunst und Altertum spricht er von „der gegenwärtigen bewegten Epoche und durchaus erleichterter Kommunikation", welche eine W. erhoffen lasse; in seiner Grußadresse An die Zusammenkunft der Naturforscher in Berlin, 1828, verkündet er, zur W. gehöre auch, „daß

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die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken. Dieses aber wird mehr durch Reisende als durch Korrespondenz erwirkt f . . .]". Auffallend ist, wie oft Goethe Vergleiche und Metaphern aus dem Bereich des Handels und. Verkehrs heranzieht. Da ist in einem Brief an Carlyle vom 20.7.1827 die Rede von Deutschland als „dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten", in seiner 1830 erschienenen Einleitung zur dt. Ausgabe der Schiller-Biographie des gleichen Autors schreibt er vom „mehr oder weniger freien geistigen Handelsverkehr", im Entwurf zu dieser Einleitung wird die W. gar auf Grund „der sich immer vermehrenden Schnelligkeit des Verkehrs" als „unausbleiblich" bezeichnet. Es kann daher nicht verwundern, daß soziologische oder marxistisch orientierte Forscher (Hauser, 1953; Etiemble, 1964) Goethes W.-Konzeption als Übertragung der Freihandelsidee auf die Lit. deuteten. Angemessener ist wohl die im engeren Sinne polit. Deutung H. J . Schrimpfs, der, einen Gedanken F. Strichs aufgreifend, Goethes Ideen zur W. als Reaktion auf den sich immer stärker profilierenden literar. Nationalismus der romant. Generation interpretiert. Immer aber steht der praktische Aspekt im Vordergrund, die Frage, was die W. als „zwischen den Nationalliteraturen und damit zwischen Nationen überhaupt vermittelnde und ihre ideellen Güter austauschende Literatur" (F. Strich, 1946; 2. Aufl. 1952) befördern könne. Neben dem persönlichen Kontakt durch Reisen nennt Goethe noch die Ubersetzungen und international orientierte literarische Zeitschriften. Hatte er bereits in den Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divans übersetzungstheoretische Betrachtungen angestellt, so tritt er im letzten Lebensjahrzehnt als Anreger von Ubersetzern und als Rezensent von Übers.en hervor, wobei ihn insbesondere die Ubers.en eigener Werke in fremde Sprachen interessieren. Als die W. befördernde Zeitschriften gelten ihm (neben der eigenen Zeitschrift Über Kunst und Altertum) die Mailänder Tageszeitung L'Eco, die Edinburgh Review, und vor allem seine journalistische Lieblingslektüre jener Jahre, die franz. Zeitschrift Le Globe. W. war also für Goethe ein Phänomen der literar. Aktualität oder der nahen Zukunft; sie spielte sich

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hic et nunc ab b z w . war im Entstehen; anders als bei den Romantikern und in der heutigen Zeit u m f a ß t Goethes Konzeption der W . weder einen K a n o n der großen Meisterwerke der Literaturen aller Zeiten und Länder, noch hat sie überhaupt eine histor. Dimension. W e n n überhaupt, so gibt sie sich teilweise als leicht utopisch, so etwa, w e n n G o e t h e am 4 . 3 . 1829 das W o r t v o n der „anmarschierenden W . " prägt, oder er 1828 in Über Kunst und von einer „ g e h o f f t e n allgemeinen Altertum W . " spricht. Aber in dieser Hinsicht ermangelt Goethe der Konsequenz: in anderen Zeugnissen ist v o n einer „ v o r - und abwaltenden" (Brief an Boisseree, 12.10.1827) W . die Rede. Z u diesem tatsächlichen und aktuellen Vorhandensein der W. gehört auch ihre einstweilige Beschränkung auf die europäischen Nationalliteraturen. A n einer Stelle setzt G o e t h e europäische Lit. und W . s y n o n y m . Er hat diese Gleichsetzung, die den „ E u r o z e n t r i s m u s " in der W . - D e b a t t e einleitet, nie weiter erläutert u n d gerechtfertigt, doch darf als gewiß gelten, daß er sich hier lediglich eine Beschränkung aus praktischen G r ü n d e n auferlegt u n d es ihm ferne lag, eine europäische Einengung des weltliterar. H o r i z o n t s zu predigen. Z u Recht schreibt Fritz Strich (1946; 2. A u f l . 1957): „ D i e W . ist nach G o e t h e n u r vorläufig n u r eine europäische. Eine europäische Lit. [. . .] ist die erste Stufe z u r W . " Schließlich sei noch erwähnt, daß f ü r G o e t h e der Gegenbegriff zur W . der der Nationalliteratur ist, insbesondere der deutschen. Keinesfalls empfiehlt er ein Aufgehen der Einzelliteraturen in der W . , „ d e n n die Eigenheiten einer N a t i o n sind wie ihre Sprache u n d ihre M ü n z s o r t e n , sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich" (an Carlyle, 20.7. 1827), u n d gibt im übrigen erfreut z u r Kenntnis, daß in der W . den „Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist" ( U b e r Kunst und Altertum VI/1, 1827). Auf der anderen Seite läßt er zu verschiedenen Malen durchblicken, daß die dt. Lit. im Rahmen einer W . durch „ T e i l n a h m e " u n d „Spiegelung" vor provinzieller Enge bewahrt werden sollte. G o e t h e über W. (alle Stellen nach der Gedenkausgabe Zürich 1950ff.): Tagebuch v. 15. Jan. 1827. Erg.bd. Tagebücher, S. 468. Brief an Karl Streckfuß v. 27. Jan. 1827. Bd. 21, S. 719723, bes. S. 719. Gespräch mit Eckermann vom 31. Jan. 1827. Bd. 24, S. 229. Über Kunst u. Altertum, Sechsten Bandes erstes Heft (1827)

Bd. 14, S. 908 f. Brief an Thomas Carlyle v. 20. Juli 1827. Bd. 21, S. 744 - 748. Über Kunst u. Altertum, Sechsten Bandes zweites Heft (1828) Bd. 14, S. 895-897 (Bezüge nach außen). Brief an Karl Friedrich Zelter v. 21. Mai 1828. Bd. 21, S. 792- 794, bes. S. 793. Die Zusammenkunft d. Naturforscher in Berlin (1828) Bd. 14, S. 909911. Über Kunst ». Altertum, Sechsten Bandes zweites Heft (1828) Bd. 14, S. 956f. (Englischschottische Zeitschriften). Brief an Karl Friedrich Zelter v. 4. März 1829. Bd. 21, S. 841-843, bes. S. 842. Schema zu Kunst ». Altertum, Sechsten Bandes drittes Stück. Europ., d.h. WeltLiteratur. Bd. 14, S. 907. Über Kunst u. Altertum, Sechsten Bandes zweites Heft (1828) Bd. 14, S. 931—933: Bespr. d. Sammelbandes German Romance. Hg. v. Carlyle (Edinburgh 1827). Einl. z. dt. Ubers, von Thomas Carlyle, Leben Schillers (1830) Bd. 14, S. 933-937. Aus dem Entwurf hierzu, Bd. 14, S. 914 f. Acht weitere Stellen im Anhang zu Fritz Strich, Goethe u. die W. (2. Aufl. Bern 1957). Otto L a d e n d o r f , Histor. Schlagwörterbuch. E. Versuch (1906) S. 337-339. Fritz S t r i c h , W. ». Vgl. Lit.gesch., in: Philosophie d. Lit.wiss. Hg. v. E. Ermatinger (1930) S. 422-441. Thomas M a n n , Goethe als Repräsentant d. bürgerl. Zeitalters (1932), in: Mann, Ges. Werke in 12 Bdn [Fischer-Ausg.] Bd. 9 (1960) S. 297-332. Hanns W. E p p e l s h e i m e r , Weltliteratur. E. Versuch. Imprimatur 10 (1951) S. 41-46. Kurt M a y , Rez. von: Fritz Strich, Goethe ». d. W. (1946) in: AnzfdA. 66 (1952) S. 142-147. Arnold H a u s e r , Sozialgesch. d. Kunst u. Lit. Bd. 2 (1953) S. 135136 (Unterkap.: Die Idee d. W. im Rahmen des Kap.: Deutschland ». d. Aufklärung). Alexander R. H o h l f e l d , Goethe's Conception of World Literature, in: Hohlfeld, Fifty Years with Goethe, 1901-1951 (Madison 1953) S. 339-350. Hans Joachim S c h r i m p f , Goethes Begriff d. W. Essay (1968; Dichtung u. Erkenntnis 5). Manfred N a u m a n n , Goethes Auffassung von d. Beziehungen zw. W. ». Nationallit. ». deren Bedeutungen f . d. heutige Zeit. Goethe 33 (1971) S. 31-45. Hans-Heinrich R e u t e r , Theorie ». Praxis d. Realismus in Goethes Begriff d. W. Goethe 33 (1971) S. 46-49. Roman M. Samar i n , Goethe u. d. W. Goethe 33 (1971) S. 1 - 1 4 . Victor Lange, Nationalliteratur u. W. (siehe § 1). Peter W e b e r , Funktionsverständnis in Goethes Auffassung von W., in: Funktion d. Lit., Aspekte, Probleme, Aufgaben. Hg.-Kollektiv: Dieter Schlenstedt u. a. (1975) S. 133-139. Arno K a p p l e r , Der literar. Vergleich. Beitr. zu e. Vorgesch. d. Komparatistik (1976; EuroHS. 18,8). Horst R ü d i g e r , Europ. Lit. ». W. (siehe §1). Cyrus H a m l i n , Literary History and Tradition: The Importance of Goethe's 'W.' for Comparative Literature, in: Eva Kushner u. Roman Struc (Hg.), Actes du VII' Congrès de

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§ 4. W e l t l i t e r a t u r nach G o e t h e . Hat die Forschung (vor allem Strich und Rüdiger) die Goethesche Konzeption einer W. genau untersucht, und ist auch der gegenwärtige Stand der Diskussion um diesen Begriff in verschiedenen Arbeiten (u.a. Lange, Rüdiger, Kaiser) dargestellt und analysiert worden, so muß die Geschichte des Begriffs im 19. Jh. und der ersten H. d. 20. Jh.s gegenwärtig (1983) noch als weitgehend unerforscht gelten. Anhand der bisher ermittelten Belege läßt sich immerhin folgendes beobachten: Das W o r t „W." muß relativ rasch in den Sprachschatz der Gebildeten übergegangen sein; schon in den 30er und 40er Jahren des 19. Jh.s häufen sich die Belege. Diese rasche Popularität ist wohl damit zu erklären, daß Goethe, wie L. Wienbarg es 1835 formulierte, „ein Riesenkind auf den einzig ihm gebührenden Namen" getauft hatte. Es darf nicht verwundern, daß zahlreiche Äußerungen zum Thema W. sich direkt auf Goethe beziehen und seine Idee wieder aufnehmen bzw. fortschreiben (so etwa Wienbarg [1835]; Marx/Engels [1948, vgl. §6]; Varnhagen v. Ense [1838]). Nicht selten sind auch Äußerungen, die wie Th. M ü n d t 1824 unter der Dominanz der nationalen Ideologie Skepsis gegenüber der Goetheschen Idee der W. anmelden: „Der Gedanke der W., der besonders durch Goethe eine Zeitlang aufgekommen und mit Vorliebe gepflegt worden war, ist mehr ein schönes Wort und ein großartiger Traum als ein wahrer Gedanke [. . .]. In unserer Zeit ist es mehr die Aufgabe, das Nationalliterarische als das Weltliterarische herauszufordern." (Im gleichen Sinne Tieck 1854, Hoffmann v. Fallersleben 1871, Treitschke 1864). Als Gegenstimme meldete sich Johannes Scherr, der 1869 die zweite Auflage seiner Anthologie Bildersaal der Weltliteratur mit einem Vorwort begleitete, in dem er die W.-Idee ausdrücklich gegen „das gefälschte und ins Absurde übertriebene Prinzip der Nationalität" stellt, dem es schon gelungen sei, „die europäischen Staaten in lauter unge-

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heure Kasernen umzuwandeln, hinter deren Schießscharten und Eisengittern hervor die armen bethörten Völker wie wilde Thiere einander anglotzen und anknurren." Auf die Dauer folgenreicher aber war die sich schon bald abzeichnende Tendenz, die Goethesche Konzeption von W. als einem internationalen Prozeß aufzugeben und statt dessen mit dem Schlagwort „W." die Vorstellung eines Kanons bedeutender Werke und Autoren zu verbinden. Eine solche Auffassung findet man schon 1836 bei G u t z k o w („Zur W. gehört alles, was würdig ist, in die fremden Sprachen übersetzt zu werden . . ."), und die Zahl der im DWb. beigebrachten Belege (u.a. von Hebbel, Gregorovius, Mommsen, Riehl) zeigen, daß der „kanonische Begriff" der W., der im 20. Jh. zum dominierenden wurde, schon im 19. Jh. die Goethesche Konzeption zu verdrängen begonnen hatte. Die Kriterien der Kanonbildung waren schon damals höchst unterschiedlich (vgl. § 5). Aus der zweiten H. d. 19. Jh.s verdienen besondere Erwähnung der als Ubersetzer und Vermittler span. und arabischer Lit. hervorgetretene Graf v. Schack, der in einer 1890 erschienenen Schrift Weltliteratur noch einmal im Goetheschen Sinne als „literar. Kommunikation zwischen Land und Land" proklamiert und, indem er dieses Konzept in die „Dichtkunst und Lit. Jahrtausende nach uns" projiziert, es bis in eine ferne Zukunft fortschreibt. Auch die im fernen, damals ungar. Klausenburg von 1877 bis 1888 von dem dortigen polyglotten Germanisten Hugo Meltzl de Lomnitz hg. Zeitschrift Acta Comparationis Litterarum Universarum muß hier genannt werden, hatte sie doch Meltzl u.a. als „Organ für Ubersetzungskunst und Goethe'sche W." konzipiert. Es wäre interessant festzustellen, ob und in welchem Maße „W." schon im 19. Jh. ausländische bzw. fremdsprachige Entsprechungen gefunden hat (die im DWb. angeführten Belege stammen alle aus dem 20. Jh.). Sicher ist so viel, daß V. Langes 1971 vorgebrachte These, die Begriffe „W." und „Nationalliteratur" gehörten „zu den entwaffnenden Vokabeln einer dt. Lit.gesinnung, die gern im Zwielicht aus Pathos und Platitüde lebt [. . .], zumal beide Konzepte in ihrer antithetischen Verkoppelung durchaus dem dt. Denken zugehören", wenn überhaupt, dann für die letzten Jahrzehnte des 19. und die ersten des 20. Jh.s zutrifft. Es gibt zu denken, wenn C.

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Justi 1866 in der Einleitung zu seinem Winckelmann von der „Erhebung der dt. Lit. zur W . " spricht. Auch in einer Debatte, die um die Jh.wende um Goethes W.-Begriff geführt wurde (und deren Beteiligte neben Georg Brandes und dem elsäss. Komparatisten Louis P. Betz auch die dt. Germanisten Ernst Elster, Hans Daffis und R. M. Meyer waren), wird jenes Phänomen deutlich, das Etiemble 1964 „ G e r m a n o z e n t r i s m u s " taufte, d.h.: als der eigentliche Mittelpunkt einer W. wird die dt. Nationalliteratur gesehen. Besonders typisch zeigt sich der „Germanozentrismus" bei R. M. Meyer (vgl. den Titel eines seiner Bücher Die W. im 20. Jh. vom dt. Standpunkt aus betrachtet), dessen Konzeption der W. 1925 von Arturo Farinelli in II sogno di una letteratura mondiale als nationalistisch mit einer „smania di dominio e di reggenza" angeklagt wurde. Eine ähnliche Haltung findet sich auch in dem 1928 erschienenen Buch Eduard Engels Was bleibt? Die W., in dem nicht nur die aberwitzige These vertreten wird, es gebe „nur ein weltliterar. Volk, das sind wir Deutsche", sondern auch ein weltliterar. Kanon aufgestellt wird, in dem der dt. Lit. reichlich zwei Fünftel eingeräumt werden. Es gab glücklicherweise auch andere Stimmen, so Fritz Strich, der schon 1930 in W. u. Vgl. Lit.geschickte mit einer ersten systematischen Theorie der W. aufwartete und überdies Lehrstühle für „Weltliteraturgeschichte" (d.h. Vgl. Lit.wiss.) forderte (vgl. § 7). Sein Projekt eines Buches über Goethe und die W. stellte Strich 1933 zurück, um es erst nach dem Ende der Naziherrschaft wiederaufzunehmen. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Diskussion um den Begriff der W., wohl begünstigt durch die polit. Verhältnisse, intensiver geführt als jemals zuvor und in dieser Intensität bis in die Gegenwart fortgesetzt. Die Debatte hat sich entschieden internationalisiert, die sozialist. Länder Osteuropas (vgl. § 6) sind an ihr ebenso beteiligt wie franz. und nordamerikan. Forscher. Auch die Verleger tun das ihre und lassen Geschichten der W. und weltliterar. Lexika in dichter Folge erscheinen. Diese sind zwar in der Regel nur Additionen einzelliterar. Darstellungen, tragen aber auf ihre Art zur Bildung eines „weltliterar. Bewußtseins" bei. Ein Unternehmen wie der ital. Dizionario Lette rario Bompiani (in dt. Bearb. als Kindlers Literatur-Lexikon) ist für das zeitgenöss. Interesse

für W. gewiß ebenso bezeichnend wie die diskursiven Auseinandersetzungen. Bei diesen ist eine zunehmende Verwissenschaftlichung der Diskussion zu beobachten. Für die schon vorher vorhandene, aber erst seit den 50 er Jahren allenthalben voll erblühende Vgl. Lit.wiss. (Komparatistik) wird die W. als ihr Gegenstand par excellence sowohl zum praktischen wie theoretischen Problem. In den Vordergrund schiebt sich hierbei vor allem das Problem der Kanonbildung, ist doch der „kanonische" Begriff der W. der gegenwärtig dominierende. In engem Zusammenhang damit steht das Problem des „Eurozentrismus", d.h. der Kritik an der nach wie vor geübten Praxis, zur W. ausschließlich oder überwiegend Autoren und Werke europäischer Herkunft oder Tradition zu zählen. Ludolf Wienbarg, Goethe ». d. W., in: Wienbarg, Zur neuesten Lit. (1835), wieder abgedr. in: Wienbarg, Ästhet. Feldzüge. Hg. v. Walter Dietze (1964) S. 199-214. Karl Ferdinand Gutzkow, Ueber Göthe im Wendepunkt zweier Jahrhunderte (1836) S. 232f. Edgar Quinet, De l'unité des littératures modernes. Revue des deux mondes 1838, T. 4, S. 318-335. Theodor Mündt, Gesch. d. Lit. d. Gegenwart (1842) S. 431 ff. Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest d. kommunist. Partei (1848), in: Marx/ Engels, Studienausgabe in vier Bänden. Hg. v. Iring Fetscher (1966) S. 62. Karl August Varnhagen von Ense, Aus dem Nachlaß Warnhagens von Ense. Tagebücher. Hg. v. Ludmilla Assing. Bd. 1 (1861) S. 114. Carl Justi, Winckelmann u. s. Zeitgenossen. 4. Aufl. mit e. Einf. v. Ludwig Curtius (1943) S. 9. Heinr. v. Treitschke, Lord Byron u. d. Radicalismus, in: Treitschke, Histor. u. polit. Aufsätze. Bd. 1 (5., verm. Aufl. 1886) S. 305-347. Hugo von Meltzl, Acta Comparationis Litterarum Universarum (Kolozsvâr 1877—1888). Giuseppe Chiarini, L'avvenimento della letteratura universale. Nuova Antologia 96 (1887) S. 609 - 629. Adolf Friedr. Graf v. Schack, W., in: v. Schack, Pandora. Vermischte Schriften (1890) S. 3 - 4 1 . Georg Brandes, Weltliteratur. LE. Jg. 2, H. 1 (1. Okt 1899) Sp. 1 - 5 . August Heinrich H o f f mann von Fallersleben, Ges. Werke. Hg. v. H. Gerstenberg Bd. 5 (1891) S. 310-311: Die Weltliteratur [Gedicht], Richard M. Meyer, Die W. ». d. Gegenwart. DtRs. 26 (1900) S. 269—291. Louis P. Betz, Litteraturvergleichung. LE. Jg. 3, H. 10 (Febr. 1901) Sp. 657-665. Ernst Elster, W. u. Litteraturvergleichung. ArchfNSprLit Jg. 55, Bd. 107 (1901) S. 3 3 - 4 7 . Arturo Farinelli, E. italien. Lit.gesch. als e. Gesch. d. W., in: Farinelli: Aufsätze, Reden u.

Weltliteratur Charakteristiken zur W. (1925) S. 3 6 6 - 3 8 3 . Eduard E n g e l , Was bleibtf Die W. (1928). Fritz S t r i c h , W. u. Vgl. Lit.gesch. (siehe § 3). Ders., Goetheu. d. W. (siehe § 1). Victor L a n g e , Nationallit. u. W. (siehe § 1). Robert C l e m e n t s , World Literature Tomorrow (siehe § 1). Horst R ü d i g e r , Europ. Lit. u. W. (siehe § 1). Gertrud L e h n e r t, 'Acta Comparationis Litterarum Universarum'. E. komparatist. Zs. d. 19. Jh.s. arcadia 17 (1982) S. 1 6 - 3 6 .

§ 5. P r o b l e m e eines w e l t l i t e r a r . K a nons. Die heute noch vorherrschende Konzeption der W. als einer „auslese der literar. Schöpfungen aller Völker und Zeiten" (DWb. 14,1, Sp. 1646) führt zwangsläufig zu der Frage nach den K r i t e r i e n einer solchen Auslese. Im Prinzip ergeben sich damit die gleichen Probleme der literar. W e r t u n g (s. Wertung) und der Bestimmung des L i t . b e g r i f f s , die sich auch in den Einzelliteraturen stellen, so etwa die Frage, ob nur Dichtung und „schöne Literatur" oder auch expositorische Prosa in die W. einbezogen werden sollte. (Schon Ende des vorigen Jh.s rechnete G. Brandes zur W. u.a. Pasteur, Darwin, Helmholtz, Stanley, Nansen und Michelet!). Indessen zeigen sich derartige Probleme im Rahmen einer W. in einem etwas anderen Licht. Erweist sich doch hier die Aufgabe, literar. „Größe" anhand bestimmter N o r m e n oder W e r t u n g s m a ß stäbe zu bestimmen, als schlechthin unlösbar, weil Normen und Wertungsmaßstäbe, falls überhaupt vorhanden und anerkannt, von Land zu Land, von Nationallit. zu Nationallit. schwanken. Wo also in der Debatte, selten genug, die Aufnahme eines Werks oder Autors in die W. nach dessen gleichsam immanenter und objektiver „Größe" gefordert wird, geschieht dies mehr oder weniger theorielos bzw. auf Grund unpräziser, dilettantischer Kriterien wie z . B . die „vision of universality" (Remenyi, 1956), das „Menschlich-Umfassende und zugleich Abendländisch-Symptomatische schlechthin" (Bodmer, 1956). Auf höherem theoret. Niveau ging H. Rüdiger das Problem der Kanonbildung mit Hilfe der K a t e g o r i e des „ K l a s s i s c h e n " an (1959), die aber nur einen Teilaspekt der W. umfaßt. Wegen der Schwierigkeiten, mit Hilfe „produktionsästhetischer" Maßstäbe den ,weltliterar. Rang' eines Werks oder Autors zu bestimmen, spielte und spielt das Kriterium der W i r k u n g (s. Wirkung und Rezeption) eine um so stärkere Rolle, und dies schon zu einer Zeit, als Pro-

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bleme der literar. Rezeption noch nicht diskutiert wurden und teilweise auch noch gar nicht erkannt waren. Es versteht sich, daß es sich hierbei um die i n t e r n a t i o n a l e Wirkung handelt, die mit der nationalliterar. Reputation oft nicht übereinstimmt: „Heine gehört zur W., Stifter oder Mörike nicht" (R. Wellek, 1967). „Nur das gehört zur W. in diesem engeren Sinne, was wirklich die Grenzen der eigenen Nation überschritt, was wirklich außerhalb des eigenen Volks durch Übers, bekannt und geschätzt wurde und auf andere Literaten Einfluß gewann" (F. Strich, 1930). Zu diesem „Weltfähig-Weltgültigen" (Th. Mann, 1932) kommt dann als weiteres Kriterium die ü b e r z e i t l i c h e G ü l t i g k e i t . Schon zur Zeit der Renaissance spielte der „consensus saeculorum" eine Rolle, schon Goethe sprach „von der Zeiten Bildersaal". Die Tatsache des Uberlebens, des „Bleibens" literar. Werke wird 1928 für E. Engel zum Kriterium weltliterar. Geltung schlechthin, für F. Strich zum wichtigen Kriterium unter anderen. In der neueren Diskussion spielt es kaum eine Rolle mehr, ist aber unausgesprochen präsent. Das wichtigste Problem weltliterar. Kanonbildung ist heute die Frage der g e o g r a p h i schen Ausdehnung der W. Im Zeichen des One World, eines weltumspannenden Verkehrs und Austauschs, großer intern. Organisationen und nicht zuletzt der Entkolonialisierung zeigt sich immer dringender, daß die bisherige Einschränkung des Kanons auf Literaturen europäischer Herkunft oder Tradition zum Stein des Anstoßes wird. Diese Konzeption war im 19. Jh. selbstverständlich und fand im sogenannten Dekaglottismus Meltzls (vgl. § 4), für den W. die Lit. in den zehn europäischen Hauptsprachen war, einen prägnanten Ausdruck. Auch für Graf v. Schack ist W. ebenso identisch mit europäischer Lit. wie für F. Brunetiere oder G. Mazzini. Eine bedeutende Ausnahme von der Regel bildete Johannes S c h e r r , dessen zweibändige Anthologie Bildersaal der Weltliteratur (1848; Titelaufl. 1855) „ein Gesammtbild des dichter. Schaffens sämmtlicher Kulturvölker alter und neuer Zeit, welche wirklich eine Lit. besaßen oder besitzen", vermitteln sollte. So umfaßt die Sammlung auch Texte aus der chinesischen, türkischen, persischen, arabischen und indischen Literatur, sowie „neuhebräische Poesie". In den 20er Jahren unseres Jh.s kommen dann E. Engel und H. Hesse beim Versuch

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weltliterar. Kanonbildung auch nicht mehr ganz ohne Titel aus den indischen, nah- und fernöstlichen Literaturen aus; 1930 bemängelte F . Strich die Verwechslung von W . mit europäischer Lit. und tadelt den „europazentrischen Standpunkt". Andererseits findet sich noch in der zweiten H . d. 20. Jh.s dieser Standpunkt in reiner Ausprägung, so bei Bodmer, der den weltliterar. Kanon auf ein „Pentagon" von Autoren und Werken reduziert, in dem neben Homer, Dante, Shakespeare und Goethe die Bibel als einziges außereuropäisches Zeugnis genannt wird, so auch bei H . W . E p p e l s h e i m e r , der 1970 eine Geschichte der europäischen Weltliteratur vorlegte, so in einer 1956 von Raymond Q u e n e a u durchgeführten Enquête pour une bibliothèque ideale (1956), deren 61 Beteiligte so gut wie keinen Titel in einer außereuropäischen Sprache nannten. Das letztgenannte Dokument wurde mit zahlreichen anderen Zeugnissen des „ E u r o z e n t r i s m u s " zum Gegenstand heftiger Angriffe des franz. Komparatisten René E t i e m b l e , der in seinem 1958 erschienenen Essay Comparaison n'est pas raison, vor allem aber in einem manifestartigen Kongreßvortrag (Freiburg im Uechtland 1964) Faut-il réviser la notion de Weltliteratur?, vehement für eine Erweiterung des W.-Begriffs auf „l'ensemble de toutes les littératures, vivantes ou mortes, dont nous avons gardé des traces écrites, ou seulement orales" eintrat. Inzwischen gilt es als opinio communis, daß der Begriff der W . nicht nur die außereuropäischen Hochliteraturen, sondern auch die noch weniger hervorgetretenen oder ausgebildeten, ja auch die vorschriftlichen Literaturen auch kleinerer Völker oder Stämme umfassen müsse. Indessen bleibt es in der Regel bei theoret. Beteuerungen. In der Praxis der Kanonbildung wie des literar. Weltverkehrs hat sich kaum etwas geändert: die europäischamerikanischen, die orientalischen, die ostasiatischen Literaturen leben kontaktarm nebeneinander her und nehmen einander kaum zur Kenntnis, die kleineren und „oralen" Literaturen sind nur den Ethnologen bekannt. Auch in der Praxis des akademischen Unterrichts und der Lit.geschichtsschreibung bietet der g l o b a l e B e g r i f f d e r W . praktische Schwierigkeiten, die sich aus der Unmöglichkeit ergeben, die vorhandene Uberfülle von Autoren und Texten im Auge zu behalten, geschweige denn die zu deren Verständnis notwendigen Vorkenntnisse zu erwerben. U m

diesen Schwierigkeiten auszuweichen, werden verschiedene Auswege gesucht: E t i e m b l e schlägt, einen Gedanken Hermann Hesses aufgreifend, einen individuellen, eingeschränkten Kanon jeden Lit.liebhabers vor, der sich indessen dem „déterminisme de naissance" entziehen müsse, d . h . sich für einen Europäer nicht auf die europäische Literatur beschränken könne. Einen anderen Weg weist Horst R ü d i g e r , nämlich den eines realisierbaren literar. Regionalismus, der sich auf traditionell zusammenhängende literar. Großregionen ( z . B . Europa, Ostasien usw.) beschränke, diese aber nicht mit der W . gleichsetze. In diesen Rahmen würde dann auch das Konzept von Zoran K o n s t a n t i n o v i c gehören, der innerhalb der europäischen Lit. ein „europäisches Zwischenfeld", das mehr oder weniger aus den südosteuropäischen Staaten, insbesondere den Donauanrainern besteht, als regionale literar. Einheit faßt. Für die öffentliche Meinung schließlich spielt der N o b e l - P r e i s für Lit. bei der Herausbildung eines weltliterar. Kanons der modernen Lit. eine gewisse Rolle. Doch ist hier Vorsicht geboten: weder lag es in der Absicht des Stifters, durch die Verleihung des Preises eine internationale literar. Elite zu konstituieren, noch rechtfertigen die schwankenden Maßstäbe der Schwedischen Akademie und die Auswahl der Preisträger, von einer kanonbildenden Kraft dieses Preises zu sprechen. Sicher ist hingegen, daß auch er zu der Herausbildung eines weltliterar. Bewußtseins der Öffentlichkeit beigetragen hat. Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten kann kein Zweifel daran bestehen, daß an einem erdumspannenden Begriff von W . als Ideal, Utopie und letztlich auch Maßstab festgehalten werden muß. Johannes Scherr, Bildersaal d. W. 2 Bde (1848; 2. Aufl. 1869; 3. Aufl., neu bearb. u. verm. in 3 Bdn 1884/85). Hugo von Meltzl, Acta Comparationis Litterarum Universarum (siehe § 4). Adolf Friedr. Graf v. Schack, Weltliteratur (siehe § 4). Ferdinand Brunetière, La littérature européenne. Revue des deux mondes 161 (1900) S. 326-355. Eduard Engel, Was bleibt? Die W. (siehe § 4). Hermann Hesse, Eine Bibliothek d. W. (1929), in: Hesse, Ges. Werke Bd. 11 -.Schriften zur Literatur Bd. 1 (Zürich 1975) S. 335-372. Fritz Strich, W. u. Vgl. Lit.geschichte (siehe § 3). Thomas Mann, Goethe als Repräsentant d. bürgert Zeitalters (siehe § 3). RaymondQueneau (Hg.), Pour une bibliothèque idéale. Enquête

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§ 6. Der marxistische WeltliteraturBegriff. Innerhalb der neueren Diskussion um den W.-Begriff nimmt die marxist. Lit.wissenschaft der sozialist. Länder Osteuropas einen besonderen Platz ein. Sie steht der Konzeption einer W. durchweg voller Sympathie und Respekt gegenüber. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß Wort und Begriff der W. 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei durch Marx und Engels benutzt und gedeutet wurden: Nach ihnen war die W. als ÜberbauPhänomen eine Folge der Weltproduktion und des Weltmarkts: „Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet [. . .]. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen Nationen und lokalen Li-

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teraturen bildet sich eine Weltliteratur." Neben dieser oft zitierten Äußerung spielen auch die „bemerkenswerten revolutionären Ideen Goethes vom Inhalt des Begriffes W." (so 1971 der Sowjet. Forscher R. M. Samarin, der auch einen Einfluß Goethes „auf die Herausbildung der Vorstellungen über Kunst und Lit. bei Marx und Engels" konstatiert) eine nicht geringe Rolle. Goethes Konzeption eines gegenseitigen Austausches, eines Zusammenwirkens der Nationalliteraturen wird hierbei als Vorstufe zum marxist. Theorem vom P r o z e ß charakter alles Historischen (und damit auch der Lit.geschichte) gedeutet. „Hinter den Begriffen Nationalliteratur und Weltliteratur verbergen sich literar. Prozesse und Beziehungen, die untrennbar mit der Geschichte der Nation und der Geschichte der Welt verbunden sind." (M. Naumann 1971). W. als Prozeß deuten marxist. Forscher teilweise als eine Art von hist.-dialektischer Verschränkung von W. und Nationalliteraturen. Dementsprechend gilt in der osteuropäischen Diskussion weitaus stärker als in der westlichen die Nationallit. als Gegenbegriff zur W., und stärker auch als im Westen wird hier die hist. Unverwechselbarkeit der Nationalliteraturen betont, aus deren Mit- und Gegeneinander sich erst die W. konstituiere (vgl. etwa Berczik 1967, Naumann 1971, A. Marino 1975). Häufig findet man im Zusammenhang mit der Diskussion des Goetheschen W.begriffs als „Prozeß" die „Behauptung von dessen gegenwärtiger sozialistisch praktischer Einlösung" (Kaiser 1978). Diese sieht man entweder in der Lit. des Sozialistischen Realismus (z.B. Konferenz im Gorki-Institut 1973, Samarin 1971, Krehayn 1966) gegeben oder im Rahmen des durch das marxist. Geschichtsmodell postulierten allgemeinen Fortschritts der Menschheit (Naumann, Reuter, 1971). Gelegentlich bemüht man sich um eine N e u a u f t e i l u n g der W. nach ideologischen Kriterien: Meyers Neues Lexikon, Bd. 15 (1977) unterscheidet zwischen einer „bürgerlichen W., einer kosmopolitisch-dekadenten W. und einer Sozialist. W.". Durchweg wird „Eurozentrismus" scharf abgelehnt und als Voraussetzung für eine wirkliche W. die „entière égalité de toutes les littératures nationales" gefordert (A. Marino 1975). Auch steht die Konzeption einer universalen W. in dialektischer Beziehung zum Recht jeder einzelnen Lit. auf ihre „particularités essentielles" (ebd.). Daneben wird auch

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Weltliteratur

das Konzept der sogenannten „literar. Zone" diskutiert, die (ähnlich den Vorschlägen H. Rüdigers und Z. Konstantinovics [vgl. § 5]) zwischen Nationallit. und W. eine mehr oder weniger ausgedehnte regionale Zwischenstufe einschaltet (so K. Krejci, 1973). Nicht nur in der theoret. Debatte, auch in der P r a x i s spielt der W.begriff in Osteuropa, vor allem in der Sowjet-Union, als Bezeichnung von Lehrstühlen, Verlagen und Forschungsinstituten eine große Rolle. Schon 1917 gründete M. G o r k i j unter dem intern. Impetus der Oktoberrevolution einen V e r l a g für W e l t l i t e r a t u r , um in zusammenhängender Folge, als „hist.-literar. Chrestomathie" (Gorkij, 1917), zunächst die wichtigere europäische Lit. der Neuzeit, sodann auch mal. und außereurop. Lit. herauszubringen. Nach Gorkij wurde dann auch das in den 30er Jahren gegründete Moskauer I n s t i t u t für W e l t l i t e r a t u r benannt, das sich als „Kaderschmiede der multinationalen sowjet. Lit.Wissenschaft" (Uschakow 1974) nicht nur der Literaturen der zahlreichen Völker der Sowjet-Union annimmt, sondern in der Forschung, in großen Publikationsprojekten und in Konferenzen auch der intern. Lit. in ihrer vollen zeitlichen und geographischen Ausdehnung. Freilich wird W. hier weder als Einheit noch als Prozeß aufgefaßt, sondern als Summe der einzelnen Nationalliteraturen.

ture universelle''} Cahiers romains d'études littéraires 3 (1975) S. 6 4 - 8 1 . Dt. Fass.: Wo ist d. Ort d. W.?, in: Vgl. Lit.forschung in d. sozialist. Landern 1963-1979 (1980; Studien z. allgem. u. vgl. Lit.wiss. 21) S. 1 8 9 - 2 0 8 . Peter W e b e r , Die Herausbildung d. Begriffs 'W.', in: Lit. im Epochenumbruch. Funktionen europ. Literaturen im 18. u. beginnenden 19. Jh. Hg. v. Günther Klotz u.a. (1977; Zentralinst, für Lit.gesch.). S. 531 ff. Gerhard R. K a i s e r , Tendenzen vgl. Lit.forschung in d. sozialist. Ländern, arcadia 13 (1978) S. 2 8 6 - 3 0 0 . Ders., 'W.'. Zum Gegenstand Vgl. Lit.wiss., in: Kaiser, Einf. in d. Vgl. Lit.wiss. Forschungsstand, Kritik, Aufgaben (1980) S. 1 1 - 2 4 . Siegbert S. P r a w e r , Karl Marx and World Literature (Oxford 1976). Peter W e b e r , Die Herausbildung d. Begriffs W. (siehe § 1). Manfred N a u m a n n , Nationalliteratur — W. unter geschichtl. Aspekt, in: Intern. Lit. d. Sozialist. Realismus. 1917-1945. Aufsätze (1978) S. 74—90, 765—766. Ingrid B e r g n e r , Zur Konzeption Maksim Gor'kijs von d. W. u. ihrer Umsetzung in d. Verlagstätigkeit. Wiss. Zs. d. Humboldt-Univ. zu Berlin, Ges.- u. sprachwiss. R . 28 (1979) S. 3 1 7 - 3 2 0 . Harri J ü n g e r , Maksim Gor'kij u. d. W. Ebd. S. 3 0 1 - 3 0 8 . Lâszlô I l l é s , Die Strategie d. 'proletar. W. '. Weim. Beitr. 25 (1979) S. 4 1 - 6 2 . Claus T r ä g e r , Weltgeschichte — Nationalliteratur, Nationalgeschichte — W., in: Eva Kushner, Roman Struc (Hg.), Actes du VIIe Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée. I I : La littérature comparée aujourd'hui: Théorie et pratique (Stuttgart 1979) S. 4 8 8 - 4 9 0 .

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§ 7. W e l t l i t e r a t u r und V e r g l e i c h e n d e L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t . In der akademischen Lehre ist „World Literature" auch in den Vereinigten Staaten anzutreffen, etwa in Form einführender L e h r v e r a n s t a l t u n g e n über „Masterpieces of World Literature". Hierbei handelt es sich aber, ebenso wie bei den sogenannten „Great Book Courses", meist um die Vermittlung eines eng begrenzten Kanons von Werken „in the Western Tradition", seltener „in the Eastern Tradition" (Golden 1960). Derartige Lehrveranstaltungen sind als Einführung in eine intern. Auswahl literar. Meisterwerke gedacht und verfolgen in erster Linie einen allgemeinbildenden Zweck. „World Literature" wird aber teilweise auch für fortgeschrittene Studenten in wiss. anspruchsvollen Lehrveranstaltungen gelehrt. (1981 widmete die Rockefeller-Stiftung dem Thema „W. in der Lehre" ein eigenes Symposion). Nicht nur in den USA, sondern auch in zahlreichen anderen Ländern beschäftigt sich akademische

Weltliteratur Forschung und Lehre mit „ W . " im Rahmen des Faches Vgl. Lit.wiss. Eine im engeren Sinne akademische, d. h. in Lehre wie Forschung wiss. Beschäftigung mit dem Phänomen W. ist seit längerem Sache der Vergleichenden Literaturwissenschaft (s. d.). W. ist zwar nicht völlig identisch mit dem Gegenstand dieser Disziplin, die sich prinzipiell allen histor. und theoret. Phänomenen zuwendet, die den Horizont einer einzigen Lit. überschreiten, sie ist aber eines ihrer entscheidenden Probleme. Die neuere Diskussion wird weitgehend von Vertretern dieser Disziplin beherrscht (Etiemble, Rüdiger, Berczik, Clements, Bleicher). Aber schon zu Beginn dieses Jh.s wurde von Louis P. Betz unter Berufung auf die Goethesche W.-Idee die Einrichtung komparatistischer L e h r s t ü h l e gefordert und von Ernst Elster unter Anrufung und falscher Deutung eben dieser Idee energisch abgelehnt. Goethe habe unter W. nie die „internationalen Beeinflussungen einer Lit. durch die andere" verstanden (hierzu vgl. § 3). 1930 wiederum spricht Fritz Strich von der Notwendigkeit von Lehrstühlen für „Weltliteraturwissenschaft" (den Terminus „Vergleichende Lit.geschichte" hielt er nicht zu Unrecht für mißverständlich). Auch Strich berief sich auf Goethe, vermutlich weil er (wie auch Betz) einem weitgehend im Banne nationalist. Ideologie stehenden Bildungsbürgertum unter der Flagge der Goetheschen W.-Idee die Vorbehalte gegen eine auf intern. Basis arbeitende Lit.wiss. nehmen wollte. (Ähnlich K. Vossler, 1928.) Aber abgesehen davon bleibt festzuhalten, daß damals wie heute die Vgl. Lit.wiss. eo ipso Literatur tatsächlich in der Perspektive der Goetheschen W.-Idee sieht und behandelt: nämlich in der des intern. Zusammenhangs des Nehmens und Gebens über Sprach- und Landesgrenzen hinweg, dies allerdings weitaus historischer orientiert als Goethe. Folgende A r b e i t s g e b i e t e der Vgl. Lit.wiss. behandeln W. in ihrem lebendigen Zusammenhang: Geschichte und Theorie der literar. Übersetzung, grenzüberschreitender literar. Einfluß, intern. Rezeption literar. Werke, intern, literar. Vermittlungsinstanzen („transmetteurs"), intern, literar. Strömungen. Freilich bewegen, sich diese Studien im allgemeinen noch im Rahmen der Lit. europäischer Tradition, wie er durch Herkunft, Sprachkenntnisse, Ausbildung und Interessen der meisten Komparatisten vorgegeben ist. Aber auch hier bleibt

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die globale Ausdehnung des Begriffs W. eine als notwendig erkannte Utopie. Der intern. Charakter der Vgl. Lit.wiss., die ja nicht nur in Europa und Amerika, sondern zunehmend auch an afrikanischen und asiatischen Universitäten gelehrt wird, wird notwendigerweise auf die Dauer dazu führen, daß die W. im eigentlichen Sinne des Wortes der Gegenstand des Faches sein wird. Gleichwohl kann Vgl. Lit.wiss. nie identisch mit „Weltliteraturwissenschaft" sein, weil bei ihr immer die Untersuchung regionaler oder zweiseitiger (z. B. deutsch-englischer) literar. Zusammenhänge im Vordergrund stehen wird. Ebenso unbestreitbar bleibt, daß „ W . " aber weiterhin und stets in den Aufgabenbereich der Vgl. Lit.wiss. fallen wird, der einzigen Wissenschaft, die Lit. als internationales Phänomen würdigt.

Louis P. B e t z , Litteraturvergleichung (siehe Litteraturvergleichung § 4). Ernst E l s t e r , W. u. (siehe § 4). Fritz S t r i c h , W. u. Vgl. Lit.gesch. (siehe § 3). Arpâd B e r c z i k , Eine ungar. Konzeption d. W. (Hugo von Meltzls vergl. Lit.theorie), in: La Littérature Comparée en Europe Orientale, Conférence de Budapest 26—29 Octobre 1962. Hg. v. I. Sötef u.a. (Budapest 1963) S. 2 8 7 - 2 9 4 . René E t i e m b l e , Faut-il réviser la notion de W.f (siehe § 1). Samuel A. G o l d e n , The Teaching of World Literature at Wayne State University, in: The Teaching of World Literature (New York 1966) S. 9 7 - 1 0 0 . Arpid B e r c z i k , Zur Entwicklung d. Begriffs 'W.' u. Anfänge d. vergl. Lit.gesch. Acta Germanica et Romanica 2 (Szeged 1967) S. 3 - 2 2 . Horst R ü d i g e r , 'Lit.' u. 'W.'ind. modernen Komparatistik (siehe § 1). Adrian M a r i n o . Où situer la 'littérature universelle'? Cahiers roumains d'études littéraires 3 (1975) S. 6 4 - 8 1 . Dt. Fass.: Wo ist der Ort d. W.?, in: Vgl. Lit.forsch, in d. Sozialist. Ländern 1963-1979. Hg. v. Gerhard R . Kaiser (1980; Studien z. allgem. u. Vgl. Lit.wiss. 21) S. 1 8 9 - 2 0 8 . Robert J . C l e m e n t s , World Literature Tomorrow, (siehe § 1). Zoran K o n s t a n t i n o v i c , W. Strukturen, Modelle, Systeme (siehe § 1). Gerhard R . K a i s e r , 'W.' — Zum Gegenstand Vgl. Lit.wiss. (siehe § 1). Thomas B l e i c h e r , Kriterien f. e. komparatist. Kanon, in: Actes du IX" Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée. Innsbruck 1979 (Innsbruck 1981) Bd. 1, S. 1 6 9 - 1 7 4 . Ders., Lit.komplexe in komparatist. Perspektive. Neohelicon 8 (1981) H . 2, S. 9 - 4 2 . Horst R ü d i g e r , Europ. Lit. - W. (siehe § 1).

Erwin Koppen

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Wertung, literarische

Wertung, literarische Teil 1: Begriffliche und sachliche Klärungen. § 1: Die Ausgangslage und ihre Konsequenzen für die Behandlung des Themas: Veränderungen und Erweiterungen in der Auffassung von den Aufgaben der Lit.Wissenschaft. § 2 : Zum Begriff „literar. Text" als „offenem", durch Gebrauchssituationen definiertem Begriff. § 3: Zu Begriffsverwendung und Funktionsweise von „Wert" und „ W . " allgemein. § 4 : Der Sprechakt des Bewertens und die Bedingungen seines Gelingens. § 5: „Wert" und „ N o r m " ; Normen, Rollen und Sanktionen. Teil 2: Histor. Konkretisierung im Bereich literar. Wertung. § 6: Werte, Normen und Rollen im,Sozialsystem Literatur'; Zusammenhänge und Varianten. § 7: Das „Ästhetische" als Bestimmungsgrund literar. Werte und Normen. § 8: Zu den faktisch geltenden literar. Werten, Normen und Rollen seit der Formulierung des „Ästhetischen". Teil 3: Legitimationsprobleme. § 9 : Der Kanon der „Weltliteratur" als Legitimationsgrundlage für literar. Wert. § 10: Die Diskussion literar. W. in der Lit.Wissenschaft. § 1 1 : Allgemeine, ethische und ästhetische Wert- und Normbegründung. § 12: Konsequenzen für ein neues Modell literar. W.

§ 1 . Die Ausgangslage und ihre Konsequenzen für die B e h a n d l u n g des Themas. Seit „literar. W . " vor erst rund 50 Jahren durch Walzel zu einem expliziten Thema der Lit.wiss. geworden ist (Mecklenburg 1977, VII), hat die Forschung vor allem nach den — wie man meinte, „objektiven" — Eigenschaften gefragt, die einem „literar. Text" Wert, verstanden als „literar. Qualität", verleihen. Die Beobachtungen dazu wurden an Werken gesammelt, die fraglos als ,hohe Dichtung' galten, und Texte der „Trivialliteratur" kritisch dazu in Gegensatz gestellt. Erst die Veränderungen und Erweiterungen in der Auffassung von den Aufgaben der Lit.wiss. — namentlich der Erforschung der Funktionen von Lit. — führten in den vergangenen rund 20 Jahren dazu, weitere Gegenstandsbereiche einzubeziehen, neue Konzeptionen vom hergebrachten Gegenstand, dem „literar. Text", zu entwerfen und neue Methoden anzuwenden. Im T e x t b e reich werden nunmehr neben der „kanonischen" Dichtung auch mindergewertete Formen — mißlungene Dichtungen ebenso wie von vornherein zur „Massenkommunikation" bestimmte, didakt. und unterhaltende Texte ohne eigentlichen Kunstanspruch —, dazu auch andere Textarten wie Geschichtsschreibung, Wissenschaftsprosa überhaupt, Werbetexte u.a.

systematisch untersucht. Im Zusammenhang damit wird der Blick über Buch und Bühne hinaus auf die sonstigen Vermittlungsmedien gelenkt, auf Zeitung und Zeitschrift, Hörfunk, Film und Fernsehen, die eigene literar. Textarten erzeugen, besondere Formen der Auswahl, Bearbeitung und Darbietung von ,Buchliteratur' entwickeln und (auch qualitativ) andersartige Rezeptionsweisen hervorbringen als das konzentrierte Lesen oder den Theaterbesuch. Für die K o n z e p t i o n des G e g e n s t a n d s „ T e x t " (s. d.) ist der schon von der Phänomenologie gesehene (Ingarden 1931), in der Semiotik konsequent ausgearbeitete Befund maßgebend geworden, daß der Text nur „Zeichen" ist (s. Zeichen) und als solches erst durch die Vorstellung des Aufnehmenden eine Bedeutung zugeordnet erhält, die ein Mehr oder Weniger von den im Text latenten Möglichkeiten realisiert (damit entsteht das Problem der „adäquaten Rezeption", Daiches, Link u.a.). In diese Bedeutungszuordnung, die jeder mit dem Text Befaßte durch S e l e k t i o n s h a n d l u n g e n leistet — vom Autor, der ihn hervorbringt, über den Lit.vermittler, der ihn auswählt, herstellt, kritisiert, bis zum Leser, der ihn aus seinem Horizont heraus versteht —, gehen also im Rahmen der Angebote des Textes sowohl sehr allgemeine, für eine ganze Sprachgemeinschaft und über lange Zeit hin geltende Vorgaben ein wie auch und vor allem sozio-kulturell und individuell, ja stituationsbezogen verschiedene Voraussetzungen. Die gleichwohl noch verbreitete Rede vom „Text selbst" als intersubjektiver Kontrollinstanz gegenüber individuellen Bedeutungszuordnungen verkennt, daß die Materialität des „Textes" nicht mehr ist als der „Zeichenträger" (Morris 1972 u.a.); eine einförmige, eindeutige Realisation oder „Konkretisation" (Ingarden, präzisierend Sasse), ein intersubjektives „Kommunikat" (S. J. Schmidt 1980/2), kommt nur — und das gilt für j e d e n , nicht nur für den literarischen Text — durch Rezeptionsweisen und -normen zustande, die von einer beschreibbaren Gruppe (in beschreibbaren Situationen unter beschreibbaren Bedingungen) geteilt werden (Danto, Steinmetz u.a.); dies mag die Illusion vom „Text selbst" erzeugen. Die Lit.wiss. nimmt solche, InterSubjektivität systematisch anzielenden, von der üblichen Rezeption oft sehr weit abweichenden Normierungen des Leseverhaltens vor, ohne das immer klar herauszustellen (vgl. Szondi, Hirsch, Natew, Labroisse, Eibl, Link,

Wertung, literarische Titzmann u. a., auf je verschiedenen wiss.theoret. Grundlagen). Allerdings ist weitgehende Übereinstimmung der angewendeten Selektionsnormen auch im literar. Leben überhaupt Voraussetzung dafür, daß V e r s t ä n d i g u n g gelingt. Wer den Zeichencharakter der Sprache berücksichtigt, sieht den literar. Text nicht mehr als objektives Gebilde, sondern als eine dynamische Gestalt, die in sozial und individuell bestimmten Selektions- und Verständigungsverhandlungen erst hervorgebracht und aufgenommen wird. Eine Folgerung für die Lit.wiss. ist, daß sie eben dieses Handeln, das zu .Texten' führt und von ihnen wieder ausgeht, erforscht: Produktion, Distribution, Rezeption und Weiterverarbeitung. Sie wird dadurch zu einer „sozialen Handlungswissenschaft" eigenen Rechts (S. J . Schmidt 1980/82). Dabei wird auch offenkundig, in welchem Grade lit. bezogene Institutionen — die oben erwähnten Medien, aber auch Verlag und Buchhandel, Lit.kritik und Lit.wiss., Schule, Haus und lit.vermittelnde Vereinigungen, Bibliotheken u. a. — auf den Prozeß der Lit.produktion und -rezeption Einfluß nehmen. Der G e g e n s t a n d d e r L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t wird demzufolge konzipiert als ein um den „literar." Text zentriertes System komplexer Beziehungen und Wechselwirkungen, als , S o z i a l s y s t e m L i t e r a t u r ' , das, in sich vielfach untergliedert, seinerseits in vielfältigen, historisch variablen Handlungsbeziehungen zu anderen gesellschaftlichen „Subsystemen" (Parsons), zu Wirtschaft, Recht und Politik, zu Wissenschaft und andern Teilbereichen des kulturellen Subsystems, steht, aber auch von dem biologischen „System", als das das Individuum verstanden werden kann, mit beeinflußt wird. Der hier zugrundegelegte Systembegriff bezeichnet keine historische Realität unmittelbar, sondern nur ein theoret. Konstrukt zur Erfassung komplexer Zusammenhänge. Über die heuristische Auffassung von Lit. als System mit komplexen Innen- und Außenbeziehungen besteht derzeit sogar zwischen der Lit.wiss. in der Bundesrepublik Deutschland wie in der Deutschen Demokratischen Republik weitgehende Ubereinstimmung, mit der freilich markanten Differenz, daß die marxist. Lit.wiss. diese Beziehungen als „dialektische" bezeichnet und in einer vom Klassenkampf bestimmten Geschichtsauffassung fundiert (Klaus, Kagan), während hierzulande in bezug auf den Systembegriff wie auf

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den des Wandels der Geschichte die verschiedensten Vorstellungen konkurrieren (Münch). Welche m e t h o d i s c h e n K o n s e q u e n z e n aus dem Verständnis der Lit.wiss. als einer „sozialen Handlungswissenschaft" mit besonderer Kompetenz für spezifische literar. Verständigungshandlungen gezogen werden sollen, ist zur Zeit noch kontrovers. Ungeschlichtet ist — nicht nur in der Lit.wiss. — vor allem die Streitfrage, ob Wissenschaft nach wie vor von einer kategorialen Subjekt-Objekt-Trennung auszugehen hat, und damit auch von einer Trennung von Genese und Geltung von Wissen und Wertvorstellungen (Popper), oder von einer vorgängigen prozeßhaften Vermitteltheit zwischen Polaritäten oder Elementen in einer Art Regelkreis. Auch in bezug auf das zweite Denkmodell scheint aber unbestritten, daß eine nur durch Teilhabe an diesem ,kybernetischen' Prozeß (vgl. Kybernetik und Literaturwissenschaft) erreichbare Erkenntnis sich nicht notwendig rationaler Kontrolle entziehen muß, sofern ihre theoret. Voraussetzungen explizit gemacht werden (Kambartel/Mittelstraß). Diese Probleme der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sind aber bei weitem nicht ausdiskutiert (vgl. § 11). Soweit die Lit.wiss. sich auf gegenwärtiges Handeln mit Lit. richtet, können sich die „kritisch-rationale" und die beiden einander näherstehenden Methoden, die „hermeneutische" und die „dialektische", fruchtbringend ergänzen und kritisieren. Für den traditionellen Kernbereich der Lit.wiss. allerdings, für die Geschichte der Lit. und insbes. der hochgewerteten Texte der Neuzeit, gibt es gute, im einzelnen noch zu erörternde Gründe, das zweite Modell für überlegen zu halten, schon weil Selektion und Interpretation von Daten und Texten nur scheinbar der SubjektObjekt-Trennung unterworfen werden können (so mit Fetzer, J . Zimmermann, Weimar gegen S. J . Schmidt 1975 u . ö . , Eibl u.a.; zum Stand der Diskussion um das hiermit'eng verbundene Problem der „Wertfreiheit der Wissenschaft" vgl. Stegmüller, Kambartel/Mittelstraß). Für das Thema „Literar. W . " hat die skizzierte Umorientierung der Lit.wiss. weitreichende Konsequenzen. Denn Wertungen, geleitet von Motivationen, Wertvorstellungen und Normen (zur Definition der Unterschiede vgl. § 3 und § 5) wirken auf alle Handlungen im ,Sozialsystem Lit.' ein und bestimmen mehr oder weniger direkt die Gestalt des literar. Tex-

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Wertung, literarische

tes und seinen „Wert". Zum Problemfeld „literar. W . " gehören somit keineswegs nur textbezogene Werte und Wertungen, gar nur „literarische" als „ästhetische" im engern Sinn, sondern alle Arten, die im Sozialsystem Lit. handlungsleitend sein können. Johannes A n d e r e g g , Fiktion u. Kommunikation. E. Beitr. z. Theorie d. Prosa (1973). Thomas A n z u. Michael S t a r k , Lit.wissenschaftl. Interpretieren als regelgeleitetes Verhalten. Krit. Anmerkungen zu e. wiss. theoret. Projekt. D V L G . 51 (1977) S. 272-299. Amsterdamer B e i t r ä g e zur Neueren Germanistik. Hg. v. Gerd Labroisse. Bd. 3 (1974): Rezeption, Interpretation. Beiträge zur Methodendiskussion. Richard B r ü t t i n g u. Bernhard Z i m m e r m a n n (Hg.), Theorie, Literatur, Praxis. Arbeitsbuch z. Lit.theorie seit 1970 (1975). D a i c h e s 1969: vgl. § 9 . Lutz D a n n e b e r g u. Hans-Harald M ü l l e r , Bericht: Verwissenschaftlichung d. Lit.Wissenschaft. Ansprüche, Strategien, Resultate. Z. f. allgem. Wiss.theorie 10 (1979) S. 162-191. Teun A. v a n D i j k , Textwissenschaft. E. interdisziplinäre Einführung (1980; dtv. T b 4364). Umberto E c o , Das offene Kunstwerk (1973). Karl E i b l , Kritisch-rationale Lit,wiss.: Grundlagen z. erklärenden Lit.geschichte (1976; UTB. 583). Günther F e t z e r , Familienzwist oder Paradigmawechsel? Vier neue Publikationen z. Rezeptionsforschung. Sprachkunst 9 (1978) S. 333-340. Michael F r a n z , Literar. Zeichensituation u. poetolog. Bildbegriff. Weim. Beitr. 14 (1968) S. 715-753. G r i m m i n g e r 1972/73: vgl. § 2. Norbert G r o e b e n , Rezeptionsforschung als empir. Lit.Wissenschaft. Paradigmadurch Methodendiskussion an Untersuchungsbeispielen (1977; Empir. Lit.wiss. 1). Dietrich H a r t h , Annäherung an Grundbegriffe, in: Harth (Hg.), Propädeutik d. Lit.wiss. (1973; UTB. 205) S. 136-173. H a r t N i b b r i g 1974: vgl. § 10, 4/2. Eric Donald H i r s c h , Prinzipien d. Interpretation (1972; UTB. 104). Peter Uwe H o h e n d a h l , Prolegomena to a History of Literary Criticism. N e w German Critique 11 (1977) S. 151-163. Jens I h w e (Hg.), Lit.wiss. u. Linguistik. Ergebnisse u. Perspektiven. Bd. 1-3 (1971-1972). Roman I n g a r d e n , Dasliterar. Kunstwerk (1931; 3. Aufl. 1965). Hans Robert J a u s s , Lit.gesch. als Provokation (1970; Ed. Suhrk. 418). Moshe K a g a n , Vorlesungen z. marxistisch-leninist. Ästhetik (1974). Friedr. K a m b a r t e l u. Jürgen M i t t e l s t r a s s , Zum normativen Fundament d. Wissenschaft (1973; Wiss. Paperbacks. Grundlagenforschung. Studien 1). K a n z o g 1976: vgl. § 10, 4. Georg K l a u s , Kybernetik in philosoph. Sicht (3. Aufl. 1963). Rolf K l o e p f e r , Tendenzend. Lit.semiotik in d. Bundesrepublik Deutschland. E. erste Skizze. Romanist. Zs. f. Lit.gesch. 1 (1977) S. 247-264. K l o e p f e r 1979: vgl. § 2 . Jürgen K o l b e (Hg.),

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Wertung, literarische medium lit. 4) S. 27-45. Rainer W a r n i n g (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorieu. Praxis(1975;UTB. 303). Ders., Rezeptionsästhetik als lit.wiss. Pragmatik, in: R. Warning (Hg.), 1975, S. 9-42. Klaus W e i m a r , Enzyklopädie d. Lit.wiss. (1980; UTB. 1034). J. Z i m m e r m a n n 1980: vgl. § 11 b.

§ 2. Zum B e g r i f f „ l i t e r a r i s c h " . Der Begriff des ,Literarischen' ist ein „offener Begriff" (Weitz, ähnlich Kloepfer), für dessen Geltungsbereich nur historisch-diachron wie -synchron variable Bedingungen angegeben werden können und der nur in bezug auf bestimmte Gruppen der Sprachgemeinschaft in bestimmten Diskursen und Situationen festgelegt werden kann (Ihwe); er grenzt eine bestimmte Menge von Texten bzw. .Realisierungen' von Texten aus dem Bereich,Literatur' (im weiten Sinne) aus. Die Zuschreibung des Prädikats ,literarisch' muß daher auf der Basis der Kommunikationssituation (einer Art ,Rahmenkommunikation'), auf der Basis der m a t e r i a l e n T e x t ei g e n s c h a f t e n wie auf der Basis von R e z e p t i o n s h a l t u n g e n erfolgen; für jeden einzelnen dieser Bereiche gibt es, synchron wie diachron, verschiedene Konventionen, nach denen die Zuschreibung geregelt wird. Der Sprachgebrauch der im gegenwärtigen ,Sozialsystem Lit.' Handelnden ist im Prinzip an einem Begriff des Literarischen als „ästhetischer" Qualität ausgerichtet, wie er erst, in Ablösung von der Rhetorik, in der 2. H. des 18. Jh.s entwickelt worden ist, dann freilich viele Modifikationen erfahren hat; mit ihm ist in der Regel auch eine positive Wertzuweisung verbunden (vgl. §§ 7-9). In den Sprachgebrauch von .literarisch' einbezogen werden außerdem aber auch einerseits Texte, die in ihrem Entstehungs- und Gebrauchszusammenhang diesem „ästhet." Begriff des Literarischen, da sie vorher entstanden waren, noch nicht folgen konnten oder — als später entstandene — ihm nicht folgen wollten, gleichwohl aber literarisch-ästhetisch gelesen und beurteilt werden können (vgl. § 7), und andererseits solche, die durch begleitende Programmatik oder durch formale Kontrastparallelen sich innerhalb des ,Sozialsystems Lit.' diesem ästhet. Verständnis des Literarischen negativ oder konkurrierend entgegensetzen. Als , R a h m e n k o m m u n i k a t i o n ' , von der die Zuschreibung des Prädikats .literarisch' nahegelegt wird, kann vielerlei dienen: Institutionen, die sich ihrem Selbstverständnis nach auf

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,literar.' Texte im obigen Sinne beziehen, wie Lit.wiss., Lit.kritik, spezifisch ,literar.' Verlage, Archive, Gesellschaften und Vereine; Publikationsorte und -formen wie Theater und theatralische Präsentation, auch auf Markt und Straße, bestimmte Zeitungsspalten und Zeitschriften, Senderubriken in Funk und Fernsehen, Buch- und Heftaufmachungen; sodann Gattungskennzeichnungen zu Texten und Textsammlungen, aber auch zu mündlichen Vorführungen. Als T e x t m e r k m a l e , die traditionsgestützte, aber doch weder notwendige noch allein hinreichende Kriterien für literarisches' abgeben, fungieren Verssprache und Fiktionalitätssignale. Als R e z e p t i o n s h a l t u n g , die schon für sich allein die Zuschreibung des Attributs .literarisch' rechtfertigt, aber wiederum keineswegs eine dafür notwendige ist, kann wieder die ,ästhetische' gelten. Alles dieses kann also — muß aber nicht in jedem Falle — im gegenwärtigen , Sozialsystem Lit.' zur Zuschreibung des Attributs .literarisch' zu einem Text führen bzw. den Aufnehmenden zu einer .literar.' Rezeption disponieren, entsprechende Verhaltensweisen in ihm auslösen (Baumgärtner 1969 in Ihwe II/2, 1971). Es müssen jedoch die beiden Extremfälle, die den Rahmen für den Gebrauch von .literarisch' bilden, festgehalten werden: der Fall, daß ein Text allein oder überwiegend auf Grund seiner vom Autor gewollten oder vom Leser selbständig vollzogenen Einordnung in ein System literar. Verständigung, ohne jede Basis in Textmerkmalen, als .literarisch' klassifiziert wird, und der Fall, daß ein Text trotz zentraler Merkmale für .Literarizität' nicht in der von diesen Merkmalen programmierten Weise rezipiert wird (wie etwa der fiktionale Roman, den der Leser als Wirklichkeitsbericht mißversteht). Wer die nicht negativ sanktionierte, positive Funktionen tragende „Abweichung" von der „ N o r malsprache" für ein zureichendes Merkmal literar. Sprachverwendung hält (u. a. und am gründlichsten ausgearbeitet H . Fricke 1981), der verkennt, daß die „Normalsprache" ein linguist. Konstrukt ist und daß es eine Vielzahl von „abweichenden", besondere Funktionen erfüllenden Sondersprachen gibt, deren Gebrauch nicht negativ sanktioniert wird (u. a. Steinmetz). Auch die Theoretiker der „Abweichung" können nichts anderes tun, als die Konventionen literar. Sprachverwendung und ihre Spielräume zu charakterisieren, wobei sie durchweg die verengende Gleichsetzung von .literarisch' mit „poetisch" oder „ästhetisch" vollziehen.

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Mit nur zwei solcher Konventionen glaubt z. B. S. J . Schmidt (1971, 1980/2) auskommen zu können: mit der „Ästhetik"-Konvention, die besagt, daß ein literar. Text in seiner Realisation nicht unmittelbar auf Wirklichkeit bezogen werden darf (also einer Rezeptionsnorm) und mit der „Polyvalenz"-Konvention, die dem literar. Text auch situationsunabhängig prinzipiell Mehrdeutigkeit unterstellt (also einer Produktionsnorm); eine Konvention für die Kommunikationssituation fehlt. Bei der Suche nach ihr müßte die unzulässige Einengung des Geltungsbereichs für ,literar.' Texte zutage treten: Gebrauchssituationen sind (implizit) ausgeschlossen, jedenfalls solche, die entweder direkten Realitätsbezug oder Eindeutigkeit verlangen. Diesem Ausschluß widerspricht jedoch die Lit.gesch. (vgl. § 8): Als .literar.' Textrealisationen gelten aus der Perspektive der heutigen Lit.wiss. deshalb auch solche, die nach der Absicht des Autors oder nach dem Gebrauchszusammenhang sich entweder unmittelbar auf Realität beziehen (z. B. Gelegenheitsdichtung, viele Fälle satirischer, „operativer" Lit.) oder auch Texte, die eindeutige Botschaften vermitteln wollen, also nicht „polyvalent" zu rezipieren sind (außer den oben genannten Gruppen z.B. didakt. Lit. überhaupt, aber auch, auf Grund rhetorisch-stilist. Qualitäten, jurist. Kommentare, histor. Studien: Th. Mommsen erhielt 1902 den Nobelpreis für „Lit." wegen des Rangs seiner Darstellung). Mögen auch einige dieser Texte eine „ästhetische" Rezeption zulassen, der Konsens über den von S. J . Schmidt vertretenen Lit.begriff ist allein historisch zu erklären: mit der Ausblendung der rhetor. Komponente im Begriff des .Literarischen' durch die neuzeitliche Poetik, mit der Abspaltung der „Tendenzlit." durch die klassische „Autonomie-Ästhetik", mit der Verabsolutierung der Form durch die russ. Formalisten und einige Vertreter des linguist. Strukturalismus (oder durch deren verkürzte Rezeption) und mit der Reduktion der Erfahrung literar. Texte auf „ästhetische Erfahrung" im von S. J. Schmidt definierten Sinn (im Gegensatz etwa zu Jauß 1977). Für das Studium literar. W . ist daraus zu folgern: Der Begriff „literar. W . " ist, dem Sprachgebrauch entsprechend, auf „ W . von als .literarisch' eingestuften Texten" festzulegen; er muß sich jedoch auf die ganze Breite ,literar.' Textvorkommen erstrecken und darf, im Blick auf histor. W.sprozesse, aber auch auf die Gegenwart, den „literar." Wert keineswegs vorschnell als „ästhetischen" in der bekannten, aber problematischen Trias theoretischer, prakt. und ästhet. Werte identifizieren. Die theoret. und prakt. Erforschung „literar. W . " muß, gemäß den Ausführungen über die Allgegenwart von W . e n im .Sozialsystem Lit.', die sämtlich an der Textwertung mitwirken, alle

W.shandlungen und Wertvorstellungen in diesem System zu ihrem Gegenstand machen. Klaus B a u m g ä r t n e r , Der methodische Stand e. linguist. Poetik (1969), in: Jens Ihwe(Hg.) 1971, Bd. 2,2 (vgl. § 1) S. 371-400. Josef B i l l e n u. Helmut H. K o c h , Was will Literatur? Aufsätze, Manifeste u. Stellungnahmen dtsprachiger Schriftsteller zu Wirkungsabsichten u. Wirkungsmöglichkeiten d. Lit., Bd. 1: Von 1730-1917, Bd. 2: Von 1918-1973 (1975; UTB. 401. 402). Volker B o h n , Der Lit.begriff in d. Diskussion. Zur Abgrenzung d. lit.wiss. Gegenstandsbereichs, in: Bohn (Hg.), Lit.wissenschaft. Probleme ihrer theoret. Grundlegung (1980), S. 15-16. Harald F r i c k e , Norm u. Abweichung. E. Philosophie d. Lit. (1981; Beck'sche Elementarbücher). G a b r i e l 1975: vgl. § 3. Rolf G r i m m i n g e r , Abriß e. Theorie d. literar. Kommunikation. Linguistik u. Didaktik 3 (1972) S. 277-293; 4 (1973) S. 1-15. Jens I h w e , On the Validation ofText Grammars in the „Study of Literature", in: Jänos S. Petöfi u. Hanna Rieser (Hg.), Studies in Text Grammar (Dordrecht 1973) S. 300-348. Jauss 1977: vgl. § 7. Rolf K l o e p f e r , Fluchtpunkt,Rezeption', in: R. Kloepfer (Hg.), Bildung u. Ausbildung in d. Romania, Bd. 1: Lit.gesch. u. Texttheorie (1979), S. 621-657. Karl R i h a , E. Beitr. z. Diskussion um Fiction-Nonfiction-Lit. u. gleichzeitig: Vorläufige Bemerkungen zu e. neuen Lit.begriff in d. Lit.wiss., in: Kolbe 1973 (vgl. §1) S. 272-289. Siegfried J . S c h m i d t , Ästhetizität. Philosoph. Beiträge zu e. Theorie d. Ästhetischen (1971; Grundfragen d. Lit.wiss. 2). S c h m i d t 1980/82: vgl. § 1 . S t e i n m e t z 1974: vgl. §1. Morris W e i t z , The Role ofTheory in Aesthetics. Journal of Aesthetics and Art Criticism 15 (1956/57) S. 2735, Übers, von Hans Gerd Schütte in: W. Henckmann (Hg.), 1973 (vgl. § 7) S. 193-208.

§3. Zu Begriffsverwendung und F u n k t i o n s w e i s e von „ W e r t " und „Wert u n g " a l l g e m e i n . Grundlage der Beschreibung und begrifflichen Festlegung dessen, was mit den Wörtern „ W e r t " und „ W . " hier gemeint sein soll, ist eine Auswahl von theoret. Abhandlungen und (nach unterschiedlichen Wissenschaftsstandards) von „empirischen" Studien zur Wertfrage aus den verschiedensten Bereichen der Wertreflexion (von Theologie und Philosophie über die Sozialwissenschaften bis zu Sprach- und Lit.wiss.). Als brauchbarstes Instrument zu begrifflicher Klärung hat sich die insbesondere im angelsächsischen Raum ausgebildete sprachanalytische Wertphilosophie erwiesen, da sie nicht — oder doch nicht notwendig — für eine bestimmte Auffas-

Wertung, literarische sung oder Genealogie von „Wert" Partei ergreift und alle anderen Auffassungen der eigenen subsumiert, sondern eine Metasprache entwickelt hat, mit der eine Grundstruktur aller Wertungsakte und Wertsysteme trotz ihrer fundamentalen Unterschiede beschreibbar wird (vgl. die zusammenfassende Darstellung von Z. Najder 1975). Das aber eröffnet die Möglichkeit, in eine rationale Begründungsdiskussion einzutreten (§11). Formal lassen sich im wesentlichen drei Verwendungsweisen des Wortes „Wert", denen drei verschiedene Bedeutungen entsprechen, unterscheiden. Die wichtigste, im Wortsinn ,maßgebende' Bedeutung ist die des „ W e r t m a ß s t a b s " , des „Wertkriteriums" („axiologischer W e r t " bei Najder u.a.). Der axiologische Wert ist Voraussetzung für die beiden andern Bedeutungen von „Wert" als „ Q u a l i t ä t " , als „geschätzte Eigenschaft" eines Dinges (auch „Güterwert"), eines Handelns, eines Verhaltens, d. h. als Realisierung des betr. axiologischen Werts in ihnen (= „ a t t r i b u t i v e r W e r t " bei Najder) und als q u a n t i t a t i v e s M a ß für das, was oder wieviel ein Ding, ein Handeln, ein Verhalten „wert" ist (= „ q u a n t i t a t i v e r Wert"), d. h. wieviel eines axiologischen Wertes es realisiert; zur Ermittlung des quantitativen Werts ist stets ein Vergleich erforderlich, und er bleibt relativ auch zu der Art und Menge der verglichenen Dinge, Handlungs- und Verhaltensweisen. Die Zuordnung attributiver und quantitativer Werte zu axiologischen Werten geschieht allerdings innerhalb größerer, wenngleich meist durch Konventionen eingeschränkter Spielräume des Ermessens: z.B. ob der Wert „schön" eher durch diese oder jene Eigenschaft — und durch welche Menge davon, in welchem Verhältnis zu anderen Eigenschaften — am besten realisiert wird. Der „axiologische Wert" ist Voraussetzung der beiden andern Formen von Wert wieder auf zweierlei Weise: einmal so, daß er das Vorhandensein des „attributiven" oder „quantitativen" Werts erst begründet: nämlich dann, wenn auf Grund solch eines (bewußt oder unbewußt wirksamen) axiologischen Werts ein Ding erst hergestellt, eine Handlung vollzogen, ein Verhalten gewählt wird; der Wertmaßstab fungiert in diesem Fall als „ m o t i v a t i o n a l e r W e r t " (Najder) und begründet in der Regel Akte der Auswahl, der Entscheidung. Zum andern ist er Voraussetzung dafür, daß — im Werturteil — der „attributive" oder „quanti-

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tative" Wert an einer Sache, einem Handeln, einem Verhalten, erst erkannt und als Wert realisiert wird. Er fungiert als „ t h e o r e t i s c h e r W e r t " (Najder) oder Werterwartung und bestätigt oder kritisiert in der Regel bestehende Wertordnungen. Axiologische Werte treten im allgemeinen nicht einzeln, sondern in Bündeln auf, innerhalb derer Rangordnungen hergestellt werden müssen. Für beide Wirkungsweisen, die „motivationale" und die „theoretische", seien je zwei Beispiele aus dem ,Sozialsystem Lit.' angeführt, die auch das Spektrum möglicher axiologischer Werte und die Reichweite der von ihnen abhängigen Entscheidungen veranschaulichen. Beispiel 1: Zu den handlungsmotivierenden Werten eines Verlegers gehören im gedachten Fall die ökonomische Stabilität seines Unternehmens im Wettbewerb mit andern, also „finanzieller Erfolg"; der Wert „ästhetischen Geschmacks" (vgl. § 7) und der Wert „Volksverbundenheit". Das nach diesen Wertvorstellungen erzeugte Produkt, z . B . die Reihe Märchen der Weltliteratur im Eugen Diederichs Verlag, wird nun sorgfältig — nach hohem literarischen Anspruch, aber mit Rücksicht auf allgemeine Verständlichkeit — ausgewählte Texte in gediegener Ausführung als „attributive Werte" aufweisen; wegen des angezielten breiten, geschmacklich erst noch zu bildenden Abnehmerkreises und der erstrebten Rentabilität wird sich aber eine kostbare bibliophile Ausstattung, etwa mit Illustrationen modern-experimenteller Künstler, verbieten: im „quantitativen Wert" — nun gemessen allein am Kriterium „ästhetischer Geschmack" — würde ein Band der Reihe hinter einer solchen bibliophilen Ausgabe zurückstehen. Die gut erforschte Persönlichkeit von Diederichs läßt vermuten, daß er unter den übrigen motivationalen Werten den der geschmacksbildenden Volkstümlichkeit dem der ökonomischen Rentabilität, soweit das ohne Gefährdung der Firma möglich war, mindestens gleichgestellt hat; aber nur eine kaum mehr mögliche Analyse des Abnehmerkreises und der Absatzstatistik könnte zeigen, auf welchem Gebiet mehr an „quantitativem Wert" realisiert worden ist. Beispiel 2: Ein Autor, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und schwerer Kriegsgefangenschaft in einem ihm selbst kaum bewußten Ausmaß geistig-seelisch desorientiert, schreibt, „motiviert" vom axiologischen Wert „Lebenssinn", ein Gedicht. Die „attributiven Werte" dieses Gedichts werden, in Form und Gehalt, Ergebnis dieser Sinnsuche sein; sein „quantitativer Wert" wird sinnvollerweise weniger im Vergleich zu den Vorkriegsgedichten des Autors als zu Gedichten anderer Autoren seiner Generation, die mit vergleichbaren Intentionen schreiben, festgelegt werden (vgl. §9). (Das Beispiel macht

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deutlich, wie sich der quantitative W e r t mit A r t und Menge der verglichenen Texte ändern m u ß . ) Beispiel 3 : Ein professioneller Literaturkritiker in einem Sozialist. Staat verfügt über den axiologischen W e r t : „Festigung des gesellschaftlichen, Sozialist. Wertgefüges in einem bestimmten histor. Zustand, im Hinblick auf die Sicherung einer sozialist. Zukunft" als „theoretischen W e r t " ( z . B . Koch). Sofern ihm bei dem Geschäft, die entsprechenden „attributiven W e r t e " an gegebenen Werken aufzufinden und ihren „quantitativen W e r t " im Vergleich mit andern zu bestimmen, Schwierigkeiten entgegentreten, so nur, weil einerseits im axiologischen Wertgefüge des Sozialismus selbst gewisse („nicht-antagonistische"), die geschichtliche Dialektik in Bewegung haltende Widersprüche angelegt sind (Ausbildung der sozialistischen, kollektivistischen Gesellschaft vs Entfaltung der Persönlichkeit, Affirmation der bekannten sozialist. Werte vs kritische Uberprüfung ihrer histor. Adäquatheit und Entwicklung von neuen W e r ten u . a . ) , weil andererseits die „attributiven W e r t e " von Lit. hier — deutlicher als unter andern axiologischen Werten für Literatur — rein „instrumentell" eingesetzt sind, also die „Zweckmäßigkeit" jedes einzelnen „Mittels" immer mit beurteilt werden muß („technologische W e r t u n g " vgl. Prim/Tilmann 1975, 127). Beispiel 4 : Ein versierter, an anspruchsvolle Lit. gewöhnter Leser erbittet sich, auf dem Krankenlager, das eben erschienene Buch eines von ihm geschätzten Autors. Bald aber legt er es zur Seite und verlangt nach einem „ K r i m i " . Das Bündel axiologischer W e r te, nach dem er sonst Lit. zu beurteilen pflegt (etwa: „kritische Reflektiertheit", „originelle ästhetische Gestaltung" u. a.), ist in der Situation einem anderen („Ablenkung", „spannende H a n d l u n g " u . a . ) gewichen.

1. Die Beispiele verdeutlichen das Verhältnis von attributiven (qualitativen) wie quantitativen Werten an Gegenständen (bzw. Handlungen und Verhalten) zu axiologischen Werten: sie sind nur „ W e r t e in p o t e n t i a " , d.h. sie sind „objektiv-relativ" (Morris 1975), relativ zu „ P r ä f e r e n z v e r h a l t e n " in W e r t u n g s s i t u a t i o n e n . Gegenstandseigenschaften werden zu Werten nur, wenn sie Werterwartungen, Wertmaßstäben in Subjekten entsprechen; aber auch umgekehrt gilt, daß nur solche Wertmaßstäbe wirksam werden können, denen in der Erfahrung (von Gegenständen, Handlungen, Verhalten) irgendetwas entgegenkommt (und sei es die Erfahrung ihres Mangeins). Diese Beschreibung greift einer Entscheidung über den Charakter von Werten nicht vor; sie läßt im Spektrum der Möglichkeiten alles zu, von der utilitarischen Interpreta-

tion, nach der den als Wert erlebten Objekteigenschaften nur „Verstärkerfunktionen" (behavioristische Wertkonzepte) für die Wünsche der Subjekte zukommen, bis hin zu transzendentalen, ja transzendenten Deutungen, nach denen unter festgelegten (oder anthropologisch festliegenden) Erkenntnisbedingungen die Werte der Objektwelt erschlossen werden können oder in einer objektiven Seinsordnung statischer oder historisch-dynamischer Art eine positive oder eine enttäuschte Werterfahrung auf den Weltzustand antwortet (Uberblick bei Engelmayer). 2. Aus den Beispielen 1,3 und 4 geht hervor, daß a x i o l o g i s c h e W e r t e in Konflikt geraten können. Sie erscheinen, zur Konfliktvermeidung, entweder prinzipiell in H i e r a r c h i e n g e o r d n e t (Tendenz in Bsp. 1: Vorordnung des „ethisch-polit." [„Volksverbundenheit"] und des „ökonomischen", das „Überleben" sichernden, über den „ästhet." Wert; Tendenz in Beispiel 3: Vorordnung der kollektiven vor die individuellen Werte) oder sie werden s i t u a t i o n s a d ä q u a t v e r s c h o b e n (Bsp. 4: Vorordnung des momentanen, auf „Wohlbefinden" orientierten Ablenkungswerts vor den habituellen „ästhet." Wert). Die Fragen, ob solche generellen oder situativen Hierarchisierungen nicht von sog. „Letztwerten" wie „Überleben" (Macht, Herrschaft), „Lust" (im Grenzfall auch um den Preis des Untergangs), „Selbstverwirklichung" oder „Spiritualität" (auch um den Preis von Tod oder Askese) her entscheidbar werden, ja ob solche „Letztwerte" überhaupt stets in der skizzierten Weise antagonistisch gedacht werden müssen — und welchen Stellenwert unter ihnen dabei literar. und speziell ästhet. Werte einnehmen — sind kaum generell zu beantworten (§§7-11). Auf die axiologische Wertorientierung einer Person (oder Gruppe) bezogen, empfiehlt sich die terminologische Unterscheidung von „Letztwerten", davon abgeleiteten „habituellen Werten" und „Situationswerten". 3. In Bsp. 3 deutet sich eine von der Systemtheorie ausgearbeitete Möglichkeit an, daß W e r t e in S t e u e r u n g s f u n k t i o n nicht nur für Personen (bzw. das personale „System"), sondern für g e s e l l s c h a f t l i c h e S y s t e m e , Subsysteme und deren Teilsysteme — wie etwa das ,Sozialsystem Lit.' und seine Untergliederungen — auftreten können (Parsons 1951, modifiziert Luhmann 1973, vgl. Behrmann). Bisher gilt zumindest das „Uberleben", also die

Wertung, literarische Bestandssicherung eines Systems, als ein solcher Wert, mit entsprechenden Organisationsund Handlungsfolgen im Systemwandel. Das ,Sozialsystem Lit.' als ganzes paßt sich, im oben genannten Fall, innerhalb eines gewissen Spielraums an das gesamtgesellschaftl. System des Sozialismus an, indem es, dem „Uberleben" Rechnung tragend, einige der bisher in ihm geltenden axiologischen Werte modifiziert. Gegebenenfalls müssen sich aber auch die individuellen und gruppenspezifischen Leitwerte der im ,Sozialsystem Lit.' handelnden Personen an die Überlebensbedingungen dieses Systems in seinem Wandel anpassen. (Zu Art und Grad der Vermittlung von „Systemwerten" und personalen Werten vgl. § 5 u. § 6, aber auch § 8). 4. Ihrem Gehalt nach können a x i o l o g i s c h e W e r t e sehr u n t e r s c h i e d l i c h e r A r t sein: sie können Zustände betreffen wie Glück, Sinn, Frieden, Wohlstand, Ehre, Weisheit, aber auch Verhaltenstypen wie Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Treue; sie beziehen sich auf formale Relationen wie Zusammenhang, Harmonie, Schönheit, Spannung, aber auch auf inhaltliche Relationen wie Wahrheit, Adäquatheit. O b das triadische Schema von theoretischen, prakt. (ethischen) und ästhet. Werten ausreicht, diese Vielfalt zu strukturieren und klare Abgrenzungen zu ermöglichen, ist unter Werttheoretikern umstritten. Strittig ist insbesondere, ob sich alle axiologischen Werte als a b h ä n gige V a r i a b l e v o n B e d ü r f n i s s e n interpretieren lassen (Behaviorismus, Marxismus) o d e r ob mindestens einige davon dem Menschen — sei es auf anthropologischer, transzendentaler oder transzendenter Basis — als unbedingtes S o l l e n entgegentreten. Im ersten Falle gilt es nur, ein funktionelles Ziel zu erreichen, im zweiten ist Entscheidungsfreiheit vorausgesetzt. Einige Autoren wollen überhaupt nur solchen den unmittelbar-natürlichen Bedürfnissen entgegengesetzten, verbindlichen Forderungen den Terminus „Wert" zugestehen (Engelmayer u.a.). Die meisten begnügen sich mit einer schwächeren Abgrenzung von „ W e r t " gegenüber „Bedürfnisziel": „Werte" sollen nur solche (bedürfnisbezogenen) Handlungsorientierungen heißen, die prinzipiell jedermann zugemutet werden. 5. In diesem Zusammenhang kann auch das V e r h ä l t n i s der Begriffe „ W e r t " und „ F u n k t i o n " geklärt werden: immer dann, wenn ein „Wert" als Mittel eingesetzt oder an-

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gesehen wird, sei es zur Befriedigung eines Bedürfnisses oder zur Erreichung eines anderen, höheren Werts, wenn er also als „instrumenteil", „technologisch" oder „funktional" erscheint, kann der Begriff „Wert" durch den der „Funktion" ersetzt werden. Attributive und quantitative Werte sind also immer funktional zu axiologischen, axiologische Werte können „Funktionen" in bezug auf höhere Werte sein, und nur die sog. „Letztwerte" entgehen dieser Gleichsetzung, wenn sie als absolute Gebote (mit der Implikation der Freiheit) und nicht als „Funktion" des „Uberlebens" eines Systems — sei es das des Individuums oder das der Gesellschaft — interpretiert werden. In einem strengen Sinne verdienen daher in der Tat nur Letztwerte, die als verpflichtend gedacht sind, in Konkurrenz mit dem Begriff „Funktion" den Namen des „Wertes". Unabhängig von einer Entscheidung darüber läßt sich die formale Bedeutung des Wortes „ W . " festlegen: als „ W e r t u n g ist jene Handlung zu verstehen, in der auf Grund eines axiologischen Wertes (oder einer Mehrzahl von solchen) in Akten des Auswählens und Vorziehens attributive und quantitative Werte zugeteilt werden. „ W . " ist „Präferenzverhalten" (Morris). W.en kommen in zwei Formen vor: als „ m o t i v a t i o n a l e " (praktische) bestimmen sie ein von außen beobachtbares Wahrnehmen, Verhalten und Handeln, in dem etwas einem anderen entweder auf Grund nicht weiter reflektierter Bedürfnisse, Gefühle oder Wertvorstellungen, oder auch auf Grund vergleichender Überlegungen, vorgezogen wird; als „ t h e o r e t i s c h e " , als begründete oder begriindbare Äußerungen, stellen sie sprachliche „Werturteile" auf Grund bewußter Wertvorstellungen dar (Najder). In den W.sprozessen innerhalb des ,Sozialsystems Lit.' finden sich beide Formen. „Motivationale" Wertungen können durch Interpretation in „theoretische" überführt werden. Im ,Sozialsystem Lit.' führen die m o t i v a t i o n a l e n W e r t u n g e n d e r A u t o r e n zu den Eigenschaften der Texte, die für den Autor dessen attributive Werte ausmachen. Wie prinzipiell bei jeder indirekten, medialen Kommunikation, bei der die Chance der Rückäußerung des „Empfängers" der Nachricht nicht besteht, hat aber der Autor, der „Sender", keine Möglichkeit, das „adäquate" Verstehen seiner Äußerungen und damit auch der von ihm intendierten attributiven Werte (und des quantitati-

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ven Werts) durch Korrektur der Rückäußerung, legitimierende Argumente u.a. zu sichern (Gabriel). Einige in der Neuzeit zunehmend eingesetzte spezielle Möglichkeiten literar. Darstellung („Polyvalenz", vgl. § 2) vergrößern die „Unbestimmtheit" (Iser) auch des Wertpotentials der Texte. Motivationale Wertungen bestimmen auch die meisten, nämlich alle nicht sprachlich artikulierten Umgangsformen a n d e r e r Personen mit dem Text. Sie realisieren dabei — auf Grund ihrer eigenen motivationalen Wertstruktur — möglicherweise ganz andere attributive Werte als der Autor. Während dieser z. B. an erster Stelle seine Erfindung einer neuen künstlerischen Form, die einer neuen Einsicht adäquate Gestalt verleihen soll, hochwertet, schätzt der Verleger vielleicht die Urbane Art der Originalität dieses Werks, die ihm zwar Prestige als Avantgarde-Verleger einbringt, aber auch einen nicht zu kleinen Abnehmerkreis verspricht; ein Leser wiederum liebt diesen Text, weil er ihm persönlich - in einer Lesart, die der Autor vielleicht gar nicht in Betracht gezogen hat — ein Problem lösen hilft, und ein anderer Autor schließlich kann den Text als Anregung für eigene schöpferische Arbeit gebrauchen.

Erst der Lektor, derein Werk zur Publikation auswählt, der Lit.kritiker, der eine Rezension schreibt und der Leser, der sich ausdrücklich Rechenschaft über den „Wert" des Textes geben will, stoßen zu „ t h e o r e t . " W.en vor, denen aber, bei der Konstitution der Textbedeutung im Leseakt, bereits meist unkontrolliert bleibende motivationale W.en (gegen Frye) vorausgehen. Am ehesten könnte der Lit.Wissenschaftler eine „theoret. W . " nach seinen eigenen, offen dargelegten axiologischen Werten aussprechen, nachdem er alle .attributiven Werte in potentia' durch eine möglichst vollständige Analyse aller Textelemente, im histor. Kontext wie im Horizont der Gegenwart, (re)konstruiert und die den Autor, bewußt oder unbewußt, motivierenden axiologischen Werte als „theoretische" expliziert hätte. Neben solchen axiologischen Werten, die von Autoren und Lesern im literar. Werk bzw. in ihrer jeweiligen Realisation des Werkes verwirklicht werden, steht mit dem „ästhetischen" Wert (s. § 7) ein W e r t , der sich auch ausschließlich im r e f l e x i v e n G e n u ß eines H a n d e l n s , des Produzierens oder Rezipierens, verwirklichen kann. In diesem Fall muß weder die Produktion in einem abgeschlossenen Werk noch die Rezeption in einem abge-

rundeten Ergebnis enden: der attributive (und der quantitative) Wert liegen im Prozeß des ästhet. Genusses selbst, der nach Jauß (1977) durch die traditionellen Dimensionen von Poiesis, Aisthesis und Katharsis, aber auch davon abweichend und darüber hinausgehend charakterisiert werden kann. Theorien der ästhet. Erfahrung, des ästhet. Urteils können auch die hier zugrundeliegenden motivationalen Werte in theoretische überführen. Die motivationalen W.en im ,Sozialsystem Lit.' sind Gegenstand einer beobachtenden und interpretierenden Psychologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft, die theoret. W.en dagegen fallen ins Gebiet des Werttheoretikers. Weitere Aufschlüsse sind für ihn aus der Analyse des „Sprechakts" des Bewertens zu gewinnen, und insbesondere des Bewertens von sprachlichen Resultaten von Wertungsakten: von Texten. Arno B a r u z z i , Werte u. Normenbildung, in: H . Klages u. P. Kmieciak (Hg.) 1979 (vgl. § 5) S. 437-443. Günter C. B e h r m a n n , Handlungstheorie oder Gesellschaftstheorie? Zur Einf. in soziolog. Handlungstheorien, in: Sasse/Turk (Hg.) 1978 (vgl. § 1) S. 9-52. D a u e n h a u e r 1971: vgl. § 11 b. Irenaus E i b l - E i b e s f e l d t , Grundriß d. vgl, Verhaltensforschung (1967; 6., Überarb. u. erw. Aufl. 1980). Otto E n g e l m a y e r , Einf. in d. Wertpsychologie (1977). Northrop F r y e , Contexts of Literary Evaluation, in: J . Strelka (Hg.) 1969 (vgl. § 10) S. 14-21. Gottfried G a b r i e l , Fiktion u. Wahrheit. E. semant. Theorie d. Lit. (1975; problemata 51). Norbert G r o e b e n u. Brigitte S c h e e l e , Argumente für e. Psychologie d. reflexiven Subjekts (1977; Psychologie u. Ges. 4), Kap. III. Erich H a h n , Werte, Klassenstandpunkt, Weltanschauung. Einheit, Jg. 33, Bd. 7/8 (1978) S. 805-812. Karl Otto H o n d r i c h , Menschliche Bedürfnisse u. soziale Steuerung. E. Einf. in d. Sozialwissenschaft (1975; rororo Studium 68). Wolfgang I s e r , Die Appellstruktur d. Texte. Unbestimmtheitals Wirkungsbedingung literar. Prosa (1970; Konstanzer Univ.reden 28). Ders., Der Akt d. Lesens. Theorie ästhet. Wirkung (1976; U T B . 636). J a u s s 1977: vgl. § 7 . Milos J u z l , Über die Beziehung zw. Erkenntnis u. Wertung. Axiologische Aspekte in d. Ästhetik, ZfÄsth. 14 (1969) S. 188-236. Peter K m i e c i a k , Wertstrukturen u. Wertwandel in d. Bundesrepublik Deutschland. Grundlagen e. interdiszipl. empir. Wertforschung mit e. Sekundäranalyse von Umfragedaten (1976; Schriften d. Komm. f. wirtschafte u. sozialen Wandel 135), bes. S. 24-230. Hans K o c h , Werte d. Sozialismus u. d. Sozialist. Kultur. Weimar. Beitr. 26 (1980) H . 10, S. 6-22. K o r t h a l s - B e y e r l e i n 1979: vgl. § 5 . L a u t -

Wertung, literarische mann 1969: vgl. § 5. Hans Lenk, Handlungserklärung u. Handlungsrechtfertigung unter Rückgriff auf Werte, in: Lenk (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Bd. 2,2 (1979), S. 597-616. Niklas Luhmann, Zweckhegriff u. Systemrationalität (1968; neue Ausg. 1973; SuhrkTbW. 12). Abraham H. Maslow (Hg.), New Knowledge in Human Values (New York 1959). Ders., A Theory of Metamotivation: The Biological Rooting of the Value-Life. Journal of Humanistic Psychology 7(1967) S. 93-127. Morris 1975: vgl. § 4. Zdislaw Najder, Values and Evaluations (Oxford 1975). Ernst Oldemeyer, Zum Problem d. Umwertung von Werten, in: Günter Ropohl (u. a.), Maßstäbe d. Technikbewertung. Hg. v. Ver. Dt. Ing. (1978) S. 11-63. Oldemeyer 1980: vgl. §7. Parsons 1951: vgl. § 1. Stephen C. Pepper, TheSourcesof Value (Berkeley 1970). Primu. Tilmann2. Aufl. 1975: vgl. § 4. MargretScholl-Schaaf, Werthaltung u. Wertsystem. Ein Plädoyer für die Verwendung d. Wertkonzepts in d. Sozialpsychologie (1975). Schulte-Sasse 1976: vgl. §10. Zimmerli 1979: vgl. § l l a . § 4 . D e r S p r e c h a k t des B e w e r t e n s u n d die V o r a u s s e t z u n g e n seines G e l i n g e n s . Die Sprechakttheorie, eine an die Sprachspieltheorie des späten Wittgenstein anschließende Richtung der analyt. Erforschung von Alltagssprache (John L . Austin, John R . Searle u. a.) setzt bei der Beobachtung an, daß beim G e b r a u c h d e r S p r a c h e unterschiedliche Handlungen („Sprechakte") ausgeführt werden, mit denen unterschiedliche Ziele erreicht werden können. In einer einzelnen Äußerung können sich auch mehrere Typen von Sprechakten überlagern, von denen in der aktuellen K o m munikation, gebunden an die Absichten des Sprechers, die Dispositionen des Hörers und die Situation je verschiedene dominieren können. Schon Karl Bühler hatte drei Leistungen der Sprache unterschieden, die er zunächst „Kundgabe", „Auslösung" und „Darstellung" nannte (1918), dann „Ausdruck", „Appell" und „Darstellung" (1934). .Werten' stünde hier zwischen „Ausdruck" von der Seite des Sprechers und „Appell" an die Seite des Adressaten, spielt aber auch subdominant bei der „Darstellung" mit. Da ein literar. Text selbst ein wertender Sprechakt ist, können in der Textwertung immer die drei Dimensionen — sein „Wert" für den Sprecher, sein „Wert" aus der Wirkung auf den Leser oder Hörer und sein „Wert" als „modellbildendes System" (Lotman) in bezug auf Realität — bewertet werden. Die beiden ersten Werte hängen zwar mit dem dritten zusammen, sind aber nicht allein von ihm

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abhängig: ein nach intersubjektiven Maßstäben der jeweiligen Kommunikationssituation .falsches' Modell der Realität kann für Autor wie Rezipienten durchaus .wertvoll' sein, und nicht nur deshalb, weil die Form der Darstellung als der eigentliche „Wert" angesehen würde. In Gebrauchssituationen können literar. Form, so unentbehrlich sie gerade auch da ist, wie spezifische Gehalte der Darstellung ganz hinter dem rituellen, repräsentativen oder geselligen Wert zurücktreten. Die Einteilung der Sprechakte geschieht bei A u s t i n und S e a r l e nicht ganz parallel: Austin spricht vom „lokutionären" Akt, wenn eine sprachliche Äußerung über einen Sachverhalt gemacht wird; Searle unterscheidet hier noch einmal die reine Laut- und Satzgestalt als „Äußerungsakt" vom „propositionalen A k t " , durch den auf den Sachverhalt verwiesen und dieser charakterisiert wird (Referenz und Prädikation). Zugleich mit „ L o k u t i o n " oder „Proposition" werden aber noch Handlungen ausgeführt, die den Sachverhalt behaupten, versprechen, infragestellen, fordern u. a.: sogenannte „ i l l o k u t i o n ä r e A k t e " . Zu ihnen gehört auch (gegen Holly) das Bewerten, jedenfalls in allen Fällen, in denen nicht nur „valuativ" oder „appraisiv" eine Bevorzugung ausgedrückt, sondern auch „präskriptiv" ein Geltungsanspruch erhoben wird (Morris 1964). Wie bei allen illokutionären Akten kann (nach Austin) die „illokutionäre Rolle" des betr. Sprechakts explizit gemacht werden: ,Ich bewerte diesen Text als ein in sich stimmiges, als ein humanitäres Werk', oder sie ist implizit in der deskriptiven Behauptung: ,Dieser Text ist ein in sich stimmiges, ein humanitäres Werk'. Als weiterer Sprechakttyp gilt (wieder für beide Autoren) der „ p e r l o k u t i o n ä r e " : E r liegt vor, wenn die Äußerung beim Hörer eine Wirkung erzielt, die zu einer Verhaltensweise führt. In der Regel wird „bewerten" vom Sprecher auch als „perlokutionärer A k t " intendiert sein; ob dieser zustande kommt, hängt aber auch vom Hörer bzw. Leser ab (Track, Holly). Sprechakte sind „institutionelle Tatsachen" (Searle), Systeme konstitutiver Regeln, von deren Beachtung das Gelingen des jeweiligen Sprechaktes abhängt. Für den illokutionären Sprechakt des Wertens (also eine „theoret." W . ) ist charakteristisch, daß er stets mit Bestandteilen des Beschreibens einhergeht, auf einer (ggf. impliziten) Auffassung von einem Sachverhalt aufruht, eine illokutionäre „ B e hauptung" enthält (J. Zimmermann; zur Text-

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wertung vgl. Beispiele aus § 3). Das bewertende Moment an einer Beschreibung ist am besten daran zu erkennen, daß die betreffende Aussage als Argument oder Anreiz für eine Entscheidung oder Wahl verwendet wird, eine „Präferenzeinstellung" (Holly) ausdrückt. Der Hauptunterschied zwischen Beschreibungen und W.en liegt aber in der Verifikationsmethode: Beschreibungen werden durch Bezug auf Erfahrung, besonders auf die durch anerkannte wissenschaftliche Verfahren gesicherte Erfahrung, gestützt, W.en durch Bezug auf axiologische Werte, nur im Verein mit Behauptungen über Sachverhalte, also mit beschreibenden Aussagen (Najder, auch Prim/Tilmann; zur Problematik der Übertragung auf Kunstwerke vgl. J . Zimmermann S. 169-178). Die erste Bedingung für das Gelingen eines bewertenden Sprachakts ist also die Ü b e r e i n s t i m m u n g ü b e r d e n zu bewertenden S a c h v e r h a l t , und in Konsequenz dessen über die gegebene Auffassung und prakt. Durchführung von Wissenschaft, die für die Richtigkeit der Beschreibungen verantwortlich ist. Angewandt auf literar. W . heißt das: Der häufige Dissens in dieser W . folgt in hohem Maße bereits aus der unterschiedlichen Auffassung der Erfahrung, der W.sbasis — sei dies nun der (wertend rezipierte) Text allein, oder der Text im Zusammenhang mit einer (ebenso in wertender Interpretation erst aus Dokumenten konstituierten) historischen ,Realität' — und der unterschiedlichen Einschätzung wiss. Methoden, die möglicherweise eine intersubjektive Wertungsbasis schaffen könnten. Die für viele Forscher im Werturteil implizierte allgemeine Geltung (im Falle des ästhet. Urteils: allgemeine Beistimmung) erscheint angesichts dieser Sachlage als illusionär. (Zum scheinbaren Gegenbeispiel, dem Kanon der „Weltliterat u r " , vgl. § 9 ) . Die zweite Bedingung für das Gelingen eines bewertenden Sprechakts ist die U b e r e i n s t i mm u n g in b e z u g a u f d e n a x i o l o g i s c h e n W e r t (oder die Gruppe axiologischer Werte), nach denen geurteilt werden soll. Diese Ubereinstimmung muß sich nicht nur auf Begriffe beziehen ( z . B . „ästhet. Qualität", „innere Stimmigkeit", „Humanität", „ L e b e n " , „Sozialist. Realismus" u. a.), sondern bis in Details auf die Interpretation dieser Begriffe, sodann auf die Hierarchie — mindestens die „habituell e " —, in welcher die axiologischen Werte stehen, und auf die attributiven „instrumenteilen"

Werte, die als adäquate Entsprechungen, Realisierungen des axiologischen Werts, der axiologischen Werte akzeptiert werden. Das Gelingen des bewertenden Sprechakts setzt also entweder eine bestehende Gemeinsamkeit des Wertsystems (bezogen auf das jeweilige O b jekt) zwischen den sich über den „ W e r t " Verständigenden, oder die Bereitschaft voraus, für den gegebenen Fall das Wertsystem des Anderen zu übernehmen. (Zur Möglichkeit der Legitimation axiologischer Werte vgl. § 11). Für literar. W . besteht heute nicht einmal unter den Fachleuten eine Übereinstimmung in bezug auf den axiologischen Wert (vgl. § 10); doch auch wenn, wie am häufigsten, der „ästhet." Wert als der wichtigste angesehen wird, bleiben seine Auslegungen kontrovers, und sein Nachweis durch attributive Werte erfolgt in einem weiten Spielraum zwischen kulturanthropologisch fundierten und konventionalisierten Präferenzen (vgl. § § 7 , 10 und I I b ; illustrativ: Remak, §9). Die Erfülltheit einer dritten, generell für das Gelingen von Sprechakten geltenden Bedingung, der „ A u f r i c h t i g k e i t " , könnte die Möglichkeit begünstigen, sich auf das Wertsystem des anderen einzulassen. (Zu weiteren Bedingungen des Gelingens der Bewertung vgl. Zillig, 5.4). John L. Austin, Zur Theorie d. Sprechakte. Dt. Bearb. v. Eike v. Savigny (1972; Reclam UB 9396; engl.: How to Do Things with Words, Oxford 1962). Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion d. Sprache (1934; 2. Aufl. 1965). Werner Holly, Sind Bewertungen ansteckend? Bemerkungen zu Sagers Aufsatz über Bewertungen. Z. f. germanist. Linguistik 10 (1982) S. 58-62. Lotman 1972: vgl. §7. Charles W. Morris, Bezeichnung u. Bedeutung. E. Unters, d. Relationen von Zeichen u. Werten (1964), in: Morris (1975), S. 195-319. Charles W. Morris, Zeichen. Wert. Ästhetik, Eingel. u. hg. v. Achim Eschbach (1975). Rolf Prim u. Heribert Tilmann, Grundlagen e. kritisch-rationalen Sozialwissenschaft. Studienbuch z. Wiss.theorie (4., durchges. Aufl. 1975; UTB. 221), bes. 7. Arbeitseinheit: W.en u. Werturteile in d. Sozialwissenschaften. Remak 1981: vgl. § 9. Sven Frederik Sager, Sind Bewertungen Handlungen? Zs. f. germanist. Liguistik 10 (1982) S. 38-57. John R. Searle, Sprechakte. E. sprachphilosoph. Essay (1971; engl. Cambridge 1969). Track 1977: vgl. § IIa. Werner Zillig, Bewerten. Sprechakttypen d. bewertenden Rede (1982; Linguist. Arbeiten 115). J. Zimmermann 1980: vgl. § IIb.

Wertung, literarische § 5 . „ W e r t " und „ N o r m " ; N o r m e n , R o l l e n und S a n k t i o n e n . Gemeinsame Wertsysteme von Gruppen sind in bezug auf polit. und soziale Wertsetzungen in soziologischen und ethnologischen Studien über „ N o r m e n " und „Normsysteme" einer Gesellschaft häufiger erforscht worden (C. Kluckhohn, F. Kluckhohn, Klages/Kmieciak (Hg.), Kmieciak u. a.). Die Beschreibung gruppenspezifischer literar. Wertsysteme steckt dagegen erst in den Anfängen (Resultate liegen vor für die „Meistersinger" und die Sozialist. Arbeiterschaft, vgl. §§ 6 und 8), da die lit.wiss. Wertforschung lange auf allgemeingültige Werte fixiert war (vgl. § 1 0 ) . Der U n t e r s c h i e d z w i s c h e n „ W e r t " u n d „ N o r m " wird in den verschiedenen Disziplinen auf unterschiedliche Weise getroffen. Wer „ W e r t e " einem Handeln nach freier Entscheidung zuordnet, bezieht „ N o r m e n " auf determinierte oder nicht reflektierte Verhaltensmuster; nach anderer Auffassung kann ein „ W e r t " rein individuelle Uberzeugung sein, während eine „ N o r m " von einem Kollektiv geteilt werden muß. In bezug auf sprachliche Normen unterscheidet H . Fricke (1981) N o r m als statist. Befund (die am häufigsten befolgte Regel), Norm als Institution (die Regelverletzung wird durch Sanktionen geahndet) und N o r m als Konsens (der Betroffene akzeptiert freiwillig die Sanktion); nur im letzten Fall will Fricke von einer gültigen sprachlichen - und erst recht literar. — N o r m sprechen. Doch in den am gründlichsten durchdachten, die meisten Definitionsansätze integrierenden soziologischen Arbeiten (Lautmann, Popitz) wird der Begriff „ N o r m " im Gegensatz zu „ W e r t " an S a n k t i o n e n g e b u n d e n : Ein „ W e r t " wird zur „ N o r m " immer dann, wenn das ihm folgende Handeln positive oder negative Sanktionen nach sich zieht. An dieser Abgrenzung soll auch festgehalten werden, selbst wenn für das ,Sozialsystem Lit.' daraus gewisse Schwierigkeiten entstehen und die Grenzen oft nicht scharf zu ziehen sind (vgl. § 6). Unterscheidungen im Normbegriff bestätigen im übrigen die Unterscheidung zwischen „motivationalen" und „theoret." Werten ( § 3 ) : den ersten entsprechen „Aufforderungsnormen", den zweiten Normen als „Bewertungsstandards" (Spittler, Korthals-Beyerlein). Die F u n k t i o n v o n N o r m e n ist Ermöglichung und Stabilisierung des menschlichen Zusammenlebens. Normen gelten freilich nur in

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abgegrenzten Kollektiven, der „Normsender" (Popitz 1980) kann nicht sicher sein, in welchem Umfang die Normen wirklich befolgt, die Befolgung positiv, die Abweichung negativ sanktioniert wird. Denn keineswegs immer ist der Normsender auch das Subjekt der Sanktionen (wie im Falle staatlich verordneter N o r men); häufiger liegt die Verantwortung für die Sanktionen bei der „Gruppenöffentlichkeit" (Popitz 1980) selbst, die sich den entsprechenden Normen unterstellt, weil sie die durch sie vertretenen „ W e r t e " teilt. Die Geltung vieler Normen ist außerdem — wie die von Werten auch — auf S i t u a t i o n e n bezogen; spezifische „Institutionalisierungen" von Normen machen das Verhalten der handelnden Personen füreinander in einer Situation erwartbar. Den Handelnden werden bestimmte R o l l e n , komplexere, aber überschaubare Handlungs- und Verhaltensmuster, zugemutet. Jedes Individuum kann in verschiedenen Situationen und Beziehungen verschiedene Rollen übernehmen, ggf. sogar mehrere gleichzeitig. Für das Rollenhandeln im ,Sozialsystem Lit.' ist die (allgemein geltende) Einsicht grundlegend, daß Rollennormen — und entsprechend die Sanktionen bei der Abweichung — dem Handelnden ganz unterschiedliche S p i e l r ä u m e lassen. Nach einer Typologie von P. Dreitzel, die für Interaktionen im Lit.bereich freilich erst zuzurichten wäre (Ansätze bei Jauß 1977, S. 190-200), verlangen oder gestatten insbesondere „Gestaltungsnormen" dem Handelnden eine hohe „Ich-Leistung" bei der Interpretation dessen, was die Rolle ihm abfordert; auch der Grad der Identifikation kann variieren. J e weniger soziale Situationen, zu denen auch der Umgang mit Lit. gehört, institutionalisiert und normativ geregelt sind, desto mehr wird das Handeln zu einer kreativen, an individuellen Werten orientierten, normenschöpfenden und interpretierenden Aktivität. Nach Kriterien wie Art und Verbindlichkeit von Normen lassen sich verschiedene histor. Stadien des ,Sozialsystems Lit.' sowie verschiedene ,Teilsysteme' in ihm abgrenzen (§§ 6 und 8). Es scheint, daß das .Sozialsystem Lit.' in seinen verschiedenen Bereichen unterschiedlich auf die gesellschaftlichen Normbildungsund Normumbildungsprozesse reagiert. B e r g e r / L u c k m a n n 5. Aufl. §10,5. Hans Peter D r e i t z e l , Die Leiden u. d. Leiden an d. Gesellschaft. gie d. Alltags (1968; 3., neubearb.

1977: vgl. gesellschaftl. E. PatholoAufl. 1980;

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Wertung, literarische

Göttinger Abhandlgn. z. Soziologie u. ihrer Grenzgebiete 14). E n g e l m a y e r 1977: vgl. § 3 . Uta G e r h a r d t , Rollenanalyse als krit. Soziologie (1971; Soziolog. Texte 72). F r i c k e 1981: vgl. § 2 . G ü n t h e r 1971: vgl. § 7 . H o n d r i c h 1975: vgl. § 3 . J a u s s 1977: vgl. § 7. H e l m u t K l a g e s u . Peter K m i e c i a k (Hg.), Wertwandel u. gesellschaftl. Wandel (1979). Clyde K l u c k h o h n , Culture and Behaviour (New York 1962). Florence R. K l u c k h o h n u. Fred L. S t r o d t b e c k , Variations in Value Orientations (Evanston/Ill. 1961; repr. Westport, Conn. 1973). K m i e c i a k 1976: vgl. § 3 . René K ö n i g , Das Recht im Zusammenhang d. sozialen Normensysteme, in: Seminar Abweichendes Verhalten I: Die selektiven Normen d. Gesellschaft, hg. v. Klaus Lüderssen u. Fritz Sack, Bd. 1 (1975; SuhrkTbW. 84) S. 186-207, auch in: Kölner Z. f. Soziologie u. Sozialpsychologie, Sonderh. 11 (1967)S. 36-53. G a b r i e l e K o r t h a l s - B e y e r l e i n , Soziale Normen. Begriffliche Explikation u. Grundlagen empir. Erfassung (1979; Krit. Information 86). Reinhard K r e c k e l , Soziologisches Denken. E. krit. Einf. (1975; UTB. 574). Zum Rollenkonzept: S. 162-181. Rüdiger L a u t m a n n , Wert u. Norm. Begriffsanalysen für d. Soziologie (1969; Dortmunder Schriften z. Sozialforschung 37). L e n k 1979: vgl. § 3 . Niklas L u h m a n n , Normen in soziolog. Perspektive. Soziale Welt 20 (1969) S. 28-48. George Herbert M e a d , Geist, Identität u. Gesellschaft aus d. Sicht d. Sozialhehaviorismus (1968; 4. Aufl. 1980; SuhrkTbW. 28; amerikan. Ausg. Chicago 1934). Ders., Die Genesis d. Identität u. d. soziale Kontrolle (1924/25), in: G. H . Mead 1980, S. 299-328. Ders., Gesammelte Aufsätze, hg. v. H . Joas, Bd. 1 (1980). Ders., Die soziale Identität (1913), in: Mead 1980, S. 241249. Ders., Soziales Bewußtsein u. d. Bewußtsein von Bedeutungen, in: Mead 1980, S. 210-221. Robert K. M e r t o n , Social Theory and Social Structure (Rev. and enl. ed. Glencoe 1957). Richard T. M o r r i s , A Typology of Norms. American Sociological Review 21 (1956) S. 610-613. Talcott Pars o n s u. Edward A. S h i l s (Hg.), Towarda General Theory of Action (Cambridge/Mass. 1951; 5. pr. 1962). Heinrich P o p i t z , Die normative Konstruktion von Gesellschaft (1980). Ders., Soziale Normen. Archives Européennes de Sociologie 1 (1960) S. 185-198. S c h l a f f e r 1974: vgl. §10,4. Gerd S p i t t l e r , Norm u. Sanktion: Untersuchungen zum Sanktionsmechanismus (1967). S u h r 1979: vgl. § 7 .

§6. W e r t e , N o r m e n und R o l l e n im , S o z i a l s y s t e m Lit.'. Werte und W. sind an drei Stellen im ,Sozialsystem Lit.' anzutreffen (vgl. § 3): als solche, die das Hervorbringen von Lit. und das Handeln mit ihr (Distribution, Rezeption, Weiterverarbeitung — nach S. J.

Schmidt 1980/2) leiten, als solche, die durch Form und Gehalt der literar. Texte (potentiell) vermittelt werden, und als solche, die sich im literar. Werturteil auf die Texte, bzw. deren Realisation in der Vorstellung des Rezipienten, richten. An allen diesen Stellen können Werte, sofern sie nicht nur mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit ausgestattet sind, sondern Sanktionen, in welcher Form auch immer, greifbar werden, zu Normen verfestigt sein. Solange eine „ N o r m " nur postuliert wird, ist sie nichts weiter als ein axiologischer Wert. Es ist eine für vergangene Zeiträume sehr schwierige Aufgabe historisch-empirischer Forschung, zu ermitteln, ob, wann, wielange und für welches Kollektiv postulierte Normen wirklich zu akzeptierten Normen geworden sind. Die Lit.geschichtsschreibung verfährt in diesem Punkte oft sehr leichtfertig, indem sie die von Autoren und Lit.theoretikern in programmatischen Äußerungen (vom Vorwort, Essay und Brief über Poetiken bis hin zu philosophischen Ästhetiken) formulierten Wertvorstellungen (d.h. axiologische Werte) als allgemein geltende Normen interpretiert. Sobald man das ,Sozialsystem Lit.' mit der Frage nach möglichen in ihm oder für es geltenden Normen betrachtet, löst es sich nicht nur historisch-diachron, sondern auch synchron — für eine Epoche — in eine Vielzahl von ,Teilsystemen' mit unterschiedlichen Werten und Normen, vor allem mit Normen von unterschiedlichem Verbindlichkeitsgrad, unterschiedlicher „Sanktionstoleranz" (Dreitzel) auf. Mit ihnen sich zu befassen, ist aber für den literar. W.sforscher unumgänglich; denn er muß damit rechnen, daß literar. W.en an den akzeptierten Normen, und nicht oder doch nicht allein an den postulierten Werten sich ausrichten (§ 8). Im übrigen ist jedes Teilsystem als Segment des ,Sozialsystems Lit.' auch als ein — je nach dem histor. Stand mehr oder weniger — komplett ausgebildetes Handlungssystem anzusehen, in dem nicht nur „literar. W . " als ,Text'Wertung, sondern auch die andern lit. bezogenen W.en beobachtet werden können. Grundsätzlich zu unterscheiden sind Fälle, in denen die N o r m s e t z u n g dominant von den im betreffenden literar. T e i l s y s t e m H a n d e l n den ausgeht, von solchen, für die die N o r m i e rung— durch geistliche oder weltliche Instanzen — unmittelbar von außen kommt. Das Idealbeispiel für ein literar. Teilsystem, in dem Produktion, Distribution und Rezep-

Wertung, t i o n streng n o r m i e r t , R o l l e n u n d die z u g e h ö r i gen V e r h a l t e n s m u s t e r b e s t i m m t und S a n k t i o nen

sowohl

für

Normerfüllung

wie

für

N o r m a b w e i c h u n g (weitgehend schriftlich) festgelegt sind, ist der M e i s t e r g e s a n g ( s . d . ) . D a d e r F o r s c h u n g ausreichende B e r i c h t e ü b e r die p r a k t . B e f o l g u n g dieser A n w e i s u n g e n z u r V e r f ü g u n g stehen — D a t e n für die Z u s a m m e n s e t z u n g der G r u p p e ( n ) , die sie a n e r k a n n t e n u n d fortbildeten,

s o w i e verstreutes W i s s e n

über

E n t s t e h e n , G e l t u n g und Verfall dieser N o r m e n —, w e r d e n wenigstens h y p o t h e t i s c h auch die m o t i v a t i o n a l e n axiologischen W e r t e greifbar, die — im historischen U m f e l d — z u r A u s b i l d u n g dieses T e i l s y s t e m s f ü h r t e n , w i e deren G e l t u n g s s c h w u n d , d e r im L a u f e der J h . e den Z u s a m m e n b r u c h des S y s t e m s b e w i r k t . Die dem A u t o r zudiktierte Rolle ist situationsspezifisch, nach den beiden wesentlichen V e r a n s t a l t u n g s t y p e n , differenziert: beim „Schulsingen" in der Kirche ist sie die eines Lehrers und Popularisators geistl. (insbes. dann reformatorischer) und früh-bürgerlich-weltlicher Werte, und die eines „Meisters" im artistischen, regelgeleiteten Handwerk; beim „Zechsingen" im Wirtshaus wird auch die eines derben Unterhalters akzeptiert. Mit der artist. Meisterrolle, die den Gesang gegenüber den elaboriertesten späthöf. literar. Techniken konkurrenzfähig machen sollte, sind die „attributiven Wert e " der Texte festgelegt: Der Form nach imitieren sie, entwickeln sie weiter und übersteigern sie die kunstvollen „ T ö n e " aus der überlieferten, im Ursprung höf. Lyrik und Spruchdichtung; die Regulierung konzentriert sich auf die äußerlichsten Merkmale, den dreigliedrigen Strophenbau, die Silbenzählung und den Reim. Die Gehalte, weitgehend unabhängig von der Form, speisen sich aus den oben genannten Wissens- und Wertbereichen. Die beiden genannten Veranstaltungstypen normieren auch die teils öffentlichen, teils nicht-öffentlichen R e z e p t i o n s s i t u a t i o n e n . Freie D i s t r i b u t i o n der Werke durch Druck war zunächst ausgeschlossen, der normale Verbreitungsweg war und blieb, neben dem mündlichen Vortrag, die Zirkulation von Abschriften im Kreis der Meistersingergruppen in den verschiedenen Städten. Damit fallen hier spezifische Distributoren und Distributorenrollen aus; auch ist deutlich, daß ökonomische Werte noch nicht leitend sind. Die Singschule, Institution für die Einübung und Überwachung der Einhaltung der Normen, ist zugleich der Ort der S a n k t i o n : im „Preissingen" werden (positiv) die „Meister" und (kritisch) die unteren Grade der Sängerhierarchie, im Vergleich des „quantitativen Werts", ermittelt; negativ, als „Fehler", werden die Abweichungen markiert. Als Sanktionsinstanz ist eigens die Rolle des „Merkers" institutio-

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nalisiert, der zugleich die ideale „ H ö r e r r o l l e " in diesem System verkörpert. Sie ist strikt an den Produktionsnormen orientiert, wobei die formale Norm der Erfüllung der Kunst„gesetze" (noch vor derjenigen der Gehaltsnormen) als oberste gilt; sie wird erweitert nur um das Quentchen Originalität, das im Rahmen dieses Schemas ein Ubertreffen der Vorgänger (kein grundsätzliches Abweichen von ihnen) erlaubt. Prämiert wird an erster Stelle die artistische, aber nur in engstem Spielraum innovative Leistung: sie ist der oberste axiologische Wert in diesem System, zur Norm ausgebildet. Es ist für das .Sozialsystem Lit.' überhaupt charakteristisch, daß Sanktionen ,von innerhalb' des Systems in der Regel verbal bleiben; „literar. W . " fungiert als Sanktion. Doch kann sie später durchaus ökonomische Folgen haben, es kann zum Ausschluß eines Autors aus einer Gruppe oder eines Werks aus dem „ K a n o n " der von ihr akzeptierten Werke kommen. Durchgreifender sind unten zu erwähnende Sanktionen, von außerhalb' des Systems, durch staatliche oder vom Publikum ausgeübte Zensur. Die G r u p p e , f ü r die das beschriebene N o r m e n s y s t e m g i l t , sind die zunftähnlich organisierten Meistersinger, soziologisch gesehen gehobener bürgerlicher, meist handwerklich tätiger Mittelstand, in der Produktions- und der Kritikerrolle ausschließlich männlichen Geschlechts; aber auch das Publikum dürfte überwiegend aus ihresgleichen und aus Lern- und Aufstiegswilligen der Unterschicht bestanden haben. Die Frage nach dem motivationalen, dieses literar. Teilsystem ausbildenden Wert führt auf das S o z i a l p r e s t i g e dieser Gruppe, die sich offenbar auf dem Wege über eine hochartifizielle Kunstleistung als Bestandteil der städtischen Führungselite konstituieren wollte. Daraus sind sekundär auch die pädagogische Rolle des Autors und die normbildenden Gehaltswerte der Texte beim prestigebegründenden „Schulsingen" abzuleiten. Das muß nicht heißen, daß für den einzelnen Meistersinger nicht gerade diese hier „sekundär" genannten Werte, etwa die der Ausbreitung der Reformation oder der Erziehung zu bürgerl. Tüchtigkeit und Anständigkeit, an der Spitze gestanden hätten. Aber für den Aufbau des Systems als ganzem bleiben sie nachgeordnet. Das gilt im übrigen auch für später als originär „ästhetisch" definierte Werte wie „zweckfreies Spiel", „Distanz von der Berufsrolle" u.ä. (vgl. § 7): sie können für jeden Meistersinger durchaus einen relativ weit oben in seiner Werthierarchie angesiedelten „motivationalen" Wert gebildet haben; doch als „theoretische" Werte waren sie zu jener Zeit weder innerhalb noch außerhalb des Meistergesang-Systems zu fassen. D e r V e r g l e i c h dieses S y s t e m s m i t den gleichzeitig b e s t e h e n d e n literar. T e i l s y s t e m e n kann die K o n k u r r e n z anders, z . T . w e n i g e r v e r b i n d lich n o r m i e r t e r literar. V e r s t ä n d i g u n g veranschaulichen und die f u n k t i o n a l e I n t e r p r e t a t i o n

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solcher Normsysteme erhärten; der Uberblick über das im Folgenden skizzierte Teilsystem läßt Vermutungen über die Ursachen des Normwandels zu. D a s Teilsystem „ h ö f i s c h e D i c h t u n g " befindet sich — im Zuge des U m b r u c h s der höf. Kultur — im Zerfall; was von seinen Texten und N o r m e n noch Bestand hat, wird als artistisch-verfeinertes, prestigeträchtiges Traditionsgut vom städt. Patriziat übernommen und in Einzelfällen auf eigene, freiere Weise als im Meistersang variiert, jedoch ohne weitreichende Folgen für die Zukunft. Es würde schwerfallen, für dieses epigonale Teilsystem noch gültige N o r m e n und Rollen, geschweige denn Sanktionen zu rekonstruieren, über den leitenden (axiologischen) P r e s t i g e w e r t hinaus, der sich attributiv, als R e p r ä s e n t a t i o n s w e r t , in kostbaren Sammel- und Einzelhss. dokumentiert. Die in der städt. Hierarchie bereits oben agierende Schicht bedarf der Legitimation durch schöpferische, normbildende Kunstleistung nicht mehr. A u s anderen Gründen ist es schwierig, für ein drittes literar. Teilsystem der Zeit, das der V o l k s d i c h t u n g , N o r m e n , Rollen und Leitwerte zu erschließen, vor allem deshalb, weil hier die unterschiedlichsten Traditionsstränge — v o m heidnischen Brauchtum bis zur geistlichen, orthodoxen oder häretischen Dichtung, vom german. Heldenlied bis zur aktuellen polit. Agitation, vom höf. Liebeslied bis zur bäuerlichen Zote — amalgamiert werden. A b grenzbar wird das „ S y s t e m " nur von der Adressatenseite her, der zum größeren Teil nicht lesefähigen städt. und dörflichen Unterschicht. Denn dieser U m stand hat Folgen für Selektion, Distribution und Rezeption der Texte. Die müssen eingängig und in gewissem Grade redundant sein, geeignet für die überwiegend mündliche, oft gesungene Verbreitung (z. T . von neuen Texten, auf der Basis von Flugblättern und kurzen Schriften, Gesangbüchern, Pamphleten u. a.); die Rezeption erfolgt stark motorisch, durch Nachsprechen oder -singen, von Gebärden (Tanz, Arbeitsrhythmen) begleitet. Die „ N o r m e n " in diesem Teilsystem sind weniger theoretisch fundiert als in der Praxis ausgebildet. Entsprechend groß ist die Sanktionstoleranz. Die wirksamste positive Sanktion innerhalb des „ S y s t e m s " war das Tradieren, die negative das Fallenlassen eines Textes. Theoretisch formulierte Sanktionen kamen wohl nur von außen, von geistl. und weltl. Obrigkeit: als Verbote von religiös, sittlich, politisch allzu anstößigen Texten oder Darbietungen. Als motivationale Werte fungieren bei den Adressaten an erster Stelle wohl Vergnügen und Neugier, elementare L u s t w e r t e also; das gibt den Autoren und Distributoren (Volkssängern, Kurrenden, Flugschriftendruckern und „ B u c h f ü h r e r n " ) die Möglichkeit, auch ö k o n o m i s c h e W e r t e (als axiologische) ins Spiel zu bringen, Unterhalt und finanziellen Ge-

winn zu erzielen. Eine andere prakt. Motivation der ,Gebraucher' von Volksdichtung ist die Koordination von Arbeitsvorgängen, etwa beim Dreschen oder Rammen; A r b e i t s e r l e i c h t e r u n g erscheint als axiologischer Wert. Frömmigkeit und Sorge um das Seelenheil, s p i r i t u e l l e W e r t e also, motivieren den Gebrauch geistl. Dichtung, konkrete l e i b l i c h e B e d ü r f n i s s e , soziale N o t , die Produktion, Distribution und Rezeption von aktueller polit. Literatur. D a s „ S y s t e m " der Volksdichtung scheint durchweg von lebenspraktischen Werten bestimmt, die - über das Gesagte hinaus — in ihrer Breite keine einheitliche Normierung in Hinblick auf die Textproduktion (einschließlich Gattungswahl) zulassen. Die literar. F o r m steht ganz im Dienst der jeweiligen Funktion, bildet jedenfalls keinen motivationalen Wert. Freilich hat die Volksdichtung schon im 15. und 16. J h . ein weiteres Publikum unter der städt. H o n o ratiorenschicht gefunden; davon zeugen die Sammelhss. in bürgerl. und patrizischem Milieu. Ihre Rezeption kann durchaus auch einen nicht-praktischen „attributiven W e r t " , insbesondere im Zusammenhang mit entsprechender musikalischer Präsentation, realisiert haben: ä s t h e t i s c h e n G e n u ß (vgl. §7).

Das literar. Teilsystem, das der Historiker als das für die Folgezeit stabilste abgrenzen kann, wird von den H u m a n i s t e n geschaffen. Als Konkurrenz für die bisher beschriebenen ist es allerdings erst dann anzusehen, wenn die Autoren auch in den vergleichbaren Gattungen vom Lateinischen zur Volkssprache übergehen: im Anfang des 17. Jh.s, mit der Gelehrtendichtung der Barockzeit. Auch dieses Teilsystem ist durch seinen theoretisch expliziten axiologischen Wert, die Nachahmung des antiken Vorbilds, das auf Grund genaueren Quellenstudiums erst zu jener Zeit auf internat. Ebene, in allen seinen Dimensionen erforscht wird, stark normiert. Bisher ungekannte Gattungen, auch nach Vorbildern der von den Humanisten umgeformten benachbarten Nationalliteraturen, werden eingeführt. Die Textproduktion ist durch die Rhetorik so strikt geregelt, daß sogar für die verschiedenen Kommunikationssituationen die angemessenen „attributiven Werte" festgelegt sind (Dyck, Fischer, Barner u.a.). Für echte „Situationswerte", wie sie nur in nicht-normierten Rezeptionssituationen realisiert werden, ist in diesem System eigentlich kein Platz. Die Rollenverteilung ähnelt in vielem der des Meistersangs. E s dominieren im System die P r o d u k t i o n s n o r m e n , die — in lat. und später (in Deutschland seit Opitz) auch volkssprachlichen — Poetiken,

Wertung, literarische Rhetoriken, Florilegien u.a. kodifiziert sind; nicht die Abweichung, sondern das Weiterbilden und Ubertreffen wird honoriert. Die K r i t i k e r r o l l e übernehmen meist die Autoren selbst, in gegenseitiger Bezugnahme aufeinander werden die .Besten' erkoren, als Vorbilder herausgestellt, gelegentlich auch negative Urteile ausgesprochen. Allerdings besteht, durch die Wirkungsorientiertheit der Rhetorik, ein engerer Bezug zwischen Form und Gehalt der Texte und auch eine bewußtere Ausrichtung der Selektionsentscheidungen auf das jeweilige P u b l i k u m . Ihm ist, wie im Meistersang, die Rolle des möglichst vollständigen Ubernehmens der Autorintentionen (der von den axiologischen Werten des Autors bestimmten attributiven Textwerte) zugedacht, je nach Genus und Publikum'die Würdigung der artist. Kunstfertigkeit, die Einübung in eine zu entwickelnde, variationsreiche Nationalsprache, die Übernahme prakt. weltlicher und geistlicher Verhaltensnormen u. a. Bei der D i s t r i b u t i o n ihrer auch in der Volkssprache oft noch sehr anspruchsvollen Werke durch den Druck spielt, ermöglicht durch die Orientierung der barokken Humanisten an hochgestellten, finanziell potenten Adressaten, m ä z e n a t i s c h e F ö r d e r u n g (aus unterschiedlichen Motiven) eine bedeutende Rolle. Als motivationaler axiologischer Wert dieses Teilsystems erscheint aufs Neue der des zu erringenden S o z i a l p r e s t i g e s einer aufsteigenden Gruppe des Bürgertums, diesmal der „Gelehrten" (Sinemus). Warum als Mittel dazu die Übernahme der antiken Muster sich als geeigneter erwies als die Anknüpfung an einheimische höf. Tradition, ist eine Frage, die nur durch Erörterung der komplexen sozial- wie geistesgeschichtl. Situation beantwortet werden könnte. Fest steht nur soviel, daß die „Lit.politik" der Humanisten, ihr „literar. Wertsystem" mit seinen Normierungen, erfolgreich war und in der von der Rhetorik gebotenen Anpassung an das sich verändernde Publikum bis in die 2. H. des 18. Jh.s hinein wirksam blieb, in Teilbereichen des „Sozialsystems Lit.", vermittelt durch das Humanist. Gymnasium, noch wesentlich länger. Die Relikte des Meistersangs und des höf. Lit.systems dagegen sind historisch nicht mehr als wirksame Systeme auszugrenzen; nur die an andern motivationalen Werten orientierte Volkspoesie kann, wenngleich von den „führenden Geschmacksträgern" (Schücking 1932) verachtet, als fortdauernde, freilich auch nicht unveränderte Konkurrenz rekonstruiert werden.

Diese histor. Skizzen zeigen, daß W e r t e und N o r m e n in Teilsystemen des „Sozialsystems Lit." für mehr oder weniger gut abgrenzbare nationale, aber auch internationale G r u p p e n gelten (vgl. schon Schücking 1923). Als mögliche, vom jeweiligen Teilsystem nahegelegte Indizien für deren Abgrenzung erwiesen sich die soziologische und die — nicht streng damit gekoppelte — bildungsmäßige

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Schichtung (für Autoren und Publikum), beides oft korreliert mit dem Gegensatz von Stadt (als fürstliche Residenz oder freie Reichsstadt) und Land, aber auch mit dem Gegensatz der Konfessionen. Diesen Gruppen lassen sich innerhalb einer bereits durch Arbeitsteilung und Konkurrenz charakterisierten Gesellschaftsform Bedürfnisse und Wertvorstellungen zuordnen, die als axiologische Werte fungieren und als solche zur Ausbildung des jeweiligen Teilsystems mit seinen spezifischen axiologischen und attributiven Werten, Normen, Rollen und Sanktionen beitragen. Das soll nicht heißen, daß damit schon alle für die Ausbildung des Systems relevanten Faktoren erfaßt seien. Zu der betrachteten Zeit, vom 15. bis 17. Jh., gingen z . T . schriftlich fixierte Normen, die auch als theoretische fungierten, von den Autoren aus (Meistersang, Humanisten), beobachtbare von den Rezipienten (Überlieferung höf. Lit., Volksdichtung). Die Distributoren übten (außer in Teilbereichen des Systems „Volkslit.") noch keine wesentlichen, auf ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen und Wertmaßstäbe bezogenen Wertsetzungen und Normierungen aus. Mit der Weiterentwicklung der kapitalist. Wirtschaftsform und vor allem dann der technischen Vervielfältigungsmöglichkeiten im 19. Jh., etwa gleichzeitig mit der Verallgemeinerung der Lesefähigkeit durch verbesserte Schulbildung und der Ausbildung der „Berufsrolle" des „freien Schriftstellers" (Haferkorn), kann vom Ende des 18. Jh.s ab auch der ö k o n o m i s c h e W e r t , der „ W a r e n w e r t " (Schönert 1978), zum axiologischen Wert im ,Sozialsystem Lit.', insbesondere im T e i l s y s t e m „ U n t e r h a l t u n g s l i t e r a t u r " , werden. Die .Schwellen' für diese Entwicklung lassen sich an verschiedenen Stellen erkennen: bei der ersten „Romanfabrik" in den 20er Jahren des 19. Jh.s, bei dem Aufkommen der Familienblätter nach der Jh.mitte, bei der Ausbildung eines Teilsystems „Massenunterhaltungslit.", das bis z u r e x p l i z i t e n N o r m i e r u n g von F o r m , G e h a l t und U m f a n g des Textes gehen kann und auch e i g e n e D i s t r i b u t i o n s m e d i e n entwickelt und Verbreitungswege schafft (Nutz, Ziermann, Nusser 1973, 1976, H. D. Zimmermann 1979). Als „ S a n k t i o n " wirkt in diesem System der ökonomische Erfolg oder Mißerfolg, der durch direkte Sanktionsformen, durch sprachliche Wertungsakte (literar. Kritik, Kampf gegen „Schmutz und

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Schund") wie durch Zensur beeinflußt werden kann. Als Beispiel für den Fall von außen kommender Normierung seien noch die Normen eines k a t h o l i s c h e n (als Veranschaulichung eines konfessionellen) und eines s o z i a l i s t i s c h e n literar. T e i l s y s t e m s skizziert; beide lassen sich von den 70er Jahren des 19. J h . s an gut erfassen, während um 1900 ihre Grenzen gegenüber dem dominanten Teilsystem .Literatur als Kunst' wieder unscharf werden (zum Sozialist. Teilsystem vgl. Stieg/Witte, Hoffmann; das katholische wird z . Z t . in München erforscht). Für beide Teilsysteme kommen in manifester Weise die axiologischen Werte als theoretische von außen: es sind die Grundlagen der kathol. und der Sozialist. Weltanschauung. Was sich an Wandlungen und Modifikationen in den betreffenden Teilsystemen vollzieht, wird unmittelbar von Änderungen (auf Grund von Richtungskämpfen) in den jeweiligen Weltanschauungen gesteuert, der Spielraum der literar. Normen hängt vom Spielraum jener weltanschaulichen Normen ab. D e r motivationale Wert, der zur Ausbildung der Teilsysteme führt, ist wiederum — hier freilich eher defensiv — die S e l b s t b e h a u p t u n g e i n e r G r u p p e und ihrer Normen in der Konkurrenz mit anderen. Die im 19. J h . bereits klar abgrenzbaren Teilsysteme des ,Sozialsystems Lit.', ,Lit. als Kunst' und ,Lit. als Unterhaltung', beförderten nicht, ja gefährdeten eher die Bewahrung und Konsolidierung der katholischen, die Ausbreitung der sozialist. Weltsicht: Widersprach das erste durch seine programmat. Freiheit von Zweck und Tendenz den weltanschaulichen Zielen der sich abspaltenden Teilsysteme, so hinderte das andere durch seine Ablenkungswirkung ernstere Absichten. Der A u t o r kann in den neuen Teilsystemen nur Sprachrohr sein, er fungiert in der Rolle des Zeugen oder Anklägers, nicht als einmalige, individuelle Persönlichkeit. Auch Gattungs wahl und Textqualität sind direkt abhängig von der propaganda fidei, der Ausbreitung der „wahren" Wahrheit als der „richtigen" Tendenz. Tendenzfreie Kunst gibt es aus der Sicht beider Systeme nicht; das Programm der Zweckfreiheit gilt als Bemäntelung liberaler, Protestant. oder bürgerl. Interessen. Die Stilmittel müssen, wie in der Rhetorik, auf die jeweilige Zielgruppe bezogen sein und die Situation (z. B. in Kulturkampf und unter dem Sozialistengesetz) in Rechnung stellen. Die Leserrolle ist auf Nachvollzug angelegt. Das reale Publikum wird in den eigenen Reihen gesucht und bei denen, die man für die eigene Sache zu

gewinnen hoffen darf; nur in Ausnahmefällen richten sich Texte an die gesamte Gesellschaft, also auch an die Gegner. Für die D i s t r i b u t i o n werden (z.T. weil nichts anderes übrigbleibt) weitgehend eigene Wege gefunden: eigene Verlage, Buchreihen, Zeitschriften und Bibliotheken werden gegründet, eigene Vertriebsformen (etwa von Hand zu Hand) benutzt. S a n k t i o n s i n s t a n z sind die Organe, die die jeweilige Lehrmeinung autoritativ vertreten, für die Katholiken z.B. die Zeitschrift der Jesuiten Stimmen aus Maria Laach sowie die päpstliche Indexkommission, für die Sozialdemokraten vor allem die Neue Zeit, aber auch einzelne Parteitage. „Literar. W . " vollzieht sich nach deren Direktiven, wenngleich in einem gewissen, durch die internen Richtungsdifferenzen abgesteckten Spielraum. Diese Beispiele unterschiedlich streng normierter Teilsysteme des .Sozialsystems Lit.' legen zwei Folgerungen für „Literar. W . " nahe: 1.) D e r „literar." Charakter von Texten ist nur funktional zu anderen, vorgeordneten Werten, die auf lebensprakt. Letztwerte zurückgeführt werden können; 2.) die Suche nach einem einzigen und ahistor. Maßstab literar. (Text-)W. ist nicht sinnvoll, weil literar. Texte für die im jeweiligen Teilsystem Handelnden generell und situationsbezogen verschiedene Funktionen übernehmen können. Diese Folgerungen sind jedoch nicht unbedingt zwingend; die Auswahl der Beispiele könnte sie präjudiziert haben. Bekanntlich wird der „literar. W e r t " als axiologischer und nicht — oder nicht notwendig — funktionaler sowohl aus der philosophischen Ästhetik begründet (§ 7) wie von einem scheinbar feststehenden Kanon der Weltlit. her erschlossen (§ 9); seiner Relativierung auf histor. Systeme, Handlungsrollen und Situationen läßt sich damit, wie es scheint, begegnen. Auch die Lit.didaktik hat ein legitimes Interesse daran, solcher Relativierung zu entgehen. Wilfried B a r n e r , Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtl. Grundlagen (1970). Klaus B r i e g l e b , Schriftstellernöte u. literar. Produktivität. Zum Exempel H. Heine, in: Kolbe 1973 (vgl. §1), S. 121-159. D r e i t z e l 3. Aufl. 1980: vgl. §5. Joachim D y c k , Ticht-Kunst. Dt. Barockpoetik u. rhetor. Tradition (1966; ars poetica 1). Eibl 1971: vgl. § 7. Ludwig F i s c h e r , Gebundene Rede. Dichtung u. Rhetorik in d. literar. Theorie d. Barock in Deutschland (1968; Stud. z. dt. Lit. 10). Hans Jürgen H a f e r k o r n , Der freie Schriftsteller. E. literatur-soziolog. Studie über s. Entst. u. Lage in Deutschland zw. 17i0 und 1800. Arch. f. Gesch. d. Buchwesens 5 (1964) S. 523712. Renate v. H e y d e b r a n d , Werte u. Funktionen, Normen u. Rollen im „Sozialsystem Lit." u.

Wertung, literarische s. Teilsystemen, in: Zur Sozialgeschichte . . . Bd. 1, 1984 (s.u.). Dirk H o f f m a n n , Sozialismus u. Literatur. Lit. als Mittel politisierender Beeinflussung im Lit.betrieb d. Sozialist, organisierten Arbeiterklasse d. dt. Kaiserreichs 1876-1918. 2 Bde. Diss. Münster 1978. Kanzog 1976: vgl. § 10,4. Wolfram Mauser, Dichtung, Religion u. Gesellschaft im 17. Jh. Die ,Sonette' d. Andreas Gryphius (1976). Peter Nusser (Hg.), Massenpresse, Anzeigenwerbung, Heftromane. Lehreru. Schülerheft (1976; Deutsch in der Sekundarstufe I). Ders., Romane für d. Unterschicht. Groschenhefte u. ihre Leser (1973 ; 5., mit e. erw. Bibliogr. u. e. Nachw. vers. Aufl. 1981). Walter N u t z , Der Trivialroman. S. Formen u. s. Hersteller. E. Beitr. z. Lit.Soziologie (1962; Kunst u. Kommunikation 4). Schmidt 1980/82: vgl. § 1. Schönert 1978: vgl. § 10. Levin Ludwig Schükking, Soziologie d. literar. Geschmacksbildung (1923; 3. Aufl. Bern 1961). Schücking 1932: vgl. § 10,1. Volker Sinemus, Poetik u. Rhetorik im frühmodernen dt. Staat. Sozialgeschichtl. Bedingungen d. Normenwandels im 17. Jh. (1978; Pal. 269). Zur Sozialgeschichte d. dt. Lit. von d. Aufklärung bis zur Jh. wende. Hg. im Auftr. d. Münchner Forschergruppe f. Sozialgesch. d. dt. Lit. 1770-1900. Bd. 1: Grundlegung, hg. v. R. v. Heydebrand, Dieter Pfau u. Jörg Schönert; Bd. 2: Einzelstudien, hg. v. Günter Häntzschel, John Ormrod u. Karl N. Renner (1984) [in Vorbereitung], Gerald Stieg u. Bernd W i t t e , Abriß e. Gesch. d. dt. Arbeiterin. (1973). Klaus Ziermann, Romane vom Fließband. Die Imperialist. Massenliteratur in Westdeutschland (1969). H. D. Zimmermann 1979: vgl. § 10,3. § 7 . D a s „ Ä s t h e t i s c h e " als B e s t i m m u n g s g r u n d literar. W e r t e und N o r m e n . Das „Ästhetische" kann genauso wenig wie das „Literarische" als Substanz bestimmt werden, sondern nur in bezug auf die histor. Diskurse, in denen es unter verschiedenen Wörtern und in verschiedenen Akzentuierungen, aber doch als ein — wenngleich „offener" — Begriff erfaßbar wird (vgl. § 2 ) . Der Standort, von dem aus diese Diskurse überblickt werden, kann wiederum nur der gegenwärtiger ästhet. Reflexion sein. Allerdings müssen im Hinblick auf literar. W . alle die Theorien außer Betracht bleiben, die das Ästhetische allein oder dominant an den nicht-sprachlichen Künsten abhandeln, wenngleich die Annäherung an sie oder die Abgrenzung ihnen gegenüber wichtige Stationen auch der Theorie der literar. Ästhetik markieren. Den bedeutendsten Einschnitt in der Geschichte dessen, was von heute aus — und zwar

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erst seit diesem Einschnitt — der Theorie des Ästhetischen subsumiert wird, bildet das erste Auftreten dieses Begriffs als solchen bei A. G . B a u m g a r t e n 1735; von ihm aus wird in der Folgezeit, maßgeblich durch K a n t s Kritik der Urteilskraft (1. Fass. 1786), der B e r e i c h d e s Ä s t h e t i s c h e n als ein e i g e n e r S i n n b e z i r k den Bereichen der theoret. und prakt. Erkenntnis gegenübergestellt und in Konkürrenz mit beiden als eigener Wert gesetzt. Es entsteht die „Institution Kunst" (P. Bürger). Die A u t o n o m i e des Ästhetischen wird z u n ä c h s t n e g a t i v begründet: als Heraustreten aus allen Dienstbarkeiten, in denen sein Vorgänger, das „ S c h ö n e " , unter der Herrschaft von Theologie und Metaphysik, aber auch in konkreten Handlungs- und Situationsbezügen ( z . B . Repräsentation, Lehre, Unterhaltung) gestanden hatte. Es bleibt nur eine abstrakte Situation, die spezifisch ästhetische, „interesselose" Einstellung (Kant), als Voraussetzung dafür, daß der ästhet. Wert wahrgenommen, realisiert werden kann. Die negativen Bestimmungen sind jedoch Basis für die p o s i t i v e B e g r ü n d u n g der Autonomie des Ästhetischen: das Ästhetische soll durch seine besondere Form etwas leisten — insofern steht „ A u tonomie" nicht in diametralem Gegensatz zu „Funktion" —, was auf keinem andern Wege geleistet werden kann. Darum darf es keine heteronomen Vorschriften, weder allgemeine noch situationsspezifische, dulden. In den theoret. Diskussionen um das Ästhetische zwischen Baumgarten und Hegel wird der ästhet. Wert als axiologischer — in bis heute nachwirkender Weise — nach zwei Seiten hin entfaltet: 1. als Anspruch auf eine besondere Form der E r k e n n t n i s von Wirklichkeit und 2. als eine besondere, als „ L u s t " o d e r „ G e n u ß " e r l e b t e W i r k u n g auf das ästhetisch handelnde, produzierende oder rezipierende Subjekt. Während der E r k e n n t n i s a n s p r u c h notwendig in W e r k e n greifbar werden muß (gemäß der romantischen Theorie gleichwertig auch in den Produktions- und Rezeptionsakten), kann die W i r k u n g d e s ästhet. Werts auch allein im H a n d e l n selbst manifest werden; in dieser Gestalt kann daher der ästhet. Wert auch die Krise des Kunstwerks im 20. J h . überdauern (Bubner, Hogrebe, Henrich). Die Ausarbeitung des Konzepts des Ästhetischen erfolgt im 18. J h . auf drei — gleichfalls bis heute begangenen — Wegen: als Ausbildung einer „ W i s s e n s c h a f t d e s S c h ö n e n " im

846

W e r t u n g , literarische

R a h m e n eines v o r g e g e b e n e n S y s t e m s der P h i l o s o p h i e , als

transzendentalphilosophi-

s c h e R e f l e x i o n im R a h m e n der M e t a p h y s i k kritik Kants, und durch e m p i r i s c h - h e r m e n e u t i s c h e A b l e i t u n g e n aus d e m tradierten U m g a n g m i t K u n s t : durch A n a l y s e der V o r gänge u n d E m p f i n d u n g e n b e i m

Produzieren

und R e z i p i e r e n in A n s c h l u ß an A f f e k t e n l e h r e und

Rhetorik

(=

subjektive

Ästhetik)

und

durch w e r t e n d e B e s c h r e i b u n g eines (erweiterten) K a n o n s mustergültiger W e r k e ( = o b j e k t i ve Ä s t h e t i k ) . D a ß an H a n d l u n g e n und K u n s t werken

attributive

Werte

als

„ästhetische"

identifiziert w e r d e n k ö n n e n , setzt freilich in gewissem G r a d e die A u s b i l d u n g des Ä s t h e t i schen als eines axiologischen W e r t e s s c h o n v o r aus; beide V e r f a h r e n präzisieren einander in Wechselwirkung. 1. A l s b e s o n d e r e F o r m v o n

Erkenntnis

grenzt sich die ästhetische gegen die der „ o b j e k t i v e n " W i s s e n s c h a f t e n a b ; da diese n u r n o c h eine

vergegenständlichte,

den

Bedingungen

kontrollierter Beobachtung unterworfene N a t u r spezialistisch e r f o r s c h e n k ö n n e n , will sie das sinnhafte G a n z e der W e l t wenigstens als subjektive E r f a h r u n g gegenwärtig halten und zur Darstellung bringen. Ästhetik übernimmt damit das E r b e der v o n der k r i t . V e r n u n f t infrage gestellten T h e o l o g i e u n d M e t a p h y s i k ( J . R i t ter 1 9 7 1 ) . Was ästhet. Erkenntnis und insbesondere Dichtung unter diesem Anspruch tatsächlich leisten kann, wird von Anfang an und durch die Geschichte hindurch unterschiedlich bewertet. Für Baumgarten und seine Schüler bleibt sie als „sinnliche" und damit „verworrene" Erkenntnis der klaren, logischen untergeordnet, als „schöne", die dem Individuellen wie dem Ganzen Rechnung tragen kann, ist sie ihr überlegen. Alle Denker, die — von Kant bis zu den heutigen „Emotivisten" (J. A. Richards, Ch. L. Stevenson) — Erkenntnis im strengen Sinne mit (naturwissenschaftlich) begrifflicher Erkenntnis gleichsetzen, können ästhet. Erkenntnis nur als unvollkommene Vor- oder Nebenform bewerten. Im B e g r i f f des „ S c h e i n s " , der ihr (wie auch vorher schon dem „Schönen") beigelegt wird, kommt von Goethe und Schiller bis hin zu Heidegger und Adorno die A m b iv a l e n z von „bloßem Schein" und „Erscheinenlassen eines anders nicht Aussagbaren" zu Wort. Alles hängt davon ab, wie die Gegenbegriffe, „Wirklichkeit" und — meist, aber nicht notwendig damit verknüpft — „Wahrheit" gedacht werden. Seit der Neuzeit, beginnend mit der Renaissance, sieht sich der Mensch nicht mehr einer vorgegebenen Wirklichkeit gegenüber; er versteht sich als mitbeteiligt an der Konstitution ihrer Erscheinungsweisen nach be-

stimmten theoretischen, praktischen, technischen und schließlich auch ästhet. Hinsichten. Doch wirken gewisse metaphysische Vorannahmen über das „Wesen" der wahren Wirklichkeit zunächst und teilweise bis heute weiter. Sie werden später durch anthropologische und psychologische Prämissen ergänzt oder abgelöst. Diesen Vorannahmen gemäß lassen sich m e h r e r e M o d e l l e v o n Ä s t h e t i k unterscheiden, die für den Wahrheitsanspruch wie für die abzuleitenden literar. Werte folgenreich sind. Schließlich wird mit der semiot. Wendung der Philosophie, in Radikalisierung der Kantschen Metaphysikkritik, die Unterscheidung von „Schein" und „Wirklichkeit" (als Wahrheit) überhaupt infrage gestellt, mit entsprechenden Folgen für Ästhetik und Lit.theorie. Die Vorannahme zeitloser Ordnungen, Ideen oder „Urphänomene" führt zu statischen, auf überzeitliche Geltung angelegten, nach Inhalt und Form substantiell bestimmten ,ahistorischen W e s e n s ä s t h e t i k e n'. Ihr Wahrheitsanspruch in bezug auf die Ordnung des Kosmos steht und fällt mit ihren ontologischen Prämissen; was bleibt, sind Einsichten in Struktur und Wirkung „einfacher Formen" (Jolles), wie sie — auf der Basis des eingeführten Begriffs des „Schönen" — u.a. auch von der empirisch-psychologischen Ästhetik des 19. und 20. Jh.s erforscht werden (Goethe, Herbart, dann als Versuche einer „Ästhetik ,von unten'" Fechner, Groos, Volkelt, Lipps, Schlick u.a.). Konsequenter geht aus dem neuzeitlichen Ansatz die Annahme der Geschichtlichkeit von Wirklichkeit und Wahrheit hervor. Drei Modelle geschichtsphilosoph. Ästhetik suchen dem Rechnung zu tragen: E i n e , h i s t o r i s c h e A b b i l d ä s t h e t i k ' erwartet vom „Schein" der Kunst die anschauliche Repräsentation des Wesens einer histor. Epoche. Hegel sah bereits, daß eine eigenständige Erkenntnisleistung der Kunst in diesem Fall nur in vergangener Zeit — vor der Entzweiung von Begriff und Sinnlichkeit, für ihn: in der Antike — möglich war; in späteren Abbildtheorien wie dem „sozialist. Realismus" (s. d.) wird nur ästhetisch etwas wieder verhüllt, was vorher der Begriff bereits enthüllt hatte (Lukäcs, zu neuen Modifikationen s. aber Swiatlowski). In einer weiteren Spielart geschichtsbezogener Ästhetik, einer . h i s t o r i s c h e n V o r b i l d ä s t h e t i k ' , soll die positive Substanz einer vergangenen Epoche (Antike, christliches MA., die nationale Vergangenheit schlechthin) der gegenwärtigen Verfallszeit als Muster der Erneuerung auf höherer Reflexionsstufe vorgehalten werden (Herder, A. W. Schlegel, Schiller, z . T . Novalis, aber auch der „programmatische Realismus" um 1850, der „ästhet. Idealismus" nach 1900 u. a.). Der ästhet. „Schein" kann hier als Utopie gewürdigt oder als Ideologie kritisiert werden. Erst das dritte Modell befreit ästhet. Erkenntnis von der Rückbindung an bereits Erkanntes oder historisch bereits Produziertes, die , R e f l e x i o n s äs t h e t i k ' : Ästhet. Reflexion in

Wertung, literarische actu, als produzierende und rezipierende, bringt in einem unendlichen Prozeß der Vermittlung von Subjekt und Objekt ein Analogon zur unendlichen histor. Selbstentfaltung des Absoluten hervor (Novalis, F. Schlegel, z . T . Schelling). Höher wird ästhet. Erkenntnis nie mehr bewertet, „Schein" und „Wahrheit" sind untrennbar verbunden; daher auch die fortdauernde Faszination dieses Modells. Im Hintergrund steht theologisches (jüdisches oder christliches) Heilsdenken (Marquard), das dem Menschen eine aktive Rolle im göttlichen Wahrheitsgeschehen zubilligt, ohne daß ihm das „Eschaton", das ausstehende Heil, je verfügbar wäre. Der ästhet. Wert in diesem Modell behauptet sich auch, wenn im Laufe des 19. Jh.s ästhet. Erkenntnis nicht mehr das Vertrauen auf zunehmende Humanität ausdrückt, sondern zu einer „Ästhetik der Negativität" (Jauß) wird, einer .Katastrophentheorie' der Geschichte zuneigt (von Poe bis zu Benjamin und Adorno); die Erkenntnisleistung der Kunst reduziert sich auf illusionslose Analyse des heillosen Weltzustands im Horizont einer festgehaltenen Hoffnung auf zukommendes Heil oder auf machbare Veränderung, ihre Reflexion auf das Freilegen dieser Spuren von Hoffnung in vergangenen und gegenwärtigen Kunstwerken („Ästhetik des Vorscheins", Bloch).

Schon in H e g e l s Vorstellungen von der Kunst nach dem „Ende der Kunst" (mit der Antike) ist der objekt- und weltbezogene Erkenntnisanspruch der Kunst für die Zeit nach der Antike aufgegeben. Bei N i e t z s c h e wird Kunst gerade als täuschender „Schein" positiv gewertet, weil dieser allein es erlaubt, eine leidvolle Welt und ihre furchtbare Wahrheit zu ertragen. S e m i o t i s c h e Ästhetik verzichtet mit dem Anspruch auf objektive Wahrheit konsequent auch auf den Begriff des Scheins: das Ästhetische erhält Wert, weil es — darin andern sprachlichen Verfahrensweisen völlig gleichgestellt — eine eigene Wirklichkeit konstituiert, die bestimmte Bedürfnisse des Subjekts befriedigt. Ob damit jede Art von Wahrheitsanspruch hinfällt, wird kontrovers diskutiert (vgl. §11)2. Als besondere F o r m der W i r k u n g auf das ästhet. handelnde, produzierende oder rezipierende Subjekt tritt der ästhet. Wert in Konkurrenz mit den lebenspraktischen Werten der Ethik und des Nutzens. Wie von theoret. Erkenntnis das Merkmal „Schein", so unterscheiden ihn vom prakt. Handeln die Merkmale „Spiel" und „Zweckfreiheit" (Schiller, Kant). Die dem Ästhetischen zur Zeit seiner ersten Ausarbeitung zugeschriebenen Wirkungen sind — und das verweist auf die histor.

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Grunderfahrung der Epoche, die „Entzweiung" auf allen Lebensgebieten — durchweg V e r m i t t l u n g s l e i s t u n g e n : zwischen Sinnlichkeit (in der Bedeutung von „Sinnenhaftigkeit") und Verstand, zwischen Gemüt und Geist, Anschauung und Abstraktion, Phantasie und Realität, Subjektivität und Objektivität. Diese erste Gruppe faßt zusammen, was einerseits Bedingung der ganzheitlichen ästhet. Erkenntnis ist (in „Freiheit" von einseitigen Vermögen und Zwängen), andererseits aber auch die B i l d u n g des M e n s c h e n zum G a n z e n humaner Individualität befördert. Eine zweite Gruppe von Vermittlungsleistungen, auf der ersten basierend, soll B i l d u n g zum S o z i a len bewirken: Vermittlungen vom Individuellen zum Allgemeinen, vom privaten zum öffentlichen Dasein, vom Einzelnen zu Gesellschaft und Staat. Dahinter steht das aufklärerisch-idealist. Harmoniemodell für Individuum und Gesellschaft (Jäger). In seinem sukzessiven Zerfall (Skepsis begann auf Teilgebieten schon mit Lessing, vgl. Scheible) werden, als Korrelat der „Ästhetik der Negativität" und des ,Scheins ohne Wahrheit', D i s t a n z i e r u n g s leistungen wichtiger. Ästhet. Distanz zu Realität und Situation ermöglicht dem Subjekt k r i t i s c h e R e f l e x i o n seiner selbst und seiner Umwelt, der geltenden Regeln für Sprechen und Handeln sowie das Erproben alternativer Möglichkeiten, neuer Sinnerfahrungen. Eine extreme Möglichkeit der Distanzierung entsteht Mitte des 19.Jh.s in einer gesells c h a f t s a b g e w a n d t e n . ä s t h e t i s c h e n Leb e n s f o r m ' , auch unabhängig von der Produktion von Werken, jenseits von Wahr und Falsch wie jenseits von Gut und Böse. Die Abkehr von einer werkgebundenen Darstellungsästhetik im Zeichen der Semiotik (Türk) hat — mit Rückgriff auf Kant — im tschech. Strukturalismus (Mukarovsky, Vodicka, Kalivoda u.a.), in der Rezeptionsästhetik (Jauß u. a.) und in ästhet. Handlungstheorie (S. J . Schmidt 1980/82 u.a.) zu einer noch vollständigeren Ermittlung aller Wirkungen geführt, die sich aus der ästhet. Einstellung, der ästhetischen „Erfahrung" (Jauß), der Befolgung der „Ästhetik-Konvention" (S. J . Schmidt) ergeben; freilich bedürfen die Aussagen noch weitgehend empirisch-psychologischer Uberprüfung. Von neuem entdeckt wird insbesondere die „Lust", der „Genuß", die alle ästhet. Handlungen begleiten. Im Kern handelt es sich um L u s t an der F r e i h e i t , die eigene

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Wertung, literarische

Subjektivität in allen ihren Dimensionen ins Spiel zu bringen und neue Möglichkeiten zu konstituieren: ungebunden von den Konventionen des theoret. Erkennens, des an Moral und Nutzen orientierten Handelns und den Regeln des alltäglichen Sprechens, frei auch vom Zwang der Zeitlichkeit. Hervorgehoben wird die freie, schöpferische Aktivität nicht nur im ästhet. Wahrnehmen und Produzieren, sondern auch im Rezipieren, die allein erst die „Ästhetizität" - im Sinne S. J. Schmidts (1971) als „Wirklichkeitsabgehobenheit" und dann auch „Polyvalenz" — erzeugt. Genuß entspringt dabei, wie Jauß betont, nicht erst aus der kompetenten, „adäquaten" Rezeption eines ästhet. Objekts, sondern aus jeder beliebigen, bedürfnisbezogenen Realisation im Spielraum jener Freiheit. Einige Autoren, vor allem Künstler selbst, haben auch das R i s i k o solcher F r e i h e i t gesehen: die Verstärkung des Unbehagens an einer als unvollkommen durchschauten Welt, die Angst vor den freigesetzten Phantasie- und Willensregungen, dem Chaos eines nicht normierten Daseins. Lust erscheint nicht selten mit Grauen gemischt. Da alle genannten Wirkungen an den Modus des zweckfreien Spiels, an die Abgehobenheit von Realität und Situation gebunden sind, bleibt ihre Bewertung überhaupt so ambivalent wie die des Scheins. Sie alle können in einem illusionären Raum realisiert werden; soziale und realitätsadäquate Folgerungen sind möglich, aber weder gesichert noch überhaupt stets beabsichtigt. Namentlich mit dem Verlust der metaphysischen Hintergründe der Ästhetik und dem Vertrauensschwund gegenüber Geschichtsphilosophie droht Ästhetik zu individueller Therapeutik zu verkümmern (Marquard, Ch. Enzensberger u.a.). Ästhet. „Genuß" steht unter Ideologieverdacht (zur Kritik vgl. Jauß 1977).

Den a u t o n o m e n ä s t h e t i s c h e n Wert als a t t r i b u t i v e n hatten seine Verfechter, trotz der Neuigkeit des Konzepts um 1750, durch rigorose Neudeutung auch an Werken identifiziert, die ursprünglich in prakt. Handlungs- und Situationsbezügen entstanden waren. Allerdings geschah dies weniger durch die philosophische Ästhetik als durch Künstler und Kritiker (Winckelmann, Herder, A. W. Schlegel). Nach den Kriterien der Repräsentation umfassender, einheitlicher, noch ursprünglicher Weltschau werden einerseits die großen, bereits kanonischen Kunstwerke der Vergangenheit, daneben aber mythologische Dichtungen und Volkskultur in das neue „Pan-

theon der Kunst" (Hegel) eingeholt. Im einzelnen bestimmen die Erkenntnisfunktion, in ihren verschiedenen Modellen, sowie die Bildungsfunktion die Auswahl. Auf den Selektionsprozeß wirken jedoch auch q u a n t i t a t i ve W e r t u n g e n ein, nach denen vergleichend das in seiner Art jeweils Vollkommenste ausgewählt wird. Die M a ß s t ä b e d i e s e s Verg l e i c h s , der im wesentlichen Formqualitäten betrifft, bleiben in der ästhet. Reflexion der Zeit u n b e d a c h t und sind bis heute nicht genügend geklärt (Bohrer). Aufschluß geben am ehesten Werkstattgespräche und -notizen der zeitgenöss. Künstler, in Aufzeichnungen und Briefwechseln. Erst Phänomenologie, Russischer Formalismus und die semiotisch-strukturalist. Poetik des 20. Jh.s (s. Struktur, Strukturalismus) haben systematisch, aber nur mit begrenztem Erfolg, zu erforschen versucht, auf welchen Gestaltqualitäten der Werke die Möglichkeit der Realisierung des Ästhetischen in der Lit. — in allen seinen Dimensionen — beruht. Im Prinzip durchgesetzt hat sich die Einsicht, daß ä s t h e t i s c h e r Wert als attributiver auch in literar. Werken nur „in p o t e n t i a " als „Angebot" enthalten ist (vgl. §§ 1-3). Ihn zu realisieren, heißt für die genannten Richtungen zunächst, alles sprachliche Material, von den phonetischen über die syntaktischen zu den semant. Einheiten, so zu organisieren, daß sie eine „Struktur", ein „System", ein Ganzes bilden; der semant. „Sinn" als ästhetischer ist anders als über diese Struktur nicht zu haben, aber er ist durch sie noch nicht festgelegt, sondern nur ermöglicht: Form ist stets vieldeutig. Erst recht unbestimmt und dem Rezipienten überlassen bleibt die Zuordnung von „Bedeutung", hier im Sinne von ,Bedeutsamkeit' für den Leser. Je auffälliger ein Text seine Komposition — nach den Prinzipien von Gleichheit und Kontrast, aber auch nach anderen Bauplänen, die z . B . an Texten ähnlicher Gattung, Intention oder Epoche ermittelbar sind — zur Schau stellt, desto eher wird der Rezipient die Struktur konstruieren; aber auch die Schwierigkeit, einen Text direkt als Mitteilung über Sachverhalte zu lesen, verweist den Leser auf diesen Weg (zu den institutionellen Voraussetzungen ästhetischer Rezeption vgl. §2).

Der literar. Wert als ästhetischer scheint demnach allein im Bezug der Sprache des Textes auf sich selbst zu liegen, seine Leistung eine rein formale, kompositorische zu sein (Muka-

Wertung, literarische rovsky, Bense). Damit entspräche er dem, was als „besondere F o r m " , als „Schein" und „zweckfreies Spiel", nur B e d i n g u n g für ästhet. Erkenntnis und ästhet. Wirkungen auf das Subjekt, nur Ermöglichung der histor. Bestimmungen der ästhet. Werte war. Diese Werte als „außerästhetische" zu bezeichnen, erscheint demnach nicht als sinnvoll: es sind bedeutungstragende ästhet. Werte, die auf dem formalen ästhet. Wert aufruhen; zu ihnen ist also in jedem Fall weiterzugehen (Wellek/Warren, Weidlé, Jauß 1977, A. 8). Der formale (syntaktische) ästhet. Wert, den bedeutungstragenden (semantischen) Werten vorgeordnet, ist zugleich deren Funktion (vgl. § 3): er besorgt ihre „ästhet. Heraushebung" (Oldemeyer 1980, Suhr). Daher erweist sich die Grundstruktur eines Textes auch als abhängig vom jeweiligen Ästhetik-Modell; z . B . gilt für die Gestaltung des axiologischen Werts „ästhet. Erkenntnis": ,Wesensästhetik' (Klassik, Realismus) tendiert zu geschlossener Struktur („Organismus"), ,Reflexionsästhetik' (Romantik, Moderne) zur offenen Verweisungsstruktur („Allegorie"; vgl. Benjamin). Der Bedingungszusammenhang zwischen formalen und bedeutungstragenden ästhet. Werten kann auch auf eine „ Z w e i p o l i g k e i t " des Ä s t h e t i s c h e n , auf eine Spannung zwischen syntaktisch-strukturalen und semantisch-funktionalen Momenten reduziert werden (Najder). Diese Vorstellung macht verständlich, daß die Gewichte bei der Bewertung von Werken, in Lit.theorie wie in individuellen Wertungsakten, einmal ganz auf die Seite der Form, dann wieder ganz auf die des Gehalts, verschoben werden. Die jeweils realisierten literar. W e r t e werden in argumentierender Lit.kritik (und -wiss.) durch Interpretationen gestützt;mitihrer Hilfe müssen die Werte nicht nur auf Textstrukturen allgemein, sondern auf Textelemente, auf deren Verhältnis zueinander und deren Gewichtung, zurückgeführt werden. Dies erst sollte „quantitative Wertung", zur Herstellung einer Rangordnung, ermöglichen. Die Argumente stellen aber in der Regel nicht kausale „Gründe" dar, sondern sind Anleitung und Überredung zu begrenzt lernbarer „ästhet. Erfahrung" in einer ihrer Varianten (Weitz 1965, Reichert, Daiches). Der Kritiker zieht auf Grund seiner Vergleichskompetenz die zum jeweiligen Textgenre passenden Kriteriensätze heran und sucht sie am Werk zu bewähren

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(Hirsch 1972), um dessen ,Wert' oder,Unwert' evident zu machen. Die Historizität des Urteilenden erlaubt es ihm, in diesem Akt die „Bewußtseinsgeschichte der Moderne" auch durch Überschreitung tradierter Normen produktiv fortzusetzen (Bohrer). Die These des „Irrationalismus" des ästhet. Urteils (These des „Intuitionismus", Croce u.a.) ist insofern nicht falsch, als diese und andere aus dem Vergleichen folgende Entscheidungen und Gewichtungen im Ermessen des Kritikers bleiben (vgl. $ $ 9 u . 11). Der Kritiker ist gleichwohl nicht völlig unabhängig; denn auch a t t r i b u t i v e W e r t e für H a n d l u n g e n werden, durch die axiologischen ästhet. Werte, als Normen der „ästhet. Rolle(n)" (Eibl 1971) programmiert, wenngleich mit dem größtmöglichen individuellen Spielraum (vgl. § 5). Gemeinsam ist dem Tun von Autor und Rezipient „Enthobenheit" vom und „Kontrast" zum Alltag (Eibl, auch Jauß 1977, A. 8.b), und zwar idealiter als freiwillig eingenommene Haltungen. Dem A u t o r fällt die R o l l e des G e n i e s , später des A r t i s t e n zu: jedenfalls die Verpflichtung auf schöpferische Originalität, permanente Innovation. In der Auslegung der Rolle werden histor. Wandlungen sichtbar: Schaffen wie die Natur, im Prozeß der Geschichte, im schroffen Gegenüber zu beidem sind solche Varianten. Dem entsprechen u n t e r s c h i e d l i c h e L e s e r r o l l e n : einfühlend-identifizierender Nach Vollzug, hermeneut. Vermittlung verschiedener subjektiver Horizonte (mit literarisch-historischer Kompetenz), ungebundenes Selbstschaffen am angebotenen Material. Die histor. Tendenz, für beide Rollen, geht auf immer mehr Selbstbestimmung, um den Preis wachsender Isolation. Die Abstraktion von Realität und Situationsbezug, die den ästhet. Diskurs charakterisiert, verdrängt aus der Theorie das Nachdenken über die Distribution wie über die Sanktionen. Sie kommen in der Praxis um so wirksamer zum Zuge. Theodor W . A d o r n o , Ästhet. Theorie (1970; Adorno, Ges. Schriften. Bd. 7). Alfred B a e u m l e r , Ästhetik, in: Handbuch d. Philosophie, Abt. I: Die Grunddisziplinen (1934) S. 1-99. Monroe C. B e a r d s l e y , Aesthetics from Classical Greece to the Present. A Short History (New York 1966; 2. ed. Alabama 1977). Walter B e n j a m i n , Der Begriff d. Kunstkritik in d. dt. Romantik (1920), in: Benjamin, Schriften, Bd. 2 (1955) S. 420-528. Max B e n s e , Aesthetica. Einf. in d. neue Ästhetik

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Wertung, literarische

(1965). Karl Heinz B o h r e r , Die „Antizipation" beim literar. Werturteil. Über d. analyt. Illusion. Akzente 25 (1978) S. 104-120. Rüdiger B u b n e r , Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik. Neue Hefte f. Philosophie 5 (1973) S. 38-73. Christa Bürger, Peter B ü r g e r u. Jochen S c h u l t e Sasse (Hg.), Aufklärung u. literar. Öffentlichkeit (1980; EdSuhrk. NF. 1040). P. B ü r g e r 1979: vgl. § 10,4. Kenneth Hurke, Dichtung als symbolische Handlung. E. Theorie d. Lit. (1966; EdSuhrk. 153; amerik. Ausg. 1941). D a i c h e s 1969: vgl. § 9. Galvano D e l l a V o l p e , Kritik d. Geschmacks. Entwurf e. histor.-materialist. Lit.theorie ». Ästhetik (1978; Philos. Texte 7; ital. Ausg. 1960). Karl E i b l , Die ästhet. Rolle. Fragmente e. Lit.Soziologie in lit.geschichtl. Absicht. Studium generale 24 (1971) S. 1091-1120. Christian E n z e n s b e r ger, Lit. ». Interesse. E. polit. Ästhetik mit zwei Beispielen aus d. engl. Lit., Bd. 1: Theorie, Bd. 2: Beispiele (1977). Victor E r l i c h , Russ. Formalismus (1964; neue Ausg. 1973; SuhrkTbW. 21). Rolf F r i t s c h , Kunst, Magie, Sprache. Überlegungen z. ästhet. Verständigung. Merkur35(1981)S. 369378. G a b r i e l 1975: vgl. §3. Hans G ü n t h e r , Grundbegriffe d. Rezeptions- ». Wirkungsanalyse im tschech. Strukturalismus. Poetica 4 (1971) S. 224-243. Angela H a a r d t , Max Bense. Ästhet. Theorien oder Beobachtungen zu e. teilweisen Ablösung d. Ästhetik von d. Philosophie. ZfÄsth. 15 (1970) S. 19-36. Neue H e f t e für Philosophie, hg. v. R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl, Bd. 5: Ist e. philosoph. Ästhetik möglich? (1973). Wolfhart Henckmann (Hg.), Ästhetik (1979; WegedFschg 31). Dieter H e n r i c h , Kunst u. Kunstphilosophie d. Gegenwart [Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel], in: W. Iser (Hg.), Immanente Ästhetik — ästhet. Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne (1966; Poetik u. Hermeneutik 2) S. 11-32. Dieter H e n r i c h u. Wolfgang Iser (Hg.), Theorien d. Kunst (1982; Neue Wiss. Bibl. 99). Heinz H i l l m a n n , Alltagsphantasie ». dichter. Phantasie. Versuch e. Produktionsästhetik (1977; AthenäumTb. 2130). H i r s c h 1972: vgl. § 1. Wolfram H o g r e b e , Semant. Ästhetik. Zs. f. philosoph. Forschung 34 (1980) S. 18-37. Andräs H o r n , Literar. Modalität. Das Erleben von Wirklichkeit, Möglichkeit u. Notwendigkeit in d. Lit. (1981; Beitr. z. neueren Litg. 55). I s e r 1970: vgl. § 3 . Iser 1976: vgl. § 3 . Georg J ä g e r , Die Ausbildung des „Sozialsystems Literatur" zwischen 1750/70 und 1815, in: Zur Sozialgeschichte . . . Bd. 1. 1984 (vgl. §6). Hans Robert J a u s s , Ästhet. Erfahrung u. literar. Hermeneutik I (1977; UTB. 692). André J o l l e s , Einfache Formen (2. Aufl. Halle 1956). J ù z l 1969: vgl. § 3. K l o e p f e r 1979: vgl. § 2 . Kunst, Kunstwerk, in: Histor. Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 4 (1976), Sp. 1357-1434. Jurij M. L o t m a n , Die Struktur literar. Texte(1972;UTB. 103). O d o M a r q u a r d ,

Schwierigkeiten mit d. Geschichtsphilosophie. Aufsätze (1973; Suhrk. Theorie). M a r q u a r d 1973/1: vgl. § 8. Thomas M e t s c h e r , Ästhet. Erkenntnis u. realist. Kunst. Das Argument Jg. 17, H. 3/4 = H. 90 (1975) S. 229-258. M o r r i s 1972: vgl. § 1. Charles W. M o r r i s , Ä s t h e t i k u . Zeichentheorie (1939/40), in: W. Henckmann (Hg.) 1979, S. 269-293.Jan M u k a r o v s k y , Das dichter. Werk als Gesamtheit von Werten, in: Mukarovsky, Kapitelaus d. Poetik (1967; EdSuhrk. 230) S. 34-43. Ders., Kapitel aus d. Ästhetik (1970; EdSuhrk. 428). N a j d e r 1975: vgl. § 3 . N a t e w 1973: vgl. § 1. Heinrich N i e h u e s - P r ö b s t i n g , Rhetor. u. idealist. Kategorien d. Ästhetik, in: W. Oelmüller (Hg.) 1981, S. 94-110. Willi O e l m ü l l e r (Hg.), Kolloquium Kunst u. Philosophie. Bd. 1: Ästhetische Erfahrung (1981; UTB. 1105). Bd. 2: Ästhet. Schein (1982; UTB. 1178). O l d e m e y e r 1976: vgl. § I I b . Ernst O l d e m e y e r , Wertvermittlung durch ästhet. Heraushebung. Anthropologische Gedankenkette über ihre Grundlagen, Arten u. Folgen, in: G. Großklaus u. E. Oldemeyer (Hg.) 1980 (vgl. § 10,5), S. 51-71 (Diskussion: S. 72-87). O s b o r n e 1974: vgl. § I I b . P a e t z o l d 1976: vgl. § I I b . Wilhelm P e r p e e t , Von der Zeitlosigkeit d. Kunst. Jb. f. Ästhetik u. allgem. Kunstwiss. 1 (1951) S. 1-28, Wiederabdruck in: W. Henckmann (Hg.) 1979, S. 13-51. Rainer P i e p m e i e r , Zu e. nachästhet. Philosophie d. Kunst, in: W. Oelmüller (Hg.) 1981, S. 111-125. R e i c h e l 1964: vgl. § 11 b. John F. R e i c h e r t , Description and Interpretation in Literary Criticism. Journal of Aesthetics and Art Criticism 27/3 (1969) S. 281292. Joachim R i t t e r , Ästhetik, ästhetisch, in: Histor. Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 1 (1971) Sp. 555-580. Joachim R i t t e r , Landschaft. Zur Funktion d. Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1962), in: Ritter, Subjektivität (1974; BiblSuhrk. 379) S. 141-163. Jörn R ü s e n , Ästhetik u. Geschichte. Geschichtstheoret. Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Ges. u. Wiss. (1976). Michael S c h e c k e r , Ästhet. Semantik. Versuche zu e. theoret. Lit.wiss. (Bern 1977; EuroHS. 157). Hartmut S c h e i b l e , Arthur Schnitzler u. d. Aufklärung (1977), zu Lessing: S. 21-27. Moritz S c h l i c k , Das Grundproblem d. Ästhetik in entwicklungsgeschichtl. Beleuchtung. Archiv f. d. ges. Psychologie 14(1909) S. 102-132. S c h m i d t 1971: vgl. § 2 . S c h m i d t 1980/82: vgl. § 1 . Jochen S c h u l t e - S a s s e , Literar. Markt u. ästhet. Denkform. Analysen u. Thesen z. Gesch. ihres Zusammenhanges. LiLi 2 (1972) H. 6, S. 1131. Ders., 1975: vgl. § 10,4. DieterSuhr, Von d. Funktion d. Ästhetik f. d. Praxis d. Ethik, in: H. Klages u. P. Kmieciak (Hg.) 1979 (vgl. § 5) S. 690695. Zbigniew S w i a t t o w s k i , Zur Bestimmung d. ästhet. Eigenart literar. Kunstwerke. Versuch e. Bestandsaufnahme. Weim. Beitr. 27 (1981) H. 4, S. 36-64. Horst T ü r k , Lit.theorie I. Lit.wiss. Teil

Wertung, literarische (1976; Kl. Vandenhoeck-R. 1421). Wladimir Weidlé, Die zwei „Sprachen" d. Sprachkunst. Entwurf z. Grundlegung e. nichtästbet. Kunsttheorie. ZfÄsth. 12 (1967) S. 154-191. W e i t z 1965: vgl. § I I b . René Wellek u. Austin Warren, Theorie d. Lit. (1959; 2. Aufl. 1971; erste amerikan. Ausg. 1942). Gerd W o l a n d t , Über Recht u. Grenzen e. subjektstheoret. Ästhetik. ZfÄsth. 9 (1964) S. 28-48. § 8. Zu den f a k t i s c h g e l t e n d e n l i t e r a r . W e r t e n , N o r m e n und R o l l e n seit der W e n d e z u r „ Ä s t h e t i k " . Die Begründung der Autonomie des Ästhetischen läßt sich, wie jede andere Normierung des literar. Handelns, als sozialer Gruppenprozeß verstehen, der u. a. von mehr oder weniger bewußten Problemen der Verfechter dieser neuen Normen, d.h. von ihrem teils schlecht gesicherten Status und ihren zu geringen öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten motiviert ist (Grimminger 1973 und 1980, Schulte-Sasse 1972, 1975 u.a.). Mehr noch als dies dürfte aber die gänzliche Vernachlässigung der Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen des literar. Lebens durch die Autonomieästhetik dafür verantwortlich sein, daß sie nicht einmal für Lit., die sich ,als Kunst' versteht, jemals die universale Geltung gewonnen hat, die sie nach ihren philosophischen Ableitungen beansprucht (Jäger u.a.). Dafür einige Beispiele. Von einem kleinen, meist aktiv beteiligten Freundeskreis um die maßgeblichen Träger der Diskussionen über Ästhetik und Kunst (in eigens damit befaßten Zeitschriften) abgesehen, blieben Publikum und L i t . k r i t i k bei der tradierten Einstellung gegenüber Literatur: sie erwarteten Unterhaltung und Belehrung, und zwar direkte, und sie werteten dementsprechend. Die von der Ästhetik geforderte Distanz, durch bewußte Wahrnehmung der künstler. Form als konstitutives Medium aller Werte, wird nicht erreicht. Statt „ K u n s t w e r t " wurde, unmittelbar die bedeutungstragenden Werte anzielend, „ G e b r a u c h s w e r t " realisiert (vgl. §10). Das inzwischen notorische Beispiel dafür ist die Wirkung von Goethes Werther (Scherpe, Jäger 1974 u. a.), aber das gleiche Phänomen wird von der Rezeptionsforschung wie auch durch Beobachtung normalen Leseverhaltens bis heute belegt (verschiedene Beiträge in Grimm, Heuermann u.a., Kreuzer/Viehoff). Sofern der Lit.kritiker die künstler. Form mitbeurteilte, tat er das zunächst noch lange nach den herkömmlichen rhetor. Kriterien, die in Lehrbüchern der Rhetorik und Poetik u. a. über den Schulbetrieb fortwirkten (Jäger 1982). Später, nach dem Ubergang in den Journalismus, schwankt er (oft mediai- und systemabhängig) zwischen der Rolle des

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Pädagogen, der die ästhet. und lit.polit. Normen oder Autorintentionen dem Publikum vermitteln, und der des Anwalts, der die Interessen des Publikums gegenüber einer sich ihm entfremdenden Lit. vertreten will (Lempicki, Hohendahl, Gaiser). Aber das Konzept der autonomen Ästhetik erzeugt ihre Aporien auch selbst. Der Anspruch auf ästhet. Erkenntnis führt zur Rivalität zwischen literar. Richtungen, die sich durch unterschiedliche Erkenntnismodelle und -ergebnisse tendenziell als verschiedene Systeme von Rollen- und Gegenstandsnormen voneinander absetzen. Der Anspruch auf ästhet. Bildung, maßgeblich formuliert in Schillers Briefen Über ästhetische Erziehung, wird umgemünzt in ein Programm zur Vermittlung bürgerl. Tugenden und nationaler Ideale; die Dokumente über die Schiller-Feiern von 1859 und 1905 sind beredtes Zeugnis dafür (Noltenius, Hagen). Im „programmatischen" (weniger im „poetischen") Realismus wie in der Heimatkunstbewegung wird besonders deutlich, wie die Rezeptionslenkung die substantielle Wertvermittlung auf Kosten ästhetisch-autonomer Wertbildung begünstigt (Widhammer, Kinder, Rossbacher). In der angeblich autonomen Kunstsphäre gedeiht ein Heroenkult der Dichterpersönlichkeit (Ch. Bürger). Aber freies und individuelles Schöpfertum, Originalität ist für die meisten Autoren im sich ausweitenden Lit.betrieb auch eine Uberforderung; an die Stelle der alten Regelpoetik treten neue Produktionsnormen, orientiert an erfolgreichen Mustern, an den poetolog. Reflexionen der .Klassiker' und aufgezeichnet in neuen Poetiken. In Zeiten starker Turbulenz des literar. Lebens, etwa um 1900, wechseln die Stile wie Moden. Die ,Reflexionsästhetik', die ihrem Charakter nach am wenigsten zu Verfestigungen neigt, neuen Normierungen am wenigsten Vorschub leistet und nur durch kreative Leistungen in Produktion und Rezeption bestehen kann (von den Frühromantikern bis zu Benjamin und Adorno), erweist sich als zu esoterisch. Das Ästhetische so, wie es in seinen Anfängen ausgearbeitet war, in Handlungen und Werken zu verwirklichen, bleibt eine Sache Weniger, beschränkt auf kleine Zirkel. Wie Schiller vorausgesehen hatte, war „ästhet. Erziehung" im unverfälschten Sinne Utopie; sie setzt im Grunde voraus, was sie hervorzubringen beabsichtigt: das freie, mündige Individuum. An Stelle des angestrebten e i n e n Systems ästhet. Werte, auf der Grundlage der Realisierung des formalen ästhet. Werts, bilden sich neben- und nacheinander k o n k u r r i e r e n d e literar. H a n d l u n g s - und W e r t s y s t e m e aus, die m i t K u n s t a n s p r u c h auftreten, aber jeweils nur Teile des ursprünglichen Konzepts realisieren. Diese Differenzierung innerhalb der Lit. ,als Kunst', aber auch die Abgrenzbarkeit weiterer ,Teilsysteme' mit eigenen literar. Werten, Rollen und Normen (vgl. § 6 u. 8)

85.2

Wertung, literarische

wird nun wesentlich v o n d e r D i s t r i b u t i o n , durch institutionelle, politische, ökonomische und technische Faktoren, b e g ü n s t i g t (s. Verlagsbuchhandel, auch Hohendahl). Die verbesserte Schulbildung und die zunehmende Freizeit, die Ausweitung der Publikationsmöglichkeiten durch technische Erfindungen und neue Medien, die Einrichtung neuer Institutionen der Lit.Vermittlung (kommerzielle Leihbibliotheken, Volksund öffentliche Bibliotheken) u. a. machen Gruppen der Bevölkerung zu Lesern, an die bei der Entwicklung des Konzepts des Ästhetischen zu wenig und jedenfalls ohne Berücksichtigung ihrer realen Lesevoraussetzungen und -bedürfnisse gedacht worden war. Auf dem literar. Markt wird, im Anschluß an ältere Traditionen, eine U n t e r h a l t u n g s l i t e r a t u r entwickelt, die, z.T. rein am kommerziellen Wert orientiert, auf die Befriedigung solcher Bedürfnisse, daneben auch, orientiert an polit. und weltanschaul. Wertsetzungen, auf die Lenkung dieser Bedürfnisse zielt. Die Werte vorautonomer ,Ästhetik', Lust und Belehrung - kritischer gesehen: Bedürfnismanipulation aus kommerziellen und Herrschaftsinteressen —, verdrängen hier den neuen ästhet. Wert der Autonomie, je perfekter sich das Teilsystem ausbildet (vgl. § 6). Daß und mit welchen Folgen für Rollen und Normen in andern .Teilsystemen' h e t e r o n o m e W e r t s e t z u n g e n f ü r Lit. - konfessionelle und politische — dominieren, wurde bereits skizziert (§ 6). Auch die fortbestehende M ü n d l i c h k e i t von Lit. — im Theater, in der Kirche, bei repräsentativen öffentlichen Anlässen, in Vereinen, in der Dorfgemeinschaft, im Salon, im häuslichen Kreis - verhindert die Realisierung autonomer ästhet. Werte und folgt je eigenen, zum Teil sehr strengen Ritualen mit eigenen Rollen und Normen (u. a. Häntzschel, Segebrecht, v. Heydebrand). Die inneren und die äußeren Schwierigkeiten, die den Autoren von Lit. mit streng ästhetischem Anspruch entgegentreten, wirken auf deren Selbst- und Rollenverständnis und damit auf ihre literar. Wertorientierung zurück. Insbesondere der „freie Schriftsteller" (Haferkorn) als „Berufsästhet" (Eibl 1971) muß sich entweder mindestens teilweise den Anforderungen des Marktes anpassen (vgl. dazu exemplarisch Böhler, Meyer, Link 1976,2.5) oder er muß sich als Lehrer, Führer und Prophet stilisieren, in beiden Fällen also für sich wie für sein Publikum Abstriche vom Autonomieanspruch machen. Hält er ihn fest, bleibt ihm nur die Rolle des Bohemien, der, unabhängig vom Publikum, sein Leben zum Kunstwerk formt (Kreuzer). Die Institution der L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t hat sich aus lit.didaktischen, aber auch aus forschungsprakt. Gründen weitgehend zum Anwalt der von Philosophen und Autoren programmatisch vertretenen und in kanoni-

schen Werken vermittelten ästhet. Werte gemacht (zu Erweiterungen vgl. § 1 u. 10). Auch sie konstituiert damit ein bestimmtes Handlungsspiel im ,Sozialsystem Lit.' (Bourdieu u. a.). Die tatsächlich in einer Gesellschaft geltenden literar. Werte können aber nur von Distribution und Rezeption her ermittelt werden, und zwar als „soziale Fakten" (Mukarovsky). Ansätze dazu liegen in der hermeneut. und der empir. Rezeptionsforschung sowie in lit.soziologischen Arbeiten vor (Grimm, Kreuzer/Viehoff u . a . ) . Ihre Ergebnisse stellen jedoch erneut vor die Frage nach der Legitimation des ästhet. Werts wie jedes anderen der gefundenen literar. Werte. Michael B ö h 1 e r, Die Freundschaft von Schiller ». Goethe als lit.soziolog. Paradigma. Intern. Arch. f. Sozialgesch. d. dt. Lit. 5 (1980) S. 33-67. Pierre B o u r d i e u , Zur Soziologie d. symbol. Formen (1970; 2. Aufl. 1974; SuhrkTbW. 107). Christa B ü r g e r , Schüchterner Versuch, einige Zweifel an d. Brauchbarkeit d. Kategorie Anschauung für e. gegenwärtige Ästhetik durch e. Blick in d. Geschichte zu erregen, in: W. Oelmüller (Hg.) 1981 (vgl. §7), S. 29-40. E i b l 1971: vgl. §7. U l f E i s e 1 e, Realismus-Problematik: Überlegungen z. Forschungssituation. DVLG. 51 (1977) S. 148-174. Gottlieb G a i s e r , Die Rolle d. Lit.kritik im literar. System. Lit. in Wiss. u. Unterr. 14 (1981) S. 225-237. Gunter G r i m m (Hg.), Lit. u. Leser. Theorien ». Modelle z. Rezeption literar. Werke (1975). Rolf G r i m m i n g e r , Das intellektuelle Subjekt d. Lit.wiss. Entwurf e. dialekt. Hermeneutik, in: Kolbe (Hg.) 1973 (vgl. § 1), S. 15-48. Ders., Die Utopie d. vernünftigen Lust. Sozialphilosoph. Skizze zur Ästhetik d. 18. Jh.s bis zu Kant, in: Christa Bürger u.a. (Hg.) 1980 (vgl. §7), S. 116-132. Günter H ä n t z s c h e l , Deklamatorien ». Deklamationspraxis in d. 2. H. d. 19. Jh.s, in: Zur Sozialgeschichte . . ., Bd. 2, 1984 (vgl. §6). H a f e r k o r n 1964: vgl. § 6 . Wolfgang H a g e n , Die Schillerverehrung in d. Sozialdemokratie (1977; Lit.wiss. u. Sozialwiss. 9). Hartmut Heuermann, PeterHühnu. BrigitteRöttger(Hg.), Literar. Rezeption. Beitr. z. Theorie d. Text-Leser-Verhältnisses ». s. empir. Erforschung (1975; Informationen z. Sprach- u. Lit.didaktik 4). R. v. H e y d e b r a n d 1983: vgl. §10. Walter H i n c k (Hg.), Textsortenlehre, Gattungsgeschichte (1977; medium literatur 4). Gustav René H o c k e , Manierismus in d. Literatur. Sprach-Alchimie ». esoter. Kombinationskunst. Beitr. z. vgl. europäischen Lit.gesch. (1959; 3. Aufl. 1961; rde 82/83). Walter H o m b e r g u. Karlheinz R o s s b a c h e r , Christoph Meckels ,Der Zünd' ». s. Leser. Fallstudie z. Empirie d. Lesevorgangs. Erfahrungen u. erste Ergebnisse, in: H. Kreuzer u. R. Viehoff

Wertung, literarische (Hg.) 1981 (vgl. § 1), S. 285-306. Peter Uwe H o h e n d a h l , Lit.kritik u. Öffentlichkeit (1974). Georg J ä g e r , Schule u. literar. Kultur Bd. 1 (1982). Ders., Die Wertherwirkung. E. rezeptionsästhet. Modellfall, in: W . Müller-Seidel u.a. (Hg.), Historizität in Sprach- u. Lit.wiss. (1974) S. 389-409. Ders., 1984: vgl. § 7 . Hans Robert J a u s s , La douceur dufoyer — Lyrik d. Jahres 1857 als Muster der Vermittlung sozialer Normen, in: Jauss 1977 (vgl. § 7 ) , S. 343-382. Hermann K i n d e r , Poesie als Synthese. Ausbreitung e. dt. Realismus-Verständnisses in d. Mitted. 19.]h.s (1973; Ars poetica. Stud. 15). Helmut K r e u z e r , Die Boheme. Beitr. zu ihrer Beschreibung (1968). K r e u z e r / V i e h o f f 1981: vgl. § 1. S i g m u n d v o n L e m p i c k i , Über literar. Kritik u. d. Probleme ihrer Erforschung (1924), in: P. Gebhardt (Hg.) 1980 (vgl. § 10), S. 77-101. L i n k 1976: vgl. § 1. Odo M a r q u a r d , Über einige Beziehungen zw. Ästhetik u. Therapeutik in d. Philosophie d. 19. Jh.s, in: Marquard 1973 (vgl. § 7), S. 85-106. Jochen M e y e r , Hie Weif! Hie Waiblingen! Wilhelm Raabe in Stuttgart. 1862-1870. Marbacher Magazin 19 (1981). Jan M u k a f o v s k y , Ästhet. Funktion, Norm u. ästhet. Wert als soziale Fakten (1935/36), in: Mukafovsky 1970 (vgl. § 7 ) , S. 7-112. Adolf M u s c h g , Lit. als Therapie? E. Exkurs über d. Heilsame u. d. Unheilbare (1981; EdSuhrk. 1065). N a u m a n n 1973: vgl. § 1 . N i e h u e s - P r ö b s t i n g 1981: vgl. § 7. Rainer N o l t e n i u s , Dichterfeiem in Deutschland. Rezeptionsgesch. als Sozialgesch, am Beispiel d. Schiller- u. Freiligrath-Feiern (1983). R e m a k 1981: vgl. § 9 . Karlheinz R o s s b a c h e r , Heimatkunstbewegung u. Heimatroman. Zu e. Lit.Soziologie d.Jh.wende (1975; Lit.wiss. — Gesellschaftswiss. 13). Klaus S c h e r p e , Werther u. Wertherwirkung (1970; 2. Aufl. 1975). S c h u l t e - S a s s e 1972: vgl. § 7 . S c h u l t e - S a s s e 1975: vgl. § 10,4. Wulf S e g e b r e c h t , Das Gelegenheitsgedicht. E. Beitr. z. Gesch. u. Poetik d. dt. Lyrik (1977). Zur S o z i a l g e s c h i c h t e 1984: vgl. § 6 . Horst S t e i n m e t z , Der vergessene Leser. Provokator. Bemerkungen z. Realismusproblem, in: Dichter u. Leser. Studien z. Lit., hg. v. F. van Ingen u.a. (Groningen 1972; Utrechter Beitr. z. allgem. Lit.wiss. 14) S. 113-133. Helmuth W i d h a m m e r , Realismus u. klassizist. Tradition. Zur Theorie d. Lit. in Deutschland 1848-1860 (1972; Stud. z. dt. Lit. 34). Erwin W o l f f , Der intendierte Leser. Überlegungen u. Beispiele z. Einf. e. lit.wiss. Begriffs. Poetica 4 (1971) S. 141-166. Z e i t s c h r i f t für Lit.wiss. u. Linguistik (LiLi) H . 15 (1974): Rezeptionsforschung. Bernhard Z i m m e r m a n n , Lit.rezeption im histor. Prozeß. Zur Theorie e. Rezeptionsgesch. d. Lit. (1977).

§ 9. Der K a n o n der „ W e l t l i t e r a t u r " als Legitimationsgrundlage für literar. W e r t . Weltliteratur (s. d.) ist, schließt man die

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Mythen und religiösen Schriften der ältesten Überlieferung ein, aus einem jahrtausendelangen Selektionsprozeß hervorgegangen; sie umfaßt literar. Zeugnisse aller Zeiten und Kulturen. Sowohl die beanspruchte überzeitliche Dauer wie die vom Begriff „Weltliteratur" suggerierte geographische Ubiquität seiner Geltung lassen diesen Kanon als sichere Basis für die induktive Ableitung literar. Qualitätsmaßstäbe erscheinen. Doch läßt die Rekonstruktion seiner Entstehung erkennen, daß auch dieser Kanon sich nicht der Existenz eines „objektiven", d.h. vom Wahrnehmenden unabhängigen, zeitlos gültigen „ästhet. Wertes" verdankt, sondern nur einer in Werkstrukturen verankerten Potentialität (mit Jauß 1977 gegen Mukafovsky 1970). Auch eine anthropologische Fundierung ist auszuschließen, da der Kanon keineswegs universell gilt. Die Tradition der „Weltlit." ist Ergebnis einer, als Institution beschreibbaren, Kommunikation zwischen qualifizierten Vermittlern — in der neueren Zeit sind es meist selbst Autoren — (als „Normsendern") und qualifizierten Rezipienten (als „Gruppenöffentlichkeit", vgl. § 5). Das Moment der Qualifikation oder K o m p e t e n z ist hier sehr wichtig: Nicht jeder entstandene Text wurde und wird rezipiert, auf kostbaren Papyrus geschrieben, in Hss. verbreitet, gedruckt, in Kritiken gelobt, in Schulen und Universitäten vermittelt, und nur wenige werden schließlich weltweit und überzeitlich anerkannt. Die Entscheidungskompetenz darüber ist ihrer Art nach jedoch k e i n e h i s t o r i s c h i n v a r i a n t e G r ö ß e : unter mythologischen, religiösen, panegyrischen, satirischen, moralisch-didakt. Texten wird, jedenfalls zunächst, von ganz verschiedenen Vermittlern in verschiedenen Positionen unter verschiedenen Maßstäben ausgewählt. Erst die Ausbildung der Ästhetik im 18. Jh. (§ 7) bewirkt durch die starke Einwirkung dieser Epoche auf die Kanonbildung und durch ihre eigene spätere ,Klassizität' eine gewisse Vereinheitlichung: die Kompetenz ist von nun an dominant eine „ästhetische", in den Spielräumen, die dieser Begriff eröffnet (vgl. §§ 7 und 8). Die Gruppe der „Normsender" besteht jetzt aus ästhetisch orientierten Lit.Vermittlern und anerkannten Autoren, die „Gruppenöffentlichkeit", die diese Auswahl akzeptiert, aus einem ästhetisch sensibilisierten Publikum. Voraussetzung dafür, zu diesen Gruppen zu gehören, ist zum Teil soziale Schichtung, weil ein früher, meist

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Wertung, literarische

in Familie und Schule geförderter Umgang mit Lit. die Vergleichskompetenz mit ausbildet; ebenso wichtig ist aber auch originäre Begabung. Der Vorgang selbst ist etwa so vorzustellen: Eine Erstwertung, die Tradierung begründet, und die folgenden Wertungen, die das Tradierte weiter filtern, geschehen am Maßstab der jeweils geltenden Werte, im Hinblick auf die dem Text jeweils abverlangte Funktion, und zwar auf dem Wege des Vergleichs: so wird eine quantitative Wertung erster Ordnung durchgeführt, die den höchstwertigen Text an die Spitze von seinesgleichen setzt. Allerdings scheinen an dieser quantitativen, noch f u n k t i o n s o r i e n tierten Wertung bereits einige jener unreflektierten Kriterien beteiligt zu sein, die mit einer besonderen Sensibilität für Formwerte wie Proportion, Wohlklang, Individualität u. ä. zusammenhängen (Tscherpel). Die wirkungsbezogene Rhetorik hat solche Momente teilweise systematisiert; aber der Kontrast zwischen „klassizistischen", auf Harmonie und Gleichgewicht zielenden, und „manieristischen", das Abweichende und Exzentrische hochwertenden Rhetoriken (Hocke 1959) erweist, daß auch in diesem Felde keine historisch invarianten Werte begründbar sind. Gerade in bezug auf den weltliterar. Vergleich hat Remak (1981) die Komplexität des Verfahrens — auch in der Rollendifferenzierung zwischen öffentlicher und akademischer Lit.kritik wie dem gebildeten Normalleser — nach verschiedenen Hinsichten analysiert: Selbst innerhalb der wertenden Gruppe mischen sich Gruppennormen und individuelle Wertsetzungen; das Verhältnis der Werte zueinander ist nicht streng logisch, sondern unterliegt wechselnden Hierarchisierungen, z.B. im Konflikt ästhet. und ethischer, individueller und verallgemeinerbarer Werte. Im ästhet. Bereich können z. B. Repräsentativ s t und Bedeutungsfülle gegen Konzentration und inneren Zusammenhang abgewogen werden, stilist. und gattungsmäßige Reinheit gegen kühnes Experimentieren u. a. Jedenfalls scheint auch derselbe Kritiker zum selben Zeitpunkt verschiedene Werke nach ganz verschiedenen Maßstäben dem Kanon zuzuordnen (vgl. Schlenstedt). Soweit akademische Lit.kritik an der Kanonbildung beteiligt ist, kann ein pragmat. Interesse an besonders schwierigen, deutungsbedürftigen Texten, die eine Zurschaustellung des eigenen Geschicks ermöglichen, nicht von der Hand gewiesen werden (Gaiser 1977). Zur Sicherung eines Werks im Kanon gehört daher ein zweiter Schritt: eine quantitative Wertung z w e i t e r O r d n u n g geschieht dadurch, daß derselbe Text zu verschiedenen Zeiten auch veränderten M a ß s t ä b e n , darunter ästhetischen, entspricht, und zwar im Vergleich mit anderen Texten auf optimale Weise; seine Organisation muß also eine Menge von Wertforderungen realisieren können, die an ihn —

immer als Maßstäbe der qualifizierten Gruppen — herangetragen werden. Das Ergebnis scheint S. J. Schmidts Kriterium der „Polyvalenz" als Textmerkmal, das „Polyfunktionalität" (Schmidt 1971) ermöglicht und damit für die Aufnahme in den Kanon der Weltlit. prädisponiert, zu bestätigen. Der ästhet. Wert als formaler, an den sich verschiedenste bedeutungstragende ästhetische Werte anschließen können, wird in den meisten Fällen Basis für Langzeitwirkung sein. Daneben ist aber eine quantitative Wertung dritter Ordnung möglich: auf der Grundlage lange geltender, nicht notwendig an den formalen ästhet. Wert gebundener literar. Wertungsmaßstäbe (vgl. Link). Z. B. beruht die Hochwertung gewisser sehr schlichter Gebilde (Volkslieder, Prosa Hebels) kaum auf „Polyvalenz", sondern auf der historisch bedingten, in unserem Kulturkreis nun einige Jh. e hindurch andauernden Konjunktur des Wertes „Ursprünglichkeit" (daneben wohl auch auf unreflektierten Formwerten rhetorischer Art). Die Zweipoligkeit im Konzept des Ästhetischen selbst (vgl. § 7) erlaubt es der literar. Wertung auch nach der ästhetischen Wende', den einen Pol auf Kosten des andern einseitig zu gewichten, ja am formalen ästhetischen Wert vorbeizusehen (vgl. § 8 ) ; bei Konsens zwischen qualifizierten Vermittlern und Rezipienten kann auch dieser Weg zur Aufnahme eines Werks oder Autors in den Kanon führen. So ist nicht mit Sicherheit vorauszusagen, ob und in welcher Zusammensetzung dieser Kanon der Weltlit. die radikalen Umbrüche in der Ästhetik seit 1920 und die Krise der histor. Bildung in der Gegenwart überdauern wird, wenn nicht neue Erfahrungen, als Basis neuer Wertsetzungen, ihn aktualisieren oder gute Gründe, die nicht auf seiner bloßen Existenz fußen, den Einsatz für seine Erhaltung rechtfertigen (vgl. § 1 1 ) . David D a i c h e s , Literary Evaluation, in: J. Strelka (Hg.) 1969 (vgl. § 10) S. 163-181. Gaiser 1981: vgl. §8. H o c k e 1959: vgl. §8. Hohendahl 1971: vgl. § 10,4. J ü z l 1969: vgl. §3. Link 1976: vgl. § 1. P o p i t z 1980: vgl. § 5. Henry H. H. R e m a k , The Uses of Comparative Literature in Value Judgements, in: Komparatistik, hg. v. Fridrun Rinner u. Klaus Zerinschek (1981; Beitr. z. neueren Litg. 3. F., 51) S. 127-140. Dieter S c h l e n s t e d t , Wertung in d. Lit.kritik. Weim. Beitr. 26 (1980) H. 10, S. 23-43. Schmidt 1971: vgl. §2. Rudolf M. T s c h e r p e l , Die Natur d. Dichtung als Ausdruckskunst u. ihre Stellung im System d. Künste. Jb. f. Ästhetiku. allgem. Kunstwiss. 10 (1965) S. 159-216.

Wertung, literarische § 10. Die D i s k u s s i o n literar. W. in der Lit.Wissenschaft. Eine Wert- und W.sdiskussion kann an fünf verschiedenen Stellen in der Lit.wiss. aufgesucht werden: in der Analyse, Begründung und Kritik lit.wiss. W.sakte an Kunstwerken und, meist spiegelbildlich dazu, an „Trivialliteratur" oder „Kitsch" sowie der W.sakte in der Lit.kritik als nicht-akademischer Disziplin (s. Literar. Kritik)-, außerdem ist die Begründung und Kritik literar. W. ein Thema der Lit.didaktik, und die Rezeptionsforschung hat ebenfalls Beschreibungen und teilweise auch Kritik literar. W.sVorgänge geliefert. Der Begriff „ l i t e r a r i s c h e W . " wird dabei nicht nur auf den Gegenstand der Untersuchung, die Bewertung von Literatur — und z.T. auch ihrer Bedingungen — bezogen, sondern auch auf die W e r t f o r s c h u n g selbst. Das geschieht nicht zu Unrecht: denn in der Regel verfahren die Wertforscher bereits selbst normativ; sie verfügen über einen wertbesetzten Lit. begriff und genaue Vorstellungen von der Art, wie Werte — literarische und andere — begründet werden. Auszunehmen von dieser Regel ist allein die analytische, vor allem angloamerikanische, in Deutschland viel zu wenig bekannte Richtung der literar. (und allgemeinen) Wertforschung, die sich aller normativen Aussagen enthält, damit aber dem Relativismusvorwurf aussetzt. Zwischen diesen beiden Positionen eines W.sdogmatismus und eines W.srelativismus sind bisher nur Ansätze zur Vermittlung sichtbar geworden (vgl. §11). Neuere krit. Retrospektiven (Mecklenburg 1977, Gebhardt 1980; Schulte-Sasse 1976, Fetzer 1980; Lenz/Schulte-Middelich 1982; Fetzer/Schönert 1977, Schönert 1978, Fetzer 1981) machen die Geschichte und den Stand der gegenwärtigen W.sdiskussion gut überschaubar und legen den Zusammenhang zwischen Aufgabenstellung für die literar. Wertforschung, Lit.begriff, Interpretationsmethoden und Wertprämissen bei den verschiedenen Richtungen frei. Inge Degenhardt (Hg.), Literar. W. (1979; Arbeitstexte f. d. Unterr.; ReclamUB. 9544). Jörg Drews (Hg.), Lit.kritik - Medienkritik (1977; medium literatur 8). Günther F e t z e r , Triviallit.forschung [Forschungsbericht]. Wirk Wort 2 (1981) S. 98-125. Günther F e t z e r , W.sprobleme in d. Triviallit.forschung (1980). Ders. u. Jörg S c h ö n e r t , Zur Triviallit.forschung 1964-1976. Intern. Arch. f. Sozialgesch. d. dt. Lit. 2 (1977) S. 1-39. Peter Gebhardt (Hg.), Lit.kritik u. lite-

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rar. W. (1980; WegedFschg. 334). Hans Ulrich G u m b r e c h t , Lit.kritik (1973). Eberhard Lämmert, Über d. zukünftige Rolle d. Lit.kritik. E. Entwurf (1973), in: P. Gebhardt (Hg.) 1980, S. 312-330. Bernd L e n z u. Bernd Schulte-Middelich (Hg.), Beschreiben, Interpretieren, Werten. Das W.sproblem in d. Lit. aus d. Sicht unterschiedlicher Methoden (1982; Münchner Univ.schriften. 25). Burkhardt Lindner, Probleme der literar. W., in: Heinz L. Arnold u. Volker Sinemus(Hg.), Grundzüged. Lit.-u. Sprachwiss., Bd. 1 : Lit.wiss. (1973; dtv., Wiss. R. 4226) S. 444458. Manon M a r e n - G r i s e b a c h , Theorie u. Praxis literar. W. (1974; UTB. 310). Norbert Mecklenburg, Krit. Interpretieren. Untersuchungen z. Theorie d. Lit.kritik (1972; Sammlung dialog 63). Ders., Literar. W. Texte z. Entw. d. W.sdiskussion in d. Lit.wiss. (1977; dtv., Wiss. R. 4283). Erich Pawlu, Lit.kritik (1980; Reihe Studientexte f. d. Kollegstufe). JörgSchönert, Literar. W. ». Triviallit.forschung: Krit. Bemerkungen u. systemat. Überlegungen z. zweiten Aufl. von Jochen Schulte-Sasses , Literar. W.' (1976). Sprachkunst 9 (1978) S. 340-356. Jochen Schulte-Sasse, Literar. W. (2., völlig neu bearb. Aufl. 1976; Samml. Metzler 96). Ders. (Hg.), Literar. Kitsch. Texte zu s. Theorie, Gesch. u. Einzelinterpretation (1979; dtv., Wiss. R. 4329). Olaf Schwenke (Hg.), Kritik d. Lit.kritik (1973; Sprache u. Lit. 84). Joseph Strelka (Hg.), Problemsof Literary Evaluation (Univ. Park. London 1969; Yearbook of comp, criticism 2). René Wellek, Gesch. d. Lit.kritik. 3 Bde (1959-1977); amerikan. Ausg. 4 Bde (London 1955-1966).

1. Für einen großen Teil der referierten Arbeiten, die sog. „ t r a d i t i o n e l l e " W e r t f o r schung (Mecklenburg 1977 u.a.) besteht die Aufgabe darin, den „Kunstwert" (Schönert) von Texten als solchen zu erfassen. Die Phänomenologie lieferte die Auffassung vom (axiologischen) im Gefüge des Textes objektivierten Kunstwert als „idealer Wesenheit" (Wutz 1957), die im „Wertgefühl" (Wutz, Lockemann 1965, Hinderer 1969), dem „Werterlebnis" (Seidler 1969) evident wird. Gerade diese Evidenzerfahrungen (zu Evidenz generell vgl. §11) sind aber nur einer Minderheit zugänglich. Wiss. Analyse muß, auf der Grundlage solcher Erfahrungen, die im Werk angelegten (attributiven) Kunstwerte kategorisieren, um eine Rangordnung unter den Werken herstellen und eine Ausgrenzung von Nicht-Kunst („Trivialliteratur", „Kitsch") leisten zu können. Sie bedarf dazu der methodisch angeleiteten „adäquaten Konkretisation" (Ingarden) von Werken, die bereits als Kunst ausgewiesen sind.

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Wertung, literarische

Das ist zunächst für die dt. Lit.ästhetik der klassisch-romantische Kanon sowie die „Weltl i t . " ; von da aus werden Werte wie „Stimmigkeit", „Bedeutungsfülle", „Einmaligkeit", optimale Erfüllung der „Gattungsintention" u. a. extrapoliert. Die „Anti-Kunst" der .Avantgarde' des 20. Jh.s ist freilich von daher nicht mehr zu erschließen (Staiger 1966). Doch konnte die Theorie, ohne Aufgabe der Prämisse, der Wert des Werkes liege in ihm selbst, im Anschluß an die geschichtsbezogenen Modelle der klassisch-romant. Ästhetik unschwer h i s t o r i s i e r t werden (Wellek/Warren 1942, Hass 1959, Emrich 1963, Müller-Seidel 1965): die formale Autonomie der ästhet. Struktur läßt den Anschluß unterschiedlicher Realisierungen bedeutungstragender Werte zu, die wiederum unterschiedliche formale Strukturierungen generieren (vgl. § 7). So hatte schon für Walzel (1923) das Kunstwerk auch als Ausdruck seines Zeitalters und dessen .Kulturwerts' gegolten (ähnlich Ermatinger 1928); Beriger (1938) und Petersen (1939) waren zur nationalen und volkhaft-rassischen Auffüllung dieses ,Kulturwerts' gekommen. Die Nachkriegsgeneration arbeitet zunächst, in „werkimmanenter Interpretation", an den auch von Ingarden thematisierten „künstler. Werten", d. h. an der Erkenntnis der literar. Mittel, in denen das ästhet. Werterlebnis gründen soll. Die Konzentration auf die Gestaltmerkmale, deren histor. Genese nicht übergangen, aber als unwesentlich für die Wertfrage erklärt wird, soll vor der histor. Relativierbarkeit bisheriger, substantieller Wertbestimmungen und dem Subjektivismus individueller Neigungen bewahren (Kayser 1952). Das Schockerlebnis des Nationalsozialismus mag zu dieser auch polit. Abstinenz und dem Kulturkonservativismus der dt. Lit.theoretiker beigetragen haben; aber mit der strikten Zuwendung zur Form haben sie sich doch nur verspätet in eine Bewegung eingeordnet, die von der franz. Richtung der „explication de texte", dem angloamerikan. New Criticism und dem Russ. Formalismus (alle um und kurz nach der Jh.wende entstanden) bis zu den tschech. Strukturalisten der 20er und 30er Jahre reichte (Schulte-Middelich). In diesen Ländern in engstem Bezug auf die moderne Lit. selbst und auf die Strukturale Linguistik (de Saussure, Jakobson) entwickelt, hatte die „formalistische" Theorie im Prinzip den Vorzug, sowohl klassische wie moderne Werke integrieren zu können. Ihre Rehistorisierung in Deutschland bleibt dagegen konservativ. Hass vermittelt „Zeitlosigkeit" der formalen Werte und Geschichtlichkeit der jeweiligen Gegenwartsbedeutung eines Werks durch die „Kultureinheit" der zukunftsoffenen Reihe von immer neu durch die „Kulturgemeinschaft" zu aktualisierenden kanonischen Werken; Emrich fundiert sein

der Frühromantik entlehntes Wertkriterium der „unendlichen Reflektierbarkeit" von Lit. als Kunst durch eine vage an Hegel angelehnte Stufentheorie des sich entfaltenden sittlichen Daseins und Bewußtseins, bindet damit die Rezeption an eine metaphysische Geschichtsphilosophie und glaubt so, zu einer absoluten Rangordnung von Werken zu kommen. Müller-Seidel macht auf undogmatische Weise den Versuch, die Geschichtlichkeit von Verstehen und Werten der Kunst konsequent zu berücksichtigen und zugleich an substantiellen, freilich sehr allgemein formulierten Kunstwerten (das öffentliche, das Höhere, das Ganze, das Wahre, das Menschliche) festzuhalten. Das Muster der Klassik scheint auch hier durch. (Im Verfahren vergleichbar Wehrli 1965, Peacock 1972; strikter historisch: Sengle 1955.) Der ontologische Anspruch, das Kunstwerk für sich, in seiner Struktur, sei Träger objektiver Werte, läßt sich nach den Einsichten der Semiotik und sprachanalytischen Wertlehre verstehen als Folge der Kontinuität des Sprachund Handlungsspiels „ K u n s t " (vgl. § 11), wobei die ,Formalisten' die Variante ,Kunst als formaler ästhetischer Wert', die ,Historiker' die Variante ,Kunst als Erkenntnis', unveränderlicher oder geschichtsbezogener Wahrheit, spielen. Die zum „Werterlebnis" Befähigten, die „Kulturgemeinschaft" von H . E . Hass, die Teilnehmer an der „unendlichen Reflexion" Emrichs, bilden eben jene qualifizierte Minderheit, die an diesem Spiel teilhat. Bereits 1923 hatte L . L. Schücking diesen Schritt zur „Soziologie der literarischen Geschmacksbildung" durch sein Konzept des „Geschmacksträgertyps" (1932) vollzogen. Demgegenüber fordert Müller-Seidel kontrafaktisch, aber mit Kant, die „Öffentlichkeit" jener Reihe substantieller, konstanter Erfahrungen, die in diesem Spiel traditionellerweise erwartet werden (die ästhetische „ L u s t " fällt, für das Erkenntnismodell charakteristisch, aus). In der Rechtfertigungsdiskussion, der sich alle Autoren durch die Ontologisierung des Kunstwerts entziehen, hat dieser umstrittene Punkt aber großes Gewicht (vgl. § 1 1 ) . Leonhard B e r i g e r , Die literar. W. E. Spektrum ¿.Kritik (1938). Wilhelm E m r i c h , Das Problem d. W. u. Rangordnung literar. Werke. ArchfNSprLit. 115 (1963) S. 81-102. Ders., Zum Problem d. literar. W. (1961), in: P. Gebhardt (Hg.) 1980 (vgl. § 10) S. 188-204. Emil Ermatinger, Vom Urteilen über Dichtwerke. Der getreue Eckart6 (1928) S. 63-67. Hans-GeorgGadamer, Wahrheit u. Methode. Grundzüge e. philosoph. Hermeneutik (1960; 2., durch e. Nachtr. erw.

W e r t u n g , literarische Aufl. 1965). Hans-Egon H a s s , Das Problem d. literar. Wertung. Studium Gen. 12 (1959) S. 727756. Walter H i n d e r e r , Literary Vaine Judgements and Value Cognition, in: J. Strelka (Hg.) 1969(vgl. § 10) S. 54-79. I n g a r d e n 1931: vgl. § 1. Roman I n g a r d e n , Vom Erkennen d. literar. Kunstwerks (1968), bes. S. 298-311. Wolfgang K a y s e r , Literar. W. u. Interpretation. Dtschunt. Stuttg. 4 (1952) H . 2, S. 13-27. Fritz L o c k e m a n n , Lit.wiss. u. literar. W. (1965). Walter M ü l l e r - S e i d e l , Probleme d. literar. W. Überd. Wissenschaftlichkeit e. unwiss. Themas (1965; 3., durchges. um e. Nachw. erw. Ausg. 1982). Ron a l d P e a c o c k , Criticism and Personal Taste (Oxford 1972). Julius P e t e r s e n , Deutung u. Wertung, in: Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung (1939) S. 248-274. S c h ü c k i n g 1923: vgl. § 6 . Ders., Literar. „Fehlurteile". E. Beitr. z. Lehre vom Geschmacksträgertyp, DVLG. 10 (1932) S. 371-386. Bernd S c h u l t e - M i d d e l i c h , Der New Criticism: Theorie und Wertung, in: B. Lenz u. B. Schulte-Middelich (Hg.) 1982 (vgl. § 10), S. 19-52. Herbert S e i d l e r , Zum W.sproblem in d. Lit.wiss., in: Seidler, Beiträge zur methodolog. Grundlegung d. Lit.wiss. (1969; SBAk Wien 262,3) S. 5-31. Friedr. S e n g l e , Ein Aspekt d. literar. Wertung. Akzente 2 (1955) S. 28-36. Emil S t a i g e r , Einige Gedanken z. Fragwürdigkeit d. Wertproblems (1969), in: N . Mecklenburg (Hg.), 1977, S. 103-118. Ders., Lit. u. Öffentlichkeit. Rede anläßlich d. Verleihung d. Lit.preises d. Stadt Zürich vom 17. Dez. 1966, in: Erwin Jaeckle, Der Zürcher Lit. schock. E. Bericht{1968)S. 1424. O s k a r W a l z e l , Werturteil, in: Walzel, Gehalt u. Gestalt im Kunstwerk d. Dichters (1923; HdbLit.wiss.) S. 112-143. Max W e h r l i , Wert u. Unwert in d. Dichtung (1965). W e l l e k / W a r r e n 1942: vgl. § 7. René W e l l e k , Lit.theorie, Kritik u. Lit.gesch., in: Wellek, Grundbegriffe d. Lit.kritik (1965) S. 9-23. Ders., Kritik als Wertung (1976), in: P. Gebhardt (Hg.) 1980 (vgl. § 10) S. 331-351. Gotthart W u n b e r g , Interpretation u. Wertung. Krit. Bemerkungen zu Wilhelm Emrich (1969), in: N . Mecklenburg (Hg.) 1977 (vgl. § 10) S. 70-81. Herbert W u t z , Zur Theorie literar. W. (1957; Neue geisteswiss. Studien 1).

2. V o n der zweiten , dogmatischen' W.srichtung, der h i s t o r i s c h - m a t e r i a l i s t i s c h e n T h e o r i e literar. W . (Rilla 1950, S c h o b e r 1973), w i r d . Ö f f e n t l i c h k e i t ' , V e r a l l g e m e i n e r b a r k e i t des ä s t h e t . S p r a c h - u n d H a n d l u n g s spiels prinzipiell v o r a u s g e s e t z t . D i e L e i s t u n g d e r L i t . f ü r die G e s a m t g e s e l l s c h a f t ist d e r axiologische W e r t ; d e r K u n s t w e r t , d e r — s o f e r n t h e m a t i s i e r t — u . a. a u c h d u r c h „ P o l y f u n k t i o n a l i t ä t " b e s t i m m t w i r d , ist d a z u i n s t r u m e n t e l l , ein f u n k t i o n a l e r W e r t . W e r t ist f u n d i e r t in Be-

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d ü r f n i s s e n des S u b j e k t s , die sich a b e r in e i n e m Verhältnis z u r „gesamtgesellschaftlichen Prax i s " h i s t o r i s c h v e r ä n d e r n ( R a m m l e r 1978, eing e s c h r ä n k t H o l z 1978). D a s d o g m a t i s c h e M o m e n t liegt in d e r A n n a h m e , d e r h i s t o r i s c h - d i a lekt. P r o z e ß w e r d e als F o r t s c h r i t t p r i m ä r v o n ö k o n o m i s c h e n A n t r i e b e n g e s t e u e r t , die z u r A u s b i l d u n g gegensätzlicher, k l a s s e n s p e z i f i scher Bedürfnisse u n d dementsprechend zu Klassenkämpfen führen. Diese Gegensätze k o m m e n g e m ä ß d e r T h e o r i e in d e r k l a s s e n l o s e n sozialist. G e s e l l s c h a f t z u m A u s g l e i c h : in e i n e m k o l l e k t i v e n I n t e r e s s e an d e r e n E r h a l t u n g sind d a h e r individuelle u n d g r u p p e n s p e z i f i s c h e Bed ü r f n i s s e t e n d e n z i e l l a u f g e h o b e n . A u f g a b e lit. w i s s . W e r t f o r s c h u n g ist es, d i e als n o t w e n d i g gedachten Z u s a m m e n h ä n g e zwischen den historisch-gesellschaftlichen Bedürfnissen der S u b j e k t e , in vorsozialist. G e s e l l s c h a f t e n w i e in d e r sozialistischen, u n d d e r jeweiligen T e x t g e stalt w i e a u c h d e n K o n k r e t i s a t i o n e n d e r literar. W e r k e s a m t d e n sie b e e i n f l u s s e n d e n V e r m i t t l u n g s i n s t i t u t i o n e n z u b e s c h r e i b e n ; die B e s o n d e r h e i t d e r L e i s t u n g v o n L i t . , speziell a u c h als K u n s t , z u b e s t i m m e n ; L i t . u n d die l i t . b e z o g e n e n P r o z e s s e z u b e w e r t e n . T e x t w e r t u n g geschieht a m M a ß s t a b d e r w a h r e n , d. h . d e n f o r t g e s c h r i t t e n s t e n Stand d e r gesellschaftlichen Entwicklung repräsentierenden „Widerspiegel u n g " , im Vergleich d e r W e r k e u n t e r e i n a n d e r u n d m i t R ü c k s i c h t auf i h r e vielfältigen F u n k t i o n e n f ü r Leser ( d a z u W e r n e r 1980). Gelten in erster Hinsicht Kriterien wie „Fortschrittlichkeit" und „Parteilichkeit", so nähern sich für den Werkvergleich im Kunstbereich die Maßstäbe denjenigen „bürgerlicher", und zwar kulturkonservativer Wertung an: das klass. „ E r b e " , einst einer Bildungselite vorbehalten, soll Allgemeingut werden, auch realist. Werke haben größere „Volkstümlichkeit" als die der Romantik und der als Verfallssymptom des Spätkapitalismus gewerteten bürgerl. Moderne. Formale Qualitäten werden erst neuerdings intensiver in die Wertung einbezogen (u.a. Kagan 1974, Pracht 1980). Die Vorordnung des gesellschaftl. „Gebrauchswerts" (Schütze 1975) über die allein durch ästhet. Einstellung (vgl. § 7) vermittelten „Kunstwerte" hat aber von Anfang an eine wenngleich einseitige Erweiterung des Lit.begriffs auf ,operative' Lit. und zur Hochwertung insbesondere der sozialist. Arbeiterdichtung geführt. Horst H a a s e , Probleme d. Wertens in d. Lit.geschichtsschreibung. Weim. Beitr. 26 (1980) H . 10, S. 68-77. Hans Heinz H o l z , Vom Kunstwerk zur Ware (1972; Samml. Luchterhand 65). Ders., 1978: vgl. § 11 a. K a g a n 1974: vgl. § 1 .

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Wertung, literarische

Erwin Pracht, Sozialist. Realismus u. ästhet. Maßstäbe (1966), in: W. Henckmann (Hg.) 1979 (vgl. § 7) S. 392-418. Ders., Die Kategorien ästhet. W. gründlicher erforschen. Weim. Beitr. 26 (1980) H. 10, S. 44-54. Michael Rammler, Ästhetischer Wert als Verhältniskategorie. Weim. Beitr. 24 (1978) H. 9, S. 118-132. Horst R e d e k e r , Abbildung u. W.: Grundprobleme e. Lit.ästhetik (1980). Paul R i l l a , Urteil u. Vorurteil (1950), in: P. Gebhardt (Hg.) 1980 (vgl. § 10) S. 132-144. Jürgen S c h a r f s c h w e r d t , Lit. u. Lit.wiss. in der DDR: E. historisch-krit. Einf. (1982; Sprache u. Lit. 116). Rita S c h o b e r , Zum Problem d. literar. W. Weim. Beitr. 19 (1973) H. 7, S. 10-53. Peter F. S c h ü t z e , Zur Kritik d. literar. Gebrauchswerts (1975; Marburger Beitr. z. Philosophie u. Gesellschaftstheorie 2). Hans-Georg W e r n e r , Subjektive Aneignung — objektive Wertung. Weim. Beitr. 26 (1980) H. 10, S. 55-67.

Triviallit. u. literar. W. Einf. in Methoden u. Ergebnisse d. Forschung aus didakt. Sicht (1975). Jochen S c h u l t e - S a s s e , Literar. Struktur u. historisch-sozialer Kontext. Zum Beispiel Lessings ,Emilia Galotti' (1975). Felix V o d i c k a , Die Struktur d. literar. Entwicklung. Hg. v. d. Forschungsgruppe für strukturale Methoden in d. Sprach- u. Lit.wiss. an d. Univ. Konstanz, mit e. einl. Abh. von Jurij Striedter (1976; Theorie u. Gesch. d. Lit. u. d. Schönen Künste 34). Günter Waldmann, Theorie u. Didaktik d. Triviallit. Modellanalysen - Didaktikdiskussion — literar. W. (1973; Krit. Information 13). Hans Dieter Zimmermann, Schema-Literatur. Ästhet. Norm u. literar. System (1979; UrbanTb. 299).

з. D e r tschech. Strukturalismus, vor allem Mukarovsky mit seiner Arbeit über Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten (1936/70) und Vodicka (dt. 1976), einige Arbeiten zur Triviallit. (Schuhe-Sasse 1975, Neuschäfer 1976, Nutz 1979, H . D . Zimmermann 1979, Fetzer 1980 u . a . ) und zu regionaler Lit. (v. Heydebrand 1983) haben parallel, in Verbindung und Abgrenzung zur Ausbildung der marxist. Lit.- und W.stheorie, deren fruchtbare Anregungen ohne deren dogmatische Verengungen aufgenommen. Sie untersuchen zunächst einmal, n a c h M ö g l i c h k e i t w e r t n e u t r a l , die Funktionen aller N i veaus von Lit. (auch der „ K u n s t " ) im Hinblick auf verschiedene Bedürfnisse und versuchen dabei, die schiefe Trennung von ,formalen' und ,bedeutungstragenden' ästhet. Werten, geläufiger: von „ästhetischen" und „außerästhetischen" Werten zu vermeiden. Solche Studien bereiten erst den Boden für eine vergleichende Bewertung der Funktionen, die von der Ästhetik selbst her nicht geleistet werden kann (vgl. §11)-

4. Die „ I d e o l o g i e k r i t i k " , eine weitere Theorie und Praxis literar. (zugleich allgemein polit.) W . , hat hier Vorentscheidungen getroffen, allerdings in v i e r V a r i a n t e n vier verschiedene. Alle vier Varianten verbindet — Gegenbegriff zu „Ideologie" als „falsches Bewußtsein" (Marx) — der vieldeutig auslegbare axiologische Wert „Emanzipation" (Anz). Es ist ein praktisch-polit. Wert, über den ein Konsens unterstellt wird; ein notwendiger histor. Fortschritt in Richtung auf „Emanzipation" wird nicht generell angenommen, wohl aber ein in der Geschichte der Gattung angelegtes, vernünftig begründbares Interesse an herrschaftsfreier Verständigung (Habermas 1973). Der Wert wird aktualisiert in radikaler Kritik an der zeitgenöss. Zivilisation als Produkt der inhumanen Herrschaft ökonomisch-technischer Rationalität, als Beherrschung von äußerer wie innerer Natur; diese Kritik wird zunächst gegen den Kapitalismus, dann aber auch gegen den „realen Sozialismus" gewendet. Lit., als „ K u n s t " , aber auch in allen andern Vorkommensweisen, sowie die bloße „ästhet. Handlung", werden in bezug auf ihre Funktion für diesen Wert, aber durchaus ambivalent, in jeder Variante anders bewertet.

Renate v. H e y d e b r a n d , Lit. in d. Provinz Westfalen 1815-1945. E. literarhistor. ModellEntwurf (1983). Albert K l e i n , Die Krise d. Unterhaltungsromans im 19. Jh. (1969; Abh. z. Kunst-, Musik- u. Lit.wiss. 84). Mukarovsky 1935/36: vgl. § 8. Hans-JörgNeuschäfer, Populärromane im 19. Jh. Von Dumas bis Zola (1976; UTB. 524). Walter N u t z , Der lit.soziolog. Ansatz bei d. Evaluation d. modernen Unterhaltungslit.: Die heutige Triviallit.forschung u. d. Dichotomie von „hoher" und „niederer" Lit., in: R. Kloepfer и. a. (Hg.), Bildung u. Ausbildung in d. Romania Bd. 1 (1979) S. 431-445. Wolfgang Schemme,

Für die erste Variante ist das Kunstwerk höchsten Ranges, seine Reflexion als geschichtsphilosoph. Vermittlungsprozeß zwischen gegenwärtigem Subjekt und histor. Wahrheit im „Schein" der gelungenen Kunstgestalt, einziges Organon herrschaftsfreier Erkenntnis (Adorno). Literar. W. muß zu „Kritik" im Sinne der Frühromantik werden (vgl. Weber, Gebhardt), sich durch die Versenkung in die künstler. Form dem Aufblitzen von Wahrheit offenhalten, die als solche nicht erreichbar ist und auf ein immer Ausstehendes verweist. Hierin besteht der Gegensatz zu einer Hermeneutik, die Klassizität als maßstäbliche Wahrheit begreift (Gadamer). Solcher Kritik

Wertung, literarische scheint, im „dialekt. Bild" (Benjamin) verschränkt mit Strukturen von Herrschaft, ein Humanum auf, das der Gegenwart utopisch entgegengehalten werden kann. Die empir. Bedingungen eines Werks, seiner Entstehung, Vermittlung und Rezeption sind für Adorno genauso unwesentlich wie für die „werkimmanente Interpretation"; Geschichte ist in den Werkstrukturen selbst ausgedrückt. ,Operative' Lit. verdient von daher kein Interesse, Unterhaltungsund Triviallit. werden als „Kulturwarenproduktion" (Adorno) uneingeschränkt verworfen. Die zweite, am weitesten verbreitete Variante von „Ideologiekritik" ist eine Vereinfachung der ersten; sie nähert sich z.T. der marxist. Lit.- und W.stheorie an. Eine revolutionäre Fortschrittstheorie der Geschichte, in der im Unterschied zur marxist. nur das Bewußtsein (der aufgeklärten Intellektuellen) eine größere Rolle spielt, läßt den Unwert „Ideologie" meist schon an den Inhalten der Lit. erkennen; doch werden auch die Entstehungs-, Vermittlungs- und Rezeptionsprozesse zum Gegenstand der Forschung und der Kritik, der „Warenwert" auch der Kunst stark hervorgehoben (Holz, Winckler, dagegen Hannelore Schlaffer). Der Katalog der Verdikte, denen hier auch große Kunstwerke unterworfen werden (Kafka, Musil u. a.), lautet (nach Anz 1982, 217): „affirmativ/herrschaftsstabilisierend (vs. kritisch/emanzipatorisch), kompensatorisch (vs. utopisch/antizipatorisch), regressiv (vs. fortschrittsorientiert), verschleiernd/harmonisierend (vs. realistisch), verdinglichend (vs. historisierend/soziologisierend), negativistisch/hilflos/perspektivelos (vs. konstruktiv)." Durch das Einbeziehen auch der psychologischen und soziologischen Voraussetzungen für den Umgang mit Lit. verschiebt sich die Ideologiekritik z.T. auf die gesellschaftl. Bedingungen, die eine zu verwerfende Lit.produktion, -distribution und -rezeption hervorbringen; allerdings bleiben Vorstellungen möglicher anderer Gesellschaftsordnungen unbedacht oder vage. Die Verfahren der Textanalyse richten sich zunehmend auf die „Strategien" der Vermittlung gesellschaftlicher oder Hassen- bzw. gruppenspezifischer Normen und treffen dabei mit pragmat. Texttheorien (Burke, Breuer, Hart Nibbrig) sowie mit kulturhistorisch orientiertem Strukturalismus (z.B. Kanzog, Titzmann) zusammen. Ideologiekritik unterstellt dabei bestimmten Formen nicht unbedingt, wie die Rhetorik, historisch invariante Funktionen, sondern sucht die jeweils gültigen „Sprachverwendungsstrategien" (Ch. Bürger, auch P. Bürger) auf ihre Ideologiehaltigkeit in bezug auf die jeweilige Situation zu prüfen. Sie arbeitet damit einer historisch und kontextbezogen argumentierenden W.stheorie vor. Ein Problem liegt allerdings in den Verfahren, mit deren Hilfe auf „ideologische" Textrealisationen geschlossen wird (z.B. bei Thöming). Die dritte und vierte Variante setzen weniger auf Kritik als auf eine positive Verwirklichung von

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„Emanzipation", und zwar durch ästhet. Erfahrung. Im Fall 3 (Ter-Nedden, Hannelore Schlaffer 1974, anschließbar Jauß) wird ästhet. Erfahrung, ganz im Sinne Kants, an den befreienden, lustvollen Momenten der ästhet. Einstellung für das Individuum identifiziert (vgl. § 7); weniger die „hochstilisierten Kunstprodukte" als einfachere Texte und „ästhet. Elementarphänomene" (Ter-Nedden) werden zum Träger des Werts. Für die Begründung des selbstbezogenen, glückhaften, vom Handlungszwang entlasteten ästhet. Werts wird auf soziologische und anthropologische Theorien verwiesen. Kritik trifft jetzt gerade den Anspruch von Kunst, der für Ideologiekritik in der zweiten Variante selbstverständliche Voraussetzung war: auf theoret. und prakt. gesamtgesellschaftliche Gültigkeit. Die vierte Variante, als konsequente Fortsetzung der dritten, kommt ganz ohne Werke aus: da die „Institution Kunst" als solche im Dienste bürgerl. Herrschaftsinteressen steht, ist ihr eine alternative Ästhetisierung des Alltags, der Sexualität, eine subversive Aneignung der Mittel der Kulturindustrie zu revolutionären Zwecken (im Anschluß an Gedanken Brechts und des marxist. Benjamin) entgegenzusetzen (Bezzel). Der ästhet. Wert liegt in der kulturrevolutionären Veränderung eingefahrener Verhaltensweisen. Ideologiekritik richtet sich gegen die neue Vermarktung noch dieser Versuche, die ihre emanzipatorische Kraft aus der Spontaneität des Widerstands gegen die ökonomisch-technischen Mechanismen beziehen. Diese Variante kann am ehesten den gesellschaftskritischen avantgardistischen AntiKunst-Bewegungen gerecht werden; sie entfernt sich trotz des materialistisch-revolutionären Impulses denkbar weit von den kulturkonservativen, disziplinierenden Mustern orthodox-marxist. W.stheorie. Alle Ideologiekritik — wie auch die historisch-materialist. Werttheorie — verweist, da sie Kunst als Funktion gesellschaftspolit. Wertsetzungen betrachtet, auf die Notwendigkeit, politische, ethische, soziologische, anthropologische Begründungen zu diskutieren. Zugleich fordert sie, soll ihr Basiskonsens nicht als Dogma erscheinen, eine Diskussion der Konsensustheorie für Handlungsnormen (Habermas 1973, Apel 1976, vgl. § 1 1 ) . Adorno 1970: vgl. § 7. Thomas A n z , W.skriterien u. Probleme lit.wiss. Ideologiekritik, in: B. Lenz u. B.Schulte-Middelich (Hg.) 1982 (vgl. § 10) S. 214-247. Apel 1976: vgl. § IIa. Thomas Baumeister u. Jens Kulenkampff, Geschichtsphilosophie u. philosoph. Ästhetik. Zu Adornos „Ästhet. Theorie". Neue Hefte f. Philosophie 5 (1973) S. 74-104. Chris B e z z e l u.a., Das Unvermögen d. Realität. Beitr. zu e. anderen materialist. Ästhetik (1974; Politik 55). Christa B ü r g e r , Die Dichotomie von „höherer" und „volkstümlicher"

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W e r t u n g , literarische

Bildung. Zum Funktionswandel d. Lit. in d. bürgert. Gesellschaft, in: R . Kloepferu.a. (Hg.), Bildung u. Ausbildung in d. Romania, Bd. 1 (1979) S. 472-489. Dies., Textanalyse als Ideologiekritik. Zur Rezeption zeitgenöss. Unterhaltungslit. (1973; Krit. Lit.wiss. 1). Ch. Bürger u.a. 1980 vgl. § 7. Peter B ü r g e r , Zur Geschichtlichkeit von Anschauung/Anschaulichkeit, in: W . Oelmüller (Hg.) 1981 (vgl. § 7) S. 41-49. Ders., Ideologiekritik u. Lit.wiss., in: Bürger (Hg.), Vom Ästhetizismus zum Nouveau Roman. Versuche krit. Lit.wiss. (1975; Krit. Lit.wiss. 2) S. 1-22. Ders., Vermittlung, Rezeption, Funktion. Ästhet. Theorie u. Methodologie d. Lit.wiss. (1979; SuhrkTb. Wiss. 288). Ders., Was leistet d. Widerspiegelungsbegriff in d. Lit.wiss.? Das Argument Jg. 17, H . 3/4 = H . 90 (1975) S. 199-228. Dieter B r e u e r , Einf. in d. pragmat. Texttheorie (1974; U T B . 106). Kenneth B u r k e , Semant. u. poet. Benennen, in: Burke, Die Rhetorik in Hitlers ,Mein Kampf u. a. Essays zur Strategie d. Überredung (1967; EdSuhrk 231) S. 116-144. Michel F o u c a u l t , Schriften z. Lit. (1974; samml. dialog 67). F r i t s c h 1981: vgl. § 7. G a d a m e r 1960: vgl. § 1 0 , 1 . Peter G e b h a r d t , Friedr. Schlegel u. Ansätze. Aspekte z. Lit.kritiku. literar. W. (1979), in: P. Gebhardt (Hg.) 1980 (vgl. § 1 0 ) S. 412-469. Jürgen H a b e r r a a s , Vorbereitende Bemerkungen zu e. Theorie d. kommunikativen Kompetenz, in: J . Habermas u. Niklas Luhmann, Theoried. Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet d. Systemforschungf (1971) S. 101-141. Ders., Wahrheitstheorien, in: Helmut Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit u. Reflexion. Walter Schulz z. 60. Geb. (1973) S. 211-265. Christiaan L. H a r t N i b b r i g , / i i u. Nein. Studien z. Konstitution von Wertgefügen in Texten (1974). Peter Uwe H o h e n d a h l , Lit.kritik u. Öffentlichkeit (1971), in: Hohendahl 1974 (vgl. § 8) S. 7-49. Ders., 1974: vgl. § 8. Ders., 1977: vgl. § 1. H o l z 1972: vgl. § 10,2. J a u s s 1977: vgl. § 7. Klaus K a n z o g , Erzählstrategie. E. Einf. in d. Normeinübung d. Erzählens (1976; U T B . 495). K l o e p f e r 1979: vgl. § 2 . Norbert M e c k l e n b u r g , W. u. Kritik alsprakt. Aufgaben d. Lit.wiss. (1977), in: P. Gebhardt (Hg.) 1980 (vgl. § 1 0 ) S. 388-411. N a t e w 1973: vgl. § 1 . Maximilian N u t z , Zur gesellschaftl. Dimension literar. Normen u. Urteile: Anmerkungen z. Forschungslage u. Problemstellung (1976), in: P. Gebhardt (Hg.) 1980 (vgl. § 10) S. 352-387. Hannelore S c h l a f f e r , Kritik e. Klischees: „Das Kunstwerk als Ware", in: Heinz Schlaffer (Hg.), Erweiterung d. materialist. Lit.theorie durch Bestimmung ihrer Grenzen (1974; Lit.wiss. u. Sozialwiss. 4) S. 265-287. J o chen S c h u h e - S a s s e , Autonomie als Wert. Zur histor. u. rezeptionsästhet. Kritik e. ideologisierten Begriffes, in: G . Grimm (Hg.) 1975 (vgl. § 8 ) S. 101-118; S. 383/84. Gisbert T e r - N e d d e n , Gibt es e. Ideologiekritik ästhet. Sinngebildein:

Heinz Schlaffer (Hg.), Erweiterung s . o . S. 251264. Jürgen C . T h ö m i n g , Zur Rezeption von Musil- u. Goethe-Texten. Historizität d. ästhet. Vermittlung von sinnlicher Erkenntnis u. Gefühlserlebnissen (1974; Musil-Studien 3). T i t z m a n n 1977: vgl. § 1 . Heinz-Dieter W e b e r , Über e. Theorie d. Lit. kritik. Die falsche u. d. berechtigte Aktualität d. Frühromantik (1971). Lutz W i n c k l e r , Kulturwarenproduktion (1973; EdSuhrk 628). 5.

E i n e letzte G r u p p e v o n A r b e i t e n zu lite-

rar. W .

g e h ö r t , als Spezialfall, z u r

Sprach-

und

ästhet.

Argumentationsanalyse

allgemein (vgl. § 1 1 ) . H i e r w i r d nicht b e a n sprucht,

W.en

auszusprechen,

sondern

zu-

nächst z u analysieren, w i e sie f u n k t i o n i e r e n . D i e A n a l y s e — also eine M e t a - R e f l e x i o n — b e dient sich verschiedener M e t h o d e n , v o n c o m m o n - s e n s e - R ä s o n n e m e n t ü b e r O r i e n t i e r u n g an ausgearbeiteten T h e o r i e n l o g i s c h e r und anderer S p r a c h v e r w e n d u n g (für beides vgl. b e s o n d e r s A r b e i t e n des a n g l o - a m e r i k a n . R a u m s ) bis z u r B i n d u n g an formalisierte w i s s e n s c h a f t s t h e o r e t . Modelle

(am

ausgeprägtesten:

Göttner/Ja-

c o b s ) . H i n t e r diesen V e r s u c h e n k a n n ein relativist. W e r t k o n z e p t s t e c k e n : W e r t ist n u r b e s c h r e i b - , aber nicht b e g r ü n d b a r , ist rein k o n v e n t i o n e l l ; sie k ö n n e n sich aber auch als logische P r o p ä d e u t i k z u r W e r t b e g r ü n d u n g versteh e n . G r u n d l a g e der sprachanalyt. Studien ist stets ein V o r v e r s t ä n d n i s v o n L i t . als K u n s t ; in einigen A r b e i t e n (etwa B e a r d s l e y 1 9 5 8 ) w i r d dies, in A b h e b u n g v o n andern K ü n s t e n , in ein e r L i t . s e m i o t i k präzisiert. H ä u f i g e r setzt m a n o h n e weitere R e f l e x i o n bei der Sprachanalyse v o n L i t . t h e o r i e n traditioneller A r t (oder bei einem umgangssprachlichen V o r b e g r i f f ) s o w i e bei der L i t . i n t e r p r e t a t i o n und - k r i t i k ein. D i e Verschränkung von Beschreibung, Interpretation und W . ist ein zentrales T h e m a ( W e i t z 1 9 5 7 u . a . ) ; weitere T h e m e n sind: die A b g r e n z u n g der L i t . — als K u n s t — v o n andern S p r a c h f o r m e n u n d die F r a g e n a c h einheitlichen o d e r auch historisch-institutionalisierten

Kriterien

der A b g r e n z u n g und B e w e r t u n g ( H i r s c h , G a briel, z u s a m m e n f a s s e n d J . Z i m m e r m a n n 1 9 8 0 ) . Verdienste

und

Grenzen

des

sprachanalyt.

V o r g e h e n s w e r d e n , da es meist n i c h t auf L i t . b e s c h r ä n k t ist, erst bei der P r ü f u n g des „ Ä s t h e t i s c h e n " auf T a u g l i c h k e i t z u r L e g i t i m a t i o n j e g lichen literar. W e r t s voll ersichtlich

(§11).

D e r Schritt z u einer k o n s e q u e n t e n Relativierung auch des „ S p r a c h s p i e l s " L i t . ,als K u n s t ' o d e r als ,ästhetische' auf e i n e , w e n n g l e i c h aus-

Wertung, literarische gezeichnete Form möglicher „Diskurse" (im Sinne von Foucaults Archäologie des Wissens, 1969) ist zwar durch Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, durch Toulmins Argumentationstypologie (1958) u.a. vorbereitet, aber noch nicht vollzogen. Vorbereitet ist er insbesondere durch eine hermeneut. Umformulierung der transzendentalen Begründung des ästhet. Urteils Kants (Schnädelbach, Osborne; vgl. auch J. Zimmermann, Kap. 3). Auch das Konzept der „Subsinnwelten" (Berger/Luckmann [1966], dt. 1970), dem gemäß gesellschaftl. Gruppen bestimmte Ausschnitte von Wirklichkeit unter gemeinsamen Perspektiven wahrnehmen und bewerten, würde sich dafür eignen, den ästhet. Diskurs als einen unter andern möglichen literar. Diskursen zu erkennen und zugleich sein „Sprachspiel" an gesellschaftliche Rollen und Normen zurückzubinden. J. Stenzel (1978) hat in Anlehnung an P. R. Hofstätters Begriff der „Bestimmungsleistung" literar. Werturteile aller Art als konvergierende Einschätzungen von Objektqualitäten durch genauer beschreibbare Gruppen mit gemeinsamen Bedürfnissen gedeutet. Die ästhet. Urteile müßten also in ihrem besonderen Rang noch ausgezeichnet werden. B e a r d s l e y 1958: vgl. § I I b . Manfred B e e t z , Meinungsverschiedenheiten und Mißverständnisse in Interpretationskontroversen, in: Georg Meggle u. Manfred Beetz, Interpretationstheorie u. Interpretationspraxis (1976; Wiss.theorie u. Grundlagenfschg. 3). Peter L. B e r g e r u. Thomas L u c k m a n n , Die gesellschaftl. Konstruktion d. Wirklichkeit. E. Theorie d. Wissenssoziologie (1969; 5. Aufl. 1977; neue Ausg. 1982 = Fischer-Bücherei 6623; erste amerikan. Ausg. Garden City 1966). Michel F o u c a u l t , Archäologie d. Wissens (1973; erste franz. Ausg. Paris 1969). G a b r i e l 1975: vgl. § 3. Heide G ö t t n e r u. Joachim J a c o b s , Der logische Bau von Lit.theorien (1978). Günther G r e w e n d o r f , Argumentation u. Interpretation. Wiss.theoret. Untersuchungen am Beispiel germanist. Lyrikinterpretationen (1975; Wiss.theorie u. Grundlagenfschg. 2). Götz G r o ß k l a u s , Konnotativer Vorgang u. Wertverständigung, in: Großklaus u. E. Oldemeyer (Hg.) 1980, S. 88-125. Götz G r o ß k l a u s u. Ernst O l d e m e y e r (Hg.), Werte in kommunikativen Prozessen: Beiträge und Diskussionen der 8. Karlsruher Tage für Experimentelle Kunst und Kunstwissenschaft (1980). Eric Donald H i r s c h jr., Privileged Criteria in Literary Evaluation, in: J. Strelka (Hg.) 1969 (vgl. § 10)S.22-34. O s b o r n e 1979: vgl. § I I b . Eikev. S a v i g n y , Argumentation in d. Lit.wiss.: Wissenschaftstheoret. Untersuchungen zu Lyrikinterpre-

861

tationen (1976; Ed. Beck). Herbert S c h n ä d e l b a c h , Reflexion u. Diskurs (1977). S t e n z e l 1978: vgl. § I I b . S t e p h e n T o u l m i n , The Usesof Argument (Cambridge 1958). Morris W e i t z , The Philosophy of Criticism. Proceedings of the Third Intern. Congress of Aesthetics, Torino 1957, S. 207216. J. Z i m m e r m a n n 1980: vgl. I I b .

§ 11. A l l g e m e i n e , e t h i s c h e und ästhet i s c h e W e r t - und N o r m b e g r ü n d u n g . a) Wert- und Normbegründung ist, unter dem Druck rapider wissenschaftlich-technischer Entwicklungen, politisch brisanter Situationen und sozialen Wandels, ein aktuelles Thema vorab von Philosophie und theoretischen Sozialwissenschaften; der je vorausgesetzte (seinerseits normative) Wissenschaftsbegriff entscheidet, ob man es für ein Thema im Vorfeld oder im Zuständigkeitsbereich von Wissenschaft hält. Die wichtigsten teils konkurrierenden, teils kooperierenden Verfahren sind eine an Kant anschließende erneuerte Transzendentalphilosophie (Krings, Baumgartner, Patzig, Pieper u.a.), eine „Transzendentalpragmatik" (Apel), die „Universalpragmatik" (Habermas, Wellmer u.a.), der Logische Konstruktivismus der sog. „Erlanger Schule" (Schwemmer, Kambartel u.a.), die Hermeneutik (Oelmüller, Marquard u. a.) und, aus dem amerikan. Raum in die dt. Diskussion hineinwirkend, die Analytische Philosophie (als „formale" Normenlogik [Lenk] und als ,ordinary language philosophy' [v. Savigny]), der Kritische Rationalismus (Popper) und der pragmatische Rationalismus' (Essler, Stegmüller); dazu kommen phänomenologisch oder empirisch gestützte Rekonstruktionen der histor. Genese von Werten, Normen und Lebensformen aus den Einzelwissenschaften wie Soziologie, Psychologie, Ethnologie, Anthropologie, Ethologie. E t h i s c h e und lebensp r a k t i s c h e B e g r ü n d u n g e n stehen im Vordergrund der Diskussion. Diese sind jedoch für ästhet. und literar. W. mit relevant, und außerdem kehren die methodologischen Differenzen, die Kontroversen und die Tendenzen der Entwicklung in der Auseinandersetzung der genannten Richtungen auch in der ästhetischen wie — in aufschlußreicher Parallele — der theologischen Begründungsdiskussion wieder (Pannenberg, Sauter, Eicher, Track). Obwohl weder eine Einigung über die zulässigen oder aussichtsreichen Verfahren noch über kontroverse inhaltliche Ergebnisse in Sicht ist, lassen sich

862

Wertung, literarische

v i e r auch für die Begründung literar. W.en wichtige T e n d e n z e n der jüngsten Entwicklung skizzieren (im Anschluß an Oelmüller 1979, 9-15): 1.) a h i s t o r i s c h e und kulturinvariante V e r f a h r e n , sofern sie nicht rein formal sind, verl i e r e n für die Normbegründung in komplexen, hochentwickelten Gesellschaften an G e l t u n g (einschränkend die biologische Verhaltens- und Systemforschung: Lorenz, Eibl-Eibesfeld; Maturana [nach S. Schmidt 1980]); Ontologie, Naturrecht, klass. Transzendentalphilosophie, materiale Wertethik, anthropologische, personalistische und existentialistische Grundannahmen werden kaum noch herangezogen, ebensowenig aber auch einlinige, monokausale und europazentrierte Geschichtsphilosophien. In diesem Zusammenhang wird die Rede von „Werten", die als absolut, d. h. also auch strikt individuell geltend gedacht werden, abgelöst durch die Rede von „ N o r m e n " , die auf der Grundlage von prinzipiell sprachlich vermittelbaren Erfahrungen, mindestens für abgegrenzte Kollektive, wenn schon nicht universell gelten. Die soziologischen Implikationen des Normbegriffs (Rollen, Sanktionen, vgl. § 5) werden dabei leicht etwas vernachlässigt. 2.) N o r m b e g r ü n d u n g wird an argumentative p r a k t i s c h e D i s k u r s e v e r w i e s e n ; für die Geltung von Normen wird — in Einschränkung der Ansprüche der Transzendentalphilosophie wie ihrer hermeneutisch-pragmatischen Reduktionsformen in der „Transzendental-" und „Universalpragmatik" — auf ,immer schon' gültige Voraussetzungen wie „Interesse an Freiheit" oder an „herrschaftsfreier Kommunikation" verzichtet, weil diese als individual-, sozial- und kulturhistorisch voraussetzungsreiche histor. Errungenschaften erkannt werden. Das bedeutet aber nicht, daß solche Wertprämissen und Grundwerte nicht unter bestimmten Rahmenbedingungen verteidigt werden können und sollen. Im Gegenteil: Zu den R a h m e n b e d i n g u n g e n der de f a c t o Diskutierenden gehört die a b e n d l ä n d i s c h e D e n k t r a d i t i o n von der Antike über das Christentum in die Aufklärung — im Zentrum Kant — bis zu den krit. Infragestellungen durch Marx, Nietzsche und Freud, und aus dieser Tradition resultieren breit anerkannte prakt. „ G r u n d n o r m e n " der Rationalität: die Verpflichtung auf den dialogischen Diskurs, in dem der Andere als Gleichberechtigter anerkannt ist, das Vertrauen auf die krit. Potenz reflektierender Vernunft und die Unterstellung, daß diese an Erfahrungen der Lebenswelt, die durch den gleichen Traditionsbestand geprägt sind, anknüpfen kann (Wellmer, Kambartel); dies ist das Fundament, auf dem Normen an Konsensfähigkeit, Zustimmungsbedürftigkeit, Universalisierbarkeit gebunden werden, ohne daß man fürchten muß, sie damit unbegrenztem Relativismus oder ich-zentriertem Utilitarismus auszuliefern. Allerdings ist in dieser Tradition auch ein anderer für Ästhetik bedeutsamer Argumentationsstrang vorge-

bildet, in dem die Verpflichtung auf Vernunft und InterSubjektivität als „Ausschließungsverfahren" (Foucault) gesehen und dagegen das Recht des (auch nicht-sprachlichen) Ausdrucks eines „Nicht-Identischen" (Adorno), des unreduzierbar Individuellen wie auch der unterdrückten Sinnlichkeit zur Geltung gebracht wird: ein Einspruch gegen Normativität schlechthin (im Anschluß an Nietzsche, Foucault, Lacan, Derrida: Zons, in Oelmüller 1979; als Vermittlungsversuch zwischen beiden Positionen vgl. Gross). 3.) Die kategoriale T r e n n u n g v o n S e i n und S o l l e n (ihre Verknüpfung gilt nach G . E. Moore als „naturalistischer Fehlschluß") wird als Selbstverständlichkeit i n F r a g e g e s t e l l t , weil sie in verschiedenen Normbegründungskonzepten unterschiedlich gebraucht und verteidigt wird. In diesem Punkt stehen einander neue Transzendentalphilosophie (z. B. Krings, Baumgartner, Pieper) und hermeneutischpragmatisch argumentierende Philosophie, Politologie (Kriele, Willms u. a.) zusammen mit Evolutionstheorien der Erkenntnis und der Werte (Mead, Piaget, Vollmer, marxistische Wertlehre) trotz mancher Annäherung noch unvereinbar gegenüber. Das entspricht den gegensätzlichen Denkmodellen der Subjekt-Objekt- oder Theorie-Praxis-Trennung einerseits und der vorgängigen, prozeßhaften — oder in „Sprachspielen" und „Lebensformen" (Wittgenstein) bereits geleisteten - Vermittlung von beidem andererseits (vgl. §§ 1 und 10.5). 4.) R e l a t i v i e r t wird das - u.a. vom Krit. Rationalismus und von der Transzendentalphilosophie gestützte - T h e o r e m d e r I r r e l e v a n z d e r W e r t g e n e s e f ü r die W e r t g e l t u n g . Die Unterscheidung einer „durch faktische Zustimmung konstituierten faktischen Geltung" (als „theoretischem W e r t " ) und einer „durch fiktive Zustimmung konstituierten fiktiven Geltung" (Gethmann) einer Norm (als „motivationalem Wert", vor dessen Bewußtmachung oder Institutionalisierung als Norm) ermöglicht es zwar, die Geltung einer Norm — wie z . B . der Kant'schen Freiheitsforderung — vor ihre histor. Genese als „faktischer" Norm zurückzuverlegen (vgl. für die entsprechende Rückprojektion des „Ästhetischen" § 7); der Nachweis für die „fiktive Zustimmung" ist freilich schwer zu führen. Auch bleibt der Schritt zur faktischen Formulierung als Norm mindestens immer dann erklärungsbedürftig, wenn sich die neue Norm gegen bisher geltende Normen oder Autoritäten richtet (Zimmerli, gegen Baumgartner). Begründungen für Normwandel werden daher in der „Lebenswelt", in der „Erfahrung" gesucht. Primärerfahrungen wie „Leidensdruck" können zum Normwandel, andere wie „ G l ü c k " , „gelingendes Leben" zum Festhalten an Normen, ja sogar an deren metaphysischer oder religiöser Begründung führen (Willms, Kambartel, Track u.a.). Bedingung für den Ubergang von histor. Erfahrung in zukunftsorientierte Normen ist die „Transsubjektivität" (Lorenzen/

Wertung, literarische Schwemmer), in der sich ein gemeinsames, in Sprechen und Handeln gleichermaßen ausgedrücktes Wollen manifestiert; weder die neue Transzendentalphilosophie noch ihre hermeneutisch-pragmatischen Transformationen kommen ohne ein solches Fundament vorgegebener intersubjektiver Praxis aus. Daß nicht eine beliebige Gruppenerfahrung auf Dauer zur N o r m werden könne, wird von den einen aus der als „vernünftig" gewerteten Tradition abendländischer Normbildungsprozesse abgeleitet (Lübbe, Kriele), von anderen aus der von Kant normativ gewendeten Annahme, daß gelingendes Leben für den Menschen nur als gemeinsame, die Bedürfnisse des andern berücksichtigende Praxis möglich sei (Patzig, Pieper, Kambartel u.a.). Eine weitergehende, nicht mehr nur am wohlverstandenen Eigeninteresse orientierte Normbegründung baut auf unmittelbaren, aber prinzipiell mitteilbaren „Erschließungserfahrungen" auf, in denen, wie etwa in religiöser Erfahrung, eine das ganze Leben betreffende Wertperspektive eröffnet und jenseits jedes „Konsensus" als „wahr" erlebt wird (Maslow, Ramsey, Dauenhauer, Track). Die historisch manifeste Unfähigkeit des Menschen, sein Handeln an der „ G r u n d n o r m " dialogischer Vernunft oder am sie überbietenden christl. Liebesgebot zu orientieren — sei es aus mangelnder Einsicht, begrenzter Erkenntnis der zum gewollten Ziel führenden Mittel und Wege oder aus Unfähigkeit zu den implizierten Selbstbeschränkungen - macht diese Normen trotz ihrer vorgängigen Vermittlung mit Erfahrung zu einem Maßstab der Kritik konkreter Praxis.

Der skizzierte Diskussionsstand „praktischer" Normbegründung gibt trotz seiner Abstraktheit gewisse regulative Hinweise für die Wertbegründung im Rahmen literar. Wertung. In einem gleitenden Kontinuum zu andern Formen der Zeichenkommunikation in Situationen, in denen „Sender" und „Empfänger" sich nicht im Dialog gegenüberstehen (Bücher generell, Zeitung, Rundfunk, Fernsehen, auch Theater), stellt L i t e r a t u r nur ein Angebot von Informationen und Wertungen dar, das Freih e i t zur Interpretation des Gemeinten u n d F r e i w i l l i g k e i t der Zustimmung gewährleistet: die Rezeption kann fast immer abgebrochen, das Wertangebot kann verschieden identifiziert und muß nicht übernommen werden (Gabriel, Zons u.a.), Rezeptionsverweigerung bleibt ohne Sanktionen (s. Wirkung und Rezeption). Im Prinzip können also in Produktion, Distribution und Rezeption die jeweiligen individuellen oder gruppenspezifischen Werte, Normen und Bedürfnisse eingebracht und im fiktiven Dialog mit dem Textangebot überprüft werden.

863

Von derprakt. „Grundnorm" her erhält literar. W. die d o p p e l t e A u f g a b e , einerseits die dialogische Uberprüfungssituation, andererseits aber auch die legitimierbaren Werte und Bedürfnisse des einzelnen zu schützen. Daraus ergeben sich z. T. gegensätzliche Postulate, die nur im Blick auf die konkrete Situation der im ,Sozialsystem Lit.' jeweils Handelnden gegeneinander gewichtet werden können. ,Schutz der dialogischen Uberprüfungssituation' heißt für Lit.wiss., Lit.didaktik und Lit.kritik z.B. Folgendes: 1.) Der Text muß als Gegenüber für den Rezipienten erhalten bleiben (Forderung „adäquater Konkretisation" statt „Normalisierung", Link 1976). 2.) Der Leser muß sich wertend ins Spiel bringen, aber die Voraussetzungen des Textes (ggf. des Autors), seine individuelle oder histor. Erschließungspotenz respektieren (Plädoyer für eine krit. Hermeneutik, für Ideologiekritik vom Typ 1; Kritik an einer W. aus dogmatischem Wertwissen). 3.) Nicht-operative, nicht-schematisierende Lit. ist höher zu werten, weil sie dem Rezipienten ein größeres Maß an Freiheit zubilligt, an konstruktiver Eigenleistung und wertender Stellungnahme abverlangt (Hochwertung von „Lit. als Kunst"). 4.) Äußere Umstände, die den freien, dialogischen Prozeß der Wertbildung in und an Texten behindern, sind zu kritisieren (Rechtfertigung der Ideologiekritik an „Kulturwarenproduktion", an autoritärer, durch nicht vernünftig begründbare Wertvorstellungen geleiteter Beeinflussung von Lit. und literar. Leben, an Lebensbedingungen, die eine Situation freier Wertbildung an Texten unwahrscheinlich machen). ,Schutz der legitimierbaren Werte und Bedürfnisse des Einzelnen' kann dagegen z.B. heißen: 1.) Lit.wiss. und -kritik dürfen zwar in didakt. Absicht für die vom Umgang mit „ K u n s t " abgeleiteten Interpretations- und W.snormen eintreten, die für sie (meist) gelten, dürfen sie aber nicht ohne Rücksicht auf den „Gebrauchswert" von Lit. für ihre fiktiven .Dialogpartner' verabsolutieren. Sehr viele dieser Gebrauchswerte sind nur auf der Grundlage mehr oder weniger vollkommener ä s t h e t i s c h e r Strukturierung der Objekte realisierbar (vgl. § 7), selbst wenn diese Basis bei der Rezeption nicht bewußt wird; aber auch andere können legitimiert werden (Plädoyer für Aufwertung von Dilettantendichtung in therapeutischer Funktion, von .geselligen', ,operativen' und .trivialen' Formen von Lit., Aufwertung von „normalisierender" Textrezeption). 2.) Auch der „Warenwert" von Lit. für Autor und Distributoren ist nicht grundsätzlich verwerflich (Einschränkung der Ideologiekritik am „literar. Markt" vgl. § 10,4). 3.) Die Legitimität von Wertvorstellungen und Bedürfnissen des Einzelnen kann, zumal im Blick auf die Geschichte des Umgangs mit Lit., nicht dogmatisch aus der Unterscheidung „wahrer" von gesellschaftlich verzerrten Bedürfnissen abgeleitet und an der

864

Wertung, literarische

realen Situation der Betroffenen vorbei entschieden werden; die individuell und gesellschaftlich notwendige Wechselbeziehung von „Anpassung" und „Emanzipation" (Kreckel 1975, 21-25) ist im Auge zu behalten. Entscheidungshilfe nicht nur für die Begründung von Normen (Zimmerli), sondern auch für die Legitimierbarkeit individueller Wertvorstellungen ist die Antizipation der Folgen, insbesondere für andere (Najder). 4.) Der „Genuß" rein formaler ästhet. Gestaltung, der „Selbstgenuß" in ästhet. Einstellung sind auch dann nicht zu verwerfen, falls diese Erfahrungen nicht jedermann zugänglich sein sollten (Einschränkung der z.T. radikalen „Kunst"-Kritik der Ideologiekritik vom Typus 2). Hans A l b e r t , Konstruktion u. Kritik. Aufsätze z. Philosophie d. krit. Rationalismus (1972). Karl-Otto Apel (Hg.), Sprachpragmatik u. Philosophie (1976). Ders., Sprechakttheorieu. transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen, in: Apel (Hg.), 1976, S. 10-173. Ders., Transformation d. Philosophie. Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik (1973). Hans Michael B a u m g a r t n e r , Diskussion: Der Ansatz von Baumgartner, in: W. Oelmüller (Hg.) 1979 (s.u.)S. 286-331. James M. Brown, Das Beurteilen von Werturteilen. Ratio 18 (1976) S. 52-67. D a u e n h a u e r 1971: vgl. § 11 b. E i b l - E i b e s feldt 1972: vgl. § 3. Irenäus E i b l - E i b e s f e l d t , Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschl. Verhalten (1973; neue Ausg. 1977; dtv. Tb. 4177). Peter Ei e h e r , Die Fragwürdigkeit d. transzendentalphilosoph. Freiheitsbegriffs, in: W. Oelmüller (Hg.) 1978/1 (s.u.) S. 78-81. E n g e l m a y e r 1977: vgl. § 3. Wilhelm K. E s s l e r , Analytische Philosophie Bd. 1 (1972; Kröners Taschenausg. 440). Michel F o u c a u l t , Wahnsinn u. Gesellschaft. E. Gesch. d. Wahns im Zeitalter d. Vernunft (1969; erste franz. Ausg. Paris 1961). Dierk F r a n c k , Verhaltensbiologie. Einf. in d. Ethologie (1979; dtv. Wiss. 4337). William K. F r a n k e n a , Analytische Ethik. E. Einf. (1972; dtv. Wiss. 4376). Gab r i e l 1975: vgl. §3. Carl Friedrich G e t h m a n n , Genesis u. Geltung von Normen, in: W. Oelmüller (Hg.) 1979 s.u., S. 17-23. G r o e b e n / S c h e e l e 1977: vgl. § 3. PeterGross, Reflexion, Spontaneität u. Interaktion. Zur Diskussion soziolog. Handlungstheorien (1972; Problemata 14). Jürgen Hab e r m a s , Was heißt Universalpragmatik?, in: Apel (Hg.), 1976, S. 174-272. Wolfgang H a r d t wig, Geschichtsprozeß oder konstruierte Geschichte. E. Auseinandersetzung mit H. M. Baumgartner, „Kontinuität u. Geschichte". Philosoph. Jb. 81 (1974) S. 381-390. Hermeneutik u. Ideologiekritik. Mit Beitr. v. K.-O. Apel, C. v. Bormann, R. Bubner, H.-G. Gadamer, H. J. Giegel, J. Habermas (1971). Hans Heinz H o l z , Werte u. Bedürfnisse, in: Günter Ropohl u.a. 1978 (s. § 3)

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865

von Genese u. Geltung in d. Normenlegitimation, in: W. Oelmüller (Hg.) 1979, S. 202-219. Raimar Stefan Z o n s , Notizen zur Genealogie d. prakt. Diskurses, in: W. Oelmüller (Hg.) 1979, S. 220245. b) Die den

Begründungsdiskussion

ästhetischen

für

W e r t und die v o n i h m

abgeleiteten W e r t e und N o r m e n ist n o c h w e i t v e r w o r r e n e r als die für die p r a k t . W e r t - und N o r m b e g r ü n d u n g , zumal sie, d e m T r e n d seit A n f a n g des 19. J h . s f o l g e n d , n u r n o c h am R a n de in der P h i l o s o p h i e , hauptsächlich a b e r v o n den K ü n s t l e r n , der K u n s t k r i t i k und den m i t „ K u n s t " befaßten Einzelwissenschaften

(ein-

schließlich der P s y c h o l o g i e ) geführt w i r d . U n geklärt o d e r k o n t r o v e r s ist die A b g r e n z u n g des Ä s t h e t i s c h e n v o m o d e r seine n o t w e n d i g e V e r k n ü p f u n g mit d e m E t h i s c h e n , auch d e m R e l i g i ö s e n ; die F r a g e , o b das „ S c h ö n e " als G e s t a l tung am O b j e k t o d e r als E r f a h r u n g des S u b j e k t s o d e r als V e r b i n d u n g v o n beidem als W e r t zu b e g r ü n d e n , ja o b S c h ö n h e i t ü b e r h a u p t — u n d m i t w e l c h e n C h a r a k t e r i s t i k a — unerläßliches

Merkmal

des

Ästhetischen

sei;

selbst

„ L u s t " w i r d als n o t w e n d i g e r Bestandteil ästhet. E r f a h r u n g und W . in F r a g e gestellt ( F i s her). P r o b l e m bleibt, o b der ästhet. W e r t als „ W e r t in s i c h " o d e r als f u n k t i o n a l , k o m m u n i kativ, o b als b i o l o g i s c h , a n t h r o p o l o g i s c h , k u l turinvariant o d e r als kulturspezifisch, risch, pragmatisch zu k o n z i p i e r e n sei.

histoVer-

schieden ist auch die M e t h o d e : das A u s g e h e n von

den

Manifestationen

des

Ästhetischen

selbst, in a n e r k a n n t e n K u n s t w e r k e n , aber auch in N a t u r o d e r Alltagsrealität, o d e r v o m S p r e c h e n ü b e r K u n s t in K u n s t t h e o r i e o d e r K u n s t kritik. N i c h t selten sind

Vorentscheidungen

ü b e r einige o d e r alle dieser F r a g e n s c h o n v o r B e g i n n der U n t e r s u c h u n g getroffen und b e s t i m m e n die E r g e b n i s s e . E i n i g k e i t b e s t e h t , m i t wenigen A u s n a h m e n , n u r in d e m P u n k t , daß das Ä s t h e t i s c h e implizit o d e r explizit auf d e m m a ß s t a b g e b e n d e n H i n t e r g r u n d der H e r a u s b i l dung v o n B e g r i f f und Sache im 18. J h . verstanden und seine V o r - und N a c h g e s c h i c h t e , sofern sie in den B l i c k k o m m t , v o n daher als U b e r e i n stimmung oder Abweichung

wahrgenommen

w i r d (vgl. § 7). D a ß dieses Ä s t h e t i s c h e ein W e r t sei, steht gleichfalls v o r a b fest; n u r sein O r t in der H i e r a r c h i e anderer W e r t e , seine N o r m a t i vität und die E i n z e l h e i t e n seiner C h a r a k t e r i s i e rung u n d B e g r ü n d u n g w e r d e n k o n t r o v e r s debattiert.

866

Wertung, literarische

Sprachanalyt. Ästhetik hat die Gründe für die genannten Sachverhalte — Kontroversen wie Konsens — weitgehend aufgedeckt und einige Positionen ad absurdum geführt (J. Zimmermann 1980); sie erleichtert eine Bestimmung der Tendenzen der jüngsten Entwicklung, die in vier zur Ethik-Diskussion analogen Schritten skizziert werden können. 1.) Die Frage nach dem gemeinsamen „Wesen" aller Kunstwerke oder sonstigen Gegenstände ästhet. Betrachtung erscheint als „ess e n t i a l i s t i s c h e r F e h l s c h l u ß " und muß auf die sprachanalyt. Frage nach dem richtigen Gebrauch der ästhet. Begriffe zurückgeführt werden (Gallie 1948, Weitz, Kennick). Damit werden ,objektbezogene' ontologische und phänomenologische Wertbegründungen ebenso zurückgewiesen wie,subjektbezogene' anthropologische und existentialist. Argumente. Das impliziert Kritik an der Reduktion des Ästhetischen auf einen begrenzten Kanon von Merkmalen, an der Vorstellung universeller ästhet. Normen und einem ,,, versteckten' Präskriptivismus" (Zimmermann 1980, 102) in der Vermischung beschreibender und wertender Sprechakte (vgl. § 4). Die Formel vom „richtigen", nämlich öffentlichen Sprachgebrauch kritisiert überdies den „mentalistischen" Sprachbegriff, der mit einem mentalist. Kunstbegriff korrespondiert: Sprache als nur sekundäre ,äußere' Repräsentation einer primär i n neren', letztlich privaten Repräsentation der Wirklichkeit durch Vorstellungen, das Kunstwerk als „innere Intuition" (Croce), die auch nur in einer einzigen Interpretation, als Wiederholung der ursprünglichen Intuition des Künstlers, erschlossen werden kann. 2.) Die Differenzen in der Beschreibung, Interpretation und Bewertung des Ästhetischen — die Unterscheidbarkeit der drei Vorgänge bleibt kontrovers — werden auf vers c h i e d e n e „ S p r a c h s p i e l e " zurückgeführt; sie erweisen sich als komplexe Sprachhandlungsspiele, die in „ L e b e n s f o r m e n " (Wittgenstein) e i n g e b e t t e t sind (Danto, Dickie 1974). Deren Anschließbarkeit an die soziale Realität, die im Begriff des „Sozialen Handlungssystems" (vgl. § 1) gefaßt und im tschech. Strukturalismus (Mukarovsky, Slawirisky, auch Oldemeyer 1976) schon gründlicher beschrieben wurde, wird von den Sprachanalytikern nur angedeutet. Innerhalb eines solchen Sprachspiels, das allein über die Einführung in die entsprechende Lebensform, anhand von

nachvollziehbaren Beispielen und Erfahrungen, zugänglich ist, kann das Ästhetische, auch als Wert, im Konsensus identifiziert werden (Ziff, Haller u.a.). Auf höheren Entwicklungsstufen des Konzepts ist dafür eine besondere Kompetenz erforderlich (Casey, Haller). 3.) Daraus folgt sprachanalytische Szientismus-Kritik (Zimmermann 1980, 2.5): T r e n nung z w i s c h e n der Position des t e i l n e h m e n d e n und der Position des b e o b a c h t e n den S u b j e k t s ist n i c h t m ö g l i c h (vgl. auch Viehoff gegen S. J . Schmidt 1980/82), das ästhetische Wert-Problem läßt sich nicht durch Beobachtung des Präferenzverhaltens von Personen in Test-Situationen lösen (vgl. dagegen Groeben). Obwohl Sprachanalytik kaum je direkt an die Hermeneutik-Tradition anschließt, führt sie doch auf diese hin. Ästhet. Theorie muß ihre Begriffe reflexiv im Medium der Erfahrung bilden, der sie gilt (Hart Nibbrig 1978, 8). Auch „Evidenz" ist dann keine empir. Bestätigung, sondern eine Sache des Verstehens; sie eröffnet sich nur dem, der in die Regeln, Konventionen, Prinzipien des jeweiligen ästhetischen Diskurses eingelebt ist, weil er die zugrundeliegenden Erfahrungen teilt (Dickie 1962, auch Track). Mit der Rückbindung ästhet. Werts an Sprachspiele vollzieht Ästhetik freilich nur die durch Charles Sanders Peirce initiierte pragmatisch-semiot. Wende von Ethik und auch Wissenschaftstheorie mit: Selbst die wiss. Rationalität beruht nach heutiger Einsicht auf Einigung darüber, was jeweils als „Evidenz" für die Verifikation und vor allem Falsifikation von Aussagen über die Wirklichkeit zugelassen werden soll (Stegmüller 1969). Aber im Unterschied zur Wissenschaft, die intersubjektive Axiome braucht, zur Ethik und auch zu den Religionen, die in unterschiedlichem Grade wenigstens ihre Leitwerte als Normen verbindlich zu machen suchen, könnte Ästhetik unter Hinweis auf die Singularität ästhet. Erfahrung und ihre legitime Subjektivität auf Normativität des ästhet. Werts verzichten und einen Relativismus ästhet. Sprach- und Handlungsspiele akzeptieren. Diese Konsequenz wird auch vereinzelt gezogen (Isenberg, Hampshire, Sibley, Eggerman). Der ästhet. Wert wird sogar gerade wegen seiner Nicht-Normativität geschätzt: denn seine „Transparenz" (Mukarovsky) ermöglicht erst die Fülle von nachgeordneten Funktionswerten, die in ästhet. Erfahrung, sogar unabhängig von potentiell ästhet. Gegenständen,

Wertung, literarische aktualisiert werden können (Jauß u.a.). Dem gegenüber besteht aber die starke Tendenz, den formalen ästhet. Wert und die ihm adäquate Rezeptionsweise oder einen gewissen klassizist. Kriterienkanon zur ästhet. Norm zu verabsolutieren (u.a. Hopf, Henckmann 1970 in Anschluß an Kant, ähnlich Osborne 1974; Ingarden, Beardsley, Pepper, Davis); geschichtsbezogene Normativität beanspruchen marxist. Ästhetik und verschiedene Varianten der Ideologiekritik, insbesondere gegenüber der Lit., die als Faktor von Meinungsbildung gilt. 4.) Die A b h ä n g i g k e i t d e s G e l t u n g s a n s p r u c h s eines solchen normativen ästhet. Werts von s e i n e r G e n e s e unter bestimmten histor. Bedingungen wird jedoch allgemein k a u m n o c h b e s t r i t t e n . Universalität und Kulturnotwendigkeit auch für die Zukunft wird dem ästhet. Wertbereich — meist in deutlichem Abstand zum theoret. und praktischen — nur zugestanden, wenn er nicht auf das Sprachspiel „ K u n s t " eingeschränkt wird; seine Eigenart wird dann objektbezogen als „das Schöne" (Oldemeyer 1976, Tatarkiewicz), subjektbezogen (mit Kant) als begriffs- und interesselose, selbstbezogene „ L u s t " definiert (Jauß u. a.). Doch ist darauf hingewiesen worden, daß beidem nur auf anthropologischer Basis „Wert" zugesprochen werden kann und daß in die Anthropologie wieder unbeweisbare, geschichtsabhängige Vorannahmen eingehen (Lüthe). In gleicher Weise fußen Theorien, in denen die ästhet. Norm als historisch variabel, in Analogie oder Korrelation zu einer kontinuierlichen oder dialektischen Evolution gedacht werden, auf kontroversen Grundannahmen über die histor. Entwicklung in Natur und Geschichte und die des Menschen als triebgesteuerten und geschichtlich handelnden Wesens (Uberblick bei Munro, Wellek; vgl. auch Slawinsky 1975). Die ästhet. Norm kann dann noch einmal auf einer Bewertung des Geschichtsprozesses beruhen, die, wie der Gegensatz zwischen dem optimistischen orthodoxen Marxismus und der eher pessimistischen Kritischen Theorie mit der von ihr abgeleiteten Ideologiekritik zeigt, aus unterschiedlichen, erfahrungsgebundenen Interpretationen der Geschichte folgt. Auch normative ästhet. Werttheorien, gleich welchen Typs, stellen also nur „Bestimmungsleistungen" (Stenzel, vgl. §10) dar, durch die eine bestimmte Gruppe ihre Erwartungen in bezug auf Ästhetisches ,objektiviert'. Bei diesem Vorgang mögen dann

867

sowohl anthropologische Konstanten wie individuelle und kollektive Erfahrungen ins (Sprach-)Spiel kommen. E. Oldemeyer (1976) hat diesen Prozeß an der histor. Entwicklung der Schönheitserfahrung und zugleich damit des Sprachgebrauchs von „schön" auf Grund hermeneut. sowie empirisch-analyt. Einsichten aus Biologie, Psychologie und Soziologie zu rekonstruieren versucht und dabei fünf sich ausdifferenzierende, aber noch heute gleichzeitig präsente Ebenen dieser Erfahrung nachgezeichnet: Auf der ersten, noch vorsprachlichen Ebene äußert sich das „Schöne" als Lust an der Entspannung nach erfolgter Bedürfnisbefriedigung wie als spontanes, vom Bedürfnis freies Spiel (die Deutung gerade dieser Momente der Primärerfahrung als „schön" ist freilich ohne Kants spätere Bestimmungen nicht denkbar). Auf zweiter Ebene wird das Wortfeld „schön" gesellschaftlich gelernt; die Abgrenzung gegen das Angenehme, Nützliche und Gute ist noch nicht geleistet, doch stehen schon auf dieser Ebene Teilkulturen, die dem Wort verschiedene Objekte und Erfahrungen zuordnen, konkurrierend oder im Konflikt nebeneinander (wie heute die .offizielle' ästhet. Kultur und verschiedene Subkulturen). Auf der dritten, bereits reflexiven Ebene wird — mit der Wende zur Ästhetik im 18. Jh. — das „Schöne" gegenüber dem prakt. Leben in gewissem Grade neutralisiert und gleichzeitig damit werden verschiedene rechtfertigende Sinngebungen für diese neue Erfahrungsweise erdacht (vgl. § 7). Es entstehen die entgegengesetzten Deutungen der ästhet. Erfahrung als quasi-religiöse Selbstoffenbarung unbedingten, .objektiven' Werts (durch Abbildung substantieller oder Allegorie abwesender .Wahrheit') und als nichts als sich selbst ausdrückendes „L'art pour l'art" in Kunst und Leben. Auf vierter Ebene werden, wiederum reflexiv, für die beiden einseitig dogmatischen Standpunkte spekulative Vermittlungen gesucht (Hegel). Antidogmatisch und antispekulativ verfahren auf der fünften Ebene Sprachkritik und — wie Oldemeyer meint — auch empirisch-wissenschaftliche Forschungen zu ästhet. Erfahrung, unter deren Zugriff sich die Einheit des Wortes „schön" und des Ästhetischen verflüchtigen. Differenzierung und Intellektualisierung der Kunst und der ihr zugehörigen Erfahrungsweise im Lauf dieser Entwicklung führen dazu, daß die späteren Modi der „Schönheitserfahrung" nur einer Elite zugänglich sind, während die breite Masse auf die zwei, allenfalls drei frühen Stufen beschränkt bleibt. Das fordert im 20. Jh. kritische, auch politisch-demokratische Reaktionen der Künstler heraus, die verhältnismäßig folgenlos bleiben (AntiKunst, Rückgang auf .operative' Lit.); die Vermarktung des Ästhetischen in Werbung und Warenästhetik ist dagegen erfolgreich.

Die Abhängigkeit ästhet. Werte und Normen von „Lebensformen", von histor. und so-

868

Wertung, literarische

zial vermittelten individuellen Voraussetzungen, ist gerade in bezug auf Lit. nicht mit Wertrelativismus gleichzusetzen. D e r Maßstab für Kritik kann allerdings nicht mehr im Ästhetischen selbst gefunden werden, sondern nur in den das ästhet. und literar. Urteil fundierenden Anthropologien, Geschichtsphilosophien und ähnlich grundlegenden Weltdeutungsschemata, die ihrerseits wieder an der prakt. „Grundn o r m " (s. o.) zu messen sind. In Anlehnung an Stenzel (1978) hätte eine solche Kritik der jeweiligen „Bestimmungsleistungen" dreierlei zu prüfen: ob die historisch gewachsenen Bedürfnisse bzw. die in Erfahrungen und Lebensformen bewährten (axiologischen) Wertvorstellungen und ihre Gewichtung untereinander gerechtfertigt werden können, ob die (attributiven) literar. Normen, mit denen diesen Bedürfnissen und Wertvorstellungen entsprochen werden soll, das im Hinblick auf die jeweils Handelnden auch leisten können und ob ggf. Normen, die auf veraltete oder nicht (mehr) zu rechtfertigende Bedürfnisse und Wertvorstellungen bezogen waren, jetzt neue, legitimierbare befriedigen können. Karl A s c h e n b r e n n e r , On "What Should Theories of Aesthetic Value be Based? in: Crisis of Aesthetics? (Krakau 1979), S. 13-18. Baeumler 1934: vgl. § 7 . Hans-Eckehard B a h r , Theologische Untersuchung d. Kunst. Poiesis (1965; SiebensternTb. 59/60; erste Ausg. 1961 u. d. T. Poiesis). Monroe C. Beirdsley, Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism (New York 1958; 2. ed. 1981). Rüdiger B i t t n e r u . Peter Pfaff (Hg.), Das ästhet. Urteil. Beitr. z. sprachanalyt. Ästhetik (1977; Neue wiss. Bibl. 89). B o h r e r 1978: vgl. §7. John C a s e y , The Language of Criticism (London 1966). Francis J. Coleman (Hg.), Contemporary Studies in Aesthetics (New York 1968). Crisis of Aesthetics? (Krakau 1979). Arthur C. D a n t o , The Artworld. The Journal of Philosophy 61 (1964) S. 571-584. Bernard P. Dauenhauer, Value and Artistic Value in Le Senne's Philosophy, in: Aesthetics II (New Orleans, The Hague 1971; Tulane Studies in Philosophy 20) S. 37-57. John William Davis, A Defense of „Unique" as an Aesthetic and Value Predicate, in: Davis (Hg.), Value and Valuation. AxiologicalStudies in Honor of Robert S. Hartman (Knoxville 1972) S. 191200. George D i c k i e , Art and the Aesthetic. An Institutional Analysis (Ithaka/N. Y. 1974). Ders., Is Psychology Relevant to Aesthetics? (1962), in: F. J. Coleman (Hg.) 1968, S. 321-335. Richard. W. Eggerman, Is Normative Aesthetics a Viable Field for Philosophic /«^«¿r^!'The Journal of Value Inquiry 9 (1975) S. 210-215. William Elton

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Wertung, literarische wiss. N . F . 1) S. 96-134. O l d e m e y e r 1980: vgl. § 7. Harold O s b o r n e , Aesthetics and Value. Revue Intern, de Philosophie 109 (1974) S. 280-292. Harold O s b o r n e , Some Theories of Aesthetic Judgement. Journ. of Aesthetics and Art Criticism 38/2 (1979) S. 135-144. Heinz P a e t z o l d , Vom Zwiespalt der Ästhetik heute. Anmerkungen zum 8. Internationalen Kongreßf. Ästhetik, Darmstadt 1976. ZfÄsth. 21/2 (1976) S. 32-42. Stephen C . P e p p e r , The Justification of Aesthetic Judgements, in: J. Strelka (Hg.) 1969 (vgl. § 10), S. 140152. P r a c h t 1980: vgl. § 10,2. Horst R e d e k e r , Zur Methodologie d. Erforschung d. ästhet. Bewußtseins. Dt. Zs. f. Philosophie 28 (1980) S. 212225. Edward R e i c h e l , Kunsttheorie im heutigen Frankreich. ZfÄsth. 9 (1964) S. 104-146. R e i c h ert 1965: vgl. §7. R e m a k 1981: vgl. §9. Günter Sasse, Das kommunikative Handeln d. Rezipienten. Zum Problem e. pragmat. Lit.wiss., in: Sasse u. Turk (Hg.) 1978 (vgl. § 1), S. 101-139. S c h l i c k 1909: vgl. § 7. S c h m i d t 1980/82: vgl. § 1. S c h ü t z e 1975: vgl. § 10,2. Frank S i b l e y , Ästhet. Begriffe (1959), in: W. Henckmann (Hg.) 1979 (vgl. § 7), S. 230-265. Guy S i r c e l l o , Subjectivity and Justification in Aesthetic Judgements. Journ. of Aesthetics and Art Criticism 27/1 (1968) S. 3-12. Janusz S l a w i n s k i , Lit. als System ». Prozeß (1975;samml. dialog 76). James Leroy S m i t h , On the Nature of Ultimate Values in the Fine Arts, in: Aesthetics II (New Orleans, The Hague 1971 ; Tulane Studies in Philosophy 20) S. 117-134. Stegm ü l l e r 1969/1: vgl. §1. Jürgen S t e n z e l , Die Begründung literar. Werturteile u. d. Phänomen d. Bestimmungsleitung. ZfÄsth. 23 (1978) S. 4051. S z o n d i 1962: vgl. §1. Wladyslaw T a t a r k i e w i c z , The Great Theory of Beauty and Its Decline. Journ. of Aesthetics and Art Criticism 31/2 (1972) S. 165-180. T u r k 1976: vgl. § 7. V i e h o f f 1983: vgl. §1. W e i d l é 1967: vgl. §7. Morris W e it z , Reasons in Criticism. Journ. of Aesthetics and Art Criticism 20 (1961/62) S. 429-438. W e i t z 1956/57: vgl. §2. W e i t z 1957: vgl. § 10,5. René W e l l e k , Der Begriff Evolution in d. Lit.gesch., in: Wellek, Grundbegriffe d. Lit.kritik (1965; Sprache u. Lit. 24) S. 35-45. W e l l e k / W a r r e n 1942: vgl. §7. Raymond W i l l i a m s , Innovationen. Über d. Prozeßcharakter von Lit. u. Kunst (1977). Ludwig W i t t g e n s t e i n , Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology and Religious Belief, hg. v. C. Barrett (Oxford 1966). J. W re d e, Art as Action, Interpretation as Explanation, in: Crisis of Aesthetics? (Krakau 1979)S. 325329. Paul Z i f f , The Task of Defining a Work of Art, in: F. J . Coleman (Hg.) 1968, S. 94-111. Jörg Z i m m e r m a n n , Sprachanalyt. Ästhetik. E. Überblick (1980; Problemata 60).

§12. K o n s e q u e n z e n f ü r ein n e u e s M o d e l l literar. W. Die in § 1 gekennzeich-

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nete Situation erlaubt es nicht, uneingeschränkt einer der bisher in der Diskussion literar. W. vertretenen Positionen zuzustimmen. Festzuhalten sind jedoch einige Folgerungen für die Definition literar. W. und ihrer Aufgaben auf verschiedenen Ebenen, für eine Differenzierung nach ihrem (institutionellen oder privaten) Ort und ihrer entsprechenden Funktion, sowie, davon abhängig, für die Hierarchisierung axiologischer Werte und die Zuordnung von W.sverfahren. 1.) L i t e r a r . W. ist (1) die W., die in die Bedeutungskonstitution eines Textes im Akt seiner Produktion und Rezeption eingeht, (2) die W., die einen (konkretisierten) ,Text' in Akten der Verständigung über Lit., in Lit.kritik und Lit.didaktik, primär ,als Lit.' bewertet, (3) die W., in der ein ,Text* in seinen rituellen, geselligen, politischen, kommerziellen, therapeutischen, entlastenden u.ä. Funktionen bewertet wird und (4) die W., in der alle in den Prozessen (1) bis (3) leitenden literar. und lit.bezogenen Wertvorstellungen selbst noch einmal vergleichend bewertet werden; im einzelnen W.sakt gegenüber einem Text wirken alle diese Prozesse zusammen. Bestandteil literar. W. im Sinne von (4) ist aber auch (5) die Bewertung der Voraussetzungen, unter denen sich die leitenden axiologischen (motivationalen und theoret.) Werte für literar. W. ausbilden und durchsetzen. Alle Prozesse literar. W. sind sowohl von im engern Sinne „literar." (oder „ästhet.") wie von „praktischen" (ethischen, polit.) Wertmaßstäben gesteuert; die Bewertung der individuellen und sozialen, histor. Voraussetzungen literar. W. orientiert sich allein an prakt. Maßstäben. Deren Begründung darf deshalb nicht außerhalb des Interesses der literarisch Wertenden liegen. Literar. W . s f o r s c h u n g muß zunächst eine analytische Beschreibung und Klärung aller Wertungsprozesse im Umfeld von Lit. anstreben und auf dieser Basis in eine Wertbegründungsdiskussion eintreten. Den zu beobachtenden T e x t b e r e i c h sollte sie nicht auf „ästhet." Texte (im Sinne von § 7) einschränken oder dichotom strukturieren: alle als „literarisch" eingestuften Texte bzw. Konkretisationen (vgl. § 2) sind mit literar. Werten, wenngleich verschiedenster Art, besetzt. Analyse und Legitimation der verschiedenen literar. und lit. bezogenen W.shandlungen kann nur in breiter I n t e r d i s z i p l i n a r i t ä t geleistet werden.

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2.) Es scheint sinnvoll und realitätsgerecht, für verschiedene, zum Teil institutionell verfestigte ,Sprach- und Handlungsspiele' um Lit. unterschiedliche Arten von Wertsetzungen und Grade der Normierung gelten zu lassen oder vorzunehmen. Im p r i v a t e n U m g a n g mit Lit. — im Schreiben, Lesen, Hören u. Ä. — dürfte schon wegen der stark wechselnden Situationen das breiteste Spektrum an literar. Werterwartungen und -realisierungen zu finden sein, und dieser Umgang sollte wohl am wenigsten normiert werden. Auch V e r l e g e r n und a n d e r n D i s t r i b u t o r e n könnte in ihren lit.bezogenen Handlungen grundsätzlich ein weiter Spielraum an Wertsetzungen zugestanden werden, sofern sie nicht die „prakt. Grundnorm" (vgl. § 11 a) verletzen. Der „Warenwert" der Lit. muß zwar als problematischer Faktor zur Verzerrung literar. Kommunikation im Auge behalten werden, ist aber nicht prinzipiell abzuwerten. L i t . k r i t i k , L i t . d i d a k t i k und L i t . g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g bedürfen dagegen — schon für die Selektionsvorgänge, aber auch als Interpretationsrahmen — gewisser verbindlicher Vorgaben. Diese sind auch möglich, weil die W.ssituationen in bezug auf Adressaten und Funktion meist schon weitgehend standardisiert sind: durch den jeweils angezielten Kreis von Rezipienten, ihren Horizont und ihre Bedürfnisse einerseits, durch die lit.vermittelnden Institutionen von Presse, Funk und Fernsehen über Theater bis zu Schule und Universität andererseits, mit denen sich mehr oder weniger fixierte gesellschaftliche Aufträge und Erwartungen verbinden. Die Wahl der W.sprämissen ist z. T. bedacht (etwa in der Lit.didaktik der Schule gemäß den Bedürfnissen und dem altersbedingten Fassungsvermögen der Schüler auf der einen, lit.pädagogischen und -krit. Zielen andererseits), z . T . eher historisch-,naturwüchsig': so in Deutschland die unglückliche Delegation der aktuellen literar. W. von der (durch das Ideal der ,wertfreien Wissenschaft' mißgeleiteten) vorwiegend historisch arbeitenden Lit.wiss. an die Tageskritik in den öffentlichen Medien. Diese gerät dadurch jedenfalls im Blick auf das engere, an Lit. im prägnanten Sinne interessierte Publikum in die Rolle des Präzeptors und vernachlässigt ihren anderen, wichtigen Auftrag, kritischer Mittler zwischen den Ansprüchen der Autoren und den berechtigten Erwartungen eines breiteren Publikums zu sein; außerdem kann sie ihr Geschäft nicht

immer frei von ökonomischen und polit. Zwängen ausüben. 3.) Trotz der begründbaren, auf unterschiedlichen Möglichkeiten des „Literarischen" beruhenden, den verschiedenen historischen, kollektiven und individuellen Situationen adäquaten Vielfalt axiologischer Werte für Lit. scheint eine H i e r a r c h i s i e r u n g möglich: der autonome „ästhetische" Wert müßte, allerdings in der ganzen in § 7 entfalteten Breite, an der Spitze stehen, weil er die meisten und, an der „prakt. Grundnorm" (freie Selbstentfaltung im sozialen Bezug auf Andere) gemessen, auch die wichtigsten funktionalen literar. Werte zu realisieren erlaubt (vgl. §§ 7 und 11 a). Obwohl kontrovers bleibt, ob und wie diesem Wert allgemeine, auch betätigte Beistimmung verschafft werden kann, ist er noch immer als lit.didaktische Norm zu verteidigen. Die zugehörige Einführung in ästhet. Erfahrung kann am Beispiel kanonischer Texte mit Erläuterung der attributiven Werte, die ästhet. Werke und Einstellung kennzeichnen, aber auch mit Hilfe von „Ästhetik des Alltags" erfolgen. Doch gibt es im Blick auf kollektive und individuelle Situationen und Voraussetzungen immer wieder auch gute Gründe, den literar. Wert rein instrumentell, als „Gebrauchswert", zu bestimmen, nicht nur in der ,vorästhet.' Zeit, sondern bis heute (vgl. §§ 6 und 8). Dem Relativismus könnte durch eine Typologisierung von literar. Sprach- und Handlungsspielen gesteuert werden; deren Legitimität auch noch für heutigen Gebrauch würde allein durch die „prakt. Grundnorm" begrenzt. 4.) Die mögliche V e r b i n d l i c h k e i t l i t e rar. W e r t u r t e i l e ist abhängig von übereinstimmenden Beschreibungs- und Interpretationsverfahren (auch wo diese unbewußt verlaufen), und zwar für Text und Realität; außerdem von der Ubereinstimmung über — ästhetische und praktische — Wertvorstellungen und die Wege zu ihrer Durchsetzung (vgl. §§ 3 und 4). Sind solche Ubereinstimmungen nicht durch die Homogenität der Gruppe der Wertenden gegeben, kommt keine Ubereinstimmung im Urteil zustande. Sollen die normativen Urteile der Lit.wiss. in den Grenzen des Möglichen begründet sein, hätte sie solchen Konsens bewußt herbeizuführen: a) Da bei der ,Text'wertung stets nur Konkretisationen, nicht Texte, analysiert und bewertet werden, müßten vier T y p e n v o n

Wertung, literarische — Widmungsgedicht K o n k r e t i s a t i o n e n unterschieden werden: (1) die möglicherweise nach verschiedenen Verfahren erzeugten und kontrollierten Konkretisationen durch den Wissenschaftler, (2) die gleichfalls methodisch reflektierte Rekonstruktion der vermutlich vom Autor intendierten Konkretisation, (3) die historisch manifesten, sprachlich formulierten Konkretisationen durch andere Personen in Geschichte und Gegenwart, und (4) die nur hypothetisch zu erschließenden, oder, für die Gegenwart, empirisch zu erhebenden Konkretisationen von ,illiteraten' Personen. Denn auf alle vier Arten von Konkretisationen wurden und werden nicht nur Textwertungen, sondern auch Produktions-, Distributions- und Rezeptionskritik gegründet. In jedem Falle sind die Verfahren zur wiss. Erzeugung und Rekonstruktion dieser Konkretisationen weiter zu diskutieren. b) Die Analyse der ü b r i g e n W . s p r o z e s s e im literar. Leben kann weitgehend mit Mitteln der histor. und der Sozialwissenschaften geleistet werden. Mehr Vorsicht sollte bei der Zuschreibung der motivationalen Werte für Textproduktion und -rezeption, aber auch für die Distribution walten; zu oft werden diese Zuschreibungen durch ideologische Vormeinungen über andere geleitet. c) Die vorausgesetzten ästhet. und prakt. a x i o l o g i s c h e n W e r t e , die zumeist auf anthropologischen und geschichtstheoret. Prämissen beruhen (vgl. § 11 b), müßten — wie es z . T . schon geschieht — in der Lit.Wissenschaft selbst gegenstandsnah und historisch konkret diskutiert werden, damit wenn nicht Konsens, so doch Verständnis für auf verschiedene Erfahrungen gestützte Wertpositionen erreicht werden könnte. d) Die V e r b i n d l i c h k e i t des Urteils über einen einzelnen Text wird gleichwohl dadurch b e g r e n z t bleiben, daß eine zwingende Verbindung von Text- bzw. Konkretisationselementen und auf sie gegründeten Werturteilen nicht durchweg zu erreichen ist (vgl. §§ 7 und 9). Renate

von

Heydebrand

Widmungsgedicht § 1. Die Schwierigkeit, den B e g r i f f des W.s zu bestimmen, liegt in der historisch bedingten Begriffswandlung, die sowohl seinen denotativen Kern, als auch seine konnotativen Im-

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plikationen betraf. Als W.e werden nach Gero v. Wilpert „Lobeshymnen auf einen Dichter und das vorliegende Werk aus der Feder eines Freundes" bezeichnet, aber auch „W.e des Dichters selbst als Begleitverse an den Leser oder Widmungen im Sinne von .Zueignungen' an Freunde" (S. 911). Diese durch das Verhältnis von Widmungsgabe und Autor vorgenommene Begriffsbestimmung muß durch den zeitlich differenzierten Form- und Funktionswandel der Widmungsarten ergänzt werden. Während im 16. und 17. Jh. der Einzelmensch hinter der Gemeinschaft des gesellschaftlichen Standes, seiner Formen und einheitlichen Konventionen zurücktrat und Widmungen ausschließlich als Bucheinführungen (von fremder oder eigener Hand) gängig waren, bildete sich in der Folge des zunehmenden Selbstbewußtseins der Dichterpersönlichkeit im 18. Jh. derjenige Widmungstyp heraus, der nur als authentischer Akt eines Subjekts zulässig war. Widmung und Widmungsgabe stammten vom gleichen Verfasser, waren nicht bereits W. und Schenkung identisch; gleichzeitig hatte das W. von der Okkasionalität eines öffentlichen Ereignisses frei zu sein. Die von Käte Hamburger als Logik der Dichtung kategorial verstandene Bestimmung des lyrischen Ich als reales Aussagesubjekt, dessen Aussage gleichwohl „keine Funktion in einem Objekt- oder Wirklichkeitszusammenhang haben will" (S. 213), mithin auch keine Mitteilung übermitteln kann, hat in diesem literar. und sozialen Wandel des Dichterberufs seinen Ursprung. Zugleich änderte sich die Bewertung des W.s. Da Gelegentlichkeit und Zweckgebundenheit mit dem Verdikt des A-lyrischen belegt wurden, war auch die Widmung nur mehr als privater Akt anerkannt (s. § 4). § 2. Die F o r m der Widmungen verfestigte sich erst im ausgehenden 17. Jh. zum Widmungsgedicht. Schon seit dem MA. sind jedoch sogenannte versus libris adjecti bekannt, die zumeist in ungereimter Form abgefaßt, und zum Dank von fremder Hand bei der Überreichung einer Dichtung beigegeben wurden. So ist im Falle des Waltbarius kein Schluß vom Schreiber des ,Prologs' zum anonymen Verfasser des Epos möglich. Der vermeintliche Prolog (verstanden alsprologus operis sequentis) stellt in Wirklichkeit eine Widmungsbeigabe von Geraldus an Erckambaldus, seinen Herrn und Bischof in Straßburg dar, als Ergebenheits-

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Widmungsgedicht

adresse aus Anlaß der Uberbringung des Buches (s. Norbert Fickermann). Der anonyme Verf. des Werkes selbst bleibt umstritten (s. Hedwig Krammer-Eisner). In Renaissance und Humanismus pflegte man Widmungsvorreden in Form eines Widmungsbriefes abzufassen. Dabei begünstigte die Rezeption antiker Schriftsteller durch die neulat. Tradition das Epistel als Dedikationsform. Schließlich vereinheitlichten sich durch den zunehmenden Einfluß von Topik und Rhetorik die Widmungen zum W. Doch erst durch den sozialen Wandel von der mäzenatischen zur autonomen Kunstproduktion bildete sich die heutige Form des W.s heraus, das ausschließlich als Widmungsadresse des Dichters selbst die intime Zuwendung zu einem Partner konstituiert. § 3. Der formale Wandel des W.s ist zugleich Ausdruck seiner veränderten F u n k t i o n e n . Ursprünglich war die Widmung in der Antike ein geheiligter Dedikationsakt an die Götter. Mit der Zeit verlor dieser seinen sakralen Charakter und wurde funktional für die profane Dankesgabe des Poeten an Freunde und Gönner frei (s. Wolfgang Leiner). Neben der Bekundung des Dankes und der Wertschätzung gegenüber dem Mäzen verfolgten schon damals Dichter wie Horaz, Virgil oder Ovid ökonomische Interessen mit der Widmungsgabe. Das Mäzenatische in der Kunstproduktion der Renaissance zog dann zwangsläufig W.e in großer Zahl nach sich. Die erste uns bekannte Widmungsvorrede stammt von Giovanni Andrea de' Bussi (1467—72) an den Papst. Sie hatte wie die späteren W.e der Hofpoeten die Funktion, das Renommee des Adressaten zu mehren und dessen Geltungswillen zu befriedigen. Die Funktionalität von Autor, Widmungstext und Adressat war vom hierarchischen Dienstverhältnis zwischen Herrn und servitù abhängig. Sie sicherte dem Poeten seine materielle Existenz, dem Herrscher die Verherrlichung und Verewigung seiner Taten. Im Rahmen des höfischen Zeremoniells wurde es keineswegs als entwürdigend empfunden, den populären und materiellen Hintergedanken der Widmung unverhüllt zu formulieren. 1627 schreibt Martin Opitz in einem seiner Weltlichen Poemata an den befreundeten Gönner „Herrn H. Carl Annibal Burggrafen zu Dohna" die Verse: „du hast der Musen Künste / Auß ihrem Grund' erlernt so gar genaw und wol /

Als mancher der den Bauch hiermit ernehren sol" (s. Janis Little Gellinek, S. 196). Nicht selten erhielt der Verf. eines enkomiastischen Gedichts dadurch eine Lebensstellung; so Opitz als Hofhistoriograph bei König Wladislav IV von Polen (s. Marion Szyrocki, S. 105— 108) oder Simon Dach, nach langer finanzieller Misere, als Professor für Poesie dank der Fürsprache des Brandenburgischen Kurfürsten (s. Carl Enders, Dt. Gelegenheitsdichtung, S. 294). Das W. bildete nicht nur eine Brücke zwischen Autor und Mäzen, sondern auch zwischen Autor und Publikum. Ohne die zahlreichen, meist lateinisch verfaßten W.e von Freunden, Wissenschaftlern und Gönnern in den Buchvorreden des 16. und 17. Jh.s wäre die Veröffentlichung eines Werkes unmöglich gewesen. Nur durch die Schmuck- und Schutzfunktion der W.e waren die Rechtmäßigkeit eines Werkes und seine Resonanz garantiert. Um möglichst viele Zeichen der Anerkennung und des Wohlwollens geistig verbundener Männer zu dokumentieren, reichte der Verfasser vor Abdruck das Buch herum, und veröffentlichte es dann zusammen mit den W.en seiner Freunde (s. A. Gramsch). Unter diesen Widmungsvorreden fanden sich öfters anonyme W.e. So gehörte Catharina Regina von Greifenberg zu dem Freundeskreis, der 1654 W.e für Johann Wilhelm v. Stubenbergs Ubers, von Bacons Getreuen Reden verfaßte. Anders als ihre männlichen Kollegen Georg Philipp Harsdörffer, Dietrich von Schallenberg oder Sigmund Birken hinderten sie Alter und Geschlecht, als Autorin hervorzutreten. Dennoch erfüllte ihr anonymes W. innerhalb des privaten Kreises den Zweck einer Reverenz der Schülerin an ihren Lehrer Stubenberg. Die massenhafte Verbreitung von Widmungsvorreden und W.en, die nicht selten durch fremde Mietpoeten verfaßt worden waren, führte Anfang des 18. Jh.s zu einer starken Kritik dieser Textform, und mit dem sozialen Wandel vom mäzenatischen zum ,kapitalistischen', allein vom Buchmarkt abhängigen Schriftsteller, zur Abwertung der okkasionellen Dichtung, speziell des W.s. Dabei bezog sich die Kritik eher auf die ästhetische Anspruchslosigkeit und ,unmoralische', pragmatische Intention, als auf die Situationsgebundenheit des Gelegenheitsgedichtes selbst. Dennoch trifft das Urteil Georg Rentners (Gelegenheitsdichtung, in: Handlexikon zur Lit.-

Widmungsgedicht Wissenschaft, S. 157) nicht zu, Gelegenheitsdichtung sei „zum guten Teil ,Dichtung von Laien', und deshalb auch der häufigste Fall ,naiver Dichtung'" gewesen. Der sozioliterar. Wandel zog ein verändertes Rollenverhalten des Schriftstellers nach sich. Sollte das W . nicht dem Verdikt des Trivialen anheimfallen, so mußte sich sein Anspruch ändern. Dies geschah durch die Umfunktionierung der Widmung zum Ausdruck privater, uneigennütziger Freundschaft. Der Herausgeber von Gottscheds Gedichten, Johann Joachim Schwabe, verwahrte sich in seiner Vorrede zur 1. Ausgabe 1736 ausdrücklich gegen den „Verdacht der Schmeicheley" gegenüber dem Adressaten seiner Zueignung. Gottsched selbst fügte erst der streng ständisch geordneten Ausgabe von 1751 eine Zuschrift an die Fürstin von Trauthson bei. § 4. Der in Anlaß und Funktion der Widmung zum Ausdruck kommende Z w e c k c h a r a k t e r der Dichtung führt das W. in die Nähe zur G e l e g e n h e i t s d i c h t u n g , von der es sich nur schwer begrifflich exakt scheiden läßt. Bezeichnet .Gelegenheitsdichtung' eine Form von Gebrauchsliteratur (s. Horst Belke), die z u einem Anlaß entsteht und als Kunstform im 18. Jh. verschwindet, so steht beim W . der Situationsbezug nicht eindeutig fest. Die Widmung kann Indikator für ein Ereignis sein, muß es aber nicht. Das hängt vor allem mit dem Zeitpunkt zusammen, wo der Adressat ins Spiel kommt. Während dieser beim Gelegenheitsgedicht bereits zu Beginn der Produktion feststeht, können Entstehungszeit und Zueignung beim W. erheblich auseinanderklaffen. Da die Dekodierung des Situationsbezugs nicht immanent vermittelt wird, ist es nicht auszuschließen, daß neben der kommunikativen Funktion noch andere Zwecke verfolgt werden. Dies gilt insbesondere für die Totenklage, die eine Botschaft an den Widmungsempfänger von vorn herein ausschließt. Dagegen handelt es sich beim Gelegenheitsgedicht um eine über Jh.e stabile Gattung, deren Situationsbezug in den von Topik und Rhetorik vorgegebenen Bahnen dargestellt wurde. So entstanden die verschiedenen Topoi der Epicedien (Trauergedichte), Epithalamien (Hochzeitsgedichte), des Protemptikon und Hodoeporicon (Reise- und Geleitgedicht). Da ein solcher referenzieller Bezug beim W. allererst rekonstruiert werden muß, gehört es zur

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entscheidenden Frage des W.s, inwieweit Anlaß und Widmungsempfänger das Gedicht prägen, und wie sie sich darin finden lassen. Zugleich verweist diese Frage die Analyse auf den kommunikativen Kontext seiner Entstehung. § 5. Die Verwandtschaft mit dem Gelegenheitsgedicht legt es nahe, das W. im Rahmen eines K o m m u n i k a t i o n s m o d e l l s zu beschreiben. Wie ersteres liegt auch ihm die appellative Hinwendung an einen Adressaten zugrunde, mit dem die Kommunikation aufgenommen werden soll. Doch unterscheidet sich das W. vom Gelegenheitsgedicht dadurch, daß die angesprochene Person im W . , in welcher Form auch immer, bezeichnet wird, während Gelegenheitsgedichte auf Feiern und akademische Ereignisse ebenso entstanden, wie auf Hündchen und Kanonaden. Die Tradition der Gelegenheitsdichtung als repräsentative Darstellung eines öffentlichen Ereignisses endet Mitte des 18. Jh.s, wie auch die Beschränkung des W.s auf den Zweck einer Bucheinführung. Mit dem Verlust der durch den medialen Ort vorgegebenen Eindeutigkeit des Kommunikationskontextes und der Verlagerung der Widmungskonvention in den privaten Kreis von Freunden wurde der Bezug zwischen Widmung und Gedichtinhalt häufig nur der Gruppe verständlich, für das breite Publikum aber im Grenzfall esoterisch. Entscheidend für die weitere Entwicklung und das Verständnis der Widmung bleibt die im kommunikativen Signal des W.s selbst stets manifeste Gesprächsintention, welche das Suchbild des Rezipienten leitet und in der Folge auf eine tiefenstrukturelle Analyse des Textes führt. Dies gilt es besonders gegen die in Empfindsamkeit und Romantik propagierte Gleich- und Autonomiesetzung von ,Gelegenheit' und .Erlebnis' festzuhalten, die, von Dilthey theoretisch gestützt, bis vor wenigen Jahren die Analyse und Bewertung von Gelegenheitsdichtung und W. behinderte. Daß im 18. Jh. der Öffentlichkeitsanspruch des Widmungsanlasses aufgegeben wurde, ist jedoch ein soziokultureller Vorgang, der funktional, nicht produktionsästhetisch mit Begriffen wie ,Erlebnis' oder ,Innerlichkeit' zu beschreiben wäre. Rudolf Haller hält in seinem Artikel Gelegenheitsdichtung (s.d., S. 547) die Unterscheidung für wesentlich, ob ein Gedicht zu einem bestimmten Anlaß oder Zweck geschaf-

874

Widmungsgedicht

fen wurde, oder ob es aus einem besonderen, individuellen Ereignis heraus entstand. So fruchtbar diese Unterscheidung für das 16. und 17. Jh. ist, für die Ubergangsphase des 18. Jh.s und für die moderne Form von W.en genügt sie nicht. Denn jedes Gedicht entsteht aus einem Anlaß heraus, aber nicht jedes situationsgebundene Gedicht ist auch ein Gelegenheits- oder W. Mit dem Verblassen der Widmungskonventionen können Struktur und Funktion einer Widmung nur an textuellen Signalen der Oberflächen- wie der Tiefenstruktur festgestellt werden. Die Kodierungsund Dekodierungsvorgänge von Autor und Adressat werden entscheidend für den Textgehalt. Damit kommt der Widmung auf der Suche nach der ,Botschaft' eines Textes die Funktion eines Schlüssels zu, der allerdings in seiner Auswirkung auf den Inhalt nicht überschätzt werden darf. Auch muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß ehemalige Schenkungen mit widmender Uberschrift vom Herausgeber aus persönlichen Gründen nur ohne dieselben publiziert werden (s. § 19). Festzuhalten bleibt, daß Gelegenheits- wie W.e den kommunikativen Gehalt von Dichtung, d.h. deren Zweck- und Funktionsgebundenheit bestätigen, entgegen Autonomieannahmen, denen gerade die Lyrik ausgesetzt ist. § 6. Für den heute noch gültigen Typus von ausschließlich selbstverfertigten, ,zweckfreien' W.en besitzt der Autor mehrere Möglichkeiten, den Adressaten anzusprechen. Am häufigsten sind Widmungen als T i t e l , die seit Goethes Herausgabe seiner späten Gedichte als Widmungen ,An Personen' bezeichnet werden. Für die kommunikative Funktion ist es wichtig, ob die Widmung schon immer bei einem Text stand, oder ob sie auf ein Exemplar oder Blatt spontan dediziert wurde. Dies gilt besonders für Widmungen u n t e r dem Titel. Ferner ergeben sich Unterschiede aus dem vom Dichter intendierten Öffentlichkeitscharakter der Widmungen. Zahlreiche W.e wurden erst durch den Nachlaß an die Öffentlichkeit gebracht und waren ursprünglich nicht für ein breites Publikum bestimmt, darunter vor allem Zueignungen oder Schenkungen von Einzelexemplaren (s. Eberhard Sauermann). Briefgedichte oder W.e als Briefbeigaben wie etwa Goethes Brief an meine Mutter (BA II, S. 179) oder die Gedichte an

Frau von Stein (s. BA II, S. 212) waren nicht als öffentliche Texte geplant, erhielten jedoch durch eine spätere Publikation von Goethe selbst öffentlichen Status. Aber auch der umgekehrte Fall ist bekannt, daß der Nachlaßverwalter Gedichte nur ohne Dedikation des Autors der Öffentlichkeit zugänglich macht. Generell sollte als Widmung nur die m a n i f e s t e , vom Bezugstext deutlich abgehobene Zuweisung an einen Adressaten bezeichnet werden. Namen und Anreden i n n e r h a l b eines Gedichts sind Teile der referenziellen Ebene des Textes und besitzen nicht den Status eines zusätzlichen Widmungsaktes (s. § 11). Widmet der Autor ein Gesamtwerk, wie etwa Klopstock 1771 seine dem dän. Minister und Gönner Bernstorff dedizierte Odensammlung, so kann er von Anfang an mit dem Öffentlichkeitsanspruch des Widmungstextes rechnen. Allerdings fällt es bei der Fülle der Texte schwer, einen Widmungsbezug oder Widmungsanlaß zu finden, ganz besonders dann, wenn, wie bei Rilkes Duineser Elegien, das Werk der Mäzenin Gräfin von Thum und Taxis-Hohenlohe, die achte Elegie aber dem Freund Kassner gewidmet ist (s. § 14). § 7. Die H e r a u s b i l d u n g und E n t w i c k lung des W.s beginnt in der röm. Antike. Horaz, Ovid, Properz, vor allem aber die Lyrik des Statius wurden durch die neulat. Antikenrezeption in Renaissance und Barock zu Vorbildern, die Rhetorik und Topoi von W.en prägten (s. Hans Henrik Krummacher). In der traditionsgebundenen Bahn der Enkomiastik bewegten sich alle W.e, gleichgültig ob sie für fremde Werke oder als Zueignung eigener Produkte gedacht waren. Der konventionelle Akt der Widmung als solcher rechtfertigte ein W . , nicht die Aufrichtigkeit oder Echtheit des Gefühls der Zuwendung. Die Qualität der massenhaft verfertigten W.e, die nicht selten offensichtliche Bettelbriefe waren, änderte sich erst mit dem gesellschaftlichen Umbruch zur .bürgerlichen' Kunst des 18. Jh.s und der Ablösung der Wirkungs- durch die Produktionsästhetik. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der Einfluß des Pietismus (s.d.). An die Stelle der Geschlossenheit und Konventionalität des Standes traten die Individualität des Einzelmenschen und der Wert frei gewählter Freundschaften (s. Wolfdietrich Rasch, Heinz Wilms). Die Beziehung zu Gott war Ursprung und Vorbild der Freundschaften, die sich in

Widmungsgedicht christl.

Konventikeln

zusammenfanden

K e i m z e l l e n der späteren



Freundschaftsbünde

w i e etwa der D a r m s t ä d t e r K r e i s ( s . d . ) o d e r der Kreis

von

Goethe

Münster,

angehört

m e h r den

denen

hatte.

zeitweise

Man

gleichgebildeten

auch

suchte

nicht

Standesgenossen,

s o n d e r n den H e r z e n s b r u d e r . K l o p s t o c k s O d e An die nachkommenden

Freunde

(1796) oder

die 1 7 4 5 v o n B o d m e r edierten lichen

Lieder

Freundschaft-

J a k o b Pyras u n d Samuel L a n g e s

legen davon Zeugnis a b . G l e i m will nach eigenen Angaben haben.

Mit

nur

für F r e u n d e

d e m sozialen

geschrieben

Umbruch

endete

auch die Stabilität des p o e t o l o g i s c h e n Systems des B a r o c k , w e l c h e s den W . e n eine z e r e m o nielle,

enkomiastische

hatte.

Anonyme

Funktion

Widmungen

zugewiesen

w i e im

Falle

G r e i f e n b e r g s o d e r W . e in f r e m d e W e r k e w a r e n undenkbar W.en

geworden.

Das

Schreiben

w a r keine repräsentative

von

Kunstübung

m e h r , s o n d e r n authentische A u s s a g e eines l y rischen I c h . Gero von W i l p e r t , Widmungsgedicht, in: Wilpert, Sachwörterbuch d. Lit. (6. Aufl. 1979), vgl. auch: Dedikation, Gelegenheitsdichtung, Tendenzdichtung. Käte Hamburger, Die Logik d. Dichtung (2., stark veränd. Aufl. 1968), bes. S. 2 8 7 - 3 4 5 . Norbert F i c k e r mann, Zum Verfasserproblem d. 'Waithanus'. PBB. 81 (Tüb. 1959) S. 2 6 7 - 2 7 3 . Karl S t r e c k e r (Hg.), Waltharius (1947). Dieter S c h a l l e r , Geraldus von St. Gallen. Mittellat. Jb. 2 (1965) S. 7 4 - 8 4 . Emil Ernst P l o s s (Hg.), Waltharius u. Walthersage. E. Dokumentation d. Forschung (1969; Olms-Studien 10). Hedwig K r a m m e r E i s n e r , Die Verfasserfrage d. 'Waltharius' (Wien 1973; Diss. d. Univ. Graz 21). Erich T r u n z , Der dt. Späthumanismus als Standeskultur, in: Dt. Barockforschung, hg. v. R. Alewyn (4. Aufl. 1970) S. 1 4 7 - 1 8 1 . Heinz Henrik K r u m m a c h e r , Das barocke Epicedium. Jb. d. dt. Schillerges. 18 (1974) S. 8 9 - 1 4 7 . Wolfgang L e i n e r , Der Widmungsbrief in d. franz. Lit. (1380-1715) (1965). Karl S c h o t t e n l o h e r , Widmungsvorreden im Buch d. 16. Jh.s (1953; Reformationsgesch. Studien 76/77). Janis Little G e l l i n e k , Die weltl. Lyrik d. M. Opitz (1973). Martin O p i t z , Geistl. Poemata 1638. Faks.Neudr. hg. v. E. Trunz (1966; Dt. Neudr. Reihe Barock 1). Ders., Weltl. Poemata 1644, T. 1 u. 2. Faks.-Neudr. hg. v. E. Trunz (1962 u. 1975; Dt. Neudr. Reihe Barock 2). Simon D a c h , Gedichte. 4 Bde hg. v. W. Ziesemer (1936; Sehr, d. Kbg. Gelehrten Ges. 4 - 7 ) . Marion S z y r o c k i , M. Opitz (2. überarb. Aufl. 1974; Edition Beck 6). Carl E n d e r s , Dt. Gelegenheitsdichtung bis Goethe. GRM 1 (1909) S. 2 9 2 - 3 0 7 .

875

A. G r a m s c h , W., in: Reallex. Bd. 3 (1928/29) S. 5 0 1 - 5 0 3 . Martin B i r c h e r u. Peter D a l y , Joh. Catharina v. Greifenberg u. Job. Wh. v. Stubenberg. Zur Frage d. Verfasserschaft zweier anonymer W.e. Lit.wiss. Jb. 7 (1966) S. 1 7 - 3 5 . Horst Joachim F r a n k , Cath. R. v. Greifenberg (1967; Schriften z. Lit. 8). Wulf S e g e b r e c h t , Das Gelegenheitsgedicht (1977). Ders., Zur Produktion u. Distribution v. Casualcarmina, in: Stadt, Schule, Universität, Buchwesen u. d. dt. Lit. im 17. Jh. Vorlagen u. Disk. e. BarockSymposions hg. v. A. Schöne (1976) S. 523—535. Georg R e n t n e r , Gelegenheitsdichtung, in: Handlex. z. Lit.wiss., hg. v. Diether Krywalski (1974) S. 1 5 6 - 1 6 1 . Joh. Chr. G o t t s c h e d , Ausgewählte Werke, hg. v. Joachim Birke. Bd. 1 (1968; Ausg. dt. Lit. d. 1 5 . - 1 8 . Jh.s). Horst B e l k e , Literar. Gebrauchsformen (1973; Grundstudium Lit.wiss. 9). Rudolf H a l l e r , Gelegenheitsdichtung, in: Reallex. Bd. 1 (1969) S. 5 4 7 549. Georg S c h n e i d e r , Schlüsselliteratur. 3 Bde ( 1 9 5 1 - 5 3 ) . Klaus K an z o g , Schlüssellit., in: Reallex. Bd. 3 (1977) S. 6 4 6 - 6 6 5 . Eberhard S a u e r m a n n , Die Widmungen Georg Trakls, in: Salzburger Trakl-Symposion, hg. v. Walter Weiß u. Hans Weichselbaum (1978; Trakl-Studien 9) S. 6 6 - 1 0 0 . Joh. Wolfgang v. G o e t h e , Gedichte, Berliner Ausg. ( = BA) Bd. 2 (1980). Wolfdietrich Rasch, Freundschaftskult u. Freundschaftsdichtung im dt. Schrifttum d. 18. Jh.s (1936; DLVG., Buchr. 21). Heinz W i l m s , Das Thema d. Freundschaft in d. Barockdichtung u. s. Herkunft aus d. neulat. Dichtung d. 16. Jh.s. Diss. Kiel 1963. Hannelore L i n k , Rezeptionsforschung (1976; Urban-Taschenbücher 215), bes. S. 31 f.

§ 8. D e r W a n d e l v o n

der

mäzenatischen

W i d m u n g z u r p e r s ö n l i c h e n A u s s p r a c h e vollz o g sich in der D i c h t u n g J o h a n n

Christian

G ü n t h e r s . G ü n t h e r s c h r i e b , durch seine w i r t schaftliche L a g e g e z w u n g e n , Z e i t seines L e bens zahlreiche offizielle W . e an G ö n n e r , V e r leger, M ä z e n e ; darunter auch a n o n y m e , b z w . auf f r e m d e n N a m e n verfaßte W . e (auf C h r . A d a m G o r n , auf akademische W ü r d e n t r ä g e r ) . Seine p o e t . Praxis zeigt b a r o c k e Z ü g e , d o c h geht er in seinen Satiren s c h o n u n g s l o s gegen die M o d e , Vervielfältigung und

Inhaltsleere

der C a s u a l c a r m i n a v o r . D i e P o l e m i k gegen das p o l i t i s c h e ' V e r h a l t e n des Schriftstellers, v e r standen als P r a g m a t i k , S c h m e i c h e l e i und O p portunismus

gegenüber

dem

Auftraggeber,

schlägt die G e l e g e n h e i t s d i c h t u n g e i n e m T r i v i a l bereich der Poesie zu u n d stellt sie in G e g e n satz z u m K u n s t b e r e i c h , in d e m sich der D i c h ter erstmals selbst z u m G e g e n s t a n d der P o e s i e

876

Widmungsgedicht

und die Nebenstündlichkeit der Produktion zum notwendigen Kennzeichen von Dichtung erhebt. Poetische Wahrheit wird von einem kodifizierten Formelsatz zu einem Gefühlsbegriff mit pietistisch-moralischem Anspruch. Der ,freie Schriftsteller' lehnte es ab, ein Gedicht aus materiellen Interessen zu widmen, und sucht einen Bereich nicht-kommerzieller Gesprächssituation. Helga Bütler-Schön hat diese Entwicklung detailliert aufgewiesen und den Einfluß der pietist. Ethik auf Günthers Selbstverständnis dargelegt: „Nennt man nun die .politische' oder ,gegenpolitische' Haltung bürgerlich', dann kann Günther als einer der ersten entschieden bürgerlichen' Dichtertypen bezeichnet werden" (S. 147). Goethe bescheinigte Günther, daß er es in seinen Gelegenheitsgedichten verstanden habe, „alle Zustände durchs Gefühl zu erhöhen" (BA X I I I , 288). Dies darf insbesondere für die W . e an seine Geliebte Leonore gelten, die er mit den Schäfernamen „Flavia" oder „Sehnde" ansprach. Adalbert H off mann, Die jährl. Gedenktage in Chr. Günthers Gedichten u. d. Flucht Leonore Jachmanns. ZfdPh. 55 (1930) S. 348-351. Hans D a h l k e , Joh. Chr. Günther ( 1960; Neue Beitr. z. Lit.wiss. 10). Johann Christian Günther, Sämtl. "Werke, hg. v. Wilhelm Krämer, bes. Bd. 3 (1934; BibLitV. 279; Nachdr. 1964). Wilhelm Krämer, Das Leben d. schles. Dichters Joh. Chr. Günther 1695-1723 (2. Aufl. 1980). Helga B ü t l e r - S c h ö n , Dichtungsverständnis u. Selbstdarstellung bei Joh. Chr. Günther. Studien zu s. Auftrags-Gedichten u. Klageliedern (1981; Stud. z. Germ., Angl. u. Komparatistik 99). § 9. Durch die Ächtung des politischen' Gelegenheitsgedichts geriet auch der Widmungstopos in Gefahr, funktionslos zu werden. Im 18. J h . findet sich jedoch noch keine generelle Polemik gegen die Zweckhaftigkeit der Kunst, wie später in der poésie pure seit Ende des 19. Jh.s, sondern allein gegen die ökonomisch direkte Ausnutzung des Dichtens. So durfte der Warencharakter nur über den Mittler der Buchdistribution ausgenutzt werden. Diese literar. und sozialen Bedingungen beschränkten Widmungen auf den privaten Kreis, wo kommerzielle Interessen ausgeschlossen waren. Seit Mitte des 18. J h . s finden wir deshalb W.e immer dann, wenn es zur literar. Gruppenbildung kommt. D e r erste anakreontische Freundeskreis bildete sich Mitte des 18. J h . s um Friedrich Gottlieb

K l o p s t o c k und die Bremer Beiträge (s. Bremer Beiträger). In Klopstocks früher Produktionsphase treten vor allem Widmungen als Titel auf {An Bodmer, An Giseke, An Cidli = Meta Moller), darunter auch das Huldigungsgedicht an den Mäzen „Friedrich der Fünfte" von Dänemark (das dem Messias vorangestellt wird) oder die Totenklage auf dessen Gemahlin Die Königin Luise. Die zweite Widmungsphase beginnt 1774 und enthält deutlich weniger W.e. Klopstock konzentrierte jetzt die Rezeptionsvorgabe der Gedichtüberschrift auf den Aussagegehalt und bevorzugte Widmungen u n t e r dem Titel, wie etwa das patriotische Gedicht Weissagung. An die Grafen Christian und Friedrich zu Stollberg, die seine vaterländischen Gefühle teilten. Klopstocks Dichtung war der Wegbereiter der Stürmer und Dränger und gefeiertes Idol des G ö t t i n g e r H a i n s (s. d.), der seine zweite Widmungsphase entscheidend mitbestimmte. Am 12. September 1722 kam es zu dem reichbelegten Bundesschluß, begleitet von gegenseitigen Lesungen von Gesängen und Freundschaftsoden. Dem Schema der Anakreontik folgten die zahlreichen verschlüsselten Widmungen. Voß, Hölty und Boie trugen die Bardennamen Sangrich, Haining und Werdomar. Auch in Goethes früher Dichtung finden sich Schäfernamen wie Lila ( = Luise von Ziegler) oder Urania ( = Henriette von Roussillon). Die dialogische Konzeption der W.e war von vornherein durch den primären Veröffentlichungsort, den Freundeskreis gegeben. Doch auch durch die Publikation im Musenalmanach verloren sie ihre situative Gebundenheit nicht. Durch die Interaktion von Autor, Publikum und Widmungsempfänger wurden die Gedichte der Göttinger niemals esoterisch, auch wenn es sich um private ,Botschaften' in den Texten handelte. Häufig komplementierten sich die W . e zu Gesprächsreihen: Auf das Gedicht Voßens Mein allerliebster Miller, wer hat dich Ton und Triller so silberrein gelehrt, antwortete der Angesprochene Mich Johann Martin Miller hat Liederton und Triller Mama Natur gelehrt. Die einfache Sprache und der liedhafte Ton ihrer Freundschaftsoden garantierten die leichte Rezipierbarkeit der W.e, auch für einen größeren Publikumskreis. Die Popularität der Gruppe war so groß, daß Schiller 1791 in seiner Rezension der Gedichte von G . A. Bürger (1789) die didaktischen Funktionen der Kunst durch die Dichtung der

Widmungsgedicht Göttinger gefährdet sah (Schillers Werke. Nationalausg. Bd. 22, 1958, S. 245f.). Friedrich Gottlieb K l o p s t o c k , Ausgewählte Werke hg. v. Aug. Schleiden (1962). Werner K o h l s c h m i d t , Göttinger Hain, in: Reallex. Bd. 1 (1958) S. 597-601. Alfred K e l l e t a t , Göttinger Hain (1967; ReclamUB. 8789/93).

§ 10. Auch H ö l d e r l i n s W.e erwachsen aus persönlichen Bindungen. Richard Breymeyer entdeckte in den letzten Jahren ein anonymes Leichengedicht auf Johann Christian Gock sowie ein Hochzeitscarmen auf die Vermählung von Friedrich Ludwig Wilhelm Theuß mit Christiane Luise Bardiii, die beide mit großer Wahrscheinlichkeit Hölderlin zugeschrieben werden können. Die verschiedenen Dienstverhältnisse Hölderlins zogen fast zwangsläufig Lobgedichte an hochgestellte Persönlichkeiten nach sich, deren bekanntestes die Friedrich V. Ludwig Landgraf von Homburg gewidmete Hymne Patmos ist (1803). Hölderlin schrieb generell für zweierlei Publikumskreise, dem privaten und dem anonymen, größeren Publikum. Die Spannung zwischen privater ,Botschaft' und allgemeiner Aussage ist daher nicht allein biographisch zu klären, sondern folgt aus den Bedingungen des Buchmarkts und aus dem dichtungstheoretischen Anspruch des Autors. Verfolgt man das durch die W.e ausgelöste Suchbild, so enthüllen sich die scheinbar autonomen Dichtungen Hölderlins als Dokumente. Das gilt für die an Isaak v. Sinclair gerichtete Ode An Eduard (1801/1802) in Hinblick auf den Homburger Hof ebenso wie für die an J. J. W. Heinse gerichtete Hymne Brod und Wein (1800/1801), deren dionysische Töne ganz auf den Widmungsempfänger und dessen Künstlerroman Ardinghello (1787) zielen. Solche Beispiele bezeugen, daß Hölderlins dichterische Intention auf eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten bezogen war, an die sich die ,Botschaften' richteten. Idealisierung und Esoterik enthüllen sich als Teilaspekte einer höchst ästhetisierten Sprache, deren individuelle und konkrete Details auf die intensive Kommunikation eines freundschaftlich verbundenen Kreises zurückgeht. Daß Hölderlin die Hymne Der Rhein (1801) zunächst Heinse, dann Isaak von Sinclair zuschrieb, spricht nicht gegen den generell appellativen Charakter der W.e, schon gar nicht, wenn es sich um derart umfangreiche Texte handelt. Die Motivik von Mahl und

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Feier, dargestellt als Tradition antiker Symposien, basiert realiter auf der Bundesbruderschaft zwischen Hölderlin, Christian Ludwig Neuffer und Rudolf Magenau. Die Gedichte sollten ihren Feiern den festlichen Rahmen geben und waren zugleich in ihrer Intimität ein Gegenentwurf zum pompösen Festgebaren des Adels. Allein im Zeitraum zwischen 1789 und 1796 tauschten die drei Freunde dreizehn W.e. Hölderlin führte nach der Auflösung der Freundschaft mit Neuffer die poetische Heroisierung von Freunden und Angehörigen fort. Es entstanden die Siegfried Schmidt gewidmete Elegie Stutgard (1800) und die an Landauer gerichteten W.e. Friedrich H ö l d e r l i n , Sämtliche Werke, histor.-krit. hg. v. Fr. Beissner, Bd. 1,1 u. 1,2; 11,1 u. 11,2 (1946-1951). Richard B r e y m e y e r , Neuentdeckte Dokumente zu Hölderlins Lehen u. Umkreis. Hölderlin-Jb. 21 (1978/79) S. 246-283. Werner K i r c h n e r , Hölderlin. Aufsätze zu seiner Homburger Zeit (1967; Kl. Vandenhoeck-R. 255/ 257). Heinrich H i r b l i n g e r , W. u. Freundschaftsdichtung. Hölderlins Lyrik im polit. u. soz. Kontext s. Zeit. Diss. München 1979.

§ 11. Die Dichtungen Novalis' bezeugen — trotz der auf die freie ästhet. Produktion ausgerichteten Dichtungstheorie der R o m a n tiker — für das Huldigungs- und Glückwunschgedicht die Macht der Konvention. So schrieb Novalis von 1785 bis 1801 kontinuierlich W.e, anfangs für Personen aus dem engsten Familienkreis [An meinen Vater, An meine Mutter, An die gnädigste Tante von Gera, An meinen Onkel, An meine Schwester), für ältere Autoren (An Jacobi, An den Professor Bürger), aber auch für Herrscher (An Joseph den Zweiten, An Friedrich Wilhelm [II]); in den W.en nach 1794 überwiegen die an Frauen (An Carolinen [Just], Antwort an Carolinen [Just], M. und S. [Frau v. Mandelsloh und Sophie], Zu Sophiens Geburtstag [Sophie v. Kühn], An die Fundgrube Auguste. Zu ihrem 49. Geburtstage); bemerkenswert ist das W. Zu Sophiens Geburtstag durch die Anknüpfung an Schillers Lied An die Freude („Wer ein holdes Weib errungen,/Stimme seinen Jubel ein"). Doch die Herausgeber seiner Werke, Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck, betonten die ideellen und esoterischen Züge (s. Tiecks Vorrede zur 3. Aufl. 1815, in: Schriften, Bd. 4, 1975, S. 551-560) und schenkten der okkasionellen Dichtung wenig Beachtung. Allein sechs von 33 der heute unter dem

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Widmungsgedicht

Titel Vermischte Gedichte (1794-1801) zusammengefaßten Gedichte wurden 1802 in Novalis' Schriften aufgenommen, darunter drei W.e (An Tieck, das Sonett an Karl von Hardenberg, An Adolph Selmniz). Durch Tieck war Novalis erneut auf Jakob Böhme und dessen mystische Schriften aufmerksam geworden; er dankte ihm dafür mit dem W . An Tieck (Schriften, Bd. 1, 1960, S. 4 1 1 - 4 1 3 ) , in dem er auf seine Böhme-Lektüre explizit Bezug nimmt. Nach Novalis' Tod schrieb Tieck mehrere W.e auf den Frühverstorbenen. Er war es auch, der als Herausgeber den biographischen Bezug der an die Nacht hervorhob und das Hymnen ,Sophien-Erlebnis' zur Periodisierung von Novalis' Dichtungen heranzog: die parallel zum Tagebuch vom 1 3 . 5 . 1 7 9 7 gestaltete dritte Hymne galt ihm als „ U r h y m n e " und der Tod von Novalis' junger Braut Sophie von Kühn als Impuls und zentrale Aussage des gesamten Werkes; die zahlreichen literar. Reminiszenzen und die um 1880 von Novalis gewonnene Distanz zu seinem visionären Erlebnis negieren jedoch die rein biographische Lesart als Totenklage. Die Todten-Opfer-Gedichte, die August Wilhelm Schlegel Ende 1800 den „zwey theure(n) Schatten", Auguste Böhmer und Sophie von Kühn, widmete, enthalten auch Verse an Novalis (vgl. Novalis, Schriften, Bd. 4, 1975, S. 669). Die Totenklage Friedrich Schlegels An Novalis (Dichtungen. Hg. v. Hans Eichner, 1962; Krit. Fr. Schlegel-Ausg. Bd. 5, S. 311) enthält die Sätze: „Wie konnt'st, mein ander Ich, du von mir scheiden?" Novalis, Schriften. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. 2. Aufl. Bd. 1 (1960) u. Bd. 4 (1975). Ders., Werke in einem Bd., hg. v. H.-J. Mühl u. Rieh. Samuel (1981). Heinz Ritter, Der unbekannte Novalis. Friedr. v. Hardenberg im Spiegel s. Dichtung (1967). Ders., Novalis' 'Hymnen an die Nacht'. Ihre Deutung nach Inh. u. Aufbau auf textkrit. Grundlage. Ihre Entstehung (2. Aufl. 1974; Beitr. z. neueren Lit.gesch. III, 17). Friedr. Hiebel, Novalis. Dt. Denker, europäischer Denker, christlicher Seher (1951; 2. Aufl. 1972). Gisela Dischner, Caroline u. d. Jenaer Kreis (1979; Wagenbachs Taschenbücherei 61). Ludwig Tieck, Gedichte. Neue Ausg. (1841). § 12. Auch im Selbstverständnis S c h i l l e r s und in der Rezeption seiner Gedichte durch die frühen Romantiker nehmen die zahlreichen Gelegenheits- und W . e von den frühen Stammbuchblättern (Für Ferdinand Moser, Für Hein-

rich Friedrich Ludwig Orth) über die Totenklagen in der Anthologie auf das Jahr 1782 (Elegie auf den Tod eines Jünglings [Johann Christian Weckerlin], Rousseau), den Stammbuchblättern aus den Jahren 1790—1797 (Für Karl Graß, Für Jens Baggesen) bis zu den Stanzen An Goethe, als er den 'Mahomet' aufführte (1800) und An K. T. von Dalberg (1804) nur einen untergeordneten Stellenwert ein. Doch die Spannweite des sprachlichen Ausdrucks ist groß; sie reicht von anspruchslosen Versen („Ich bringe nichts als ein Gedicht/Zu Deines Tages Feier" in: Zum Geburtstag der Frau Griesbach, 1797) bis zur ausdrucksstarken Totenklage in der Elegie auf den frühzeitigen Tod Johann Christian Weckerlins (Einzeldruck 1781), seines früheren Kameraden auf der Karlsschule; für den zweiten Druck in der Anthologie (s.o.) mußte Schiller auf Anordnung des Zensors Kürzungen und eine Titeländerung vornehmen. Die propagierte idealist. Kunstauffassung veranlaßte G o e t h e in den Jahren nach Schillers T o d , den Realitätsgehalt von Dichtung erneut zu betonen. Seine Intention vollzog sich mit Hilfe der Apologie der ,Gelegenheitsdichtung', als welche er zunehmend sein ganzes Schaffen verstanden wissen wollte. „Es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein", sagte er am 1 8 . 9 . 1 8 2 3 zu Eckermann, „das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben". Diese vom Prinzip des Widerspruchs gegen die herrschende Kunstmeinung geprägte Äußerung begleiteten zahlreiche W . e , die insgesamt als Plädoyer der panegyrischen Dichtung aufgefaßt werden können. Goethe als literar. Instanz und repräsentative Persönlichkeit bediente sich des W . s , um Freunden, Gönnern und Verehrern seinen Dank abzustatten, aber auch, um sein Urteil geltend zu machen, sowohl im privaten (In das Stammbuch des Enkels, B A II, 392) als auch im literar. Bereich (Invektiven). Allegorisierter und formelhafter Bau des rhetorischen Sprechens kamen Goethes enkomiastischen Intentionen entgegen. L o b und Huldigung verehrter Personen erschienen ihm nicht unwürdig. Anlässe boten Jubiläumsfeiern (Zu Thaers Jubelfest, 1824; Die Feier des achtundzwanzigsten August dankbar zu erwidern, 1819; Dem würdigen Bruderfeste, 1830) ebenso wie private und spontane Gelegenheiten. Auch die Hinwendung zur östlichen Lyrik Hafis bestätigte Goethe die Würde und

Widmungsgedicht den Wert enkomiastischer Dichtung. Er plante im Rahmen des Divan ein Buch der Freunde, das in der Tradition der Preisdichtung der menschlichen Vergänglichkeit durch die Kunst Dauer verleihen sollte (s. Katharina Mommsen). Diese panegyrische Haltung ist auch noch Goethes letzter großer Dichtung, der Marienbader Elegie, eigen. Rückerinnerung, Verewigung und Verherrlichung stellen die W.e Goethes in den Rahmen seiner autobiographischen Intentionen von Dichtung und Wahrheit. Das gilt besonders für die bereits 1810 bis 1812 entstandenen sieben Karlsbader Gedichte (Im Namen der Bürgerschaft von Karlsbad, BA II, S. 2 3 9 251) und die von Goethe selbst unter der Bezeichnung An Personen zusammengefaßten W.e (Gellerts Monument an Oeser, An den Fürsten Karl von Ligne, An Prinzessin Caroline von Weimar), darunter auch solche, die erst auf Anforderung entstanden (Der Gräfin Titinne Odoneil). Goethe scheute sich auch nicht, den Widmungsempfänger auszutauschen (An Julie Gräfin Egloffstein ursprünglich An Julie von Manchenheim). Da Goethe mitunter Verse mehrmals verwendete, sind Zuschreibungen und ,Botschaften' von W.en nicht immer mit Genauigkeit auszumachen. Die Kommentatoren sind unterschiedlicher Auffassung, wer mit dem Gedicht An Lottchen gemeint ist (vgl. Fischer-Lamberg S. 33 u. BA 1,53), doch auch im Tasso versteckt sich Tasso hinter dem Doppelsinn der Widmung an 'Leonore' (V. 198—208). Goethe erkannte die Abhängigkeit der W.e von der Kenntnis des Kommunikationshorizontes und versuchte, Adressat und Umstand in den Tag und Jahrheften 1821 der Nachwelt zu dokumentieren. Schwierigkeiten bei der Zuordnung zu den W.en bereitet Goethes in Terzinen geschriebenes Gedicht Schillers Reliquien (25./26. März 1826), da hier der Gestus einer Ansprache (s. § 16) fehlt. Doch schon der von Riemer/ Eckermann hinzugefügte, wenn auch an eine Formulierung Goethes (im Brief an Zelter v. 4. Okt. 1827) anknüpfende Titel des zuerst in den Wanderjahren (Ende des 3. Buches) ohne Titel publizierten Gedichtes ist fragwürdig. Goethes Wissen um die unsichere Zuweisung der Gebeine Schillers (nach der Bergung im Gewölbe der Jakobskirche in Weimar) und die rhetorischen Merkmale der Epicediendichtung deuten darauf hin, daß Goethe eigene Inter-

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essen gegenüber einem größeren Publikumskreis zu vertreten und darzustellen suchte. Die Betrachtung von Schillers Schädel diente Goethe zum Anlaß einer erneuten Auseinandersetzung mit seinen naturphilosophischen Überlegungen und osteologischen Forschungen; auch die Lektüre von Lavaters Physiognomischen Fragmenten dürfte in diesem Gedicht ihren Niederschlag gefunden haben. Friedrich Schiller, Gedichte 1776-1799. Hg. v. Julius Petersen u. Friedrich Beißner (1943; Werke, Nationalausg. Bd. 1). Hanna Fischer-Lamberg, Der junge Goethe, Bd. 4 (1968). Katharina Mommsen, Goethe u. d. Preisgedicht. Zum 'Rätsel' in d. Gedichten 'An Personen'. Jb. d. dt. Schillerges. 11 (1967) S. 320-357. Carl Viétor, Goethes Gedicht auf Schillers Schädel. PMLA. 59 (1944) S. 142-183. Wolfgang Martens, Goethes Gedicht 'Bei der Betrachtung von Schillers Schädel'. Jb. d. dt. Schillerges. 12 (1968) S. 275-295. § 13. Den letzten glaubwürdigen Enkomiasten sah Hans Magnus Enzensberger in Heinrich von Kleist. Seine Gedichte an Franz den Ersten, Kaiser von Österreich (9.4.1809), An den Erzherzog Karl. Als der Krieg im März 1809 auszubrechen zögerte, und An den Erzherzog Karl. Nach der Schlacht von Aspern, den 21. und 22. Mai 1809 verherrlichten nicht die Herrscherpersönlichkeit, sondern die Geschichte, die Tat als solche. Enzensberger unterschlägt dabei den Wunsch Kleists, durch seine W.e endlich diejenige Anerkennung und Veröffentlichungsmöglichkeit zu erlangen, die ihm durch die literar. Welt, vor allem aber durch Goethe, versagt blieb (vgl. die Gedichte an Luise zu Preußen zur Feier ihres Geburtstages am 10. März 1810 und die Zueignung des Prinz Friedrich von Homburg an Amalie Marie Anne von Preußen). Zeitpunkt, Adressat und Inhalt stellen die W.e aber auch in den Kontext von Kleists patriot. Dichtungen und ihrer agitatorischen Absicht. Kleist schrieb das Huldigungsgedicht An den König zu Preußen zur Feier seines Einzugs in Berlin im Frühjahr 1809 aus hypothetischem Anlaß („wenn sie stattgehabt hätte"), um den patriotischen Impuls wachzuhalten; der Berliner Polizeipräsident Gruner verweigerte jedoch am 24. April 1809 das Imprimatur. Am 5. Oktober 1809 veröffentlichte Kleist das Gedicht in den Berliner Abendblättern u. d. T . : Ode auf den Wiedereinzug des Königs im Winter 1809. Von

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der Zensur unbeanstandet blieb die anonym erschienene und von H. Sembdner Kleist zugeschriebene „sarkastische Begrüßungsode" An unseren Iffland bei seiner Zurückkauft den 30. September 1810 (Berliner Abendblätter 3. Okt. 1810). Heinrich v. Kleist, Sämtliche Werke u. Briefe. Hg. v. Helmut Sembdner. Bd. 1 (6. Aufl. 1977) S. 28ff. Hans Magnus Enzensberger, Poesie u. Politik, in: Enzensberger, Einzelheiten (1962) S. 334-353. Hans Joachim Kreutzer, Die dichter. Entwicklung H.s v. Kleist (1968; Philolog. Studien u. Quellen 41). Klaus Kanzog, H. v. Kleists Gedicht 'An Franz d. Ersten'. Euph. 64 (1970) S. 380-384. Dirk Grathoff, Die Zensurkonflikte der 'Berliner Abendblätter', in: Ideologiekrit. Studien. Essays. Bd. 1, hg. v. Volkmar Sander (1972) S. 3 7 - 1 6 8 .

§ 14. Nach Goethes Tod gab es weder eine ähnlich repräsentative Persönlichkeit, die die enkomiastische Tradition hätte weiterführen können, noch die intime Freundschaftskultur, die W.e nach sich zog. An die von Herder mit den Stanzen aus Italien (1789) begründete dt. Stanzen-Tradition des W.s, der Brentano, Chamisso, Goethe, Th. Körner, Schiller und Aug. Wilh. Schlegel den Weg bereitet haben und der noch Platen (An Friedrich v. Heyden, 1820) und Heine (An Rudolf Christiani, 1823) verpflichtet sind, knüpfen neben G. Keller (An Ronge und Czerski, 1840/42) Hebbel (E. Brücke zugeeignet, 1848) und Rückert (An meinen König und Dank für den Verdienstorden, 1842; An Schubart, 1875) an; auch A. v. Droste-Hülshoffs W. An die Schriftstellerinnen von Deutschland (1844) und Fontanes Toast auf Kaiser Wilhelm (1884) sind in Stanzen geschrieben. Die sich konsolidierende Auffassung von der Autonomie der Kunst drängte nicht nur das W. in den Hintergrund, sondern lenkte auch dessen Rezeption und Beachtung durch den Leser. Aus dem Dichtungskanon Eduard Mörikes wurden die mannigfachen W.e (An meinen Arzt, Herrn Dr. Elsäßer, An meine Mutter, An H. Kurtz, An O. H. Schonhut) geradezu verdrängt. Unter den von Mörike als „Hausverse" bezeichneten Gedichten findet sich die „späte Epistel" An Moritz von Schwind (Jan. 1868). Anläßlich der Schenkung dreier Sepiazeichnungen zu drei seiner Werke dankte Mörike dem Maler mit diesem W. und thematisierte damit zugleich das Verhältnis

zwischen Malerei und Dichtkunst. Es ist der ironisch gebrochene Versuch, noch einmal die Funktion des W.s, Kommunikationsmedium in einem kultivierten Kreis von Freunden und Gleichgesinnten zu sein, zu aktivieren. Eduard Mörike, Sämtliche Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert (5. Aufl. 1976). Renate von Heydebrand, Kunst im Hausgebrauch. Überlegungen zu Mörikes Epistel 'An Moritz von Schwind'. Jb. d. dt. Schillerges. 15 (1971) S. 2 8 0 296.

§ 15. Es war Rainer Maria Rilke, der das W. als Kommunikationsmedium erneut zu nutzen wußte. Rilke wurde zeit seines Lebens von Freunden und Gönnern, darunter vielen Frauen, unterstützt, ohne die sein aufwendiger Lebensstil und sein unbürgerlicher Umgang mit Geld nicht möglich gewesen wäre. 1910 lebte er zusammen mit anderen Künstlern auf Schloß Duino der Fürstin Marie von Thum und Taxis, 1912 schrieb er dort die erste seiner Duineser Elegien und vollendete sie zehn Jahre später auf Schloß Muzot, das sein Freund Werner Reinhard für ihn gemietet hatte. Nach den ungemein produktiven Tagen Anfang Februar 1922 schrieb er am 11. Febr. an Marie von Thum und Taxis: „Eine [der Elegien] hab ich Kassner zugeeignet. Das Ganze ist Ihr's, Fürstin, wie sollts nicht! Wird heißen 'Die Duineser Elegien'. Im Buch wird (: denn ich kann Ihnen nicht geben, was Ihnen, seit Anfang, gehört hat) keine Widmung stehn, mein ich, sondern: 'Aus dem Besitz . . . ' " (R. M. Rilke/Marie v. Thum u. Taxis, Briefw., 1951, Bd. 2, S. 698). Rilke stellt deutlich die Dankesabsicht, nicht einen möglichen konkreten Bezug in den Vordergrund, der durch die Doppelwidmung zudem noch unwahrscheinlicher wird. Auch die Neuen Gedichte anderer Teil widmete Rilke als Ganzes „A mon grand Ami Auguste Rodin", dem er allerdings, im Gegensatz zu den Elegien, die formale, ganz auf das ,Sehen' phänomenologisch ausgerichtete innovatorische Schreibweise verdankte. Noch den ersten Teil dieser Gedichte hatte Rilke „Karl und Elisabeth von Heydt in Freundschaft" dediziert. Rilkes Leben war durch seine Bekanntschaften, vor allem durch die Liebe zu Frauen bestimmt. Ihnen eignete er die Uberzahl seiner Werke zu (Strophen zu einer Festmusik. Für Sidie Nadhemy, Improvisationen aus dem Capreser Winter. Für die junge Gräfin M. zu

Widmungsgedicht S., An die Frau Prinzessin M. v. B.). Das Stundenbuch legte er als Gesamtwerk „in die Hände von Lou" und betonte damit den biographisch-erotischen Hintergrund der im religiösen Sprachhabitus gehaltenen Gedichte. 1903 plante Rilke parallel zu der Sammlung Mir zur Feier (1899) den Band Dir zur Feier herauszugeben, unterließ es jedoch auf Bitten der mit Friedrich Carl Andreas verheirateten Lou und vernichtete über die Hälfte der Gedichte. Die der mit 19 Jahren verstorbenen Tänzerin Wera Ouckama Knoop gewidmeten Sonette an Orpheus gehen nur in zwei Gedichten auf die Adressatin ein, doch ziehen sich das Thema des Tanzes und die Klage um ZuFrüh-Verstorbene (vgl. das 8., Egon Rilke dedizierte Gedicht) durch den gesamten Zyklus. Überhaupt nimmt die Totenklage im Werk Rilkes einen wichtigen Platz ein (Requiem für eine Freundin [ = Paula Modersohn-Becker], Ode an Bellmann, Requiem auf den Tod eines Knaben [ = Sohn Edgar Jaffes]). Rodin, der dt. Sprache nicht mächtig, hatte es stets bedauert, auf Rilkes Gedichte nicht angemessen reagieren zu können (vgl. die gegen den Einspruch des Verlegers Kippenberg durchgesetzte franz. Widmung). Anders Hugo von Hofmannsthal, dem Rilke Das Füllhorn zueignete. Durch Marie von Thum und Taxis war Hofmannsthal mit der 1. Elegie bekannt geworden. Er sandte daraufhin Rilke ein Exemplar des Jedermann, „in stetem Gedächtnis und als Gegengeschenk für die Duineser Elegie". Rainer Maria R i l k e , Sämtliche Werke, hg. v. Ernst Zinn (1955). Ulrich F ü l l e b o r n u. Manfred E n g e l , Materialien zu R. M. Rilkes 'Duineser Elegien', Bd. 1 (1980). Hans Egon H o l t h u s e n , R. M. Rilke in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten (1958; rowohlts monographien 22). Wolfgang L e p p m a n n , Rilke. Lehen u. Werk (Bern 1981). August Stahl, Rilke-Kommentar z. Lyr. Werk (1978).

§ 16. Während Rilkes W.e in seinem ,mäzenatischen' Verhältnis zum Adressaten gründen, entstehen um die Jh.wende erneut W.e, die ihren Impuls einer Gruppe verdanken. Im Kreis der Münchner Kosmiker um Stephan George zelebrierte man das W. als Weihe. Da die Freundschaftsbekundungen aber vor allem im Vortrag gegenseitiger Dichtungen bestanden, finden sich erstaunlich wenig W.e innerhalb dieses Kreises (s. Manfred Durzak).

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George selbst stand mit dem jungen H o f mannsthal in Verbindung, dem er seine Pilgerfahrten (1891) „im Gedenken an die Tage schöner Begeisterung" dedizierte. Hofmannsthal widmete daraufhin George ein Exemplar von Gestern (1891) „in tiefer Bewunderung seiner Kunst". Beide versagten sich jedoch die .poetische' Form der Widmung. Enttäuscht über den Verlauf des Verhältnisses zu George war Hofmannsthal später mit Widmungen sehr zurückhaltend. Das der 72jähr. Mäzenatin Josephine von Wertheimstein zu Weihnachten 1893 gewidmete Gedicht (vgl. Gedichte u. Lyrische Dramen, 1970, S. 516f.) hat Hofmannsthal weder in die Gedichte und Kleinen Dramen (1911) noch in die Gedichte (1922) aufgenommen. Die für das Verfassen von W.en günstige Situation kleiner Zirkel bildete sich verstärkt in der Zeit des Expressionismus heraus. Man lebte in Kaffeehäusern, Kneipen und Kabaretts, wo gegenseitige Sympathien und Antipathien kräftig geschürt wurden. Diese Ersatzwelt wurde zu einem Refugium der Kunst, in dem man sich kannte, verspottete, umwarb. Alfred Lichtensteins Gedichte enthalten gelegentlich Anreden oder haben den Charakter von Mitteilungen an Freunde (s. Der Ausflug, Kurt Lubasch gewidmet zum 15.7.1912, und Die Welt, einem Clown zugeeignet); andere Gedichte sind polemisch wie Der Barbier des Hugo von Hofmannsthal-, auf das gegen ihn gerichtete Gedicht Etwa an einen blassen Neuklassiker antwortete Ernst Blass mit dem Gedicht Nehmen Se jrotesk — det hebt Ihnen. Lichtenstein suchte Anschluß an die literar. Kreise des Sturm und des Pan und verkehrt im „Café Klößchen" ( = Café des Westens), obwohl er sich den meisten der dort verkehrenden Literaten nicht zugehörig fühlte, ja mit ihnen verfeindet war. Anders Else LaskerSchüler. Ihre Gedichte waren ein Sich-Mitteilen an die Gruppe der dortigen Künstler. Sigrid Bauschinger betont zu Recht, daß die Liebesgedichte Else Lasker-Schülers trotz der formalen Gleichheit individuell und personenbezogen sind. Der überwiegende Teil ihrer Gedichte waren W.e. Den Adressaten gab sie phantasievolle Namen: Peter Baum, dem Großfürsten, Giselher dem König ( = Gottfried Benn), Herwarth Waiden, dem Tondichter des Lichts. Durch die Doppelbenennung des Namens und durch teils vorangestellte, erklä-

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rende Texte (so zu Senna Hoy oder Benn), wurde der konkrete Bezug der Gedichte und ihre .Botschaft' verstanden. Benn, der sie für die größte dt. Dichterin hielt, reagierte dennoch ungehalten auf ihr stürmisches Liebeswerben. Ihrem lyrischen Aufruf Höre. Letztes Lied an Giselher (Sämtl. Gedichte, hg. v. Friedhelm Kemp 1966, S. 127), in dem sie schreibt „Ich bin dein Wegrand. Die dich streift, stürzt ab", antwortete' Benn mit dem Gedicht Hier ist kein Trost: „Keiner wird mein Wegrand sein (Ges. Werke, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 3, 1960, S. 374). Verstimmt reagierte auch Grete Fischer, als Else LaskerSchüler eine ihr, „der Immerlieben" gewidmete Zeichnung nach Jahren zurückforderte, um sie Hugo Simon ein zweites Mal zu dedizieren (s. Sigrid Bauschinger S. 38). Die Großzügigkeit, mit der Else Lasker-Schüler mit ihren Widmungen verfuhr, spricht nicht gegen die gezielte und in der Tat zustandegekommene Kommunikation mit den Adressaten. Daneben schrieb sie zahlreiche Künstlerporträts, die beweisen, wie sehr sie mit der Berliner Boheme vertraut war. Die W.e enden abrupt, als die Künstlerin durch die Emigration von ihrem ursprünglichen Freundeskreis getrennt war; gleichwohl enthält der letzte Gedichtband Mein blaues Klavier (postum Jerusalem 1943) wiederum W.e (An meine Freunde, Meine Mutter, An meinen Sohn, An Milt) und einen Zyklus von Gedichten einer späten Liebe (An ihn). Else Lasker-Schüler war durch Karl Kraus und Ludwig von Ficker mit der österr. Lit. in Berührung gekommen. In Innsbruck hatte sich eine ähnliche Gruppe von Außenseitern um die Zeitschrift Der Brenner und ihren Herausgeber Ficker versammelt. Berühmtestes Mitglied war Georg T r a k l , von dem es relativ viele W.e, u. a. an Else Lasker-Schüler, Karl Borromäus Heinrich, Ludwig von Ficker und Karl Kraus, gibt. Sie wurden alle zwischen 1912 und 1914 geschrieben, in der Zeit, in der Trakl am engsten mit diesem Kreis verbunden war. In der Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, ob ein Zusammenhang zwischen Widmungsempfängern und Texten herzustellen sei, nachdem Gerald Stieg anhand der Farbanalyse des Gedichts Psalm versucht hatte, den Schluß auf den Widmungsempfänger Karl Kraus zu beziehen. In jüngster Zeit gelang es aber, eine werkimmanente Kommunikation zwischen Trakls W. Abendland und Else

Lasker-Schülers Georg Trakl nachzuweisen (s. Iris Denneler). Gerade die W.e Trakls beweisen, daß auch die scheinbar hermetische Lyrik der Moderne ihren Aussagegehalt in der Hinwendung zu ganz spezifischen Adressaten findet. Allerdings verengt sich der Kreis der Angesprochenen auf eine kleine, isolierte Gruppe, zuweilen auch nur den Widmungsempfänger selbst. Manfred D u r z a k , Epigonenlyrik. Zur Dichtung d. George-Kreises. Jb. d. dt. Schillerges. 13 (1969) S. 4 8 2 - 5 2 9 . Heinrich H e n e l , Erlebnisdichtung u. Symbolismus. DVLG. 32 (1958) S. 71—98. Werner V o l k e , Hugo v. Hofmannsthal in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten (1967; rowohlts monographien 127). Rudolf H o l z e r , Villa Wertheimstein. Haus d. Genien u. Dämonen (Wien 1960; Österreich-Reihe 118/120). Alfred L i c h t e n s t e i n , Gesammelte Gedichte, hg. v. Klaus Kanzog (Zürich 1962). Ders., Gesammelte Prosa. Hg. v. Klaus Kanzog (Zürich 1966), S. 137. Walter M e h r i n g , Berlin Dada. E. Chronik (Zürich 1959). Else L a s k e r - S c h ü l e r , Gesammelte Werke, hg. v. Friedhelm Kemp, Bd. 1 (1959). Dies., Mein Herz (1912). Erika K l ü s e n e r , Else Lasker-Schüler in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten (1980; rowohlts monographien 283). Alfred Richard M e y e r , die maer von der musa expressionistica (1948). Helmut K r e u z e r , Die Boheme (1968). Roy F. A l l e n , Literary Life in German Expressionism and the Berlin Circles (1974; GöppArbGerm 129). Sigrid B a u s c h i n g e r , Else Lasker-Schüler. Ihr Werk u. ihre Zeit (1980; Poesie u. Wiss. 7). Otto B a s i l , Georg Trakl in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten (1965). Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse u. Briefe, hg. v. Hans S z k l e n a r (Salzburg 1966). Gerald Stieg, Georg Trakl u. Karl Kraus, in: W. Weiß u. H. Weichselbaum, Trakl-Symposion (Salzburg 1978; Trakl-Studien 9). Ders., Der 'Brenner' u. d. 'Fackel' (Salzburg 1976; BrennerStudien 3). Eberhard S a u e r m a n n , Die Widmungen Georg Trakls (s. § 6). Iris D e n n e l e r , Konstruktion u. Expression. Zur Strategie u. Wirkung d. Lyrik Georg Trakls (Salzburg 1984).

§ 17. Die Dichotomie von semantischer Dunkelheit und Kommunikation prägte auch die Dichtung von Johannes B o b r o w s k i und sein Verständnis von Engagement. Im Gegensatz zu Trakl oder Lasker-Schüler fehlte Bobrowski jedoch ein fester literar. Freundeskreis, ein Zirkel der primären Rezeption. Er hatte zwar Kontakt zu Peter Hüchel, H. C. Artmann, Ina Seidel und Sarah Kirsch, produzierte aber getrennt von ihnen. Dieses lite-

Widmungsgedicht ratursoziologische Faktum dürfte dafür verantwortlich sein, daß Bobrowski nur wenige W.e, dafür um so mehr ,Personengedichte' schrieb, die er nicht als „Porträts", sondern als „Anrufe an Sternbilder" (s. Bernhard Gajek/Eberhard Haufe, S. 28) verstanden wissen wollte. Bernhard Gajek (Porträtgedichte) sieht wie Sigfrid Hoefert (S. 43) die Porträts durch einen größeren Abstand zum Adressaten geprägt als das W., für die zudem eine direkte Kommunikation mit dem Angesprochenen ausgeschlossen ist. Während Widmungen generell in der Frühphase eines Werks bedeutsam sind, fehlt diese Zeitgebundenheit bei Porträtgedichten. Die fast 40 Gedichte dieser Art sind u. a. an Gertrud Kolmar, Georg Trakl, an Else Lasker-Schüler und an Chatterton gerichtet und, durch montierte Fakten, Zitate oder Lebensumstände der Angesprochenen, formal dem Stiltypus des Cento verpflichtet. Ähnlich wie in Goethes „Schiller"-Gedicht werden keine gemeinsamen Erinnerungen beschworen, vielmehr ist es der Versuch, sich in die Reihe von Schicksalsgefährten einzugliedern — eine Auseinandersetzung mit Vergangenem um der Gegenwart willen. Bobrowski vermag allein Verbundenheit zu zitieren, ohne sie beim (,Widmungs'-)Adressaten in einem poetischen .Gespräch' einlösen zu können. Gedichte „an . . ." oder „auf . . ." werden so zu lyrischen Exempeln. Mit der Tradition des Widmungs-, Porträts- und Rollengedichts war Bobrowski durch seine Barock-Studien in Berührung gekommen. Bernhard G a j e k u. Eberhard H a u f e , Johannes Bobrowski. Chronik, Einführung, Biographie (1977; Regensburger Beitr. z. dt. Sprachu. Lit.wiss. B, 13). Wolfram M a u s e r , Beschwörung u. Reflexion: Bohrowskis sarmatische Gedichte (1970; Schriften z. Lit. 15). Sigfrid H o e f e r t , Zu den W.en 'Ode auf Chatterton' u. 'Gongora', in: Hoefert, Westöstliches in d. Lyrik J.B.s (1966). Dagmar D e s k a u , Der aufgelöste Widerspruch. „Engagement" u. „Dunkelheit" in d. Lyrik J.B.s (1975). Bernhard G a j e k , Joh. Bohrowskis Porträtgedichte, in: Sprache u. Bekenntnis, Herrn. Kunisch zum 70. Geh. hg. v. W. Frühwald u. G. Niggl (1971) S. 403-422. Gerhard R o s t i n , Johannes Bobrowski. Selbstzeugnisse u. Beiträge über s. Werk (1967). Renate von H e y d e b r a n d , Engagierte Esoterik. Die Gedichte J. B.s, in: Wissenschaft als Dialog. Studien zur Lit. u. Kunst seit d. Jh.wende, hg. v. R. v. Heydebrand u. Klaus Günther Just (1969) S. 386-450.

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§ 18. Hans Mayer sieht die Gedichte Bertolt Brechts „von Anfang an als Gelegenheitsgedichte angelegt" (S. 279). Sie richten sich an (oder sprechen von) Personen, die Brecht nahestanden (Lied von meiner Mutter, Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin Margarethe] S[teffin], Dankgedicht an Marie Hold zum 5. Okt. 1934) und sie verleugnen selten ihren Anlaß, verbergen aber das didaktische Interesse hinter einer, meist auf die Kontrafaktur volkstümlicher lyrischer Formen basierenden Struktur, die das gewohnte Lektüreschema verfremden und damit die Aktivitäten des Lesers steigern soll. Dies gilt auch für die W.e Brechts. Die seiner Frau, Helene Weigel, gewidmeten Gedichte Die Requisiten der Weigel, Die Schauspielerin im Exil, Beschreibung des Spiels der H. W. gehören in den Kontext der theatertheoretischen und -praktischen Überlegungen Brechts zum Messingkauf, dem Plan eines szenischen „Viergesprächs über eine neue Art, Theater zu spielen" (1937—51). Die persönliche Huldigungsabsicht an Helene Weigel, die in Stockholm Schauspieler unterrichtete, verbindet sich mit der Pädagogik des Textes und seiner auf den Erkenntnisprozeß des Lesers ausgerichteten Intention (vgl. die korrespondierenden Gedichte Rat an die Schauspielerin C[arola] N[eher] und Das Waschen. Für N. C.). Nach Edgar Marsch greift das Argument „über die biographische Situation des Anlasses" hinaus. Der Text richtet „sich nicht an einen biographisch vielleicht relevanten Leser, sondern an das Total aller Leser" (S. 13). In der Tat läßt der ironischparodistische Umgang mit literar. Formen nur schwer eine Trennung von Fiktivem und Biographischem zu, doch entspricht dies Brechts Intention, durch Widmungen und durch Nennung von Namen die Geistesbeschäftigung des Lesers auf das „Memorabile" (André Jolles), d.h. auf das (potentiell) Faktische des historisch Verbürgten und damit auf den „Gebrauchswert" seiner Dichtung zu lenken. Schon in der 1927 erschienenen Hauspostille finden sich als dritte Lektion die „Abenteuer kühner Männer und Frauen in fremden Erdteilen" (so Brechts ironische Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen), Chroniken, die exemplarisch den Begriff eines Heldenlebens destruieren sollten und teils auf wirkliche, teils auf fingierte Begebenheiten zurückgehen (vgl. Hans Thies-Lehmann S. 74— 79 vs Genia Schulz S. 173 - 2 0 4 in: Thies-

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Lehmann/Lethen). Die meisten Gedichte der fünften Lektion (Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen) werden dem Leser von Brecht in seiner Anleitung als W.e angeboten („Erinnerung an den Lyriker Joseph Baal aus Pfersee", „gewidmet dem Andenken an das Liebespaar Franz Diekmann und Frieda Lang aus Augsburg", „zum Gedächtnis des Infanteristen Christian Grumbeis, geboren den 11. April 1897 in Aichach gestorben in der Karwoche 1918 in Karasin"), doch handelt es sich gerade bei der ausführlichen Widmung zum 5. Kapitel an den toten Soldaten aller Wahrscheinlichkeit nach um eine fingierte Angabe, „die auf den sinnlosen Tod im Krieg schlechterdings verweist" (Marsch, S. 141). Die konkrete literar. Kommunikation mit dem Freundeskreis seiner Augsburger Heimatstadt (vgl. vor allem Von den Sündern in der Hölle, Georg Pfanzelt, Caspar Neher und Otto Müllereisert gewidmet, aber auch Vom Armen B. B.) wird von Brecht bei der späteren Uberarbeitung der Hauspostille weitgehend zurückgedrängt. Doch in den W.en An meinen Freund, den Maler (1948) wendet sich Brecht wiederum an Caspar Neher. Eine Totenklage schreibt er bereits 1914 (Hans Lody); 1941 entstehen neben der bereits genannten Totenklage Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S. die W.e An Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte und Zum Freitod des Flüchtlings W. B. In den Jahren der Emigration verfaßt Brecht auch verschiedene Grabschriften (Grabschrift aus dem Krieg des Hitler, Gedenktafel für 4000, die im Krieg des Hitler gegen Norwegen versenkt wurden, Epitaph für M.)\ die Grabschriften für Karl Liebknecht und für Rosa Luxemburg (1948) sind Botschaften, für die Zukunft aus der Geschichte zu lernen. Mit dem W. An den Schauspieler P.L. (1950) versuchte Brecht, seinen Freund Peter Lorre zur Rückkehr nach Deutschland zu veranlassen. Bertolt B r e c h t , Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 8 - 1 0 (1967). Hans M a y e r , Gelegenheitsdichtung d. jungen Brecht. Sinn u. Form 10 (1958) S. 276-289. Edgar M a r s c h , Bert Brecht. Kommentar zum lyr. Werk (1974). Christiane B o h n e r t , Brechts Lyrik im Kontext. Zyklen im Exil (1982). Albrecht Schöne, Bert Brecht. Erinnerung an Marie A., in: Die dt. Lyrik, hg. v. B. v. Wiese (1956) S. 485-494. Hans-Thies L e h m a n n u. Helmut L e t h e n , Bertolt Brechts 'Hauspostille'. Text u. Kollek-

tives Lesen (1978). Peter Paul S c h w a r z , Brechts frühe Lyrik 1914—22. Nihilismus als Werkzusammenhang der frühen Lyrik (1971; Abhdlgn. z. Kunst-, Musik- u. Lit.wiss. 111). Wulf Segeb r e c h t , Vom Armen B.B., in: Ausgewählte Gedichte B. B.s mit Interpretationen, hg. v. W. Hinck (2. Aufl. 1979; EdSuhrk. 927) S. 18-23.

§ 19. Als 1967 die Malaiischen Liebeslieder Iwan Gölls zum erstenmal in dt. Sprache erschienen, folgte der Verlag den im Besitz Paula Ludwigs befindlichen Handschriften, die erst 1950 im Keller der Pariser Wohnung Bernhard Bersons wiederaufgefunden worden waren. Die Gedichte sind 1932—34 in Palma de Mallorca, Berlin-Halensee, Siena, Paris und Auteuil in dt. Sprache entstanden. 1935 veröffentlichte Göll vierzig davon in franz. Ubertragung (Chansons Malaises. Chansons de Manyana, Jeune Fille Malaise). Göll war seit 1931 mit Paula Ludwig befreundet, der er die Malaiischen Liebeslieder teils mit widmender Uberschrift sandte („An Palu"), teils persönlich an den oben bezeichneten Orten schenkte, wo er, mit Unterbrechungen, mit ihr zusammen lebte. Selbst dialogisch durch Du-Anreden an die Geliebte und Blickpunktwechsel komponiert, sind die Liebesgedichte auch eine Antwort (mit vielen Zitaten) auf Paula Ludwigs 1932 erschienenen Zyklus Dem dunklen Gott. Ein Jahresgedicht der Liebe (in Gölls Exemplar handschriftlich: „1931 FebruarNovember"). Kurz nach dem Erscheinen beschwerte sich seine Frau Ciaire Göll über diese „offizielle Bestätigung vor der Literatur Eures Zusammenlebens" (Meiner Seele Töne S. 80). Iwan wehrte ab: „Was das Motto betrifft, so ist es . . . ein Motto wie viele andere — und bedeutet für die Dritten, Außenstehenden nichts anderes" (s.o., S. 79). Dennoch setzte Ciaire Göll, als es 1967 zum Druck kam, durch, daß widmende Uberschriften, Ortsund Zeitangaben aus den Maliischen Liebesliedern getilgt wurden, da sie biographische Spekulationen befürchtete. So weichen die Gedichte nicht nur von den noch unveröffentlichten Handschriften des Dichters ab, sondern auch von den Fassungen, die bereits 1932 im Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung (Nr. 362, vom 20.12.) erschienen waren (s. René Strasser, S. 400). Erst der Nachlaß, der vom Marbacher Lit.archiv unter Verschluß gehalten wird, könnte durch die Veröffentlichung des Briefwechsels beider Frauen und der

Widmungsgedicht — Wiegendrucke Originalhandschriften über W.e und Korrespondenz beider Zyklen definitiven Aufschluß geben (vgl. Vorwort zu Meiner Seele Töne). Iwan G ö l l , Mailaiische Liebeslieder [dt. u. franz.] (1967). Ders., Chansons Malaises (Paris 1935). Paula Ludwig, Dem Dunklen Gott. Ein Jahresgedickt der Liehe (1932). Ciaire G ö l l u. Iwan G ö l l , Meiner Seele Töne. Das literar. Dokument e. Lebens zwischen Kunst ». Liebe, aufgez. in ihren Briefen. Neu hg. u. komm. v. Barbara Glauert (1978). Ciaire G ö l l , Ich verzeihe keinem. Eine literar. Chronique scandaleuse unserer Zeit (1976). Iwan G ö l l , Gedichte, hg. v. René A. Strasser (1968).

§ 20. Vor wenigen Jahren wandte sich Günter Grass gegen die zunehmende Esoterik .konkreter' „Labordichtung" und plädierte für das Gelegenheitsgedicht und die Einmischung des Schriftstellers in den „demokratischen Kleinkram" (Vom mangelnden Selbstvertrauen, S. 112). Hans Magnus Enzensberger und Helmut Heißenbüttel reagierten mit scharfen Zurückweisungen (Enzensberger: „Herrscherlob und Poesie sind unvereinbar", S. 344). Ihre Auseinandersetzung bestätigt, daß sich im ästhetischen Wertungskanon das ,romantische' Lyrikverständnis durchgesetzt hat. In der poetischen Praxis erweisen sich jedoch Gelegenheits- und W.e nach wie vor als populär. 1963 publizierte Reiner Kunze seinen Gedichtband Widmungen mit Gedichten an seine Familie, an Freunde und befreundete tschech. Schriftsteller. 1978 dankten Mitglieder der Gruppe 47 (darunter Ilse Aichinger, Horst Bienek, Heinrich Boll, Jürgen Becker und Carl Amery) dem, Vater' ihres Kreises, Hans Werner Richter, durch W.e zum 70. Geburtstag. Sie erschienen 1979 zusammen mit dem Bericht Richters, der fünf Jahre zuvor u. d. T. Wie entstand und wer war die Gruppe 47 im Bayr. Rundfunk gesendet worden war, auf den die Autoren der Glückwunschgedichte deutlich Bezug nehmen. Die Wirkungskraft von W.en wird nicht zuletzt dann immer ungebrochen sein, wenn die Widmungen gleichzeitig ein Bekenntnis zur Person und ihrer Gesinnung vermitteln, wie Wolf Biermanns Brecht, deine Nachgeborenen,, Kleines Lied für R[obert] H[avemann] und Totenlied für Rudi Dutschke. Die agitator. Funktion der W.e macht sie für engagierte Lit. unverzichtbar, und ihre Intention ist hier (im Gegensatz zu ,privaten' Widmungen der Gegenwartslit.) unmittelbar verständlich.

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Günter G r a s s , Das Gelegenheitsgedicht oder: Es ist immer noch, frei nach Picasso, verboten, mit dem Piloten zu sprechen, in: Über meinen Lehrer Döhlin u. andere Vorträge (1968) S. 63 — 66. Ders., Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe. Ebda, S. 67— 72. Hans Magnus E n z e n s b e r g e r (s. § 13). Helmut H e i ß e n b ü t t e l , Gelegenheitsgedichte u. Klappentexte (1973; Samml. Luchterhand 99). Ders., Ödipuskomplex made in Germany. Gelegenheitsgedichte Totentage Landschaften 1965— 1980 (1981). Reiner K u n z e , Widmungen (1963). Hans A. N e u n z i g (Hg.), Hans Wemer Richter u. die Gruppe 47 (1979) S. 179-245 passim. Wolf B i e r m a n n , Für meine Genossen (1972; Quarthefte 62). Ders., Verdrehte Welt - das seh ich gerne (1982).

Ins Denneler Wiegendrucke § 1. Begriff und Worterklärung. Unter W.n (oder Inkunabeln) versteht man die mit beweglichen Metalltypen hergestellten Drucke des 15. Jh.s, beginnend mit Gutenbergs Erfindung, endigend mit der Wende d. J. 1500. Das konnten sowohl Einblattdrucke (s. d.) wie umfangreiche Bücher sein; Blockbücher (s. d.) dagegen zählen nicht zu den W.n. Da das Jahr 1500 in den einzelnen Druckorten zu verschiedenen Terminen endete, ist der in dem jeweiligen Druckort gültige Termin des Jahreswechsels bestimmend. Um 1500 herrschte als Jahresbeginn in Deutschland der 25. Dezember vor, in Frankreich und den Niederlanden Ostern, in England der 25. März (Annuntiationsstil), in Venedig galt (bis 1797) der 1. März als Jahresanfang (mos Venetus) usf. Die Drucke, die nach der in den einzelnen Druckorten bestehenden Zeitrechnung vor Beginn d.J. 1501 hergestellt worden sind, gelten als W., auch wenn sie nach dem Circumcisionsstil (1. Januar) bereits d.J. 1501 angehören. Auf diese Grenzziehung zwischen W.n und Postinkunabeln hat man sich seit langem aus Zweckmäßigkeitsgründen geeinigt. Vom Inhalt der Bücher her bilden d.J. 1500/01 keine Scheidegrenze; doch brachte Aldus Manutius in Venedig seit 1501 Klassikertexte in Form von eleganten, leichten ,Taschenbüchern' in einer Type, der Antiquakursive, heraus, deren Formgebung aus humanist. Gesinnung entstanden war und die eine neue Epoche der Buchgestaltung einleiteten.

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Wiegendrucke

Das Wort incunabula (im lat. neutr. plur.) wurde zuerst von den Bibliographen des 17.Jh.s gebraucht: Incunabula typographiae = Wiege(nzeitalter) des Typendrucks; Bernhard von Mallinckrodt (1640) und Philippe Labbe (1653) verwandten diese Wortverbindung inmitten ihres Textes, in den Titel übernommen hat sie zuerst Cornelius van Beughem (1688): „Incunabula typographiae sive catalogus librorum scriptorumque proximis ab inventione typographiae annis usque ad annum 1500 inclusive, in quavis lingua editorum." Seit dem Ende des 18. Jh.s wurde das Wort incunabula auf die Objekte selbst übertragen, so bei Johann Ferdinand Roth (Gemeinnütziges Lexikon für Leser aller Klaßen, besonders für Unstudierte. Neue verb. u. verm. Aufl. Nürnberg 1791, S. 466): „Incunabeln, die ersten Bücher, welche nach der Erfindung der Buchdruckerkunst gedruckt worden sind." In diesem Sinne schrieb Johann Andreas Schmeller 1817/19 mehrfach an Franz Hoheneicher von „das Incunabel", Goethe am 14. November 1824 an Großherzog Karl August von „die Incunabeln"; später wurde das Wort im Dt. als „die Inkunabel" zu einem femin. sing. Um die Mitte des 19. Jh.s oder kurz davor kam die Verdeutschung ,Wiegendruck' auf, die im Laufe des Jh.s an Boden gewann. Als 1904 die „Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke" gegründet wurde, wählte man den Ausdruck ,Wiegendrucke' bewußt: „Das Wort Inkunabel verwendet man seit langem auch für die Anfangserzeugnisse anderer graphischer Künste; man spricht von Inkunabeln des Kupferstichs, der Radierung, der Lithographie, während Wiegendruck nur ein frühes Produkt der Buchdruckerkunst bezeichnen kann" (v. Rath, 1925, S. 265). Erich v. R a t h , Vorläufer d. Gesamtkat. d. Wiegendrucke, in: Werden u. Wirken. E. Festgruß Karl W. Hiersemann zugesandt (1924) S. 2 8 8 - 3 0 5 . Konrad H a e b l e r , Handbuch d. Inkunabelkunde (1925) S. 1 ff. Gesamtkat. d. Wiegendrucke (abgekürzt: G W ) Bd. 1 (1925) S. X l f f . E. v. R a t h , Bedeutung u. Wert d. W. Monatshefte f. Bücherfreunde u. Graphiksammler 1 (1925) S. 2 6 5 - 6 7 . Ders., Zur Bedeutung d. Wortes Inkunabel (Wiegendruck) u. d. Zeitgrenze 1500, in: Konrad H a e b l e r , Frühdrucke aus d. Bücherei Victor v. Klemperer (1927) S. 2 1 - 2 7 . Kurt O h l y , Die Inkunabelverz.e Bernhards v. Mallinckrodt, in: Westfälische Studien. Alois Börner z. 60. Geb. gewidmet (1928) S. 3 7 - 6 2 .

Johannes M a n t e y , Wiegendruck. (1960) Sp. 1548 f.

D W b . 14, I 2

§ 2. Erfindung. Als Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Metalltypen ist Johannes Gutenberg anzusehen (geb. in den letzten Jahren des 14. Jh.s in Mainz, dort kurz vor dem 26. Februar 1468 gest.). Offenbar haben sich auch andere in dieser Zeit mit gleichen oder ähnlichen Versuchen abgegeben (Laurens Janszoon Coster in Haarlem, Prokop Valdfoghel in Avignon), doch hat sich ein Erfolg ihrer Tätigkeit nicht nachweisen lassen. Gutenbergs Erfindung beruht auf dem genialen Zusammendenken technischer Möglichkeiten, die zu seiner Zeit bestanden; als Kern seiner Erfindung gilt das Handgießinstrument, mit dem er einen unbegrenzten Vorrat an identischen Einzellettern herzustellen vermochte. Seiner vollkommen entwickelten Leistung muß eine Zeit unausgesetzten Experimentierens (Metallegierung, geeignete Flüssigkeit der Druckerfarbe, Rotdruck, Initialen u. a.) vorangegangen sein, die noch nicht abgeschlossen war, als er seinen großen Druck, eine 42zeilige lat. Bibel (B 42, GW 4201) durchführte (etwa 1452—1456); nach einer wohlbegründeten Hypothese hatte er zunächst den Druck eines Missale geplant. Die B 42 trägt kein Impressum, doch kommt nach allem, was wir wissen, ein anderer Drucker als Gutenberg dafür nicht in Betracht. Kleinere Drucke Gutenbergs waren der B 42 vorangegangen oder standen daneben (Donatausgaben, ein dt. Sibyllenbuch, ein Türkenkalender vom Dezember 1454, Quittungsformulare für Ablässe mit Ausfertigungsdaten von 1454/55 u. a.); der sog. Astronomische Kalender auf das Jahr 1448 ist jedoch nicht Ende 1447, sondern über zehn Jahre später und auch nicht von Gutenberg gedruckt worden. Gutenbergs Urheberschaft an anderen größeren Druckwerken ist umstritten. Viele Fragen der Erfindung sind offen und werden es auch bleiben. Da es für Erfindungen in Gutenbergs Zeit keinen Rechtsschutz gab, war die einzige Möglichkeit gegen vorzeitiges Bekanntwerden einer Erfindung die Wahrung des Werkstattgeheimnisses. Es wurde auch im Falle Gutenbergs von allen Beteiligten so vollkommen gewahrt, daß hinter dieser Mauer vieles bis heute verborgen geblieben ist. Wenn eine Erfindung in drei Phasen abläuft — der Idee, der Verwirklichung dieser Idee, der wirtschaftlichen Nutzbarmachung —, so hat

Wiegendrucke Gutenberg die ersten beiden Phasen gültig gelöst, an der dritten ist er gescheitert. Es kam mit seinem Geldgeber Johann Fust (1455/56) zu einem Prozeß, den Gutenberg nach allgemeiner Auffassung verlor. Seine Werkstatt löste sich auf und wurde in Mainz von Fust gemeinsam mit Gutenbergs ,Gesellen' Peter Schöffer, der Fusts Tochter heiratete, fortgeführt. Andere Gesellen, so müssen wir annehmen, wanderten aus, und mit ihnen gelangte das Werkstattgeheimnis an weitere Orte. Bereits Ende der 50er Jahre kam es zur Errichtung von Offizinen in Bamberg und Straßburg. Aloys R u p p e l , Job. Gutenberg, s. Leben u. s. Werk (1939; 2. Aufl. 1947; Neudr. 1967). Carl W e h m e r , Mainzer Probedrucke in d. Type d. sog. Astronom. Kalenders für 1448 (1948). Friedrich Adolf S c h m i d t - K ü n s e m ü l l e r , Die Erfindung d. Buchdrucks als techn. Phänomen (1951; Kl. Drucke d. Gutenberg-Ges. 48). Rudolf B l u m , Der Prozess Fust gegen Gutenberg (1954; Beiträge z. Buch- u. Bibliothekswesen 2). Hans L ü l f i n g , Joh. Gutenberg u. d. Buchwesen d. 14. u. Ii. Jh.s (1969). Der gegenwärt. Stand d. Gutenberg-Forschung. Hg. v. Hans W i d m a n n (1972; Bibl. d. Buchwesens 1). Faks.Ausgaben d. 42zeiligen Bibel nach d. Ex. d. Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Berlin: 1) Leipzig, Insel-Verl., 2 Bde (1913/14). Mit Erg. v. Paul S c h w e n k e (1923); 2) München, Idion Verl., 2 Bde (1977/79). Mit Kommentarband, hg. v. Wieland S c h m i d t u. F. A. S c h m i d t - K ü n s e m ü l l e r (1979). Der Türkenkalender, Mainz 1454. Faks.-Ausg. u. Kommentar v. Ferdinand G e l d ner (1975).

§ 3. A u s b r e i t u n g . Der Buchdruck breitete sich verhältnismäßig rasch in Europa aus. Bis zum Ende d. J. 1500 zählt man 255 Orte, in denen gedruckt wurde oder vorübergehend gedruckt worden war (Italien 80 Orte, dt. Sprachgebiet 62, Frankreich und die franz. Schweiz 45, Spanien 24, Niederlande 21, Portugal 5, England 4). In Dänemark, Schweden, Polen, Böhmen, Ungarn sind vereinzelt Drucke hergestellt worden, doch ist es in diesen Ländern erst in späteren Jh.en zu einer Kontinuität des Druckgewerbes gekommen. Haebler hatte geschätzt, daß die Zahl aller Wiegendrucke „etwa an die Zahl 30.000" heranreiche; in annähernder Übereinstimmung mit dieser Angabe rechnet man heute auf Grund der inzwischen erschienenen Kataloge mit etwa 27.000 Wiegendruck-Ausgaben. Von

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diesen Ausgaben entfallen auf die einzelnen Länder: dt. Sprachgebiet 37%, Italien 36%, Frankreich und die französische Schweiz 17%, Niederlande 6%, Iberische Halbinsel 3%, England 1%. Fast im gesamten Ausland errichteten dt. Buchdrucker die ersten Offizinen (in Italien 1464, in Frankreich 1470, auf der Iber. Halbinsel 1473, vielleicht auch in den Niederlanden seit 1473), doch ging die Führung im Druckgewerbe sehr bald an einheimische Offizinen über. Der Ort mit der größten Anzahl von Druckwerkstätten war Venedig; andere ital. Städte folgten mit Abstand (Venedig 286 Drucker, Mailand 89, Rom und Bologna je 58, Neapel 46, Florenz 40 usw.). Alle Zahlen (zumeist Geldner entnommen) sind mit gebotener Zurückhaltung anzusehen, da sich kleine Verschiebungen stets ergeben können. Die Größenordnung der mitgeteilten Zahlen besagt jedoch nicht, daß alle Druckereien von gleicher Leistungsfähigkeit gewesen wären. Es gab Groß- und Kleinbetriebe, Druckherren und Winkeldrucker und eine nicht geringe Anzahl von Wanderdruckern, die, meist kurzfristig, bald hier, bald dort tätig waren. Das Buchdruckgewerbe gehört in die Zeit des Frühkapitalismus. Alle bedeutenden Drucker waren in großen Handelsstädten ansässig und brachten es dann auch da zu blühenden Betrieben. In Deutschland waren es die Städte im Süden des Reiches (Nürnberg, Augsburg, Ulm) und die entlang des Rheines (Basel, Straßburg, Köln) sowie die Hansestädte Lübeck und Rostock; auch Leipzig spielte am Ende des Jh.s als Handels- und Universitätsstadt eine nicht unerhebliche Rolle. Der Buchdruck d. Ii. Jh.s. E. bibliogr. Übersicht. Hg. v. d. Wiegendruck-Ges. 1929/36. (Neubearb. von Severin Corsten, Reimar W. Fuchs, Kurt-Hans Staub in Vorbereitung.) Erich v. R a t h u. Rudolf J u c h h o f f , Buchdruck u. Buchillustration bis z. Jahre 1600, in: Handbuch d. Bibliothekswissenschaft. 2. Aufl. Bd. 1 (1952) S. 430-479. Ferdinand G e l d n e r , Die dt. Inkunabeldrucker. Bd. 1: Das dt. Sprachgebiet (1968); Bd. 2: Die fremden Sprachgebiete (1970). Karl D a c h s u. W. S c h m i d t , Wieviele Inkunabelausgaben gibt es wirklich? Bibliotheksforum Bayern 2 (1974) S. 8 3 - 9 5 . Ferdinand G e l d n e r , Inkunabelkunde. E. Einfi in d. Welt d. frühesten Buchdrucks (1978; Elemente d. Buch- u. Bibliothekswesens. 5.) [Mit reichhaltigen Einzelbelegen, stets heranzuziehen.] Joh. Gutenbergs 42zeil. Bibel. Faks.-Ausg. München: Idion Verl. 1977/ 79. Interimstext 8.

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Wiegendrucke

§ 4. Druckgewerbe. Gedruckte Bücher waren die ersten kontinuierlich hergestellten Massenprodukte, die infolgedessen auch einen kontinuierlichen Absatz notwendig machten. Es hat unterschiedlich lange gedauert, bis das Gewerbe aller wirtschaftlichen Gesetze, die für einen Handel mit Massenprodukten im Gegensatz zu Einzelprodukten gelten, Herr geworden war und die entsprechenden Organisationsformen dafür gefunden hatte. Wie bei Gutenberg lagen im 15.Jh. weitgehend Schriftguß, Druck, Verlag, Absatz in einer Hand, Spezialisierungen traten erst allmählich ein; nur der Einband blieb, jedenfalls überwiegend, dem Käufer überlassen. Bei der Typographie, d. h. bei den dem Stilempfinden der Spätgotik oder des Humanismus entsprechenden Formen der Einzelbuchstaben nahmen sich die Drucker vielfach die Formgestaltung in den Hss. ihrer örtlichen Region zu Vorbildern. Jeder Drucker benutzte seine eigenen Typen und auch diese oft nur eine begrenzte Zeit, um dann zu neuen Alphabetgestaltungen überzugehen. Dieser überquellende, finanziell sehr kostspielige Aufwand mußte, etwa seit dem letzten Jahrzehnt des 15. Jh.s, der Normierung weichen, da Normierung eines der Gesetze für Massenprodukte ist. Antiqua- und Frakturformen bildeten sich im 16. Jh. zu solchen Nonnschriften heraus. — Für den Buchschmuck hatte sich sehr bald der Holzschnitt als geeignet erwiesen, da er, wie der Typendruck, ein Hochdruckverfahren war, und nach Uberwindung anfänglicher Schwierigkeiten beides in einem Arbeitsgang hergestellt werden konnte. Der Holzschnitt diente zur Dekoration (Randleisten, Initialen) wie zur Illustrierung der Buchinhalte. Als erster verwandte ihn Albrecht Pfister in Bamberg seit 1461 (Boners Edelstein mit 101 Holzschnitten, GW 4839). Der Holzschnitt hat in den W.n eine reiche, oft sprunghafte Entfaltung gefunden und entwickelte sich von reinen Umrißzeichnungen, die noch meist mit Wasserfarben laviert wurden, bis zu selbständigen Kunstwerken am Ende des 15. Jh.s, in Dürers Apokalypse von 1498 und in der Hypnerotomachia Poliphili (Hain 5501), die Aldus Manutius im Dezember 1499 druckte. — Die Auflagenhöhe unterlag, wie heute, der Schätzung des Druckerverlegers. Man nimmt an, daß Gutenberg die B 42 in vielleicht 180 Exemplaren hergestellt hat. Sweynheym und Pannartz gaben 1472 für die

von ihnen seit 1465 in Subiaco und Rom gedruckten Werke humanist. und theolog. Lit. eine Auflagenhöhe von jeweils 275 oder 300 Exemplaren an. Gegen Ende des Jh.s können gängige Werke eine Auflage von 1.000 Exemplaren, nur vereinzelt darüber hinausgehend, erreicht haben. Im Durchschnitt wird man mit 400 bis allenfalls 600 Exemplaren je Auflage rechnen dürfen. Bei 27.000 in Europa hergestellten Wiegendrucken ergeben sich bei 500 Exemplaren je Auflage insgesamt 13 V2 Millionen Einzelexemplare. — Der Absatz wurde daher zum wirtschaftlich entscheidenden Problem des jungen Gewerbes. Der Bedarf am Druckort selbst reichte bei weitem nicht aus, um alles aufzunehmen. Von Ort zu Ort reisende Buchführer (Verkäufer) und andere Selbsthilfen waren Notbehelfe der Frühzeit. Nur wenige kapitalkräftige Unternehmer gingen eigene Wege, indem sie ihre anfänglichen Druckereien abbauten, fast nur noch anderen Druckereien Aufträge erteilten und sich ihrerseits ganz auf Verlag und Verkauf umstellten. Unter diesen ragte Anton Koberger (um 1440—1513) in Nürnberg hervor. Er versuchte, den , Welthandel' in seine Hand zu bekommen, indem er außer in Deutschland Verkaufsstellen in Italien, Frankreich und dem Osten bis Krakau und Ofen unterhielt. Für die Mehrzahl der Drucker war dieser Weg nicht gangbar. Sie suchten, um ihren Absatz zu sichern, die Messplätze auf, auf denen zu bestimmten Terminen Waren aller Art aus Europa gehandelt wurden. Unter diesen Messplätzen erwies sich Frankfurt am Main auf Grund der Handelswege im westlichen Europa als zentral gelegen und für die Bedürfnisse des Buchhandels als so geeignet, daß die jährlichen, später auch halbjährlichen Frankfurter Messen seit Beginn des 16. Jh.s der Hauptverkaufsplatz für Neuerscheinungen des Buchhandels wurden. Der harte Konkurrenzkampf gegenüber Leipzig setzte erst im weiteren Verlauf des 16. Jh.s ein. Doch blieben die Messen die zweckmäßige Organisationsform für den buchhändlerischen Absatz auf Jahrhunderte hinaus. — Uber die Verkaufspreise der Bücher läßt sich etwas Allgemeingültiges nicht sagen, doch waren sie billiger, im weiteren Verlauf sogar wesentlich billiger als die entsprechenden Texte in hsl. Büchern. Zusammenstellungen von Einzelnachrichten über Preise finden sich in den Handbüchern von Haebler (S. 149—57) und Geldner (S. 170-80).

Wiegendrucke Veröffentlichungen d. Ges. f. Typenkunde d. 15. Jh.s (1907-39). [2460 Tafeln in Einzelbll.; Abb. der von d. europ. Druckern gebrauchten Typenalphabete u. vielfach Beispiele e. Druckseite; 1939 zwangsläufig abgebrochen.] Dt. Buchdruck im Jh. Gutenbergs. Hg. v. d. Preuß. Staatsbibl. u. v. d. Ges. f. Typenkunde d. 15. Jh.s/ Wiegendruckges. Bearb. v. Kurt Ohly, Erich v. Rath, Carl Wehmer (1940) [100 Abb. m. Erläuterungen]; u. d. T. Dt. Buchdrucker d. li.Jh.s neu bearb. v. C. Wehmer (1971). Albert Schramm u.a., Der Bilderschmuck d. Frühdrucke. Ii Bde (1920-43). [Abb.-Werk d. dt. Buchholzschnitte; 1943 zwangsläufig abgebrochen; Nachdr. seit 1981 im Erscheinen.] § 5. T e x t e . Bei der Wahl der Texte, die den Inkunabeldruckern für ihre Zwecke zur Verfügung standen, schlössen sie unmittelbar an das Schriftgut an, das zu ihrer Zeit in Form von hsl. Büchern verbreitet war und gelesen wurde. Da es ein Urheberschutzgesetz vor dem 19. J h . (außer regional begrenzten Privilegien) nicht gab, konnten alle schriftlich vorliegenden Texte gedruckt werden, sowohl die des M A . s wie die des Altertums. Wohl konnte ein Auftraggeber den Druck eines Werkes zu einem besonderen Zweck veranlassen (wie z. B . bei den Liturgica oder bei einem nicht geringen Teil der Einblattdrucke), im allgemeinen aber wählten die Druckerverleger auf ihr eigenes Risiko Werke aus, bei denen sie mit Absatz rechnen konnten. Der editio princeps, dem Erstdruck eines literar. Werkes, folgten dann, wenn der Absatz günstig war, Nachdrucke bis zur Sättigung des Marktes, gelegentlich auch bis zur Ubersättigung. Bereits die B 42 wurde wenige Jahre später (um 1459/60, wahrscheinlich in Bamberg) nachgedruckt (B 36, G W 4202); es folgten bis zum Ende des 15. J h . s 79 weitere Nachdrucke der Biblia latina ( G W 4 2 0 3 - 4 2 8 1 ) , wobei die mit Kommentaren nicht mitgezählt sind. Von den Einzelschriften des Cicero (und des Pseudo-Cicero) erschienen 333 Erstausgaben und Nachdrucke ( G W 6 7 0 9 - 7041). Von der kleinen lat. Schulgrammatik Ars minor des Donat liegen 356 Druckausgaben des 15. J h . s vor ( G W 8 6 7 4 - 9 0 2 9 ) . Für die dt.sprachige Lit. gilt das gleiche. Die Reihe der editiones principes dt. Lit.werke eröffnete der Ackermann aus Böhmen, gedruckt bei Albrecht Pfister in Bamberg um 1460 ( G W 193), der ihn um 1463 noch einmal herausbrachte ( G W 194); von 1473 bis 1500 folgten neun Nachdrucke durch

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andere ( G W 1 9 5 - 2 0 3 ) . Das in weit über 100 Hss. verbreitete Erbauungsbuch Die 24 Alten Ottos von Passau erschien von 1480 bis 1500 in acht W . n . In all diesen Fällen ging der Drucklegung eines Werkes eine breite hsl. Uberlieferung voraus. Dagegen hat die Lit., die nicht mehr lebendig war, auch kaum Niederschlag in den W . n . gefunden. Das gilt z. B . für nahezu die gesamte mhd. Lit., für die Burdach eine Geschmacksscheide zwischen 1440/60 beobachtet hat (Konrad Burdach, Vorspiel, Bd. I, 2, 1925, S. 90). Eine Ausnahme bilden der Jüngere Titurel (Hain 6683) und Wolframs Parzival (Hain 6684), die J o hannes Mentelin in Straßburg 1477 druckte, vielleicht auf Anregung des Straßburger Bischofs Ruppert von Pfalz-Simmern. Dagegen war die Ausgabe der Opera Hrotsviths von Gandersheim durch Conrad Celtis (Nürnberg: Drucker für die Sodalitas Celtica 1501) ein wiss. Unternehmen, das nicht aus lebendig gebliebener Uberlieferung hervorgegangen war. „Eine Produktion von Romanen f ü r den Buchdruck erfolgte möglicherweise zuerst bei der einen oder anderen der Prosabearbeitungen mhd. Romane, mit Sicherheit aber gegen Ende des 15. J h . s durch Ubersetzung franz. R o mane, die wahrscheinlich als .moderner' empfunden wurden" ( H . J . Kreutzer, S. A 46). Am Beispiel des Ulmer Buchdrucks hat Peter Amelung zum erstenmal den Versuch unternommen, die druckgeschichtlichen, wirtschaftlichen und literargeschichtlichen Voraussetzungen der Buchproduktion einer Stadt zu einer Einheit zu verbinden und damit zu einer lit.kritischen Analyse vorzudringen. Heranzuziehen sind vor allem die lit.statist. Einleitungen des BMC = Catalogue of Books printed in the XVth Century now in the British Museum. P. I - X f f . London 1908-71 ff. - Einblattdrucke d. 15.Jh.s. E. bihliogr. Wen. Hg. v. d. Komm, für d. GW. (1914; Samml. bibl.wiss. Arbeiten. 35/36). Peter Amelung, Der Frühdruck im dt. Südwesten, 1473—1500. E. Ausstellung d. Württ. Landesbibl. Stuttgart. Bd. 1: Ulm (1979). Peter Jörg Becker, Hss. u. Frühdrucke mhd. Epen. Eneide, Tristrant, Tristan, lwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied u. ihre Reproduktion u. Rezeption im späten MA. u. in der frühen Neuzeit (1977). Hans Joachim Kreutzer, Buchmarkt u. Roman in d. Frühdruckzeit. Börsenblatt f. d. Dt. Buchhandel (Frankf. Ausg.) Nr. 17 v. 26. Febr. 1982, S.A 41—49; vgl. bes. die Chronologie d. Romane im Frühdruck S.A 43.

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§ 6. A u t o r e n . In dieses Reservoir überlieferter und bereitstehender Texte drangen allmählich die Schriften lebender Autoren ein, die fortan nicht mehr hsl., sondern sogleich im Druck verbreitet wurden. Für diesen Ubergang liegen noch keine Untersuchungen vor; er ist, anfangs wohl zögernd, dann aber unaufhaltsam vor sich gegangen. Einer der ersten, wenn nicht überhaupt der erste dieser Autoren ist der Kardinal Johannes de T u r r e c r e m a t a (1388—1468) gewesen, der die Drucklegung seiner Meditationes seu contemplationes de vita Christi (Hain 15722) durch Ulrich Han in Rom mit größtem Eifer betrieb; sie erschienen möglicherweise bereits am 31. Dezember 1466 (nicht erst 1467), wie Geldner wahrscheinlich gemacht hat. In Deutschland steht wohl der Humanist Albrecht von E y b (1420—1475) an der Spitze der Autoren, die sich zur Verbreitung ihrer Werke sogleich des Druckes bedient haben. Sein dem Rat der Stadt Nürnberg am 1. Januar 1472 hsl. gewidmetes Ehebüchlein erschien am 16. Oktober 1472 bei Anton Koberger im Druck ( G W 9520); es folgten bis zum Ende des J h . s acht Nachdrucke ( G W 9 5 2 1 - 9 5 2 8 ) . Es liegt nahe, daß E y b auch seine bereits 1459 abgeschlossene Margarita poetica, ein humanist. Stilmusterbuch, gleichzeitig mit dem Ehebüchlein zum Druck beförderte; die editio princeps erschien am 2. Dezember 1472 bei Johann Sensenschmidt in Nürnberg ( G W 9529), acht vollständige und vier Teilausgaben schlössen sich an ( G W 9 5 3 0 - 9 5 4 1 ) . Im Laufe des folgenden Jahrzehnts mögen die Autoren den entscheidenden Wechsel zu einer Publikationsform im Druck allgemeiner vollzogen haben. Ein Gelehrter und Publizist wie Sebastian B r a n t (1458—1521) ist bereits mit dem Buchdruck in Basel großgeworden, der seine literar. Entwicklung entscheidend bestimmt hat. Ferdinand Geldner, Ulrich Han u. Sixtus Rießinger im ältesten röm. Buchdruck. Archiv f. Gesch. d. Buchwesens 10 (1970) Sp. 1003-1008. Einleitung zu: Seb. Brant, Narrenschiff. Hg. v. Friedrich Zarncke (1854) S. XXVIff. § 7. L e s e r . Wenn mit der steigenden Zunahme der Produktion gedruckter Bücher der Absatz und die Organisation des Absatzes zu einer zwingenden Frage des jungen Buchgewerbes wurde, so war das ein wirtschaftliches Problem: es sollten alle oder doch möglichst viele Käufer erreicht werden, bei denen Kauf-

kraft und Kaufwilligkeit vorausgesetzt werden konnten. Es war indes kein Problem des Lesevermögens der Käufer. Während der frühen und hohen J h . e des MA.s besaßen dieses Vermögen nur die Vertreter der Kirche und der Regierungskanzleien. Es ist bildungsmäßig der große Vorgang der Jh.e des ausgehenden M A . s gewesen, daß der Laie nicht mehr in der Sprechkultur als der alleinigen Vermittlerin geistiger Inhalte verharrte, sondern zur Schriftkultur überging, sich vom O h r auf das Auge umstellte, das Auge zum Begreifen geistiger Inhalte erzog und gewöhnte. Dieser einschneidende Vorgang vollzog sich in Etappen. Seit der zweiten H . d. 12. Jh.s war es mit der Gründung von Universitäten als säkularer Ausbildungsstätten der sich entwickelnde Laienstand der Gelehrten, der als erster das Lesen übte. Seit dem anhebenden 14. J h . ergriff diese Bewegung den Adel und das städtische Bürgertum. Für den ungelehrten Laien waren in dieser Hinsicht das 14. bis 16. J h . pädagogische Saecula sondergleichen. Vieles mußte sich diesem vorrangigen Bemühen unterordnen. Die massenhaft erhaltenen Hss., namentlich die in den Volkssprachen, sind Zeugnisse dieses Lerneifers. Als Gutenberg seine Kunst einer neuen Vervielfältigung erfand, stehen wir mitten in dieser Entwicklung. Ihm und seinen Nachfolgern standen gelehrte und ungelehrte Käuferschichten in genügender Anzahl zur Verfügung. Zu den Bauern und in die Dörfer ist diese Bewegung damals noch nicht gedrungen. Hier müssen wir immer noch die Aufnahme mit dem O h r durch Vorlesen voraussetzen. Die Zentren sind die Städte gewesen in allen Schichten ihrer Bevölkerung, und auf sie gründete sich auch der Buchhandel. W. Schmidt, Vom Lesen u. Schreiben im späten MA., in: Festschrift für Ingeborg Schröbler z. 65. Geb. (1973; PBB. [Tüb.] 95, Sonderh.) S. 309-327. § 8. S c h n e l l e B e r i c h t e r s t a t t u n g . Der Buchdruck hat sofort eine dem Buch von jeher immanente Eigenschaft mit voller Deutlichkeit in Erscheinung treten lassen. Jedes Buch, in welcher Form es auch immer vervielfältigt wird, will eine Wirkung ausüben, will durch seinen Inhalt den Leser beeinflussen: wir nennen es die demagogische Eigenschaft des Buches. Unmittelbar nach Erfindung des Buchdrucks hat diese allgemeine Eigenschaft des Buches eine besondere neue Lit.form her-

Wiegendrucke vorgebracht, die man unter dem Sammelnamen .Flugschrift* (s. d.) zusammenfaßt: libelli in vulgus emissi (Jacob Grimm). Das können sowohl Einblattdrucke (s. d.) wie Broschüren kleinen und kleinsten Umfangs sein, oft mit einem sinnfälligen Holzschnitt versehen; eine Norm für die äußere Form läßt sich nicht aufstellen. Zweck dieser Flugschriften war stets eine sofortige oder doch möglichst schnelle Unterrichtung des Publikums über Vorgänge des öffentlichen Lebens. Die frühesten Veröffentlichungen dieser Art waren die Einblattdrucke, die sich auf die Kämpfe zwischen Adolf von Nassau und Diether von Isenburg um die Besetzung des Erzbistums Mainz 1461/63 bezogen (GW 225 u. 8338/39); bei diesen Kämpfen wurde am 28./29. Oktober 1462 ganz Mainz in Schutt und Asche gelegt. Fust und Schöffer hatten sie gedruckt, sie hatten auch 1461 sechs Breve und Bullen des Papstes Pius II. in dieser Angelegenheit auf den Markt gebracht, der Absatz dürfte .reißend' gewesen sein. Erlasse der Regierungen — der Kaiser, der Fürsten, der Päpste, der Städte — wurden in dieser Form bekanntgegeben. Die Kriege, vor allem die gegen die Türken, nahmen einen breiten Raum ein: Aufgebot, Kriegssteuern, Schlachtenschilderungen, Friedensschlüsse. Der erste Lokalreporter, Sebastian Brant, berichtete von lokalen Geschehnissen am Oberrhein: Der Donnerstein bei Ensisheim (GW 5020/23), Von der zwiefältigen Gans und den sechsfüßigen Ferkeln zu Gugenheim (GW 5036/37), Von der wunderbaren Geburt des Kindes bei Worms (GW 5029/32; s.a. Schramm, Bilderschmuck 22, Abb. 1249ff.). Alle diese auf schnelle Unterrichtung der Öffentlichkeit abgestellten Nachrichten lebenswichtiger oder spektakulärer Art sind V o r b o t e n der am Anfang des 17. Jh.s aufkommenden Z e i t u n g e n (s. Zeitung u. Zeitschrift). Diese Vorboten bezogen sich allerdings stets nur auf ein einzelnes Ereignis, den späteren Zeitungen gegenüber fehlten ihnen noch eine Zusammenfassung mehrerer oder vieler Einzelnachrichten und eine periodisch-regelmäßige Erscheinungsweise in kurzen Fristen. Aber auch im 15. und 16. Jh. wollte das Publikum so schnell wie möglich über Geschehnisse der näheren Umgebung oder der fernen Welt unterrichtet sein, und die Buchdrucker kamen diesem Bedürfnis mit aller Kraft nach. Die Entdeckung der „Inseln des Landes Indien" durch Columbus wurde

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zwischen 1493 und 1497 in einer Broschüre von vier Blatt neunmal in den europäischen Ländern gedruckt (GW 7171/79), von Giuliano Dati in Verse gebracht und 1493/95 fünfmal in Italien gedruckt (GW 7999-8003). Die demagogische Eigenschaft des Buches trat, erstmals mit voller Schärfe, bei dem Druck der sozialreformerischen Predigten Savonarolas (1452—1498) in Erscheinung; sie erschienen zwischen 1492 und 1498 in Florenz in mehr als 150 Einzelausgaben. Der Buchdruck begann, die .Welt' umzugestalten und ihr ein neues Gesicht zu geben. W. Schmidt, Die Anfänge: 15. u. 16. Jh., in: Handbuch d. Publizistik. Hg. v. Emil Dovifat. Bd. 3,2 (1969) S. 63 - 75. § 9 . H a n d s c h r i f t e n und D r u c k e . Die Hss. als Objekte der Überlieferung von Texten sind durch den Buchdruck nicht sofort, gewissermaßen ruckartig, abgelöst worden. Codices manuscripti und codices impressi liefen zunächst nebeneinander her. Eine Wende mag etwa um 1480 eingetreten sein: seitdem übernahmen die codices impressi mehr und mehr die Führung für die Verbreitung von Texten. Die Geltung der codices manuscripti war aber noch keineswegs beendet. Die bibliophilen Käuferfürsten des Hss.-Händlers Vespasiano da Bisticci (1421 — 1498) in Florenz lehnten bis zu dessen Tod einen Erwerb der .plebejischen' codices impressi ab. Erst die Hypnerotomachia des Aldus Manutius (1499). erst seine .Taschenbücher' (seit 1501) verschafften den codices impressi auch in diesen Kreisen Eingang. Der Text des Gebetbuches Kaiser Maximilians I. (1459—1519) wurde 1513 zwar gedruckt, aber die roten Zeilen- und Seitenumrandungen, die Ausschmückung sollten eine Hs. vortäuschen. Noch bis um die Mitte des 16. Jh.s wurden in entlegeneren Gebieten Texte, auch umfangreiche, abgeschrieben. Des grundsätzlichen Unterschiedes der codices manuscripti und der codices impressi für die textliche Überlieferung ist man sich erst im dritten Viertel des 16. Jh.s bewußt geworden. Konrad Gesner (1516—1565) zog für seine Bibliotheca universalis (Zürich 1545—1555), eine Bibliographie der gelehrten Weltliteratur, Hss. und Drucke noch gleichwertig als Textzeugnisse heran. 1575 gab der als Graecist berühmte Hieronymus Wolf (1516-1580) den ersten Hss.-Katalog heraus, ein Verzeichnis der griech. Hss. der Stadtbibliothek Augsburg. Hier zuerst

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wurden die codices manuscripti als frühere Buchgattung besonderer Prägung behandelt. Die Grenzlinie läuft zwischen Gesner und Wolf. Auch nach dieser Zeit hat es noch BuchHss. gegeben (Städtechroniken, Niederschriften aus den Geheimwissenschaften u.a.), die jedoch nicht für eine Verbreitung in der Öffentlichkeit bestimmt waren. Die hsl. Aufzeichnung galt fortan vorwiegend der Vorbereitung und Herstellung von Manuskripten, die gedruckt werden sollten; sie wurden, sofern sie nach erfolgter Drucklegung nicht vernichtet wurden, ebenso wie die in neueren Jh.en anschwellende Flut der Briefe (s.d.) zu Zeugnissen aus der privaten Sphäre ihrer Urheber (s. Handschriften), sie besaßen primär nicht mehr den Wert von ,Büchern' selbst. Außer dieser zeitlichen Abgrenzung sind aber Hss. und Drucke in anderer Hinsicht tiefgreifend verschieden. Wenn codices manuscripti ebenso wie codices impressi gleichermaßen der Verbreitung von Textinhalten gedient haben und dienen, so besteht der wesentliche Unterschied zwischen beiden Vervielfältigungsarten in der größeren T e x t s i c h e r h e i t der codices impressi. Erst die mechanische Vervielfältigung des Druckens hat das Buch seinem Wesen nach vollkommener gemacht. Bei der Wiedergabe von Texten machten die Schreiber beim Abschreiben, machen die Setzer beim Drucken prinzipiell die gleichen F e h l e r . Die Fehler können bei beiden Vervielfältigungsarten durch Korrigieren beseitigt werden. Während jedoch beim Abschreiben jeweils nur ein neues Exemplar entstand und die Mühe des Korrekturlesens daher nur einem Exemplar zugute kam, entsteht durch den Arbeitsgang des Druckens eine Auflage, d.h. eine theoretisch unbegrenzte Anzahl identischer Exemplare. Das Korrekturlesen im Zeitalter der codices manuscripti hat starken Schwankungen unterlegen und ist vielfach ganz unterblieben; die Klagen der Leser über inkorrekte Exemplare sind nie verstummt. Von mal. Autoren eigenhändig korrigierte Exemplare ihrer Werke oder gar autographe Niederschriften sind nicht ganz selten, zählen aber in jedem Falle zu den Ausnahmen — von Otfrieds Evangelienbuch (im Codex Vindobonensis) an über Ruodlieb und Rulman Merswin bis zu Wittenweiler hin; über die Autographe lat. Schriftsteller des MA.s hat Paul Lehmann eine Ubersicht geboten ( E r f o r -

schung d. MA.s, 1941, S. 3 5 9 - 3 8 1 ) . Die Masse der Lit. jedoch liegt nur in mehr oder weniger korrumpierten Hss. vor. Demgegenüber gehörte das K o r r e k t u r l e s e n vom Beginn an zu den eingeplanten Arbeitsgängen der Drucker, weil das Korrigieren nunmehr in allen Exemplaren einer Auflage seinen Niederschlag fand und sich ungleich stärker rentierte als bei einem codex manuscriptus. Die Druckerverleger wissenschaftlicher Werke und Ausgaben wandten die größte Sorgfalt auf einwandfreie Texte ihrer Bücher auf, sie besorgten sich die beste ihnen erreichbare hsl. Vorlage und beschäftigten wissenschaftliche ,Lektoren' für die Überwachung ihrer Drucke. Bereits die B 42 ist nahezu druckfehlerfrei und bildete für etwa 140 Jahre die Grundlage aller Nachdrucke der lat. Bibel. Ähnliches hatte es zuvor noch nie gegeben. Die Zeitgenossen, z . B . Nicolaus Cusanus (1401 — 1464), hatten dies sofort erkannt. Das Pensum, das die Drucker auch in dieser Hinsicht zu bewältigen hatten, führte noch nicht in allen Fällen sofort zu perfekten Lösungen. Das Problem der sog. D o p p e l drucke tauchte im 15. und 16. Jh., aber auch noch in der Zeit der dt. Klassiker, immer wieder auf. Unter Doppeldrucken (Zwitterdrukken) versteht man Abweichungen im Satz der Exemplare einer sonst identischen Auflage. Die B 42 ist z. B. ein solcher Doppeldruck, der erste der Weltliteratur, zu erklären wahrscheinlich durch eine Erhöhung der Zahl der Exemplare dieser Auflage während des Druckvorganges, was für die bereits ausgedruckten Teile einen nicht völlig identischen Neusatz zur Folge hatte. Derartige Abweichungen sind gerade bei den W.n nicht selten (vgl. z . B . Ackermann aus Böhmen G W 196,196a, 196b). Daß vielbegehrte Lit. von den Nachdruckern oft schnell und schludrig hergestellt wurde, hat seinen Grund in der jetzt möglich gewordenen Schnelligkeit der Verbreitung und gehört in einen anderen Zusammenhang. Trotz dieser Einschränkungen muß die erzielte Korrektheit der Texte und die Identität aller Exemplare einer Auflage als das eigentliche Ergebnis von Gutenbergs Erfindung für alle folgenden Zeiten angesehen werden. Damit begann eine neue Epoche der Textsicherheit und -Verbreitung. Heinrich Schneider, Der Text d. Gutenbergbibel zu ihrem 500jähr. Jubiläum untersucht (1954; Bonner Biblische Beiträge 7). P. Robert

Wiegendrucke W e b e r O . S . B . , Der Text d. Gutenbergbibel u. s. Stellung in d. Gesch. d. Vulgata, in: Job. Gutenbergs 42zeil. Bibel. Kommen tarbd. München: Idion Verl. (1979) S. 1 1 - 3 1 . Wilh. K u r r e l m e y e r , Die Doppeldrucke in ihrer Bedeutung für die Textgesch. v. Wielands Werken (1913; AbhAkBln. Phil.-hist. Kl. 7). Job. Gutenbergs 42zeil. Bibel. Faks.-Ausg. München: Idion Verl. 1977/79. Interimstext 9/10.

§ 10. K a t a l o g i s i e r u n g . Die Bemühungen der Bibliographen richteten sich seit Michael Maittaire (1668—1747) darauf, die Gesamtheit aller Drucke des 15. Jh.s international zu erfassen. Über Michael Denis (1729-1800) und Georg Wolfgang Panzer (1729-1805) hat sich Ludwig Hain (1781 — 1836) in seinem Repertorium bibliographicum (4 Halbbde, 1826— 1838) diesem Ziel am meisten genähert. Hains Repertorium umfaßt 16.299 Nummern, blieb aber in dem postum erschienenen letzten Halbband lückenhaft; es ist bis heute noch nicht ersetzt. Da Titelblätter (s. Titel) sich in den W.n nur äußerst selten finden (s. Geldner S. 107— 112) und erst seit dem 16. Jh. zu einem festen Bestandteil des Buches geworden sind, müssen die einzelnen Textteile (Vorreden, Widmungen, Beigaben, eigtl. Textbeginn usw.) erfaßt werden, um Ausgaben unterscheidbar zu machen. Die große Überlegenheit Hains seinen Vorgängern gegenüber bestand in einer exakten Erfassung dieser Einzelteile sowie in der sorgfältigen Wiedergabe der typographischen Besonderheiten (Abbreviaturen, Zeilenschlüsse usw.). Erst dadurch gelang es ihm, Ausgaben auseinanderzuhalten, die für seine Vorgänger vielfach noch zu einer Einheit verschmolzen waren. Hains literärgeschichtliche Beschreibungsmethode kann als mustergültig angesehen werden. Wie den W.n nahezu durchgehend Titelblätter fehlen, so fehlt einem großen Teil auch ein Impressum (Druckvermerk). Erst im Laufe des 19. Jh.s wandte man sich ernsthaft der Aufgabe zu, die sog. unfirmierten W. durch Typenvergleich mit den firmierten zu bestimmen. Da die Drucker während des 15. Jh.s weitgehend ihre eigenen Typen herstellten und verwandten, erst gegen Ende des Jh.s ein Typenhandel aufkam, war der Gedanke des Typenvergleichs nicht fernliegend. Johan Willem H o l t r o p (1807-1870) hat ihn für die W. der Kgl. Bibl. in Haag 1856 zuerst praktisch erprobt, Robert P r o c t o r (1868-1904) für die

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des British Museum und der Bodleian Library 1898/1903 mit größter Sicherheit angewandt. Was aber diesen Forschern auf Grund ihres individuell-phänomenalen Typengedächtnisses möglich war, hat erst Konrad H a e b l e r (1857—1946) in seinem Typenrepertorium allgemein verwendbar und erlernbar gemacht, indem er eine systemat. Ubersicht über sämtliche Setzerkästen des 15. Jh.s bot. Haeblers Leistung ist durch die jedem Drucker vorausgeschickten Beobachtungen des B M C und durch die Veröffentlichungen der Gesellschaft für Typenkunde des Ii. Jh.s verfeinert worden. Die Frage der unfirmierten W. darf seitdem grundsätzlich als gelöst gelten. Haeblers Typenrepertorium war die Voraussetzung, wenn ein neu zu beginnender Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW) nicht nur quantitativ, sondern auch in der typographisch exakten Erfassung der W. mehr als Hains Repertorium bieten sollte. Durch die Initiative des Preuß. Kultusministeriums trat 1904 eine internationale Kommission für einen solchen G W ins Leben. Zu ihrem Vorsitzenden wurde Haebler berufen (bis 1920, seitdem Erich von Rath) und 1906 eine ständige Arbeitsstelle bei der Kgl. Bibliothek in Berlin eingerichtet (vgl. die Einleitungen zu den einzelnen Bänden des GW). Neben dem Typenrepertorium ist es Haeblers weiterer riesenhafter Arbeitsleistung zu verdanken, daß es ihm und seinen Mitarbeitern binnen weniger Jahre gelang, ein Manuskript für den G W aufzustellen. Bis 1911 waren die Wiegendruck-Bestände von 676 dt. Bibliotheken erfaßt, dann folgten die des Auslands, deren völlige Aufarbeitung infolge der polit. Ereignisse unter einem nicht gleich günstigen Stern standen. Doch konnte 1925 der erste gedruckte Band des G W erscheinen und das Unternehmen bis zur ersten Lieferung des 8. Bandes (1940) mit insgesamt 9.730 Nummern (Stichwort Federicis) fortgeführt werden. Nach einer Unterbrechung von 30 Jahren sind die Arbeiten auf Grund des erhaltenen und inzwischen weiter geförderten GW-Manuskriptes in der Dt. Staatsbibliothek zu Berlin (Ost) wieder aufgenommen worden; der 8. Band (1972 —79) liegt abgeschlossen vor und konnte die Zahl der Nummern bis 10.101 (Stichwort Florus) weiterführen. Neben den Bemühungen, die Gesamtheit der W. in einem Katalog zu verzeichnen, steht seit langem eine Fülle n a t i o n a l e r , reg i o n a l e r , ö r t l i c h e r V e r z e i c h n i s s e der in

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einem Land etc. gedruckten oder dort vorhandenen Inkunabeln, sei es in Form von Inventarnachweisen, sei es in Form ausführlicher Beschreibungen. Der Census der Vereinigten Staaten von Amerika (1964 mit Nachtrag von 1972) weist über 13.000 Ausgaben in über 50.000 Exemplaren nach; der Indice generale der ital. Bibliotheken (ohne die Vaticana) nennt bisher etwa 10.500 Ausgaben ( 1 9 4 3 - 72); in Frankreich ist seit dem ersten KatalogAnsatz (1897—1909) neuerdings vieles wieder in Bewegung geraten, eine Katalogisierung des größten Bestandes in der Bibliothèque Nationale in Paris 1971 begonnen worden (etwa 8.000 Ausgaben in 12.000 Exemplaren). Diese wenigen Beispiele müssen genügen. Von besonderer Wichtigkeit sind die Kataloge einzelner öffentlicher Bibliotheken oder privater Sammler, weil in diesen Fällen die individuellen Merkmale der Einzelexemplare mitgeteilt werden können (Rubrikatoren- und Provenienzvermerke, Ausstattung, Einband, spätere Vorbesitzer usw.), Angaben, die für buchgeschichtliche Forschungen, für die Geschichte des Lesepublikums und für vieles andere erst die unentbehrlichen Unterlagen liefern. Stellvertretend seien hier nur die Kataloge der beiden größten inkunabelbesitzenden Bibliotheken genannt: der B M C der British Library in L o n d o n (mit einem Besitz von vielleicht 11.000 Ausgaben) und der Katalog der Inkunabeln der Bayer. Staatsbibliothek in M ü n c h e n , der nahezu druckfertig ist und in wenigen Jahren erscheinen wird (mit einem Besitz von annähernd 10.000 Ausgaben in fast 17.000 Exemplaren). Ganz allgemein ist eine große Rührigkeit in der Aufarbeitung von Wiegendruck-Beständen eingetreten. Erich v. Rath, Vorläufer d. Gesamtkat. d. Wiegendrucke, in: Werden ». Wirken. E. Festgruß Karl W. Hiersemann zugesandt (1924) S. 288—305. Ders., Zur Biographie Ludwig Hains, in: Bok- och hibliotekshistoriska studier tillägnade Isak Collijn (Uppsala 1925) S. 161-182; wiederh. in: Rath, Studien z. Gesch. d. Buchdrucks u. d. Bibliographie (London, Köln 1945) S. 57-79. Konrad Haebler, Typenrepertorium d. Wiegendrucke. 6 Bde (1905-24; Slg. bibl.wiss. Arbeiten. 19/20. 22/23. 27. 29/30. 39. 40). W. Schmidt, Konrad Haebler. ZblBblw. 64 (1950) S. 403-413. Ders., Erich v. Rath (1881-1948). ZblBblw. 63 (1949) S. 327-343. - Bibliograph. Zusammenstellung aller Kataloge etc. nach dem Stand von 1969 in: GW (neuer) Bd. 8, 1972, S. * 1 4 - * 3 8 . Das ZblBblw. 93, H. 10 (Okt. 1979) S. 441-504

galt ausschließlich dem Thema: Der int. Stand d. Inkunabelkatalogisierung. Zum 75. Jahrestag d. Beginns d. Arbeiten am GW; es wird ausführlich über die erschienenen und z.T. noch in Vorbereitung befindlichen Unternehmungen der westlichen wie der östlichen Nationen berichtet. Wieland

Schmidt

Wirkung und Rezeption § 1. Der durch die B e g r i f f e „ W i r k u n g " u n d „ R e z e p t i o n " umschriebene Komplex von Fragestellungen hat, in sehr verschiedenen Formen, immer schon eine — wenn auch begrenzte — Rolle in rhetorischen, poetologischen oder lit.wiss. Überlegungen gespielt (vgl. z . B . Scherer 1888; Stückrath 1979). Ausgelöst durch die Publikationen von Jauß 1967 und Iser 1970 ist er aber um 1970 herum aus einem bislang marginalen zu einem zentralen Thema geworden, wobei zugleich seine Behandlung sowohl theoretisch als auch praktisch in eine neue Phase eintrat. Schon der Germanistentag 1972 hat dieses neue Interesse dokumentiert: seine Organisatoren haben es in drei von zehn Sektionen (II, V I I , I X ) zu Wort kommen lassen (vgl. Müller-Seidel 1974). Ebenfalls schon hier hat man sich auch mit den ungeklärten theoret. Problemen der neuen Richtung befaßt; trotz umfänglicher und bedeutender Klärungsversuche in der Folgezeit ( z . B . Warning 1975, Link 1976, Grimm 1977) sind freilich bis heute zentrale, theoret. und methodologische Grundsatzfragen teils ungeklärt, teils kontrovers geblieben. Der Fragenkomplex selbst ist ein nicht nur literaturwissenschaftlicher: Prozesse von „Wirkung" und „Rezeption" spielen sich nicht nur anhand literar. Texte, sondern auch anhand sonstiger (sprachlicher oder nicht sprachlicher) Äußerungen ab und haben demgemäß auch das theoret. und prakt. Interesse von Medien- und Sozialwissenschaften gefunden. Es handelt sich also einerseits um einen fachübergreifenden Fragenkomplex, der sich andererseits auch innerhalb fachspezifischer Interessen ( z . B . Lit.-Rezeption) zumindest partiell zu interdisziplinärer Zusammenarbeit ( z . B . Literaturwissenschaftler und Sozialpsychologen) anbietet. Zumindest in der Lit.wiss. herrschte schon früh freilich auch Dissens über den Umfang des literaturwissenschaftlich relevanten bzw. erforschbaren Teils

Wirkung und Rezeption

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dieses Fragenkomplexes: im derzeitigen erstens der Bezugs- bzw. Ausgangspunkt der Sprachgebrauch werden heterogene Klassen Untersuchung, der also, dessen „Quellen" von Fragestellungen darunter subsumiert. bzw. „W.en" untersucht werden, immer ein Deren gemeinsamer Nenner kann grob als die „großer Autor" gewesen. Zweitens interp r a g m a t i s c h e D i m e n s i o n von Äußerun- essierte hier die Untersuchung einer R e z e p gen, speziell natürlich literar. Texte, umschrie- t i o n tendenziell nur insoweit, als sie, direkt ben werden (Warning 1975). Der Begriff oder indirekt, zur P r o d u k t i o n eines (oder „Pragmatik" ist dabei nicht nur auf text- mehr als eines) n e u e n (literarischen, philoexterne, sondern auch auf textinterne Struk- sophischen, usw.) Textes geführt hat, d.h. turen angewendet: dem entspricht, daß man insoweit, als der R.akt zugleich wiederum ein unter dem Aspekt von „Wirkung" bzw. „Re- genetischer Faktor in der (Literatur-, Philozeption" Probleme sowohl der t e x t i n t e r n - sophie-, usw.)Geschichte war; das R.verhalten a n g e l e g t e n als auch der t e x t e x t e r n - f a k t i - nicht produktiver Rezipienten fand hingegen schen W a h r n e h m u n g bzw. V e r a r b e i t u n g im Prinzip kein Interesse, es sei denn, sie von Äußerungen behandelt hat. In Anlehnung hätten in anderer Hinsicht selbst als „bedeuan einen gut belegten Sprachgebrauch seien tende" Subjekte (in Wissenschaft, Politik, unter W i r k u n g s - bzw. R e z e p t i o n s ä s t h e - Kulturleben) gegolten. Drittens wurde die t i k (vgl. z.B. Warning 1975; Iser 1976) die Relation von Quellen zu Bezugstexten bzw. theoretischen oder empirischen Arbeiten ver- von Bezugstexten zu „W.en" explizit oder standen, die sich mit den Textstrukturen selbst implizit als mehr oder minder kausale gedacht, unter dem Aspekt t e x t i n t e r n - a n g e l e g t e r bei der der rezipierte Text, nicht aber das reziRezeption(smöglichkeit), d.h. mit solchen pierende Subjekt, aktiv tätig wird, wobei die Textstrukturen befaßt haben, denen sie den Tendenz bestand, dem rezipierten Text die Status von besonders relevanten Parametern alleinige Aktivität in der R. um so mehr (um für eine f a k t i s c h e oder p o t e n t i e l l e Rezep- so weniger) zuzuschreiben, je „bedeutender" tion zuschrieben. Unter W i r k u n g s - bzw. („unbedeutender") der Text und je „unbedeuR e z e p t i o n s u n t e r s u c h u n g e n seien hinge- tender" („bedeutender") der Rezipient schien. gen die theoret. oder empirischen Arbeiten Soweit nun freilich der Begriff „ W . " heute verstanden, die sich mit der t e x t e x t e r n - f a k - noch gebraucht wird, scheint er, als Ergebnis t i s c h e n Rezeption, d.h. mit den tatsächlichen der theoret. Veränderungen, die mit dem AufProzessen der Interaktion zwischen Text- , treten des neuen Begriffs der „Rezeption" (struktur)en und realen Rezipienten(gruppen) verknüpft waren, das Merkmal der zweifachen Begrenzung von W.suntersuchungen auf die befaßt haben. Beide Gruppen können derzeit ihren For- W. nur „bedeutender" Autoren einerseits, auf schungsgegenstand als „Wirkung" (W.) oder nur selbst produktive oder zumindest „bedeuals „Rezeption" (R.) benennen, wobei beide tende" Rezipienten andererseits verloren zu Begriffe aber, auch im Sprachgebrauch der haben. Geblieben ist ihm aber das Merkmal, Autoren selbst (vgl. z.B. Jauß 1975, Iser 1976, daß er in der Relation von Text(en) und ReziGrimm 1977), differenziert und nicht syn- pienten) die Textstrukturen als den für die onym gebraucht werden. Beide Termini kön- Rezeption entscheidenden und dominanten nen zwar eine Interaktion zwischen Text und Faktor setzt. Daß das Konzept der „ W . " von Rezipienten benennen, aber sie akzentuieren der Antike an eher selbstverständlich schien, diese Relation verschieden. W i r k u n g ist zu- hängt nicht nur mit der überwiegend produknächst der traditionelle Begriff: schon ältere tionsästhetischen, d. h. vom Autor und dessen und älteste Lit.geschichtsschreibung, insbe- W.sabsichten ausgehenden, Perspektive der sondere auch im Bereich der Komparatistik, älteren Theoriebildung zusammen. Denn z.B. weist eine beträchtliche Anzahl von Unter- Rhetorik und Poetik der Antike oder der suchungen zur W i r k u n g s g e s c h i c h t e auf, frühen Neuzeit (16. und 17. Jh.) konnten in deren logisches Korrelat die Q u e l l e n f o r - der Tat versucht sein, einer bestimmten literar. s c h u n g ist. Denn beiden war (und ist) ge- Struktur (z.B. einer Gattung) eine (unabmeinsam, daß die Beziehung, die untersucht hängig von der Verschiedenheit der Rezipienwird, nicht einfach die R. eines (oder mehr als ten) fest mit ihr verknüpfte, bei allen Rezieines) beliebigen Textes durch ein (oder mehr pienten gleiche W. zuzuschreiben, weil ihnen als ein) beliebiges Subjekt ist. Vielmehr ist einerseits die potentiellen Rezipientengruppen

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Wirkung u n d Rezeption

ihrer Kultur als vergleichsweise sozial h o m o gen b z w . zumindest durch dieselben — auch das Rezipientenverhalten normierenden — Sozialisationsprozesse charakterisiert scheinen k o n n t e n und ihnen andererseits der Gedanke, die eigene Kultur e r n s t l i c h als ethnologisch u n d historisch relativ zu erfahren, fernlag. Sobald aber diese doppelte Voraussetzung der soziokulturellen H o m o g e n i t ä t des Gesamtpublikums und der Verabsolutierung der eigenen Kultur entfiel, lag es in der Logik des Systems, das zu starke K o n z e p t der „ W . " durch ein schwächeres und flexibleres zu ersetzen. Genau diese Leistung erbringt der neue Begriff der R e z e p t i o n : „ R . " betont gegenüber „ W . " die Relevanz des Rezipienten im R.sakt u n d tilgt die heimliche Prämisse apriorischer Vorhersagbarkeit seines Verhaltens. O b ein Text überhaupt rezipiert wird und w i e er rezipiert wird, ist in dieser Sicht das Ergebnis einer k o m p l e x e n I n t e r a k t i o n z w i s c h e n Textstrukturen und psychisch-sozialen S t r u k t u r e n d e r R e z i p i e n t e n . U b e r den Anteil beider Strukturen am P r o d u k t der Interaktion kann nicht a priori befunden werden: er ist eine von vielen Faktoren abhängige Variable. Im folgenden wird daher in der Regel immer von „ R . " die Rede sein, von „ W . " n u r genau dann, wenn es tatsächlich u m die Beh a u p t u n g geht, das R.sresultat sei ein (fast kausal) v o m Text determiniertes. Gunter G r i m m , R.sgeschichte. Grundlegung e. Theorie (1977; UTB. 691). Wolfgang I s e r , Die Appellstruktur d. Texte. Unbestimmheit als Wirkungsbedingung literar. Prosa (1970; Konstanzer Univ.reden 28); auch in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik (1975; UTB. 303) S. 228-252. Ders., Der Akt d. Lesens. Theorie ästhet. Wirkung (1976; UTB. 636). Hans Robert J a u s s , Lit.gesch. als Provokation d. Lit.wiss. (1967; Konstanzer Univ.reden 3); modifizierte Fassung in: Jauss, Lit.gesch. als Provokation d. Lit.wiss. (1970; EdSuhrk. 418) S. 144-207; gekürzt auch in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik (1975; UTB. 303) S. 126-162. Ders., Der Leser als Instanz e. neuen Gesch. d. Literatur. Poetica 7 (1975 a) S. 325-344. Hannelore L i n k , Rezeptionsforschung. E. Einf. in Methoden u. Probleme (1976; Urban-Tb. 215). Walter M ü l l e r - S e i d e l (Hg.), Historizität in Sprach- u. Lit.wiss. Vorträge u. Berichte d. Stuttgarter Germanistentagung 1972 (1974). Wilhelm S c h e r e r , Poetik (1888); Neudr. hg. u. eingel. v. Gunter Reiß (1977; Dt. Texte 44). Jörn S t ü c k r a t h , Histor. R.sforschung. E. krit. Versuch zu ihrer Gesch. u. Theorie (1979). Rainer W a r n i n g ,

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Wirkung und Rezeption von d. Mitte d. 18. Jh.s bis zur Gegenwart (1968). Gunter G r i m m , R.sgeschichte. Grundlegung e. Theorie (1977; U T B . 691) S. 3 5 2 - 4 1 8 . Walter K r o l l , Bibliographie dt. Arbeiten z. R.s- u. Wirkungsästhetik, Semiotik d. Lit., Textlinguistik u. z. neueren Rhetorikforschung. Umjetnost rijeci (Sonderh. 1977) S. 2 2 1 - 2 7 5 . Heinz S t e i n b e r g u. Konrad H . T e c k e n t r u p (Hg.), Bibliographie Buch u. Lesen (1979).

§ 2. T e x t e x t e r n e / t e x t i n t e r n e K o m m u n i k a t i o n . Die Ausgangsüberlegungen, mit denen Jauß und Iser die neue Richtung Ende der 60 er Jahre einleiteten, schlössen sich an das bekannte K o m m u n i k a t i o n s m o d e l l an (s. Struktur, Strukturalismus und Zeichen). Zu unterscheiden sind dabei zunächst die (reale und textexterne) K o m m u n i k a t i o n s s i t u a tion (KS) und die (fiktive und textinterne) S p r e c h s i t u a t i o n (SS). Damit eine Kommunikation mittels einer Äußerung (im lit.wiss. Falle also mittels eines sprachlichen Textes) zustande kommt, ist außer dem A u t o r (mindestens) ein R e z i p i e n t (Hörer, Leser, Zuschauer) der Äußerung erforderlich: Autor und Rezipient sind für die Kommunikation obligatorische und außerhalb des Textes real existente (wenn auch vielleicht unbekannte) Größen (textexterne KS). Im Rahmen der Fragestellung nach der R. kann der Autor beiseite gelassen werden: bei aller Kommunikation durch schriftliche Texte oder Massenmedien ist er dem Rezipienten ohnedies nicht zugänglich. Seine evtl. W . s a b s i c h t hat der Autor entweder im Text deutlich gemacht, oder er kann sie — zusätzlich oder statt dessen (gehäuft seit dem 18. Jh.) — in einem weiteren, kommentierenden und deutenden, (Meta-)Text deutlich machen. In jedem Fall ist aber R. eine R e l a t i o n nur zwischen dem T e x t und dem R e z i p i e n t e n ; gibt es einen Metatext des Autors, so kann er, muß aber nicht, vom Rezipienten ebenso in seinem R.sakt als zusätzlicher Text einbezogen werden, wie etwa die Rezension eines Lit.kritikers oder die Interpretation eines Germanisten als Zusatztext in den R.sakt einbezogen werden kann. Der Text selbst, um dessen R. es geht, erfordert zu seinem h i s t o r i s c h adäquaten V e r ständnis die Beherrschung der Z e i c h e n s y s t e m e , deren er sich bedient, die Kenntnis der Menge von k u l t u r e l l e m W i s s e n , die er voraussetzt (s. Titzmann 1977), die Fähigkeit und Bereitschaft zu einer bestimmten Menge i n t e r p r e t a t o r i s c h e r O p e r a t i o n e n , auf-

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grund derer seine Bedeutung ermittelt werden kann. Für die Art der R. ist es demnach entscheidend, über welche Zeichensysteme, welche Mengen kulturellen Wissens, welche interpretatorischen Operationen der Rezipient verfügt, ob er, worüber er verfügt, auch einsetzt und wie er es einsetzt. Sein (kulturelles) Wissen ( = alles, was kulturell geglaubt wird: vom Alltagswissen bis zu spezialisiertem poetologischen, moralischen, theologischen, wissenschaftlichen Wissen) hängt z . B . von seiner biographischen Situation (z.B. Ausbildung, Beruf), von seiner psychischen Struktur (z.B. Interesse), von seiner sozialen Situation (z.B. Schichtzugehörigkeit, religiöse oder politische Gruppe, Geschlecht), von seiner hist. Situation (z.B. Epoche/Kultur, in der er lebt) ab. Schon bei e p o c h e n i n t e r n e r R., wo Text und Rezipient demselben raumzeitlichen und kulturellen System angehören (z.B. Goethezeit), kann es fundamentale Differenzen zwischen den vom Text beim Rezipienten vorausgesetzten Kenntnissen/Fähigkeiten und den bei verschiedenen Rezipientengruppen jeweils verfügbaren Kenntnissen/Fähigkeiten geben. Sobald die R. e p o c h e n e x t e r n ist, d.h. Text und Rezipient nicht demselben kulturellen System angehören ( z . B . : Text aus Goethezeit, Rezipient aus Realismus oder aus unserer Gegenwart) , treten in der Regel mehr oder weniger große Differenzen zwischen den Voraussetzungen des Textes und denen der Rezipienten auf. Alle möglichen oder tatsächlichen Beziehungen zwischen Text und Rezipient und alle dabei relevanten Faktoren gehören jedenfalls zu den Gegenständen der R.untersuchung (Näheres in § 4). Die SS ist hingegen eine fiktive Teilstruktur im Text selbst: sie ist eine im Text selbst dargestellte, nicht-reale KS. Der Text kann einem im Text selbst explizit (z. B. durch Personal- oder Possessivpronomina der ersten Person Singular oder Plural) oder implizit sich manifestierendem S p r e c h e r in den Mund gelegt werden: solche fiktiven Sprecher des Gesamttextes können z. B. in lyrischen oder erzählenden Texten auftreten. Die verschiedenen Typen von SS, die sich durch Präsenz oder Absenz eines Sprechers oder durch verschiedene Arten des Sprechers ergeben, sind nicht nur schon in der Antike als Kriterium der Unterscheidung von Texttypen/Gattungen verwendet worden (vgl. Hempfer 1973), sondern insbesondere auch in der Erzähltheorie seit

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langem relevante Unterscheidungen (z. B. bei Lämmert, Stanzel, Genette, Dolezel; s. Struktur, Strukturalismus, § 16). Der Sprecher seinerseits kann seine Rede an einen oder mehrere A d r e s s a t e n richten, wobei er diese Größe wiederum explizit (z. B. durch Anrede) oder implizit (z. B. durch Aufforderungen oder nicht-rhetorische Fragen) einführen und zudem im Verlauf seiner Rede den/die Adressaten wechseln kann. Ob es einen Sprecher gibt, ist fakultativ; ob ein gegebener Sprecher sich an Adressaten wendet, ist ebenfalls fakultativ. Sprecher und Adressat sind Größen des Textes selbst und dürfen, wie wiederum auch die ältere Erzähltheorie schon gewußt und deutlich formuliert hat (vgl. z. B. Lämmert und Stanzel), nicht mit dem realen Autor bzw. dem realen Rezipienten identifiziert und verwechselt werden. Alle logisch denkbaren Relationen zwischen den Größen einer KS und denen einer SS können dabei in den Texten auch auftreten. Zum einen kann der Text den Sprecher dem Autor annähern, indem er ihm solche spezifischen Merkmale zuordnet, die (nach dem Wissen möglicher Rezipienten) auch der Autor aufweist oder die zumindest den Merkmalen des Autors nicht widersprechen. Mit der scheinbaren Identität von Sprecher und Autor hat z. B. die sog. „Erlebnislyrik" gespielt. Analog kann ein evtl. Adressat im Extremfall so unspezifiziert bleiben, daß praktisch jeder reale Rezipient sich mit ihm identifizieren und somit angesprochen fühlen kann, wie der Adressat auch so spezifiziert werden kann, daß nur eine Teilgruppe möglicher Rezipienten sich mit ihm identifizieren kann. Umgekehrt kann ein Sprecher vom Text mit solchen Merkmalen ausgestattet werden, daß auch der naivste Leser ihn unmöglich mit dem Autor verwechseln kann (so z. B. die Sprecher = Erzähler in Raabes Stopfkuchen und Die Akten des Vogelsangs oder in Thomas Manns Dr. Faustus; vgl. auch den Fall der „Rollenlyrik"). Analog dazu kann ein evtl. Adressat mit so spezifischen Merkmalen ausgestattet sein (z. B. als Geliebte des Sprechers in Liebeslyrik), daß sich der reale Rezipient mit ihm unmöglich identifizieren kann und somit vom Text zugleich in die Rolle des illegitimen Eindringlings in eine scheinbar nicht für ihn bestimmte Kommunikation versetzt wird. Die textspezifische SS der e r s t e n S t u f e wird jedenfalls dadurch charakterisiert, ob es

einen Sprecher des G e s a m t t e x t e s gibt, ob sich ein evtl. Sprecher an Adressaten wendet, welche Merkmale evtl. Sprecher bzw. Adressaten vom Text zugeschrieben werden, in welche Relation zueinander sie gesetzt sind, an welchem Raumzeitpunkt sich jeder von ihnen befindet (z. B. kann der Adressat im Extremfall bezüglich des Sprechers räumlich absent und zeitlich vergangen oder zukünftig sein: z. B. Anrede an eine in der Ferne gestorbene Geliebte). Die Beispiele dürften deutlich gemacht haben, daß eine SS der ersten Stufe die reale KS unmittelbar affizieren kann: indem sie etwa dem realen Rezipienten die Identifikation eines Sprechers mit dem Autor oder eines Adressaten mit dem Rezipienten selbst nahelegt oder nicht erlaubt, versetzt sie ihn zugleich, wenn er sich auf die Fiktion der SS des Textes einläßt, in logisch je verschiedene kommunikative Situationen. Eine SS z w e i t e r (oder n-ter) S t u f e ist eine von einer SS erster (bzw. (n-l)ter) Stufe a b h ä n g i g e und in sie e i n g e b e t t e t e SS, bei der Sprecher und Adressaten F i g u r e n d e r „ d a r g e s t e l l t e n W e l t " des Textes sind und denen jeweils nur ein T e i l t e x t des gesamten Textes als von ihnen produzierte bzw. rezipierte Rede zugeordnet ist. Auf dieser Ebene liegt etwa die direkte Rede von Figuren eines Erzähltextes oder eines Dramas, wobei das Drama normalerweise dadurch charakterisiert ist, daß in ihm erstens keine Sprecher und Adressaten auf der ersten Stufe auftreten und zweitens der gesamte Text (mit Ausnahme der Regieanweisungen) in Rede von Sprechern der zweiten Stufe aufgeteilt ist. Die Kommunikationspartner in Briefromanen sind ebenfalls Sprecher bzw. Adressaten auf der zweiten Stufe, wobei fakultativ ein Sprecher auf der ersten Stufe (z. B. Fiktion eines Herausgebers) existieren kann. In allen SS.en jeder Stufe können alle Faktoren, die in einer KS relevant sind (z. B. Zeichensysteme, kulturelles Wissen, psychisch-soziale Merkmale der Partner) ebenfalls relevant werden. Dargestellte SS.en von Texten gehören jedenfalls zu den potentiell rezeptionsrelevanten textinternen Faktoren, mit denen sich die R.sästhetik befaßt (vgl. § 8). Klaus W. Hempfer, Gattungstheorie (1973; UTB. 133). Ders., Zur pragmat. Fundierung d. Texttypologie, in: Walter Hinck (Hg.), Textsortenlehre — Gattungsgeschichte (1977; medium literatur 4) S. 1—26. Michael Titzmann, Strukturale Textanalyse. Theorie u. Praxis d. Inter-

Wirkung und Rezeption pretation (1977; U T B 582). Dieter W u n d e r l i c h , Pragmatik, Sprechsituation, Deixis. LiLi 1/2 (1971) S. 1 5 3 - 1 9 0 .

§ 3. D a t e n b a s i s und F r a g e s t e l l u n g e n von R . s u n t e r s u c h u n g e n . R.sprozesse sind generell einer R.suntersuchung überhaupt nur zugänglich, insoweit sie sich in beobachtbarer/ nachweisbarer Form manifestiert haben. R . s zeugnis soll jede solche manifestierte Reaktion eines Rezipienten auf eine Äußerung heißen. R.szeugnisse sind in der Mehrheit der Fälle s p r a c h l i c h e Ä u ß e r u n g e n , d. h. selbst Texte, doch gibt es auch n o n - v e r b a l e R.szeugnisse, so etwa ikonische (z. B. mal. [WandJGemälde/Teppiche usw. zu Stoffkomplexen aus der Artus- und Tristanepik [vgl. z . B . Frühmorgen-Voss 1975] oder im 19.Jh. die Wandgemälde der Münchner Residenz zum Nibelungenlied), so im Extremfall auch die apparative Aufzeichnung von Veränderungen physischer Variabler im R.sprozeß (vgl. § 8). R.szeugnisse sind also u. a. alle Texte, in denen der rezipierte Text erwähnt (direkte Nennung, explizites Zitat), total oder partiell r e p r o d u z i e r t (Ubersetzung, Abdruck in Anthologien, Lesebüchern, usw.), präsupponiert (Anspielung, implizites Zitat, Parodie, Travestie, Neubearbeitung), g e d e u t e t / k o m m e n t i e r t / b e w e r t e t wird (Rezension, Interpretation, Zensurerlaß, Gerichtsurteil, usw.). R.szeugnisse können sich demnach in Texten praktisch jeden Typs finden (z. B. Tagebuch, Brief, literar. Text, Poetik, Lit.gesch., moralphilosoph. Traktat, Verlagsabrechnung, Leihbibliothekskatalog und -benutzerregister, Schulbuch usw.). Die R.szeugnisse können u n m i t t e l b a r e d. h. solche, in denen sich ein Rezipient selbst zu seiner eigenen R. äußert, oder m i t t e l b a r e sein, die nicht von den Rezipienten selbst stammen. Zu diesen letzteren gehören etwa Daten zur U b e r l i e f e r u n g s g e s c h i c h t e der Texte (Anzahl und Art von Hss. im MA., Auflagenzahl und -höhe von Drucken seit der Neuzeit, zeitliche Verteilung von Hss. und Drucken, Bestände von Leihbibliotheken und Frequenz der Benutzung dieser Bestände) und generalisierende Aussagen einzelner (z.B. Autoren, Verleger, Kritiker, sonstige Rezipienten) über (Umfang und Art der) R.sprozesse ihrer Zeitgenossen (vgl. z. B. Hauff 1827), deren Verläßlichkeit freilich immer ein Problem darstellt, zumal solche Aussagen nicht selten mit einer W.s-

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absicht verbunden sind. Unterschieden werden können ferner ( q u a n t i t a t i v e ) R . s b e l e g e , die primär manifestieren, daß ein Text rezipiert worden ist (z. B. Auflagenhöhe/-zahl, Erwähnungen des Textes), und (qualitative) R . s d o k u m e n t e , die nicht nur manifestieren, daß, sondern auch, wie rezipiert worden ist. Dem entsprechen zwei mögliche Untersuchungsrichtungen: die q u a n t i t a t i v - s o z i o demographische (z. B. Göpfert 1975, Schenda 1977, Boesler u. a. 1975, Jäger/Schönert 1980, Hömberg/Rossbacher 1977) mit Fragen nach den situationellen und sozialen Merkmalen des R.sverhaltens (z. B.: wer liest? wieviel liest er? was liest er? wann und wo liest er?) und die q u a l i t a t i v - s o z i a l p s y c h o logische mit Fragen nach Art und Folge der R. selbst; beide können kombiniert werden. Mit unmittelbar methodischen Folgen der R.suntersuchung ist eine weitere Unterscheidung der R.szeugnisse verknüpft: sie können entweder von der R.suntersuchung selbst erst, etwa durch sozialpsychologische Befragungsund Testmethoden, h e r v o r g e r u f e n e oder aber unabhängig von (und zeitlich vor) ihr entstandene, vorgefundene sein (z.B. Brief-/ Tagebuchäußerungen, Rezensionen, usw.). Liegt nun die zu untersuchende R. selbst in der Vergangenheit (z. B. Shakespeare-R. in der Goethezeit, Goethe-R. in der Goethezeit), dann ist die — n i c h t - r e z e p t i o n s s y n c h r o n e — R.suntersuchung auf die (zufällig) tradierten, d. h. vorgefundenen R.szeugnisse angewiesen; liegt die R. hingegen in der Gegenwart (z. B. Goethe-R. oder Frisch-R. heute), dann kann die — r e z e p t i o n s s y n c h r o n e — Untersuchung sich — je nach Untersuchungsziel — vorgefundener und/oder hervorgerufener R.szeugnisse bedienen. Wo die Forschung mit vorgefundenen R.szeugnissen arbeitet, hat sie zwar den Vorteil der „Natürlichkeit" der Zeugnisse (d. h. sie sind von ihr nicht beeinflußt), kann aber nur die Fragen beantworten, zu denen die Zeugnisse zufällig Daten enthalten; wo sie mit hervorgerufenen Zeugnissen arbeitet, hat sie zwar den Nachteil der „Künstlichkeit" der Zeugnisse (d. h. sie muß mit dem Einfluß der Befragungs-/Testsituation auf die Zeugnisse rechnen), ist aber dafür nicht der Zufälligkeit der Daten ausgeliefert, sondern kann die für ihr Untersuchungsziel relevanten Daten systematisch erheben. Zudem sind vergangene R.szeugnisse primär insoweit tradiert, als sie veröffentlicht wurden und mit ihnen

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Wirkung und Rezeption

somit zugleich wiederum eine W . s a b s i c h t verbunden war (z. B. Rezensionen, Erwähnungen in Poetiken, Lit.gesch. usw.). Die Verschiedenheit der Datenstruktur in den beiden Zeugnisklassen führt im übrigen zu einem Problem der Vergleichbarkeit der Ergebnisse, wenn man sich beider Zeugnistypen bedient (vgl. dazu z. B. Karmasin/Schmitz/ Wünsch 1978). Bei beiden Klassen von R.szeugnissen ist jedenfalls damit zu rechnen, daß sie die tatsächliche R. nicht notwendig unmodifiziert wiedergeben: strukturelle, psychische, soziale Faktoren können den Rezipienten veranlassen, seine R. nur selektiv und/oder nur t r a n s f o r m i e r t zu manifestieren. R.szeugnisse können nicht nur ihrerseits eine W.sabsicht haben: sie können auch in der Tat selbst rezeptionsrelevant werden. Die R. kann nicht nur u n v e r m i t t e l t , d. h. nur zwischen Text und Rezipienten, sondern auch v e r m i t t e l t stattfinden, wenn in den R.sprozeß des Rezipienten zugleich auch die R.szeugnisse anderer (Rezensionen von Lit.kritikern, lit.wiss. Arbeiten usw.) eingehen und, neben dem Text selbst, seine R. beeinflussen. Im Extremfall kann statt der direkten (unvermittelten oder vermittelten) R., bei der der Rezipient zumindest den rezipierten Text selbst kennt, sogar nur eine i n d i r e k t e R. stattfinden, bei der er den Text selbst überhaupt nur aus R.szeugnissen (Rezensionen, Lit.gesch., usw.) kennt und nur aus diesen Wissen über ihn hat. Da ferner R.sprozesse nicht auf die Epoche ( = das soziokulturelle System) beschränkt sind, von der und für die die Texte produziert wurden, wird schließlich der Unterschied e p o c h e n i n t e r n e r und e p o c h e n e x t e r n e r R.szeugnisse relevant (vgl. § 2). Die R.suntersuchung kann dabei ihrerseits die (epocheninterne oder -externe) R. in einem begrenzten und als s y n c h r o n behandelten Zeitraum (z.B. GoetheR. in der Goethezeit oder heute) erforschen, oder sie kann eine R. über mehrere solche Zeiträume hinweg diachron erforschen ( = R.sgeschichte: theoretisch Grimm 1977; praktisch Mandelkow 1975 und 1977, Ehrismann 1975, Woesler 1980). § 4. T h e o r e t i s c h e A u f g l i e d e r u n g des G e g e n s t a n d e s von R . s u n t e r s u c h u n g e n . Diese Differenzierungen zwischen Klassen von R.szeugnissen unter verschiedenen Aspekten zeigen schon, wie verschieden die Situation

der R.suntersuchung und die Möglichkeiten ihrer Fragestellungen sein können, was die Unterscheidung verschiedener Phasen im R.sprozeß noch deutlicher demonstriert. Logisch lassen sich grob vier solche Phasen unterscheiden, von denen die ersten drei obligatorisch sind, die vierte (zumindest partiell) fakultativ ist: R.svoraussetzungen — R.sakt — R.sresultat — R.sfolgen (diese im zeitlichen, nicht im kausalen Sinne). Ihre Abgrenzung wäre p s y c h o l o g i s c h sicher schwer, wo nicht unmöglich: sie beansprucht daher nur heuristischen— methodologisch-operationalen— Wert. Sie klassifiziert Rezipientenmerkmale nicht absolut, sondern nur relativ zur Untersuchungssituation, z. B. relativ zum Beobachtungszeitpunkt, von dem es etwa abhängen kann, ob ein Rezipientenmerkmal als „Voraussetzung" oder „Folge" erscheint. Denn R . s v o r a u s s e t z u n g e n sollen alle beim Rezipienten vor/zu Beginn der R. gegebenen Kenntnisse/Fähigkeiten/Einstellungen heißen, die potentiell oder faktisch r.srelevant werden. Da wohl kein Persönlichkeitsmerkmal nicht in wenigstens einem Typ von R.ssituation relevant werden kann, muß jede Untersuchung der R.svoraussetzungen eine Vorentscheidung treffen: sie kann in keinem Fall alle Persönlichkeitsmerkmale erheben. Sie kann nun entweder R.svoraussetzungen im allgemeinen, d. h. ohne Verknüpfung mit der Untersuchung konkreter R.sprozesse, bei (mehr als) einer sozialen Gruppe in (mehr als) einer hist. Phase untersuchen: in diesem Falle legt sie eine Hypothese darüber zugrunde, welche. Klassen von Persönlichkeitsmerkmalen im allgemeinen in R.sprozessen vor allem relevant sein werden; in Frage kommen u. a. die Faktoren: literar. und lit.theoretischer Kenntnisstand, Umfang und Art des kulturellen Wissens überhaupt, insbesondere auch die Wert- und Normsysteme der Person, zumal ihre ästhetischen („Geschmack" usw.), und sonstige ideologische Einstellungen. Während für die Gegenwart etwa mit Verfahren der Einstellungsmessung usw. gearbeitet werden kann und soziologische Untersuchungen möglich sind (z. B. Bourdieu 1982), bietet sich eine Lösung des Problems der Datenbasis für die Vergangenheit darin an, daß man auf die Untersuchung etwa der Programme der von einer (potentiell rezipierenden) sozialen Gruppe absolvierten Bildungssituation ausweicht (z. B. Frank 1976, Jäger 1981), die als Fak-

Wirkung und Rezeption toren der Sozialisation der Personen zu den Voraussetzungen ihrer R.svoraussetzungen gehören. Bei konkreten R.suntersuchungen zur Gegenwart können ebenfalls die Persönlichkeitsmerkmale mit Befragungs- und Testverfahren erhoben und zudem die Auswahl der erhobenen Merkmale so spezifiziert werden, daß die vom Text selbst geforderten Kenntnisse/Fähigkeiten einbezogen werden; im Fall hist. R.sprozesse ist man auf die Zufälle der Datenüberlieferung angewiesen, wobei die R.svoraussetzungen evtl. nur aus den R.sdokumenten selbst erschlossen werden können; dabei wird häufig die Unterscheidung, was Voraussetzung dieser R. war und was schon ihre Folge ist, schwer sein, wenn es um Einstellungen des Rezipienten geht. Denn schließlich sind generell R.svoraussetzungen immer z. T. auch R.sfolgen anderer — früherer — R.sakte. Der R.sakt selbst sei nun die Menge von Operationen, die sich im Rezipienten bei seiner Wahrnehmung und Verarbeitung des Textes vollziehen: die Psyche des Rezipienten ist also der Ort der Interaktion zwischen dem Text und ihm. Dieser Akt als solcher ist nicht b e o b a c h t b a r ; beobachtbar, z. T. sogar meßbar, sind allenfalls begleitende S y m p t o m e (z. B. Veränderungen physischer Variabler, vgl. § 8), deren Ambiguität aber eine eindeutige Interpretation höchstens im Rahmen qualitativer Aussagen über das R.sresultat erlaubt. Der R.sakt beginnt mit der physischen — optischen oder akustischen — Textwahrnehmung (Lektüre, Zuhören, An- oder Zuschauen), endet aber nicht notwendig mit ihr, sondern kann im Prinzip, mit oder ohne Unterbrechungen, unvorhersehbar lange fortdauern und dementsprechend zu verschiedenen Zeitpunkten auch zu verschiedenen R.s(zwischen)resultaten führen. Weil das R.sresultat also einerseits zeitrelativ ist, andererseits ebenfalls als solches n i c h t b e o b a c h t b a r ist und nur dann wahrgenommen werden kann, wenn es geäußert wird, soll R.sresultat hier die Menge der Ergebnisse eines R.saktes an jedem beliebigem Zeitpunkt dieses Aktes heißen, an dem der Rezipient ein R.sdokument produziert. Nur aus R.sdokumenten können R.sresultate rekonstruiert werden; nur aus dem Vergleich zwischen dem - (je nach Bedarf verschieden weit) interpretierten — Text und den erschlossenen Resultaten der R. dieses Textes können die R.s-

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akte, d. h. die Verfahrensweisen des/der Rezipienten rekonstruiert werden. Das Interesse an der Frage, welche Operationen der Rezipient unter welchen textuellen und psychisch-sozialen Bedingungen vornimmt (vgl. § 8), scheint bislang rezeptionssynchronen (psychologischen, psycholinguistischen, lit.wiss.) Arbeiten mit sozialpsychologischen Verfahrensweisen vorbehalten geblieben zu sein (z. B. Baumgärtner 1974, Kap. 3.1; van Dijk 1980, Kintsch/van Dijk 1975, Heuermann 1980, Wünsch 1981), obwohl möglicherweise nicht nur R.sresultate, sondern auch R.soperationen sich historisch verändern. Zu den R.sresultaten gehören insbesondere die B e d e u t u n g s z u o r d n u n g e n des Rezipienten an den Text (seine Deutungen des Textes) und seine (affektiven, evaluativen, kognitiven) Einstellungen zum Text; alle Typen von Arbeiten zur realen R. haben gezeigt, daß diese Ergebnisse mit der hist. Situation und/oder den psychischsozialen Merkmalen der Rezipienten stark variieren. R. sfolgen sollen alle Konsequenzen heißen, die der Rezipient für sich aus seinem R.sresultat (bewußt oder nicht bewußt) zieht; d. h. alle Folgeereignisse, deren Subjekt der Rezipient ist und zu deren Voraussetzungen sein R.sresultat gehört, wobei sich grob mentale Folgen und F o l g e h a n d l u n g e n unterscheiden lassen. Zu den ersteren gehören: Erweckung von Interesse für Bewußtmachung von Problemen, Bestätigung von Einstellungen durch den Text, Verteidigung von Einstellungen gegen den Text, Veränderung von Einstellungen. Schwache R.sfolgen wie die Auslösung von Problembewußtsein können schon synchron mit dem R.sresultat auftreten und im selben R.sdokument manifestiert sein. Starke R.sfolgen wie Einstellungsänderungen und evtl. daraus resultierende Verhaltensänderungen, oder gar die spezifischen Faktoren der Interaktion Text-Rezipient, von denen das (Nicht)Eintreten solcher R.sfolgen abhängt, können meist nur schwer als solche identifiziert werden, wie z. B. Werbe- und Medienforschung erfahren mußte. Eindeutigproblemlos als R.sfolgehandlung ist allenfalls nur die kleine Menge von Handlungen identifizierbar, die den Text selbst zum Handlungsgegenstand haben. Hierher gehören einerseits solche, die der Beförderung oder Behinderung der weiteren R. des Textes dienen (sollen) (z. B. Übersetzungen, Rezensionen,

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Wirkung und Rezeption

Zensurerlasse, Gerichtsurteile zum Text), andererseits solche, die ihn selbst verarbeiten, indem sie ihn z. B. parodieren, fortsetzen oder in Teilaspekten oder im Ganzen neu bearbeiten, was man als „ p r o d u k t i v e R . " benannt hat (vgl. z. B. Link 1976, Grimm 1977). Solche Bearbeitung kann innerhalb derselben Gattung (z. B. Goethes Faust — Grabbes Don Juan u. Faust, Vischers Faust. Der Tragödie 3. Teil, Valerys Mon Faust), in einer anderen Gattung (Goethes Faust — Lenaus Faust oder Th. Manns Doktor Faustus), oder sogar in einem anderen semiotischen Medium (Goethes Faust — Heines Ballett, Gounods Oper, später auch Murnaus Faustfilm) geschehen (zur Transformation in Film vgl. Kanzog 1981, Renner 1983). Folgehandlungen vom Typ der „produktiven R . " sind die am längsten und besten erforschten R.saspekte. Daß zwei (oder mehr) Texte in einer solchen Relation der Verarbeitung stehen, kann freilich wiederum in sehr verschiedenem Grade evident bzw. nachweisbar sein: am deutlichsten bei Stoffübernahme (z. B. die lyrischen, epischen, dramat. Bearbeitungen des Nibelungenstoffes im 19. Jh. oder die meisten Faustbearbeitungen), nicht notwendig eindeutig bei bloßer Motivübernahme (z. B. „Teufelsbund"), am wenigsten deutlich und oft nicht entscheidbar bei Übernahme abstrakter Textstrukturen als Modell (sehr großer Abstand z. B. schon zwischen Th. Manns Doktor Faustus und Goethe). Selbst wenn aber die Relation auf relativ eindeutiger stoffgeschichtlicher Ebene liegt und zudem eine Stoffverarbeitung eindeutig Ausgangs- und Bezugstext aller späteren Bearbeitungen ist (z. B. für alle Faust-Bearbeitungen nach Goethe: Goethe, für alle Bearbeitungen des Nibelungenstoffes im 19. Jh. eine seiner mal. Versionen), basiert doch eine spätere Bearbeitung (z. B. Hebbels oder Wagners Nibelungendramen) nicht notwendig nur auf der R. des Bezugstextes, sondern gern auch auf der R. vorangehender Bearbeitungen (z. B. Fouques oder Raupachs Nibelungendramen): alle Resultate oder Folgen der R. eines Textes können ihrerseits wiederum r.srelevante Faktoren in der R. eben dieses Textes werden (vgl. theoretisch Wienold 1972). R.sfolgehandlungen sind generell Belege, daß eine R. stattgefunden hat, nicht notwendig auch Dokumente des R.sresultats, d. h. dafür, wie die R. stattgefunden hat. Während z. B. im Prozeß gegen Flauberts Madame

Bovary (1857) die Plädoyers von Ankläger und Verteidiger und das Urteil des Gerichts R.sfolgehandlungen sind, denen zugleich das R.sresultat partiell als Begründung beigegeben ist, sind hingegen Bearbeitungen z. B. eines literar. Textes R.sfolgen, aus denen allein nur die Tatsache eines R.saktes, nicht aber das R.sresultat erschlossen werden kann, das nur zugänglich ist, wenn es der Bearbeiter in anderen Texten (z. B. einem Vorwort zur Bearbeitung usw.) dokumentiert hat. Denn eine Bearbeitung ist schließlich nur dann sinnvoll, wenn sie vom bearbeiteten Text bzw. vom Resultat der R. dieses Textes abweicht; andernfalls wäre sie überflüssige Wiederholung. S t o f f - und M o t i v g e s c h i c h t e (s. d.) verknüpfen rezipierten Text und R.sfolgen: sie setzen R.sakte und R.sresultate voraus, aber sie können sie ohne zusätzliche Dokumente nicht rekonstruieren. Lit. zu § 3 und 4: Baumgärtner 1974, Grimm 1975 u. 1977, Link 1976: s. § 1. - Richard A l b r e c h t , Bestseller u. Bestseller-Forschung. Publizistik 25 (1980) S. 4 5 1 - 4 6 1 . Joachim B a r k , R. als Verarbeitung von Texten. Am Beispiel v. Anthologien u. Lesebüchern, in: Raitz u. Schütz 1976 (s. zu § 1) S. 2 0 8 - 2 2 4 . Wilfried B a r n e r , Produktive R. Lessing u. d. Tragödien Senecas (1973). Wilfried B a r n e r , Gunter G r i m m , Helmuth K i e s e l u. Martin K r ä m e r , Lessing. Epoche - Werk - Wirkung (3., neubearb. Aufl. 1977) S. 3 0 6 - 3 8 8 . W . B e h r e n s , K. F. G e i g e r , E. H . R e h e r m a n n , M. R i e d e l u . B. S c h m u t z l e r , Planskizzen zu e. Sozialgesch. d. Lesens. ZfVk. 72 (1976) S. 1 - 2 8 . Robert B o e s l e r u . a . , Boll in Reutlingen. E. demoskop. Unters, zur Verbreitung e. erfolgreichen Autors, in: Grimm 1975 (s. zu § 1) S. 2 4 0 - 2 7 1 ; Fortsetzung des Projekts durch W. Barner u. a. im Intern. Archiv f. Sozialgesch. d. dt. Lit. 1 (1976) S. 2 0 1 - 2 3 0 . Pierre B o u r d i e u , Elemente zu e. soziolog. Theorie d. Kunstwahrnehmung, in: Bourdieu, Zur Soziologie d. symbolischen Formen (1970) S. 159— 201. Ders., Die feinen Unterschiede. Kritik d. gesellschaftl. Urteilskraft (1982). Teun A. van D i j k , Textwissenschaft. E. interdisziplinäre Einf. (1980; dtv 4364). Horst D r ä g e r , Die Gesellschaft f. Verbreitung v. Volksbildung. E. histor.problemgeschichtl. Darstellung v. 1871-1914 (1975). Hartmut E g g e r t , Studien z. Wirkungsgesch. d. dt. histor. Romans 1850-1875 (1971; Studien z. Philosophie u. Lit. d. 19. Jh.s 14). Otfried E h r i s m a n n , Das 'Nibelungenlied'. Studien z. R. d. 'Nibelungenlieds' von d. Mitte d. 18. Jh.s bis zum Ersten Weltkrieg (1975; Münchner Germanist. Beiträge 14). Rolf E n g e l s i n g , Der Bürger als Leser. Lesergesch, in Deutschland

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Wirkung und Rezeption

§ 5. W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e I: D i e R . s ä s t h e t i k w u r d e vor allem durch die sog. „ K o n s t a n z e r S c h u l e " Qauß und Iser) repräsentiert. O b w o h l sie den R.suntersuchungen historisch voranging und deren Entstehung ungewollt (mit-)angeregt hat, ist der eigentliche Gegenstand der R.sästhetik nicht leicht zu bestimmen. D i e Ausgangstexte (Jauß 1967 u. Iser 1970) wurden möglicherweise zunächst anders rezipiert, als ihre Autoren intendiert zu haben scheinen; zumindest haben diese sich, insbesondere Jauß, in Folge dieser R . , mehrfach selbst neu interpretiert. O b dabei nun die Ausgangsposition nur präziser formuliert wurde oder o b sie sich vielmehr selbst verändert hat: jedenfalls ist die R.sästhetik schwer von ihrer Geschichte zu trennen. Weder die theoret. Bezugspunkte noch die Zielsetzungen der beiden Ausgangstexte waren gänzlich identisch. Jauß b e z o g sich ursprünglich primär auf Elemente aus der Wissenssoziologie Mannheims („Erwartungshoriz o n t " ; Mannheim 1935) und auf die H e r meneutik G a d a m e r s (1960), daneben auf Argumentationen des R u s s . Formalismus; Iser hingegen primär auf Elemente von Ingardens phänomenologischer Ästhetik ( „ K o n k r e t i s a t i o n " , „ U n b e s t i m m t h e i t " ; Ingarden 1931 und 1976); nach Ausweis von Warning 1975 scheinen in der Folge als gemeinsame Vorfahren vor allem Ingarden und G a d a m e r , dazu, offenbar durch Vermittlung des Slavisten Jurij Striedter, der frühe tschechische Strukturalismus der 40er Jahre (Mukarovsky; Vodicka, der sich gleichfalls auf Ingarden bezieht) anerkannt worden zu sein. J a u ß ' Traktat von 1967 mußte von den damaligen Lesern notwendig als ein umfassendes Programm zur Erneuerung der Lit.wiss. verstanden werden. Denn er verwies nicht nur, darin zu Recht, auf die Relevanz des bislang weitgehend ausgeklammerten Lesers von Lit.: er versprach zudem eine Ersetzung des damals heftig umstrittenen Lit.begriffs, ferner eine Lösung des Problems der in eine tiefe Krise geratenen Interpretation (s. d.), schließlich eine neue Form der Lit.geschichtsschreibung, deren älterer Typ vielfach unbefriedigt ließ. Sein Ansatz schien zugleich imstande, wenigstens partiell die neuen Theorien zu Kommunikation und Semiotik, insbesondere auch strukturalist. Ansätze, einzubeziehen; insofern er den Leser für die Lit.theorie fruchtbar machen wollte, schien er auch offen für die damals aktuell gewordenen Probleme der „Massen"- und „Trivialliteratur" (s. d.) und für soziologisch oder sozialgeschichtlich orientierte Frage-

stellungen, wie er denn auch das Thema der sozialen Funktion von Lit. umspielt hat. Das Programm schien zu versprechen, die Bedürfnisse der Vertreter älterer wie neuerer Fragestellungen und methodischer Richtungen gleichermaßen befriedigen zu können: alle alten und neuen Fragen wurden als sinnvoll in eine Einheit hist. Denkens integrierbar gesetzt, und eine radikale Erneuerung wurde für möglich gehalten, ohne sich doch wesentlich von den wissenschaftstheoretischen Fundamenten einer Hermeneutik des Gadamer'schen Typs entfernen zu müssen; kurz: eine Einheit der Widersprüche geradezu hegelianischen Ausmaßes schien geschaffen (vgl. auch die Darstellung der Jauß-R. bei Kinder/ Weber 1975). Daß zunächst die Jauß-R. gegenüber der Iser-R. deutlich dominant war, dürfte mit dieser Korrelation zwischen dem Text ( = Versprechen universeller Problemlösung) und den — wissenschaftsgeschichtlich bedingten — R.svoraussetzungen nicht weniger Literaturwissenschaftler ( = Bedürfnis universeller Problemlösung) zusammengehangen haben; I s e r trat erst in der Folge stärker in den Vordergrund, insbesondere dort, wo man an der empir. Uberprüfung von Hypothesen zum R.sprozeß interessiert war. Denn Iser befaßte sich von vornherein weniger universalistisch und detaillierter mit in Texten angelegten R.smöglichkeiten und realen R.sprozessen. Nur dieser begrenztere — beiden gemeinsame — Themenbereich hat in der Folge prakt. Relevanz gewonnen, während z. B. ein Totalentwurf wie Jauß' Konzept einer neuen, auf R. basierenden Lit.gesch. weder theoretisch präzisiert worden ist (vgl. dazu die Kritik von Grimm 1977) noch auch auf die neuere Lit.geschichtsschreibung erheblichen Einfluß gehabt hat. D e r im Prozeß der Selbstexegese und der Erwiderungen konstante und gemeinsame theoret. Kern der R.sästhetik scheint mit einem B a s i s p o s t u l a t verknüpft, das zugleich den Lit.begriff und die Möglichkeit lit.wiss. Interpretation betrifft: beide Autoren postulieren (explizit oder implizit), daß lit.wiss. Interpretationen desselben Textes in den Ergebnissen wesentlich divergieren könnten und daß die Möglichkeit solcher Divergenz auf strukturellen Merkmalen der literar. Texte selbst basiere. Bis heute blieb dabei die — wie auch die R . der R.sästhetik gezeigt hat — entscheidende theoret. Frage unbeantwortet: o b nämlich im Falle einer Divergenz tatsächlich beide Interpretationen wissenschaftlich gleich legitim seien oder o b nicht vielmehr (mindestens) eine von ihnen als nachweisbar nicht zutreffend ausgeschieden werden könnte, weil sie anhand der Daten des Textes und/oder seines hist. Kontextes entweder nicht belegt

W i r k u n g und Rezeption

905

o d e r sogar widerlegt w e r d e n k a n n . N a c h J a u ß

verspricht J a u ß ( 1 9 7 5 a) die „überfällige K l ä -

und I s e r gäbe es jedenfalls k e i n e feste K o r r e -

r u n g " , die a b e r ausbleibt.

lation

zwischen

dem

Text

und

einer

„Be-

d e u t u n g " , eine s o l c h e w ü r d e i h m v i e l m e h r erst i m R . s a k t als „ K o n k r e t i s a t i o n " durch den L e s e r z u g e o r d n e t , w o b e i der T e x t ein „ S i n n p o t e n t i a l " darstelle, das sich im V e r l a u f der d i a c h r o n - s u k z e s s i v e n „ K o n k r e t i s a t i o n e n " erst „entfalte". Das bedeutet, daß zwar viele, aber nicht alle „Konkretisationen" legitim sind: wenn ein Text über ein spezifisches „Sinnpotential" verfügt, muß es auch inadäquate, von diesem „Sinnpotential" nicht legitimierte „Konkretisationen" geben. Wie dieses „Sinnpotential" eines Textes eruiert werden kann, wird nicht angegeben; seine Rekonstruktion wäre dann doch so etwas wie die adäquate Interpretation des Textes. Zumindest Jauß (1975a) scheint hierbei die geschieh tsphilosoph. Annahme zu machen, daß ein (unspezifizierter) geschichts-immanenter Mechanismus zu zunehmender Adäquatheit der „Konkretisationen" gegenüber dem „Sinnpotential" führe; denn er spricht von einer „fortschreitenden Konkretisation von Sinn [. . .] in der Konvergenz von Text und Rezeption". Für beide Autoren ist charakteristisch, daß sie nicht einmal theoretisch eine s o z i a l e (z. B. soziale, kulturelle, ideologische Gruppen einer Epoche) und h i s t o r i s c h e (z. B. epocheninterne und epochenexterne R . ) Differenzierung der Rezipienten in Rechnung stellen, obwohl solche Differenzen entscheidend die R.svoraussetzungen, also z. B. den Grad der (Nicht-) Ubereinstimmung der Wissens- und Denkprämissen zwischen Text und Rezipienten tangieren, wobei die Rezipienten zum adäquaten Textverständnis die Voraussetzungen des Textes zwar nicht teilen, aber kennen müssen. Diese Enthaltung scheint nur unter der Annahme erklärlich, daß hier von vornherein eine hochgradige Harmonie zwischen den vom Text geforderten Wissensmengen und Fähigkeiten und denen der Leser unterstellt wurde, d. h. während scheinbar von beliebigen Lesern gesprochen wurde, faktisch nur „kompetente Leser" gemeint waren (vgl. Viehoff 1976), wobei „Kompetenz" wieder nicht präzisiert wäre; man scheint wohl primär an R . durch Literaten und Lit.kritiker gedacht zu haben.

Ä h n l i c h e P r o b l e m e w i r f t J a u ß ' B e g r i f f des „ E r w a r t u n g s h o r i z o n t e s " ( s c h o n 1967) auf; dieser scheint einen textinternen

und

einen

In Jauß' Verwendung scheint das Konzept sehr heterogene Sachverhalte zu umfassen; breitere theoret. und prakt. Relevanz kann es wohl erst erhalten, wenn eine theoret. Präzisierung, und das hieße wohl auch, eine tiefgreifende Umformulierung, vorgenommen würde; bislang sind daher auch nur partielle Aspekte des Konzepts in R.suntersuchungen präzisiert und zum Gegenstand gemacht worden (z. B. der Lit.begriff gegenwärtiger Lit.kritiker: Viehoff 1976; die durch die Textaussagen bis zu einer beliebigen Textstelle ausgelösten Erwartungen über den weiteren Fortgang: Homberg/ Rossbacher 1981). Da laut Jauß der „Erwartungshorizont" bei der R. eines Textes ggf. auch aus dem Korpus der in der Epoche schon vorliegenden Texte rekonstruiert werden kann (so schon 1967), erweist sich der gemeinte Leser wiederum als der „kompetente Leser" (der diese Lit. gelesen und ihre Regularitäten erkannt hat) und als eine quasi-mechanist. Größe, deren Erwartungen nicht über den jeweiligen Stand des Lit.systems hinausgehen und von diesem gewissermaßen determiniert sind. Wenn aber bei den Lesern nicht Denkstrukturen als möglich angenommen werden, die in der bis dahin vorliegenden Lit. nicht manifestiert sind, dann scheint unerklärlich, wie ein stark abweichender Text zumindest von einer Teilgruppe der Leser, gegen deren Erwartungen er verstoßen müßte, dennoch begrüßt werden kann, es sei denn, man schreibt solche R . nicht irgendwelchen aus der früheren Lit. nicht erschließbaren R.svoraussetzungen zu, sondern interpretiert sie als eine W. des Textes, dem somit ggf. die Auslösung eines sozialgeschichtlichen Mentalitätswandels zugeschrieben werden muß: in der Tat postuliert nun Jauß Möglichkeit und Existenz solcher W.en. Dafür ist freilich bislang kein Beispiel bekannt; nach jetzigem Wissensstand scheint eher die R . eines Textes vom Grad der R . s b e r e i t s c h a f t für Texte dieses Typs abzuhängen und diese allenfalls l a n g f r i s t i g durch v i e l e , sicher nicht k u r z f r i s t i g durch e i n e n Text, allmählich m o d i f i z i e r t , nicht aber r e v o l u t i o n i e r t zu werden (vgl. auch die Ergebnisse der Medien- und Werbeforschung). Grad und Art der „Durchbrechung eines Erwartungshorizontes" fungieren bei Jauß zudem als Kriterium des literar. Wertes, was eine bloße Umformulierung des — selbst schon lit.historisch problematischen — textkorpus- (und nicht rezeptions-)bezogenen Innovationskriteriums des Russ. Formalismus darstellt.

textexternen A s p e k t zu h a b e n , insofern einerseits der T e x t selbst einen s o l c h e n

aufbaue,

Iser

hat

demgegenüber

den

Akzent

auf

andererseits der L e s e r einen s o l c h e n an den

andere A s p e k t e der R . gelegt. L a u t I s e r ist

T e x t herantrage, w o b e i es z u d e m eine „ H o r i -

der L e s e r n i c h t n u r eine G r ö ß e der realen R . ,

zontverschmelzung"

(Jauß

1 9 7 5 b)

k ö n n e . Z u diesem m e t a p h o r i s c h e n

geben

die erst in der I n t e r a k t i o n v o n T e x t und L e s e r

Konzept

relevant w i r d , s o n d e r n zugleich eine s t r u k t u -

906

Wirkung und Rezeption

relle G r ö ß e des Textes selbst, in dem er schon eingeplant ist, insofern im T e x t in verschiedenem Umfang und auf verschiedene Weise r e z e p t i o n s s t e u e r n d e S t r u k t u r e n aufgebaut werden. Insbesondere zwei Klassen solcher rezeptionssteuernden Faktoren hat Iser in die Diskussion eingeführt. Die eine ist das Konzept des „ i m p l i z i t e n L e s e r s " (Iser 1972, 1976), womit er zugleich eine umfängliche Diskussion entfacht hat, bei der verschiedene Konzepte nicht-realer Leser entworfen wurden, so z. B. der „ i m a g i n i e r t e Leser" ( = Vorstellung des Autors vom realen Leser), der „ i n t e n d i e r t e L e s e r " ( = Wunsch des Autors bezüglich des Typs des realen Lesers), der „ i d e a l e L e s e r " ( = der Leser, der über alle vom Text vorausgesetzten „Kompetenzen", d. h. Wissensmengen und Fähigkeiten, zu adäquatem Verstehen verfügt), der „ A r c h i l e s e r " ( = Abstraktion der gemeinsamen Merkmale des R.sverhaltens mehrerer realer Leser; Riffaterre 1973), der „ f i k t i v e L e s e r " ( = Adressat einer dargestellten Sprechsituation erster Stufe; vgl. § 2), usw. (zusammenfassende Darstellungen: Link 1976, Iser 1976, Grimm 1977). Isers „implizierter Leser" ist mit keinem von diesen identisch und zugleich der schwierigste von allen, wie auch die Geschichte seiner R. belegt. Iser selbst unterscheidet ihn ausdrücklich vom Adressaten, der nur ein möglicher Teilaspekt dieser „Leserrolle" (Iser 1976) sei. Wenn man aber zweckmäßigerweise unter „ L e s e r r o l l e ( n ) " des Textes die Gesamtmenge der aus ihm erschließbaren Aussagen über dargestellte oder reale, faktische oder potentielle, wünschenswerte oder nicht wünschenswerte R.sprozesse versteht, worunter alle Aussagen des Textes (in SS.en erster, zweiter, n-ter Stufe) über Textfiguren (soweit sie etwas rezipieren), über textinterne Adressaten, über textexterne Rezipienten und über alle Aspekte (sprecher-)eigener oder fremder R.sprozesse fallen würden, dann ist auch die „Leserrolle" nur ein möglicher Teilaspekt des „impliziten Lesers", da dieser „die Gesamtheit der Vororientierung, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als R.sbedingungen anbietet" (Iser 1976), darstellen soll. Der „implizite Leser" scheint somit die Menge aller r.ssteuernden Strukturen des Textes zu sein, wobei aber kein Kriterium angegeben wird, woran solche „Vororientierungen" bzw. R.ssteuerungen erkennbar seien. Isers zweites zentrales Konzept, das der „Unbestimmtheit", scheint jedenfalls zu diesen Faktoren zu gehören (Iser 1970, 1976); von der „ U n b e s t i m m t h e i t " hebt er die „ L e e r s t e l l e " (schon 1970, auch 1976) ab, später offenbar auch die „Negation" und die „Negativität" (1976), als spezielle Teilklassen von „Unbestimmtheiten"; „Negation" und „Negativität" sind spezifische Begriffe der Konstanzer Schule geblieben. „Unbestimmtheit"/„Leerstelle" bezeichnet hinge-

gen einen richtigen Sachverhalt in der Semantik von Texten, der sich auch außerhalb der R.sforschung als relevant erwiesen hat (Versuch einer Präzisierung der Begriffe: Titzmann 1977 unter „ N u l l p o s i t i o n " ) . Iser scheint die Begriffe in sehr weitem Umfang zu verwenden; sinnvoll ist wohl die Einengung, darunter, grob gesagt, den Fall zu verstehen, daß ein Text bezüglich eines — ihm historisch vorgegebenen oder von ihm selbst aufgebauten — Standards für die Darstellung einer bestimmten Klasse von Sachverhalten einen solchen Sachverhalt nur „unvollständig" und „lückenhaft" charakterisiert. Während ein umfassend-generelles Konzept wie der „implizite Leser" aus prakt. Gründen kaum Gegenstand von R.suntersuchungen werden kann, hat der Komplex „Unbestimmtheit"/ „Leerstelle" solche Arbeiten angeregt (vgl. Hömberg/Rossbacher 1981; Wünsch 1981). D e r theoret. Gegenstand der Konstanzer Schule ist in ihren Arbeiten generell ambig geblieben: soll untersucht werden, wie eine a d ä q u a t e T e x t - R . beschaffen sein müßte oder wie die t a t s ä c h l i c h e T e x t - R . beschaffen ist? Die erste Frage kann nur durch Textinterpretation, die zweite nur durch R.suntersuchungen entschieden werden. Im ersten Falle handelt es sich nicht um die postulierte Ersetzung der Interpretation durch R . , sondern nur um eine Neubenennung einer nach wie vor interpretator. Tätigkeit. Die R.sästhetik wäre insoweit eine nur verbale Pragmatisierung der L i t . wiss.: ihr Erfolg läge lediglich in einer partiellen Erweiterung des lit.wiss. Apparats zur Beschreibung und Analyse von Texten durch wichtige Begriffe wie z. B . den der „ L e e r stelle". F ü r diese Interpretation ihrer Intention spricht die Praxis der Gruppe selbst: sie hat sich weder an den hist. noch an den sozialwiss. orientierten Untersuchungen realer R . s prozesse beteiligt, sondern blieb in ihren eigenen Anwendungsbeispielen (vgl. Iser 1972, Jauß 1977, Iser und Jauß in Warning 1975) auf die Analyse von literar. Texten beschränkt, die sich von einer Interpretation allenfalls darin unterscheidet, daß sie, was Interpretation an Texten feststellen kann, nur in einer mit dem Leser operierenden Terminologie neuformuliert, wobei der Leser als textinterne und nur durch Interpretation rekonstruierbare Größe, dann letztlich doch ein „idealer L e s e r " ist, der durch den Interpreten selbst konstituiert und repräsentiert wird. Im zweiten Falle handelt es sich um die Aufstellung spekulativer Hypothesen über reale R . s p r o zesse, die nur durch empir. Untersuchungen

Wirkung und Rezeption über solche Prozesse überprüft — d. h. aber auch falsifiziert — werden können. Für diese Interpretation sprechen nur einige explizite Bekundungen der Gruppe, so schon Jauß 1967, der denn auch als Aufforderung zur R.sgeschichte verstanden werden konnte (so z. B. Link 1976). Iser 1976 repräsentiert diese theoret. Ambiguität der Gruppe exemplarisch: er hat seinen Gegenstand zu Recht als W.sästhetik benannt; denn er formuliert in der Tat Gesetzeshypothesen über das R.sverhalten von Lesern in Abhängigkeit von den Textstrukturen. Insofern er einerseits selbst von der Möglichkeit empir. Überprüfung spricht, scheint er sich im Sinne faktischer R.suntersuchung zu äußern; insofern er aber die Textstrukturen als eine Art Zwang für den Leser beschreibt, kann er eigentlich nur das Verhalten eines „idealen", „adäquat rezipierenden Lesers" meinen, in welchem Falle seine Hypothesen durch lit.theoretisch-interpretator. Untersuchungen zu überprüfen wären. Lit.angaben zu § 5: s. § 6.

§ 6. W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e II: empirische R . s u n t e r s u c h u n g e n . Unabhängig von der Konstanzer Gruppe haben um 1970 auch andere auf die Relevanz der R. und auf die textinternen und -externen Aspekte dieses Themas hingewiesen (Weinrich 1967, Nelson 1968, Riffaterre 1973 - franz. Orig. 1971), denen aber nicht dieselbe breite R. wie der R.sästhetik zuteil geworden ist. Im komplexen Prozeß dieser R. wurden einerseits die Konstanzer Postulate theoretisch diskutiert, andererseits empirische R.suntersuchungen vorgenommen. Der Höhepunkt der (dt.sprachigen) theoret. Diskussion der R.sästhetik lag in den Jahren 1973—75, wobei sich früh schon Lit.wissenschaftler von Nachbarländern beteiligten (Niederlande: Labroisse 1974; DDR: Naumann 1973). Das Thema „R." wurde von praktisch allen „methodischen Richtungen" der Lit.wiss. als relevant anerkannt, aber im eigenen theoret. Rahmen im Feld wiss. Fragestellungen verschieden situiert. Die umfangreiche Diskussion hat kaum zu einem theoret. Ausbau der R.sästhetik'über die von Jauß und Iser entworfene Konzeption hinaus geführt; sie war im wesentlichen kritisch-klärend; der bedeutende Ertrag betraf einerseits die Probleme der (notwendigen) Präzisierung von Konzeption und Terminologie, andererseits

907

den von Jauß und Iser beanspruchten systemat. Ort der R.sästhetik, vor allem ihr Postulat von Möglichkeit und Notwendigkeit der Ablösung der Interpretation durch die R.sästhetik. Die Lit.wiss. hat also „R." als sinnvolle und wichtige Ergänzung in den Katalog ihrer Fragestellungen aufgenommen. Die fundamentale Umstrukturierung und Behebung einer „Legitimationskrise der Lit.wiss." (Kinder/ Weber 1975), die Jauß 1967 in Aussicht stellte, konnte hingegen von der Einbeziehung des R.saspektes nicht geleistet werden, der, wie auch die krit. Diskussion zeigte, durch einen solchen Anspruch überfordert ist. Die R.sästhetik selbst fand keine Fortsetzer. Die theoret. Diskussion über R. hat sich in der Folge stark von der R.sästhetik ab- und den empirischen R.suntersuchungen zugewandt. Gleichzeitig mit der theoret. R. von Jauß und Iser entstanden verschiedene Typen von R.suntersuchungen, zum einen die im Methodischen lit.wiss. immanenten Arbeiten zu hist. R.sprozessen auf der Basis vorgefundener R.sdokumente, zum anderen die im Methodischen sozialwiss. orientierten Arbeiten zu gegenwärtigen R.sprozessen auf der Basis hervorgerufener R.sdokumente. Die hist. Arbeiten wurden durch eine Reihe von — mehr oder weniger stark kommentierten — Materialsammlungen (R.sdokumente zu einem Autor oder Werk) nützlich ergänzt. Die Auswertung der R.sdokumente in den h i s t o r i s c h e n R.su n t e r s u c h u n g e n leidet bislang oft daran, diese Texte entweder nur positivistisch-additiv zu paraphrasieren oder ihre Interpretation auf einen ideologiekrit. Aspekt zu beschränken. Diese Arbeiten waren im allgemeinen an der R.sgeschichte eines Autors oder Textes, nicht aber an den R.sverfahren z. B. einer Epoche interessiert: etwaige epochenspezifische Verfahren der R. — und damit die Historizität der R.sakte selbst, nicht nur der R.sresultate — sind somit noch kaum ins Blickfeld getreten. Zur theoret. Diskussion — über Fragen des methodischen Verfahrens, über mögliche und sinnvolle Fragestellungen, über Relevanz und Reichweite von R.suntersuchungen — hat die hist. R.sforschung bislang noch wenig beigetragen, während im Bereich der sozialwiss. orientierten R.sforschung sowohl theoretisch solche Fragen diskutiert wurden (etwa ab Mitte der 70er Jahre) als auch praktisch in Verfahren wie Fragestellung sehr verschiedene Untersuchungsmöglichkeiten ausprobiert wurden

908

Wirkung und Rezeption

(seit etwa 1972; zu Problemen und Resultaten vgl. $8). Die s o z i a l w i s s . orientierten R . s u n t e r suchungen charakterisiert, daß sie zwar einerseits auf der Basis der lit.wiss. Anregungen zum Thema R. um 1970 basieren, andererseits aber Vorgänger im sozialwiss. Bereich haben, wo seit langem sozialpsychologische Test- und Befragungsmethoden zur R.sforschung, in der Regel allerdings bezüglich der R. eher „einfacher" und „alltagssprachlicher" Texte, eingesetzt wurden (Lit.angaben z. B. in Baumgärtner 1974). Neu war aber, daß solche R.sforschung an komplexen literar. Texten und im Bereich der Lit.wiss. und in lit.wiss. Interesse vorgenommen wurde; das früheste Beispiel ist die aus einem Seminar von W. Mauser hervorgegangene Arbeit von Bauer u. a. 1972. Solche Arbeiten erfordern eine zweifache — lit.wiss. und sozialwiss. — K o m p e t e n z ; die scheinbare Einfachheit der Befragung von Rezipienten hat daher gelegentlich auch zum Dilettantismus verführt (so etwa Hillmann 1974). Sozialwiss. orientierte R.suntersuchungen finden sich in verstärktem Maße erst nach 1975, u. a. auch von Seiten der Lit.didaktik, die ein unmittelbares fachliches Interesse am Verhalten von realen Lesern hat. In der Gesamtmenge der sozialwiss. orientierten Arbeiten sind unter wiss.geschichtl. Aspekt zwei Teilgruppen zu unterscheiden: während bei der ersten Gruppe die Erforschung realen R.sverhaltens das primäre Ziel ist (was praxisbezogene Applikationen, etwa solche im didakt. Bereich, nicht ausschließt), wird solche Forschung von der zweiten Gruppe von vornherein im Rahmen eines wissenschaftspolitischen Programms funktionalisiert, dessen theoret. Formulierung im übrigen den prakt. R.suntersuchungen dieser Gruppe auch zeitlich vorangegangen ist. Diese Gruppe erhebt für sich denselben Anspruch auf universelle Erneuerung der Lit.wiss. wie Jauß 1967; aber wo Jauß sie auf die R.sästhetik gründen wollte, will sie sie auf die sozialwiss. orientierte R.suntersuchung gründen; wo Jauß sie im Rahmen der traditionellen (Gadamer'schen) Hermeneutik plante, plant sie sie im Gegensatz zu dieser Hermeneutik im Rahmen der Analytischen W i s s e n s c h a f t s t h e o r i e . Dieses Programm einer „ E m p i r i s i e r u n g " der Lit.wiss. knüpft partiell an das umfassendere „Empirisierungsprogramm" an, das S. J. Schmidt (z. B. 1975,

1979, 1980/82) entworfen hat, für den empirische R.suntersuchungen aber nur einen Teilaspekt seines Programms darstellen (z. B. Schmidt 1979). Für die gemeinte Gruppe bilden sie hingegen die zentrale Möglichkeit der „Empirisierung", dank derer die Lit.wiss. endlich wissenschaftlich' werden könne (so Groeben schon 1973, deutlicher dann 1977, 1979, 1981; Wolff 1977; Wolff/Groeben 1981; Faulstich 1976, 1977, 1981; Faulstich/Ludwig 1981). Wie die R.sästhetik will diese Gruppe die Interpretation von Texten durch die Erforschung ihrer R. substituieren, aber, konsequenter als jene, durch die Erforschung der realen R.; S. J. Schmidt unterscheidet sich von der Gruppe auch darin, daß er sich zum Status der Interpretation bislang nicht definitiv und eindeutig festgelegt hat, während in seinem Umkreis etwa Kindt 1976 deutlich die Position der Gruppe teilt. Als theoretisch expliziter und verbal kompromißloser Vertreter der Gruppe kann wohl insbesondere G r o e b e n gelten. Die Ausgangsthese ist von Groeben auf zweierlei Weise formuliert worden: einerseits gilt ihm der Text als bloßes „Formular", dem Bedeutung erst vom Rezipienten zugeordnet wird, andererseits aber als „semantisch polyvalent" ( = mehrdeutig). Daraus leitet die Gruppe nun die folgenden Postulate ab: 1. eine Textbedeutung kann nicht durch (lit.wiss.) Interpretation ermittelt werden, da jede Interpretation selbst nur ein subjektives R.sresultat liefere; 2. deshalb muß die Meinung (möglichst) vieler (beliebiger) Rezipienten erhoben werden, aus deren Gesamtmenge sich die Bedeutung des Textes ergäbe; 3. durch das Ergebnis der R.suntersuchung kann somit die (lit.wiss.) Interpretation verifiziert bzw. falsifiziert werden, wobei kein Unterschied nach „literar. Kompetenz" der Personen (Heuermann 1981) gemacht wird; 4. Die Unterscheidung „adäquater" und „nichtadäquater Konkretisationen", die Jauß und Iser zumindest postulativ an die Textstruktur selbst als entscheidendes Kriterium gebunden hatten, wird hier im wesentlichen nicht mehr durch die Textstruktur bedingt, da zwar syntaktische, nicht aber semant. Entscheidungskriterien anerkannt werden (vgl. Groeben 1977 u. 1981). Die Menge „adäquater" Bedeutungszuordnungen wird von der Gruppe nur durch das textexterne Kriterium des statist. Durchschnitts aus den Meinungen einer untersuchten Rezipientengruppe begrenzt; dieser Durchschnitt bildet die — relativ auf diese Rezipientengruppe — „adäquate Konkretisation", wobei offenbleibt, nach welchem Kriterium vom Durchschnitt stark abweichende Konkretisationen einzelner Mitglieder

Wirkung und Rezeption der Rezipientengruppe als weniger „adäquat" klassifiziert werden. Damit mag es zusammenhängen, daß zumindest in den Auswertungen bisheriger R.suntersuchungen dieser Richtung die Rezipienten immer als erstaunlich homogen erscheinen und ihre R.sresultate verblüffend unabhängig von den der Rezipientengruppe internen etwa soziodemographischen (z. B. Schicht, Ausbildung, Altersgruppe, Geschlecht, usw.) oder ideologischen — Differenzen wirken, während die ebenfalls sozialwiss. orientierten, aber von diesem wiss.polit. Programm freien R.suntersuchungen praktisch immer festgestellt haben, daß die R.sresultate in wesentlichen Punkten mit den soziodemographischen oder ideologischen Merkmalen der Rezipienten variierten (vgl. Heuermann 1981, 1982; Hömberg/Rossbacher 1981; Karmasin/ Schmitz/Wünsch 1978; Viehoff 1976; Wünsch 1981). Denn die „Groeben-Gruppe" beansprucht, mit ihren Untersuchungen nicht nur etwas über R.sverhalten, sondern über den Text selbst auszusagen (z. B. Faulstich/Ludwig 1981): mit der Altersgruppe, dem Geschlecht, der ideologischen Einstellung variierende R.sresultate können aber nicht ohne weiteres dem Text angelastet werden und machen zugleich deutlich, daß ohne die Untersuchung des Textes selbst, inklusive seiner Semantik, kaum entschieden werden kann, inwieweit R.sresultate „etwas über den Text aussagen". Die prakt. Konsequenzen der theoret. Annahmen der Gruppe führt Wolff 1977, dann, auf breiterer Basis, Groeben 1981 vor, indem er (hermeneutische) lit.wiss. Interpretationen verschiedener methodischer Richtungen durch das Ergebnis von R.suntersuchungen an nichtlit.wiss. Rezipienten falsifiziert zu haben glaubt; eine analoge Argumentation ist auf lit.theoret. begründete Beschreibungskategorien, in diesem Fall die Klassifikation von Erzählsituationen, angewandt worden (Faulstich/Ludwig 1981). N i c h t n u r in d e m für die eigene T h e o r i e bildung beanspruchten R a n g , s o n d e r n auch in einer

so

fundamentalen

Literaturbegriff

Prämisse

stimmt

die

wie

dem

„Groeben-

G r u p p e " m i t der „ K o n s t a n z e r S c h u l e " ü b e r e i n (deren H e r m e n e u t i k sie g l e i c h w o h l b e f e h d e t ) , w i e K l o e p f e r 1 9 7 9 gezeigt hat. B e i d e G r u p p e n , die gegen das antreten, was sie als nische",

„substantialistische",

„plato-

„essentialisti-

s c h e " A u f f a s s u n g der T e x t b e d e u t u n g v e r w e r fen, vertreten d o c h einen o n t o l o g i s c h - a h i s t o rischen L i t . b e g r i f f ; beide G r u p p e n , die eine „ P r a g m a t i s i e r u n g " des K o n z e p t s der T e x t b e deutung für sich in A n s p r u c h n e h m e n , h a b e n d o c h die v o n den s e m i o t . A n s ä t z e n v o l l z o g e n e „ P r a g m a t i s i e r u n g " des L i t . b e g r i f f s selbst n i c h t m i t v o l l z o g e n , derzufolge es, als E r g e b n i s einer langen D i s k u s s i o n ü b e r „ P o e t i z i t ä t " und „ L i -

909

t e r a r i t ä t " , b e i m jetzigen Stande des W i s s e n s keine uns b e k a n n t e n außerzeitlichen M e r k m a l e v o n „ L i t . " g i b t , s o n d e r n „ L i t . " eine kulturelle und hist. V a r i a b l e ist, die z . B . in der

Ge-

schichte der e u r o p . L i t . e n durch epochal sehr verschiedene Klassen v o n T e x t t y p e n

besetzt

w e r d e n k o n n t e , w o b e i auch der M o d u s der K o n s t i t u t i o n und O r g a n i s a t i o n v o n

„Bedeu-

t u n g " selbst sich geschichtlich gewandelt hat. Diese Vorstellung vom „zeitlosen Wesen" der Lit. von Jauß bis Groeben ist primär durch die Annahme der „semantischen Polyvalenz" als distinktivem Merkmal von „ L i t . " — und dementsprechend von der Annahme ihrer „Polyinterpretabilität" (z. B. Groeben 1977) - gekennzeichnet. Explizit oder implizit schreibt man einerseits einer sozial situationsgebundenen Alltagrede semant. Eindeutigkeit, der literar. Rede semantische Vieldeutigkeit zu, wobei man nicht von einem g r a d u e l l q u a n t i t a t i v a b g e s t u f t e n K o n t i n u u m zwischen diesen beiden Extrempolen ausgeht, sondern sie als qualitativ verschiedene („disjunkte") Klassen behandelt. In diesem texttheoret. System wird also einerseits die vermutlich umfänglichste Teilmenge menschlicher Redeformen z w i s c h e n diesen beiden Polen ignoriert, andererseits „ L i t . " mit einer ihrer möglichen — und zwar einer extremen — Erscheinungsform gleichgesetzt; denkgeschichtlich ist dieses Konzept von „ L i t . " historisch und epochenspezifisch: es dürfte mit der dt. Romantik aufgetreten sein; lit.geschichtlich wird es von beiden Gruppen gern an einer Teilklasse der „modernen L i t . " exemplifiziert, die wohl nicht einmal in unserer Gegenwart dominant ist. Den schon von van Ingen 1974 formulierten Einwand, e i n e sehr spezifische Teilklasse von „ L i t . " werde mit d e r „ L i t . " verwechselt, hat Groeben 1977 erfolglos auszuräumen versucht (vgl. Kloepfer 1979). Daß nicht die besser bestätigte Texttheorie vertreten wird, nach der literar. Rede auch in beliebigem Grade eindeutig sein kann und, umgekehrt, nicht-literar. Rede (z. B. eine R.stheorie) auch in beliebigem Grade vieldeutig sein kann, sondern daß gerade ein solches — reduktionistisches — texttheoret. Zweiklassensystem vertreten wird, ist eine funktionale Notwendigkeit der Theorien beider Gruppen: denn eine solche Konzeption der semant. Vieldeutigkeit m u ß vertreten werden, soll die Interpretation durch die R . ersetzt werden, und umgekehrt, eine solche Konzeption der semantischen Vieldeutigkeit k a n n nur folgenlos vertreten werden, bleibt sie auf die sog. „ L i t . " beschränkt. Wenn nämlich intersubjektive Bedeutungsrekonstruktionen bei vieldeutigen Texten nur durch R.suntersuchung (bzw. R.sästhetik) möglich ist, dann bedürfte es, ohne solche Einschränkung der Vieldeutigkeit auf Lit., zur intersubjektiven Bedeutungsrekonstruktion potentiell jedes Textes, also auch eines Textes über (eine) R.suntersuchung selbst,

910

Wirkung und Rezeption

wieder einer R.suntersuchung: ein Regreß ad infinitum. Das Postulat der P o l y v a l e n z und P o l y i n t e r p r e t a b i l i t ä t selbst bleibt im übrigen bei der Groeben-Gruppe notwendig eine grundsätzlich unüberprüfbare, d. h. ideologische Annahme: Denn da sie nur anhand der Textsemantik, also durch interpretatorische Tätigkeit, überprüfbar wäre, ist sie zwar im Prinzip im Rahmen der R.sästhetik überprüfbar, weil und insoweit diese nur verschleierte Interpretation ist, nicht aber im Rahmen der Groeben-Gruppe, da sie durch R.suntersuchungen weder bestätigt noch widerlegt werden kann: daß divergente Konkretisationen gleichermaßen legitim seien, kann nicht schon aus ihrer bloßen Existenz, sondern erst aus ihrem Vergleich mit der Textbedeutung gefolgert werden. Das Postulat der Polyvalenz, in dessen Namen die Jauß-Iser- wie die Groeben-Gruppe die Möglichkeit intersubjektiver Interpretation bestreiten, setzt also eben diese Möglichkeit zu seiner eigenen Rechtfertigung schon voraus; die Positionen beider Gruppen sind also schon in sich widersprüchlich.

Ähnlich problematisch ist der „Empirie"Begriff der Groeben-Gruppe, für den sie sich zu Unrecht auf die Analyt. Wissenschaftstheorie beruft (J. Koch 1979): das dort äußerst komplexe theoret. Konstrukt „Empirie" hat man hier auf eine (scheinbare) Einfachheit reduziert, die eher einem überholten Positivismus entstammt. Zunächst wird die aktuelle Wiss. Situation gewaltsam vereinfacht: die Verfahren der eigenen Gruppe zur Feststellung von Textbedeutung werden unter „empirisch", alle anderen Verfahren unter „hermeneutisch" ( = „nicht-empirisch") subsumiert, wie verschieden ihre theoret. Voraussetzungen und methodischen Operationen auch seien. Während der Begriff der „Hermeneutik" unzulässig ausgeweitet wird, wird der Begriff der „Empirie" unzulässig eingeschränkt. „Empirie" scheint einerseits durch die Art der verwendeten Daten definiert zu werden: wenn Groeben nur den sog. „materialobjektiven", nicht aber den sog. „sinnhaften" Aspekt von Texten als „empirisch" anerkennt, dann scheint „empirisch" mit „unmittelbar wahrnehmbar" verwechselt zu werden; semant. Phänomene sind in der Tat nicht unmittelbar wahrnehmbar, was z. B. die linguist. Semantik nicht hindert, wissenschaftlich zu sein. „Empirie" scheint andererseits durch die Art der verwendeten Verfahren definiert zu werden; „Empirie" wird von Groeben ganz selbstverständlich für die sozialpsychologischen Testverfahren in Anspruch genommen, die ihm, wie seine Selektion aus dem Inventar der verfügbaren Verfahren nahelegt, um so „empirischer" erscheinen, je stärker ihre Schritte mechanisierbar sind. Nun bezeichnet aber „empirisch" kein einem Verfahren als solchem wesensmäßig inhärentes Merkmal, sondern eine komplexe

Relation, u. a. eine solche zwischen dem Verfahren und seinem theoret. Verwendungskontext. „Empirisch bestätigt" ist ein Ergebnis nicht schon, weil das verwendete Verfahren irgend etwas gemessen hat, sondern erst, wenn es genau das gemessen hat, was gemessen werden sollte. Ein Verfahren, das in dem Bereich, für den es definiert ist, empirisch signifikant ist (z. B. eben ein Verfahren zur Erhebung von Einstellungen und Meinungen), ist, wenn es auf einen anderen Bereich übertragen wird (z. B. den der Feststellung von Textbedeutungen), dort nicht notwendig empirisch signifikant. Da nun unter den von der Groeben-Gruppe selbst gewählten theoret. Voraussetzungen gar nicht gezeigt werden kann, daß ihre Verfahren nicht nur Rezipientenmeinungen, sondern auch Textbedeutungen erheben (s. o.), da somit nicht gezeigt werden kann, daß die Verfahren im neuen Verwendungsbereich überhaupt empirisch signifikant sind, sind folglich ihre Verfahren grundsätzlich nicht-empirisch und die Ergebnisse dementsprechend spekulativ. Damit ist aber nicht die Forderung erledigt, daß lit.wiss. Arbeit den wiss. Normen genügen und empirisch überprüfbar sein sollte. Lit. zu § 5 und 6: Grimm 1977, Link 1976, Naumann 1973: s. zu § 1; Titzmann 1977: s. zu § 2. - Hömberg/Rossbacher 1981, Karmasin/Schmitz/Wünsch 1978, Wünsch 1981 : s. zu § 3 und 4. — Wilfried B a r n e r , R.s- u. W.sgesch. von Literatur, in: Funkkolleg Literatur, Studienbegleitbrief 9 (1977) S. 3 5 - 6 0 . Ders., Neuphilolog. R.sforscbung ». d. Möglichkeiten d. klass. Philologie. Poetica 9 (1977) S. 499-521. Roland B a r t h e s , S/Z. Essai (Paris 1970). Werner Bauer u. a., Text u. R. Wirkungsanalyse zeitgenöss. Lyrik am Beispiel d. Gedichtes 'Fadensonnen' von Paul Celan (1972; Ars poetica 14). Wolfgang Burghardt u. Klaus H ö l k e r (Hg.), Text Processing. Textverarbeitung. Papers in Text Analysis and Text Description. Beiträge z. Textanalyse u. Textbeschreibung (1979). Didier Cos te, Trois conceptions du lecteur et leur contribution à une théorie du texte littéraire. Poétique 43 (1980) S. 354-371. Umberto E c o , The Rôle of the Reader. Explorations in the Semiotics of Texts (1979). Werner F a u l s t i c h , Die Relevanz der Cloze-Procedure als Methode wiss. Textuntersuchung. E. Beitr. z. Lit.wiss. als Sozialwissenschaft. LiLi 21 (1976) S. 8 1 - 9 5 . Ders., Domänen d. R.sanalyse: Probleme, Lösungsstrategien, Ergebnisse (1977). Ders., Empir. Klassifizierung von Texten am Beispiel modemer Massenlyrik, in: Kreuzer u. Viehoff 1981 (s. zu § 1) S. 176-196. Werner Faulstich u. Hans-Werner Ludwig, Ernest Hemingway: 'Alter Mann an der Brücke', in: Kreuzer u. Viehoff 1981 (s. zu § 1) S. 2 2 6 - 2 4 3 . Eberhard F r e y , R. literar. Stilmittel. Beobachtungen am 'Durchschnittsleser'. LiLi 15 (1974) S. 8 0 - 9 4 . Ders., Text u. Stilrezeption. Empir.

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Wirkung und Rezeption

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§ 7. I n t e r p r e t a t i o n u n d R e z e p t i o n . Die gegen Ende der 60er und insbesondere in der ersten H . der 70er Jahre weit über die R.sforschung hinaus verbreitete Kritik an bestimmten interpretatorischen Praktiken war zweifellos weitgehend berechtigt. Doch wo diese Kritik b e s t i m m t e r Typen der Interpretation auf die Unmöglichkeit von Wissenschaftlichkeit und Intersubjektivität j e d e r In-

terpretation schloß, da nahm sie eine in mehrfacher Hinsicht voreilige und unvertretbare Generalisierung vor. Denn es wäre forschungsökonomisch sinnvoller gewesen, die Interpretationsverfahren zu verbessern, statt die Interpretation generell zu verwerfen, da erstens kaum eine wesentliche lit.wiss. Fragestellung existiert, die interpretator. Aussagen über Texte nicht zumindest impliziert und voraussetzt und da zweitens die Interpretation in dieser konstitutiven Funktion für die Lit.wiss. selbst dann nicht durch R.suntersuchungen ersetzt werden könnte, wenn sich durch diese tatsächlich Textbedeutungen ermitteln ließen. Denn es gilt nicht nur, daß (epocheninterne) R.sdokumente erst spät (wohl ab dem 18. J h . ) in breiterem, und selbst dann nur in den seltensten Fällen in statistisch repräsentativem Umfang, zudem nur von kleinen, sozial privilegierten Rezipientengruppen, ferner nur zu sehr wenigen der jeweiligen zeitgenöss. literar. Texte, und schließlich bei diesen wenigen Texten wiederum auch nur zu äußerst wenigen Aspekten dieser Texte vorliegen; es gilt vor allem auch, daß die überhaupt tradierten R.sdokumente, aus denen sich R.sresultate erschließen lassen, selbst sprachliche Texte sind, deren sinnvolle Auswertung wiederum nur durch systemat. Interpretation möglich ist. Diese grundsätzliche Grenze ihres „Empirisierungsprogramms", aus dem die gesamte Lit.gesch. mit Ausnahme nur der unmittelbaren Gegenwart von vornherein herausfällt, haben auch die Mitglieder der „GroebenGruppe" anerkennen müssen (vgl. Wolff 1977; Groeben 1979; Wolff/Groeben 1981). Aber auch die Möglichkeiten der Untersuchung gegenwärtiger R.en werden um einen ebenso interessanten wie zentralen Aspekt beschnitten, wenn die R.suntersuchung auf die Interpretation des Textes selbst verzichten soll, da nur der Vergleich zwischen den Ergebnissen der Textinterpretation auf der einen, den R.sresultaten auf der anderen Seite es erlaubt, wiss. Hypothesen über die R.sakte selbst zu bilden und zu überprüfen (vgl. § 4); diese Funktion kann freilich die Interpretation in der Tat nur erfüllen, wenn und insoweit sie selbst wissenschaftlich und intersubjektiv ist. Daß solche verbesserten Interpretationsverfahren tatsächlich möglich sind, belegen z. B . die — ihrer unterschiedlichen Herkunft gemäß auch in ihren Zielsetzungen verschiedenen — Verfahren der „ s t r u k t u r a l e n T e x t a n a l y s e " in

Wirkung und Rezeption den Textwissenschaften und der „ I n h a l t s a n a l y s e " in den Sozialwissenschaften; die Einhaltung w i s s . N o r m e n ist nicht Privileg dieser Verfahren, sondern kann z u m i n d e s t im Prinzip von jeder rationalen Interpretation geleistet werden. Eine solche w i s s . I n t e r p r e t a t i o n ist also eine i n t e r s u b j e k t i v e R e k o n s t r u k t i o n d e r T e x t b e d e u t u n g unter Einhaltung der wiss. theoret. N o r m e n , die (explizierbaren, teils logisch, teils semiotisch-kommunikativ begründeten) „Interp r e t a t i o n s r e g e l n " (vgl. T i t z m a n n 1977) folgt und sich einer semiotisch begründeten B e s c h r e i b u n g s s p r a c h e (z. B . Begriffe aus der Linguistik, Metrik, R h e t o r i k , Erzähltheorie, u s w . ) bedienen k a n n ; Interpretationsv o r a u s s e t z u n g e n sind die Kenntnis des v o m T e x t verwendeten S p r a c h s y s t e m s und der v o n ihm nachweisbar benutzten Elemente des k u l t u r e l l e n W i s s e n s seiner Zeit. Aus dem jeweiligen Sprachsystem (und ggf. dem kulturellen Wissen) ergeben sich intersubjektiv — sonst wäre selbst Alltagskommunikation unmöglich — die p r i m ä r e n , d. h. rein sprachlich bedingten, Textbedeutungen, wobei Mehrdeutigkeit (Ambiguität) sowohl auftreten als auch vom Interpreten festgestellt werden kann und vom Sprachsystem abweichende Bedeutung (z. B. durch die Tropen der Rhetorik: Metapher usw.) nur dort angenommen werden darf, wo der Kontext dazu zwingt, und nur insoweit rekonstruierbar ist, als es der Kontext erlaubt. Sprachsystem und kulturelles Wissen sind empirisch rekonstruierbare Größen: interpretator. Behauptungen aufgrund einer falschen Annahme über das vom Text verwendete Sprachsystem bzw. kulturelle Wissen sind also im Prinzip falsifizierbar, womit eine wesentliche Bedingung für Wissenschaftlichkeit erfüllt ist. Nur aus den primären Textbedeutungen und ihrer strukturellen Verknüpfung im Kontext (und ggf. weiterem kulturellem Wissen) sind n i c h t - p r i m ä r e ( s e k u n d ä r e ; Lotman 1972) Bedeutungen interpretatorisch rekonstruierbar, wobei alle Bedeutungszuordnungen, Abstraktionen, Klassenbildungen, usw. durch die Textdaten (worunter auch die primären Bedeutungen fallen) nachweisbar bestätigt werden müssen und alle aus den Textdaten logisch möglichen (analyt. oder deduktiven) Folgerungen zur Textbedeutung gehören. Eine Bedeutungszuordnung, die von den Textdaten nicht ausgeschlossen, aber auch nicht bestätigt wird, ist eine bloß spekulativ-willkürliche Bedeutungszuordnung: nicht nur, was aufgrund der Textdaten w i d e r l e g b a r , sondern auch, was aufgrund ihrer nicht b e l e g b a r ist, gehört nicht zur Textbedeutung. Zur Textbedeutung gehören somit affektive oder evaluative Aussagen nur insoweit, als der Text selbst sie (explizit oder implizit) macht:

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zur Textbedeutung gehören weder kognitive (z. B. ideologische oder ideologiekritische Stellungnahmen), affektive, evaluative A n s c h l u ß o p e r a t i o n e n des Interpreten noch s e m a n t i s c h e E r g ä n z u n g e n des Textes durch den Interpreten; so z. B. darf die Interpretation „Leerstellen"/„Nullpositionen" (vgl. § 5; z. B. also unvollständige Figurencharakterisierung oder ausgesparte Motivation eines Verhaltens oder Ereignisses) nur dann auffüllen, wenn (und insoweit, als) entweder andere Textdaten oder ein nachweisbar relevantes Element des kulturellen Wissens es ermöglichen; daß überhaupt eine Nullposition bestimmten Typs im Text existiert, darf selbstverständlich, soweit möglich, immer interpretiertwerden. Hier kann nicht gezeigt werden, daß sich tatsächlich alle Argumente, die man gegen die Möglichkeit wiss. Interpretation angeführt hat, ausräumen lassen; es handelte sich entweder um spezielle Argumente, die sich gegen bestimmte Merkmale der älteren Interpretationspraxis richteten, die der hier skizzierte Interpretationstyp nicht aufweist, oder um Behauptungen mit umfassend-generellem Anspruch, die dann freilich selbst nie argumentativ zwingend, sondern rein postulativ waren, und auf ihrerseits problematischen Annahmen, etwa einem selbst nicht empirisch bestätigten Lit.begriff (vgl. § 6), beruhten. Die R e l a t i o n v o n I n t e r p r e t a t i o n u n d R e z e p t i o n ( s f o r s c h u n g ) ist k o m p l e x : die L i t . w i s s . k a n n auf beide nicht verzichten, denn beide k ö n n e n einander nicht ersetzen. Weder kann eine Interpretation durch R . s f o r s c h u n g verifiziert oder falsifiziert werden, deren sinnvolle V o r a u s s e t z u n g sie vielmehr ist; noch geht die R e l e v a n z der R . s f o r s c h u n g darin auf, daß eine R . sich interpretatorisch als mehr oder minder (in)adäquat erweisen läßt. (Wiss.) Interpretation ist grundsätzlich anderes als bloß verbalisierte R e z e p t i o n ; R . ist grundsätzlich anderes als bloß mehr oder weniger ( i n adäquate Interpretation. D e n n erstens bindet sich der (wiss.) Interpretationsakt an die E i n haltung nicht-subjektiver Regeln und N o r m e n im U m g a n g mit dem T e x t , während der R . s akt im Prinzip an keine außersubjektiven R e geln und N o r m e n gebunden ist und sich z; B . s o g a r über explizite A u s s a g e n an der Textoberfläche hinwegsetzen kann, wie sich in R . s u n t e r s u c h u n g e n zeigt. Zweitens hat Interpretation eine beschränkte Zielsetzung, während der Bereich der R . s e r g e b n i s s e wesentlich umfänglicher ist: d e m Bereich der R . s f o l g e n (§ 4) entspricht in der Interpretation gar nichts; der Bereich der R.sresultate (§ 4) wird durch Interpretation nur partiell abgedeckt, da G e genstand der (wiss.) Interpretation nur die nachweisbaren Textbedeutungen sein

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Wirkung und Rezeption

können, während die R. einerseits — zudem oder stattdessen — auch s e m a n t i s c h e Erg ä n z u n g e n des Textes, d. h. die Zuordnung nicht-nachweisbarer (nicht belegbarer oder sogar widerlegbarer) Bedeutungen an den Text vornehmen und andererseits A n s c h l u ß o p e r a t i o n e n vollziehen, d. h. kognitive, affektive, evaluative S t e l l u n g n a h m e n zum Text abgeben kann. Zwar setzt eine Interpretation selbst einen R.sakt voraus, in dem der Interpret u. U. alles das getan haben mag, was nur in R., nicht aber in Interpretation, legitim ist: zu einer Interpretation wird diese R. aber erst, wenn das R.sresultat nicht einfach verbalisiert, sondern im Rahmen der Normen und Regeln für Interpretation überprüft und ggf. korrigiert wird. Eine Interpretation mit wiss. Anspruch kann ebenso die Bedingungen für Interpretation nicht erfüllen und insofern tatsächlich bloß verbalisierte R. sein, wie umgekehrt eine R. ohne wiss. Anspruch diese Bedingungen im Prinzip erfüllen kann: über den jeweils vorliegenden Typ der Rede über einen Text entscheidet nicht die Benennung, sondern der Umgang mit den Bedingungen wiss. Interpretation. Texte sind M e d i e n der V e r m i t t l u n g von B e d e u t u n g , und nicht nur literar. Texte, sondern auch theoretische, philosophische, polit. Texte, Texte der Werbung, Erzähltexte des Alltags usw. sind interpretationsfähig und interpretationsbedürftig, insofern sie nicht explizit-ausgesprochene, sondern auch unausgesprochene, aber implizierte und nachweisbare Bedeutungen transportieren. Aber Texte, und insbesondere literar. Texte, sind n i c h t nur V e r m i t t l e r von B e d e u t u n g e n , sondern erfüllen in der sozialen Praxis einer Kultur/ Epoche im allgemeinen und in der Lebenspraxis der einzelnen Personen im besonderen vielfältigste und verschiedenste Funktionen für ihre Rezipienten, wobei der Anteil der Bedeutungsvermittlung in diesen sozialen Funktionen von Texten selbst variabel ist. Diese kommunikativen oder doch kommunikativ ausgelösten, nicht primär in der Vermittlung von Bedeutung bestehenden, wenn auch auf dieser mehr oder weniger basierenden Funktionen sind, als nicht textinterne, sondern rein interaktioneile Größen, keiner — wie auch immer gearteten — Textinterpretation zugänglich, sondern können nur in R.sforschung festgestellt werden. So mag z. B. die kommunikativ-soziale Funktion der Typen „moderner

Lyrik", die massiv gegen elementare Regeln des Sprachsystems verstoßen und selbst auf der primären Bedeutungsebene keine approximativ kohärente Bedeutung herstellen und vermutlich, entgegen der Meinung der „Polyvalenz"Theoretiker, eher weniger als mehr (nachweisbare) Bedeutung im Vergleich zu sprachlich „normaleren" Texten aufweisen, vielleicht gerade in Aktivierungen der Rezipienten liegen, die sie zu assoziativen Bedeutungsergänzungen und kommentierenden Anschlußoperationen herausfordern. Als F r a g e s t e l l u n g e n sind Interpretation eines Textes und Erforschung seiner Rezeption komplementär: sie überschneiden sich nicht, aber sie ergänzen sich. Nur Interpretation kann die Textstrukturen und ihre Bedeutung, d. h. ein R. sangebot, das der Text potentiellen Rezipienten macht, feststellen, aber über die R. des Textes kann sie aufgrund des Textes selbst nichts aussagen. Nur R.sforschung kann R.sresultate (und evtl. R.sfolgen) feststellen und den Verlauf von R.sprozessen beschreiben, aber über den Text selbst kann sie nichts aussagen. Nur Interpretation und R.sforschung zusammen können die im R.sakt stattfindenden Operationen erfassen und Regularitäten von R.sprozessen als Interaktionen zwischen Text und Rezipienten feststellen. Interpretation ist zugleich selbst auch ein V e r f a h r e n , während R.sforschung nur eine Fragestellung ist, zu deren Beantwortung man sich verschiedener Verfahren bedienen kann, darunter auch des Verfahrens der Interpretation selbst, dessen man sich im Falle aller vergangenen R.en auf der Basis von R.sdokumenten sogar bedienen muß, während im Falle gegenwärtiger R.en auch sozialwiss. Verfahren verwendet werden können. Groeben 1979, Wolff 1977, Wolff/Groeben 1981: s. zu § 5 und 6. — Michael B a u r m a n n , Anton Leist u. Dieter Mans (Hg.), Analyse & Kritik. Zs. für Sozialwissenschaften, Jg. 3, H. 1 (1981). Günter Bentele (Hg.), Semiotik und Massenmedien (1981; Schriftenr. d. Dt. Ges. f. Publizistik- u. Kommunikations wiss. 7). Werner F r ü h , Inhaltsanalyse. Einf. in Theorie u. Praxis (1981). Jürgen L i n k , Lit.wiss. Grundbegriffe. E. programmierte Einf. auf strukturalist. Basis (2. Aufl. 1979; UTB. 305). Ralf Lisch u. Jürgen K r i z , Grundlagen u. Modelle d. Inhaltsanalyse. Bestandsaufnahme u. Kritik (1978; rororo-studium 117). Jurij M. L o t m a n , Die Struktur literar. Texte (1972; UTB. 103). Klaus M e r t e n , Inhaltsanalyse. E. Einf. in Theorie u.

Wirkung und Rezeption Methode (1981). Jochen S c h u h e - S a s s e u. Renate W e r n e r , Einf. in d. Lit.wiss. (1977; UTB. 640). Michael T i t z m a n n , Strukturale Textanalyse. Theorie u. Praxis der Interpretation (1977; UTB. 582).

§ 8. A s p e k t e s o z i a l w i s s . o r i e n t i e r t e r R . s u n t e r s u c h u n g e n Bei jeder sozialwiss. orientierten R.suntersuchung ist zunächst das U n t e r s u c h u n g s d e s i g n , d. h. die Planung von Anlage und Durchführung der Untersuchung, zu entwerfen. Das U n t e r s u c h u n g s z i e l muß festgelegt werden: die F r a g e s t e l l u n g e n ) , die beantwortet, oder die H y p o t h e s e ^ ) , die getestet werden soll(en). Dabei kann das Untersuchungsziel durch einen zur R.suntersuchung ausgewählten T e x t bestimmt oder ein für ein bestimmtes Untersuchungsziel geeigneter Text ausgewählt werden. Das Untersuchungsziel wird durch die Wahl eines geeignetenUntersuchungsverfahrens oper a t i o n a l i s i e r t , mittels dessen Daten erhoben werden können, die d i r e k t e oder i n d i r e k t e I n d i k a t o r e n der Aspekte des R.sVerhaltens sind, um die es gehen soll; im Prinzip können mehrere Verfahren kombiniert werden. Ein der H a u p t u n t e r s u c h u n g vorangehender, mit einer ähnlichen, aber in der Regel kleineren Rezipientengruppe durchgeführter P r e test kann zur Vorbereitung oder zur Überprüfung des Untersuchungsdesigns eingesetzt werden. In Korrelation mit dem Untersuchungsziel werden die Kriterien für die Auswahl der Versuchspersonen (Vpn) und deren gewünschte bzw. erforderliche Anzahl festgelegt; im Idealfall sind die Vpn im Rahmen der Auswahlkriterien als s t a t i s t i s c h r e p r ä s e n t a t i v e S t i c h p r o b e zusammengestellt. In verschiedenem Umfang werden bei der Untersuchung jeweils auch s o z i o d e m o g r a p h i s c h e M e r k m a l e (Geschlecht, Alter, Schicht, Ausbildung, Beruf, usw.) erhoben, um eventuelle g r u p p e n s p e z i f i s c h e R.smodi oder R.sresultate erkennen zu können; bei entsprechenden hypothetischen Vermutungen über Korrelationen zwischen verschiedenen R.smodi/resultaten und (ideologischen) Einstellungen der Vpn können zusätzlich Verfahren der E i n s t e l l u n g s m e s s u n g (Krech/Crutchfield/Ballachey 1962; Irle 1975) eingesetzt werden, um Wertvorstellungen, ideologische Positionen usw. der Vpn zu ermitteln. Die in der Untersuchung erhaltenen R.sdaten werden einer mathematisch-statistischen Auswertung

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unterzogen, die nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Ergebnisse liefern kann; komplexe Verfahren — z. B. die F a k t o r e n a n a l y s e (vgl. Holm 1975, Bd. 3) - stellen Korrelationen zwischen Einzelergebnissen fest und identifizieren (nicht direkt erhobene oder erhebbare) r e z e p t i o n s r e l e v a n t e F a k t o r e n h i n t e r den E i n z e l e r g e b nissen. Die erhobenen (und ggf. mathematisch-statistisch ausgewerteten) Daten werden schließlich Gegenstand einer I n t e r p r e t a t i o n , die im Rahmen des Untersuchungsziels aus ihnen Folgerungen zu ziehen versucht. Auf jeder Stufe des Verfahrensablaufs sind theorieabhängige Entscheidungen zum textwiss. und/ oder sozialwiss. Aspekt der R.(suntersuchung) zu treffen. Die verfügbaren Untersuchungsverfahren lassen sich grob in zwei Klassen zerlegen: die standardisierten T e s t v e r f a h r e n , die für die Messung bestimmter Größen entwickelt und getestet sind, und die informelleren, für das jeweils spezifische Untersuchungsziel konzipierten B e f r a g u n g s v e r f a h r e n ; bei beiden muß die V e r l ä ß l i c h k e i t (Reliabilität = Wiederholbarkeit der Untersuchungsergebnisse) und die G ü l t i g k e i t (Validität = Messung genau der Größen, deren Messung intendiert ist) gesichert sein; in beiden können zur quantitativen Auswertung verschiedene Typen der S k a l i e r u n g , d.h. der Organisation der Meßeinheiten, zur Anwendung kommen; beide Verfahren können kombiniert werden. Die bislang tatsächlich eingesetzten Verfahren und ihre Korrelation mit Fragestellungen seien hier kurz skizziert. Nur der Vollständigkeit halber sei auch die f r e i e A s s o z i a t i o n erwähnt, der allenfalls heurist. Wert zukommt und die dementsprechend auch nur zur Vorbereitung eines Untersuchungsdesigns im Pretest verwendet wurde (Bauer u.a. 1972). Aus dem Bereich der Testverfahren im engeren Sinne wurden bislang verwendet: 1. Die sog. C l o z e p r o c e d u r e (z. B. in Faulstich 1976, 1981): in einem Text wird eine bestimmte Anzahl von Wörtern (jedes n-te Wort o.a.) getilgt und der Text den Vpn zur Einsetzung ihnen kontextuell adäquat scheinender Wörter in die freien Stellen vorgelegt. Für R.sforschung scheint das Verfahren wenig ergiebig, da es nur die (sprachsystembedingte) Wahrscheinlichkeit von Ausdrücken in bestimmten Kontexten mißt (Schmidt 1975); der prozentuale Anteil an „richtigen" Einsetzungen gilt als Maß der „Lesbarkeit" des Textes (Lisch/Kriz 1978).

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2. F r e e C a r d S o r t i n g (z.B. in Wolff 1977; Oldenbürger 1981) und N e t z w e r k b i l d u n g (in Oldenbürger 1981); beide Verfahren sind verwandt, das zweite stellt eine Verbesserung des ersten dar. Außer dem Text werden dabei den Vpn eine Reihe von — dem Text entnommenen — Ausdrücken/begrifflichen Klassen vorgelegt, die sie nach ihrer Einschätzung der „Zusammengehörigkeit" dieser Größen im Text ordnen sollen, indem sie sie im Falle des ersten Verfahrens einfach in Gruppen zusammenfassen (einfache Klassenbildung), im Falle des zweiten zudem durch Striche so zu einem G r a p h zu verbinden haben, wie es ihrem Eindruck der (teils semantisch-logischen, teils narrativen, teils syntagmat.) Korrelation dieser Größen im Text entspricht (Klassenbildung + interne Strukturierung der Klasse). Auf diese Weise wird also eine intuitive (in sich strukturierte oder nicht strukturierte) Klassenbildung erhoben, die die Vpn aus Textdaten herstellen und dem Text zuschreiben. 3. Das S e m a n t i s c h e D i f f e r e n t i a l (z.B. in Bauer u.a. 1972; Zobel 1979, Zobel 1981); während etwa die Netzwerkbildung eher einen Aspekt der kognitiven Bedeutungszuordnungen mißt, mißt dieses von Osgood u.a. 1957 entwickelte Verfahren eher assoziativ-emotive Bedeutungszuordnungen/Einstellungen/Bewertungen. Es wurde auch im psychodiagnostischen Bereich verwendet und für viele andere Anwendungsbereiche adaptiert; es erlaubt z . B . die Einschätzung von Theateraufführungen oder Filmen ebenso wie den Vergleich von Texten, Musik, Farben untereinander. Außer der zu bewertenden Größe (hier also z . B . Text(teil)e oder begriffliche Konzepte oder Ausdrücke aus Texten) wird eine standardisierte Liste von Paaren oppositioneller Merkmale (z. B. warm-kalt, aktiv-passiv, männlich-weiblich, usw.) vorgegeben, wobei die Größe auf Skalen zwischen den Polen jedes Paares danach einzuordnen ist, wie sehr man die Größe mit einem der beiden Merkmale assoziativ verknüpft (z.B. „stark" oder „schwach warm" bzw. „kalt" oder „weder warm noch kalt"); die Merkmale selbst sind für den jeweiligen Gegenstand des Tests nicht spezifisch, was etwa bei der Anwendung auf literar. Größen bei den Vpn Widerstände auslösen kann (vgl. Bauer u.a. 1972), da solche Merkmalspaare sprachlich dann als unanwendbar empfunden werden. Mehrere Merkmalspaare lassen sich jeweils zu abstrakten Faktoren zusammenfassen. Durch die mathemat. Auswertung lassen sich beliebige Gegenstände in einem „semantischen Raum" (Osgood) nach dem Grade ihrer Ähnlichkeit und Verwandtschaft in der VpnWahrnehmung situieren; das Verfahren ermittelt also auch indirekt eine affektive Klassenbildung, wo die Netzwerkbildung direkt eine kognitive Klassenbildung ermittelt. Die Skala der möglichen Untersuchungsgegenstände dieser beiden Verfah-

renstypen reicht von alltagssprachlich normalen Lexemen (so Wolff) über abweichend-textspezifische Lexeme (so Bauer u.a.) bis zu komplexen begrifflichen Klassen/Strukturen (so Zobel oder Oldenbürger), im Falle des semantischen Differentials sogar bis zu ganzen Texten, Aufführungen usw. (so Zobel), d.h. von für den Text extrem unspezifischen Objekten bis zu extrem spezifischen Objekten, evtl. eben dem ganzen Text selbst, womit ein zweifaches Problem verknüpft ist. Denn je textunspezifischer die von den Vpn zu skalierende Größe ist, desto notwendiger wäre eine Paralleluntersuchung an einer Kontrollgruppe, die die Größe, z . B . eine Menge alltagssprachlich-normaler Lexeme, kontextfrei, als rein sprachliche, zu situieren hätte, um entscheiden zu können, welche der bei den Vpn erhebbaren Zuordnungen überhaupt für die R. des individuellen Textes spezifisch sind und welche textunabhängig und textunspezifisch, durch das Sprach- bzw. Kultursystem bedingt sind. Je textspezifischer andererseits die untersuchte Größe ist, desto komplexer ist sie auch, und um so schwerer kann das Erhebungsergebnis auf identifizierbare Textfaktoren zurückgeführt und mit ihnen korreliert werden. 4. D i e M e s s u n g p s y c h o p h y s i s c h e r V a r i abler. Zu den mit den psychischen Zuständen variierenden physisch-biologischen Größen des Subjekts gehören z. B. solche des kardio-vaskulären Systems (Atmung, Blutdruck, usw.), die elektrodermale Aktivität (EDA) und das Elektroenzephalogramm (EEG) (vgl. Schönpflug 1969; Wittrock 1977; Becker-Carus u.a. 1979). Während anderen Verfahren der R.sakt als solcher unzugänglich ist, können diese Größen im R.sakt selbst gemessen werden und Aussagen über ihn ermöglichen; solche Meßverfahren wurden schon in der Werbeforschung (vgl. Kroeber-Riel 1980), aber auch in der R.suntersuchung von Filmen oder Theateraufführunen angewandt, neuerdings erstmals in der R.suntersuchung zu literar. Texten (Wünsch 1981: Messung der psychogalvanischen Reaktion [PGR]). Wie andere der psychophysischen Variablen ist der elektrische Hautwiderstand ein Indikator des Grades an psychischaffektiver Aktivierung des rezipierenden Subjekts; derselbe Aktivierungsgrad kann verschiedenen psychischen Zuständen entsprechen, die möglicherweise überhaupt erst in situationsabhängigen Selbstinterpretationen der Vpn dem von ihnen wahrgenommenen Aktivierungsgrad zugeordnet werden (vgl. Herkner 1975). Der Aktivierungsgrad und seine Veränderungen im R.sakt in Abhängigkeit von den je wahrgenommenen Textstellen können jedenfalls nur im Zusammenhang mit qualitativ-semantischen Untersuchungsergebnissen interpretiert werden; solche Messungen stellen aber eine wichtige Ergänzung dar, insofern sie Reaktionen der Vpn auch bei solchen Textstellen

Wirkung und Rezeption signalisieren, zu denen sie sich verbal nicht geäußert haben, und sozial und situationell bedingte Verzerrungen der R. in der Verbalisierung zeigen, wenn z . B . die verbale Äußerung in Widerspruch zum gemessenen Aktivierungsgrad steht.

Alle bislang vewendeten Testverfahren können freilich nur die partiellen R.saspekte erfassen, für die sie definiert sind, und erlauben allein genommen keine befriedigende Interpretation der R.sdaten, insbesondere kaum eine den R.sakt selbst erhellende Zuordnung der R.sreaktionen an identifizierbare Textstrukturen. Die Befragungsverfahren sind demgegenüber flexibler und können verschiedenartigen Fragestellungstypen angepaßt werden. Die entsprechend vielseitigen und komplexen Probleme der Anlage von Befragungen können hier nicht dargestellt werden (vgl. z . B . Holm 1975; Friedrichs 1973; Karmasin/Karmasin 1977). Wichtig ist im folgenden aber die Unterscheidung von o f f e n e n F r a g e n , bei denen den Vpn keine Antwortmöglichkeiten vorgegeben und sie somit völlig frei sind, und von ges c h l o s s e n e n F r a g e n , bei denen ihnen die zulässigen — alternativen oder kombinierbaren — Antworten vorgegeben sind und im Idealfall alle logisch denkbaren Möglichkeiten erschöpfend erfaßt sein sollen; vorgegebene Antwortmöglichkeiten können zudem als qualitative („ja"/„nein"/. . .) oder quantitativ-graduelle Skala („trifft sehr/wenig/gar nicht zu") organisiert sein. Die Auswertung der Antworten auf komplexere offene Fragen erfordert Interpretation im lit.wiss. Sinne, da aus heterogenen Aussagen gemeinsame Kategorisierungen und unausgesprochene Implikationen (präsupponierte Voraussetzungen und implizierte Folgerungen) erschlossen werden müssen; offene Fragen sind nicht nur im Pretest, sondern auch in der Hauptuntersuchung kaum entbehrlich. Bislang wurden recht verschiedene R.saspekte mit Befragungsmethoden untersucht: so z . B . S t i l p h ä n o m e n e (z.B. Frey 1980, 1981), wobei die Vpn als stilistisch auffällig empfundene Formulierungen hervorzuheben hatten und ein Vergleich ihrer Ergebnisse mit Worthäufigkeitsstatistiken des Deutschen die Signifikanz, hier also vor allem die Unterscheidbarkeit sprachbedingter und textbedingter Ergebnisse, sichern soll; so z . B . auch die K o n z e p t i o n „ m o d e r n e r L i t . " bei Lit.kritikern (Viehoff 1976), wobei eine — formal dem Semantischen

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Differential ähnliche, aber nicht standardisierte — Liste oppositioneller, hier aber gegenstandsspezifisch ausgewählter Merkmale den Vpn vorgelegt wurde. Nur einige Fragestellungen und Verfahren, bei denen es um Aspekte der R. textspezifisch-semant. Phänomene geht, seien hier näher skizziert. Besonderes Interesse erfuhr der Komplex der Wahrnehmung und Deutung narrativer S t r u k t u r e n , da zu diesem Komplex sowohl lit.wiss. als auch — diesbezüglich auswertbare — sozialpsycholog. Theorien zur Verfügung stehen, wodurch einerseits eine sinnvolle Planung der Untersuchung erleichtert wird, andererseits deskriptive und explikative Instrumente für die Auswertung angeboten sind. Z . B . wurde der aus der Interaktion zwischen (wahrgenommenen) Textstrukturen und kulturellem Wissen der Vpn resultierende Stand der E r w a r t u n g e n über den F o r t g a n g der erzählten Geschichte an bestimmten Punkten der syntagmatischen Abfolge erhoben, indem der Text nach lit. theoret. Überlegungen in Teile zerlegt wurde (Portionierung), die den Vpn nur sukzessiv, jeweils mit Fragen zu ihrer Prognose des weiteren Handlungsverlaufs, vorgelegt wurden (Hömberg/Rossbacher 1981). Einen ebenso ergiebigen wie relevanten Untersuchungsbereich stellen die (untereinander korrelierten) Komplexe der Figurencharakterisierung und -bewertung durch die Vpn und die Deutung von Verhaltensmotivationen der Figuren dar. Die Figurencharakterisierung / -bewertung (z.B. Karmasin/Schmitz/Wünsch 1978; Wünsch 1981) kann wiederum mittels vorgegebener Listen von oppositionellen Merkmalspaaren erhoben werden, bezüglich derer die Figuren einzuordnen sind. Wie auch bei anderen interpretatorisch motivierten geschlossenen Fragen empfiehlt es sich, den Vpn zunächst eine Figurencharakterisierung in offenen Fragen zu ermöglichen, in denen sie sich auf die von ihnen unmittelbar für relevant gehaltenen Merkmale beschränken können; diese Merkmalsselektion ist aber wiederum deutlich mit anderen Deutungshypothesen der Vpn (z.B. zu Handlungsmotivationen) verknüpft. Die Merkmalspaare der Liste in den geschlossenen Fragen lassen sich aus den aufgrund interpretator. Überlegungen für textuell anwendbar und potentiell in der R. relevant gehaltenen Merkmalen einerseits, aus den aufgrund sozialpsycholog. Überlegungen potentiell relevanten Merkmalen andererseits zusammensetzen.

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Denn die Untersuchungen zu i m p l i z i t e n Persönlichkeitstheorien (vgl. Wishner 1960; Rosenberg u.a. 1968; Rosenberg/Jones 1972; Herkner 1975) haben gezeigt, daß Personen einerseits immer bezüglich bestimmter Merkmalsklassen charakterisiert werden, auch wenn dazu keine Informationen vorliegen, und daß andererseits die möglichen Merkmalsklassen nicht voneinander unabhängig sind, sondern durch Implikationsregeln verknüpft werden, aufgrund derer einer Person, der man, mit oder ohne Grund, ein Merkmal X zugeschrieben hat, auch das Merkmal Y zuschreibt. In Ubereinstimmung mit diesen Theorien hat sich die Figurencharakterisierung denn auch als Bereich erwiesen, in dem, nach diesen Regeln, massiv Textergänzungen vorgenommen werden. Ähnliches gilt für die Deutung von motivationalen/kausalen Zusammenhängen: die A t t r i b u t i o n s t h e o r i e n (vgl. Jones/Davis 1965; Kelley 1967; Herkner 1980) haben Regularitäten nachgewiesen, von denen es abhängt, welcher Faktor, ob z.B. der Täter, das Opfer, die Situation, für ein Verhalten/Ereignis kausal verantwortlich gemacht wird. Dementsprechend wird auch in der Deutung des literar. Textes offenbar nach Möglichkeit z.B. eine als „positiv" klassifizierte Figur von ihrer Schuld an als „negativ" klassifiziertem Verhalten weitestgehend entlastet (z.B. Wünsch 1981). In solchen komplexen Deutungsprozessen der Vpn spielt nun einerseits die R e i h e n f o l g e der D a t e n v e r m i t t l u n g im Text eine — wiederum schon sozialpsychologisch bekannte — relevante Rolle, insofern aufgrund früherer Daten gebildete Klassifikationen auch gegen spätere Textwiderstände so lange als irgend möglich aufrechterhalten werden ( p r i m a c y e f f e c t ) ; nur durch die Überschreitung hoher Grenzwerte setzen sich spätere Informationen gegen die früheren durch ( r e c e n c y e f f e c t ) (vgl. Anderson 1965; Luchins 1957; Herkner 1975). Andererseits ist der M o d u s der Dat e n v e r m i t t l u n g im Text in solchen Prozessen relevant: zwar werden, wenn zentrale Werte der Vpn zur Diskussion stehen, ggf. auch explizite Aussagen des Textes einfach ignoriert, problemloser lassen sich aber nur implizierte Aussagen übergehen. Welche Textdaten von den Vpn unter welchen Bedingungen überhaupt wahrgenommen bzw. in ihre Deutung und Verarbeitung einbezogen werden, ist generell ein komplexes, von vielen Faktoren abhängiges Problem. Untersuchungen zur R.

von L e e r s t e l l e n / N u l l p o s i t i o n e n zeigen, daß selbst zentrale Nullpositionen des narrativen Ablaufes keineswegs notwendig von den Vpn durch Textergänzung aufgefüllt werden, sobald dem subjektiv höher eingestufte Werte entgegenstehen. Wie wiederum aus sozialpsychologischen Theorien — den Theorien der k o g n i t i v e n D i s s o n a n z (vgl. Herkner 1975) — bekannt, streben die Vpn auch in der TextR. nach K o n s i s t e n z (vgl. Heuermann 1980, 1982) und versuchen, Widersprüche, die sie zwischen Daten im Text oder zwischen dem Text und dem eigenen Denken wahrzunehmen glauben, zu beseitigen, wobei die eigenen kognitiven, affektiven, evaluativen Einstellungen der Vpn dabei der normative Standard sind, an dem sich die Konsistenz herstellenden Operationen orientieren, und die verschiedenen Teiloperationen im R.sprozeß — solche der Datenwahrnehmung, Deutung, Textergänzung, Stellungnahme — diesem Prinzip untergeordnet zu sein und gleichzeitig, soweit als möglich, einem Ö k o n o m i e p r i n z i p zu folgen scheinen. Im Augenblick sind keine nur für die R. von Texten oder gar nur für die R. von literar. Texten spezifische Verhaltensweisen bekannt: möglicherweise ist demnach das Verhalten gegenüber von literar. Texten vermittelten Sachverhalten nicht vom Verhalten gegenüber in der Realität erfahrenen Sachverhalten verschieden (vgl. Heuermann 1980). Die Erschließung und Interpretation der Operationen von Rezipienten im R.sakt und des jeweiligen Anteils textueller und personeller Faktoren an ihnen steht freilich noch am Anfang: der R.sakt selbst ist ein unzugänglicher Raum (kybernetisch: „ b l a c k b o x " ) , der zunächst nur durch Hypothesen aus dem Vergleich zwischen interpretiertem Text und R.sresultat gefüllt werden kann, die ihrerseits durch spezifische Versuchsanordnungen getestet werden müßten. Die sozialwiss. orientierten R.suntersuchungen stoßen dabei schnell an Grenzen der Durchführbarkeit: praktisch kann in der Regel nur die R. kurzer Texte unter nur wenigen Aspekten untersucht werden; die Vpn sind nur begrenzt belastbar, und alle Deutungshypothesen und -prozesse, die komplexe mehrstufige Operationen der Vpn erfordern, sind wohl in der Regel nur über indirekte Indikatoren und nur partiell der R.suntersuchung zugänglich. Aufgrund ihrer — auch finanziellen — Aufwendigkeit stoßen diese R.suntersuchungen auch an materielle Grenzen:

Wirkung und Rezeption — Witz umfängliche Forschungsprogramme wären erforderlich, um umfassend und gut bestätigt die Regularitäten des R.sverhaltens eruieren zu können. Heuermann 1980, Hömberg/Rossbacher 1981, Karmasin/Schmitz/Wünsch 1978, Wünsch 1981: s. zu §3 u. 4; Bauer u.a. 1972, Faulstich 1976, 1981, Frey 1980, 1981, Heuermann 1982, Schmidt 1975, Viehoff 1976, Wolff 1977: s. zu § 5 u. 6; Lisch/Kriz 1978: s. zu § 7. - N. H. Anderson, Primacy Effects in Personality Impression Formations. Journal of Personality and Social Psychology 2 (1965) S. 1 - 9 . Christian Becker-Carus, Thomas Heyden u. Gismar Ziegler (Hg.), Psychophysiolog. Methoden (1979). Jürgen Friedrichs, Methoden empir. Sozialforschung (1973; rororo-studium 28). Werner Herkner, Einf. in d. Sozialpsychologie (1975). Ders. (Hg.), Attribution - Psychologie d. Kausalität (1980). Kurt Holm (Hg.), Die Befragung. 6 Bde (19751979). Martin Irle, Lehrbuch d. Sozialpsychologie (1975). E. E. Jones u. K. E. Davis, From Acts to Dispositions. The Attribution Process in Person Perception, in: L. Berkowitz (Hg.): Advances in Experimental Social Psychology. Bd. 2 (New York, London 1965). Fritz u. Helene Karmasin, Einf. in Methoden u. Probleme d. Umfrageforschung (1977; Böhlaus Wissenschaftl. Bib!.). H. H. Kelley, Attribution Theory in Social Psychology, in: D. Levine (Hg.), Nebraska Symposium on Motivation. Bd. 15 (Lincoln, Nebr. 1967). D. Krech, R. S. Crutchfield u. E. L. Ballachey (Hg.), Individual in Society (New York 1962). Werner Kroeber-Riel, Konsumentenverhalten (2. Aufl. 1980). A. S. Luchins, Primacy-Recency in Impression Formation, in: C. J. Hovland (Hg.), The Order of Presentation in Persuasion (New Haven, Conn. 1957). Hartmut-A. Oldenbürger, Zur Konkretisationserhebung literar. Texte u. hermeneut. Deutungshypothesen durch Sortierung u. Netzwerkbildung, in: Groeben 1981 (s. zu § 5 u. 6) S. 161 — 201. C. E. O s g o o d , G. J. Suci u. P. H. Tannenbaum, The Measurement of Meaning (Urbana 1957). S. Rosenberg u. R. Jones, A Method for Investigating and Representing a Person's Implicit Theory of Personality: Theodore Dreiser's View of People. Journal of Personality and Social Psychology 22 (1972) S. 372-386. S. Rosenberg, C. Nelson u. P. S. Vivekananthan, A Multidimensional Approach to the Structure of Personality Impressions. Journal of Personality and Social Psychology 9 (1968) S. 283-294. Wolfgang Schönpflug (Hg.), Methoden d. Aktivierungsforschung (1969). J. Wishner, Reanalysis of „Impressions of Personality". Psychological Review 67 (1960) S. 96-112. M. C. Wittrock (Hg.), The Human Brain (Englewood Cliffs, N.J. 1977). Reinhard Zobel, Das Seman-

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tische Differential — E. Bedeutungsmeßinstrument im Theater? in: Schmidt 1979 (s. zu § 1) S. 83—157. Ders., Textverarbeitung u. Semantisches Differential, in: Groeben 1981 (s. zu § 5 u. 6) S. 117-160. Marianne Wünsch Witz § 1. W o r t g e s c h i c h t e . Das Wort Witz geht auf ahd. wizzi zurück, das angeborenes wie erworbenes Wissen bezeichnet. Das mhd. witze, noch ein Femininum, behält zunächst diese Bedeutung, verengt sie aber dann zu Verstand, Verstandeskraft im Sinne von lat. ingenium. In dieser Bedeutung wird W. noch zu Beginn des 18. Jh.s verwendet. Bereits gegen Ende des 17. Jh.s setzt allerdings unter dem Einfluß des franz. esprit ein Bedeutungswandel ein; im 18. Jh. bezeichnet W., zunächst noch ohne scherzhaften Nebensinn, die Gabe der geistreichen Einfälle. Zur gleichen Zeit übernimmt W. aber auch die Bedeutung des engl. wit und bezeichnet so das psychische Vermögen, Ähnlichkeiten verschiedener Objekte rasch wahrzunehmen. Im literar. Gebrauch der ersten H . d. 18. Jh.s überlagern sich dann die beiden Bedeutungen. W. ist „die fähigkeit, versteckte zusammenhänge vermöge einer besonders lebhaften und vielseitigen kombinationsgabe aufzudecken und durch eine treffende und überzeugende formulierung zum ausdruck zu bringen" (DWb, Bd. 14, 2. Sp. 874). Der W. ist damit bis zur Ablösung durch den Geniebegriff ab 1760 ein zentrales Element der Poetik. Seit Beginn des 19. Jh.s tritt das Scherzhafte in den Vordergrund; W. ist die Gabe der scherzhaften, lustigen Einfälle, die sich in einer entsprechenden Schreibweise zeigt, bis dann durch eine Begriffsverengung W. nur noch den einzelnen lustigen Einfall bzw. die einzelne kurze Erzählung bezeichnet und in dieser heute dominierenden Bedeutung die älteren Begriffe Scherz, Witzspiel und Wortspiel verdrängt. Dieser mehrmalige Bedeutungswandel zeigt, daß der Begriff W. nicht ohne Begriffsexplikation, bei der der Wortgeschichte heuristische Funktion zukommt, als Term der lit.wiss. Metasprache (s. Terminologie) verwendet werden kann. J e nach Objektbereich steht W. für die histor. Bezeichnung eines psychischen Vermögens, für ein histor. poetisches Prinzip sowie für eine Eigenschaft von Personen, zu der

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Witz

wiederum die gleichnamige Schreibart wie der gleichnamige Texttyp in metonymische Relation gesetzt werden. W. als Eigenschaft von Personen bzw. als Schreibart bildet eine gemeinsame semantische Kategorie mit Humor (s.d.), die intern äquivalent zu den Oppositionen ,aktiv vs passiv' und ,objektbezogen vs subjektbezogen/reflexiv' gegliedert ist. B e r n h a r d B e c k m a n n , witz, i n : D W b , B d . 14,2 (1939) Sp. 861-888. Trübners dt. Wörterbuch hg. v. Wolfgang M i t z k a Bd. 8 (1957) S. 212-215. Jost T r i e r , Der dt. Wortschatz im Sinnbezirk d. Verstandes (1931; 2. Aufl. 1973). A d e l u n g , Bd. 5,1, Sp. 266. Wolfgang S c h m i d t - H i d d i n g , Karl Otto S c h ü t z , Wido H e m p e l (Hg.), Humor u. Witz (1963; Europ. Schlüsselwörter 1).

§ 2. D e r W i t z b e g r i f f im 18. Jh. W. und esprit. Die Orientierung der sozialen Oberschicht in Deutschland an den Verhaltensnormen des franz. Hofes führt gegen Ende des 17. Jh.s dazu, daß mit dem zentralen Verhaltensideal der Weltklugheit auch der bei esprit eine besondere Geltung erlangt. T h o m a s i u s empfiehlt im Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle (1687) ausdrücklich den bei esprit, von ihm noch als schöner Geist übersetzt, zur Nachahmung. Er verweist dabei auf die Entretiens d'Ariste et Eugenie (Paris 1671) des franz. Jesuiten Dominicus B o u h o u r s , wonach Leute, die bei esprit besitzen, in Studium und Gelehrsamkeit besonders erfolgreich sind, sich durch ihre angenehme und kluge Konversation beliebt machen und durch ihr planerisches Geschick auch schwierige Aufgaben leicht bewältigen können. Da B. diese Eigenschaften aber ausschließlich den Franzosen zuspricht und den Deutschen wie allen anderen, die in einem kalten Klima leben, gerade soviel esprit zubilligt wie den „Moskovitern und Barbaren", führen seine Ausführungen zu einer über 100 Jahre lang immer wieder aufflammenden Literaturfehde zwischen Deutschen und Franzosen, obwohl bereits Thomasius auf die franz. Kritik an B. hinweist. Johann F. C r a m e r liefert in seiner Entgegnungsschrift Vindiciae Nominis Germanici contra quosdam obtrectatores Gallos (Amsterdam 1694) das typische Argument der dt. Seite, indem er den Nachweis versucht, daß der bei esprit in Deutschland genauso heimisch sei wie in Frankreich. Andererseits wiederholt

Eleazar M a u v i l l o n in den Lettres françoises et germaniques (London 1740) die alten Vorwürfe und facht die Debatte um die Vorzüge der franz. Kultur gegenüber der deutschen neu an. Eine wichtige Position innerhalb dieser Debatte nimmt Christian W e r n i c k e mit seiner Gedichtsammlung Poetische Versuche in Überschriften . . . (1701) ein. Er übersetzt erstmals bei esprit mit Witz und, obwohl er in dem Epigramm Auf den witzigen Burr h us Bouhours kritisiert, pflichtet er ihm darin bei, daß die Barockdichtung, wobei er besonders auf Lohenstein abzielt, keinen W. besitzt. Der W. bildet damit zum erstenmal das Abgrenzungskriterium gegenüber der noch dominierenden Barocklit. und kann sich so allmählich zum poetischen Formprinzip der Lit. des frühen 18. Jh.s entwickeln (Böckmann). W i t z und wit. Die theoretische Konzeption dieses Formprinzips W. wird dabei nachhaltig vom engl, wit beeinflußt. Die empiristische Philosophie definiert wit in Ubereinstimmung mit dem engl. Sprachgebrauch folgendermaßen: „wit [lies] most in the assemblage of ideas and [puts] those together with quickness and variety, wherein can be found any resemblance or congruity, thereby to make up pleasant pictures and agreeable visions in the fancy" (John L o c k e , Essay concerning human understanding, London 1690, cap. 11 §2). Dieser Begriffsbestimmung schließt sich Christian W o l f f an, der W. als „die Leichtigkeit die Aehnlichkeit wahrzunehmen" definiert (Vernünftige Gedancken von Gott . . . 1720, § 366). Die gesamte Philosophie des 18. Jh.s folgt dieser Begriffsfestlegung, die auch noch der Definition des W.es durch K a n t als „ein eigentümliches Verähnlichungsvermögen" zugrunde liegt (Anthropologie, 1798, § 51). W. als S e e l e n k r a f t . In der SeelenkräftePsychologie des 18. Jh.s gilt der W. somit als das Vermögen, Übereinstimmung von Dingen — sei es Ähnlichkeit, Gleichheit oder Proportion — festzustellen. Dieses Vermögen ist den Menschen in unterschiedlichem Maße angeboren und kann durch Übung weiterentwikkelt werden. So kann man die Kinder zu W. erziehen, „wenn man ihnen fleißig die Aehnlichkeiten zeiget, die sich zwischen denen Dingen befinden, die sie erkand haben oder ihnen vorkommen" (Ch. Wolff, Vernünftige Gedancken Von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen, 1721, 3. Kap. § 91). Gottsched empfiehlt zur Übung des W.es das Anfertigen

Witz von Zeichnungen und Rißen (Versuch einer Critiscben Dichtkunst, 4. Aufl. 1751, S. 104). Auf die Leibniz-Wölfische Einteilung des Erkenntnisvermögens bezogen, gehört der vernünftige oder obere W., der Ubereinstimmungen klar und deutlich erkennen kann, dem oberen Erkenntnisvermögen an, während der untere oder sinnliche W. Übereinstimmungen nur dunkel und undeutlich erkennt. Generell wird eine enge Beziehung zwischen W., E i n b i l d u n g s k r a f t und A u f m e r k s a m k e i t angenommen. Die Einbildungskraft regt durch die Vorstellung abwesender Dinge zur Entdekkung von Ubereinstimmungen an, die genaue, aufmerksame Beobachtung der Dinge bildet die zweite Vorbedingung des W.es, der sich dann, wenn ausreichend vorhanden, durch Mühelosigkeit und Schnelligkeit auszeichnet. Die dem W. entgegengesetzte Kraft ist der S c h a r f s i n n , der die Unterschiede der Dinge feststellt. W. und Scharfsinn ergänzen aber einander hervorragend, da der Scharfsinn viele Einzelheiten der Dinge erkennt und so der W. neue Übereinstimmungen entdecken kann. Allerdings bedarf der W., da er nur auf die Oberfläche der Dinge bezogen ist, einer guten U r t e i l s k r a f t , soll er nicht äußerlich bleiben und abgeschmackt werden. W. als E r f i n d u n g s m i t t e l . Eine zentrale Funktion besitzt diese Erkenntniskraft W. für die E r f i n d u n g s k u n s t , die wiss. Methodologie der Aufklärung. Die Erfindungskunst steht in der Tradition der seit der Scholastik gebräuchlichen K o m b i n a t o r i k , einer universalen Methode zur Entdeckung von Wahrheiten, die von Leibniz in der Dissertatio de arte combinatoria (1666) entscheidend weiterentwickelt wurde. Ihre Aufgabe ist, daß sie „aus einigen bekanten Wahrheiten durch richtige Schlüsse andere herausbringet" (Ch. Wolff, Vernünftige Gedancken an Gott . . 1720, § 861). Als Erfindungsmittel dienen dabei die verschiedenen Seelenkräfte. Hauptmittel sind Scharfsinn und W., wobei der Scharfsinn Schlüsse vom Allgemeinen aufs Besondere ermöglicht und der W. als Mittel zur Feststellung von Ubereinstimmungen den Schluß vom Besonderen aufs Allgemeine gestattet. W. ist somit unentbehrlich zur Formulierung von Regeln, zur Entdeckung von Wahrheiten und zur Feststellung bejahender Urteile. Auch beim Analogieschluß, einem in der Wissenschaft der Aufklärung legitimen Beweisverfahren, ist er unverzichtbar.

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W. in der P o e t i k der A u f k l ä r u n g . Diese Funktion des W.es als Erfindungsmittel beeinflußt den W.-Begriff in der Poetik der Aufklärung, die sich als schöne Wissenschaft versteht; zugleich besitzt für die Poetik aber auch der esprit-Begriff eine große Bedeutung, da Lebhaftigkeit und Gefälligkeit der Darstellung auch auf den W. zurückgeführt werden. Dieser doppelte Einfluß zeigt sich deutlich in J . Ch. G o t t s c h e d s Versuch einer Critischen Dichtkunst (4. Aufl. 1751) bei der Beschreibung der wichtigsten Eigenschaften eines Poeten: „Ein glücklicher munterer Kopf ist es, wie man insgemein redet; oder ein lebhafter Witz, wie ein Weltweiser sprechen möchte" (S. 102). Der überdurchschnittliche, ausgebildete W. ist für Gottsched wesentliches Mittel, das für seine Poetik zentrale Prinzip der Naturnachahmung erfüllen zu können und die „Abrisse ihren Vorbildern ähnlich [zu] machen" (S. 148). Dies gilt sowohl für die „poetische Schilderey" wie für die Erfindung der Fabel zur poetischen Darstellung eines moralischen Lehrsatzes. Auch in der Critischen Dichtkunst von J . J . B r e i t i n g e r (1740) besitzt der W. eine ähnliche Funktion: „die Gründe und Schlüsse, womit eine poetische Wahrheit künstlich ausgeführet und unterstützet werden kan, [sind] gemeiniglich nur Einfälle eines sinnreichen Witzes und scharfsinnigen Geistes" (1. Bd. S. 407). Gottsched weist dann dem W. in seiner Poetik noch eine zweite zentrale Position zu, indem er die poetische Schreibart, die sich von der prosaischen durch die reiche Verwendung von Tropen unterscheidet, ebenfalls als eine Wirkung des W.es erklärt (S. 351). In J . G. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (1771) besitzt der W. nur diese Funktion als S t i l m i t t e l , er dient dazu, „einem Gegenstand, der an sich nicht Reizung genug hätte, ästhetische Kraft zu geben" (4. Aufl. 4. Bd. 1794, S. 738). Diese witzige, d.h. unterhaltende und geistreiche Darstellung ist vor allem auch für die popularwiss. Lit. verbindliche Norm. Hier wird nach dem Vorbild Fontenelles ein Vortrag angestrebt, „dessen Zweck allein das Vergnügen zu seyn scheint, und dessen Zweck doch der Unterricht ist" (Johann August Unzer, Der Arzt, 1759, Vorwort); aus diesem Grund werden auch viele popularwiss. Abhandlungen in Form von Gesprächen abgefaßt. Generell werden in der ersten H. d. 18. Jh.s der W. und die aus ihm erwachsenden Größen

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S i n n r e i c h s e i n und G e s c h m a c k als Zeichen der Bildung des einzelnen und der kulturellen Höhe eines Volkes angesehen. Daher erscheint dieser Begriff sehr häufig in den Titeln von Zeitschriften und anderen Publikationen, die aufklärerisches Bildungsbestreben verfolgen. Zuviel W. jedoch gilt aber wie jede überfeinerte Lebensweise als ein Zeichen kultureller Dekadenz. W. und Scherz. Diesen Wertvorstellungen entsprechend gilt auch für das gesellschafdiche Leben der angemessene Gebrauch des W.es als eine Norm des guten Verhaltens. In der geselligen Unterhaltung zeigt sich der W. des einzelnen im Scherz. Wie man richtig, d.h. geschmackvoll scherzen soll, beschreibt Georg Friedrich Meier in seinen Gedancken von Schertzen (1744). Der Scherz ist nach ihm „eine Rede . . ., wodurch wir Vorstellungen, die von den scharfsinnigen Witze gewürckt worden, vortragen, und welche zum nächsten Zwecke hat, andere zum lachen zu reizen" (S. 26). Dies wird durch das sprachliche wie mimisch-gestische Verhalten während des Scherzens erreicht, zugleich muß der Scherz der Unterhaltung angemessen sein, er darf sich nicht auf ernste oder religiöse Themen beziehen, er darf keine Zote oder Posse des gemeinen G a s s e n w i t z e s sein und er darf nicht, wie bei einem W i t z l i n g , erzwungen und gesucht sein. Zusätzlich zur unterhaltenden Funktion besitzt der Scherz auch eine kritisierende. Er ist, so B o d m e r und B r e i t i n g e r , „eine Art des Gespöttes weil er das Ungereimte und Lächerliche bemercken und einen kleinen Stachel auf dasselbe führen muß" (Der Mahler der Sitten. 1746, 2. Bd. S. 362). Seine literar. Ausgestaltung findet dann dieser an Geselligkeit gebundene W. und Scherz in den S c h e r z gedichten der Anakreontik (s.d.). W. und Laune. Der Scherz verknüpft die Seelenkraft W. mit dem Lachen. Damit ist die Beziehung zur Leidenschafts- bzw. Affektenlehre des 18. Jh.s hergestellt, auf die die häufig gebrauchte Wendung „W. und Laune" verweist, die dann von der Wendung „W. und Humor" abgelöst wird. Denn „das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts" (I. K a n t , Kritik der Urteilskraft, 1981, S. 273). Unter Laune wird die jeweilige „Gemüthsfassung" verstanden, die, noch ganz in der Tradition der antiken Säftelehre gedacht, von der jeweiligen Mischung der vier Körpersäfte

bzw. humores abhängt. Verbindet sich nun der W. mit der guten Laune, so ist dies von „glücklichster Wirkung" (Johann Joachim E s c h e n b u r g , Entwurf einer Theorie . . ., 1783, S. 17). Die gute Laune kann dem Dichter bei der P r o d u k t i o n von T e x t e n die Begeisterung ersetzen; die gute Laune der Zuhörer zu erwecken, ist neben der Erregung von Leidenschaften ein Ziel der R h e t o r i k (s.d.). W. und G e n i e . Um 1760 verliert der W. seine Funktion als ein zentrales poetisches Prinzip an den Geniebegriff. Am W. wird kritisiert, daß er nur auf Oberflächliches ziele und daß er, dem kalten Verstand zugeordnet, die warmen Empfindungen des Herzens nicht erfasse. Während Wielands Versuch, W. und Empfindung im Ideal der G r a z i e miteinander zu vereinen, singulär bleibt, wird nunmehr zunehmend das Wesen von Dichtung auf die rational nicht zugängliche Größe Genie zurückgeführt, die mit den Empfindungen des Herzens in engster Beziehung steht. Ausführlich diskutiert Heinrich Wilhelm von G e r stenberg im 20. Brief der Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur (1766—1770) das Verhältnis von W. und Genie. Er grenzt darin den neuen Geniebegriff vom Geniebegriff der Aufklärung ab, der eine hervorragende Organisation aller Seelenkräfte bezeichnet, und er unterscheidet vor diesem Hintergrund den Dichter, der ein Genie (im neuen Sinne) ist, vom Versifikateur, der Genie (im alten Sinne) hat und ein witziger Kopf ist. Die Ablösung des W.es durch den Geniebegriff läßt sich auch deutlich bei Lessing verfolgen. Bezeichnet er in seiner Zeitschrift Das Neueste aus dem Reiche des Witzes (1751) die schönen Wissenschaften und die freien Künste noch uneingeschränkt als das Reich des W.es, so stellt er in der Hamburgischen Dramaturgie (1767) dem künstlerisch schaffenden Genie den bloß witzigen Kopf gegenüber, der allenfalls ein „Spielwerk der Mode" herstellen kann. G o t t sched hingegen hält an der Bedeutung des W.es für die Poetik fest. In seiner Rezension zu Youngs Gedanken über die Originalwerke (dt. Ubers. 1760) identifiziert er — was für den älteren Geniebegriff durchaus üblich ist — auch Youngs Geniebegriff mit Geist und W. und lehnt daher dessen Ausführungen als „Galimathias" ab. Nachdem sich der Geniegedanke allgemein durchsetzt, wird der W. ausschließlich als S t i l m i t t e l betrachtet, das sich durch den

Witz Reichtum an Pointen und Anspielungen auszeichnet und das eine Distanz zwischen Rezipienten und Text herstellt. In diesem Sinne wird der Begriff W. noch heute verwendet. Als kombinatorisch schöpferisches Prinzip erscheint der W. zum letztenmal bei Friedrich S c h l e g e l und in der Vorschule der Ästhetik von J e a n P a u l (1804). Allgemein: Paul B ö c k m a n n , Das Formprinzip d. W.es in d. Frühzeit d. dt. Aufklärung. JbFDH. 1932/1933, S. 52-130, wiederh. in: Böckmann, Formgeschichte d. dt. Dichtung. Bd. 1 (3. Aufl. 1967) S. 471-552. Eric A. Blackall, Die Entwicklung d. Dt. zur Literatursprache 1700—1775. Mit e. Bericht über neue Forschungsergebnisse 1955—1964 von Dieter Kimpel (1966). Heinz O. Burger, Dt. Aufklärung im Widerspiel zu Barock u. „Neubarock", in: Hans Steffen (Hg.), Formkräfte d. dt. Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart (1963; Kl. Vandenhoeck-Reihe, Sonderbd. 1) S. 56-80. esprit: Peter-Eckhard Knabe, Schlüsselbegriffe d. künstler. Denkens in Frankreich von d. Spätklassik bis z. Ende d. Aufklärung (1972). Max Frhr. v. Waldberg, Eine dt.-franz. Lit.fehde, in: Hans Teske (Hg.), Deutschkundliches. Friedrich Panzer z. 60. Geb. (1930; BtrNLitg. NF. 16) S. 87-116. Norbert Elias, Über d. Prozeß d. Zivilisation. Bd. 1 (8. Aufl. 1981; SuhrkTbW 158). Baltasar Gracian, Handorakel u. Kunst d. Weltklugheit (1980; ReclamUB. 2771). Christian T h o masius, Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben u. Wandel nachahmen solle, in: Thomasius, Dt. Schriften (1970; ReclamUB 8369-71) S. 3 - 4 9 . Christian Wernicke, Epigramme, hg. v. Rudolf Pechel (1909; Pal. 71). — wit, Seelenkraft, Erfindungsmittel: Alfred Baeumler, Kants Kritik d. Urteilskraft. Ihre Gesch. u. ihre Systematik. Bd. 1. Das Irrationalitätsproblem in d. Aesthetik u. Logik d. 18. Jh.s bis z. Kritik d. Urteilskraft (1923). John Neubauer, Symbolismus u. symbol. Logik. Die Idee d. Ars combinatoria in d. Entw. d. modernen Dichtung (1978; Humanist. Bibl. 1,28). John L o c k e , The Works of John Locke. A New Ed., Corrected. Vol. 1 (1823; Nachdr. 1963). Thomas H o b b e s , Treatise of Human Nature. cap. 10, § 2—4, in: The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury. Vol. 6 (1840; Nachdr. 1962). Christian W o l f f , Vernünftige Gedancken. Von Gott, Der Welt u. d. Seele d. Menschen (1720). Ders., Vernünftige Gedancken. Von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen (1721; Nachdr. 1971). Johann Chr. G o t t s c h e d , Erste Gründe d. gesamt. Weltweisheit. Th. 1 (1733; Nachdr. 1965) S. 232, 246-249, 322-325. Johann H. Zedier, Grosses vollständ. Universal Lexicon Aller Wissenschaften u. Künste, welche bißhero durch menschl.

923 Verstand u. Witz erfunden. Bd. 57 (1748; Nachdr. 1962) Sp. 1988-1990: Witz. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmat. Hinsicht, in: Kant, Schriften z. Anthropologie (4. Aufl. 1982; Werkausg. hg. v. Wilh. Weischedel, Bd. 11; SuhrkTbW 193). Gottfried W. Leibniz, Dissertatio de arte combinatoria, in: Leibniz, Sämtl. Schriften u. Briefe, hg. v. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 6. Reihe, Bd. 1 (1930) S. 162-230. Baltasar Gracian, Agudeza y Arte de Ingenio (1648; hg. v. Evaristo Correa Calderón, Madrid 1969; Clásicos Castalia 14.15). Carl Fr. Flögel, Einleitung in d. Erfindungskunst (1760). P o e t i k , Scherz, Laune: Armand Nivelle, Kunst- u. Dichtungstheorien zw. Aufklärung u. Klassik (1960). Bruno Markwardt, Gesch. d. dt. Poetik. Bd. 2. Aufklärung, Rokoko, Sturm u. Drang(1956;PGrundr. 13,2). Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jh. Hist. Entwicklung von Gottsched bis Herder (1968; Stud. z. allgem. u. vgl. Lit.wiss. 2). Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung u. Einbildungskraft (1969; Ars poética 11,8). J. Chr. G o t t s c h e d , Versuch e. Critischen Dichtkunst (4. Aufl. 1751; Neuausg. mit Komm. u. Variantenverz. 4 Tie 1973—1978; Ausgew. Werke, hg. v. Joachim u. Brigitte Birke 6). J. J. Breitinger, Critische Dichtkunst (1740; Nachdr. 1966). Johann G. Sulzer, Allgem. Theorie d. schönen Künste. 4 Bde (4. Aufl. 17921794; Nachdr. 1970). Johann J. Eschenburg, Entwurf e. Theorie u. Lit. d. schönen Wissenschaften (1783). Bernhard v. F o n t e n e l l e , Auserlesene Schriften, übers, v. J. Chr. Gottsched (1771). G. E. Lessing, Der Naturforscher (1747), in: Lessing, Werke, hg. v. H. G. Göpfert, Bd. 3 (1972) S. 9 - 1 1 . Alexander v. Bormann (Hg.), Vom Laienurteil zum Kunstgefühl. Texte z. dt. Geschmacksdebatte im 18. Jh. (1974; Dt. Texte 30). Georg F. Meier, Gedancken von Schemen (1744). J. J. Bodmer u. J. J. Breitinger, Der Mahler der Sitten. Bd. 2 (1746; Nachdr. 1972) S. 360-393. Adolph Frhr. v. Knigge, Über den Umgang mit Menschen (1788; Nachdr. 1957; Neuausg. 1977; InselTB. 273). I. K a n t , Kritik d. Urteilskraft (5. Aufl. 1981; Werkausg. hg. v. Wilh. Weischedel, Bd. 10; SuhrkTbW 57). Leonhard Meister, Über die Einbildungskraft (2. Aufl. Bern 1795). C. F. Flögel, Gesch. d. komischen Lit. Bd. 1 (1784; Nachdr. 1976). Ders., Gesch. d. Burlesken (1794). Ders., Gesch. d. Groteskkomischen (1788; 3. Aufl. 1862; danach Nachdr. 1978; Die bibliophilen Tb. 24). George Campbell, Die Philosophie d. Rhetorik. Ubers, v. D. Jenisch (1791). Genie: Friedrich G. K l o p s t o c k , Von d. heiligen Poesie, in: Klopstock, Ausgew. Werke, hg. v. K. A. Schleiden (1962) S. 997-1009. Klaus O e t t i n g e r , Phantasie u. Erfahrung, Studien z. Erzählpoetik Chr. M. Wielands (1970). K. H. Kausch, Die Kunst d. Grazie. E. Beitr. z. Ver-

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Witz

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§ 3. W i t z als G e g e n s t a n d wiss. D i s z i p l i n e n . In der Ä s t h e t i k wird der W., der seit dem 19. Jh. allgemein als ein lachenerregendes Phänomen gilt, als ein Bestandteil des Komischen behandelt. Damit werden für die ästhetischen Erklärungen des W.es die jeweiligen Erklärungen des Komischen relevant, das durchwegs als eine ästhetische Bewältigung des Häßlichen aufgefaßt wird. Unter W. wird dabei allgemein die Fähigkeit des Subjekts verstanden, Komisches hervorzubringen oder wahrzunehmen. Da diese Begriffsbestimmung absolut gesetzt wird, kann die Ästhetik nicht an die Begriffsbestimmungen des 18. Jh.s anknüpfen. Sie werden als „zu eng und zu weit" verworfen (Kuno Fischer), denn die Aufgabe des W.es ist es nicht mehr, generell Ähnlichkeiten zu entdecken, sondern durch Auffinden versteckter, unerwarteter Ähnlichkeiten und Unterschiede komische Kontraste hervorzubringen. Der k o m i s c h e K o n t r a s t liegt im Unverhältnis oder im Widerspruch, wobei er aber vom Gro-

tesken durch „das kleine, relativ Geringfügige" abgegrenzt ist (Albert Wellek). Vom W. ausgehend, versuchen dann verschiedene Ästhetiken das W i t z i g e allgemein zu erfassen, das — häufig als ein flüchtiges, schwer zu erfassendes Wesen beschrieben — als das geistreich Komische definiert wird. Diese Untersuchungen führen häufig über die Ästhetik hinaus in die Bereiche der P s y c h o l o g i e , A n t h r o p o l o g i e und S o z i o l o g i e und regen dort eigenständige Arbeiten an. Der W. wird als eine eigenwillige, überraschende Ideenassoziation (K. Fischer, Kraepelin) oder als Beweis für angeborene Ideen (Froeschels) erklärt, das Lachen wird auf spezifisch menschliche Spiel- und Lachtriebe zurückgeführt (Sauer, Schweizer), es wird als eine Reaktion im Grenzbereich des menschlichen Verhaltens erklärt (Plessner), oder es wird als ein Erziehungsmittel gesehen, mit dem die soziale Umgebung ein dem Lebendigen des Menschen widersprechendes mechanisch-steifes Verhalten tadelt (Bergson). Die wichtigste der durch diese weiterführenden Fragestellungen angeregten Arbeiten ist die Abhandlung von Sigmund F r e u d Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). Freud sieht eine enge Verwandtschaft zwischen dem Texttyp W. und dem Traum, da beide ähnliche Techniken wie Verdichtung, Verschiebung usw. verwenden und da durch den W . , der immer auch eine aggressive, sexuelle usw. Tendenz verfolgt, wie durch den Traum die Hemmungen der Zensur des Bewußtseins überwunden werden. Die psychische Energie, die durch den „ersparten Hemmungsaufwand" nicht aufgebraucht wird, wird im Lachen abgeführt. Während aber der Traum, der nur der Unlustersparnis dient, ein asoziales, seelisches Produkt ist, ist der W. „die sozialste aller auf Lustgewinn zielenden seelischen Leistungen" (Ausg. 1972 S. 146). Er ist an eine Kommunikationssituation gebunden und bezieht mit dem Objekt der W.tendenz oftmals noch eine dritte Person ein. Freuds Abhandlung etabliert den W. als einen Gegenstand der Psychoanalyse; so untersucht z . B . Theodor Reik die Zusammenhänge zwischen dem W. und verschiedenen pathologischen psychischen Phänomenen. Psychologischen Fragestellungen verpflichtet zu sein, beanspruchen auch die Arbeiten von Egner, Pinder und Schöffler, die im Umkreis von Stammes- und Rassenkunde angesiedelt, ausgehend vom W. eines Stammes, Volkes

Witz usw. die Entwicklung einer National- bzw. Stammescharakteristik anstreben. Für die Behandlung des W.es in der Lit.wiss. wie in der Volkskunde gleichermaßen wichtig ist André Jolles' Entwurf der Einfachen Formen (s.d.), denen er auch den Texttyp W. zurechnet. Die Geistesbeschäftigung, die den W. hervorbringt, ist die der Lösung eines in der Sprache, Logik, sozialen Normen Gebundenen. Im W., einer Zweieinheit von Spott und Scherz, wird „die Entbindung eines unzulänglichen Gefüges und die Lösung einer Spannung vollzogen." Auf dem W. aufbauend, versucht Jolles dann das Komische, die Satire und die Ironie morphologisch und nicht ästhetisch zu erfassen. Als einfache Form kennzeichnen den W. seine Anonymität, Typisierung und Variantenbildung; damit ist eine der Aufgaben der volkskundlichen W i t z f o r s c h u n g vorgegeben, nämlich den W. neben seiner Rolle als Kommunikationsmittel auch als Erzählform zu untersuchen (Röhrich). Neuere Arbeiten der Lit.wiss. untersuchen die für den Texttyp W. „charakteristische Sprachverwendung" (Preisendanz) und seine pragmatischen Funktionen. Die Beziehung zwischen Texttyp W. und Sprache, von der ausgehend bereits Hochfeld den W. definiert (1920), und die schon von Freud ausführlich dargestellten Verfahren der Pointenbildung stehen im Zentrum strukturalistisch und linguistisch orientierter Arbeiten. Greimas erklärt die Pointe als das Aufdecken einer zweiten, die Semstruktur des Textes organisierenden Isotopie; Marfurts textlinguistische Untersuchung zur Textsorte W. beschreibt deren Textstruktur sowie — unter Rückgriff auf K. L. Pike's Tagmemik-Theorie — den mit dieser Textstruktur korrelierten Kommunikationsvorgang W.erzählen. Auf die pragmat. Funktionen des W.erzählens konzentrieren sich die Arbeiten von Speier, der die Funktionen des polit. W.es untersucht, Uwe H. u. Johanne Peters wie K. Huffzky, die die Rolle des W.erzählens bei der Bildung von Vorurteilen über psychisch Abnorme bzw. Frauen untersuchen. Ä s t h e t i k : Friedrich Th. V i s c h e r , Über das Erhabene und Komische u. a. Texte z. Ästhetik. Einl. v. Willi Oelmüller (1967; Theorie 1,5). Kuno F i s c h e r , Über den Witz (1871). Theodor L i p p s , Komik u. Humor. Eine psychologischästhetische Untersuchung (1898). Johannes I. V o l k e l t , System der Ästhetik. Bd. 2 (2. Aufl.

925 1925). Albert W e l l e k , Zur Theorie u. Phänomenologie d. Witzes. Studium Generale 2 (1949) S. 171-182; erw. in Wellek, Witz. Lyrik. Sprache (1970) S. 1 3 - 4 2 . Werner R. S c h w e i z e r , Der Witz (1964). — P s y c h o l o g i e , A n t h r o p o l o g i e : Emil K r a e p e l i n , Zur Psychologie d. Komischen. Philosoph. Studien 2 (1883) S. 1 2 8 260 u. 328-361. O t t o S c h a u e r , Über d. Wesen d. Komik. Archiv f. d. Gesamte Psychologie 18 (1910) S. 411-427. Henri B e r g s o n , Le rire. Essai sur la signification du comique (Paris 1900); dt.: Das Lachen (1914). Helmuth P l e s s n e r , Lachen u. Weinen. E. Unters, nach d. Grenzen menschl. Verhaltens (Arnheim 1941; 2. Aufl. 1950; Samml. Dalp 54). Emil F r o e s c h e l s , Philosophy in Wit (New York 1948). Sigmund F r e u d , Der Witz ». s. Beziehung z. Unbewußten (1905; wiederh. in: Freud, Ges. Werke, Bd. 6, 1958, auch Einzelausg.: 1980; FischerTb 6083). Theodor R e i k , Lust u. Leid im Witz. Sechs psychoanalyt. Studien (Wien 1929). Annelies B l u m , Humor u. Witz. E. psycholog. Untersuchung (Masch.vervielf.) Diss. Zürich 1980. Fritz E g n e r , Humor u. Witz unter strukturpsychol. Gesichtspunkt. Archiv f. d. Gesamte Psychologie 84 (1932) S. 330-371. Herbert S c h ö f f l e r , Kleine Geographie d. dt. Witzes (1955; Kl. Vandenhoeck-R. 9), darin auch Wilhelm P i n d e r , Landkarte des Humors. — L i t . w i s s . , V o l k s k u n d e : André J o l l e s , Einfache Formen (1929; 5. Aufl. 1974). Hermann B a u s i n g e r , Formen der Volkspoesie (1968; Grundlagen d. Germanistik 6). Lutz R ö h r i c h , Der Witz. S. Formen ». Funktionen. (1977; LizenzAusg. 1980; dtvTB. 1564). Sophus H o c h f e l d , Der Witz (1920). Algirdas J. G r e i m a s , Strukturale Semantik (1971). Wolfgang P r e i s e n d a n z , Über den Witz (1970; Konstanzer Univ.reden 13). Bernhard M a r f u r t , Textsorte Witz. Möglichkeiten e. sprachwiss. Textsorten-Bestimmung (1977; Linguist. Arbeiten 52). Uwe H . P e t e r s u. Johanne P e t e r s , Irre ». Psychiater. Struktur ». Soziologie d. Irren- u. Psychiaterwitzes (1974; Kindler Tb. 2132). Karin H u f f z k y , Wer muß hier lacheni Das Frauenbild im Männerwitz. E. Streitschrift (1979; Samml. Luchterhand 271). Hans S p e i e r , Witz ». Politik. Essay über d. Macht ». d. Lachen (Zürich 1975; Texte u. Thesen 58).

§ 4. Der Texttyp W. kann deskriptiv als eine sehr kurze, meist mündlich vorgetragene Erzählung bestimmt werden, die aus einer im Präsens geschilderten Dialogsituation, der Witzfabel, und der abschließenden Pointe, dem intendierten Zielpunkt des Erzählens, besteht. W.e entstehen anonym und werden im Diskurs des Alltags weiterverbreitet. Sie sind dabei an eine spezifische Kom-

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Witz

m u n i k a t i o n s f o r m gebunden: Der Sprecher muß, sofern nicht äußere Umstände dies deutlich machen, den W. als solchen ankündigen, der Hörer reagiert bei geglückter Kommunikation — wenn er den W. verstanden hat — mit Lachen. W.e werden gewöhnlich in der Umgangssprache erzählt; es gibt aber in der Volkspoesie wie in der Unsinnspoesie Formen der gebundenen Rede für W.e, wie Schnadahüpfl, Schüttelreim, Klapphornvers und Limerick. Als W.e werden aber nicht nur mündliche oder schriftliche Texte bezeichnet, sondern darüber hinaus auch Texte in anderen Medien, wie Bilderw.e, Karikaturen, gestische oder mimische W.e. Sie besitzen häufig eine dem sprachlich vorgetragenen W. durchaus gleichwertige Struktur. D i e S t r u k t u r S des T e x t t y p s W. läßt sich als Menge der Relationen bestimmen, die zwischen zwei untergeordneten Strukturen s 1 und s 2 mit den entsprechenden Bedeutungsfeldern b 1 und b 2 bestehen und die folgenden Bedingungen erfüllen: 1. Die paradigmatischen Relationen zwischen s 1 und s 2 sowie zwischen b 1 und b 2 besitzen folgende Eigenschaften: s 1 und s 2 sind einander möglichst äquivalent und unterscheiden sich nur durch eine möglichst minimale Opposition, während b 1 und b 2 in einer möglichst maximalen Opposition zueinander stehen. 2. Zwischen s 1 und s 2 wird eine spezifische syntagmatische Relation dadurch etabliert, daß auf die während der Entfaltung der W.fabel sukzessive entwickelte Struktur s 1 die Struktur s 2 projiziert wird, die von der Pointe aus rückwirkend etabliert wird. Diese Aufeinanderprojektion von s 1 und s 2 neutralisiert die Opposition zwischen b 1 und b 2 und stiftet eine sonst nicht übliche Äquivalenz zwischen b 1 und b 2 . 3. Der komische Effekt des W.es ergibt sich daraus, daß durch die Aufeinanderprojektion von s 1 und s 2 , bzw. von b 1 und b 2 , ein komischer Kontrast entsteht. Dazu ist es notwendig, daß die Opposition jb 1 vs b 2 ' in der textexternen kulturellen Ordnung zu mindestens einer der Oppositionen ,groß vs klein', ,hoch vs niedrig', .gefährlich vs harmlos' äquivalent ist. Die Aufeinanderprojektion reduziert dann Großes auf Kleines usw.

Diese Struktur S ist, wie die Bezugnahme auf die zeitliche Entfaltung der W.fabel zeigt, an den K o m m u n i k a t i o n s v o r g a n g gebunden, der jedoch auf hierarchisch höherer Ebene anzusiedeln ist. Das Strukturalismus-Konstruktivismus-Konzept Piagets (s. Struktur/

Strukturalismus) gestattet es, die Beziehung zwischen dem Kommunikationsvorgang und der Textstruktur S näher zu erläutern. Die Bestimmung von S impliziert, daß W.e in einer der Zeitabfolge des Erzählens entsprechenden Sukzession rezipiert werden, wobei der Rezipient die sukzessive erhaltenen Informationen zur Struktur s 1 ordnet. Durch die in der Pointe vermittelten Textdaten, die sich nicht in s 1 integrieren lassen, wird dann der Rezipient zu einer Umstrukturierung gezwungen, wobei sich s 1 und s 2 überlagern. Für das Gelingen des Kommunikationsaktes ist es notwendig, daß der Hörer auf diese spezielle Rezeptionssituation vorbereitet ist und er die Umstrukturierung selbständig leistet. Der Text muß als W. angekündigt werden, die Pointe muß aber dennoch den Hörer überraschen. Daher kann der Sprecher die pointenbildenden Beziehungen zwischen s 1 und s 2 sowie zwischen b 1 und b 2 nicht vorher verraten, sondern muß darauf vertrauen, daß der Hörer den W. versteht, d. h., daß das momentane Wissen und Befinden des Hörers den vom Sprecher präsupponierten Annahmen entspricht. Beispiel. Der kleine Max kommt ganz aufgeregt nach Hause und ruft: „Du Mutti, die Kinder werden nicht vom Storch gebracht, die werden geboren — und wer der Bo(h)rer ist, das bekomm' ich auch noch heraus." (Mündliche Quelle) Die Dialogsituation der W.fabel ist hier auf den Ausruf des Kindes reduziert, die Anwesenheit eines schweigenden Zuhörers wird aber durch die Anrede Du Mutti impliziert. Die Pointe liegt in dem Wort Bo(h)rer, das aufgrund der phonetischen Äquivalenz zu geboren auch morphosyntaktisch darauf bezogen wird. In der W.fabel wird ausgehend von den Tennen Kinder werden nicht vom Storch gebracht und geboren die Struktur s 1 entwickelt, die Terme geboren und dann auch Bo(h)rer substituieren mit Hilfe der Konjunktion sondern den negierten ersten Term. Von der Pointe aus wird rückwirkend die Struktur s 2 etabliert, die, auf der phonetischen Äquivalenz ,gsbo:r9n — bo:rar' basierend, eine morphosyntaktische Beziehung zwischen beiden Lexemen stiftet, beide werden auf bohren bezogen. Die beiden Strukturen s 1 und s 2 sind zueinander äquivalent, weil beide eine Größe anbieten, die die angebliche Ursache des Kinderkriegens Storch substituieren kann. Denn bo:nr wird nach einem Nominalisierungsschema gebildet, nach dem generell die verursachende Größe der jeweiligen im Verb festgehaltenen Tätigkeit bezeichnet wird. Die minimale Opposition zwischen s 1 und s 2 ergibt sich aus der korrekten Ableitung des Lexems bo:r3r, die auf das Lexem gebohrt und nicht geboren verweist. Zwi-

Witz sehen den mit beiden Strukturen transportierten Bedeutungsfeldern b 1 und b 2 besteht jedoch die maximale Opposition ,tabuisierte sexuelle Vorgänge vs triviale alltägliche Vorgänge'. Durch die Aufeinanderprojektion von b 1 und b 2 wird diese Opposition neutralisiert. Sexualität wird zu einer Trivialität des Alltags reduziert, und der Term Bohrer im Konnotationsfeld , Sexualität' aktiviert die als obszön und niedrig geltende Gleichsetzung von Bohrer und Phallus.

W. und G a t t u n g e n . Der W. ist aufgrund seiner komischen Wirkung der k o m i s c h e n D i c h t u n g (s.d.) zuzurechnen. Seine anonyme Entstehung und sein Gebrauch als Allgemeingut weisen ihn als eine einfache F o r m (s.d.) aus, weiterhin sind W.e obligatorische Bestandteile von K o m ö d i e n (s. Lustspiel). Enge Beziehungen des W.es bestehen zu den Gattungen, für die die Pointe obligatorisches oder fakultatives Strukturmerkmal ist, wobei die Verwandtschaft mit Schwank (s.d.) und Anekdote (s.d.) besonders eng ist. W. und Schwank werden gemeinhin nur durch deskriptive Merkmale voneinander abgegrenzt. Der Schwank ist „in der Regel umfänglicher als ein Witz", steht „meist in der Vergangenheitsform" und besitzt häufig ein „didaktisches Moment" (L. Röhrich, Der Witz, 1980, S. 8f.). Ein weiteres, außertextliches Differenzkriterium ist, daß der Schwank in vergangenen kulturellen Epochen beheimatet ist, während heute der W. verbreitet ist. Als Differenzkriterium von W. und A n e k d o t e kann das Verhältnis zur Fiktionalität gelten. Ein W. enthält reine Fiktion, während eine Anekdote auf einen histor. Vorgang Bezug nimmt, der zwar nicht unbedingt wahr, wohl aber ,gut erfunden' sein muß. Deutlich wird dies bei einem Vergleich von Politikerw. und Politikeranekdote. Während beim W. ohne weiteres die Figuren durch andere ersetzt werden können — so waren z . B . am Ende der Regierung Brandt W.e im Umlauf, die früher gegen Hitler und Stalin erzählt wurden (H. Speier, Witz und Politik, 1975, S. 55) — kommt es bei der Anekdote zwar nicht auf die histor. Verbürgtheit des Geschehens, aber doch darauf an, daß das Geschehen auf eine der realen Person zugeschriebene Eigenschaft Bezug nimmt. Dies wird durch die unterschiedlichen Erzählerankündigungen geleistet: Während der W. als solcher angekündigt wird, wird die Anekdote als eine Geschichte von x, einer histor. Größe, eingeführt.

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Die Einbeziehung der W.fabel in die Definition des W.es grenzt ihn von jenen spruchartigen Texten ab, die als W o r t s p i e l , B o n mot oder häufig ebenfalls als W. bezeichnet werden und die gewissermaßen nur aus der Pointe allein bestehen. Anders als der W. sind sie nicht an eine spezifische, durch Ankündigung etablierte Sprechsituation gebunden, sondern können von einem situationsmächtigen Sprecher schlagfertig in jede Redesituation eingebracht werden. Diese Situationsmächtigkeit unterscheidet das Wortspiel von der S t i l b l ü t e , deren komische Wirkung vom Sprecher nicht intendiert wurde. Wortspiele und Stilblüten werden jedoch häufig durch Hinzufügen einer entsprechenden W.fabel zu W.en erweitert oder bilden nach Schilderung der histor. Äußerungssituation die Pointe von Anekdoten. Eine nicht derart enge Beziehung besteht zwischen W., A p h o r i s m u s (s.d.) und E p i gramm (s.d.), für die die Pointe ein fakultatives Strukturmerkmal ist. Anders als beim W. muß hier die Pointe auch nicht unbedingt eine komische Wirkung erzeugen, sondern lediglich die Botschaft des Textes aufs äußerste konzentrieren. Ein ähnliches Verhältnis besteht zwischen dem W. und zahlreichen der Gattung Spruch (s.d.) zugehörigen Typen von Gebrauchstexten, wie Schlagzeile, Uberschrift, Werbeslogan, politische Parole und Graffiti: Der durch die Pointe erzielte Verfremdungseffekt (s. Verfremdung) soll die Aufmerksamkeit des Rezipienten erregen und so die Verwirklichung übergeordneter Zielsetzungen vorbereiten. Eine dem W. sehr ähnliche Struktur besitzt auch das R ä t s e l (s.d.). Wie beim W. durch die Pointe, werden beim Rätsel durch die Lösung, die wie die Pointe eine spezifische Rezipientenleistung erfordert, zwei textextern nicht korrelierte Bedeutungsfelder miteinander verknüpft. Beim S c h e r z r ä t s e l und der S c h e r z f r a g e bestehen zwischen den beiden Bedeutungsfeldern die gleichen Komik erzeugenden Beziehungen wie beim W. Die für die Oberflächenstruktur der W.fabel charakteristische Dialogsituation wird hier durch einen realen Dialog Sprecher — Hörer ersetzt, bei dem der Sprecher den Hörer bewußt in die Irre führen darf. W . - K l a s s i f i k a t i o n e n . Umfassende W.Klassifikationen, die den Rahmen der auch in den W.-Sammlungen üblichen additiven

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Witz

Aufzählungen überschreiten, sind bisher nur in Ansätzen vorgelegt worden. Röhrich gibt folgende Verfahren an, nach denen die Untergattungen des W.es bestimmt werden (Der Witz, S. 5): 1. Benennung nach auftretenden W.-Personen (Klein-Erna-W.; Tünnes- und-Schäl-W.; IrrenW.; Elefantenw. usw.). 2. Einteilung nach wirklichen oder fiktiven W.-Produzenten und Rezipienten (Herren-W.; Kindermund-W. usw.). 3. Klassifikation nach signifikantem Inhalt oder Bezug (konfessioneller, politischer, sexueller W.). 4. Klassifikation nach W.-Technik, W.-Form und W.-Struktur (Wortw.; Bildw.; Obertrumpfungsw.; Pointenkiller-W.). 5. Bezeichnungen in einer Wirkungsterminologie (Ekelw.; trockener W.). 6. Einteilung nach Ethnien und Regionen, wobei damit sowohl W.e vom betreffenden wie über das betreffende Ethnion bezeichnet werden (jüdischer W.; Ostfriesenw.). 7. Einteilung nach Form und Gewicht der W.-Tendenz (harmloser, aggressiver, zynischer, antiklerikaler W.). 8. Ordnung nach Geschehnisorten (Schulw.; InselW. usw.). W.-Klassifikationen können von historischvariablen Kriterien, wie W.-Themen, aber auch von strukturellen Kriterien ausgehen, die die allgemeine W.-Struktur S weiter spezifizieren. Die Schwierigkeiten einer an historisch-variablen Kriterien orientierten Klassifikation rühren daher, daß W.-Typen modeartig entstehen und dabei einzelne W . e oder W.elemente relativ unverändert übernommen werden, daß aber andererseits der gleiche W . der jeweiligen Erzählsituation entsprechend variiert werden kann. Das Problem der klassifikatorischen Überschneidungen läßt sich dadurch beseitigen, daß man die verschiedenen Einteilungskriterien den definitorischen Merkmalen der W.-Struktur S zuordnet. Die seit der Antike gebräuchliche Unterscheidung von W o r t w . und S a c h w . nimmt darauf Bezug, ob die Strukturen s 1 und s 2 auf Signifikanten- oder Signifikat-Ebene angesiedelt sind. Als eine spezifische syntagmatische Relation zwischen s 1 und s 2 läßt sich das für U b e r b i e t u n g s w . e charakteristische Steigerungsschema auffassen. Eine nähere formale Bestimmung der paradigmatischen Relation zwischen s 1 und s 2 liegt der Klassifikation von W . nach ihrer P o i n t e n t e c h n i k zugrunde.

So läßt sich z.B. der Kalauer als ein Typ des Wortw.es definieren, in dem die minimale Opposition zwischen s1 und s 2 durch eine „Wortverrenkung" erzeugt wird (A. Wellek, Zur Theorie «. Phänomenologie d. Witzes, 1970, S. 35). Die für die R a d i o - E r i w a n - W . e charakteristische Opposition zwischen erwarteter Antwort (s1) und tatsächlicher Antwort (s2) ergibt sich daraus, daß die mit der stereotypen Formel „Im Prinzip ja," eingeleitete Antwort präsupponierte Zusatzannahmen des Fragenden mißachtet. Ebenfalls gegen Präsuppositionen verstoßen surrealistische W.e, indem sie in der Pointe das für die fragende W.figur wie für den Hörer gleichermaßen Unlogische und Fremde als natürlich-vertraut ausgeben. K l a s s i f i k a t i o n e n n a c h W . - T h e m e n beziehen sich auf die Bedeutungen von b 1 und b 2 und betrachten beide gleichermaßen als W . Thema. Dies führt häufig zu Klassifikationsschwierigkeiten, da zwischen b 1 und b 2 nur selten ein charakteristischer Zusammenhang besteht. Eine derartige Ausnahme bilden MinderheitenW. e, in denen das bei der Erwähnung der Minderheit aktualisierte Vorurteil durch die Pointe bestätigt wird. So muß z.B. die Pointe eines Schottenw.es immer das Vorurteil Geiz bestätigen. W.Klassifikationen, die auf soziale, regionale usw. Zugehörigkeit von W.figuren Bezug nehmen, orientieren sich meistens an b 1 , so z.B. Medizinerw., Beichtstuhlw. usw. Gemeinsames Merkmal der sexuellen W.e ist die sexuelle Anspielung durch die Pointe, die meist durch b2 ausgelöst wird. Intern wird diese sehr große Gruppe zum einen nochmals thematisch untergliedert, wie Ehebruchw., Kindermund usw. Eine zweite Untergliederung richtet sich nach dem Abstandsverhältnis der beiden Strukturen s1 und s 2 ; während bei der zweideutigen Anspielung beide Strukturen einander sehr ähnlich sind , spielt ihre Ähnlichkeit bei der Zote nur eine untergeordnete Rolle, als Pointe fungiert oft nur noch das Aussprechen eines tabuisierten Wortes. Eine besondere Dominanz der Opposition .gefährlich vs harmlos' kennzeichnen Galgenhumor und Schwarzen Humor, die sich wiederum durch die entgegengesetzte Richtung der Aufeinanderprojektion von Gefährlichem und Harmlosem unterscheiden. Die p r a g m a t i s c h e n F u n k t i o n e n des W . erzählens resultieren aus dem für W.e typischen Kommunikationsgeschehen. Der Sprecher teilt seine Behauptung nicht direkt mit, sondern vermittelt sie durch einen vom Hörer zu leistenden Erkenntnisakt; der Hörer gibt aber sein Verstehen und seine Zustimmung unmittelbar durch sein Lachen zu erkennen. W . e werden primär erzählt, um Lachen zu erregen;

Witz doch mit dieser im Vordergrund stehenden U n t e r h a l t u n g s f u n k t i o n erfüllt das W.erzählen noch mehrere andere Funktionen. Dem Lachen selbst, einem komplexen psychosomatischen Vorgang, werden seit jeher positive Wirkungen zugeschrieben: Lachen ist gesund, wobei bis ins 19. Jh. hinein dies nicht nur auf die psychische, sondern auch auf die somatische Gesundheit bezogen wurde. So empfiehlt die diätetische Lit. des 18. Jh.s Lachen durchwegs als erfolgversprechendes Mittel gegen somatische wie psychische Ursachen und Folgen von Hypochondrie und ähnlich komplexen psychosomatischen Erkrankungen. Auf diese Tradition spielen noch viele Titel heutiger W.sammlungen an. So gleicht die von Christoph Marquart als Industrie-Kontaktgeschenke herausgegebene Reihe Anti-Deprimin (1964), Frivolin (1969), Erosin forte (1971) usw. nicht nur vom Titel, sondern auch von der äußeren Aufmachung her pharmazeutischen Produkten. Die Bändchen sind in kleine Schachteln verpackt, die in Größe, Farbe und Gestaltung der Aufschrift der Verpackung von Medikamenten entsprechen. Angaben zur Indikation, wie „Krampflösende Kurpackung. Gegen finanzielle Depressionen . . ." und der Hinweis „Nur Erwachsenen verordnen!" fehlen nicht. Durch seine indirekte Aussageweise eignet sich der W. besonders gut als I n s t r u m e n t der K r i t i k , da er den Hörer dazu zwingt, die Kritik des Sprechers zu verstehen, ohne daß sie jener explizit vorbringen muß. Das Lachen des Hörers signalisiert dann dem Sprecher, ob er verstanden und seine Kritik geteilt wurde. Das Erzählen von W.en gestattet es auf diese Weise auch, sich unausgesprochen g e m e i n s a m e r W e r t - und N o r m o r d n u n g e n zu v e r g e w i s s e r n . Dies erklärt, warum W.e bevorzugt innerhalb von sozialen Gruppen mit relativ lockeren sozialen Bindungen erzählt werden, wie in Stammtischrunden und unter Arbeitskollegen. Eine gleiche gruppenstabilisierende Funktion erfüllen auch zahlreiche W . themen, die V o r u r t e i l e sozialer Gruppen bestätigen und A g g r e s s i o n e n ausdrücken. Der interne Gruppenzusammenhang wird hier durch Abgrenzung gegen Nichtzugehörige gefestigt, indem im W. deren nonnabweichendes Verhalten behauptet wird und sie deswegen verspottet werden. Der W. wird so, wie W.e über Minderheiten und über Frauen zeigen, partiell zu einem I n s t r u m e n t der s o z i a l e n U n t e r d r ü c k u n g . Allerdings können zwischen W.-Stereotypen und gängigen Vorurteilen erhebliche Diskrepanzen bestehen, wie die Untersuchungen zum Irrenw. zeigen

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(U. H . Peters u. J. Peters, Irre u. Psychiater. Struktur u. Soziologie d. Irren- u. Psychiaterwitzes, 1974, S. 60—72). Die Bestätigung von Vorurteilen tritt hier zugunsten einer V e r h a r m l o s u n g von individuellen wie kollektiven Ängsten zurück, eine Funktion, die z . T . auch für sexuelle W . e angenommen werden muß. Eine ähnliche p s y c h i s c h e Entlas t u n g s f u n k t i o n erfüllen auch viele aggressive W.e von sozial unterdrückten Gruppen und politische W.e, in denen die Machthaber zu sozial Unterlegenen reduziert werden. Diese aggressiven W . e können sich dann sogar gegen die eigene Gruppe richten, wie das Beispiel des jüdischen W.es zeigt. Schließlich lassen sich aber auch durch das W.erzählen Aggressionen abbauen und K o n f l i k t s i t u a tionen versöhnlich entschärfen. Beispiel. Die Interdependenz von potentiellen pragmatischen Funktionen und der Textstruktur eines W.es läßt sich an dem oben vorgestellten Beispiel aus der Untergattung „Kindermund" deutlich ablesen. Die indirekte Aussageweise ergibt sich durch die Aufeinanderprojektion von s 1 und s 2 , die der Sprecher zwar anregt, der Hörer jedoch vollzieht. Eine zweite häufig feststellbare Absicherung des Sprechers entsteht durch die Vewendung von Figurenperspektiven; der W.erzähler legt die anstößige Passage einer Figur in den Mund — hier einem Kind —, deren abweichendes Verhalten bekannt ist. Zugleich bietet dies eine unverfängliche Interpretationsmöglichkeit des W.es, der Erzähler muß nur auf die Eigenheiten dieser Figur hinweisen, hier auf kindliche Sprachunsicherheiten. Die Bestätigung von Vorurteilen steht in engem Zusammenhang mit der für W.e charakteristischen E r eignisstruktur. Das scheinbare Ereignis der W.fabel, ein Vertreter der ausgegrenzten Gruppe verhält sich wie ein Mitglied der eigenen Gruppe, entpuppt sich in der Pointe als Nicht-Ereignis, die W.figur benimmt sich doch so, wie man es von ihr zuerst erwartet. Das Kind scheint aufgeklärt, ist es aber nicht. Das Erkunden der gegenseitigen Wertvorstellungen wird durch die für W.e typischen Leerstellen erleichtert, die es Anhängern unterschiedlicher Wertordnungen erlauben, ihre Vorstellungen im gleichen W. wiederzuerkennen. So geht aus diesem W. nicht hervor, ob die Tatsache, daß ein Kind aufgeklärt ist oder daß es nicht von den Eltern aufgeklärt wurde, gegen die gültige Norm verstößt. Damit ergibt sich aber erst aus dem situativen Kontext, welche Funktion generell die dominierende dieses W.es ist. K i n d e r w i t z . W . e von Erwachsenen setzen die Vertrautheit mit den Normen des W.erzählens wie die Vertrautheit mit den im W.

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Witz - Wörterbücher

angesprochenen Normen voraus. Für Texte, die Kinder als W.e erzählen, gelten beide Voraussetzungen nicht. Kinderw.e besitzen nicht die Struktur von Erwachsenenw.en und dürfen nicht mit der Gattung „Kindermund", mit W.en, die von Erwachsenen für Kinder erzählt werden, und mit kindlichen Fehlleistungen verwechselt werden. Die Untersuchungen von Hermann M. Helmers (Sprache u. Humor d. Kindes, 1971) zeigen, daß Kinder zunächst jede sprachliche Verdichtung, die zum Lachen führt, ob Abzählreim oder Versprecher, als W. auffassen. Als erstes Element des Erwachsenenw.es wird die Ankündigung übernommen, Pointen werden erst im Pubertätsalter adäquat rezipiert und wiedergegeben. Diese W.e haben die Funktion, Kinder in die bestehenden Normordnungen dadurch zu integrieren, daß gezielte (sprachliche) Normverstöße durch Lachen sanktioniert werden und so die Grenzen der Normen erfahrbar werden. Diese spielerische Auseinandersetzung mit Normen und Aneignung von Normen versuchen neuere didaktische Ansätze für die Unterrichtsgestaltung fruchtbar zu machen. A l l g e m e i n : Vgl. auch die Lit. zu § 3. — Wolfgang P r e i s e n d a n z , Rainer Warning (Hg.), Das Komische (1976; Poetik u. Hermeneutik 7). Michael B a c h t i n , Lit. u. Karneval. Zur Romantheorie u. Lachkultur (1969; Reihe Hanser 31). Jean P i a g e t , Der Strukturalismus (1973). Udo R e i n h a r d t u. Klaus S a l l m a n n (Hg.), Musa iocosa. Arbeiten über Humor u. Witz, Komik u. Komödie d. Antike. Andreas Thierfelderz. 70. Geh. (1974). Henriette M o o s , Zur Soziologie d. Witzblattes (1915). - W i t z f o r m e n , N a c h b a r g a t t u n g e n : Peter R ü h m k o r f , Über das Volksvermögen (1969; RowohltTb 1180). Manfred H a n k e , Die Schüttelreimer. Bericht über e. Reimschmiedekunst (1968). Gershon L e g m a n , The Limerick (New York 1970). Ders., Rationale of the Dirty Joke. An Analysis of Sexual Humor (London 1969), dt. u. d. T . : Der unanständige Witz (1970). Anton S a i l e r , Die Karikatur. Ihre Gesch., ihre Stilformen u. ihr Einsatz in d. Werbung (1969). Georg P i l t z , Gesch. d. europäischen Karikatur (1976). Broder C a r s t e n s e n , Spiegel-Wörter, SpiegelWorte. Zur Sprache e. dt. Nachrichtenmagazins (1971). — J ü d i s c h e r W.: Salcia L a n d m a n n (Hg.), Jüdische Witze (1962; als Taschenbuch 16. Aufl. 1973; dtv. 139). - K i n d e r w . , D i d a k t i k : Paula F r a n k e n , Witzbuch f. Mädchen (1960). Klaus F r a n k e n , Witzbuch f. Jungen (1959). Hermann H e l m e r s , Sprache u. Humor d. Kin-

des (2., veränd. u. erw. Aufl. 1971). Helga M. W e i n r e b e , Vom Umgang mit Witzen. Zur Didaktik u. Methodik von Witz u. Witzigem. Hg. v. Hildegard Kasper u. Erich Müller (1979).

Karl N.

Renner

Wörterbücher § 1. Das W o r t Wörterbuch (anfänglich auch wortbuch — 1641— neben vereinzelt wortenbuch — 1646 —) ist seit etwa 1630 im Dt. belegt und ist wahrscheinlich eine Lehnübers. nach ndl. woordboek (1584, 1599), woordenboek (1618). Es tritt zum erstenmal in Commenius' Janua linguarum (1613) auf, wo es u. a. für lat. nomenclátor steht; auch bei Gueintz (1640) scheint es sich eher auf ein Wörter-buch zu beziehen. Es war zuerst im Kreise der Fruchtbringenden Gesellschaft verbreitet, in dem der Gedanke an ein großes dt. Wörterbuch lebte, konnte sich aber erst im 18. Jh. gegen lexicón und dictionarium — die W. waren lateinisch abgefaßt — im Titel und als Bezeichnung lexikographischer Werke durchsetzen. Ernst L e s e r , Fachwörter zur dt. Grammatik von Schottel bis Gottsched. 1641-1749. ZfdWf. 15 (1914) S. 1 6 - 1 7 . Elisabeth S c h u l t , Lexikon, Enzyklopädie, Wörterbuch in Buchtiteln d. Gegenwart. Die wiss. Redaktion 2 (1966) S. 7— 12. Kirsten H j o r t , Lexikon, Wörterbuch, Enzyklopädie, Konversationslexikon. Versuch e. Begriffserklärung. Mutterspr. 77(1976) S. 3 5 3 - 3 6 5 .

§ 2. „Den verschiedenen anwendungen des Wortes liegt der begriff eines geordneten, meist alphabetisch angelegten Wortverzeichnisses zugrunde. 1) auf dem gebiet der eigentlichen spräche, das ganze oder teile des Wortschatzes einer spräche betreffend. a) im rahmen der gleichen, einundderselben spräche bleibend . . . [oder] auf bestimmte teile des Wortschatzes eingeschränkt . . . b) auf den gesammelten und nach seiner bedeutung erklärten Wortschatz einer fremden spräche bezogen . . . 2) als erklärende Sammlung der zu einem bestimmten Sachgebiet und Wissensbereich gehörigen begriffe, stichworte und kunstwörter, von alphabetisch geordneten, einzelbeiträge enthaltenden werken enzyklopädischen charakters. z.t. in anlehnung an

Wörterbücher den Sprachgebrauch der französischen enzyklopädisten . . (DWb. 14,2, 1960, Sp. 1560-1561). § 3. Neben dem Unterschied zwischen monolingualen und bi- bzw. plurilingualen W.n ergibt sich daraus die grundlegende Einteilung in S p r a c h w ö r t e r b ü c h e r und Sach- bzw. B e g r i f f s Wörterbücher. Sach W ö r t e r b ü chern oder enzyklopädischen W.n liegt meistens ein aiphabet. Verzeichnis von Substantiven, zumal Termini und Namen, zugrunde, zu denen eine sachliche Explikation gegeben wird; dies ist wegen der allgemein verbreiteten Assoziation dieser Merkmale mit dem Begriff Wb. Anlaß, für sie die Bezeichnung Wb. zu verwenden. Wenn die Sachwörterbücher manchmal auch linguist. Information enthalten, zielen sie primär auf Vermittlung von Wissen über die Denotate der lexikalischen Einheiten (Lemmata), von sachlicher Information über die außersprachliche Welt der „Dinge". Werden allgemeine, einsprachige, alle Bereiche des Wissens behandelnde Nachschlagewerke enzyklopädischen Charakters heute allgemein Lexikon (früher Konversationslexikon, engl. Encyclopedia) genannt, so tritt dieser Ausdruck (auch Reallexikon) neben Wörterbuch (Sachwörterbuch) auch auf, um Nachschlagewerke, die sich auf einen bestimmten Wissensbereich beziehen, zu bezeichnen (Reallexikon der dt. Literaturgeschichte, Verfasserlexikon, Lexikon der Weltliteratur, W. Kayser, Kleines literar. Lexikon; L. Mackensen, Handwörterbuch des dt. Märchens, Wörterbuch der dt. Volkskunde-, G. von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, R. Newald-B. Ristow, Sachwörterbuch zur dt. Philologie). Da die S p r a c h w ö r t e r b ü c h e r ihrerseits manchmal nicht ohne sachliche Information auskommen, wird die Grenze zu den Sachwörterbüchern oft überschritten, und es finden sich hier fast unvermeidlich auch Elemente enzyklopädischen Charakters. Nicht immer ist die Grenze zwischen Sach-wb. und Sprachwb. leicht zu ziehen, so daß mit Mischtypen gerechnet werden muß. Hier wären terminologische W. für bestimmte Spezialwissenschaften und auch Bildwörterbücher, die allerdings primär der Darstellung des Wortschatzes dienen, zu nennen. Im dt. Sprachgebiet haben W. des franz. Typus des „dictionnaire encyclopédique" wie der Petit Larousse, mit integriertem

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Wortschatzteil, keine Tradition und sind nicht gut vertreten. Von den Sprachw.n sind die W o r t i n d i c e s zu unterscheiden, welche in alphabetischer Ordnung ohne oder mit einem Teil des Kontextes ( K o n k o r d a n z ) jedes Vorkommen eines Wortes oder von Wortformen in einem Text oder in einer Reihe von Texten verzeichnen. Obwohl sie für die Lexikologie und für die Philologie (Textinterpretation) unverzichtbar sind (schnelles Nachschlagen, auch des Auftretens im Kontext) und auch mittelbar Auskunft geben über Frequenz, Vorkommen und konnotatives Auftreten eines Wortes, sind sie nicht als W. zu betrachten, ebensowenig wie Wortindices und Wortregister in wiss. Werken. § 4. Die normale Funktion eines zweisprachigen ( b i l i n g u a l e n ) Wb.s ist, eine Hilfe zu sein bei der Übertragung von einer Sprache (Ausgangs-, Basissprache) in eine andere Sprache (Zielsprache) oder beim Herstellen von Texten in einer anderen Sprache als der Muttersprache des Benutzers. Die U b e r s e t z u n g s w ö r t e r b ü c h e r oder Ä q u i valenzwörterbücher „verzeichnen zu jedem ausgangssprachlichen Eintrag, sei es Muttersprache oder Fremdsprache, mindestens eine Entsprechung oder ein Äquivalent in der Zielsprache". Sie richten sich meistens an Sprecher bzw. Benutzer einer bestimmten Sprache und bestehen im allgemeinen aus zwei Teilen, die in Aufbau und Gestaltung diesem Umstand Rechnung tragen. Während der Muttersprachler beim Gebrauch des zielsprachlich-muttersprachlichen Teils von der eigenen Kompetenz ausgehen kann, ist für den muttersprachlich-zielsprachlichen Teil eine viel größere Explizität vonnöten. Gute zweisprachige W. stellen manchmal ein gutes und ausführliches Abbild des muttersprachlichen Wortschatzes dar und können dem Forscher von großem Nutzen sein, zumal die anderen Sprachstrukturen der Zielsprache zu besseren Einsichten und nuancierteren Beschreibungen der eigenen Sprache führen können. M e h r sprachige W. findet man vor allem auf dem Gebiet der Fachsprache, wo sie von allergrößtem Nutzen sind. § 5. E i n s p r a c h i g e ( m o n o l i n g u a l e ) W. dienen primär der Darstellung (Deskription, Kodifikation) des Wortschatzes einer Sprache,

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wobei weniger die Zusammenstellung seines Umfangs und seiner numerischen Merkmale als vielmehr die Bedeutung und die Funktion, der Gebrauch der Wortschatzelemente zentral stehen. Das auf diese Weise bestimmte Bedeutungswörterbuch ist die normale Form, in der das einsprachige Wb. in unserem Kulturkreis auftritt und eine große Verbreitung und Popularität genießt. Besitzt auch nicht jede Familie eine Grammatik, so fehlt doch in fast keiner das Wb., zumal dies nicht selten dank seiner grammatischen Bestandteile die Funktion der muttersprachlichen Grammatik zu übernehmen imstande ist (vgl. unten). Das Wb., dessen Voraussetzung die kunstgerechte Zerlegung von Sätzen und Texten in lexikalische Einheiten oder Wörter ist, stellt seinerseits eine Textsorte dar, die man dem wiss. Texttypus zuordnen kann. Genausowenig wie man in der Lexikographie lediglich eine wiss. Disziplin sehen kann — Lexikographen ziehen es vor, sie eine Kunst oder ein Handwerk zu nennen —, läßt sich das Wb. nur durch seinen wiss. Charakter als objektive Wortschatzbeschreibung oder -kodifikation bestimmen und als Erzeugnis wiss. Bemühens allein charakterisieren. Die meisten Sprachw. werden zu praktischen Zwecken erstellt und sind praktischen Bedürfnissen der Sprachbenutzer entsprechend als Werkzeuge gemeint. Da der Wortschatz im Gegensatz zur Grammatik ein offenes System ist, das aus einer infiniten Menge von lexikalischen Einheiten besteht, ist es dem Mitglied einer Sprachgemeinschaft unmöglich, alle zu besitzen. Im Bewußtsein des Sprachbenutzers stellt das Wb. die gesammelte lexikalische Kompetenz der Sprachgemeinschaft dar, auf die man zurückgreifen kann, um die individuelle Kompetenz zu erweitern und zu ergänzen (neue Wörter zu lernen, die Bedeutung eines Wortes genau festzustellen) oder um sie zu bestätigen, d.h. die Existenz eines Wortes zu belegen. Was nicht im Wb. steht, ist für ihn in der Sprache nicht vorhanden, denn der Lexikograph, d.h. sein Wb., gilt dem Benutzer als Vertreter der Norm, des anerkannten und gefestigten Sprachgebrauchs bzw. als Abbild des idealen kompetenten Sprechers. Auf diese Weise ist das Wb., wenn auch ungewollt, zugleich beschreibend und vorschreibend, deskriptiv und präskriptiv. Enthält es auch pragmatische Hinweise, die den „richtigen" Gebrauch der Wörter betreffen, kann es auch die Auffassung des Benutzers über ihre

Akzeptabilität unbewußt bestimmen. Darf der pädagogisch-didaktische Aspekt des Wörterbuchs nicht aus den Augen verloren werden, so ist noch weniger seine Verbundenheit mit dem Zeitklima und der soziokulturellen Situation der Sprachgemeinschaft zu verkennen als Spiegel der Gesellschaft und als Inventar von deren Kultur. Schließlich ist auch seinen Verbindungen mit dem wirtschaftlichen Leben, dem ökonomischen Aspekt seiner Existenz, Rechnung zu tragen; werden W. doch meistens nicht als gemeinnützige bzw. wiss. Projekte und Objekte konzipiert, sondern als kommerzielle Erzeugnisse von nach Gewinn strebenden Verlagen, die den Wünschen des Publikums entsprechen und eine größtmögliche Rentabilität erzielen wollen. § 6. In der Lexikographie (Wörterbuchschreibung) wird grundsätzlich ausgegangen von den W o r t s c h a t z e i n h e i t e n (Wörtern, Lexemen), deren genaue Abgrenzung und Bestimmung den Lexikographen manchmal Schwierigkeiten bereiten. Auch Lexeme, die primär grammatische Funktionen ausüben (Pronomina, Präpositionen), werden verzeichnet; nicht selten werden auch Wortbildungselemente wie Präfixe und Suffixe behandelt. Wortformen suche man in den Wb.artikeln. Jedes Wb. hat eine M a k r o s t r u k t u r und eine M i k r o s t r u k t u r . Erstere bezieht sich auf die Zahl und die Gliederung der Lemmata oder Einträge, die in das Wb. aufgenommen werden, letztere meint den Inhalt und den Aufbau jedes Wb.artikels, das Lemma und die dazugehörigen Angaben sowie die Gesamtheit der Information, die möglichst übersichtlich angeboten sein will. M a k r o s t r u k t u r . Wenn auch eine sog. systematische oder ideologische Gliederung des Wortbestandes dem systemat. Aufbau des Wortschatzes oder Lexikons einer Sprache am besten entspricht, entscheiden sich die Lexikographen fast immer für eine aiphabet. Auflistung der Lexeme, die aus darstellerischen Gründen (Wortfamilien!) durchbrochen werden kann. Nicht nur ist die Aufstellung eines allgemeinen oder dem System einer Einzelsprache entsprechenden Begriffssystems (vgl. Hallig-von Wartburg, Baldinger) eine schwierige Angelegenheit und ist eine befriedigende praktische Ausarbeitung und Bedeutungsbestimmung innerhalb eines solchen bisher für eine moderne europäische Sprache noch

Wörterbücher nie geleistet worden, sondern man betrachtet die alphabetische Anordnung als „die optimale, weil sie die am wenigsten zweideutige und die einfachste Methode ist, die es heute gibt". Durch ihren objektiv-willkürlichen Charakter zerreißt sie zwar die begrifflich-systematischen und meistens auch die histor. und semantischen Zusammenhänge zwischen den Lexemen, sie ist aber praktisch und leicht zu handhaben. Manchmal wird jedoch versucht, den Einwänden entgegenzukommen, indem in die Wb.artikel systematische Information (z.B. Abgrenzung gegenüber Synonymen, Antonyme usw.) aufgenommen wird. Jeder Wb.artikel ( M i k r o s t r u k t u r ) enthält das Lemma oder den Wb.eintrag, das betreffende Lexem in seiner kanonischen Form (in unserem Kulturkreis dem Infinitiv der Verben, der Nominativform der Substantive, der endungslosen Form der Adjektive) und semantische Informationen über das Lemma. Zum Lemma oder S t i c h w o r t gehört auch eine Reihe von Angaben, die das Lexem grammatisch bestimmen (Wortart, Genus, Genus- und Numerusmorpheme, namentlich unregelmäßige Formen, Angaben zur Konjugation und zur Konstruktion bei Verben), gelegentlich auch Angaben über die Aussprache und die Orthographie (Silbentrennung). Nicht selten enthalten W., die praktische Ziele verfolgen, zusammenfassende grammatische Tabellen (z.B. ein Verzeichnis der „Stammformen" der unregelmäßigen Verben) oder sogar Kurzgrammatiken, die eigentlich nicht zur lexikographischen Arbeit gehören. Die I n f o r m a t i o n bezieht sich auf die inhaltliche Seite des sprachlichen Zeichens, die „Bedeutung" der Stichwörter. Bei Polysemie ist zunächst die Frage zu lösen, inwieweit man es mit Bedeutungen nur eines Wortes oder mit Homonymen zu tun hat (z.B. Schloß, Flügel). Die Darstellung der B e d e u t u n g erfolgt entweder durch lexikograph. Definition oder durch Synonyme und bedeutungsähnliche Wörter. Die lexikograph. Definition, die meistens aus der Angabe des genus proximum und der differentia specifica besteht, ist keineswegs der logischen (mit der sie allerdings verwandt ist) oder der wiss. Definition gleichzusetzen (vgl. Wasser: „farblose bei 0°C gefrierende Flüssigkeit" — gegenüber der chemischen Formel H2O: „Flüssigkeit, die in reinem Zustande besteht aus einem Hydrogenoxid H 2 O " ) . Nach Wahrig soll sie die wichtigsten semanti-

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schen Merkmale der lexikal. Bedeutung enthalten (vgl. Stute: weibliches Pferd). Bei technischen Ausdrücken kommt man ohne die wiss. Definition manchmal nicht aus, obwohl diese vom Standpunkte der Standardsprache nicht immer deutlich ist. Neben die Definition treten als Darstellungsmittel ein gleichbedeutendes oder mehrere gleichbedeutende Wörter (Synonyme), wobei eine Zirkularität der Beschreibung möglichst zu vermeiden ist. Bei konkreten Designaten kann die Bedeutung auch durch Abbildungen, Illustrationen oder Zeichnungen verdeutlicht werden. Zur Bedeutungsbeschreibung gehören normalerweise auch Beispiele, die aus (vereinfachten) Zitaten oder auch aus selbstgemachten Syntagmen oder Sätzen bestehen können. Wesentlich ist die Reihenfolge der Bedeutungsangaben. Eine hist.-etymologische Abfolge, die sich manchmal nur schwer aufstellen läßt, verkennt meistens den synchronen Sprachzustand, der erfordert, daß die „normale" bzw. frequenteste Bedeutung an erster Stelle genannt wird. Zusammengehörige Bedeutungen sollen auf jeden Fall nicht voneinander getrennt werden (vgl. den Aufbau der Artikel nach einem komplizierten System von Einteilungssiglen im DWb.). Kann das chronologische Auftreten gegebenenfalls für histor. W. gelten, für deskriptive W. läßt es sich nicht als Ordnungsprinzip verteidigen. Eine „logische" Klassifizierung der Bedeutungen ist möglich, aber auch eine syntaktisch bestimmte Reihenfolge, die von grammatischen, formalen Kategorien (z.B. der Valenz der Verben und Adjektive) ausgeht, läßt sich vertreten. Zur Aufgabe eines deskriptiven Bedeutungswörterbuches gehört es auch, den „ N e b e n s i n n " und den „ G e f ü h l s w e r t " oder Sinngehalt der Lexeme anzugeben bzw. eine dias y s t e m a t i s c h e Markierung der Wörter vorzunehmen. Die d i a c h r o n i s c h e Markierung gibt an, ob ein Wort veraltet, veraltend, historisch (z.B. mittelalterlich, auch NS-Sprache) oder etwa eine moderne Neubildung (Neologismus) ist, während die d i a t o p i s c h e Markierung auf den regionalen bzw. dialektalen Charakter eines Wortes oder einer Bedeutung (jetzt auch DDR—BRD) hinweist. Bei F r e m d w ö r t e r n wird oft erwähnt, aus welchen fremden Sprachen sie übernommen worden sind (z.B. Anglizismen, Amerikanismen). Meistens wird nicht besonders angegeben, ob ein Wort zur geschriebenen oder gesprochenen Sprache

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gehört, da dies aus der Angabe der diastratischen Merkmale, unter welcher die Zugehörigkeit zu sog. Stilschichten subsumiert wird, hervorgeht (vgl. dichterisch, gehoben, umgangssprachlich, salopp, vulgär im Wörterbuch der dt. Gegenwartssprache, auch bildungssprachlich im 'Duden'); normalsprachlich kommt selbstverständlich nicht vor. Zu diesen stilist. Bewertungen können Gebrauchsangaben wie scherzhaft, spöttisch, ironisch, abwertend, gespreizt, verhüllend, Schimpfwort treten, die als d i a k o n n o t a t i v e Markierung der Wörter gelten. Die Angabe und die Stellung des m e t a p h o r i s c h e n bzw. f i g ü r l i c h e n Gebrauchs der Lexeme stellt ein eigenes Problem dar, wie übrigens auch die Einarbeitung der P h r a s e o l o g i e . Während Hinweise auf die F r e q u e n z meistens Sonderw.n überlassen werden, wird manchmal auch der periphere Charakter eines Wortes (z.B. selten) angegeben. Auch die Zuordnung zu bestimmten Sondersprachen (Studenten-, Soldaten-, Jägersprache) oder zum F a c h w o r t s c h a t z (Theologie, Kybernetik, Zoologie) wird bezeichnet ( d i a t e c h n i s c h e Markierung). Angaben über die E t y m o l o g i e fehlen meistens in einem deskriptiven Wb. der Standardsprache. § 7. Alle W., auch die auf V o l l s t ä n d i g keit zielenden wissenschaftlich-deskriptiven W. einer modernen europäischen Sprache wie der deutschen, sind in irgendeinem Sinne sel e k t i v ; können diese doch nicht alle bestehenden Fachwörter verzeichnen (der Fachwortschatz der Medizin enthält 250.000, der elektrotechnische an die 60.000 Wörter und Wendungen). Sie müssen sich notgedrungen auf jene Fachwörter beschränken, die allgemeinsprachlich geworden sind oder als Teile der fachlichen Wissenschaftssprache, der Werkstatt- und Verkäufersprache in den Bereich der Allgemeinsprache hineinreichen, im günstigsten Falle „das fachexterne und interfachliche Vokabular der Fachsprachen" berücksichtigen. Die Grenzziehung zwischen Gemeinsprache und Fachsprache ist schwierig und subjektiv. Extensiv-exhaustive W. der Gemeinsprache werden meistens aus den Quellen, aus geschriebenem und gesprochenem Sprachmaterial, erarbeitet. Selektive W. fußen oft auf bestehenden W.n, deren Material kombiniert bzw. vereinfacht wird. Bei dieser Arbeitsweise, der auch vollständige W. zum Teil

huldigen, besteht die Gefahr, daß nicht mehr bestehende Wörter weitergeschleppt werden (lexikalische bzw. lexikograph. Tradition) und daß Wörter, die nie bestanden haben (z.B. solche, die etwa auf fehlerhafter Textlektüre oder Interpretation beruhen — ghostwords —) oder selbständig von früheren Lexikographen geprägt und gebildet wurden (z.B. als systemat. Ableitungen und Komposita), lexikographisch weiterleben. Diese zweite Gruppe von W.n, deren Umfang und Ausarbeitung vom Zweck und vom angepeilten Publikum abhängig sind, üben gerade durch ihre Selektivität sowie durch die Angaben über Stilschicht und Gebrauchssphäre der Wörter einen stärkeren normativen Einfluß aus als die rein deskriptiven, zumal da sie nicht selten auch dianormative Markierungen enthalten, indem sie sog. falschen(!) Sprach- oder Wortgebrauch anprangern oder in puristischem Sinne „reinere" und „eigene" Wörter und Bildungen vorschlagen. Die Erfassung des Wortschatzes, die Darstellung der Bedeutungsstrukturen und ihre Dokumentation stehen selbstverständlich in einem direkten Verhältnis zu dem (praktischen) Zweck des Wb.s als didaktisch-pädagogisches Erzeugnis und als Handelsware. W., die nur den Grundwortschatz einer Sprache wiedergeben wollen, müssen sich dadurch von Schulw.n und diese hinwiederum von Volksw.n unterscheiden. Solche Reihen sind oft das Ergebnis von Derivatenbildung, die aus dem Material eines großen oder größeren Wb.s immer stärker gekürzte Fassungen oder Teilw. entstehen läßt. § 8. T y p o l o g i e — S y s t e m a t i k d e r W ö r t e r b ü c h e r : Das oben beschriebene monolinguale Bedeutungswb. stellt nur einen, wenn auch den wichtigsten T y p des einsprachigen W b . s dar. Eine T y p o logie oder Systematik läßt sich nicht in einem hierarchisch-taxonomischen Schema darstellen. W o h l können mehrere allgemeine Merkmale (features) festgelegt werden, die eine Kennzeichnung jedes W b . s erlauben. Die von B . Q u e m a d a herangezogenen Merkmale beziehen sich auf den U m fang des dargestellten Materials (extensiv-selektiv, umfangsselektiv-teilselektiv), auf seine sprachlichqualitativen Aspekte (Allgemeinsprache — Mundart — Fachsprache, geschriebene — gesprochene Sprache, gegenwartsbezogen — historisch), auf die Einstellung des Lexikographen (diachronisch — synchronisch, deskriptiv — präskriptiv, textabhängig — nicht textabhängig) sowie auf die konkrete Darstellung des Wortschatzes (semasiologisch-onomasiologisch,

Wörterbücher mit — ohne Dokumentation, mit — ohne diasystematische(n) Markierungen). H . H e n n e unterscheidet: gesamtzeichenorientiert (semasiologisch-onomasiologisch), teilaspektorientiert (ausdrucksbezogen-inhaltsbezogen), über die Sprachzeichengrenze hinausgreifend, historisch-zeitlich differenziert (gegenwartsbezogen, historisch, synchronisch oder funktionsbezogen, diachronisch oder entwicklungsbezogen), sozial, regional, funktional differenziert (standardsprachlich, gesamtsprachlich, dialektal, soziolektal, idiolektal, fachsprachlich, sondersprachlich, literatursprachlich), Differenzierung hinsichtlich spezifischer Benutzerinteressen (häufigkeitsorientiert, textorientiert, grundwortschatzorientiert, fremdwortschatzorientiert). P.Kühn unterscheidet an die 40 „Kodifikationsmerkmale". Da die Merkmale, dem Zweck des jeweiligen Wb.s entsprechend, auf unterschiedliche Weise miteinander auftreten können, ist eine Systematik der W. eine unbegonnene Arbeit, wenn auch bestimmte Regularitäten nicht geleugnet werden können; so ist ein etymologisches Wb. meistens selektiv und alphabetisch. Der folgenden Darstellung liegt eine Zweiteilung in gegenwartsbezogene und histor. W. zugrunde, deren Ausarbeitung den Klassifizierungen von Zgusta, Quemada und Kühn viel zu verdanken hat. Nur ausnahmsweise werden W. des Dt. mit Namen genannt. Für die unterschiedlichen Typen lassen sich die dt. Vertreter in P. Kühn, Deutsche Wörterbücher. Eine systematische Bibliographie (1978), dem zur Zeit vollständigsten Verzeichnis, leicht finden. § 9. G e g e n w a r t s b e z o g e n e W. der (dt.) Sprache. Nach H. Henne ist als historisch „das zu werten, was durch die eigene Sprachkompetenz oder die eines zeitgenöss. Informanten nicht mehr erreichbar ist" (H. Henne, 1972, S. 14). Im Sinne des Gegensatzes historisch-gegenwartsbezogen ist das zwischen 1854 und 1960 erschienene und aus 32 Bänden bestehende Deutsche Wörterbuch der Brüder G r i m m , das durch die möglichst vollständige Erfassung des „neuhochdeutschen" Wortschatzes und durch dessen erschöpfende semantische Beschreibung ohne Zweifel die Grundlage der gegenwartsbezogenen Lexikographie darstellt, zwar auch ein historisches, wie es allgemein genannt wird, daneben aber auch ein extensives diachronisches, da entwicklungsbezogenes Wb. zu nennen. Die Ausdehnung auf einen Zeitraum von fast 400 Jahren und namentlich der entwicklungsgeschichtliche Ausgangspunkt „dieser Schatzkammer deutschen Geistes" berechtigen dazu. Der Vollständigkeit dieses wiss. und deskriptiven Unternehmens wird allerdings durch den Verzicht auf den Wortschatz der Vulgärsprache und auf die meisten auch in der Gemeinsprache verbreiteten Fremdwörter Abbruch getan. Seine Ausführlichkeit sei hier durch den Umfang der Wb.-

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artikel Geist (R. Hildebrand, IV, 1,2 [1897] Sp. 2623 - 2 7 4 1 ) und Wesen (XIV, 1,2 [1960] Sp. 5 0 7 581) dokumentiert. 1. Nach dem Umfang des Materials: vollständige/extensive/selektive W. Ein ausführliches gegenwartsbezogenes synchronisches Wb. der dt. Sprache, das den Wortschatz der Gegenwartssprache möglichst vollständig erfassen und so genau wie möglich in seinem Gebrauch beschreiben, erklären und dokumentieren will, steht noch aus. Ein geplantes großes interdisziplinäres Wb. der dt. Sprache (vgl. die 20 Bad Homburger Thesen) soll diesem Ideal entsprechen. Extensive deskriptive Darstellungen des gegenwartssprachlichen Wortschatzes wollen sein: 1) das Wörterbuch der dt. Gegenwartssprache (R. K l a p p e n b a c h , W. S t e i n i t z ) , das von der gesprochenen und geschriebenen Sprache der bildungstragenden Schicht sowie von der Sprache der in unserer Zeit noch gelesenen lebendigen Lit. der Vergangenheit ausgeht; 2) D u den, Das große Wörterbuch der dt. Sprache (G. D r o s d o w s k i ) , das als ein Gesamtwörterbuch mit histor. Tiefe den Gegenwartswortschatz „so vollständig wie möglich" erfassen will; 3) B r o c k h a u s Wahrig, Dt. Wörterbuch (1980ff.), das mit 220.000 Stichwörtern und 550.000 Definitionen und zahlreichen Angaben zu unterschiedlichen Sprachproblemen alle Informationen bereithalten will, die für den Sprachgebrauch unerläßlich sind. Da Vollständigkeit ein relativer Begriff ist, können auch manchmal einbändige W. Anspruch auf das Merkmal extensiv erheben (Wahrig, Mackensen); ihre relative Vollständigkeit wird allerdings oft auf Kosten der Mikrostruktur (Einschränkung der Beispiele, Zitate und Phraseologie) erreicht. Den extensiven diachronischen und synchronischen gegenwartsbezogenen W.n stehen die selektiven W. gegenüber, meistens ein- oder zweibändige Werke, die mehr oder weniger stark auswählen, entweder hinsichtlich der Menge der Lemmata oder durch ihre Festlegung auf bestimmte Bereiche des Wortschatzes bzw. der Wortschatzbeschreibung. Die Auswahl im Bereich der Lemmata aus der Gemein- und Standardsprache hängt mit dem Zweck des Wb.s, dem anvisierten Publikum, manchmal auch mit der zur Verfügung stehenden Seitenzahl zusammen, was allerdings keine Notwendigkeit ist: sowohl Trübners Deutsches Wörterbuch, das aus 8 Bänden besteht, wie H. Pauls berühmtes einbändiges Werk, von dem noch in den letzten Jahren Neuausgaben bzw. Neubearbeitungen (von Werner B e t z ) erschienen sind, sind selektive diachronische W. der Gegenwart. Zu den selektiven synchronischen Werken gehören vor allem jene Werke, die als handliche Arbeitsinstrumente für den prakt. Gebrauch konzipiert wurden, wie Volksw., Schulw. sowie Darstellungen des Grundwortschatzes der Sprache, wie dieser auch immer definiert werden mag.

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Die selektiven W. können auch eine T e i l a u s wahl aus dem Wortschatz der Gesamt- oder Standardsprache vornehmen, dabei hinwiederum nach Vollständigkeit streben bzw. sich mit einer Auswahl begnügen. Formale Kriterien liegen den A b k ü r z u n g s w ö r t e r b ü c h e r n zugrunde, welche die echten Abkürzungswörter wie auch die Initialwörter verzeichnen. Die diastratische Schichtung (die stilist. Zugehörigkeit und der konnotative Wert) ebenso wie die soziolektale Differenzierung können die Grundlage von Spezialw.n bilden, welche also nach der kontrastiven Methode erstellt werden. Es entstehen auf diese Weise einerseits W. der Umgangssprache (das bekannte Wb. von H. Küpper enthält allerdings mehr den saloppen und vulgären Wortschatz als den Wortbestand der Umgangssprache sowie viele Augenblicksbildungen, die nie zum Sprachsystem gehört haben), W. der Rinnsteinsprache, der Schimpfwörter, der Erotik (Vulgärsprache, obszöne Ausdrücke), andererseits W. und Verzeichnisse veralteter und veraltender Ausdrücke, seltener Wörter, Regionalismen- und Neologismenw., die jedoch in den anderen europäischen Sprachen besser vertreten sind als im dt. Sprachraum. Sondersprachliche W. sammeln und erklären den Jargon z . B . der Gaunersprache, des Ganovendeutsch, der Jäger, der Studenten, der Teenager, der Schüler, politischer Gruppen und Richtungen (z.B. die Sprache des Nationalsozialismus, nun allerdings als histor. Material). Ist die H e r k u n f t der Wörter aus einer anderen Sprache das Kriterium der Auswahl, so entstehen F r e m d w ö r t e r b ü c h e r , die auch diachronische Ziele (Erstbelege, Formen- und Bedeutungsentwicklung, Stilschichtwechsel) verfolgen können. In Deutschland standen solche Werke lange Zeit im Zeichen des Kampfes gegen das „Fremdwörterunwesen" (Purismus), und sie wurden oft zu (präskriptiven) V e r d e u t s c h u n g s w ö r t e r b ü c h e r n mit dem Ziel der Entwelschung. Der selektive Charakter kann auch darauf beruhen, daß Teile des Lemmas bzw. des Wb.artikels gleichsam verselbständigt werden und daß Teile der Information zum grundlegenden Auswahlprinzip der Lexikographen werden. Wird von der Form des Stichworts, der orthographisch-geschriebenen oder orthoepisch-gesprochenen Form ausgegangen, entstehen o r t h o g r a phische W. und A u s s p r a c h e w ö r t e r b ü c h e r , diese auch manchmal als Anhang zu Handbüchern der Aussprache. Sie haben meistens einen normativen, präskriptiven Charakter und üben dementsprechend einen normierenden Einfluß auf die Sprachgemeinschaft aus. H o m o n y m e n w ö r t e r bücher gehen von den Homographen, den gleichgeschriebenen Wörtern des standardsprachlichen Systems, oder von gleichlautenden Wörtern aus.

Auf dem Gebrauch des Wortes in sinnvollen und grammatisch richtigen Verknüpfungen, in syntagmatischen Verbindungen und Konstruktionen, in typischen und geläufigen kookkurenten Verbindungen, in festen Wendungen und Redensarten beruhen die S t i l w ö r t e r b ü c h e r , die W. fester Redensarten und der idiomatischen Wendungen (idiomatische W.). Eine besondere Art bilden die S a t z w ö r t e r b ü c h e r , zu denen die Sprichwörtersammlungen gehören, die oft enzyklopädischkulturhistor. Charakter haben und nicht selten zweioder mehrsprachig sind. Hierher gehören auch die Zitaten Wörterbücher. Auch ein Wb. des f i g ü r l i c h e n , übertragenen Sprachgebrauchs ist möglich. G r a m m a t i s c h e W. sind im dt. Sprachgebiet weniger gut vertreten. Zu dieser Gruppe gehören neben den Verbw.n vor allem die V a l e n z w ö r t e r b ü c h e r , welche die notwendigen und möglichen syntaktischen Umgebungen der Verben, der Adjektive und der Substantive aufgrund der Valenztheorie Tesnieres beschreiben. Auch Stamm- und W u r z e l w ö r t e r b ü c h e r sind hier zu nennen, welche alle zu einem Wortstamm bzw. einer Wurzel bestehenden Präfix- und Suffixbildungen verzeichnen. Hier haben auch die S c h w i e r i g k e i t e n w ö r t e r bücher ihren Platz, die einen normativ-korrektiven Charakter haben: durch ihre alphabetische Anordnung ermöglichen sie ein schnelles Auffinden der Antworten auf Zweifelsfragen, was Form, Grammatik, Gebrauch und Merkmalhaftigkeit der Wörter betrifft; sie können jedoch nur mit Vorbehalt den Sprachw.n zugerechnet werden. H ä u f i g k e i t s - und F r e q u e n z w ö r t e r b ü c h e r enthalten weder Definitionen noch inhaltsseitliche Information: sie geben entweder in alphabetischer oder in nach der Häufigkeit abnehmender Reihenfolge die Frequenz der Wörter (und der Wortformen) an, die aufgrund großangelegter Materialsammlungen und -bearbeitungen errechnet werden. 2. Nach der Darstellungsart. Die alphabetische Reihenfolge, d.h. die graphische Realisierung des Wortkörpers, wobei üblicherweise von links nach rechts gelesen wird, liegt am häufigsten der Ordnung der Lemmata zugrunde (alphabetische W.). Dagegen lesen von rechts nach links die rückläufigen W. und die R e i m w ö r t e r b ü c h e r (s. Reimlexikon). Während erstere rein linear vorgehen und von größter Bedeutung sind für die Wortbildungslehre (die mit einem bestimmten Suffix gebildeten Ableitungen und die Zusammensetzungen mit gleichem zweiten Glied stehen beieinander), werden letztere nach dem letzten betonten Vokal und den Folgekonsonanten bzw. Folgesilben geordnet und können nicht von der rein graphischen Realisierung ausgehen (Tat — Bad, wohnen — schonen). Das normale einsprachige Bedeutungs- oder Definitionswb. ist alphabetisch geord-

Wörterbücher net: auf die alphabetisch aufgelisteten Lemmata folgt die Darstellung der ihnen zugeordneten Bedeutung bzw. Bedeutungen ( s e m a s i o l o g i s c h e r Gesichtspunkt). Tritt an die Stelle des alphabetisch-semasiologischen Ordnungsprinzips der Definitionsw., die also vom Wortkörper ausgehen, das o n o m a s i o l o g i s c h e , dem der W o r t i n h a l t zugrunde liegt, entsteht eine eigene Gruppe von W.n, die den Wortschatz in seiner systematischen inneren Struktur und nach den inhaltlichen Beziehungen zwischen den Wörtern wiederzugeben versuchen. I d e o l o g i s c h e oder systematische W. (auch Begriffsw. oder Bezeichnungsw. genannt) stellen den Wortschatz nach Sachgruppen und begrifflichen Strukturen dar ohne jeden Rückgriff auf das Alphabet. Für das Dt. verfügt man über zwei solche Werke: F. Dornseiff, Der dt. Wortschatz nach Sachgruppen (1933; 6. Aufl. 1965), dem ein zusammenhängendes Begriffssystem bzw. eine „Weltbeschreibung" zugrunde liegt, und Wehrle-Eggers, Deutscher Wortschatz (12. Aufl. 1961), der mit seinen 1000 Begriffsgruppen auf ein engl. Vorbild, Roget's Thesaurus, zurückgeht. Die beiden W., die durch umfangreiche alphabetische Register erschlossen werden, sind eigentlich für den Muttersprachler bestimmt, der die Bedeutungsunterschiede zwischen den Wörtern genau kennt. Zu den Sachgruppenw.n gehören auch die B i l d w ö r t e r b ü c h e r , die sich auf den konkreten (substantivischen) Wortschatz beschränken. Synonymenwörterbücher kennen zwar meistens eine alphabetische Ordnung der Lemmata, stellen aber bedeutungsgleiche und bedeutungsähnliche Wörter zusammen. In den nivellierenden oder kumulativen Synonymenw.n, welche die im Satzzusammenhang untereinander austauschbaren Wörter und Wendungen verzeichnen, steht der Grundinhalt zentral; die differenzierenden oder distinktiven Synonymenw. versuchen dagegen, durch die Darstellung der unterschiedlichen Inhaltsmerkmale bzw. anderer Merkmale den Gebrauchsbereich der „sinnverwandten Wörter" um- und gegenseitig abzugrenzen. A n t o n y m e n w ö r t e r bücher verzeichnen die Gegensatzwörter. 3. Nach S p r a c h v a r i e t ä t e n : nisch.

diatopisch/tech-

Neben der Standard- und Gemeinsprache mit ihren Soziolekten, Gruppensprachen und Stilschichten gibt es andererseits noch die Fachsprachen, die sich hauptsächlich durch einen eigenen Wortschatz (Fachtermini, Nomenklaturen) von dieser abheben, und die grundschichtliche Volkssprache, die stark regional gegliedert ist und deren diatopische Einheiten als eigene Sprachsysteme betrachtet werden können. D i a l e k t w ö r t e r b ü c h e r oder M u n d a r t w ö r t e r b ü c h e r versuchen, den volkssprachlichen Wort-

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schatz eines geographischen Teilbereichs der Einzelsprache (vollständig) zu erfassen und zu erklären. Früher wurden sie gern nach der kontrastiven Methode erstellt und verzeichneten vorzugsweise die von der Gemeinsprache abweichenden Lexeme und Bedeutungen (daher I d i o t i k a ) . Beim Dialektgebiet, dessen Wortschatz dargestellt wird, kann es sich um ein Dorf, sogar einen Weiler, aber auch um eine ausgedehnte Mundartlandschaft handeln. Die heutigen (meistens großräumigen bzw. großflächigen) Mundartw. zielen auf die vollständige Erfassung eines regionalen Wortschatzes meistens in phonisch-alphabetischer Reihenfolge; sie messen aber auch der Darstellung der räumlichen Heteronymik durch Wortkarten (onomasiologischer Gesichtspunkt) große Bedeutung bei. Daneben sind Mundartw. mit systematisch-ideologischer Gliederung möglich und kommen vor. F a c h w ö r t e r b ü c h e r beruhen auf der kontrastiven Methode und versuchen, den besonderen Wortschatz eines bestimmten Fachgebietes oder Teiles eines Fachgebietes (z.B. Astronomie, Imkerei, Kriminalistik, Fernmeldewesen, Wasserbau, Zimmerhandwerk) zu kodifizieren. Diese Sammlungen der fachsprachl. Lexik, die oft einen terminologischen bzw. nomenklator. Charakter hat, neigen dazu, enzyklopädische Elemente aufzunehmen oder sind mehrsprachige Nomenklaturen im Dienst der intern. Verständigung. Auch mundartliche Fachw. kommen vor. Marzells Wörterbuch der dt. Pflanzennamen geht aus von der wiss. lat. Bezeichnung (alphabetische Reihenfolge, zugleich ideologischer Gesichtspunkt) und bringt die Standard-, Umgangs- und regionalsprachlichen Pflanzenbenennungen. N a m e n w ö r t e r b ü c h e r nehmen eine Sonderstellung ein, da sie nicht den appellativischen Wortschatz betreffen (Vornamen, Familiennamen, Ortsnamen, Flußnamen, Flurnamen usw.). Es überwiegt manchmal der historische bzw. etymologische Gesichtspunkt. Sie sind wichtig für die Sprachgeschichte und die Geschichte des Wortschatzes. § 10. Zu den h i s t o r i s c h e n , vergangenheitsbezogenen W.n sind einerseits die etymologischen und vergleichenden' W., andererseits die Darstellungen des Wortschatzes der histor. Stufen einer Sprache zu rechnen. Wenn auch in den e t y m o l o g i s c h e n W.n der dt. Sprache in erfreulicher Weise der semantische, bedeutungsgeschichtliche und kulturhistor. Aspekt der Wortgeschichte stärker berücksichtigt wird, stehen in ihnen doch die Herkunft und die Ableitungsgeschichte der Wörter, d. h. ihre ursprüngliche (vorgeschichtliche) Form, ihre Zugehörigkeit zu und ihr Zusammenhang mit prähistorischen Wortfamilien und die Entwicklung der formalen Seite im Mittelpunkt der Betrachtungsweise. Die vergleichenden W., die nach Wurzeln geordnet sind, beruhen auf der vergleichenden Untersuchung von Wörtern aus verschiedenen genetisch verwandten Sprachgruppen.

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Wörterbücher

Die h i s t o r i s c h e n d e s k r i p t i v e n W. erschließen den Wortschatz einer Periode der dt. Sprachgeschichte ( P e r i o d e n w ö r t e r b ü c h e r : Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Mittelniederdeutsch, Frühneuhochdeutsch), einer bestimmten histor. Textsorte bzw. Lit.gattung (ein Wb. des dt. Minnesangs wäre möglich, ein Wb. der altdt. Originalurkunden bis 1300 ist geplant), eines Dichters oder Verfassers (Otfrid, Notker, Luther) oder eines Einzelwerkes (Heliand, Hartmanns Iwein, Veldekens Eneide). Sie sind entweder selektiv und weisen Beschränkungen auf, sei es in der Makrostruktur (z.B. indem sie nur die wichtigsten Wörter und die bisher nicht belegten Lexeme verzeichnen, wie das in vielen versteckten Wörterbüchern, die als Anhang zu Textausgaben auftreten, der Fall ist), sei es in der Mikrostruktur (beschränkte oder vereinfachte Wiedergabe der Bedeutungen und Bedeutungsstrukturen) oder extensiv, was bis zur Vollständigkeit gehen kann. Dies ist um so leichter möglich, als es hier um abgeschlossene Korpora geht, die nur durch neue Funde erweitert werden können (vgl. das Ahd. Wörterbuch von Th. Frings u. E. Karg-Gasterstädt). Auch das Dt. Rechtswörterbuch kann man ein histor. Wb. nennen. Solche vollständigen W. sind nicht zu verwechseln mit einem I n d e x v e r b o r u m , der lediglich alle auftretenden Wörter bzw. Wortformen mit ihrem Vorkommen auflistet, noch mit einer Konkordanz, die zu den Wörtern auch ein mehr oder weniger großes Stück Kontext abdruckt und die hauptsächlich für Einzelwerke bzw. Einzelpersönlichkeiten erstellt wird. § 1 1 . Es versteht sich, daß für alle Sprachperioden, also auch für die G e g e n w a r t s s p r a c h e , wie auch immer man ihren Bereich zeitlich abgrenzt, W., die sich nur auf eine Gattung oder auf eine Person (Goethe, Trakl, Marx-Engels) oder auch auf ein Werk (Goethes Werther) beschränken, möglich sind, genauso wie Reimw. für die mhd. Dichter, die den tatsächlichen Reimbestand eines Dichters oder eines Werkes registrieren, zum normalen Apparat der Philologie gehören. Einen besonderen Rang innerhalb der W. für einzelne Dichter nimmt das seit 1947 vorbereitete und von den Akademien in Berlin, Göttingen und Heidelberg hg. Goethe-Wb. (Bd. 1: A - a z u r n , 1978; Bd. 2, Lfg. l f f . 1979ff.) ein, das „in der Sprachwelt Goethes auch zugleich seine Sach- und Ideenwelt sichtbar macht" und „über die engere wiss. Interpretation hinaus der Erschließung des .Denkens' oder der ,Weltanschauung' Goethes" dient (Vorrede v. Wolfgang Schadewaldt). Zur Lexikographie, Allgemeine Werke: Robert William C h a p m a n , Lexicography (London 1948). Mélanges linguistiques. Publ. à l'occasion du 8e Congrès intern, des linguistes à Oslo du 5 au 9 août 1957. Comité de réd.: Jorgu J o r d a n u . a . (Bucaresti 1957; Académie de la Répu-

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939

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Geschichtlicher

Uberblick

bis

1850.

§ 12. F r ü h e s und H o h e s M i t t e l a l t e r . G l o s s o g r a p h i e . Nach Klaus Grubmüller, dem wir grundlegende Einsichten in die Geschichte der spätmal. dt. Lexikographie verdanken, liegt der „Einschnitt, in den das Auslaufen der alten (glossographischen) und die Vorbereitung der neuen (lexikographischen) Tradition fällt, im 13. J h . " (Voc• Ex quo, S. 48). Von den Bemühungen der alten Glossatoren führt kein Weg zu den Leistungen der Wb.macher des 14. und 15. Jh.s, wie man früher immer gemeint hat. Von den aus Einzelglossen zu bestimmten Werken (Bibel, Vergil) entstandenen textgebundenen glossae collectae und Glossaren reicht kaum eins über das 12. J h . hinaus; sie werden allenfalls passiv rezipiert. Die auf der älteren lat. Glossographie beruhenden Glossae Salomonis „treten noch in vielen vom 11. bis zum 14. J h . reichenden Hss. auf und wurden noch in den 70 er Jahren des 15. J h . s gedruckt" (H. Thoma, Realle:c. Bd. 1, S. 584). Die verwandte und ebenfalls auf die großen lat. alphabetischen Glossare zurückgehende Kompilation in der St. Georgenberger H s . (London Brit. Mus. Add. 18379) aus dem 13. J h . überliefert einen ausgesprochen altertümlichen Wortschatz und ist unzeitgemäß-museal. Das Summarium Heinria., dessen 11. Buch, ein alphabetisches Glossar, ein selbständiges Leben führt, wird noch bis ins 15. J h . abgeschrieben und benutzt. § 13. S p ä t e s M i t t e l a l t e r — F r ü h e N e u z e i t . L a t . —dt.. L e x i k o g r a p h i e . Die Glossare aus der älteren Tradition bleiben jedoch ohne Einfluß auf die neuen lexikograph. Werke, die seit dem 13. —14. J h . der Volkssprache einen Platz einräumen; diese gehen „unmittelbar auf die gelehrten einsprachigen

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Wörterbücher

lat. W. ihrer Zeit zurück". Die Magnae Derivationes des Huguccio von Pisa und dessen Vorgänger Osbern und Papias, das Catholicon des Johannes Baibus von Genua, G. Britos Bibelvokabular aus dem 12. u. 13. Jh. und der schon mehr als Lesehilfe für Kleriker gemeinte einfachere Brevilogus, der in der Urfassung vielleicht schon dt. Interpretamente kannte, liefern den Stoff, auf den die lat.-dt. Vokabulare und W. des späten MA.s aufbauen. Sie sind größtenteils unerforscht. Nicht nur fehlen Ausgaben und Untersuchungen zu einzelnen Vokabularien, es mangelt sogar an einer bibliograph. Zusammenstellung aller bekannten Werke, die in der Form alphabetischer Wörterverzeichnisse und Universalwörterbücher und systematisch gegliederter (Teil)glossare auftreten. L. Diefenbach hat für seine Glossaria viele Hss. — vor allem aus Mainz — exzerpiert, aber unter seinen Quellen überwiegen die Drucke. E. Rooth hat viele Vokabulare benutzt und vorläufig lokalisiert. W. Foerste, der einen ndt. Diefenbach vorbereitete, verzeichnet in seiner unvollständigen Liste 50 ndt. Hss., von denen nur drei ndt.-lat. sind. Für das ndl. Sprachgebiet verzeichnet P. G. J . van Sterkenburg 32 Vokabulare, mit deren Edition und Studium ein Anfang gemacht wurde. Sie weisen Beziehungen zum dt. Sprachgebiet auf. Hängt die Entwicklung der lat. Lexikographie seit dem 13. Jh. in ihren verschiedenen Existenzformen mit der Entfaltung des gelehrten Studiums der Theologie, der Philosophie und der Naturwissenschaft sowie mit einem immer reger werdenden Schulbetrieb und Unterricht zusammen, so bildet das Auftreten des Dt. als Interpretiersprache, ausnahmsweise auch als Lemmasprache, einen Teil der Entfaltung der volkssprachlichen Gebrauchsprosa und der Emanzipation der Volkssprache im Spätma., die von einer neuen geistigen und affektiven, sich in der neuen Bezeichnung materna lingua spiegelnden Haltung zur Nationalsprache begleitet wird. Stadtschule und Klerikerunterricht, vor allem in den Ordensschulen, bilden den geistigen Boden dieses „Schul- und Bildungsschrifttums". 1. H a n d s c h r i f t l i c h e Uberlieferung (14. —15. Jh.). Normalerweise wird vom Lat. ausgegangen, wobei am Anfang noch oft nichtübersetzte Lemmata stehenbleiben. Gerade diejenigen W., zu denen auch ein dt.-lat. Teil gehört, sind am besten untersucht. Das Ende des 14. Jh.s entstandene Wb. des aus dem

Straßburger Bürgertum stammenden Chronisten Fritsche C l o s e n e r , ein auf Vermittlung elementarer Lateinkenntnisse gerichtetes Schulbuch, wurde um 1390 von Jakob T w i n g e r von K ö n i g s h o f e n in der Richtung eines Bildungslexikons erweitert. Closeners Werk ist ein vor 1398 verfaßtes dt.-lat. Glossar beigegeben, dem die Genese aus einem Index zu einem lat.-dt. Glossar noch gut anzusehen ist. Der Vocabularius Quadriidiomaticus des Ostfalen Dietrich Engelhus (um 1400) enthält als vierten Teil ein nd.-lat. Vokabular, das nicht von E. stammt und sich durch ausführliche volkssprachliche Interpretamente auszeichnet. Weiter sind zu nennen das theologisch-mystische Abstractum-Fachglossar, das im 14. und 15. Jh. sehr verbreitet war, der sog. Vocabularius Copiosus (Basel 1338), das Esse-Essentia-Vokabular (Liber ordinis rerum) und selbstverständlich der Vocabularius Ex quo, ein alphabetisches Universalwb., das wohl verbreitetste lat.-dt. Wb. des späten MA.s. Es zeigt, wie nicht die großen lat. lexikographischen Werke übersetzt werden, sondern wie aus ihnen (vornehmlich Huguccio und Catholicon) Elementärw. erstellt werden als Hilfsmittel, um Texte und um die Bibel zu lesen. Der Voc. Ex quo richtet sich ausdrücklich an die pauperes scolares und stammt aus dem Oberwesergebiet. 2. E r s t e D r u c k e (1467-1520). Aus der Uberlieferungsgeschichte des Voc. Ex quo geht deutlich hervor, daß die Erfindung der Buchdruckerkunst keinen Einschnitt bedeutet, wenn die W. nun auch quantitativ eine viel größere Verbreitung finden. Manches früher in hsl. Form verbreitete Vokabular wird gedruckt. Grubmüllers Behauptung, „die Vokabularliteratur sei wesentlich handschriftliche Literatur, die Drucke seien nur Ausläufer", hat aber nur Gültigkeit, wenn man sie nicht allzu wörtlich nimmt. Vom Voc. Ex quo gibt es nicht weniger als 59 Drucke bis 1505; Engelhus' Vocabularius wird noch 1509 gedruckt; der ndl. Vocabularius Copiosus ist ein gedruckter Conflatus; die Curia Palatium hat vielleicht eine hsl. Vorlage gehabt; auch der Voc. Registrum vocabularii sequentis (1474) und der Voc. Scripturarum fidelibus (1477) haben hsl. Vorstufen. Andere W., besonders diejenigen, in denen dt. Lemmata angesetzt werden, sind nicht Abdrucke von Hss., obwohl sie ohne Zweifel auf hsl. Quellen beruhen. Den Teuthonista, das erste gedruckte zweiteili-

Wörterbücher ge Wb. (1477), hat Gert van der Schueren selbst zusammengestellt; der Rusticanus Terminorum (1483) weist Einflüsse von Engelhus' Glossar und Übereinstimmungen mit dem Teuthonista auf; der Vocabularius incipiens teuthonicum ante latinum (1483—84) ist noch zu untersuchen. Der Vocabularius praedicantium ( ab 1477—80) beruft sich ausdrücklich auf die Predigten von Jodocus Eichmann. Sie stehen aber alle noch deutlich in der spätmal. Tradition, die zwischen 1500 und 1520 ausläuft. Nur ein paar Werke (Vocabula pro juvenibus, Introductio quaedam) leben in veränderter und angepaßter Gestalt weiter, vor allem in der Peripherie des dt. Sprachgebietes. § 14. H u m a n i s m u s (16. Jh.). „Die Wörterbuchschreibung der Humanisten . . . hatte ihre Wurzel in dem Zeitbedürfnis, die Gesamtheit der lat. Denkmäler der Antike, den Wortschatz des durch zahlreiche Hssfunde und Textausgaben erst jetzt fassbar gewordenen klassischen Lateins lexikographisch bearbeitet zu sehen" (Powitz, S. 74). Die Hinweise auf die probatissimi autores zeugen davon. Die Kenntnis und das Studium des Lateins bleiben Hauptsache; dies erklärt in den ersten Jahrzehnten die zahlreichen für die Schule bestimmten systematischen (Murmellius, Heyden, Major) und aus dem Grammatikstudium (Stilistik) entstandenen Wörterverzeichnisse. Wir übersehen die reiche lexikograph. Produktion von 1467 bis 1600 durch die nützliche und anregende Bibliographie von F. Claes (1977). Inwiefern und seit wann die Würdigung und Hochschätzung der Volkssprache und der Wunsch, ihren Reichtum und ihre Vollkommenheit zu dokumentieren, (hintergründig) anwesend sind, ob und wie die Rücksicht auf das Wirken der Gemeinsprache wirksam wird, ist noch zu untersuchen. Die Lexikographen selber schweigen meistens dazu, auch der Straßburger Lehrer Petrus D a s y p o d i u s , der, um seine Schüler vor dem schmutzigen Wasser der alten Gemmae zu schützen, als erster ein ,modernes' zweiteiliges Wb. schafft (1535—36), das als erprobtes Schulwb. im 16. Jh. immer wieder aufgelegt wird. Die endgültige Wendung trat ein unter franz. Einfluß (Estienne) und durch die Anregung des humanist. Linguisten Conrad G e s s n e r , der eine Reihe von W.n aus der Züricher Offizina Froschauers veranlaßte: den Großen und den Kleinen Fries von 1541—48—

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56 als direkte Ableger von Stephanus' W.n, und Josua Maalers Die Teütsch spraach (1561), das erste moderne dt. Wb., das nicht nur von dt. Lemmata ausgeht, sondern auch die Bedeutungen der Wörter auf eine schon systematische Weise und durch eine Dokumentation (dictiones) zu beschreiben sucht. Die Interpretiersprache bleibt das Latein. Das Wb. Maalers, dem ein gewisser nationaler Impuls nicht fremd ist, wurde im Gegensatz zu Frisius* W.n nicht wieder gedruckt. Am Ende des Jh.s steht das große von Helfricus E m m e l geschaffene Straßburger Wb.werk, das u. a. auf Frisius fußt und das aus einem dreisprachigen Lexikon (lat.-gr.-dt., mit dt. Index), zwei Sylvae (Synonymenw.n), zwei Nomenklatoren (systematischen W.n) und einem Namenwb. besteht (1592, der erste Teil 1586). Der Südwesten liefert im 16. Jh. die wichtigsten W. Wie stark das Latein um 1570 noch im Mittelpunkt steht, zeigt die Vielfalt der humanist. Nomenklatoren, die sich fast alle — mittelbar oder unmittelbar — an Hadrianus J u n i u s ' Nomenciator omnium rerum (Antwerpen 1567) anschließen. Nachdem Erasmus A l b e rus 1540 das erste Reimwb. bzw. rückläufige Wb. des Dt. (Novum dictionarii genus) veröffentlicht hatte, erschien 1571 das erste dt. Fremdwb., Simon R o t h s Teutscher Dictionarius. Es erscheinen mehrere Fachw. (Bibelsprache, medizinischer, philosophischer, chemischer Fachwortschatz); der C a l e p i n u s vertritt das vielsprachige, vom Latein ausgehende Wb. (bis zu elf Sprachen). Ein Anzeichen dafür, daß die Pflege der Volkssprache an Bedeutung zugenommen hat, liefern die Synonymenw. u.a. von Hermann U l n e r (Copiosa supellex, 1577) und von Leonhard S c h w a r t z e n b a c h (1554—1571), dessen Wb. vollständig deutsch ist und deutlich auf den syntaktisch-stilist. Gebrauch der Wörter Bezug nimmt. Das erste bilinguale Wb., das ebenfalls ohne Latein auskommt, schrieb der aus den Niederlanden stammende Levinus Hulsius (Dictionnaire françois-alemand et alemand-françois, Nürnberg 1596); für die osteuropäischen Sprachen sind die Ubersetzungsw. normalerweise dreisprachig, indem einem lat.-dt. Wörterverzeichnis Ubersetzungswörter der betreffenden Sprache hinzugefügt werden. § 15. Die Lexikographie des 17. und 18. J a h r h u n d e r t s ist nur zum Teil erforscht; die

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Angaben bei Zaunmüller sind dürftig. Gute Ubersichten und neue Einsichten, die das einsprachige Wb. der Gemeinsprache betreffen, finden sich bei G. Powitz, G. Ising und H . Henne, die auch die zeit- und wiss.geschichtlichen Voraussetzungen der monolingualen dt. Lexikographie und ihrer großen Vertreter darstellen. Zunächst setzt sich die Tradition fort: alte W. werden weiter gedruckt, der Dasypodius erlebt sogar eine neue Blüte im Dasypodius Catholicus aus dem Kreis der Kölner Jesuiten; es entstehen neue, die weiterhin vom Lat. ausgehen oder das Lat. als Interpretationssprache behalten. Das Streben nach einer Gemeinsprache und die Bemühungen um ihre Festigung und lexikal. Kodifizierung leiten eine Entwicklung ein, die zum ersten großen alphabetischen Wb. der dt. Sprache führen wird. Ihre systematische und vollständige Erfassung war für Maaler noch unmöglich; ist doch sein Dictionarium durch das Umsetzverfahren aus dem lat.-dt. Großen Fries, einer Verdeutschung von Stephanus' lat.-franz. Lexicon, zustande gekommen. Der erste frühe Versuch eines vollständigen Wb.s von Georg H e n i s c h (Teütsche Sprach und Weißheit, 1616), der auch die Synonyma, Derivata, Epitheta, Phrases, Sprichwörter und zerstreute Aussprüche weiser Deutscher sowohl aus der Vergangenheit als aus der Gegenwart verzeichnen wollte, gelangte nicht über den ersten Band (A—G) hinaus. 1. Das n o r m a t i v e W ö r t e r b u c h — das S t a m m w ö r t e r b u c h . Im Zeitalter der n o r m a t i v e n Sprachbetrachtung in Westeuropa und in Deutschland, als die landschaftlichen Schreibsprachen hier schon weit zurückgetreten waren und die nhd. Schrift- und Lit.sprache auf ostmitteldt. Grundlage sich allmählich durchsetzte, wird nach einem einsprachigen (vorläufig noch immer dt.-lat.) Wb. als „Gesetzbuch" gestrebt, das durch die Erfassung der muttersprachlichen Lexik zur Normierung des Wortschatzes — sich nach einem im Laufe der Zeit wechselnden sprachlichen Leitbild richtend — und zur Vereinheitlichung der Sprache als Nationalgut führen soll. Während man sich in Frartkreich und England vor allem um die Stabilisierung und Erhaltung des guten und richtigen Sprachgebrauchs bemüht, zielen Gelehrte und Literaten vor allem aus bürgerlichen Kreisen auf die Schaffung und Festigung einer einheitlichen Sprache, die sie als „richtig" betrachten.

Im 17. Jh. setzt mit der Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft (s. Sprachgesellschaften) „eine Zeit angespannten Bemühens um die lexikographische Erschließung der nhd. Gemeinsprache ein" (Powitz 12). Im Kreise des Palmenordens entsteht, zumal nach 1640, eine Reihe von Wb.programmen (Ch. Gueintz, G. Ph. Harsdörffer, J. Rist, J. G. Schottel, Fürst Ludwig von AnhaltKöthen), die auf die Schaffung eines deskriptiven und normativen Wb.s hinzielen. Sich stützend auf die sprachtheoret. Überlegungen der Barockzeit — „die Sprache ist ein grammatisches Kunstprodukt, das analog und darum richtig ist" (H. Henne) —, soll es durch die Erkennbarmachung des gültigen Sprachgebrauchs (aus den guten Schriftstellern) die Gemeinsprache einigen und festigen. Dem theoret. Zug dieser Zeit entsprechend forderte Just. Georg S c h o t t e l als der führende Theoretiker eine systematische Wortschatzdarstellung, in der das grundrichtige und geordnete Gefüge der Lexik der dt. Sprache demonstriert werden sollte, auf Grund eines vollständigen Verzeichnisses der dt. Stammwörter: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen Haubt Sprache (1663) unter „Hinbeifügung Derivativorum, Compositorum, Phrasium, Proverbiorum etc.". Es steht die morphologische Struktur des Wortschatzes, vor allem die Wortbildungslehre (Ableitungs- und Verdopplungskunst) im Mittelpunkt seines Programms, das weder Harsdörffer noch er selbst zu verwirklichen imstande waren. Das gelang Kaspar Stieler (dem „Spaten"), dem ersten normierenden Wörterbuchschreiber, in seinem Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz (1691). Dieses erste umfassende Wb. auf deduktiv-etymologischer Grundlage verzeichnet in aiphabet. Reihenfolge die Stammwörter, die aus allen Bereichen (auch aus den Fach- und Regionalsprachen) gesammelt werden, und enthält nicht weniger als 68.000 Wörter, die durch ein Register erschlossen werden. Es macht vor allem die Möglichkeiten der Wortbildung (Derivier- und Componierkunst) erkennbar und kann daher der damaligen Sprachwirklichkeit nicht gerecht werden, da die Grenze zwischen der Wirklichkeit und den Möglichkeiten der Sprache verschwindet. Man hat es den ersten Versuch eines wiss. dt. Wb.s genannt. Auch der Schlesier Christoph Ernst Steinbach vertritt in seinem Vollständigen Deut-

Wörterbücher sehen Wörter-Buch vel Lexicort GermanicoLatinum (1734) die Schotteische Richtung und ordnet den dt. Wortschatz nach bedeutungstragenden Stammsilben als Keim von Grundwörtern, denen die zugehörigen (bestehenden!) Ableitungen und Zusammensetzungen zugeordnet werden. Steinbach, der auch die schlesischen Dichter häufiger zitiert, führt eine stilistisch-dianormative Markierung mittels diakritischer Zeichen ein. 2. Das Teutsch-Lateinische Wörter-Buch des Berliner Rektors Johann Leonhard F r i s c h (1741) ist ebenfalls den Anregungen Stielers und Schottels verpflichtet und ist in seiner Anlage durch das Stamm-, Derivations- und Kompositionsprinzip bestimmt; es wurde aber aus etymologischem und vergleichendem sprachwiss. Interesse angefangen (die histor. Dimension) und erweitert als Wb. der Gemeinsprache den lexikographischen Erfassungsbereich, indem es das Wortgut der geschichtl. Sprachstufen, zumal des Frühnhd., sowie der Mundarten und Berufssprachen heranzieht. Frisch steht ohne Zweifel unter dem Einfluß des von Leibniz in den Unvorgreifflichen Gedancken (um 1697) formulierten Wb.Programms und der sprachtheoret. Auffassungen der Berliner Sozietät der Wissenschaften: L e i b n i z schlägt ein großes dreiteiliges Wb. vor, das aus einem Lexicon der Gemeinsprache, einem Wb. der Fachsprachen und der Mundarten (Comu copiae) und einem etymologischen Glossarium bestehen sollte. In einer Zeit, die für den Gedanken eines mehrschichtigen Gesamtwörterbuchs noch nicht reif war, fügt Frisch sich nur bedingt in die Entwicklung ein. 3. Das einsprachige W ö r t e r b u c h der G e m e i n s p r a c h e . Aus dem Kreise der Berliner Sozietät ging letzten Endes auch der Plan eines vollständigen, normativen Wb.s hervor, der von D. E. Jablonsky formuliert und zum Teil von J . Ch. Gottsched übernommen wurde. Ausgeführt wurde er von Johann Christoph A d e l u n g , dessen vierbändiger Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart 1774—1786 in Leipzig erschien; das Deutsche wird nun auch definitiv Interpretiersprache. Adelung richtet sich nicht länger nach einer idealen, der Sprache immanenten Grundrichtigkeit, sondern legt seinem Werk einen soziologisch und geographisch „richtigen" Sprachgebrauch zugrunde, die hochdt. Mundart, d.h. die Sprache der „Obern Classen" der „südlichem

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Chursächsischen Lande", die keineswegs mit der Büchersprache identisch ist. Diese „Schriftund feinere Gesellschaftssprache" will er dokumentieren, kodifizieren und fixieren. Er schafft ein deskriptiv-normatives, präskriptives Wb. der gehobenen Umgangssprache und Lit.sprache, deren Einheit zu bewahren er bestrebt ist. Ihm ist der endgültige Schritt vom „wortbildungsbezogenen Stammwortprinzip zum Einzelwortprinzip" gelungen, indem die Wb.artikel streng alphabetisch geordnet sind. Sie werden vor allem durch die empirisch, logisch, aber auch histor. fundierte semantische Analyse und durch Dokumentierung der Bedeutungsstruktur bestimmt (das semasiologische Wörterbuch). Das krit. Moment zeigt sich hauptsächlich in der stilist. Bewertung, der Bezeichnung der „Würde" der Wörter und Redensarten in fünf „Classen", wobei die Provinzialismen und die Pöbelwörter besonders gekennzeichnet werden. Vor allem der Begriff des „meißnischen Hochdeutsch", auf dem das erste große Wb. der dt. Gemeinsprache fußte, rief Kritik hervor; ihm stellt Joachim Heinrich C a m p e die allgemeine dt. Sprache als „Aushub" der Umgangssprache und der Lit.sprache aus allen Gegenden gegenüber, die er in seinem Wörterbuch der Deutschen Sprache (1807-1811) deskriptiv darstellt. Stofflich und methodisch stützt er sich jedoch skrupellos auf das kritisierte Werk, dessen Wortbestand durch viele Ableitungen, Zusammensetzungen und eine größere Berücksichtigung der Lit.sprache der Zeit bis zur gerühmten Vollständigkeit (141.2 77 Wörter gegenüber 55.181 bei Adelung) ergänzt wird. Diese Vollständigkeit ist im Zusammenhang mit Campes aufklärerischen und pädagogischen Ansichten zu sehen, die in seinem Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke (1813) noch deutlicher zutage treten. Huldigt Adelung einem gemäßigten Purismus, so dokumentiert Campes Fremdwörterbuch nicht nur die sprachliche Lage seiner Zeit, sondern ist ein „Verdeutschungswörterbuch unter negativem Aspekt", durch das er als Vertreter der puristischen Richtung in der Geschichte der dt. Philologie und Lexikographie bekannt geworden ist. 4. A n d e r e W ö r t e r b u c h t y p e n . Neben Adelungs alphabetisches Bedeutungswb. tritt Johann August E b e r h a r d s Versuch, den dt. Wortschatz von der Inhaltsseite zu beschrei-

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ben und zu ordnen, Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik in einem kritischphilosophischen Wörterbuch der sinnverwandten Wörter der hochdeutschen Mundart (1795— 1802); das Synonymische Handwörterbuch der dt. Sprache ist von O . Lyon bis 1910 immer wieder neu aufgelegt worden und wird von H. Henne hoch eingeschätzt. Auch Johann Friedrich H e y n a t z veröffentlichte 1795—1798 ein mehrbändiges synonymisches Wörterbuch. Das erste ausführliche Wb. des Altdeutschen erschien 1728, als Joh. F r i c k als 3. Band von Joh. Schilters Thesaurus das Glossarium ad scriptores linguae Francicae et Alemanicae veteris herausgab, dem 1781 — 1784 Joh. Georg S c h e r z ' Glossarium Germanicum medii aevi, hg. v. J . J . Oberlin, folgte. Den Wissensstand der etymologischen Forschung jener Zeit spiegelt Joh. Georg W ä c h ters Glossarium Germanicum von 1727 wider. Um 1780 entstehen die ersten richtigen Mundartw. als Idiotika, die hauptsächlich die von der Gemeinsprache abweichenden Ausdrücke verzeichnen: Tiling (Bremen 1767— 1771), M. Richey (Hamburg 1754), J. Chr. Strodtmann (Osnabrück 1756), J . C. Dähnert (Pommern—Rügen 1781), J. Chr. Schmid (Schwaben 1795), A. Berndt (Schlesien 1787), A. Zaupser (Bayern 1789), Friedrich Karl Fulda (Versuch einer allg. dt. Idiotikensammlung 1788). Von den zweisprachigen Ubersetzungsw.n im Dienste der Fremdsprachenerlernung sind vor allem die Werke Matthias K r a m e r s zu rühmen, dessen dt.-ital. Wb. (Das herrlich große teutsch-italiänische Dictionarium, 1700— 1702) auch als lexikalische Darstellung der dt. Sprache große Verdienste hat. Kramer schrieb auch ein dt.-niederländ. Wb. (1719) und ein franz.-dt. Wb. (1712—1715), während Adelung 1783 ein Neues grammatisch-kritisches Wörterbuch der Englischen Sprache veröffentlichte, das von Samuel Johnson's Dictionary ausgeht. § 16. Das 19. J a h r h u n d e r t : das philologisch-historische (panchronische) Wb. der dt. Sprache. Die hist. Sprachwiss. des 19. Jh.s schafft unter Verzicht auf die normativpräskriptive Zielsetzung einen neuen Wb.typus, das philologisch-hist. oder hist.-lexikographische Wb., das im Deutschen Wörterbuch (1854-1960) der Brüder Jacob und Wilhelm G r i m m seine erste und in den meisten ger-

man. Ländern nachgeahmte Ausprägung findet und durch das engl. Oxford English Dictionary (1889-1978) mit seiner einheitlichen Konzeption am vollkommensten vertreten wird. In einem achtbändigen Belegwb. wollte J . Grimm den Wortschatz von Luther und Fischart bis Goethe als eine „ununterbrochene und ungebrochene Einheit" deskriptiv darstellen und dem Leben der Einzelwörter als Bestandteile der lebenden, als Organismus gesehenen, Sprache nachgehen in ihrer grammatischen, morphologischen und semantischen Entwicklung. Er steht auf dem Boden der hist.-vgl. Sprachwiss. und der neubegründeten Philologie. Seinen romantischen Auffassungen entsprechend hat Grimm mehr Sympathie für die ältere Zeit als für die Einzelheiten des modernen Sprachgebrauchs. Die Vorrede zum 1. Band gibt ausführlich Auskunft über seine sprachlichen und lexikographischen Ansichten, die auch der nationalen Romantik und dem sich entfaltenden Nationalgefühl verpflichtet sind. Das „vaterländische werk" sollte „ein heiligthum der spräche gründen, ihren ganzen schätz bewahren", es sollte sein „ein hehres denkmal des Volkes, dessen Vergangenheit und gegenwart in ihm sich verknüpfen", eine „allen aufgethane halle der angestammten uralten spräche". Das geplante Hausbuch für die Familie ist es nicht geworden, sondern unter den Händen mehrerer Generationen von Germanisten, die bis 1960 ihm ihre besten Kräfte widmeten, ein ausführlicher und streng-wiss. Thesaurus (in 32 Bänden und mehr als 70.000 Spalten), in dem Etymologie, Wortgeschichte und reich dokumentierte Bedeutungsdarstellung als Erzeugnis der sich wandelnden Sprachwissenschaft zentral stehen. Allgemein: Rud. v. Raumer, Gesch. d. german. Philologie vorzugsweise in Deutschland (1870; Gesch. d. Wiss. in Deutschland 9). Herrn. Paul, Gesch. d. german. Philologie (2. Aufl. 1897; PGrundr. 1). Georg Stötzel, Das Abbild d. Wortschatzes. Zur lexikograph. Methode in Deutschland von 1617-1967. Poetica 3 (1970) S. 1-23. Harald Weinrich, Die Wahrheit d. W., in: Probleme d. Lexikologie «. Lexikographie (1976; Jb. d. Inst. f. dt. Sprache 1975 = Sprache d. Gegenwart 39) S. 347-371. Helmut Henne, Lexikographie, in: Lexikon d. germanist. Linguistik. Bd. 4 (2. Aufl. 1980) S. 778-787. Lit. zu § 13: Herbert Thoma, Glossen, ahd. Reallexikon. Bd. 1, S. 559-589. Klaus Grubmüller, 'Vocahularius Ex quo'. Untersuchungen

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Wörterbücher

Art erstellt werden können und deren Material interessierte Benutzer jederzeit abrufen können. Joachim Bahr, Zur Neubearb. d. 'DWb.s'. Von d. Exzerption zur Elektion. ZfdWf. 18 (1962) S. 141-150. Helmut H e n n e u. Harald Weinrich, Projekt e. neuen großen Wb.s d. dt. Sprache. Thesen, Kommentar u. Bericht über zwei Projektkonferenzen. Zs. f. germanist. Linguistik 4 (1976) S. 55—64. Dies., Zwanzig Thesen über e. neues großes Wb. d. dt. Sprache. Zugleich e. Bericht über 2 weitere Projektkonferenzen. Ebda, S. 339-349. Helmut H e n n e , Dieter

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z Zahlensymbolik Vorbemerkung: Unter dem Begriff Z. wird im folgenden nur behandelt, was in der germanist. Forschung, besonders der mediävistischen, mit Z. als literarisch-poetologischer Erscheinung in Verbindung gebracht wird. Die übrigen Philologien sind prinzipiell mitbetroffen, aber nicht speziell berücksichtigt. Als wichtige Aspekte von Z. bleiben von einer Behandlung um ihrer selbst willen ausgeschlossen die anthropologisch-psychologisch-pädagogischen, die ethnologischen, die magischen sowie jene der nichtliterar. Künste, obwohl manche dieser Aspekte gestreift werden. Stärker in den Vordergrund tritt die platonisch-augustinische Ontologie und Ästhetik der Zahl sowie die patristisch-mal. Zahlenexegese, daneben der Gesichtspunkt fachmathematischer Bildung im MA.

§ 1. Begriff: Unter Z. versteht die germanist. Forschung Erscheinungen von unterschiedlichem Wesen, die vor allem in der mal., in geringerem Umfang jedoch auch in der neueren und neuesten dt. Lit. beobachtet wurden. Es handelt sich einerseits um den allegorischen Sinn der Zahlen, wie er aus der patristisch-mal. Exegese biblischer Zahlen als Träger eines eigentlichen und eines übertragenen Sinnes abgeleitet und analog dazu auch in nichtbiblischem Schrifttum aufgesucht wird. Der allegorische Sinn der Zahlen ergibt sich christl. Exegese im Anschluß an die biblische Hermeneutik von Augustins Schrift De doctrina christiana aus der chrisd. Deutungsintention, die letztlich auf das neutestamentliche Liebesgebot (Mt. 22, 37—40) ausgerichtet sein muß, und aus dem textlichen oder situativen Zusammenhang, in dem die Zahl steht. Demgegenüber kommt den mathematischen Operationen, mit welchen die Deutungen arbeiten, faktisch eine geringe Bedeutung zu. Sie sind in der Regel mathematisch sehr anspruchslos. Wenn in der Bildungsprogrammatik frühmal. und patrist. Schrifttums das Studium der ars arithmetica als nützlich für den Ausleger biblischer Zahlen hingestellt wird, so findet das kaum echte Bestätigung in der wirklich praktizierten Zahlenexegese. In der exegetischen Tradition steht dem freilich

eine Neigung der Quellen gegenüber, die mathematische Bedeutung der Zahlenallegorese im Glauben an ihre quasi mathematisch sichere Verbürgtheit hervorzuheben und damit auch eine Uberbewertung ihres mathematischoperationalen Charakters. Einen singulären Höhepunkt erreicht diese Tendenz im 12. Jh. in einigen Traktaten einer Gruppe viktorinisch-zisterziensischer Zahlenexegeten, welche bemüht sind, die Zahlenexegese von den in ihr angewandten mathematischen Operationen her als mathematisch-systematische Methode der Exegese darzustellen. Doch gab es entgegen solcher Tendenz mit Gregor d. Gr. auch und schon frühzeitig einen Mahner vor mathematisch-gelehrtem Bildungsdünkel im Zusammenhang mit der Auslegung biblischer Zahlen. Ernst H e l l g a r d t , Zum Problem symbolbestimmter u. formalästhet. Zahlenkomposition in mal. Lit. (1973; MTU. 45) S. 4 7 - 5 8 u. S. 1 4 6 174; Rez. dazu v. Albrecht Hagenlocher: PBB. 97 (1975) S. 158-164 und v. Hanne Lange: Rev. Romane 11 (1976) S. 201-208. - Heinz M e y e r , Die Zahlenallegorese im MA. Methode ». Gebrauch (1975; Münstersche MA.-Schriften 25). Ders. u. Rudolf Suntrup, Zum Lexikon d. Zahlenbedeuturtgen im MA. Einf. in d. Methode u. Probeartikel: Die Zahl 7. FMSt. 11 (1977) S. 1—73. Das Lexikon der Zahlenbedeutungen soll demnächst erscheinen. — Emst H e l l g a r d t , Victorinisch-zisterziensische Zahlenallegorese. Bemerkungen zu Theorie u. Praxis d. mal. Zahlendeutung. PBB. 98 (1976) S. 331-350. Einzelausgaben von Traktaten des viktorinischzisterniensischen zahlenallegorischen Korpus: Jean T a c e t t i , Le traité 'De sacramentis numerorum a temario usque ad duodenarium' de Guillaume d'Auberive: édition critique et commentaire, siehe: École nationale des Chartres, positions de thèses soutenues par les élèves de la promotion 1967 (1967) S. 151-153. René D e leflie .u. Thibaut de Langres, Traité sur le symbolisme des nombres. Un aspect de la mystique chrétienne au XII' siècle. Texte critique et traduction avec introduction et notes (Langres 1978; Études langroises d'art et d'histoire). — Eine Sammeledition mit Untersuchungen der viktorinisch-zisterziensischen Traktate durch Hanne Lange ist im Erscheinen begriffen; bisher liegen

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Zahlensymbolik

vor: Hanne Lange, Traités du XII' siècle sur la symbolique des nombres. Geoffroy d'Auxerre et Thibault de Langres. Éd. crit. (1978; Université de Copenhague. Cahiers de l'Institut du MoyenAge Grec et Latin 29). Dies., Les données mathématiques des traités du XII' siècle sur la symbolique des nombres (1979; Ebd. 32). Dies., Traités du XII' siècle sur la symbolique des nombres. Odon de Morimond (1116—1161), Analectica numerorum et rerum in theographyam I. Éd. crit. princeps (1981; Ebd. 40); Rez. zu den beiden ersten Heften von Ernst Hellgardt: Mlat. Jb. 18 (1983) S. 361-365. Eine spezielle Technik der Zahlenexegese ist die G e m a t r i e . Sie beruht darauf, daß die hebr. und griech. Schriftzeichen außer ihrer lautlichen Bedeutung auch einen Zahlwert haben. Zählt man den Zahlwert der Buchstaben eines Worts zusammen, so kann die errechnete Zahl symbolisch für das Wort stehen und etwa in Zusammenhang mit anderen Wörtern gleichen Zahlwerts gebracht werden. Auch umgekehrt kann von einer gegebenen Zahl auf das Wort zurückgeschlossen werden, für das sie steht. Gematrische Techniken begegnen in der lat. Exegese bei der Deutung hebr. und griech. nomina sacra. Aber auch in der während des M A . vielgelesenen heidnischspätantiken Enzyklopädie der Sieben Freien Künste (De nuptiis Philologiae et Mercurii) des Martianus Capeila werden griech. Namen gematrisch gedeutet. Die Übertragung des gematrischen Prinzips auf das lat. Alphabet ist dagegen selten. Verbreitung und Ausbildung spezieller gematrischer Techniken im M A . sind in manchen Einzelheiten noch nicht genügend erforscht. Paul L e j a y , Alphabets numériques latins, Rev. de Philol., de littérature et d'histoire anciennes, nouv. sér. 12 (1898) S. 146—162. Franz D o r n s e i f f , Das Alphabet in Mystik u. Magie. (2. Aufl. 1925; Stoicheia 7). A. H o r o d e z k y , Gematria. Encyclopaedia Judaica 7 (1931) Sp. 170-179. Vgl. insbes. die Abschnitte Numerazione Romana bei Adriano Cape Iii, Lexicon abbreviaturarum. Dizionario di abbreviature Latine ed Italiane usate nelle carte e codice specialmente del medio-evo (6. ed. 1976) S. LH— LVI u. S. 413-421 u. Bernhard B i s c h o f f , Paläographie d. röm. Altertums u. d. abendländ. MA.s (1979; Grundlagen d. Germanistik 24) S. 222 —224 (mit Lit.hinweisen). Andererseits wird im Zusammenhang mit dem Begriff Z . auch Bezug genommen auf die z a h l h a f t o n t o l o g i s c h e , in patristischen

und mal. Quellen vielfach als ästhetisch interpretierte B e s c h a f f e n h e i t d e r n a t ü r l i c h e n w i e d e r k ü n s t l i c h e n D i n g e und so auch des literar. W e r k s , insbesondere seiner äußeren Form. Im Hintergrund dieses Zahlenverständnisses steht die platonische, besonders von Augustin dem M A . vermittelte zahlhaft ästhetische Ontologie. Der Ternar 'Maß, Zahl, Gewicht' des Bibelwortes, nach welchem Gott alles mit Maß, Zahl, Gewicht geordnet habe (Sap. 11,21), ist dem patristisch-mal. or^o-Denken seit Augustin zur wieder und wieder zitierten trinitarischen Formel dieser Ontologie geworden. Mensura. Maß, Zahl, Z. im MA. 2 Bde hg. v. Albert Zimmermann (1983—84; Miscellanea mediaevalia 16,1.2). § 2. Das W o r t Z . ist neuerer Prägung. Mal. und patrist. Quellen sprechen einerseits im Zusammenhang mit dem allegor. Sinn der Zahlen von den mysteria numerorum oder von numeri sacrati. Damit ist die geheimnishafte Verborgenheit des allegor. Sinnes und seine Heiligkeit bezeichnet. Wenn im gleichen Zusammenhang von den significationes numerorum die Rede ist, so bezieht sich das auf die mögliche oder tatsächliche Bedeutungsfindung, die das Geheimnis erschließt und das Heilige sichtbar macht, indem sie die Zahl als allegor. Zeichen deutet. Die Deutung kann den wahren, d . h . den jeweils aktuell unterschiedlich gesetzten Sinn treffen oder verfehlen, sie kann wahr oder falsch sein. Von einer ästhetischen Qualität der Zahlen als allegor. Zeichen ist ursprünglich keine Rede. W o andererseits von der zahlhaften Beschaffenheit der Dinge im ontologisch-ästhetischen Sinne die Rede ist, spricht die augustinische Tradition von den vestigia numerorum, die als Abglanz der rein noetischen Zahlen allem Erschaffenen eingeprägt seien und ihm zugleich mit seinem Sein seine geschöpfliche Schönheit verleihen. Diese vestigia werden nicht verstanden als gesetzte Zeichen von potentiell unterschiedlicher Bedeutung, sondern als ontisch real, als vorgegeben und als einsinnig. Ihr Sinn ist offenkundig nach dem Grad ihrer Nähe zu den rein noetischen Zahlen; sie sind prinzipiell frei von allem Geheimnishaften. Sie verhüllen das Heilige nicht, sondern offenbaren es unmittelbar, wenn auch mehr oder weniger vollkommen. Sie sind nicht wahr oder falsch, sondern die Dinge, denen sie anhaften, sind in abgestuf-

Zahlensymbolik ter Weise seiend oder nichtseiend bzw. mehr oder weniger schön. Sie aktualisieren nicht je nach Sinnzusammenhang verschiedene Bedeutungen; ihr Sinn ist vielmehr stets der gleiche, nämlich auf den Ursprung aller Dinge im ewigen räum- und zeitlosen, rein immateriellen Sein der Zahlen zu verweisen, aus dem sie Gott erschaffen hat und der in Gott ruht. Es zeigt den intellektuellen Rang der Spekulation einer Quelle oder eines Autors an, wenn sie den Sinn der Zahlen als allegorischer Zeichen von der zahlhaften Beschaffenheit der Dinge im ontologisch-ästhetischen Verständnis sachlich und terminologisch unterscheiden. Frommer Kontemplation jedoch mag beides immer wieder zu ein- und demselben zusammenfließen, das dann als letztlich indifferent und homogen aufgefaßt wird, da sich beides auf die Zahlen und ihr Verständnis im Hinblick auf das göttliche Wort der Bibel einerseits und auf die Schöpfung Gottes, das „Buch der Natur", andererseits bezieht. Hermann Krings, Ordo. Philosophischhistorische Grundlegung einer abendländischen Idee (1941; Philosophie u. Geisteswissenschaften, Buchr. 9). — Johannes R a t h o f e r , Der Heliand. Theologischer Sinn als tektonische Form. Vorbereitung u. Grundlegung d. Interpretation (1962; Nddt. Studien 9) S. 2 9 5 - 3 0 0 ; Rez. dazu v. Gerhard Cordes: AnzfdA. 78 (1967) S. 5 5 - 7 9 . — Wolfgang H a u b r i c h s , Ordo als Form. Strukturstudien 2. Zahlenkomposition bei Otfrid von Weißenburg u. in karoling. Lit. (1969; Hermaea N F . 27) S. 2 3 - 3 2 ; Rez. dazu v. Heinz Klingenberg: AnzfdA. 83 (1972) S. 2 2 5 - 2 4 2 u. v. Ute Schwab: Studi Medievali, ser. terza 12 (1971) S. 2 7 7 - 3 0 0 . - Ernst H e l l g a r d t , Zum Problem . . . (1973) S. 1 1 7 - 2 5 1 . Ders., Grundsätzliches zum Problem symbolbestimmter u. formalästh. Zahlenkomposition, in: Studien zur frühmhd. Literatur. Cambridger Colloquium 1971 (1974; Univ. of London. Publ. of the Inst, of Germanic Studies 19) S. 11—27. Ders., Erkenntnistheoretisch-ontologische Probleme uneigentlicher Sprache in Rhetorik u. Allegorese, in: Formen und Funktionen d. Allegorie. Symposium Wolfenbüttel 1978 (1979; D V L G . , Schriftenr. 1) S. 2 5 - 3 7 .

§ 3. Vor dem Hintergrund der angedeuteten Möglichkeiten mal. Zahlenverständnisses wollen die vielfältigen Versuche der F o r s c h u n g verstanden werden, die in Dichtungen des MA. literar. Zahlenkompositionen verwirklicht sehen. Die Frage nach den Wegen der Tradition platonisch-patristischen Zahlendenkens ins MA. sowie die nach Dauer und

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Breitenwirkung der Tradition sind dabei besonders für das Spätma. im einzelnen noch weitgehend ungeklärt. Die Möglichkeit der Auswirkung mal. Zahlenverständnisses auf die literar. Form hat die Forschung am meisten beschäftigt. Daneben hat die stofflich-motivliche Einwirkung lat. gelehrten Zahlenwissens vor allem aus dem Bereich der geistlichen Zahlenallegorese auf die volkssprachliche Lit. der Laien ziemlich wenig Interesse gefunden. So ist.es denkbar, daß das Vorkommen allegorisch bedeutsamer Zahlen als absichtsvoller Hinweis auf einen bestimmten, verborgenen Sinn der Dichtung zu verstehen ist (Tschirch zu Hartmanns Gregorius). Daneben gibt es eine Einwirkung der Zahlenallegorese in der Form expliziter Hereinnahme geistlich gelehrten Wissens, wobei zu fragen wäre, ob es sich um bloße Weitergabe von Gelehrsamkeit oder um funktionale Einbindung in neue Zusammenhänge handelt. Schließlich gibt es Einwirkungen der Zahlenallegorese weit verbreitet in Gestalt stereotyper Verwendung bestimmter Zahlen, die in der christl. Zahlenallegorese eine besondere Rolle spielen und zu unterscheiden wären von stereotypen Zahlen, die auf heidnisch-germ. oder ethnisch-internationalen Ursprung etwa magischer oder astronomisch-kosmologischer Natur zurückweisen. Wilhelm K n o p f , Zur Geschichte d. typischen Zahlen in d. dt. Literatur d. MA.s (1902). Fritz T s c h i r c h , 17 — 34 — 153. Der heilsgeschichtl. Symbolgrund im 'Gregorius' Hartmanns von Aue, in: Formenwandel. Festschr. für Paul Bockmann (1964) S. 2 7 - 4 6 . Gudula T r e n d e l e n b u r g , Studien zum Gralraum im 'Jüngeren Titurel' (1972; GöppArbGerm. 78) S. 4 0 f . ; S. 9 0 f . ; S. 1 9 3 - 1 9 9 .

In der Forschung zur literar. Zahlenkomposition wird das literar. Werk aufgefaßt als vom Autor absichtsvoll komponiertes Ganzes aus zählbaren Teilen, die nach Prinzipien zahlhafter Symmetrie und Proportion oder eines zahlhaft signifikanten Gesamtumfangs zusammengefügt sind. Dabei kann die zahlhafte Disposition des Werks an sich als schön aufgefaßt, (formalästhet. Zahlenkomposition) oder ihr Sinn kann von bestimmter allegor. Bedeutung der Dispositionszahlen her begründet sein (symbolbestimmte Zahlenkomposition). Als zählbare Teile des literar. Werkes kommen solche mehr äußerlich-formaler und solche mehr inhaltsbezogener Art in Frage.

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Zahlensymbolik

Eine strenge Trennung von Form und Inhalt, von „außen" und „innen", ist dabei letztlich unmöglich. Zählbare Einheiten mehr äußerer Art können sein: die einzelnen Buchstaben, Silben, Worte, syntaktischen Einheiten eines Textes; metrische Einheiten: Strophen, Verse oder kleinere Elemente; paläographisch-optische Merkmale und solche der Hs.-ausstattung: durch Initialen unterschiedlichen Schriftgrads und -typs voneinander abgesetzte Abschnitte; mit Akrostichen gebildete Texteinheiten, die durch Schriftinitialen, eventuell (wie in Gottfrieds Tristan) im Zusammenwirken mit Reimkünsten hervorgehoben werden; durch zwischengeschaltete Bilder voneinander abgesetzte Schriftblöcke; Einheiten der Lagen-, Blatt-, Seiten-, Spalten- und Zeileneinteilung einer Hs. Mehr inhaltlicher Natur sind überlieferte, etwa durch Uberschriften und explizite Zählung hervorgehobene Kapitelund Bucheinteilungen oder entsprechende, von der Forschung ohne äußerlich eindeutigen Anhalt in der Überlieferung angesetzte, vom Inhaltsverständnis her begründete Einheiten, auch erschlossene oder beglaubigte Einheiten des mündlichen Vortrags, sei es ursprünglich mündlich oder schriftlich konzipierter Dichtung. Hinzu kommen offene oder latente Zahlen vom Text behandelter Dinge, wie z . B . in der dt. Kaiserchronik (Ohly, Urbanek) offen die Nennung der Anzahl von Regierungsjahren jedes behandelten Kaisers und latent die der Kaiser selbst, von denen die Chronik erzählt, ohne sie ausdrücklich zu zählen. Wolfgang Haubrichs, Ordo als Form (1969) S. 79—93. Ernst Friedrich O h l y , Sage u. Legende in d. 'Kaiserchronik'. Unters, über Quellen u. Außau d. Dichtung (2. Aufl. 1968) S. 17f. Ferdinand U r b a n e k , Herrscherzahl u. Regierungszeiten in d. 'Kaiserchronik''. Euph. 66 (1972) S. 219-237.

§ 4. Neben der Charakterisierung literar. Zahlenkomposition als „Ersatz für moderne Kompositionstechnik", welche der antik-mal. Rhetorik als Lehrstück fehle (E. R. Curtius), wurden verschiedene Gesichtspunkte angeführt, um die Wahrscheinlichkeit literar. Zahlenkomposition h i s t o r i s c h zu begründen. So wurde auf eine antike T r a d i t i o n dieser literar. Technik verwiesen (M. S. Batts, R. G. Peterson), die jedoch weitgehend Postulat bleibt, solange sich nicht explizite Zeugnisse

für sie nachweisen lassen. — Aus der b i b l i s c h exegetischen T r a d i t i o n wurde auf die Deutung des Psalters als auf verschiedenen Ebenen durchgebildeter literar. Zahlenkomposition hingewiesen, wie sie seit Cassiodors Psalmenkommentar bezeugt sei. Entsprechendes ließ sich auch für andere biblische Bücher und für die Bibel als ganze anführen (H. Meyer). Fraglich ist dennoch, wie weit man aus dem exeget. Interesse an den biblischen Gliederungszahlen bei patrist. und mal. Bibelauslegern auf ein poetologisches Konzept mal. Literarästhetik im Sinne literar. Zahlenkomposition schließen darf. — Immer wieder wurde auch auf die Analogie der Bildenden Künste des MA.s, besonders der A r c h i t e k t u r verwiesen. Auch hier läßt sich zunächst ein Bezug zur exeget. Tradition herstellen, nämlich über die patristisch-mal. Allegorese der in den biblischen Architekturschilderungen (Stiftshütte, Salomonischer Tempel, Tempelvision des Hesekiel, Himmlisches Jerusalem u.a.) vorkommenden offenen und latenten Zahlen und Zahlenverhältnisse (J. Sauer, H. Meyer). Dabei ergibt sich wieder und diesmal verwickelter die Frage: kann aus dem exeget. Interesse am allegor. Sinn der Zahlen biblU scher Architekturschilderung auf ein poetologisches Konzept „architektonisch"-allegorisch bestimmter literar. Zahlenkomposition geschlossen werden? Doch wenn auf das zahlhafte Leitbild realer mal. Architektur verwiesen wird, so meist ohne Rückgriff auf den allegor. Sinn der Zahlen und nur im Hinblick auf die ästhetisch-formale Funktion architektonischer Proportionszahlen als Vorbild formalästhet. literar. Zahlenkompositionen. Methodisch bedenklich und historisch irreführend ist es zumindest, wenn in diesem Zusammenhang auf „Bauhüttengeheimnisse" verwiesen wird, welche zu entschlüsseln seien (F. Tschirsch). Die architektonischen Bauhüttengeheimnisse des MA.s sind für die Forschung keine Geheimnisse, da genügend Quellen vorliegen, um sich von ihnen hinreichende Vorstellungen zu verschaffen. Entsprechende literar. Bauhüttengeheimnisse aber sind reines Postulat der Forschung ohne Anhalt in mal. Quellen, und es ist ein methodisch unerlaubter Zirkelschluß, wenn aus der Verborgenheit einer Zahlenkomposition, wie sie für ein einzelnes Sprachkunstwerk aufgedeckt wurde, auf literar. „Bauhüttengeheimnisse" als vorgegebenes Phänomen geschlossen wird, während dies

Zahlensymbolik Phänomen wiederum zum Beweis herhalten muß für die mögliche Existenz verborgener Zahlenkomposition des einzelnen Sprachkunstwerks. Die vielleicht größte Kraft für den Beweis der Existenz eines zahlenkompositorisch-poetologischen Konzepts mal. Literarästhetik scheint den zahlenallegorischen S e l b s t a u s l e g u n g e n ihrer eigenen Figurengedichte bei H r a b a n u s M a u r u s und bei H i n c m a r v o n R e i m s zuzukommen ( F . O h l y , J.Rathofer). Doch ist hier die Frage zu stellen, wie weit diese Selbstauslegungen tatsächlich auf die Entschlüsselung von ästhetisch bedingter Zahlenkomposition abzielen. Es wurde für Hraban nachgewiesen, daß gerade derartiges soweit es tatsächlich nachweisbar ist, zumindest teilweise in der Selbstauslegung unerwähnt bleibt (Taeger). Außerdem sieht es weitgehend danach aus, als ob die Selbstdeutungen Hrabans und Hincmars weniger eine rückbezogene Erhellung ihrer Figurengedichte im Sinne haben, die eine mit der Form dieser Gedichte von vornherein intendierte, bestimmte zahlenallegorisch-ästhetische Bedeutung erschließen will. Diese Selbstdeutungen scheinen vielmehr als Wiederholung, Variation und Weiterführung der in den Figurengedichten selbst begonnenen kontemplativen Bewegung zu verstehen zu sein. Derartiges kann u . a . mit den Mitteln der Zahlenallegorese geschehen, die auch an den Gliederungszahlen ansetzen mag, ebenso wie biblische Zahlenallegorese ihren Ausgang u. a. von den Gliederungszahlen der Bibel nehmen konnte. — Tatsächlich bezeugen schließlich mal. Autoren selbst als Motiv für zahlenkompositorische Gestaltung ihrer Werke den frommen Glauben oder Aberglauben des M A . s an die magisch-mediale Kraft der Zahlen. So steht bei O t f r i d v o n W e i ß e n b u r g die Fünfzahl der Bücher seiner Dichtung für die fünf Sinne des Menschen. Inhalt dieser Dichtung ist die Botschaft der vier Evangelien. Das Spannungsverhältnis zwischen vier und fünf hat der Autor eingerichtet, um damit anzudeuten, daß die inaequalitas der fünf menschlichen Sinne durch die evangelische Botschaft auf die aequalitas der vier Evangelien gebracht werde. Ganz massiv im Sinne einer frommen Magie spricht sich der P r i e s t e r W e r n h e r über den Sinn der Zahl seiner Drin liet von der maget aus. W o alle drei liet dieser Mariendichtung aufbewahrt werden, da wird die Gottesmutter sich des

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zeitlichen und ewigen Heils der Neugeborenen annehmen; und selbst wo sich nur ein liet findet, da wird sie wenigstens die Gebärenden vor dem Tod im Kindbett bewahren. Ersatz für Dispositionslehre: Ernst Robert Curtius, Zahlenkomposition, in: Curtius, Europäische Lit. u. lat. MA. (3. Aufl. 1961) S. 4 9 1 498. — Antike Tradition literar. Zahlenkomposition: Michael Stanley B a t t s , The Origins of Numerical Symbolism and Numerical Patterns in Medieval German Literature. Traditio 20 (1964) S. 462-471. R. G. Peterson, Critical Calculations: Measure and Symmetry in Literature. PMLA. 91 (1976) S. 367-375; vgl. dazu ebd. 92 (1977) S. 126-129 (Leserzuschriften zu Petersons Artikel u. dessen Erwiderung). Der Psalter als Zahlenkomposition: Heinz Meyer, Die allegor. Deutung d. Zahlenkomposition d. Psalters. FMSt 6 (1972) S. 211-231. Vgl. auch Heinz Meyer, Die Zahlenallegorese im MA. (1975) S. 97-101. - Architekturallegorese: Joseph Sauer, Symbolik d. Kirchengebäudes u. s. Ausstattung in der Auffassung d. MA.s. Mit Berücksichtigung v. Honorius Augustodunensis, Sicardus und Durandus (2. Aufl. 1924; Nachdr. 1964). Heinz Meyer, Die Zahlenallegorese im MA. (1975) S. 80-89. - Bauhüttengeheimnisse: Fritz T s c h i r c h , Literar. Bauhüttengeheimnisse. Vom symbolbestimmten Umfang mal. Dichtungen, in: Tschirch, Spiegelungen. Untersuchungen vom Grenzrain zwischen Germanistik u. Theologie (1966) S. 212-225. Vgl. Ernst Hellgardt, Zum Problem . . . (1973) S. 286-294. - Figurengedichte: F. O h l y , Hohelied-Studien. Grundzüge e. Gesch. d. Hoheliedauslegung d. Abendlandes bis um 1200 (1958; Schriften d. Wiss. Ges. an d. J . W . Goethe Univ. Frankfurta. M., Geisteswiss. R. 1) S. 87-91. Johannes Rathofer, Der Heliand (1962) S. 2 9 0 295 (vgl. Bildanhang). Burkhard Taeger, Z. bei Hraban, bei Hincmar — u. im 'Heliand'f Studien z. Z. im Frühma. (1970; MTU. 30); Rez. dazu v. Wolfgang Haubrichs: AnzfdA. 88 (1977) S. 71-81. Vgl. auch Ernst Hellgardt, Zum Problem . . . (1973) S. 298-302. HansGeorg Müller, Hrabanus Maurus — 'De laudibus sanctae [im Titel fälschlich: sancta] crucis' —. Studien z. Überlieferung u. Geistesgesch. (1973; Mittellat. Jb., Beih. 11). - Magie: Wolfgang Haubrichs, Ordo als Form (1969) S. 170f. Ernst Hellgardt, Zum Problem . . . (1973) S. 264. § 5. Erkenntnisinteressen, die für die Forschung mit dem Verständnis mal. Dichtungen als literar. Zahlenkompositionen verbunden sind, werden auf unterschiedlichen Ebenen geltend gemacht.

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Einmal geht es ganz allgemein darum, die Schönheit und Sinnfülle des literar. Kunstwerks als eines vom Menschen geschaffenen, zahlhaften Gebildes aus der Analogie zur zahlhaften Schönheit der von Gott erschaffenen Dinge zu verstehen und damit einen dem mal. Kunstwerk angemessenen Verständnishorizont zu erschließen. Unmittelbar in diesem Zusammenhang steht die auch in der Kunstgeschichtsforschung begegnende Betonung des handwerklichen Charakters mal. Kunstwerke. Den mal. Künstler, auch den literarischen, zeichnet dieses Verständnis im Gegensatz zu modernen Vorstellungen aus. Er ist nicht einmaliges, originell-kreatives Genie, das allein aus sich selbst heraus sein Werk schafft. Er ist vielmehr Nachahmer des Schöpfergottes, welcher selbst im anthropomorphen Bilde des werktätig schaffenden Handwerkers oder — speziell mathematisch als Geometer — im Bilde des mathematischen Konstrukteurs vorgestellt wird. Das Kunstwerk ist dann auch nicht kühner, nur aus seiner Eigengesetzlichkeit begreiflicher Wurf, sondern demütigfromme Nachbildung eines letztlich in der Schöpfung Gottes Vorgebildeten. Seine Hervorbringung ist gebunden an vorgegebene Regeln, aus denen es wiederum ableitbar und verständlich ist. Friedrich O h l y , Dens Geometra. Skizzen z. Gesch. e. Vorstellung von Gott, in: Tradition als histor. Kraft. Interdisziplinäre Forschungen z. Gesch. d. früheren MA.s, hg. v. Norbert Kamp u. Joachim Wollasch (1982) S. 1 - 4 2 . So sehr diese Gesichtspunkte Wesentliches für das Verständnis des mal. Künstlers und Kunstwerks hervortreten lassen, einerseits behalten sie auch ohne die Voraussetzung einer zahlenkompositorischen Produktionsästhetik ihre volle Gültigkeit, andererseits läßt sich aus ihnen zumindest nicht unmittelbar auf eine solch spezielle Ästhetik schließen. Daß sich der handwerkliche Charakter des mal. Kunstwerks, auch des literarischen, nicht allein mit Hilfe einer zahlenkompositor. Produktionsästhetik begründen läßt, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Die ontologisch-ästhetische Zahlhaftigkeit der Dinge aber ist nach platonisch-augustinischer Lehre ein so universaler Begriff, daß sie als solcher vom menschlichen Künstler in seinem Werk gar nicht verfehlt also auch nicht absichtsvoll gestaltet werden kann. Sein Werk wird zahlhaft sein,

insofern es überhaupt sein wird. In diesem universalen Sinne, so könnte man sagen, ist dem M A . jedes Kunstwerk auf natürliche Weise oder auch durch das Wirken Gottes, und jedenfalls ohne daß der menschliche Künstler irgendwelche speziellen Kunstregeln zu beachten hätte, eine Zahlenkomposition — wie auch jedes natürliche und jedes künstlich hergestellte Ding. Indem die Forschung aber glaubt, etwas über die besondere Schönheit und den besonderen Sinn des einzelnen Kunstwerks zu erfahren, wenn man es als Zahlenkomposition versteht, setzt sie eine in der zahlhaft ästhetischen Ontologie selbst noch nicht enthaltene und historisch zumindest nicht explizit bezeugte zahlenkompositor. Produktionsästhetik voraus, welche für die Dichtung etwa spezielle Regeln einer literar. Zahlenkomposition enthalten hätte. Welchen Sinn eine solche Produktionsästhetik im Verhältnis zur ästhetischen Ontologie der platonisch-augustinischen Tradition gehabt haben könnte, ist eine noch offene Frage. Auf anderer Ebene liegt es, wenn man sich aus der Aufdeckung literar. Zahlenkomposition objektive Kriterien für die Deutung des einzelnen Werks im besonderen verspricht. Die objektive Vorgegebenheit mathematisch präziser, zahlhafter Disponiertheit eines Textes soll dann dafür garantieren, daß sein Verständnis nicht durch die persönliche Subjektivität und historische Ferne des modernen Interpreten beeinträchtigt werde. Es bleibt aber in diesem Zusammenhang das Problem bestehen, auf welche Weise man zur Kenntnis der objektiv vorgegebenen, absichtsvoll zahlhaften Struktur eines Textes kommt. Demjenigen, der vom Inhalt eines Textes ausging, um die Teile zu ermitteln, aus denen er als Zahlenkomposition aufgebaut sei, wurde vorgehalten, daß man nicht wisse, was im M A . unter Einheit des Inhalts verstanden worden sei. Doch wenn umgekehrt zuerst die zahlhafte Disposition eines Textes herausgestellt werden soll, deren Teile dann nachträglich als historisch verbürgte Inhaltseinheiten zu interpretieren seien, so ist es gewiß ebenso fraglich, auf welcher historisch verbürgten Grundlage die objektiven Zählungen von Dispositionsteilen vorzunehmen seien, da es keine überlieferte zahlenkompositor. Produktionsästhetik gibt. Und es liegt der Verdacht nahe, daß hier in Wirklichkeit eine Verwechslung von mathematisch integrer Genauigkeit und historisch

Zahlensymbolik verbürgter Absichtlichkeit unterläuft. Mögen aber verborgene, absichtsvoll zahlhafte Formkriterien eines Textes tatsächlich einmal empirisch evident gemacht werden, so ist damit das Problem ihrer inhaltlich-gehaitlichen Bedeutung erst gestellt und seine Lösung in keiner Weise vorentschieden. Die Hoffnung, daß man mit Hilfe vorausgesetzter oder nachgewiesener Zahlenkompositionen der Notwendigkeit des hermeneutischen Zirkels historischen Verstehens entgehen könnte, ist unbegründet. O b und wie weit es literar. Zahlenkomposition im M A . tatsächlich gab, läßt sich, wenn überhaupt, nur durch empirische Beobachtungen an mal. Texten klären, welche selbst dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels unterliegen. Hans Eggers, Symmetrie u. Proportion epischen Erzählens. Studien z. Kunstform Hartmanns von Aue (1956) S. 5—10. Wolfgang Haubrichs, Ordo als Form (1969) S. 92f. § 6. Zu den elementaren methodischen Voraussetzungen solcher Untersuchungen gehört die überlieferungsgeschichtliche Materialgerechtigkeit der untersuchten Texte. Was an ihnen gezählt wird, insbesondere z . B . handschriftliche Initialabschnitte, muß als philologisch gesicherte Vorgegebenheit gelten können. Der umgekehrte Weg, Kritik der Überlieferung mit den Postulaten einer unterstellten Zahlenkomposition, erscheint zwar nicht prinzipiell als ausgeschlossen, aber doch beim gegenwärtigen Stand der Forschung zur Zahlenkomposition als vorerst nicht gangbar. Handschriftliche Initialabschnitte: Michael Stanley B a t t s , Poetic Form and Medieval German Scribal Practice. JEGPh. 62 (1963) S. 6 9 7 702. Hansjürgen Linke, Epische Strukturen in d. Dichtung Hartmanns von Aue. Unters, z. Formkritik, Werkstruktur u. Vortragsgliederung (1968). Gesa B o n a t h , Untersuchungen zur Überlieferung d. 'Parzival' Wolframs von Eschenbach I (1970; German. Studien 238) S. 77-107. Heinz Schanze, Zu Linkes Methode d. Formkritik in ihrer Anwendung auf d. epische Werk Hartmanns von Aue, in: Probleme mhd. Erzählformen. Marburger Kolloquium 1969 (1972) S. 10-39. Norbert H e i n z e , Zur Gliederungstechnik Hartmanns von Aue. Stilist. Untersuchungen als Beitr. z. e. strukturkrit. Methode (1973; GöppArbGerm. 98). Ernst Hellgardt, Zum Problem . . . (1973) S. 265-268 und Bibliographie. — Zahlenkomposition als Maßstab der Uberlieferungskritik: Michael Stanley B a t t s ,

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Form as a Criterion in Manuscript Criticism. MLR. 55 (1960) S. 543-552. Hans Eggers, Zahlenkomposition und Textkritik, in: Mélanges pour Jean Fourquet (München, Paris 1969) S. 75 - 84. Ferner gehört hierher die bildungsgeschichtliche Verbürgtheit mathematisch-rechtl i c h e r F e r t i g k e i t e n , die dem Autor einer literar. Zahlenkomposition unterstellt werden. Die alltäglichen rechnerischen Bedürfnisse und Fähigkeiten von Handel und Wandel erreichten bis ins hohe M A . in Deutschland nur einen bescheidenen Grad. Das mal. Bildungswesen der gelehrten Kreise andererseits gab der schon in spätantik-patrist. Zeit herabgesunkenen Tradition mathematischer Wissenschaften nur einen geringen Entfaltungsspielraum, und auch der ließ sich nur notdürftig mit den Erfordernissen einer geistlichen Gelehrsamkeit begründen. Dazu kommt, daß im Rahmen des Quadriviums, der mathematischen Fächer unter den Sieben Freien Künsten, d . h . vor allem im Rahmen der ars aritbmetica keine axiomatische Mathematik gelehrt, sondern spätantik-popularphilosophische Zahlentheorie und -Spekulation sowie mathematische Proportionenlehre weitergegeben wurde; so im wichtigsten mal. Lehrbuch dieses Fachs, in der Institutio aritbmetica des Boethius. Rechnerische Praktiken waren ursprünglich gar kein Lehrgegenstand der ars aritbmetica und wurden erst auf den Universitäten und Stadtschulen des Hoch- und Spätma. vermittelt. Das ganze M A . hindurch galt für die schriftliche Aufzeichnung von Zahlen die röm. Ziffernschrift, welche schriftliche Rechenoperationen kaum ermöglicht. Die Kenntnis der auf dem dekadischen Stellensystem beruhenden indisch-arabischen Ziffern, die um die Jahrtausendwende zunächst noch halbverstanden durch Gerbert von Reims und im 13. J h . durch ital. Kaufleute und Mathematiker (Liber abacus des Leonardo von Pisa, gen. Fibonaccio) ins Abendland gelangte, blieb Spezialistensache, die den mal. Literaten im Regelfall kaum zuzutrauen ist. Das sog. Fingerrechnen ist ein Zeichensystem aus Fingergebärden, welche — wie übrigens weitgehend auch die Zahlwörter aller europäischen Sprachen — auf dem dekadischen Stellensystem beruht. Als Rechentechnik läßt sich das „Fingerrechnen" nicht bezeichnen, wenn man davon absieht, daß es bei der Berechnung von Quersummen dienlich sein konnte. Ein echtes

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Hilfsmittel, das größere Rechenoperationen in den vier Grundrechnungsarten auf der Grundlage des dekadischen Stellensystems der Zahlen ermöglichte, war das ebenfalls durch Gerbert von Reims wiederentdeckte antike Rechenbrett, der sog. abacus. Freilich begegnet er bei Gerbert nur in einer depravierten Form, die zudem noch zweckentfremdet wird, indem Gerbert den Gebrauch des abacus mit demjenigen der indisch-arabischen, ebenfalls nur halb verstandenen Ziffern verbindet. Auch wenn das keine Schule machte, so ist es doch kein Wunder, daß noch im 12. J h . der Umgang mit dem abacus als eine höchst komplizierte Spezialistensache angesehen wurde. Weitere Verbreitung außerhalb speziell interessierter Klosterschulen gewann er erst in einer der antiken entsprechenden, verbesserten Form und ohne Verwendung der indisch-arabischen Ziffern seit dem 13. J h . Die histor. Formen des mal. abacus und ihre zeitliche Einordnung wurden in der Forschung zur Zahlenkomposition nicht immer korrekt beachtet. Moritz Cantor, Vorlesungen über Gesch. d. Mathematik. Bd. 1 (3. Aufl. 1907), Bd. 2 (2. Aufl. 1900; Nachdr. 1965). Karl Menninger, Zahlwort u. Ziffer. E. Kulturgesch. d. Zahl. 2 Bde (2. Aufl. 1958); engl. Ausg.: Number Words and Number Symbols. A Cultural History of Numbers (Cambridge, Mass. 1969). Adolf P. J u s c h k e w i t s c h , Geschichte d. Mathematik im MA. (1966). Ernst Hellgardt, ZumProblem . . . (1973) S. 5 - 1 1 5 . Besondere Beliebtheit in der Forschung genießt der sog. G o l d e n e S c h n i t t als Grundlage literar. Zahlenkomposition. Es gibt aber erst in der frühen Neuzeit literar., und zwar fachmathematische Quellen, die diesem Phänomen eine besondere, vor allem auch ästhetische Bedeutung beimessen und seine erst aus dem 19. J h . stammende, lobende Benennung vorbereiten. Und erst aus fachmathematischen Quellen des 12. und 13. Jh.s, nämlich aus den ersten lat. Übersetzungen der Elemente des Euclid, läßt sich nachweisen, daß im Abendland die Regeln bekannt waren, nach denen der Goldene Schnitt geometrisch zu konstruieren ist. Mit seiner arithmetischen Berechnung dagegen, wie sie für literar. Zahlenkomposition vorauszusetzen wäre, ist für das M A . im genauen Sinn praktisch überhaupt nicht zu rechnen, da sie die Fähigkeit voraussetzt, Wurzeln zu ziehen und mit irrationalen Brüchen

zu rechnen. Tatsächlich gibt es zwar eine rechnerisch sehr einfache Möglichkeit, Zahlen in ganzzahlige Näherungswerte zur Proportion des Goldenen Schnitts zu teilen, die sogar — allerdings bloß ganz beiläufig — in der Arithmetik des Boethius als ,zehnte Proportion' und als Rechenexempel im Liber abacus des Leonardo von Pisa vorkommt. Doch historisch ist bisher erst 1611 bei Kepler ein Zeugnis dafür nachgewiesen, daß das keineswegs von sich aus evidente Verhältnis dieser ganzzahligen Proportionen als Näherungswert zum Goldenen Schnitt bekannt war. Nach alledem gibt es kein zutreffendes histor. Argument, mit dem sich der Goldene Schnitt oder die ihm entsprechende ganzzahlige Proportion als Kompositionsgesetz literar. Zahlenkomposition im M A . in Anspruch nehmen läßt. Adolph Zeising, Das Pentagramm. Kulturhistor. Studie. Dt. Vierteljahrssch. 31 (1868) S. 173-226. Ders., Der Goldene Schnitt (1884). Franz Xaver Pfeifer, Der Goldene Schnitt u. dessen Erscheinungsformen in Mathematik, Natur u. Kunst (1885; Nachdr. 1969). Ernst Hellgardt, Zum Problem . . . (1973) S. 94-112. Margarete Sedlmeyer, Heinrichs von Freiberg Tristanfortsetzung im Vergleich zu anderen Tristandichtungen (1976; EuroHS. I, 159) S. 215-235 (gegen Hellgardt). § 7. Als Kriterium für die Glaubwürdigkeit von der Forschung aufgedeckter literar. Zahlenkompositionen muß ihre R e z i p i e r b a r k e i t beim mal. Publikum gelten. Es gibt keinen einleuchtenden Grund, anzunehmen, mal. Dichter hätten sorgsam konstruierte Zahlenkompositionen dem Verständnis des Publikums möglichst verbergen wollen und sie daher möglichst kompliziert gestaltet. Insbesondere das in diesem Zusammenhang vorgebrachte und historisch nicht belegte Argument, der mal. Künstler gestalte so allein im Hinblick auf den allwissenden Gott als Rezipienten, klingt eher nach einem methodischen Postulat, das komplizierte Konstruktionen moderner Forschung rechtfertigen soll, und legt den Verdacht auf einen zugrunde liegenden, unerlaubten Zirkelschluß nahe: von der Kompliziertheit einer Konstruktion auf Gott als Rezipienten und von diesem zurück auf die Kompliziertheit der Konstruktion. N u r bei durchsichtigen und rechnerisch einfachen Zahlenkompositionen kann mit dem Verständnis des mal. Lesers gerechnet werden.

Zahlensymbolik Dem Hörer des mündlichen Vortrags mal. Dichtung freilich mußten auch einfache Zahlenkompositionen in den meisten Fällen verborgen bleiben, deren Medium nun einmal gewöhnlich die Schriftlichkeit ist. Eine Ausnahme bilden hier vielleicht mnemotechnischzahlhafte Kompositionspraktiken mündlich konzipierter und vorgetragener Epik, die aber noch nicht genügend erforscht sind (Robson). W o sich aber leicht und einleuchtend etwa eine runde oder allegorisch signifikante Zahl am Umfang von Dichtungen oder Dichtungsteilen nachzählen und in ein evidentes Verhältnis zu entsprechenden Teilen der Dichtung setzen läßt — und es gibt solche Fälle durchaus —, da darf mit absichtsvoller Zahlenkomposition gerechnet werden, die auch auf das Verständnis mal. Leser rechnete und ihm erreichbar war. Freilich ist es vorerst unmöglich, genau und positiv zu sagen, wo die Grenze von solch einfacher Zahlenkomposition zu komplizierten Formen überschritten wird, die als für den mal. Leser nicht mehr rezipierbar und als willkürliche Konstruktion moderner Forschung anzusehen sind. Es bleibt abzuwarten, wie weit einmal in strittigen Fällen statistische U n tersuchungsverfahren den Ausschluß der Zufälligkeit von Zahlenkompositionen, welche die Forschung herausgefunden zu haben glaubt, ermöglichen werden. Dringendes Desiderat der Forschung wären im selben Zusammenhang Untersuchungen mit dem umgekehrten Ziel, den methodisch sicheren Nachweis zu ermöglichen, daß ein Text nicht als Zahlenkomposition auffaßbar ist. Schließlich wird auch die Frage, welchen Gewinn die Aufdeckung literar. Zahlenkompositionen für das Verständnis der betreffenden Texte generell und im Einzelfall bedeutet, neu zu stellen und ohne falsches Engagement, wie es in der Forschung nicht selten begegnet, zu beantworten sein. Zur Bibliographie: Die wichtigsten Werke wurden bereits genannt. Umfangreiche bibliograph. Angaben finden sich darüber hinaus bei Ernst Hellgardt, Zum Problem. . . (1973) S. 303-351 und bei Heinz Meyer, Die Zahlenallegorese (1975) S. 206-211. Die Arbeiten zur literar. Zahlenkomposition sind bibliographisch nicht leicht vollständig zu ermitteln, da in einschlägigen Titeln das Stichwort „Zahl" häufig nicht vorkommt. Ständig heranzuziehen ist unter dem Stichwort nombres, auch unter einzelnen Zahlwörtern, die jährliche Bibliographie in den Cahiers de Civilisation médiévale X'—XII' siècles. Im folgenden werden Schriften, die Forschungsberichte

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oder Spezialbibliographien enthalten, und Nachträge zur Bibliographie bei Ernst Hellgardt, Zum Problem . . . (1973) verzeichnet, vorzugsweise soweit sie die dt. Lit. des MA.s betreffen. Forschungsberichte und Bibliographien: Arthur Thomas Hatto u. RonaldJ. T a y l o r , Recent Work on the Arithmetical Principle in Medieval Poetry. MLR. 46 (1951) S. 396-403. Heinz Rupp, Neue Forschung zu Form u. Bau mal. Dichtung. Dtschunt. (Stuttg.) 11 (1959) S. 1 1 7 124. Wolfgang K ö s t e r , Die Z. im 'St. Trudperter Hohen Lied' u. in theologischen Denkmälern der Zeit. (Masch.) Diss. Kiel 1963, S. 14-37. Maria Therese Sünger, Studien zur Struktur der 'Wiener' u. 'Millstätter Genesis' (1964; Kärntner Museumsschriften 36) S. 6 2 - 7 8 . Horst Schümann, Die Zahlenkomposition in d. dt. Dichtung d. MA.s. Lit. in Wiss. u. Unterricht 1 (1968) S. 288-304. Michael Stanley B a t t s , Numerical Structure in Medieval Literature, With a Bibliography, in: Formal Aspects of Medieval German Poetry. A. Symposium. Ed. with an Intr. by Stanley N. Werbow (Austin/Texas, London 1969) S. 93-119. Nachträge: Marie Luise D i t t r i c h , De Heinrico. ZfdA. 84 (1952/53) S. 99-152, hier S. 116f„ 133, 138, 143. Walther Kranz, Pythagoras in den 'Carmina Cantabrigiensia'. Rhein. Museum für Philol. NF 102 (1959) S. 292-302. Wolfgang M o r g e n r o t h , Zahlenmagie in Runeninschriften. Krit. Bemerkungen zu einigen Interpretationsmethoden. Wiss. Zs. d. Ernst-Moritz-ArndtUniv. Greifswald 10, Ges.- u. sprachwiss. R. 3 (1961) S. 279-283. Karl-Ernst Geith (Rez.), zu Bernard Standring (Hg.), Die Gedichte d. 'Wilden Mannes' (1963; AdtTexbibl. 59), in: AnzfdA. 77 (1966) S. 101-106, hier S. 104 f. R. William Leckie Jr., Bestia defunde. Natural Science and the 'Jüngerer Titurel'. ZdfA. 96 (1967) S. 263-277, hier S. 274f. Leon J. Gilbert, Symmetrical Composition in Hartmann's 'froun Lüneten rät'. MLN. 83 (1968) S. 430-434. Emil Ernst Ploss, Zu den Quellen d. Seifrid von Ardemont. ZfdA. 98 (1969) S. 144-158, hier S. 146f. Louis Gravigny, La composition du 'Tristan' de Gottfried de Strassbourg et les initiales dans les principaux manuscrits et fragments. fitGerm. 26 (1971) S. 1 - 1 7 . Johannes Alphonsus Huisman, Gewollte oder gewachsene Struktur in d. mhd. Dichtung. ZfdPh. 90 (1971), Sonderh.: Neue Arbeiten zum mal. Lied, S. 6 5 - 8 0 . Kurt N y h o l m , Studien zum sog. geblümten Stil (Äbo 1971; Acta Academiae Aboensis, Ser. A. 39,4) S. 4 6 - 6 7 . Karl-Heinz Schirmer, Nochmals zur Kadenzwertung in der Lyrik Walthers von der Vogelweide. ZfdPh. 90 (1971), Sonderh., S. 18—46. Eleanor Webster Bulatkin, Structural Arithmetic Metaphor in the Oxford 'Roland' (Columbus, Ohio 1972); dazu A. Kent H i e a t t , Arithmetic Metaphor in the 'Roland'.

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Zahlensymbolik

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Ernst Hellgardt Zaubersprüche und Segen § 1. Einer klaren Definition und Abgrenzung von „Zauberspruch" und „Segen" steht entgegen, daß weder in der Praxis terminologisch sauber geschieden wird noch daß sachlich eine eindeutige Trennung vorgenommen werden kann. Während mit Segen seit dem MA. Heilungs- und Bewahrungssprüche verschiedenster Art bezeichnet werden (vgl. u.), ist Z a u b e r s p r u c h eine vergleichsweise junge Prägung, gebucht erstmals von C. Stieler, Der Teutschen Sprache Stammbaum (1691), Sp. 2104. Literarisch begegnet der Ausdruck zuerst 1752 bei J. J. B o d m e r und ist auch späterhin — außerhalb der eher fachsprachlichen Verwendung bei Germanisten und Volkskundlern — nicht häufig bezeugt, vgl. DWb. 15, 366f. Seit dem 8. Jh. ist hingegen ahd. zoubar (Graff, Ahd. Sprachschatz 5, 580f.), mhd. zouber belegt. Das Wort bezeichnet seit ahd. Zeit sowohl die Zaubermittel als auch die Zauberhandlungen einschließlich ihrer sprachlichen Seite und von daher auch den „Zauberspruch" im engeren Sinne, vgl. H. Wesche, Der ahd. "Wortschatz im Gebiete des Zaubers und der Weissagung (1940), S. 5—17; Lexer, Mhd. Wb. 3, 1154f.; DWb. 15, 323-326. Die

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frühen Belege stehen unter dem Vorzeichen der kirchlichen Verurteilung „heidnischen Zaubers" (so schon der älteste Beleg im Abrogans: maleficium zaupor Steinmeyer-Sievers, Ahd.Gll. 1, 138, 36). Die bewußte Zurückdrängung bzw. Unterdrückung des ererbten einschlägigen Wortschatzes ist zweifellos eine Ursache dafür, daß in mhd. Zeit segen „Segen" geläufige Bezeichnung auch des außerkirchlichen magischen Spruches ist. Anderes kommt hinzu. Segen, ahd. segan (Graff, Ahd. Sprachschatz 6, 146) ist frühe Rückbildung von segnen, ahd. seganon „das Zeichen des Kreuzes machen, sich bekreuzigen", das seinerseits Lehnwort aus gleichbedeutendem lat. signare ist. Das seit frühchristl. Zeit (LThK. 6 [1961] 630f.) bekannte Schlagen des Kreuzes ist schadenabwehrend und hat Heils Wirkung; insoweit hierbei gesprochen wird, sind diese Worte (Schutzund Heilswünsche) im Ausdruck Segen inbegriffen. Die weitere Entwicklung läßt eine Bedeutung von „Segen" entstehen, bei der der Text bestimmend hervortritt: mhd. segen kann generell Gebet um Heil und Schutz vor vielerlei Gefahren sein. Hieraus resultiert als ein wichtiges Kriterium des „Segens", daß er in aller Regel v o r b e u g e n d e , schadenabwehrende, seltener im engeren Sinne helfende (heilende) Zielsetzung hat und normalerweise nicht für Schadenzauber gebraucht wird. Zur Geschichte des Wortes vgl. im übrigen DWb. 10, 1, 100-109. Das Eindringen magischer Vorstellungen in den christl. Segen einerseits und andererseits die frühzeitige Verwendung christl. Formeln und Symbole, insbesondere des Signum crucis im magischen Spruch bauen sachlich wie terminologisch die Brücke zum Zauberspruch. Für die aus altdt. Zeit überlieferten Z. ist überhaupt keine spezifische Bezeichnung belegt; sofern sie in den Hss. eine Uberschrift haben, ist es eine Zweckangabe des Typs Pro nessia / Contra vermes usw. Die späteren Sprüche führen diese Art von Uberschrift fort, doch tritt hier dann häufig die Bezeichnung Spruch oder Segen auf: Ein guot Spruch / segen für. . . Die gelehrte Unterscheidung in „Zauberspruch" und „Segen", die im Blick auf eine erstrebenswerte wiss. Systematisierung ihre Berechtigung haben mag, findet also in Uberlieferung und Selbstbezeichnung der solchermaßen begrifflich auseinandergehaltenen Texte keine hinreichende Stütze.

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Zaubersprüche und Segen

§ 2. M a g i s c h e s Tun ist auf keine Zeit und keinen Kulturkreis beschränkt. Es ist eine zeitlos-urtümliche Erscheinung menschlichen Verhaltens, die in der Welt unserer Tage, und zwar im modernen Europa wie im afrikan. Busch, so gut anzutreffen ist, wie sie in der Steinzeit vorhanden war. Gewiß mit Unterschieden, im Blick auf die Form etwa, in der Magie zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern praktiziert wurde bzw. noch immer wird; oder im Blick auf die Stellung, auf den Rang, den sie im Leben der Menschen einnimmt, ob sie z.B. „offiziell" (von einem Priester, einem Medizinmann) geübt wird oder ob sie nur ein unterströmiges Dasein im Bereich des Aberglaubens führt. Es ist z . B . keine Frage, daß urgeschichtlicher Jagd- und Namenszauber, wie er von Höhlen- und Felszeichnungen reflektiert wird und der zweifellos auch eine sprachliche (textliche) Seite hatte, für die mit ihm befaßten Menschen, die solchermaßen versuchten, Gewalt über ein zu erlegendes gefährliches Tier oder auch einen menschlichen Gegner zu erlangen, von ganz anderer Bedeutung war als etwa sog. „ L i e b e s z a u b e r " , wie er heutzutage noch in ländlichen Gegenden - wohl eher scherzhaft empfohlen denn ernsthaft praktiziert — bezeugt ist und bei dem oft der N a m e des „ a n d e r e n " unter Wünschen (oder — je nachdem — Verwünschungen) auf einen Zettel geschrieben und über den Rücken geworfen oder buchstäblich im Munde zerkaut wird. Der Grundgedanke - über das Abbild oder auch über Manipulation mit dem N a m e n dessen Träger zu treffen — jedoch ist gleich. Nicht anders ist es mit Zaubersprüchen zu Heilzwecken. Zeiten, in denen sie dem Menschen eine wichtige Waffe im Kampf gegen alle möglichen Krankheiten bei Mensch und Vieh waren, steht ihre heutige Verwendung durch Gesundbeter, Warzenbüßer und andere im Abseits wirkende Heilkundige gegenüber. Für das eigentliche Wesen solcher Sprüche spielt das alles keine Rolle.

M a g i s c h e s D e n k e n wurzelt einerseits in der Erfahrung des Menschen, daß er in seiner Umwelt den Einwirkungen mannigfacher Kräfte ausgesetzt ist, und zum anderen in der Überzeugung, daß es möglich sein müsse, diese Kräfte zu steuern, sie dem menschlichen Willen zu unterwerfen. Insofern hat H. de Boor völlig recht zu sagen, Magie sei „Wissenschaft bzw. als angewandte Wissenschaft Technik" (Lit.gesch., Bd. 1, S. 89). Es ist eine Wissenschaft freilich, die dem urtümlichen Weltbild entspricht, auf dem sie aufbaut. Solange der Mensch seine Welt von Geistern und

Dämonen belebt glaubt, auf deren Wirken er insbesondere zurückführt, was ihn in Haus und Hof an Schäden trifft, gehört zur Bezwingung der Welt eben die Auseinandersetzung mit diesen Wesen. Solange er beispielsweise vermeint, Krankheiten würden von einem „Wurm" verursacht, und er weiterhin überzeugt ist, dieser Wurm sei prinzipiell „ansprechbar", ist für ihn die Bekämpfung der Krankheit eben die Unschädlichmachung des Wurmes. Entscheidend und im wahrsten Sinne des Wortes „menschlich" ist letztlich nur, daß man solche Auseinandersetzungen überhaupt als möglich ansieht und nicht der resignierenden (und damit eigentlich „un-menschlichen") Meinung ist, diese außermenschlichen Kräfte und Wesen seien dem menschlichen Zugriff entzogen. Man kann durchaus an sie heran. Sie werden als Mächte verstanden, die in ihrer Wirksamkeit an bestimmte Normen gebunden sind. Wer Einsicht in die Normen hat, bekommt das Dämonische in den Griff, kann es zwanghaft beeinflussen, kann es abwehren oder sich auch dienstbar machen. Mittel hierzu ist der Zauber. Wenngleich den Philologen in erster Linie nur der beim Zauber gesprochene Text, d.h. der „Spruch" als sprachlich-textliches Phänomen interessiert und in einem lit.hist. Handbuch auch nichts anderes zu beschreiben ist, so muß doch klargestellt sein, daß wir damit nur eine Seite des Zaubers behandeln. Denn zum gesprochenen Wort kommen noch H a n d l u n g und G e b ä r d e . Die Realisierung eines Spruches erfolgt nur im Zusammenspiel von Wort, Handlung und Gebärde. Alle drei sind unverzichtbare Elemente des jeweiligen Zaubers, sie bedingen und begleiten sich gegenseitig, eins gehört zum anderen. Und wie es hier auf das „richtige", d. h. richtig geformte und richtig gesprochene Wort ankommt, wenn der Zauber Erfolg haben soll, so ebenso auf das „richtige Wort im richtigen Moment", d.h. auf die genaue Ubereinstimmung von Wort und Handlung, und so ebenso auf die richtige Geste, das richtige Zeichen während des Sprechens. Sehr wesentlich für den magischen Spruch ist die ebenfalls urtümliche, bis in unsere Tage nachwirkende Uberzeugung von der untrennbaren Verbindung, ja der Identität des N a m e n s und seines Trägers. Eine unübersehbare Fülle von Bräuchen, ja Rechtsvorschriften, von gesellschaftlichen N o r men und individuellen Verhaltensweisen, auch

Zaubersprüche und Segen sprachlichen Wendungen („mein guter N a m e " ; „wir werden seinen Namen stets in Ehren halten") gründet in dieser Uberzeugung, und auch die Empfindlichkeit noch des modernen Menschen, wenn er mit seinem Namen gehänselt, wenn dieser „verdreht" wird, hat hier ihre letzte Ursache, auch wenn sich darüber heute kaum jemand noch Rechenschaft gibt. Noch in der Sprache unserer Tage ist die Frage „wie heißt du?" gleichbedeutend mit „wer bist du?", und die Frage „wer bist d u ? " wird mit der Nennung des Namens beantwortet. Wer seinen Namen preisgibt, offenbart seine Identität - und liefert sich damit nach alter Vorstellung dem Zugriff eines möglichen Gegners aus; ihn darum zu verbergen, ist wirksamer Schutz vor schädigender Nachstellung. Bezogen auf das Verhältnis des Menschen zu Teufel, Geistern und Dämonen heißt das: Man gewinnt Macht über sie, wenn man sie „beim Namen" zu nennen vermag, wie umgekehrt „namenloses Unglück" im wahrsten Sinne des Wortes nicht ansprechbar ist und mithin nicht beeinflußt werden kann. Der Beschwörende hilft sich, indem er die unbekannte Macht, den vermuteten Dämon Wicht = „ E t w a s " nennt und so auch anspricht: Uuola, uuiht, taz tu uueist, taz tu uuiht heizist. . . (Hs. 10. Jh.) „Wie gut, Wicht, daß du weißt, daß du 'Wicht' heißt," das meint: du weißt, daß ich dich mit deinem richtigen Namen rufe (und daß du mir deshalb nicht ausweichen kannst). Die Gleichsetzung von Namen und Wesen - der Wurm heißt 'Wurm', weil er ein Wurm ist - erlaubt, was über mehr als 1000 Jahre dt. 2 . hinweg verfolgbar ist: die Anreden des Typs: „Gang üz, Nesso . . .!", „Steh still, Blut!" u. dgl.

§ 3. Nach gängiger Auffassung besteht ein grundlegender U n t e r s c h i e d zwischen Zaub e r s p r u c h und G e b e t , mithin zwischen Magie und Religion darin, daß der Zauberspruch zwanghaft beeinflussen will, während mittels des Gebets Hilfe von Gott erfleht wird (vgl. auch H. de Boor in der 1. Aufl. des Reallexikons, Bd. 1, S. 512f.). Das ist theoretisch richtig, doch verraten gerade viele dt. sprachige mal. Gebetstexte in Aufbau und Formulierung magisches Denken des Betenden. Dabei handelt es sich nicht darum, daß die magische Handlung von christl. Gebeten (wie besonders der Oratio dominica) oder Gebetsformeln begleitet wird oder daß solche Formeln gar in den magischen Spruch selbst eingebaut, damit ihrer eigentlichen Funktion entkleidet und gewissermaßen zweckentfremdet und für andere Ziele verwendet werden. Es geht vielmehr um eine bestimmte Art von Gebetshaltung. Neben Gebeten des Typs „Ich bitte dich, sancta Maria, . . ., daß du mir

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hilfst . . . " stehen nämlich solche, in denen der Beter den Adressaten „mahnt": Ich man dich, Maria, diner smerzen, daz du mir . . . helfest . . .". Hier ist das Gebet nun nicht länger demütige „Bitte", sondern eben „Mahnung", eine gezielte, zwanghafte Reaktion zugunsten des Beters auslösende Erinnerung an ein bestimmtes Geschehnis. Seit es dt.sprachige Gebetssammlungen und Gebetbücher gibt (12. Jh.), begegnen solche „Mahnungen" allenthalben, und zwar vermischt mit den Gebeten des anderen Typs. Das Ereignis oder allgemein der Umstand, an den der Betende gemahnt, ist also das Vehikel, mittels dessen Gott oder der angerufene Heilige veranlaßt wird, nach den Wünschen des Betenden helfend in Aktion zu treten. Setzt man ein Interesse des Gläubigen voraus, die „richtigen" Umstände in Erfahrung zu bringen und hält man ihn weiterhin davon überzeugt, daß deren eindringlich „mahnende", d.h. beschwörende Nennung die Erfüllung des eigenen Anliegens nach sich zieht, so wird eine> gleiche magische Grundhaltung deutlich, wie sie für Beschwörungen, Z. u.ä. charakteristisch ist, in denen sich die eigentliche magische Formel auf eine Vorbildhandlung stützt. Der betende Mensch versucht, die ihm bewußte und auch von ihm akzeptierte Abhängigkeit von Gott und den himmlischen Helfern, auf deren Geneigtheit er in seinen irdischen Nöten angewiesen ist, in ihrem Risiko dadurch kalkulierbarer zu machen, daß er „Fakten" ins Spiel bringt, die Gott oder dem jeweils angerufenen Heiligen kaum eine andere Wahl lassen, als zu helfen. Die Grenzen zwischen Magie und (christlicher) Religion (Gebet) sind damit nicht aufgehoben, aber doch insoweit verwischt, als in der Praxis die Welt des Gebetes von magischen Vorstellungen beeinflußt wird. Die in Gebeten oft begegnende Formulierung „ich bitte und beschwöre dich" ist hierfür bezeichnender Ausdruck. Vielfältige Vermischung „echt" religiöser Vorstellungen mit magischem Denken ist nicht auf den Bereich des mal. Gebets beschränkt, sondern in der Volksfrömmigkeit bis heute zu beobachten. Die „fließenden Grenzen" werden besonders spürbar bei den verschiedenen Arten von Segen, von denen vor allem die sogenannten Ausfahrts- und Reisesegen, die ihnen nahestehenden Morgensegen sowie Waffensegen u. ä. literarisch in Erscheinung treten.

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Zaubersprüche und Segen

Der im Alten Testament häufig vorkommende Segen (LThK. 9 [1964] 590f.) hat bis in die Neuzeit hinein zumindest die volksläufigen Vorstellungen vom Wert des Segens, besonders des väterlichen Segens bestimmt. Der „Segen" ist mehr als ein Wunsch voll frommer UnVerbindlichkeit. Er ist von materieller Substanz. Er setzt wie andererseits der „Fluch" Kräfte frei, die dem Gesegneten zum Heil, dem Verfluchten zum Schaden gereichen. Der Segen ist nicht beliebig wiederholbar und kann, einmal gesprochen, auch nicht widerrufen, d.h. in seiner Wirkung aufgehoben werden (vgl. Gen. 27, bes. V. 33-40). Hier sind Berührungspunkte mit dem magischen Spruch und seiner Zwanghaftigkeit. Wir beschränken uns auf die Morgen- und Reisesegen, mit denen man einen anderen oder sich selbst vor den täglichen Gefahren „auf allen Wegen" (und so auch auf Reisen) zu schützen sucht. Sie sind ihrer Intention nach Gebet, und zwar grundsätzlich. Die magischen Elemente, die für die volksfromme Gebetshaltung überhaupt charakteristisch sind und von denen auch diese Segen durchzogen werden, machen sie darum nicht weniger „christlich". Als Ausdruck privater Frömmigkeit sind sie weit weniger steril als die kirchlich approbierten Formeln. Der Wunsch um Heil und um Gottes oder der Götter Schutz für die Zeit der Trennung, des Fernseins, der Reise, hat uralte Tradition. Er bewahrt sich in unserer Zeit verknappt, doch durchaus mit religiösem Gehalt als „Gott schütze dich", „Gott befohlen" u.ä., religiös entleert in Abschiedsgrüßen wie Ade! Tschüs! Pfüet di! bis hin zu den völlig säkularisierten Wünschen Leb wohl! (= bene vale) oder auch Mach's gut! Hier soll nur der textlich ausgestaltete „Segen" interessieren. Seit wann solche „Segen" in dt. Sprache gebräuchlich sind, ist nicht zu sagen; der älteste von ihnen, der „Weingartner Reisesegen" stammt aus dem 12. Jh. Aus der gleichen Zeit ist auch das Gebetbuch von Muri, in dem sich eine größere Anzahl überwiegend dt. Gebete, Segen u.a. aufgezeichnet findet, die z.T. in anderen mal. Sammlungen wiederkehren. Die Kette reicht von da ab bis zum Romanusbüchlein des 20. Jh.s. Für die Morgen- und Reisesegen ist der Rückgriff auf „Vorbilder" charakteristisch. Die Person, der Gottes Segen angewünscht wird, soll per analogiam eines ganz bestimmten

Segens, der als besonders wirkungsvoll geglaubt wird, teilhaftig werden. Die Vorbilder werden zum größten Teil in der Bibel gefunden. Dabei begegnen vor allem 3 Typen von Formulierungen: Der den Segen Sprechende befiehlt sich oder einen anderen z.B. in die seluin gnade, so der gude Tobias sinin sun bival, als er ihn nach Medien sandte (Kölner Morgensegen, F. Wilhelm, Denkm., Nr. XXXI, S. 93), oder er befiehlt sich in den segen, da mit inser frawe . . . gesegent was do si enphiench vnd gepar (ebda, Komm., S. 181), oder er bittet: Gesegen mich herre mit dem segen, den die heiligen engel prachten ze deiner gepurt (ebda, S. 182, vgl. MSD. I, 191). Derartige Analogien, die den kirchlich approbierten Benediktionen fremd sind (vgl. A. Franz, Benediktionen, Bd. 2, S. 269), werden in mehr oder weniger variierender Formulierung zu kürzeren oder umfangreicheren Reihen zusammengestellt, wobei einzelne Formeln oder auch Gruppen von solchen nach Belieben kombiniert werden können. Ist die einzelne Segensformel hilfreich, so wird die Bündelung die Wirkung potenzieren — das ist der Grund für die Aneinanderreihung und insoweit typisch für volksfrommes Denken. § 4. Nach ihrem Zweck läßt sich die Masse der uns überkommenen oder auch noch immer im Umlauf befindlichen Sprüche drei großen Gruppen zuweisen. In die erste fallen Sprüche zur Wiedergutmachung eines bereits eingetretenen Schadens; in die zweite gehören Sprüche zum Schutz vor einem möglichen Schaden und in die dritte schließlich solche, die Schaden stiften sollen. Um mit der letzten Gruppe zu beginnen, so gibt es hier nur eine vergleichsweise geringe Zahl von überlieferten Texten. Das hat seine Ursache darin, daß schadenstiftende Rezepte wegen ihrer moralischen Verwerflichkeit besonders geheim behandelt und entsprechend vorsichtig weitergegeben werden. Es ist mit Sprüchen der „Schwarzen Magie" ähnlich wie mit Rezepten für verderbliche Giftmischerei. Noch heute traut in manchen ländlichen Gegenden die Bevölkerung bestimmten Personen zu, mit Zauberei Menschen und Vieh zu schädigen. (Angebliche) Schadensprüche wurden in früheren Zeiten auf der Folter erpreßt. Sogenannte „Diebssegen", mit denen der Bestohlene versucht, des Diebes (und damit seines Eigentums) habhaft zu werden,

Zaubersprüche und Segen enthalten Elemente des Schadenzaubers, insofern der Geschädigte — und hierbei moralisch gerechtfertigt — dem Dieb allerlei Verwünschungen nachschickt. Diebssegen sind vielfach „Bannungen", d.h. der Dieb wird zur Unbeweglichkeit, zum Verharren und zur Rückkehr gezwungen. Ähnliche Bannungen gibt es z.B. auch gegen Schlangen und Feuer. Auch bei Sprüchen zum Nachteil anderer wird übrigens die Hl. Dreifaltigkeit bemüht, werden Kreuzzeichen, Paternoster, Ave Maria usw. eingesetzt. Mit Sprüchen, die der zweiten Gruppe zuzuzählen sind, versucht der Kundige, einem möglichen oder gefürchteten Schadensfall körperlicher und sonstiger Art zuvorzukommen. Insoweit man hierbei von Zauber sprechen kann, handelt es sich also um Abwehrzauber. Dabei sind Sprüche, mit denen Tiere — und zwar alle Arten von Haustieren, wie Hunde, Schafe, Schweine, Geflügel usw. — geschützt werden sollen, seltener, wenngleich (wie der

Wiener Hundesegen und der gleichzeitige ahd.

Bienensegen zeigen) seit alters bezeugt. Das gleiche gilt für Bewahrungssprüche zum Schutze von Menschen. Neben dem Spruch beispielsweise, mit dem ein Schlangenbiß geheilt werden soll, steht so der vorbeugende Spruch, der vor eventuellen Schlangenbissen schützen soll. Von gefährlichen Tieren (zu denen auch bissige Hunde gehören) sind Schlangen und Wölfe die meistgenannten. Im übrigen finden wir Sprüche, die Gefahren abwenden sollen, wie sie im täglichen Leben durch Unwetter, Feuer, Diebe, Feinde (Waffen), aber auch durch Hexen, Geister und den Teufel drohen. Die Grenze zum Gebet ist zuweilen nur schwer zu ziehen, die Ubergänge sind auch hier fließend. Die wichtigste Rolle haben wohl immer Sprüche der ersten Gruppe gespielt. Bei ihr kann man weiter unterscheiden zwischen Sprüchen gegen körperliche (gesundheidiche) Beeinträchtigungen und solchen zur Behebung anderer Schäden. An der Spitze stehen Sprüche gegen alle möglichen Krankheiten und Verletzungen, unter denen wiederum Sprüche zur Blutstillung und Heilung von Wunden, als Hilfe gegen Brüche und Verrenkungen, gegen die „Gicht", den „Brand", das „Schwinden" hervorstechen. Zahlreiche Sprüche werden gleichermaßen für Mensch und Tier (Pferd) empfohlen, wie sich überhaupt die Sprüche zum Schutz oder zur Heilung von Tieren in

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Aufbau und Sprache nicht von denen, die für Menschen gedacht sind, unterscheiden. Zu den Sprüchen gegen die verschiedenen Krankheiten gehören auch die, mit denen gezielt der gedachte Krankheitserreger, insbesondere der Wurm angesprochen wird. Dahinter steht die reale Erfahrung, daß in den Eingeweiden von Mensch und Tier, in Ausscheidungen, auch in Wunden Würmer leben. Vom urtümlichen

ahd. Wurmsegen (Steinmeyer, Sprachdenkm.,

Nr. LXVII) bis an die Schwelle unserer Tage gehört der Spruch „gegen den Wurm" in alle einschlägigen Sammlungen als eines der wichtigsten Rezepte. Und auch hier wieder ist der gleiche Spruch je nach Bedarf bei Pferd und Mensch gleichermaßen anwendbar. Vom Typ her gleichen dem Wurmsegen manche Sprüche, mit denen die G e b u r t eines K i n d e s befördert werden soll, vgl.: ih gebiude dir, wurm, . . ., si din einer, sin din zuene, suie filo din si, in nomine patris et filii et spiritus sancti, . . ., daz du . . . (12. Jh.), Steinmeyer, Sprachdenkmäler, Nr. LXVI, 4, sowie: Adiuro te infans, perpatrem et filium et spiritum sanctum, si masculus es aut femina, ut exeas de vulva ista (14. Jh.), ZfdA. 24 (1880) 70. Diese verbreitete lat. Segensformel (A. Franz, Benediktionen, Bd. 2, S. 197-201) gehörte zwar nicht zu den approbierten Benediktionen, dürfte aber nichtsdestoweniger einen geisdichen Verf. haben und ist von Geistlichen als probates Mittel gebraucht worden. Im übrigen sollen derartige Sprüche gleichzeitig bei der Gebärenden Schwierigkeiten beheben, Komplikationen verhüten und alles in allem für eine leichte und glückliche Geburt sorgen.

Unter den Sprüchen, mit denen sonstigen Schäden abgeholfen werden soll, sind Sprüche zur Befreiung aus eingetretenen Notlagen, aus Gefangenschaft, zur Herbeischaffung gestohlenen Gutes, zum Löschen eines Brandes, aber auch gegen Mäuseplage, Fliegen und Ungeziefer. § 5. Die formale S t r u k t u r der Sprüche und Segen ist mit Recht als ein sehr wichtiges Kriterium für die Periodisierung und innere Entwicklung der Sprüche selbst in Anspruch genommen worden. Die auf magischen Vollzug abzielende Handlung wird von Rede begleitet, ein Krankheitsdämon etwa wird „besprochen", und da ist die richtige Form der Sprache für den Erfolg genauso unerläßlich wie die richtige Gebärde, wie die richtige Reihenfolge der Handlungsschritte, die man zu machen hat. Das einfache Wort allein bewirkt nichts; erst im Rahmen geformter Sprache

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Zaubersprüche und Segen

wird das alltägliche Wort magisch aufgeladen, gewinnt es die für den Erfolg notwendige Wirkmächtigkeit. Dieser Rahmen gleicht einer Zwinge, deren Kraft sich auf die Wörter überträgt, die in sie eingespannt sind. Das jedenfalls lassen die frühen uns überlieferten Sprüche eben noch, aber deutlich erkennen, während in gleicher altdt. Zeit diese Verhältnisse bereits verfallen. Der Zauberspruch der alten Zeit erhält seine feste Form durch die Langzeile; Stabreim ist möglich (so in den Merseburger Zaubersprüchen und in Resten auch anderwärts), doch nicht notwendig. Dagegen gehört zum streng gebauten Spruch ursprünglich wohl eine zahlenmäßig genau berechnete Ausgewogenheit der die Verse und Halbverse konstituierenden Formeln. So wird der altdt. Wurmsegen (Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXVII B; Pro Nessia) aus insgesamt 30 Wörtern gebildet, die sich in 10 Dreiergruppen gliedern: 3 (3 + 3) (3 + 3)

+ + +

3 (3 + 3) (3 + 3)

In der ndt. Fassung (Contra vermes) des gleichen Spruches ist dieses Schema durch anaphorische Verknüpfungen in Unordnung geraten. Zerstört, doch erkennbar ist ein solches System auch im II. Merseburger Zauberspruch (A. Masser, PBB. 94, Tüb. 1972, S. 19—25), während der I. Merseburger Zauberspruch noch einen klaren Aufbau aus symmetrisch angeordneten Dreier- und Zweiergruppen zeigt. Zur äußeren Struktur tritt eine inhaltliche Gliederung, die insbesondere auf Wiederholung und Parallelismus gründet. Auch hierbei spielt die Dreiergruppe eine wichtige Rolle. Charakteristisch für die Texte ist die sprachliche Verknappung auf das inhaltlich Entscheidende und grammatisch Notwendige. All das löst sich schon in altdt. Zeit auf. Der in der Dichtung sich vollziehende generelle Ubergang zu endgereimten Versen hat auch vor den Z. nicht Halt gemacht. Das hat im Einzelfall zur Bildung von sehr prägnanten Reimformeln geführt, die u.U. jh.elang gar nicht oder nur wenig modifiziert weitergereicht wurden. In solchen Fällen sprachlich komprimierter Formeln kommt das Bewußtsein von der Kraft des knappen (reim-)gebundenen Wortes zum Ausdruck. Im großen ganzen freilich und auf die Masse der über-

lieferten Sprüche bezogen, ist ein Verfall der festen Formen zu konstatieren. Die Ursache hierfür liegt im schwindenden Gefühl für die unbedingte Notwendigkeit solcher Formung, und das wiederum ist die Folge einer „Verchristlichung" der als wirksam gedachten magischen Kräfte. Hatte man von den Priestern gelernt, das Zeichen des Kreuzes sowie Weihwasser, Stoßgebete, liturgische Formeln u.dgl. als verläßliche Waffen des Christenmenschen im lebenslangen Kampf gegen den Teufel und die Mächte der Finsternis zu begreifen, so konnte es kaum ausbleiben, daß man diese Zeichen, Symbole und (oft lat.) Texte auch da einsetzte, wo man gewohnt war, sich mit schadenstiftenden Dämonen (die man längst auch im Sinne eines schlichten christl. Dualismus auf die Seite des Teufels geschoben hatte) herumzuschlagen, eben auf dem Gebiet der Magie. Christi. Initialformeln wie In nomine patris et filii et spiritus sancti sorgen jetzt für die dem magischen Erfolg günstige Atmosphäre, kirchliche Kerntexte wie das Paternoster garantieren für die Durchschlagskraft des eigentlichen Spruches. Die Namen der vier Evangelisten, zentrale Ausdrücke wie Sanctus, Kyrieleison, Amen, jeweils dreimal gesprochen, werden allein oder kumulativ eingesetzt. Griech. Wörter wie Soter (crcorrjp) oder Aius (= äyio?) zeigen in ihrer zumeist entstellten, verballhornten, d.h. eben unverstandenen Form, daß es bei allem nicht auf Einsichtigkeit ankommt, daß vielmehr das Vertrauen gerade dem unbegriffen-undurchsichtigen und deshalb geheimnisvollen Wort entgegengebracht wird. Diese christl. Symbole und Worte sind es nunmehr, die in fallweiser Anlehnung an kirchliche Exorzismus-Formulare und oft eingebettet in Bibelverse, doxologische Wendungen u. dgl. das magische Feld schaffen, das sich also nicht mehr aus einer besonderen Formung des Beschwörungstextes selbst aufbaut. Daher kann dieser Beschwörungstext bis zur völligen Formlosigkeit degenerieren. Auf sprachlicher Ebene weicht der harte Imperativ dem Einsatz von Modalverben, die Unverbundenheit der einzelnen Teile wird durch logische Verknüpfung ersetzt. Der Text wird zunehmend länger, die sprachliche Breite geht bis zur Geschwätzigkeit. Natürlich gibt es hierbei mannigfache Abstufungen, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob der Spruch aus älterer oder neuerer Zeit stammt.

Zaubersprüche und Segen § 6. Unabhängig vom Grad ihrer Durchformung wird in der Forschung hinsichtlich der S t r u k t u r traditionell zwischen eingliedrigen und zweigliedrigen Sprüchen unterschieden. Diese Unterscheidung ist berechtigt, auch wenn man den Folgerungen, wie sie H. deBoor in der l.Aufl. d. Reallexikons, Bd. 3, S. 514f. hinsichtlich einer unterschiedlichen Provenienz der „eingliedrigen" und „zweigliedrigen" Sprüche dargetan hat, deswegen nicht zuzustimmen braucht. Gegenüber aufgewiesenen Parallelen mit Sprüchen anderer Völker anderer Zeiten ist hier wie überhaupt bei den Z.n Zurückhaltung geboten, da zwar zweifellos mit mannigfachem Wandergut, andererseits aber auch ebenso sicher mit Polygenese aufgrund weithin gleicher Voraussetzungen zu rechnen ist. Kontrollmöglichkeiten fehlen. Es scheint von daher gerechtfertigt, diese Unterschiede hinzunehmen und gleichzeitig zu betonen. „Eingliedrige" und „zweigliedrige" Z. suchen das gleiche Ziel auf verschiedenen Wegen. Im eingliedrigen Spruch wendet sich der Sprecher sofort und unmittelbar an die zu beschwörende Macht (Dämon, Wurm, Krankheit usw.). Er stellt sie, indem er sie beim Namen nennt und dadurch seinem Willen unterwirft. Die konstitutiven Elemente des eingliedrigen Spruches sind also Anruf, dem der oder das Angerufene gehorchen muß, und Befehl. Von den altdt. Z.n zeigt das am klarsten der bereits mehrfach erwähnte urtümliche Wurmsegen: Gang uz, Nesso, . . .!; auf die vorsichtshalber noch mitgenannte eventuelle Brut des Nesso folgt in strengem Gleichlauf eine Kette von Imperativen „heraus aus . . .", durch die der Dämon (Wurm) schrittweise vertrieben wird. Der zweigliedrige Spruch kennt zwar auch den magischen Befehl, der jedoch nicht aus dem unmittelbaren Anruf erwächst, sondern seine Wirksamkeit aus einer im ersten Teil des Spruches beschworenen V o r b i l d handlung bezieht. Einstiges, auf machtvolle Weise bezwungenes Geschehnis wird erzählend vergegenwärtigt, auf daß sich gleicher Erfolg einstelle. Der zweiteilige Spruch baut auf Analogiezauber: So wie es sich damals vollzog . . ., so soll auch heute . . . Die beiden Merseburger Z. sind gute Beispiele für diesen Typ des zweigliedrigen Spruchs. Die beiden Teile, epischer Bericht und zwanghafter Befehl, folgen unverbunden aufeinander, d.h.

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zur Freisetzung der magischen Kraft bedarf es keiner s p r a c h l i c h e n Verklammerung mit dem das Kraftfeld schaffenden Vorbericht. Wo sie — wie schon in altdt. Zeit und seither in zahllosen jüngeren Sprüchen — dennoch erfolgt (so, also, ebenso usw.), ist das ein verläßlicher Hinweis auf spätere Entwicklung. § 7. Was die oben skizzierten Zielsetzungen der Sprüche angeht, so bleiben sie durch die Jh.e praktisch gleich. Dem entspricht, daß auch in nicht wenigen Fällen die Sprüche selbst, einmal geschaffen und als probat empfunden, vom MA. bis in die Gegenwart durchlaufen, daß ansonsten beliebte Reimbindungen, daß prägnante Formulierungen als bequeme Versatzstücke weiterleben, immer wieder aufgegriffen und an passender Stelle eingebaut werden, daß insbesondere auch bestimmte Bilder und Motive ständig wiederkehren. Der so zu beobachtenden Kontinuität einerseits stehen textliche Variabilität im einzelnen und mancherlei Umformungen gegenüber. Genauer untersucht ist das nur bei einigen bekannten Sprüchen, an deren Spitze wiederum der II. Merseburger Zauberspruch zu nennen ist, der — in christl. Umgestaltung — im germ.-außerdt. Bereich seine Varianten ebenso hat, wie er innerhalb Deutschlands weiterlebt. Hier begegnet er als Typ — Historiola und dreigliedrige Zauberformel — bis ins 19. Jh., wobei das — jedenfalls christlich-heilige — Personeninventar wechselt und auch die zusammenzufügenden Teile anders benannt werden können, etwa Adern zu Adern, Sehnen zu Sehnen, Knochen zu Knochen. Schon im 10. Jh. begegnet in einem as. Spruch (Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. L X I X ) der Reim giuund: gisund und dann vor allem im sog. Bamberger Blutsegen (ebda) die zukunftsträchtige Formulierung: taz was ein file göte stunte,/ heil sis tu wnte, die bis heute in zahlreichen Sprüchen der Art Heil sei die Wunde,/ Heil sei die Stunde! Heil sei der Tag,/ Worin die Wunde geschach (Mark Brandenburg, ZfVk. 7 [1897], S. 61 Nr. 47; vgl. ebda S. 58, Nr. 17b) oder Glückselig ist die Wunde,/ glückselig ist die Stunde,/ glückselig ist der Tag,/ wo Jesus Christus geboren war (Bregenzerwald, 19. Jh., hsl.). Sind diese Formeln in der Regel Blutstiller, so kommen sie doch auch in anderem Zusammenhang, etwa bei Beinbrüchen vor. — Der verbreitete Wundsegen von den drei Brüdern begegnet seit dem

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12. Jh. sowohl lat. wie dt. und hier ebenso in Prosa wie gereimt. Daß das Blut stille stehen solle gerade so, wie sich die Wasser des Jordans verhielten, als Jesus getauft wurde, gehört zu einer sehr beliebten Formel zum Blutstillen, die allein oder in Verbindung mit anderen in vielfacher Variation, lat. wie dt. seit altdt. Zeit bis in die Gegenwart im Umlauf ist. In ihren Umkreis gehört das Motiv vom (blinden) Ritter Longinus, der mit dem Speer die Seite des Gekreuzigten öffnete, so daß Blut (und Wasser) ausfloß. Da sich Longinus der Legende nach mit den nassen Fingern über die Augen strich und dadurch wieder sehend wurde, wird er auch in Formeln gegen Augenkrankheiten eingesetzt. — Zusammenstellungen der verschiedenen Spruchtypen bei I. Hampp, Beschwörung, Segen, Gebet, S. 1 4 0 - 2 6 5 .

§ 8. Z., Segen u.ä. bedürfen, um weiterzuleben, grundsätzlich keiner Aufzeichnung. Charakteristisch ist vielmehr a u ß e r l i t e r a rische Ü b e r l i e f e r u n g durch mündliche Tradition von Generation zu Generation, die insoweit — wenn man von zeitgenöss. Beobachtungen absieht — für uns nicht kontrollierbar ist. Daneben freilich kommt es, und zwar bereits seit altdt. Zeit, immer wieder zu N i e d e r s c h r i f t e n verschiedenster Sprüche, die uns einerseits Einblicke in die hist. Verhältnisse bescheren, andererseits jedoch — vor allem, was das MA. betrifft — weder nach Zahl noch nach Inhalt als hinlänglich repräsentativ für das im Umlauf Gewesene angesehen werden können. Der Zeitpunkt der Niederschrift eines Spruches sagt grundsätzlich nichts über sein Alter. Neben der vereinzelten Aufzeichnung eines Spruches steht von Anfang an die Sammlung. Es ist bezeichnend, daß die aus dem MA. überlieferten Z. und Segen in ihrer großen Mehrzahl zu solchen Sammlungen gehören, die uns im übrigen zeigen, zu welchem Zweck diese Sprüche aufgezeichnet und als was sie verstanden wurden: Es handelt sich zumeist um kürzere oder umfangreichere Zusammenstellungen von (überwiegend lat.) R e z e p t e n gegen alle möglichen Krankheiten, Verletzungen, Schlangenbisse u.dgl. Der (lat. oder dt.) Zauberspruch steht unterschiedslos zwischen Anweisungen zur Bereitung „echter" Arzneimittel (etwa eines Kräutersuds). Der

Zauberspruch ist also Rezept und wird als solches mit anderen zusammen überliefert. Die im Namen Gottes und seiner Heiligen vorgenommene Beschwörung macht die magische Formel auch in klösterlichen Kreisen und allgemein für den Geistlichen akzeptabel und stellt sie zugleich in die Nähe des kirchlich approbierten Exorzismus. Insbesondere wird dadurch die Mitwirkung des (schreibenden) Geistlichen als Uberlieferungsträger verständlich. Der seit dem 9. Jh. greifbare Uberlieferungszusammenhang bleibt bis in die Gegenwart typisch: Z. und Segen finden sich in den älteren, seit dem 16. Jh. gedruckten Arzneibüchern ebenso wie in den zahlreichen hsl. Rezeptheften, in denen ein sorgsam gehüteter Schatz von Hausmitteln gegen häufig vorkommende Krankheiten, gegen Blutungen, Warzen u.dgl. zusammengetragen, laufend ergänzt und innerhalb der Familie weitergereicht wurde und z . T . noch immer wird. Hierneben gab und gibt es bis in unser Jh. mit Erfolg vertriebene Z a u b e r b ü c h e r , vom „6. und 7. Buch Mosis" bis hin zu den gefährlichen, Teufelsmagie treibenden „Höllenzwängen", die weithin mit dem Namen Dr. Johann Fausts verknüpft sind. Harmlos hiergegen ist das in Drucken seit dem 18. Jh. nachweisbare und ebenfalls noch in unserem Jh. aufgelegte Romanusbüchlein. Dieses zeigt in Aufmachung und Inhalt jene volksfromme Grundhaltung, die kein Bedenken hat, sich himmlische Hilfe mit z . T . recht handfesten Methoden zu gewinnen. Dabei ist der Stellenwert des Romanusbüchleins ein gänzlich anderer als der des mal. Gebetbuches, das u.a. auch Z. enthält. Denn das Romanusbüchlein ist nach heutigem Verständnis kein Gebetbuch, obwohl es mit Morgengebeten (Segen) beginnt und mit einem Gebet auch schließt. Es ist vielmehr ein Sammelsurium von helfenden, heilenden und sonst irgendwie „nützlichen" Sprüchen unterschiedlicher Provenienz, wobei probate Rezepte gegen Zahnweh, Husten, Würmer, Wunden oder Brüche neben Reisesegen, Kugelsegen u.dgl., Gebete um Regen oder schönes Wetter neben Anweisungen für Glück im Spiel und Sprüchen zum Schutze vor „Hexerei und Teufelswerk" stehen. Es ist insgesamt ein harmloser Okkultismus auf volksfrommer Grundlage. Gegenstand philologischer und literarhist. Aufmerksamkeit sind traditionell nur die

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Zaubersprüche und Segen — Zeichen „ a l t e n " , die mal. Sprüche, während die jüngeren und zumal die zeitgenöss. dem Volkskundler überlassen bleiben, sofern sie nicht sog. „jüngere Varianten" u n d damit Zeugen f ü r das ungebrochene Weiterleben mal. Sprüche sind. Diese philologische Vernachlässigung ist nicht gerechtferigt, und hier bleibt zukünftiger Forschung ein großes Arbeitsfeld. S a m m l u n g e n mal. Sprüche: Denkmäler dt. Poesie u. Prosa aus d. 8.—12. Jh., hg. v. Karl M ü l l e n h o f f u. Wilh. Scherer, 3. Ausg. v. Elias v. Steinmeyer, 2 Bde. (1892; unveränd. Nachdr. 1964), Nr. I V , 1 - 8 ; X L V I I , l - 4 . Elias von S t e i n m e y e r , Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler (1916), Nr. LXII—LXXVIII. Denkmäler dt. Prosa d. 11. u. 12. Jh.s, hg. v. Friedrich W i l h e l m , A: Text, B: Kommentar (1916; unveränd. Nachdr. 1960), Nr. V; XI; XII; XVI—XXV; XXIX; XXXI; XXXIII. Wilhelm B r a u n e , Ahd. Lesebuch, 16. Aufl. bearb. v. Ernst A. Ebbinghaus (1979), Nr. XXXI (Ausg. u. Bibliographie bis 1977 f. die Merseburger Zaubersprüche, den Wiener Hundesegen, Lorscher Bienensegen, den Wurmsegen Pro Nessia / Contra vermes, den Bamberger Blutsegen, den Straßburger Blutsegen sowie 6 weitere Sprüche). Zahllose Sprüche aus spät- und vor allem nachmal. Zeit sind verstreut besonders in den einschlägigen germanist. und volkskundl. Fachzeitschriften publiziert, aus der Gegenwart auch in Illustrierten und Wochenendbeilagen von Tageszeitungen. Umfangreiche Zusammenstellung von größeren und kleineren Textsammlungen bei F. O h r t , 'Segen', in: H. Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch d. dt. Aberglaubens Bd. 7 (1935/36) Sp. 1582-1620; vgl. auch ebda s.v. Ausfahrtsegen, Besprechen, Beschwörung, Zauberspruch. Adolf Spamer, Romanusbüchlein, s.u. Allgemeine Literatur: Jacob G r i m m , Dt. Mythologie, 3 Bde, 4. Aufl. hg. v. E. H . Meyer (1875-1878). Oskar E b e r m a n n , Blut- u. Wundsegen in ihrer Entwicklung dargestellt (1903; Pal. 24). Adolph F r a n z , Die kirchl. Benediktionen im MA. 2 Bde (1909). Friedrich H ä l s i g , Der Zauberspruch bei d. Germanen bis um d. Mitte d. 16. Jh.s. Diss. Leipzig 1910. Oskar E b e r m a n n , Die Entwicklung d. DreiEngel-Segen in Deutschland. ZfVk. 26 (1916) S. 128—136. Jos. K l a p p e r , Das Gebet im Zauberglauben d. MA.s. Mitt. d. Schles. Ges. f. Volkskde 9 (1907) S. 5 - 4 1 . F e r d . O h r t , Zu den Jordansegen. Zschr. d. Ver. f. Volkskde N F 1 (1930) S. 269—274. Gustav E h r i s m a n n , Gesch. d. dt. Lit. bis z. Ausgang d. MA.s Bd. 1 (1932). F. O h r t , Über Alter u. Ursprung d. Begegnungssegen. Hess. BU. f. Volkskde 35 (1936) S. 49-58. Georg Baesecke, Vor- u. Frühgesch. d. dt. Schrifttums, I. Vorgeschichte (1940). Felix G e n z m e r ,

Germ. Zaubersprüche. GRM. 32 (1950/51) S. 21—35. Helmut de B o o r , Altgerm. Dichtung, in: Germ. Altertumskunde, hg. v. Herrn. Schneider (1951) S. 306-430. Ders., Die dt. Lit. v. Karl d. Gr. bis z. Beginn d. höf. Dichtung 770-1170 (8. Aufl. 1971; H. de Boor/R. Newald, Gesch. d. dt. Lit. von den Anfängen bis z. Gegenwart, Bd. 1). Adolf Spamer, Romanusbüchlein. Histor.-phil. Kommentar z. e. dt. Zauberbuch. Aus s. Nachlaß. Bearb. v. Johanna Nickel (1958; Dt. Akad.d.Wiss. Berlin, Veröff. d. Ist. f. dt. Volkskde 17) (zugl. Textausg. d. Romanusbüchleins). Irmgard H a m p p , Beschwörung, Segen, Gebet. Untersuchungen z. Zauberspruch aus d. Bereich d. Volksheilkunde (1961). Hugo M o s e r , Vom Weingartner Reisesegen zu Walthers Ausfahrtsegen. Gereimte Gebetssegen d. frühen u. hohen MA.s. PBB 82, Sonderbd. (Halle 1961) S. 69-89. Achim

Masser

Zeichen §1. Allgemeines. Umgangssprachlich formuliert ist ein Z e i c h e n ein Etwas (ein Vorgang, ein Ding), das „ B e d e u t u n g " hat. D a bei läßt die Umgangssprache aber offen, was „ B e d e u t u n g " ist. D e r erste und wichtigste Schritt eines wiss. Sprechens über Z. m u ß es daher sein zu klären, was unter „ B e d e u t u n g " zu verstehen ist, b z w . was im bisherigen wiss. Sprechen über Z. darunter verstanden w o r d e n ist. Eine wissenschaftshistorische A n n ä h e r u n g an diese Frage, d . h . das Aufzeigen der wichtigsten in der Geschichte der Z.theorie vertretenen Positionen zum Problem der „Bed e u t u n g " bietet sich auch deswegen an, weil diese in den aktuellen z.thematisierenden Bem ü h u n g e n wirksam bleiben. So gut wie alle substantiellen Überlegungen z u m Problem des Z.s u n d der „ B e d e u t u n g " sind an der S p r a c h e entwickelt w o r d e n , so daß die Theorie der Z. sich weitgehend als generalisierte Sprachtheorie darstellt, was darin begründet ist, daß Sprache das wichtigste, universellste, umfassendste u n d fundamentalste Z . p h ä n o m e n ist. Die Theorie der Z. wird heute im allgemeinen Semiotik genannt. Mit diesem Terminus konkurriert — vor allem in den roman. Ländern — der von Saussure vorgeschlagene Terminus Semiologie. Hingewiesen werden muß darauf, daß die Semiotik nicht mit dem S t r u k t u r a l i s m u s identisch ist, wenn auch im Strukturalismus vor allem semiot. Gegenstände behandelt worden sind (s. Strukturalismus, wo daher auch semiot. Grundbegriffe — auf kommunikationstheoretischer Basis — eingeführt werden mußten). Der Ausdruck „Strukture-

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Zeichen

lismus" bezeichnet vor allem ein überaus generelles m e t h o d i s c h e s Programm zur Untersuchung verschiedenster als strukturiert angesehener Gegenstände, nicht nur von Z. Semiotik ist demgegenüber die T h e o r i e eines — je nach Grundannahmen der Theorie engeren oder umfassenderen — b e s t i m m t e n Gegenstandsbereichs (die gegebenenfalls mit der Erkenntnistheorie zusammenfallen kann), impliziert aber nicht unbedingt ein bestimmtes methodisches Vorgehen, wenn auch strukturalist. Verfahren bei der Untersuchung semiot. Gegenstände eine bevorzugte Rolle spielen. Aus der Orientierung an bestimmten Gegenständen folgt, daß es neben der Allgemeinen Semiotik und Z.theorie b e s o n d e r e Semiotiken, Untersuchungen spezieller Arten von als Z. betrachteten Gegenständen, gibt: Neben der Sprachwissenschaft als der zentralen speziellen Semiotik sind dies z . B . die L i t e r a t u r s e m i o t i k , die T h e a t e r s e m i o t i k , die F i l m s e m i o t i k , die M u s i k s e m i o t i k , die A r c h i t e k t u r s e m i o t i k etc. Insbesondere solche Gegenstandsbereiche, die in den traditionellen Kulturwissenschaften nicht behandelt wurden, wie der Film, Design, Comics etc. haben bei ihrer Etablierung als akademische Forschungsbereiche in der Semiotik einen ihnen adäquaten theoret. Rahmen gesehen, während für die traditionellen Kulturwissenschaften wie die Lit.oder Musikwissenschaft die semiot. Theorie eher eine neue, zusätzliche Perspektive bereitstellt, die neben die weiter bestehenden traditionellen Betrachtungsweisen hinzutritt. Eine übergeordnete und umfassende Einteilung der Gegenstandsbereiche der Semiotik hat im Rahmen eines sehr weitgespannten Semiotik-Konzepts Th. A. S e b e o k vorgeschlagen, der zwischen A n t h r o p o s e m i o t i k , Z o o s e m i o t i k und E n d o s e m i o t i k unterscheidet, womit die Großbereiche der Untersuchung menschlicher, tierischer und organintern-biologischer semiot. Vorgänge abgedeckt sein sollen.

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§ 2 . „ B e d e u t u n g " I: Das aristotelische G r u n d m o d e l l . Bei der Beantwortung der Frage nach der „Bedeutung" soll zunächst

Zeichen in Ubereinstimmung mit der Umgangssprache jenes „bedeutende" Etwas „ Z e i c h e n " oder „materielles Z e i c h e n " genannt werden; andere, schon auf bestimmte Z.theorien verweisende Ausdrücke hierfür sind „ Z e i c h e n t r ä g e r " (Morris), „ R e p r ä s e n t a m e n " (Peirce), „ M i t t e l " (Bense), „ S i g n i f i k a n t " (Saussure). Die einfachste Auffassung von „Bedeutung" ist die, irgendein anderes Etwas, irgendeinen anderen Gegenstand der Welt, auf den das als Z. angesehene Etwas hinweist und für den es steht, als die Bedeutung des Z.s anzusehen: Etwas steht für etwas (aliquid stat pro aliquo): Aufsteigender Rauch steht in diesem Sinne für das Feuer, die Blässe des Gesichts für einen Schreck- oder Erschöpfungszustand, das Wort Tisch steht für einen Tisch, die gelbe Armbinde mit den drei schwarzen Punkten steht für die Blindheit eines Menschen. Tatsächlich trifft diese Bedeutungsauffassung, die auf der Annahme eines einfachen Verhältnisses zwischen dem Z. und der von ihm b e z e i c h n e t e n Sache beruht, die charakteristische Funktion von Indices (Peirce), bzw. die indexikalische F u n k t i o n von Z., bei der eine direkte, reale Beziehung zwischen Z. und Gegenstand besteht. Charakteristischerweise wird am Anfang z.theoretischer Überlegungen in der europäischen Geistesgeschichte die Bedeutungsproblematik als ein solches einfaches Verhältnis Z. — Welt thematisiert, sowohl in der griech. Philosophie als auch in der griech. Medizin (Hippokrates), die durch die Interpretation von Indices, nämlich von Krankh e i t s - S y m p t o m e n („natürlicher" Z., s. § 3 ) eine weitere Quelle semiot. Denkens ausmacht. Auch der Terminus „Semiotik" (oder „Semiologie") hat einen seiner Ursprünge in der medizin. Symptomatologie, wo er sich bis heute hält, bevor er im Anschluß an antike und mal. philosophische Z.lehren durch L o c k e in der Philosophie Verbreitung findet, nämlich als umfassender, d.h. nicht nur die Sprache (logos) berücksichtigender Ersatzterminus für „ L o gik" als Erkenntnistheori